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Full text of "Heidelberger Jahrbücher der Literatur"

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HEIDELBERGER 

JAHRBÜCHER 

DER 

LITERATUR. 



DR E ISSIGST KR JAHRGANG. 

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EK§T£ HiLFTF, 

Jan U a r b i s J u ff i. 

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HEIDELBERG. 

In der rniversitÄts-Buchuandlung von C. F. Wixtkh. 

# 1 8 3 7. 

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HEIDELBERGER 



JAHRBÜCHER 



DE II 



Wj I T E R t T U lt. 



DREISSIGSTER JAHRGANG. 



/«KHK HAliFTK. 

Juli bin December. 



HEIDELBERG. 

In der Vniversitats-Buchhsndlung von C. F. Wixtkb. 

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1 8 3 7. 



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N°. I. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Archive* Ott Correspondance incdite de la maieon d* Orange- Naeeau. llccu.cil 
public avee aulorisation de S. M. le roi, par Mr G. Groen van Prin$tcrer $ 
Chevalier de l'ordre du Lion Uelgique , Sicritairedu Cabinet de S. M. 
Conteiller d'etat. Premiere Serie. Tim. f. Anntt 1552—1565. 2!Ht .V. 
Tom. //. Anni* 1565. 516 s. Tom. III. Annie 1567-1512. 520 S. 
Leydc, Luchtmanne 1835. 8. 

Älebrere Holländer versicherten neulich dem Referenten, der 
daran zweifelte, dafs ganz im Stillen in Holland die historischen 
Studien von angesehenen Männern mit Liebe und Interesse ge- 
trieben wurden, und dafs ein van Kampen und Andere, deren 
Originalarbeiten oder Uebersetzangen Ref. bisher zu Gesicht ge- 
kommen sind, des Beifalls des eigentlichen Kerns der Nation eben 
so wenig geniefsen , als ähnliche für den Buchhändler oder 1 lu- 
den Effect arbeitende Schriftsteller unter uns des Beifalls der 
Bessern alles Lärmens in Journalen und Zeitungen ungeachtet je 
genossen haben. Dafs dies in der That der Fall sey, sieht er aus 
dem anzuzeigenden Werk und aus des Baron von Keverberg 
neuester Geschichte des Königreichs Holland. Was das letzte, 
hauptsächlich gegen Nothomb gerichtete Buch angeht, so wird 
Ref. nächstens eine harze Anzeige davon machen, jedoch das 
politische Feld, dem es angehört, so viel als möglich meiden. 
Das Buch macht aber unstreitig dem Verfasser und dem Könige, 
dessen edle Bemühungen darin gepriesen werden , um so mehr 
Ehre, je geschichter Herr von Nothomb alles zusammengestellt 
hatte, was für seine Landsleute und für ihr Beginnen sprechen 
konnte. 

Hr. Groen van Prinsterer ist, wenn sich Ref. nicht täuscht, 
I dem gelehrten Publikum schon als Kenner des klassischen Alter- 
thums durch eine treilliche Probeschrift bekannt, und wird sich 
durch d icse Bekanntmachung der Urkunden aus einer Zeit, in 
welcher sein Vaterland unter den Helden des Hauses Nassau zur 
Hauptmacht von Europa geworden war, ein unsterbliches Ver- 
dienst erwerben. Man vergleiche einmal Alles, was die Franzo- 
sen bekannt gemacht haben, und besonders die Einleitungen und 
Noten der Herausgeber mit dem, was hier geleistet ist! Die Ein- 
leitungen, Noten, Inhaltsanzeigen der einzelnen Briefe bilden ein 
XXX. Jahrg. 1. lieft. 1 



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2 Groen van PriiMtcrer 

eignes sehr schätzbares historisches Werk; der Druck und das 

Papier sind der Leydcner Presse, aas der es hervorgegangen ist, 
würdig. 

Ref. glaubt dem deutschen Publikum einen Dienst zu thun, 
wenn er dieses Werk sehr genau und ausführlich anzeigt , damit 
Kenner und Forscher und auch die Freunde historischer Leetüre 
sehen können , was sie darin zu suchen haben. Er wird sich da- 
bei soviel möglich an die Worte des Herausgebers halten, um 
zu zeigen, wie vortrefflich dieser den Gebrauch der Materialien, 
die er bekannt macht, andeutet. Nur hie und da will Ref. den 
Bericht des Vfs ergänzen, wäre es auch nur, um ihm zu bewei- 
sen, mit welcher Aufmerksamkeit er diese Briefe durchgesehen hat. 

Wenn Ref. in Rücksicht des Charakters Wilhelms L nicht 
ganz mit Herrn Groen van Prinsterer übereinstimmen sollte, so 
geschieht dies nicht, weil er mit einem deutschen Reurtheiler, 
den Herr Gioen van Prinsterer am Ende der Einleitung zum drit- 
ten TJieil mit vieler Artigkeit und Höflichkeit widerlegt, sich des 
Herzogs von Alba und Philipps II. als der legitimen Macht gegen 
einen Rebellen annehmen wollte , dazu hat er weder Reruf noch 
historische Gründe; ebenso weuig als er wie die Leute, die der 
Herausgeber der Briefe Vol. II. pag. XVI hart anfährt, dem Hel- 
den den caractere assez commun assez ignoble , d'intrigont poli- 
tique giebt, da er seine historische Ueberzeugung keinen rerai- 
niscences appärtenantes ä un autre ordre et d'hommes et de rc- 
volutions verdankt. Ref. hält dafür, dafs es genug seyn sollte, 
zu beweisen, Wilhelm war ein grofser, kluger, unsterblich um 
die Menschheit verdienter Mann , seine politischen Tugenden über- 
stiegen bei weitem seine moralischen Fehler — weiter führen 
Ref. diese neuen Documente nicht, und so urtheilte er auch vor- 
her. Wir übrigen Menschen, in der Stille des einfachen Privat- 
lebens oder der blöfsen ganz gewöhnlichen und unbedeutenden 
Beschäftigung mit den Studien begraben, haben den Trost, dafs 
Genialität und Gröfse mit der bürgerlichen oder, wenn man 
will, christlich apostolischen (nicht byzantinischen) Mora- 
lität fast nie vereinigt gefunden werden. Man denke an alle 
grofse Männer von Alcibiades und Cäsar bis auf Peter den Gro- 
ssen , Bonaparte und Wellington ; man studiere Göthe's und An- 
derer Leben, oder lese nur die Lobschrift, die Herr Körte neu- 
lich Wolfs des Philologen Leben genannt hat. 

Herr Groen van Prinsterer sagt in der Vorerinnerung zum 
i. Theii zuerst im Allgemeinen Folgendes über sein Buch: 



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Corretpondanre inedite de )a mniton d'Orange-Natiau. 8 

Der Konig hat mir erlaubt , einen Theil seines Hausarchivs 
bekannt zu machen. Der Reichthum dieses unschätzbaren Vor- 
raths besteht besonders in Privatbriefen. Die Sammlung, welche 
8. M. mir zu veranstalten erlaubt, wird daher besonders und so- 
gar fast ausschließend nur solche Briefe enthalten , die nicht ei- 
gentlich officiell sind, und man weifs , dafs gerade diese Art 
Nachrichten oder Urkunden am brauchbarsten ist, um die eigent- 
lichen Ursachen der Begebenheiten , die geheimen Beweggrunde 
der Handlungen, oft sogar die Falten des Herzens zu ergrunden, 
und Dinge aufzuschliefsen , die ganz eigentlich historisch , aber 
mehrentheils den mühsamen Forschungen der Geschichtschreiber 
unzugänglich sind. 

Keine Dynastie war reicher an merkwürdigen, an grofsen 
Männern, als die nassauische« und beinahe Alles, was wir hier 
abdrucken lassen wollen, ist entweder von diesen Personen selbst, 
oder von Fürsten und Privatpersonen, die sie mit ihrem Vertrauen 
beehrten, geschrieben worden. Die beschichte der vereinigten 
Niederlande, welche so innig mit der Geschichte des Hauses Ora- 
nien-Nassau zusammenhängt, wird durch diese Sammlung bedeu- 
tende Autklärungen erhalten. ' 

Diese Familie , die mit fast allen Dynastien von Europa zu- 
sammenhing und an der Spitze einer Bepublik stand, welche auf 
das ganze europäische Staatensystem grofsen Einllufa übte, hatte 
immer sehr viele Verbindungen in fremden Ländern. Viele Für- 
stenhäuser werden in dieser Sammlung wichtige Nachrichten über 
Charakter und Handlungen ihrer Vorfahren finden, und man wird 
aus derselben viele Lucken der Geschichte mancher Staaten füllen 
und viele Urtheile über Personen und Sachen bedeutend berich- 
tigen können. Man wird mit diesen Briefen in der Hand das 
Labyrinth der verschiedenen Verwicklungen leichter durchlaufen, 
wenn man von dem Faden geleitet wird, den die feste und ge- 
wandte Hand des Stadhouders einst gehalten hat. 

Die Geschichte "dieser Familie hängt ferner mit der Geschichte 
der Reformation aufs engste znsammen, und ihre Geschichte zeigt, 
was eigentlich die wahrhafte Kraft eines christlichen Helden und 
eines christlichen Volks ausmacht. Diese Geschichte bietet über- 
all Beweise von derjenigen Wahrheit , welche die beste Lehre 
ist, die man überhaupt aus der Geschichte ziehen kann, dafs 
nicht die Menschen, sondern Gott die Welt regiert, und dafs jede 
Gewalt an dem Felsen der christlichen Kirche scheitern wird. 




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Groen »an Prinitcrer 



Ref. will noch einige Seiten der Einleitung, soweit sie mit 
dem Inhalt in unmittelbarer Verbindung steht, auch schon ans 
dem Grunde übersetzen, weil man daraus am besten sehen wird, 
welcher Unterschied zwischen dem Herausgeber der Papiere des 
franzosischen Archivs und dem der holländischen Sammlung statt 
findet. Der Eine macht windige Phrasen und leere Sophismen , 
der Andere deutet ganz einfach dasjenige an , worauf es allein 
ankommt — die Tbatsachen und ihren Zusammenhang. Er laTst, 
wie billig, ganz unentschieden, was noth wendig, was zufallig 
war, denn das weifs nur Gott und die Philosophen und Theolo- 
gen zu entscheiden. Es heifst hier: 

Die erste Reihe von Banden wird die Zeiten Wilhelms des 
Ersten in sich fassen; also einen Zeitraum, der in jeder Bezie- 
hung von grofser Bedeutung ist. Die Archive enthalten eine sehr 
bedeutende Zahl von Docuraenten , welche sich darauf beziehen, 
die wichtigsten derselben sollen in diese Sammlung aufgenommen 
werden. Sie beziehen sich grofstentheils auf den Kampf, den der 
Prinz bestehen mufste, ein Kampf, der grofse und glückliche 
Folgen hatte. Dieser Hampf war ein europäischer, er ging von 
der Religion aus. Spanien, überwiegend durch Reichthümer, 
durch die Macht seiner Beherrscher, durch den Einflufs seiner 
Literatur und die Unerschrockenheit seiner Soldaten, war damals 
in mancher Beziehung dasselbe, was später Frankreich ward. 
Der Krieg mit den vereinigten Niederlanden erschöpfte Spanien 
und veränderte das bisherige Verhältnifs der Staaten unter ein- 
ander ; dem unaufhörlichen Fortschreiten des Hauses Habsburg 
ward eine Schranke gesetzt ; allein der damalige Kampf galt noch 
aus einein andern und viel wichtigern Grunde nicht blos dem 
Schicksal der vereinigten Niederlande. Es mufste dabei entschie- 
den werden, ob es gelingen werde, durch Vertilgung aller bür- 
gerlichen und politischen Freiheit auch alle Gewissensfreiheit zu 
unterdrücken ; es galt dem Siege des Evangeliums über Aber* 
glauben und Unglauben. Dies war eine Sache der ganzen christ- 
lichen Welt, welche an Allgemeinheit noch diejenige übertraf, 
deren Held ein Jahrhundert später Wilhelm III. war. Wir über- 
gehen die folgende Seite, wo der Verf. seine sehr richtige An- 
sicht des Wesens der ersten Kämpfe in den Niederlanden ent- 
wickelt, und führen nur dasjenige an, was sich unmittelbar auf 
die bekannt gemachten Aktenstücke bezieht. Der Briefwechsel 
Wilhelms I. , den wir hier bekannt machen, fahrt er fort, wird 
«in neues Licht über seinen Charakter verbreiten. Man wird 



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Corretpondance inedite de la inniton cfOrang© Nanta«. 5 



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sehen, dafs er weder ein Freund republikanischer Einrichtungen, 
noch Haupt eines Aufstandes war, oder unter der Hand Empö- 
rung vorbereitete. Er war kein egoistischer Staatsmann , der 
seine Pflichten verletzte und die Ruhe und das Blut der Natio- 
nen seinen ehrgeizigen wohlberechnetcn Planen opferte u. s. w. 

Der Verf. giebt hernach noch folgende kurze Notiz in Be- 
ziehung auf den ersten Band : 

Die hundert und drei und zwanzig Briefe, welche dieser 
erste Theil enthält, sind alle in den Jahren i55a bis i565 ge- 
schrieben. Der grofste Theil (acht und neunzig) derselben gehört 
in die Jahre i56i — 1 565. In Deutschland hatte der Religions- 
friede, so wenig er in vielen Beziehungen genügte, wenigstens 
die Gemüther einigermaßen beruhigt. In England setzte die Ho- 
nigin Elisabeth seit i558 die Reformation fort ; in Frankreich 
veranlafsten (i56s) die Verfolgungen der Huguenotten einen bür- 
gerlichen Krieg ; In Spanien erstickte man den Protestantismus in 
der Geburt. Was die Niederlande angeht, so entwickelte sich 
dort der Keim der Unruhen mit einer wachsenden Schnelligkeit. 
Man bemerkt dabei zuerst , bis zur Abreise des Cardinais Gran- 
vella im März 1 56.f , die Bemühungen, diesen, durch seine Ta- 
lente, seinen Einilufs, seine Plane furchtbaren Mann, zu entfer- 
nen ; dann bemerkt man bis zum Ende des Jahres i565 die Be- 
strebungen, vom Konige Gewissensfreiheit zu erlangen. Die Wei- 
gerung , Duldung zu gewähren , führte die furchtbare Krisis her- 
bei, deren endliches Resultat indessen der Sturz des Fanatismus 
und der Triumph der Grundsätze des Christenthums war. 

Der Herausgeber zeigt übrigens grofse Bekanntschaft mit der 
neuem deutschen historischen Literatur; er hat alles gelesen, was 
in Deutschland in Beziehung auf die Zeiten, denen die von ihm 
bekannt gemachten Briefe angehören, geschrieben ist, sowohl die 
allgemeinen Geschichten, als die Documente , welche die Herren 
Arnoldi und von Rommel haben drucken lassen. Dabei mochte 
Ref. dem Herrn Groeo van Prinsterer fast vorwerfen, dafs er, 
mit dem Alterthum innig bekannt, das Bedeutende und Unbedeu- 
tende zu wenig zu unterscheiden wisse; vielleicht ist das aber nur 
Bescheidenheit und Höflichkeit. Ref. will einiges Einzelne aus 
den drei Bänden der Sammlung anführen , um das Verdienst des 
Herausgebers anschaulich zu machen. Von Kritik kann nicht die 
Rede seyn , sondern ganz allein von der Beziehung , worin diese 
neuen Urkunden zu dem schon Bekannten stehen. 



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Groen van Prinsterer 



Herr Groen van Prinsterer eröffnet den ersten Band der 
Sammlung mit einer Bemerbung über Memoires de Üuillaume L, 
welche dieser selbst verfafst haben soll und die der Graf d'Estra- 
des sieb rühmt, im Cabinet seines Sohnes aus besonderer Gunst 
gelesen zu haben. Die Bemerkung des H. G. v. P. geht dahin, 
zu beweisen, dals der Gral aufgeschnitten hat, und dafs derglei- 
chen Denkwürdigkeit weder jetzt in einem Archive gefunden 
werden , noch auch jemals vorhanden gewesen sind. Der Verf. 
gebraucht freilich nicht das harte Wort von d*Estrades Nachricht, 
dessen sich Bef. bedient hat , sondern er sucht die Wahrhaftigkeit 
des Grafen auf eine Weise zu retten, die uns so wenig einleuch- 
ten will, dafs wir lieber gerade heraus sagen, es ist ein Irr- 
thum, eine Lüge, als zu einer so wunderlichen Fiction, wie 
die S. XIX ist, unsere Zuflucht nehmen. Am Ende, was lernten 
wir aus den Memoires? Dafs Wilhelm Meister seiner Feder ist, 
das lernen wir auch aus den Briefen. 

Unter den 21 ersten Briefen des ersten Bandes, welche Wil- 
helm 1., damals wenig üher einundzwanzig Jahre alt, und den- 
noch Oberbefehlshaber von Carls V. Truppen, an seine Gemahlin 
schrieb, sind uns besonders Lettre XVII. und Lettre XIX, pag. 
21 und a3 aufgefallen. Wir bewundern zugleich den richtigen 
Takt, mit welchem der Herausgeber, durch eine einzige Zeile, 
die historische Beziehung der beiden Briefe hervorgehoben hat. 
Ueber No. XVH würden wir uns anders ausdrücken als Herr 
Groen van Prinsterer. Wir würden sagen, man sehe daraus, 
wie freundlich und herzlich Wilhelm schreiben und reden konnte, 
wenn er Herzen gewinnen oder sieb alte Freunde erhalten wollte. 
No. XIX dagegen zeigt, wie sehr sich alle Verhältnisse in den 
Niederlanden unter Philipp II. schon vor dem Tode Carls V. und 
vor der Schlacht hei Set. Quintin geändert hatten. Ref. ergreift 
die Gelegenheit, um anzudeuten, dafs ein rüstiger Schriftsteller 
für Romanleser aus diesen Bänden sehr leicht eine Anzahl unter- 
haltender und belehrender Stücke für das grofse zum Zeitvertreib 
lesende Publikum, das jetzt mit Briefsammlungen aller Art über- 
schwemmt wird, sammeln und dem Geschmack dieses Publikums 
onpassen könnte ; er will deshalb einen Brief ganz übersetzen. . 
Er wählt No. XVII; doch darf er nicht verheelen, dafs man Wil- 
helms Grofsmuth in Geldsachen dabei nicht hoch anschlagen darf. 
Diese erste Gemahlin brachte nämlich dem Prinzen von Oranien , 
ausser Geld und andern bedeutenden Gütern, die Markisate 
Breda und Diest. Er schreibt : 



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Corretpondaoce iuedite do U mai-on d* Orange Numau. V 

Liebe Frau (ma ferome). Ich hatte dich in zwei Briefen 
gebeten, Du möchtest Dich meiner Geldangelegenheiten wie der 
Deinigen annehmen, wie ich* Dir ebenfalls geschrieben habe, dafs 
alles Meinige auch Dein sev , weshalb ich mich Dir auch ganz 
überlassen hatte, besonders auch aus dem Grunde, weil mir hier 
•o viel durch den Hopf geht (j'e issi tant de rompemens de teste), 
dafs ich mich um meine eigene Angelegenheiten gar nicht be- 
kümmern kann. Uebrigens, liebe Frau, wenn Du mir in Deinem 
letzten Briefe schreibst, dafs Du sehr betrübt (en paine) bist, 
dafs ich Dir so lange nicht geschrieben habe, und nicht weifst, 
ob das nur zufällig sich ereignet, oder ob ich Dir böse sey (<me 
je sei ois courouse ä tous) , so hätte ich doch gedacht", die Freund- 
schaft unter uns wäre so gut, dafs dergleichen Argwohn gar nicht 
Statt finden konnte (ces suspicions seriont aravoie). Ich dächte 
auch, Du hättest mich für zu versiiiudig gehalten, als dafs ich 
ohne alle Ursache zürnen sollte. Wenn ich Dir so lange nicht 
schrieb, so geschah das nur, weil ich gern wollte melden kön- 
nen , was denn König Philipp eigentlich mit dem Lager und Heer 
vorhabe. Ich kann Dir versichern, dafs ich nichts so sehr wün- 
sche, als dafs ich von Dir eben so sehr geliebt werden möge, 
als ich Dich liebe. Nächst Gott bist Du, denke ich, am mehr- 
sten von mir geliebt, und wäre ich nicht in mir so fest uber- 
zeugt, dafs Du mich liebst, ich wäre nicht so gutes Muths , als 
ich gegenwärtig bin; das weifs der Schöpfer, zu dem ich bete, 
dafs er uns die Gnade gewähre, dafs wir unser ganzes Leben 
hindurch in unverstellter Freundschaft leben könnten, und ich 
empfehle mich ganz aufrichtig Deiner Gewogenheit. « Wir müs- 
sen leider dem Herrn Groen van Prinsterer sagen, dafs dieser 
Brief, wie vieles Andere, dem Kopfe Wilhelms mehr Ehre macht 
als seinem Herzen ; Wilhelm hatte gerade damals die Gemahlin 
in den Armen anderer Weiber ganz vergessen, und Philipp von 
Hessen, dessen Enkelin Anna er nach dem Tode der ersten Ge- 
mahlin (März i558) um 1661 zur Ehe suchte, schreibt, sich der 
Ehe widersetzend , an Kurfürst August von Sachsen , dessen Bru- 
ders (Moritz) Tochter Anna war: Vonn der tugennt des piin/.en 
Ton Vranien lassenn wir inen einen weldt thugent samen mann 
sein. So er aber bej dieser unser dochter dochter sein ehe haltenn 
wirt, wie bei der vorigen, so wirt es Ir beschwerlich genug sein. 
Die Heirath ward dennoch geschlossen , und Philipps Voraus, 
sagung , die wir aus den von Herrn von Rommel bekannt ge- 
machten Urkunden entlehnen , traf wörtlich ein. Da wir auf die 



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Groen ?an Prinst<*rer. 



Geschichte der unglücklichen Anna, die von Hur fürst August, 
der gar zu yiel mit der lutherischen Orthodoxie und der Con- 
cordienforrnel zu thun hatte, um sich der Erziehung seiner Nichte 
anzunehmen, schlecht erzogen ward, der hernach Wilhelm nach 
dem Tode seiner Gemahlin in ihrem löten Jahre den Kopf ver- 
drehte , oft zurückkommen müssen, so bemerken wir gleich, dafs 
Herr Groen van Prinsterer in einiger Verlegenheit ist , seinen 
Helden in dieser Beziehung zu rechtfertigen. In politischer Rück- 
sicht ist das leicht möglich , auch hat Wilhelm bei weitem mehr 
Behutsamkeit angewendet, als die leichtsinnige Anna anwenden 
konnte. Dem Herrn Groen van Prinsterer ist übrigens nichts da- 
hin Gehöriges entgangen. Er fuhrt in der Einleitung zum drit- 
ten Theil auch das an, was der Herr Bottiger neulich in v. Rau- 
mers Tascbenbuche darüber gesagt hat , und in der Note auch 
Weisse 's Museum für sächsische Geschichte. Bekanntlich findet 
man viele hieher gehörige Urkunden in Arnoldi's historischen 
Denkwürdigkeiten (Leipzig 1817) S. 103—117 und in von Rom- 
mels Geschichte von Hessen. Herr Groen van Prinsterer citirt 
übrigens von Rommels Biographie Philipps des Grofsmüthigen 
S. 3i nicht ganz richtig auf die Weise, als wenn sie aus drei 
Theilen bestände: Ir S. 586—590. Hr 656— 661. Illr 3i4— 33o. 
Ref. bemerkt die Kleinigkeit nur, weil sie einen deutschen Leser 
in Verlegenheit setzen konnte. Der Verf. hätte citiren sollen, 
Philipp der Grofsmüthige , Landgraf von Hessen u. s. w. oder 
Geschichte von Hessen dritten Theil s zweite Abtheilung S. 586 
—590. Anmerkungen S. 656 — 666. Urkundenbuch S. 3i4 — 33o. 
Was Arnoldi angeht, so sagt Herr Groen van Prinsterer zum 
siebenundzwanzigsten Briefe : Dieser Brief steht in Arnoldi's hi- 
storischen Denkwürdigkeiten S. 112. In diesem Buche findet man 
65 Briefe, welche aus dem Archive des Hauses Oranien-Nassau 
gezogen sind. Von diesen 65 Briefen gehört die gröfsete Zahl 
. der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts an , doch sind 
darunter mehrere, die sich auf Wilhelm I. beziehen. Wir haben 
einige derselben wieder abdrucken lassen, nicht blos, weil das 
Buch, worin sie stehen, nicht sehr verbreitet ist, sondern auch, 
weil dort oft Stellen weggelassen sind , die nach unserer Meinung 
hätten beibehalten werden müssen. Wir setzen hinzu, dafs das 
Letztere besonders von No. XXVIII gilt* Dies ist nämlich das 
Schreiben des Landgrafen Philipp an Wilhelm, worin er die 
Gründe der Verweigerung seiner Einwilligung zur Heirath seiner 
Enkelin aogiebt. Arnoldi hat es nicht vollständig mitgetheilt, 



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I 



Corrcipondancc iaedite de U maifon d'Orange-Nassau. 9 

sein Abdruck ist daher nicht so passend zur anziehenden Vergiei- 
chung mit dem Briefe Philipps an Kurfürst August über dieselbe 
Angelegenheit , der sich bei v. Bommel im Urkundenbuche No. 81 
findet, als der, den H. G. v. P. giebt. Wenn bei Gelegenheit 
Ton No. XXX , einem Briefe des jungen Grafen Ludwig von Nas- 
sau , die beiden Historiker, Arnoldi und unser Verfasser als be- 
günstigte Diener des Hauses Nassau und jedes Wort vorsichtig 
wägend, welches der hohen Herrschaft konnte hinterbracht wer- 
den , über Schiller erbost sind , dafs er Ludwig mit seinem wah- 
ren Namen nennt, so ist das ganz in der Ordnung; auch weifs 
Bef. recht gut, dafs Schiller als Dichter oft mit der Geschichte 
umgeht , wie Walter Scott ; aber Hr. Groen van Prinsterer thut 
doch Schiller zu viel Unrecht. Er sagt S. 45: En general on 
doit se defier d'un historien poete, — damit stimmt Bef. voll- 
kommen überein , besonders in Beziehung auf Schiller und Her- 
der; was aber jetzt folgt, ist eben so ungerecht, als unwahr. Er 
sagt nämlich , Schiller sey trop imbu des opinions et des prejuges 
(Schiller und Vorurtheile I! ) dun siecle soidisant philosophique 
pour apprecier a leur juste valeur les hommes et les evenemens 
eminemment chrelicns, Schiller wäre also nicht im Stande, das 
Christliche zu würdigen ? Er, der den historischen Gustav Adolph 
christlich idealisirt? So giebt es denn also auch in Holland wie 
in Deutschland exclusive Christen, Orthodoxe und Eiferer, die 
jeden steinigen, der ihnen nicht aufs Wort glaubt, oder der noch 
einen Funken Menschenverstand übrig behalten will! Mochte 
doch Gott geben, dafs jedermann nur Chretien und niemand 
eminement Chretien seyn wollte!! üebrigens folgert Herr Groen 
van Prinsterer aus der von ihm angeführten Stelle des Van Beyd 
viel zu viel. Es hat niemand geleugnet, dafs Ludwig onverdro- 
ten war, om te atbeiden het zij met zinnen of ligchaam, bovenal 
God vrezende. Das pafst ja vortrefflich zum Charakter eines 
abentheuernäen Bitters — und so nur nennt ihn Schiller! Ja, 
van Beyd sagt sogar, Ludwig würde ein ausgezeichneter Kriegs- 
mann geworden seyn, wenn er u. s. w. Er giebt ihm aber aus- 
drücklich die Eigenschaft eines irrenden Bitters, wenn er hinzu, 
setzt, er hätte schier altcveel stoutheid in het vechten ge- 
habt. — Dies mag dienen , um anzudeuten , dafs man aus den 
vom Verf. selbst angeführten Worten eines nassauischen Getreuen 
(van Beyd) leicht beweisen konnte , dafs Herr Groen van Prin- 
sterer entweder Schiller nicht verstanden oder ihm Unrecht ge- 
than hat. 



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10 Groeo Tan Prinsterer. 

Von den unmittelbar auf No. XXX folgenden Briefen über* 
gehen wir viele, theils weil sie sich immer noch auf die Heirath 
mit Anna von Sachsen beziehen , theils weil sie aus Arnoldi be- 
kannt sind. Auch unter den Briefen bis zur Zeit der Entfer- 
nung des Cardinais Granvella wollen wir keinen besonders erwäh- 
nen, weil man diejenigen, welche für deutsche Geschichte wich- 
tig sind, aus Arnoldi oder v. Bommel kennt. Aus den mehr- 
•ten lassen sich nicht unbedeutende Züge zur Schilderung der 
Zeiten kurz vor dem Ausbruche der niederländischen Unruhen 
hernehmen. Im Vorbeigehen will Bef. bemerken , da Ts ihm bei 
dem Tode von Wilhelms erster Gemahlin sehr aufgefallen ist, 
dafs Wilhelm I, der sich rühmt, dafs er in der Augsburgischen 
Confession auferzogen war, und beim Tode seiner Gemahlin i558 
seinem Vater (S. 26 — 27) zwei ruhrende deutsche Briefe, voll 
biblischer Salbung und ganz im Geiste und Sinne der Reforma- 
tion schreibt , im Briefe an den Pabst d. h. im XXXIXsten ( der 
auch bei Arnoldi zu finden ist) gar nicht merken läfst, dafs er 
kein gehorsamer Diener des Pabstes sey. Er war und blieb Ka- 
tholik und schreibt dort: Interim tarnen, quemadmodum dixi, 
nihil intermittam operae, quin faciam ea, quae mearunx partium 
et Calholici principis propria futura esse arbitror. Diesem gemäfs 
handelt er auch. Dies hat übrigens der Herausgeber dieser Briefe 
auch in der beigefügten Note bemerkt, und hat sogar, aller Vor- 
liebe für Nassau ungeachtet, zum 5iste Briefe die Verschwen- 
dung erwähnt, deren sich die Herren dieses Hauses und ihre 
Freunde in Brüssel schuldig machten. Schade, dafs er nicht das 
Begister der einzelnen Ausgaben , das er im Archiv gefunden, 
hat abdrucken lassen. Er sagt zwar, es sey unleserlich, da er 
aber sogar den Talleyrand der Zeiten Karls des Fünften, den 
Granvella (von dem Landgraf Wilhelm von Hessen dem Prinzen 
schreibt: Es mag sich die K. M. in Spanien wol fursehen, dafs 
nicht gemeldeter Cardinal derselben in iren Erblanden ein spiell 
anrichte, wie er ihrer K. M. Vater Kayser Carolo seligen vor 
Zeiten einen Lärm im reich angerichtet hat) zu retten versucht y 
weil er ein monarchischer Minister war, so glauben wir fast, 
dafs das Begister wohl lesbar war , aber nicht zum Zwecke diente. 
Dies scheint uns um so wahrscheinlicher, als Hr. Groen van Prin- 
sterer aus dem 68sten Briefe, der auch aus Arnoldi bekannt ist, 
beweisen will , dafs sein Prinz nicht zu denen gehört habe , von 
denen Strada sage : Aliis ad tuendam dignitatem , profusis jam 
domesticis opibus, turbata republica opus erat. U übrigens sind 



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Correapondance inedite de la mauon d' Orange- Nassau. 11 

die Bemerkungen and Noten, die der Herausgeber beigefugt, ge- 
lehrt, geschmackvoll, passend, kurz, und erhöhen den Werth der 
Sammlung ganz ungemein. Vergleicht man sie mit den Phrasen 
des Herausgebers der französ. Sammlung, so wird man erkennen 
duo cum faciuot idem, non est idem. 

Der 76ste Brief, August Kurfürst von Sachsen an den 
Prinzen von Uranien , wie er hier abgedruckt ist (S. i53), er- 
gänzt, was man bei Arnoldi S. «77 findet, auf eine anziehende 
Weise. Am angeführten Orte fehlte das Wesentlichsie. Uebri- 
gens macht es der Klugheit Wilhelms mehr Ehre, als seinem 
Herzen, dafs er, während Ludwig und Johann von Nassau sich 
in ihren Briefen so besorgt zeigen um das Seelenheil des 14 jäh- 
rigen Bruders Heintz, der in Löwen studierte , er darüber ganz 
ruhig bleibt, und während er mit den deutschen Fürsten poli- 
tisch-protestantisch correspondirt , doch immer gut päbstlich ver- 
harrt. Kurfürst August ist deshalb auch viel zu klug, sich für 
das protestantische Fürstenthura Oranien , welches für Wilhelm 
der protestantische Gaspard Pape, Herr von Set. Alban, verthei- 
digte, dem der Vicomte von Usez es zu vertheidigen überlassen 
hatte, sehr zu interessiren , ausserdem waren dort ja nur Calvi- 
nisten ! Wir wollen eine Stelle aus dem Briefe des Kurfürsten 
anführen, woraus man sehen wird, dafs wir nicht Unrecht haben, 
wenn wir behaupten, dafs August, vom Lutherthum und lutheri- 
schen Dogmatikern und Concordienformeln schmiedenden eiteln 
und herrschsüchtigen Professoren geblendet und zur grausamen 
Verfolgung der Calvinisten und Kryptocalvinisten getrieben, eben 
so heftig gegen den Pabst ist, als gleichgültig über das Schick- 
sal der unterdrückten Reformirten in Frankreich. Er antwortet, 
fein genug, S. i55 — i56: 

Wir haben auch vernommen was der Babst an E. L. ge- 
schriebenn, und siehett uns der handel fast dafür an, dasz riiesz 
Spie) E.h. durch den schwartzen Pfaffen überzwerch zu- 
geschoben werde; wollten auch E. L. Irer bitt nach, gern un- 
sern Rath und bedencken darinnen mittbeilen, weil wir aber nichtt 
wissen , wasz für veraenderung inn der religion oder andern von 
1 L. und den Irem zun Uranien vorgenommen, wer der Sanct- 
Albanus scy , und was der Bapst für iurisdiction oder rechtmäs« 
sigkeit über die Stadt Uranien habe , so können wir hirzu fuglich 
nicht kommen. Wir achtten aber dafür, wo sich E. L. sonst 
gegenn der Kon, Würde zu Hispanien so vorhalten, das sie mitt 
derselben zufrieden sein, der Bapst werde es auch bei einem 



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IS 



Rroen van Frinstcrer - 



gleichenn bleibenn lassenn und derhalben irer Koenigl. Wurde 
keinen einfal inn die Niedererblände und derselben incorporirte 
furstenthumb thun. Dieses war im März 1564. Wilhelm suchte 
indessen, da die ßachen in den Niederlanden immer bedenklicher 
wurden, den Kurfürsten, wenn es immer möglich sey , in seine 
Angelegenheiten zu ziehen, und läTst ihm deshalb im April, lettre 
t. XXXII S. 169 antworten: Und ist nemblich ahndeme das be- 
meltes furstenthumb Uranien mein aigen frey gutt ist , und von 
niemandt, weder dem Bapst, Iiispanien, noch Frankreich zum 
leben hcrruert, dahero auch klarlich erscheinet das die Juris- 
diction und was dero anhaenget, mir als dem Oberherrn und 

Landtsfursten allein und sunsten niemandt zugeboert — — 

— Ob ich nuhn wohl vom Bapst seidhero dem ersten 

kein weider schreiben entpfangen und verhüllen er werde es also 
darbey beruhen lassen, so bith ich gleichwohl noch wie zu vorn, 
dieweill dem anders nit als obbemelt E. Churf. Gn. wollen mir 
iren trewen rath mittheilen , weszen ich mich gehalten solle , da 
mir der Bapst über mein Versehens und verschulden nach ausz- 
weissunge seines Schreibens zusetzen wurde. 

Bei Gelegenheit des Danksagungsschreibens des Erzbischoff 
von Uetrecht, Friedrich Schenk von Tautenburg an den Prinzen 
scheint der evangelisch fromme Herausgeber sogar diesem gelehr« 
ten katholischen Geistlichen einen Vorwurf darüber zu machen, 
da Ts er in den lateinischen Dichtern belesener scheine, als in der 
heiligen Schrift. In Deutschland macht man jetzt ja gerade der 
vornehmen , oberflächlichen Welt , wie vorher den Pfaffen ihre 
Entfernung von allem mühsam zu erstrebenden Wissen , aller 
klassischen Bildung , und ihre kecke Verachtung alles dessen , was 
wir studia bumanitatis nennen, zum grofsen Vorwurf. Das er- 
wähnte Schreiben (Lettre XC) ist ausserdem ein bloses artiges 
Danksagungsbillet; wäre es schicklich gewesen, dieses im Styl 
des A. T. oder einer Predigt abzufassen ? Diese Bemerkung be- 
zieht sich auf die kurze Note zum oosten Brief, welche lautet: 
Cette lettre fort respectueuse , semble indiquer un homme moins 
verse dans les saintes Ecritures que dans les poetes Latins. 

Weiter unten folgt eine Anzahl Briefe über die Abendmahls- 
lehre oder vielmehr über die Zänkerei über das Abendmahl, die 
einem Manne , der in jeder Beziehung so grofse Aehnlichkeit mit 
Carl V. hatte, als Wilhelm L höchst lächerlich vorkommen mufste. 
Der Prinz hatte damals ganz etwas andres zu thun, als an die 
Gegenwart Christi im Abendmahl zu denken. Man hatte gerade 



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Corrc«pondance inedite de U maiton d'Orange-Nasaau. 13 

um die Zeit (i565) die Absendung des Grafen Egmont nach Spa- 
nien beschlossen. 

Bei dieser Gelegenheit erklärt sich Hr. Groen ran PHnstcrer 
zum toiten Briefe über das, was er für wahres Christen, 
thum hält, und Ref. will, weil er gewifs weifs, dafs Hr. G. v. P. 
diese Blätter zu Gesicht bekommen wird, gerade weil er ihn 
sehr achtet , ganz freimüthig seine Meinung sagen. Er hält ihn 
für gebildet genug , um Offenherzigheit nicht übe! zu nehmen , 
und für edel genug , um eine andere Ansicht gottlicher und mensch- 
licher Dinge als die seinige zu dulden, wenn er sie auch nicht 
billigen kann. Hr. G. v. P. schliefst sich nämlich förmlich an die 
Exclusiven und Ueberschwänglichen an , die jetzt in Deutschland 
besonders unter preufsischem Schutz gedeihen, und nicht eher 
lernen werden , wie sehr sie sich und Andere täuschen , bis sich 
der Abgrund aufthut, der ihre verkehrte Kirche, aber leider zu- 
gleich auch alle Sittlichkeit verschlingen wird. Dies bezieht sich 
darauf, dafs S. 222 eine lange Stelle aus der ausserhalb Preufsen 
sehr berüchtigten Berliner Kirchenzeitung angeführt wird, und 
dann triumphirend ausgerufen: qui (die Kirchenzeitung) a fait 
de ja tant de bien , en exposant franchement la verite. Wir wol- 
len es dem Holländer zugute halten , dafs er nicht weifs , welches 
Unheil diese dogmatischen Zeloten anrichten, wie sehr sie der 
Religion schaden , indem sie nur Extreme übrig lassen und die 
aus Furcht und aus Klugheit einstweilen schweigenden sehr zahl- 
reichen Zweifler erbittern. Wir hoffen übrigens, dafs es nicht in 
Holland wie in Deutschland ist, wo man mit der Frömmigkeit nach 
Gunst, Besoldung, Stellen und Orden jagt, oder in England, wo ein 
Lyndhurst und andere durch Iramoralität berüchtigte Große sich 
stellen , als wenn sie von dem zelo domus dei entbrannt wären , 
und niemanden täuschen , als wer gern getäuscht seyn will. Ref. 
hält für genug , sich einmal ganz bestimmt über diese Sache er- 
klärt zu haben; er wird künftig Alles, was sich auf die Religion 
bezieht, ganz übergeben. 

Merkwürdig sind die Briefe Wilhelms an Ludwig, ganz be- 
sonders aber No. CVI. CVH. CV1H. Schreiben des Herrn von 
Brederede an Ludwig von Nassau und an den Prinzen von Ora- 
nien , dessen Schlauheit, Verstecktheit, Vorsicht auch in diesem 
heimlichen Briefwechsel nicht zu verkennen ist. Er bittet daher 
auch in einem der vorhergehenden Briefe, sein Bruder möge 
doch bei seinem Verkehr mit'dem Landgrafen von Hessen mehr 
Behutsamkeit anwenden und diesem anempfehlen. Er schreibt 



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14 



Groen van Priniterer 



S. «43: parquoy me sembleroit que deussiez forire au dit 

Lantgrave, le priant que yos lettres fassiont tenues secrctes, oa 
poar le moings, si les vouldroit communiquer a des aultres, que 
se fasse sur ua auitre nom, potfr plusieurs respects trop longues 
a cmre. 

Ungerecht ist Hr. Groen van Prinsterer gegen die unglück- 
liche Anna von Sachsen, der Wilhelm, als sie noch nicht sieb- 
zehn Jahre alt war, den Hopf so voll Eitelkeit gesetzt hatte, dafs 
sie darauf bestand , ihn zu heirathen , obgleich ihr Grofsvater 
Philipp Alles aufbot, um zu hindern, dafs das leichtfertige Mäd- 
chen so jung unter die ausschweifende und schwelgerische belgi- 
sche Aristokratie geriethe. Als ihm Kurfürst August schrieb, die 
Prinzessin bestehe auf der Heirath und der Prinz sey reich und 
habe ein grofses Gouvernement, so antwortete er: Ist uns wie 
vorgemelt seltzam zu hören, das ein sollich Jung Mint von 16 
Jahren solt macht haben , sich zu verloben ohne der eitern wis- 
sen. Was das Andere angeht, sagt Philipp spöttisch, so glaube 
er Alles gern, denn der Prinz habe neulich ein Bankett gegeben, 
wobei Tischtucher und Twelen und Alles andere von Zucker ge- 
wesen , und da er schon etliche seiner Herrschaften erblich ver- 
kauft, so werde, wie man sage, die Heimfuhrung wahrscheinlich 
von den Katzenellenbogenschen Abstandsgeldern bezahlt werden. 
Ist es wohl recht , dafs der Herausgeber der Briefe Wilhelms , 
der schon vier Jahre nach seiner Vermählung mit der kaum 21- 
jährigen Gemahlin in bitterm Zwist lebt, alle Schuld von ihm ab 
auf die unglückliche Anna wälzt? Der note Brief nämlich be- 
trifft den Ehezwist, und Herr Groen van Prinsterer schickt fol- 
gende sonderbare Bemerkung voraus: II seroit facile de produire 
de preuvea nombreuses de l'inconduite (ist das ein gutes Wort?) 
d'Anne de Saxe, qui ne tarda pas a se livrer ä son humeur aca- 
riätre et a ses mauvais penchans. Dabei macht es seiner Treue 
gegen das Haus Oranien und seiner Ergebenheit allerdings Ehre , 
nicht aber seinem Eifer für reine historische Wahrheit , wenn er 
hinzusetzt : Nous n'en comptons guere faire usage (von vorgefun- 
denen Briefen der Anna), que lorsqu'elles prouvent en mime lems 
le bon droit , In moderation et la palience de son epoux. 

Der Ehezwist war damals schon so weit gekommen, dafs 
Junii i665 Hans Looser, marescallus ducis Saxoniae, wie er hier 
genannt wird, nach Brüssel hatte geschickt werden müssen. Wil- 
helm schreibt indessen ganz in seiner feinen und schlauen Art 
seinem Bruder folgendermafsen : 



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Corre.poncUncc inetlite de la maison d'Orange- Nassau. 15 

lieber Bruder. Da ich sowohl Morgens als Nachmittags ver- 
hindert bin , und mit dem Cavalier des Herzogs von Sachsen nicht 
reden kann, so scheint es mir, Du wurdest wohl thun, ihn rufen 
zu lassen und ihm zu sagen , dafs meine Gemahlin die Versiche- 
rung gegeben hat, dafs sie sich künftig in Allem gehorsam ge- 
gen mich betragen wolle, und dafs sie auch das Vergangene be- 
reue, gleichwohl damit es nicht scheine, als wäre alles, was 
ich und auch Du ihm gesagt hast , von uns erfunden , wünschte 
ich, dafs er die Haushofmeister verhörte, den van der Eike und 
wen er sonst wolle, selbst ihre Hammerfrau, die kleine Deut- 
sche. Auf diese Weise wird er erfahren, wie und auf welche 
Weise sie sich auffuhrt. Wenn er hernach Alles gehört hat, 
kann er desto besser auf Mittel denken, dem Uebel abzuhelfen; 
denn was meine Gemahlin ihm gesagt hat , das hat sie hundert- 
mal auch mir und Andern gesagt, ich fürchte daher, dafs, sobald 
er weg seyn wird, die alte Geschichte wieder beginnt. Sollte 
sich aber gegenwärtig kein Mittel finden lassen, so wird die von 
ihm eingezogene officielle Nachricht dem Herrn Kurfürsten die- 
nen können , damit er desto besser irgend ein Mittel ausfinden 
und meiner Gemahlin darüber schreiben könne. 

Sehr verständig schreibt hernach Landgraf Wilhelm von Hes- 
sen, Lettre CXI V S. 270, unter vielen andern Dingen auch über 
diese Sache. Wilhelm schreibt erst, Kurfürst August habe ihn 
von Hans Lofers Sendung benachrichtigt, und er habe seiner 
Muhrae geschrieben , sie solle sich künftig besser gegen Wilhelm 
betragen; dann fügt er hinzu: dan ich wol auch in gutem ver- 
trauwen nit verhalten, dasz man in der Pfalz, im Wirtemberg, 
Elsas und dem ganzen oberland da ich itzo kürzlich gewesen, 
mher als zuviel von diesem Unwillen so zwischen baiden iren 
liebten sein soll, waisz zu plappern, nit ohne grosze bekummer- 
nus alles derer, so es baiderseits gut mainen. Dann fügt er hinzu, 
er hoffe, seine und des Kurfürsten Ermahnungen würden bei 
Anna fruchten, sie würde das Versprechen halten, welches sie, 
wie Wilhelm schreibe, gegeben habe, endlich aber fügt er bie- 
der und wahr hinzu: So ist auch ihre Liebden (Anna) noch ein 
jung mensch und dero Landssitten vilaicht nit gew£nt, darumb 
musz man i. L. auch etwas zu gute halten: bit und erman euch 
der halben . als mainen insbesondere gelipten und vertrauten freund, 
Ir wollet an euch nichts lassen erwinden , so zu ablegung aller- 
hand misverstands und erhaltung gutes , freundlichen willens zwi- 
schen baiderseits irenLibten, immer mag dienstlich erfunden werden. 



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16 Green v. Priniterer Corretpoadance ioed. de la maia. d Orangc Nassau. 

Uebrigens ist es sehr anziehend, zu bemerken, mit welcher 
Klugheit Wilhelm sich in eben dem Mafse , als er einen völligen 
Bruch mit Spanien immer mehr ahndet, den Protestanten nähert 
und sich auf eine solche Weise erklärt, dafs er nur noch einen 
Schritt zu thun braucht, um als Protestant zu erscheinen. Die- 
sen Schritt verzögert er absichtlich. 

Im noten Briefe S. 283 schreibt Wilhelm seinem Bruder 
allerhand Neuigkeiten. Aus der Nachricht von Philipps Sohn, 
Don Carlos, wird man gelegentlich sehen können, wie man schon 
damals von diesem Prinzen dachte, der zwei Jahre später be- 
kanntlich auf eine ganz eigene Weise wahnwitzig ward , ohne 
gerade den Verstand zu verlieren. Etwas Aehnliches ist bekannt- 
lich dem Erben eines nordischen Honigreichs in unserer Zeit auch 
begegnet. Es soll auch , schreibt er , boebgedachter Prinz von 
Hispanien, gleich wie vorhin 16 Pfund Obst also itzunder 4 Pf. 
Trauben geszen und darauf zween wasser trunck gethan haben, 
daraus er in Schwachheit gefallen und krank worden seye. 

Den Schlufs des ersten Bandes machen 6 lithographirte Fac- 
simile's, unter denen anch die Handschrift des unglücklichen Gra- 
fen von Egmont und des Lazarus Schwendi sich findet. 

Der zweite, an Seitenzahl stärkere, Band enthält nur Briefe 
eines einzigen Jahres; aber es ist das für die Geschichte der 
Niederlande so wichtige Jahr i566. Der "Verf. hätte sich also 
nicht entschuldigen dürfen, dafs er so viele Briefe eines ein- 
zigen Jahres bekannt gemacht hat; die Wissenschaft und Jeder , 
der aus dem Studium des Menschen ein Geschäft macht , wird 
ihm vielmehr sehr dankbar seyn , dafs er diesen Schatz ans Licht 
gebracht. 

(Die Fortsetzung folgt.) 



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SPfg.'"' HEIDELBERGER 1887. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

Oroen van Prin*t er e r : Correspondance inedite de la 

mation d'Orange-Nattau. 

( Fortsetzung.) 

Ref. mufs des Zweckes dieser Blätter wegen sich bei dem 
aten and 3ten Bande kurzer zu fassen suchen , als bei dem er- 
sten, weil sonst seine Anzeige einen zu grofsen Raum einnehmen 
wurde; er verweilt daher etwas länger bei der Einleitung, welche 
Herr Groen yan Prinsterer vorgesetzt hat, damit die Leser , der 
Jahrbucher urtheilen können, was sie hier zu suchen haben und 
Ton wie grofser Bedeutung das Buch für die allgemeine Geschichte 
von Europa während des i6tcn Jahrhunderts ist Er sagt zuerst, 
dafs er sich entschuldigen müsse, dafs der 2te Band nur Briefe 
eines einzigen Jahres begreife, dann fahrt er fort: 

In der That entwickelten in ( diesem Jahre unvorhergesehene 
Umstände plötzlich, was der Gang der Dinge schon lange vorbe- 
reitet halte. Seit einem halben Jahrhundert war durch den Pro- 
testantismus ganz Europa in Bewegung gebracht. Carls V. Macht 
and politischer Berechnung zum Trotz herrschte er in vielen 
Gegenden von Deutschland , auch hatten die nordischen König- 
reiche Schweden, Dänemark, Norwegen die Reformation einge- 
führt.. Sie siegte nach manchen Abwechslungen endlich in Eng- 
land, auch in Schottland war sie durch eine kräftige Bestrebung 
der Nation durchgesetzt. Frankreich wurde durch Zwistigkeitcn 
und innere Kriege zerrissen , welche dadurch erzeugt waren , dafs 
man die entstehende Kirche durch blutige Verfolgung zu unter- 
drucken suchte. Auch in den Niederlanden hatte sich die 

Zahl der Bekenner der neuen Lehre bedeutend vermehrt ; das 
merkte man aber dort nur allein aus Verfolgungsdecreten und aus 
grausamen Bestrafungen. In den letzten Zeiten von i56i — 1565 
hatten sich Klagen erhoben ; aber was hatten sie gefruchtet ? Die 
Bitter des goldnen Fliefses hatten sich einigemal versammelt, da- 
durch war nichts ausgerichtet ; es hatten sich sturmische Debat- 
ten im Staatsrathe erhoben , man hatte dem Könige Philipp Vor- 
stellungen getban , dadurch war nur eine Verdoppelung der Strenge 
herbeigeführt worden. „ 

Im Jahre 1 566 hörte dieser Zustand auf. Es galt in diesem 
Jahre nicht mehr blos dem Evangelium und den frommen Mar- 
XXX. Jahrg. 1. Heft. 2 

* 

■ 

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tyrern desselben, ein großer Theil des Adels erkannte, dafs die 

bisherige Verfassung bedroht werde; man fürchtete eine kö- 
nigliche Macht, welche sich auf die Inquisition stutze und eine 
nach spanischer Weise furchtbare Unterdrückung übe. Ein be- 
deutender Theil des Adels schlofs daher eine Verbindung und 
erklarte sich offen gegen die Verfolgungsmafsregeln des Königs. 
Dieser Schritt ward entscheidender, als selbst die Verbündeten 
vielleicht geahndet hatten. Die Protestanten, die sich bisher ver- 
borgen gehalten und schon sehr zahlreich waren, kamen her* 
vor, überall traten Prediger auf; das Volk erhob sich, so zu sa- 
gen, in Masse, um Gottes Wort zu hören u. s. w. Aber 

ein unvorsichtiger Feuereifer und unbedachtsame Handlungen 
schadeten dem glücklichen Fortgange der Sache. 

Viele Katholiken, welche die Verfolgung nicht billigten, wa- 
ren gleichwohl sehr erbittert über die Unordnungen , die ihnen 
gottloser Frevel schienen; die Bande, welche die Verbündeten 
zusammenhielten, loseten sich; der Konig, der anfangs schwankte, 
rührte sich; die deutschen Fürsten mi Istrauten einer Sache, die 
so viele Excesse veranlafste. Die Verfolgung, die einen Augen- 
blick aufgehört hatte , begann aufs neue ; viele Protestanten nah- 
men, als sie sich verlassen sahen, ihre Zuflucht zu dem Mittel t 
welches den Verzweifelten allein übrig bleibt, zu den Waffen. 
Sie können fortan nur grausame Strafe von einem Monareben er- 
warten, der sich zum Bacher der Gottheit aufzuwerfen berufen 
fühlt u. s. w. 

Dies sind die Ereignisse, welche sich in diesem kurzen aber 
merkwürdigen Zeiträume zusammendrängen. Man findet in den 
hier abgedruckten Briefen eine fast ununterbrochene Erzählung 
der Ereignisse. Dann geht der Verf. mehr auf das Einzelne ein, 
wir wollen aber nur noch wenige Sätze ausbeben, da wir ihm 
weder in der Apologie von Wilhelms moralischem Charakter, noch 
in der Lobrede auf die verschiedenen Glieder des Hauses, dem 
er dient, folgen können. Was das Erste angebt, so ist es uns 
genug, dafs Wilhelm ein grofser Mann war, wie Carl V., der 
ihn so sehr hervorzog, und dafs er, wie auch v. Rommel sehr 
richtig gesehen und geurtheilt hat, sich durch italienische Maccbia- 
vellistische Politik der ähnlichen Schlauheit der Jesuiten und Spa- 
nier überlegen zeigte. Was das Andere betrifft, so mag man 
darüber nachlesen, was Herr Groen van Prinsterer aus den Brie- 
fen anfuhrt. Uebrigens bleibt Hr. G. v. P. ganz auf dem histo- 
rischen Wege, er giebt keine Orakel, er macht keine Sophismen, 



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Corretpondance incditc de la maison d'Oran£«-Nastau. 19 

er setzt uns nicht dadurch in Verlegenheit, dafs, sobald wir nur 
in einem Punkte von ihm abweichen, wir nicht mehr folgen, sei- 
nem U itheile nicht mehr trauen können. Nein, er fuhrt die Stel- 
lten an an, worauf er sein Urt heil stützt, er stellt seine Ansicht 
einfach und ohne Machtspruch ganz unbefangen auf, and über- 
läfst es dem Andersdenkenden, die gegebenen Elemente seines 
Urtheils in ganz andere Verbindung zu bringen. Ref. erwähnt 
dies , weil die in Frankreich und in Deutschland herrschende 
Metbode eine ganz andere ist und ein Absprechen Mode wird, 
dessen man bisher nur in der speculativen Philosophie und in 
Becensionen der Philologen gewohnt war. 

Herr Groen van Prinsterer fuhrt S. IX u. X einige bedeu- 
tende Fürsten und Herren an , die man ans ihren eigenen Brie« 
fen hier naher kennen lerne, und zwar unter den deutschen Für- 
sten besonders Kurfürst August von Sachsen und seine lächerliche 
and verderbliche Wuth gegen Calvin und Calvinistische Meinun- 
gen, Wilhelm von Hessen und seine edle und verständige Tole- 
ranz, auch der alte Philipp, noch auf dem Todesbette dem Prin- 
zen in der Sache rathend, für welche er sein Lebelang gekämpft 
hatte. Unter den Niederländern, heifst es S. IX, wird man hier 
naher kennen lernen : zuerst den tapfern aber unglücklichen Gra- 
fen von Egmont , der mehr für den Krieg als für bürgerliche 
Bewegungen geboren war. Er war grofs in Schlachten, zeigte 
aber wenig Scharfsichtigkeit, wenn es darauf ankam, politische 
Ereignisse vorherzusehen«. Er bedachte sieb, wenn er hatte han- 
dein sollen, und Bernard von Merode meldet in einem Briefe, 
den man S. 424 dieses Bandes findet, »quo non obstant toutes 
les fasoheries que Ton lui faict, ne se resoudrat si non au grand 
besoigne et extremite. « Dann den Grafen von Brederode, des- 
sen Briefe überall verrathen , dafs er ohne Sitten und ohne Grund- 
sätze ist, und sich auch in seinem lobens würdigsten Beginnen 
von einem unüberlegten und heftigen Eifer treiben läfst, der mit 
jenem ruhigen Muthe, an welchem sich alle sturmischen Wogen 
brechen, ohne ihm zu schaden, nichts-gemein hat. Den Herrn 
Bernard von Merode, der, wie so viele Belgier jener Zeit , bereit 
ist, Alles zu thun , Alles zu opfern, um Religion, Hechte des 
Landes und wahre Freiheit zu vertheidigen. Den Grafen von 
Hoogstraten, den der Prinz, der das Verdienst so gut zu schätzen 
wtifste, ungemein werth hielt; den Baron von Montigny, den 
seine Treue gegen den König und seine Anhänglichkeit an die 
katholische Religion , von der man S. 359— 36 1 dieses Bandes die 



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20 Groen van Printterer 

Beweise findet, von einem gewaltsamen Tode nach kläglicher 

Gefangenschaft nicht retten konnten. Was hernach Herr 

Groen van Prinsterer von dem Nassauer Hause sagt, ubergehen 
wir, um noch zu bemerken, dafs man aus den von uns anzufüh- 
renden Worten sehen wird, wie gut Hr. G. v. P. einsieht, dafs 
sein Wilhelm I. ebensogut- als Ludwig Philipp verstand, bald den 
Katholiken , bald den Protestanten , bald den Monarchisten , bald 
den Republikaner zu spielen. Freilich ist dabei der grofse Un- 
terschied , dafs Wilhelm seine Geschicklichkeit fürs Vaterland, 
Ludwig Philipp für sich gebrauchte. 

Herr G. v. P. sagt S. XV: Besonders anziehend ist es, in 
diesen Briefen das Benehmen des Prinzen von Oranien in dieser 
Zeit zu verfolgen. Man wird in seiner Art zu handeln Dinge 
finden, welche dem Anschein nach widersprechend sind. 
Die Verbindung der Herren mifsfällt ihm nach S. i58 ; er ist 
nicht damit zufrieden, dafs öffentlich gepredigt wird nach S. i45 
u. i58; er mifsbilligt die Heftigkeit "der Bilderstürmer, und läfst 
die Urheber des Bildersturms bestrafen. Er versucht die Ord- 
nung und den Gehorsam gegen die Obrigkeit wieder herzustellen 
und verlangt unbedingte (complcte) Unterwerfung unter dem 
Konige als natürlichen und rechtmäfsigen Herrn. Auf der an- 
dern Seite knüpft er immer neue Verbindungen mit den deut- 
schen Fürsten an und nimmt geheimen, jedoch sehr tha'ti- 
gen Antheil an allen Schritten, welche gethan werden, um zu 
jeder Zeit über eine bedeutende Anzahl Soldaten schalten zu 
können. Wie, fragt er, soll man dieses widersprechende Beneh- 
men reimen? Er vereinigt es hernach auf seine Weise und 
gebraucht dabei die Briefe, die er hier herausgiebt, auf eine 
Weise, diese liefsen sich aber sehr leicht äuch auf eine andere 
gebrauchen. 

Ref. findet keinen Beruf in sich , einen grofsen Mann , der 
das Gröfste geleistet und mit dem Leben bezahlt hat, was der 
Mensch auf Erden leisteu kann — nämlich die Gewalt der Waf- 
fen , des Geldes und der Macht mit dem Verstände und ausdauern- 
den Willen zu bekämpfen — von der Schattenseite zu zeigen; 
es soll ihn freuen, wenn Hr. G. v. P. jedermann überzeugt; doch 
mufs er ihn bitten etwas vorsichtiger im Urtheilen zu seyn. Er 
scheint gar nicht daran zu glauben , dafs auch der gröfste Mensch 
dennoch Mensch bleibe, dafs der Menschheit daran liege, dafs 
dies historisch bewiesen werde, dafs der stille Forscher, der un- 
bekümmert um den Beifall der Menge oder der vornehmen Lese- 



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Ton Helden und Gittern und Zwergen und 

Schattenseite der Dinge andeutet, darum nicht 



Ipra^eJpU boshafter , ein gallsüchtiger , ein neidischer, ein hc- 
schrankter Mensch, oder gar ein Jakobiner oder Radikaler, wie 
man jetzt schimpft, zu seyn brauche. Wir nehmen es ihm daher 
sehr übel, dafs er sagt: C'est ainsi que dans un tems de philo- 
Sophie incredule (so sind die Frommen) on a cru preconiser 
Guillaume de Nassau en lui assignant le caractere assez common, 
atsez ignoble, d' intrigant politique. 

Am Ende der Einleitung giebt Herr Groen van Prinsterer 
noch folgende Notiz : Wir haben , sagt er , geglaubt , den Briefen 
einige Abhandlungen oder Denkschriften beifügen zu müssen, 
welche ausserdem gewissermaßen wesentlich zu den Briefen ge- 
hören und viele anziehende einzelne Nachrichten enthalten , z. B. 
über die Unternehmungen der Verbündeten S. 57 — 64, die Be- 
rathungen des Prinzen von Oranien mit dem Grafen von Egmont 
No. 2i5 a, mit den deutschen Fürsten No. 206 a, 237 a, die 
Werbung der Truppen No. 193 , den Zustand von Antwerpen als 
Mittelpunkt des damaligen Welthandels No. 216 a, die Lage des 
Landes im Allgemeinen No. 236 a. 

Zu der von dem Verl, selbst gegebenen Andeutung der be- 
deutendsten Stucke in diesem Bande will Ref. nur Weniges hin- 
zufügen, was ihm für deutsche Forscher wichtig darin scheint, 
ausser dem, was der Verf. schon bemerkt hatte (das VerhältmTs 
der deutschen Fürsten zu Wilhelm von Oranien). Zuerst bemerkt 
er noch im Vorbeigehen, dafs er einen ihm noch unbekannten 
Brief von Theodor Beza hier gefunden hat. Dies bemerkt Ref., 
weil er zuerst in seinem Leben Beza s einige in Gotha hand- 
schriftlich aulbewahrte Briefe dieses Reformators und hernach 
Herr Generalsuperintendent Bretschneider die übrigen hat drucken 
lassen. Dieser Brief (hier der hundert ein und neunzigste) ist an 
einen Prediger geschrieben und handelt von der Abendmahlslehre, 
also von einem Punkte , durch dessen unvorsichtige Berührung 
und durch den declamatorischen v Ausdruck über die Meinungs- 
Verschiedenheit der Lutheraner und Calvinisten Beza wenige Jahre 
vorher auf dem Religionsgespräche zu Poissy Urheber vieles Un- 
glücks geworden war. Da der Brief den Prinzen und sein Haus 
nichts angebt, so vermuthet Ref. , dafs er sich darum hier findet, 
weil August von Sachsen darauf drang und Wilhelm von Hessen 
dazu rieth, dafs die Niederländer durch Annahme der Augsburgi- 
schen Confession sich an die Lutheraner anschliefsen sollten. Die 



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22 Groen van Frinsterer 

Spanier und Jesuiten erkannten wohl , dafs das Letztere nie ge- 
schehen werde, sie hatten daher sehr fein dem fanatisch lutheri- 
schen Kurfürsten Augast and den Geistlichen wie den theologischea 
Juristen, die ihn leiteten, in den Kopf gesetzt, wenn aar der 
radikale und bilderstürmende Calvinismus aulhöre und der Ta- 
binger symbolische Bucher angenommen wurden, dann werde 
Spanien Duldung proclamiren. Darauf bezieht sich, was Au- 
gust durch einen seiner Juristen, über die sich der wackere Phi- 
lipp von Hessen, der seine Briefe selbst schrieb, oft so heftig 
beschwerte, im September i566 schreiben liefs. Lettre CCY1I. 
p. «93 : 

wir wollen aber hoffeun f Gott werde Gnade 

verleihenn , das es zu keinem weitteren aufstandt oder thetlichen 
Handlung gerathe, sonderlich weill es mitt bewilligung der kcen. 
Würde und der Guvernantin dabin gerichtet seyn soll, das 
die Augsburgische Confession mit fernerm rath un zuthun der 
Ijandstende freigelassen und gute policeyordnang angerichtet wer- 
den solle. Welcher ordentlicher wege auch wohl der sicherste 
und beste ist und wann die Augsburgiscbe confession also ange- 
nommen würdet, so kann alsdann der neben einreifsendeu Secten 
halben von der Christlichen Obrigkeit inn einer jeden Stadt und 
gebiet auch gebürlicbes einsehen geschehen. Er erklärt hernach 
ganz fromm: Er halte dafür, alle die gegen seinen Glauben in 
Bücksicht des Katechismus und der Theologie kämpften , wären 
des Satans Werkzeuge zu seinem Wüthen gegen den 
Sohn Gottes, und verdienten daher ausgerottet zu werden. 
Dann ermahnt er zur Ruhe u. s. w. und schliefst den Brief mit 
erneuter Erwähnung der Augsburgischen Confession. Es heifst: 
(Es wird von) E. L. und andern Ordensherrn dahin zu sehenn 
seyn das es weitter zu keinem auffstandt der underthanen wieder 
die obrigkeit gerathe. Wann solchs geschiehett and die under- 
thanen die Augsburgische Confession annehmen, und 
sich derselben durchaus gemefz halten, so haltten wir 
dafür die Kcen. Würde solte es auch bei dem Beligionfrieden 
beruhen lassen. Zu bewundern ist daher, mit welcher Klugheit 
in der Instruction No. CG VIII, die Wilhelm dem Grafen Ludwig 
von Wittenstein ortheilt , gerade dieser Punkt umgangen wird. 
Wilhelm schickt den Grafen an Kurfürst August, um in ihn zu 
dringen, dafs er seine Glaubensgenossen für die Niederlande in 
Bewegung bringe; doch verhehlt er ihm nicht, dafs es dort zwar 
Anbänger der Augsburgischen Confession , aber auch Calvinisten 



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Corrctpondance i n.dite de Ii miUon d'OraageäNaatau. 28 

4tocb Vrit der *eit mit unterboffen. Wahren7 aller dieser Unter- 
handlungen hatte sich Wilhelm noch gar nicht für den Protestan- 
tismus eingesprochen , weil er immer noch mit der Herzogin von 
Parma gut stand sind noch nicht sah , dafs es zum Aeussersten 
kommen werde; als aber die Herzogin selbst ihm die nahe An« 
kunft einiger (wie sie sich aufdruckt) spanischen Truppen ankün- 
digte und er erkannte, man werde mit Philipp II. brechen müs- 
iefl, Hefa er sich durch Landgraf Wilhelm von Hessen ein Gut- 
achten aus Deutschland kommen, ob er die Augsburgische 
• Confession annehmen solle. Dies Gutachten findet man hier 
No. CCXVl a p. 338. Dieses Schreiben so wie ein anderes des 
Grafen Johann an Ludwig von Nassau, No. CC Will , welches 
sehr lang ist , hat es nur mit der politischen Seite der Frage zu 
thnn. Das letzte warnt den Prinzen und seine Freunde sehr, 
sich für den in Deutschland verhalsten Zwinglianismus zu erklä- 
ren. Der Dr. Meixner, der dies Bedenken aufgesetzt hatte, wur- 
de, wie der Herausgeber in einer Note bemerkt, hernach vom 
Grafen Johann und vom Prinzen in vielen Sachen gehraucht. 
Dieser Nassauer (das Gutachten ist datirt Dillenburg October i566) 
mag ein guter theologischer Jurist gewesen seyn, denn er sagt, 
Tor dem Calvinismus warnend: Nebenn deme zum achten wirdt 
auch hiebey erwogen, daa gleichwol im religionsfrieden Anno 55 
zu Augsporg uftgericht , nicht allein die Zwinglischen , Calvini- 
sche und dergleichen lähren ausdrucklich verboten nnd vom Re- 
ligionsfrieden ausgeschlossen worden u. s. w. Das lange Memo- 
rial über den Zug seiner spanischen Truppen in die Niederlande, 
welches Philipp an Christoph von Wurtemberg und Wilhelm von 
Hessen durch die Herzogin von Parma ergehen liefs, findet man 
hier Lettre CCXXV. Man lernt freilich aus dergleichen diploma- 
tischem Gerede gar nichts, die Hauptsache hal schon Strada an- 
gegeben. Wichtig ist aber der Nachdruck , mit dem auch Wil- 
helm von Hessen , der wie sein Vater von dem Lutherischen Fa- 
natismus sehr entfernt ist, doch darauf dringt, die Niederländer 
mulsten dem Calvinismus entsagen und das Lutherthum annehmen. 
Darauf bezieht sich der ganze Brief No. CCXXVII , wo es unter 

andern S. 3<)3 heifst ; das sie auch sämtlich sich zue der 

Augsburgischen Confession erclertt und derselben gerne 1/ beid in 
Lher und Ceremonien sich verhielte/m, deszen auch ein etil ent- 
liche Confession ausgehen lieszen, so trugen wir keinen zweifei — 
der König von Spanien werde die Verfolgung einstellen , die Deut- 



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t 



24 Grocn Tan Prinaterer. 

sehen werden sich mit vorschrifft, vorbitt und anderen guetten 
befurderungen der Niederländer annehmen. Uebrigens geht aus 
des Grafen von Wittgenstein Bericht an den Prinzen 9 der ihn 
naeh Hessen und Sachsen geschieht hatte, deutlich hervor ( No. 
XXXIV), dafs der Kanzler Craco, der hernach durch die Lu* 
therischen Zeloten so grausam verfolgt und nebst allen Schulern 
Melanchthons wegen Oyptocalvioismus als Staatsverbrecher be- 
handelt ward , damals noch einen so bedeutenden Einilufs übte, 
dafs man die niederländischen Calviniaten wenigstens nicht ganz 
von sich stiefs. Wie wenig aber dem Prinzen an der ganzen 
Religionssache , die ihm durchaus Nebensache war , gelegen seyn 
mochte, bewies er dadurch, dafs er sich gar nicht öffentlich 
über Beligion erklärte , sondern nach wie vor die Messe besuchte ; 
er spricht es aber auch ausserdem in dem langen Briefe an Wil- 
helm von Hessen (No. CCXXXVII.) ganz bestimmt aus. Hier 
heilst es in Beziehung auf die armseligen Streitigkeiten der pro- 
testantischen Theologen S. 402 : Was uns den E. L. der Praedi- 
kanten halben vorgeschlagen, das befinden wir woll und treulich 
gerathen, und wolten, das wir da hie n befördern und brengen 
kÖnnthen. Eis beruften sich aber die Predicanten uff die erste 
Augspargische Confeszion , die weilendt Kaiser Karolus dem funff- 
ten von den Cbur und Fürsten zun Augsburg in original! ist über« 
antwordt worden und berühmen sich das sie dieselbig lauter und 
rein dociren und bebhennen und wollen dabei und denn Prophe- 
tischen und Apostolischen schritten nach dem Symbolo Athanasü 
und was ferners in denn ersten vieren Concilüs nach eynander 
bestettigt worden ist, stehen und pleiben und mit kheiner weit- 
tern Apologien oder erblerungen zuthun haben. Sie wollen auch 
keine Cercmonien noch den nahmen der Augspurgischen Con- 
feszion gebrauchen , auch die Apologiam , so der Augspurgischen 
Confeszion angehefftet, nit ahnemen, noch sich nach derselben 
richten. Das wir besorgen, dieweil wir uns hiebevhor hiemit 
mehrmals bemühet haben und nichts erhalten koennen, sie wer- 
den nachmals von solcher opinion schwerlich zu bringen sein. 
Und ist laider zu erbarmen, dasz diesze hehr liehe und 
schone Laender umb solicher Ursachen willent so 
jämmerlich überzogen und verderbet werden sollen« 
Dann folgen viele Seiten, wo er immer nur von politischen Grün- 
den redet, und andeutet, dafs ihm, obgleich er Christ sey, doch 
Alles Andere ziemlich gleichgültig, hauptsächlich aber meint er 
pag. 454 : Ob wir uns nun gleich zur Augspurgischen Con- 



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icosiun cruiaerion , so itutuv uns oocn nil giaum Wcroen t son- 
dem müsst ca gleich woll den Calvinischen nahmen behalten , und 
wurde uns sovil desto steiffer zugelegt werden, das wir alles 
diszes handels ein ursacher und atifiter geweszen weren, und 
stunde also zu besorgen das uns and diszen landen durch solche 
unsere erklerung , ? il mehr unraths und gefhar als bails und 
gutts endstehen mochte. Dennoch wiederholt der Landgraf ins 
folgenden Briefe , Lettre CCXXXI X , seinen Rath und unterstutzt 
ihn mit neoen politischen Gründen; da hier überall von theo, 
logischen gar nicht die Bede seyn kann, weil Wilhelm wiederholt 
erklärt , dafs er diese Streitigkeiten ganz richtig für Lappalien h al- 
te , die höchstens auf den Katheder oder die Kanzel gehören. Die 
Theologen bewiesen sich dort ond damals, wie uberall und zu allen 
Zeiten. Baptiste Vogelsang, den Ludwig von Nassau nach Breda 
geschickt hatte, um zwischen den Zänkern Frieden zu stiften, 
fand die Lutheraner ganz taub. Er schreibt Lettre CCXL : »Ceulz 
de la religion permise par provision ne desirent aultre chose et 
se presentent toosjours volunlaires, mais ceulz de la confession 
n oyent goutte, quoique je lenr ay sceu dire. Als indessen mit 
König Philipp IL nichts mehr anzufangen war, als die Noth 
drängte, als Kurffirst August mit Calvinisten, die er des Feuers 
würdig hält und gern der spanischen Inquisition preisgiebt , durch« 
aus nichts zu thnn haben wollte, als Wilhelm von Hessen in al- 
len den zahlreichen Briefen , die wir hier von ihm finden , drin* 
gend und wohlmeinend zur Annahme der Augsburgiscben Con- 
fession räth, so schreibt endlich im November i566 der Prinz 
von Oranien im 478ten Briefe p. 496 an Wilhelm und an Kur- 
fürst August: 

Wiewoll uns auch sehr beschwerlich falt uns der religion 
halben öffentlich zu erkleren , wie E. I*. desfals etliche unser 
bedenken in unserm schreiben unterm fünfften bujus, gesehen, 
nichts desto weniger, dieweil wir vor unser person, auch unser 
geliebte gemahl wegen (hier mufs also auch Anna bei ihren Ver- ' 
wandten ein Motiv werden) eben so tief! bey der Koenigl. Mat. 
in Verdacht stecken , als wan wir uns erklert betten , so weren 
wir woll bedacht uns kegent der Kön. Mat. in einem gehaimbten 
schreiben zu erkleren, und ire Majt. underlheniglich zu bitten, 
wie wir das mit allerhandt bewegniszen und umbstenden ahm 
besten fugen koennen, nachdem mahl wir in der Augspur- 
gischen Confession geboren und ufferzogen, auch die- 
selbig in unserm herzen je und allwege getragen undt 



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26 . Groen van Prinstcrer. 

bekendt haben, das ihre Mat. uns and unsern ondortbanen die- 
selbig Confession Frey and sieber zulassen wollen. • 

Darüber ist denn August hocherfreut and drückt in allen 
möglichen theologischen Floskeln seine Freude über den Triumph 
•eines lutherischen Zions aas; wir wollen nar eine korze Probe 
aas dem zweihundert und fünfzigsten Briefe S. 509 anfuhren : 
Das L L. sich bedacht sich zu der Aogspurgiscben Confession 
öffentlich zu bekennen, thun wir uns kegen E. L. freundlich be- 
danken und vf Untschen von Got dem Almechtigen das ehr E. L. 
in solchem Christlichen vorhaben durch seinen Heiligen Geist 
(von dem schreibt Wilhelm nie etwas) Sterke, leithe and fhure, 
wie den das wahre erkenntnüs des Herrn Christi und seines allein 
seligmachenden worts, von Got alleine zu erbitten und zu erlan- 
gen , und gar nicht menschenwerk ist. 

Auch diesem Theile sind wieder 4 Platten mit eilf Facsimi- 
les angehängt. 

Der dritte Theil begreift die Briefe der Jahre 1567 — »573, 
and Herr Groen van Prinsterer hat diesem Bande com grofsen 
Vortheil der Freunde grundlicher historischer Forschung eine 
Einleitung von neunzig Seiten vorgesetzt, worin die Resultate, 
welche für die Geschichte aus diesen Briefen hervorgehen, klar 
and vollständig hervorgehoben werden. Bef. darf, da er seibat 
noch von seiner Seite auf einige in diesem Bande enthaltene 
Briefe besonders aufmerksam machen mochte, nur einige Stellen 
der Einleitung übersetzen, um zu zeigen, wie vortrefflich der 
Herausgeber das Bedeutende vom Unbedeutenden unterscheidet f 
und wie weit er von der herrschenden Sucht, Phrasen zu ma- 
chen , entfernt ist. Ref. hat schon oben erklärt, dafs er mit der 
Art, wie Hr. G. v. P. Wilhelms von Nassau Tugendhaftigkeit 
demoostrirt und alle hohe Anverwandten desselben in Schutz 
nimmt , nichts zu thun hat ; er hält es aber gerade deshalb für 
PAicht , aus einigen Stellen einleuchtend zu machen , wie gut der 
Herausgeber die Sache seiner dienten führt, und wie er durch- 
aus keine Sophismen der neuen Schule gebraucht. 

Man schreibt gemeiniglich, sagt Hr. G. v. P. pag. VII, den 
geheimen Aufhetzungen Wilhelms die Unternehmungen zu , wel- 
che in den ersten Monaten des Jahres 1567 auf eine so traurige 
Weise scheiterten. Wir haben in den Documenten gar nichts 
gefunden , was diese Vermuthang rechtfertigen konnte , man kann 
sie sogar schwerlich mit dem Zustande der Dinge vereinigen. 
Der Prinz fand ja weder in dem Grafen von Egmont eine Stütze, 



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Co, respondanje inedita de U maisoa ri'Orangc Nawau. ff 

d d* All iifbo *ch d ofe b 

so wenig in den Verbündeten, von denen die mehrsten entweder 
feige oder verwegen waren; noch weniger in den Ständen oder 
den städtischen Magistraten, die im Allgemeinen gegen die Re- 
formation sehr eingenommen waren; auch nicht in der Masse des 
Volks, dessen unruhige (demokratische ?? ) Bewegungen er gar 
nicht gern sah. Weiter unten sucht der Verf. diese Satze aus 
Stellen der Briefe zu beweisen; da aber die Briefe alle hier 
abgedruckt sind, so wird nicht nothig seyn , dafs Ref. seine ent- 
gegengesetzte Ansicht durch Stellen belege, jeder Forscher mag 
selbst zusehen ; den Andern ist es heilsamer , die Behauptung des 
Herrn G. t. P. anzunehmen, als das Gegentheil. Herr G. v. P. 
fährt S. VIII fort: 

Wenn hernach der Prinz dennoch aus dem Lande geht, so 
geschiebt das keineswegs, um es ganz zu verlassen. Er geht 
nach S. 67 nach Deutschland »pour prendre conseil de set 
teigneurs et srais«. Wenn er aber auch in demselben Briefe 
sagt: Soviel ich voraussehen kann, so ist es um diese Provinzen 
geschehen, weil in den jämmerlichen Niedermetzelungen tausende 
guter und frommer Christen ihr Leben und ihre Guter verlieren 
werden , so setzt er unmittelbar darauf hinzu : Es sej denn , dafs 
der allmachtige Gott dies Unglück abwenden wolle und dafs die 
deutschen Fürsten und Hurfürsten das Land vor so schrecklichen 
Verwüstungen retten. Der Herzog von Alba erscheint Mit den 
Worten Ketzerei nnd Empörung scheint ihm Alles rechtmä'fsig, 
Einkerkerung, Verbannung und Aecbtung, Verletzung der Pri- 
vilegien, Vernichtung der Rechte und Freiheiten, Beraubungen, 
Tortur und Todesstrafen. Man klagt den Prinzen an , man zieht 
seine Güter ein, man entführt seinen Sohn. Er ist durch die 
Stellen, die er vorher bekleidet hat, durch die Güter seiner Fa- 
milie, durch seine Talente, durch seine bekannten Gesinnungen, 
durch seine Hülfsmittel und Verbindungen der bedeutendste and 
geachtetste Mann in Belgien. An ihn wenden sich daher die Un- 
terdrückten, damit er sich der Freiheiten annehme, die er zu 
schützen gehalten ist; sie rufen ihn an im Namen des Honigs, 
den die Spanier mißbrauchen und verrathen ; im Namen der hei- 
.Kgen Sache, welche er, wie man weifs , aufrichtig liebt. Man 
bittet ihn, man ermuntert ihn, man beschwurt ihn, er möge 
doch nicht zugeben , dafs die Provinzen ohne Widerstand zu 
Grunde gerichtet, die Bewohner niedergemacht werden. Darum 
sagt er dann endlich (in dem Entwürfe, den der Herausgeber 



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28 Groen van Priotterer m 

No. CCCIV tut einem von dem Prinzen eigenhändig aufgesetzten 

und corrigirten aber nicht vollendeten Aufsätze mit der Ueber- 
schrift: Cesi est la declaration que faict le Prince d'Orange sur 
l'instante requisition qui lui ast estc faict de la part de la plus 
grande pai tie des inhabitant des Pays Bas maintenant par tant de 
fassons opprimes, S. ao5 bekannt gemacht hat): »Der Prinz bat 
sich endlich entschlossen, der Bitte eines getreuen Volks Gehör 
zu geben, welches gegenwärtig ganz sich selbst überlassen ist; 
und zwar um soviel eher, als er gewifs weifs, dafs, wenn die 
Sachen bleiben , wie sie gegenwärtig sind , dies nicht blos der 
Ruin des Landes, sondern höchster Nachtheil des Honigs seyn 
wird.« Ref. bemerkt noch einmal, dafs Alles dieses Worte des 
Herrn Groen van Prinsterer, nicht aber die seinigen sind. Ref. 
will noch die folgenden Bemerkungen beifugen S. X : 

Ein grofser Theil der in diesem Bande enthaltenen Akten- 
Stucke betrifft die kriegerischen Unternehmungen in den Jahren 
i568 und 157a, und man wird künftig anter den Beweisen der 
strategischen Talente des Prinzen die Ratbschläge aufzählen kön- 
nen, die er dem Grafen Ludwig giebt Diesem wird darin die 
Niederlage bei Jemmingen , wenn er nicht die Belagerung von 
Groningen aufgiebt, ganz bestimmt vorausgesagt, denn in dem 
auf Wilhelms Befehl geschriebenen Aufsatze No. ( ( CXI V a S. 208 
heifst es: Surtout faut avoir esgard que la oü ils seroyent forcea 
de se retirer ils sont asseures ne le pouvoir faire, ayant l'ennemy 
ä doz, sans etre ou deffaits ou grefvement endommage. 

Die Archive, heifst es weiter, enthalten wenig über die Jahre 
i56q, i570, »571, weil der Prinz diese entweder in Frankreich 
zubrachte, wohin er mit einem kleinen Heer den Huguenotten 
zu Hülfe zog , oder in Deutschland , wo er mit Unterhandlungen 
und Vorbereitungen beschäftigt war u. s. w. Was dann von der 
Familie des Prinzen bis S. XVII aus den Documenten beigebracht 
wird, wollen wir den Lesern überlassen in dem Buche selbst auf- 
zusuchen , und nur noch Einiges über einige andere Personen 
jener merkwürdigen Periode anfuhren. Unter diesen sagt der 
Herausgeber von Brederode, er sey i568 gestorben und es sey 
ihm für das Andenken desselben lieb, dafs er keine Briefe von 
ihm gefunden habe. Der Graf Hoogstraten, der hier S. 170 
Nachricht von seinem Tode giebt , und der in demselben Jahre 
umkam, zeigt sich S. 3io voll Theilnahme am traurigen Schick, 
sale des Vaterlandes und voll Eifer, es zu befreien. Die Denk, 
schritt über die Hülfe, die man Ludwig von Nassau schicken solle, 



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Correapondancc inedite de In niaison d'Orange-NoMan. 



19 



No. CCCX b , ist ein neuer Beweis , dafs der Prinz ihn um seine 
Rathschlage ersuchte. Man wird hier mehrere Beispiele seines 
lebhaften und naiven St vis finden. Er schreibt p. 241 : La con« 
science de cestus Nero d'Alre le jage, qui vault mille temoings. 

J'ai en advertence que sommes estes banniz a jamait 

— mais espere pour n'y avoir fondement, que monstreront 

de brief que nous en soulcions peu et que ce bon dieu noos en 
fera quelque jour la raison. Oder pag. 281: Je sin journellement 
entendant a faire exerciter mes gens a tirer auz butes puisque 
ne s'ofTrit eneoires occasion a le faire sur les ennemis. Wir 
wollen die andern weniger bekannten Männer übergehen , und 
statt dessen einige vortreffliche historische Bemerkungen, welche 
Herr Groen yan Prinsterer mit Steilen aus den Briefen dieses 
Bandes belegt, anführen. Es heifst S. XVIII: Die niederländi- 
schen Herren, welche, nachdem sie kürzere oder längere Zeit 
angestanden , nachdem sie ein ziemlich offnes Bestreben , Wider* 
stand zu leisten, gezeigt hatten, sich endlich ganz unbedingt auch 
in die willkührlichsten Befehle des Regenten ergaben , waren bei 
Alba 's Ankunft in einer sehr traurigen und falschen Stellung. Die- 
ser Band giebt merkwürdige Urkunden ihrer Kleinmuthigkeit. Die 
Grafen Egmont und Mansfeld wagen nicht, einem Nachtessen bei- 
zuwohnen, zu dem sie der Gesandte Maximilians II. einladet, weil 
sie fürchten, sie mochten dort die Abgeordneten der deutschen 
Fürsten finden, die sich für die Protestanten verwenden sollten 
(pag. 97). Sobald der Herzog von Alba nur über die Grenze 
kommt, so drängt man sich und stürzt ihm entgegen; S. i«5 
heifst es: Viele Herren und Cavaliere sind ihm entgegen gegan- 
gen, unter andern der Herr Admiral. Seite n5 fgg. : Herr von 
Meghem kam Nachts in Antwerpen an, schon am frühen Morgen 

nahm er Post und fuhr dem Herzog von Alba entgegen 

Der Herzog von Aerschot suchte den Herzog auf, und der Herr 
von Egmont ist mit etwa vierzig Cavaüeren abgefahren, um eben- 
falls dem Herzog seine Aufwartung zu machen, so dafs Madame 
jetzt hier ganz allein ist, ohne einen einzigen Bitter vom Kliefse. 
Der Graf Megen erhält (p. s53) vor Groningen einen sehr merk* 
würdigen Brief von dem Grafen Ludwig von Nassau und von 
Hoogstraten , worin diese ihn ermahnten , dafs er und die Uebru 
gen, welche verbunden seyen dem Vaterlande zu dienen, doch 
nicht dem besondern Ehrgeiz einer Nation, die aller Gerechtig- 
keit, Vernunft, Staatsklugheit fremd und feindlich ist, dienstbar 
seyn mögen. Er antwortet (p. i5.\) : Meine Herren, ich habe 



80 Grocn van Prinsterer 

• 

Ihren Brief empfangen, und da der Herzog mir verbot, 

Ihnen auf einen frühem, den ich von Ihnen erhalten habe, zu 
erwiedern , so wage ich auch auf diesen nicht zu antworten und 
habe ihn Sr. Excellenz übersendet. 

Vom Herzog von Alba sind zwar keine Briefe da, doch fin- 
den sich in den andern Briefen einige Zuge, die wir für untere 
Leser herausheben wollen. Zuerst die Art , wie er den Sohn des 
Prinzen empfangt. Ea heifst 8. I*i : »Der Graf von Buren wurde 
Tom Herrn Herzog sehr gut empfangen und sehr geliebkoset. 
Er erklärte ihm, dafs, wenn sich die Gelegenheit darbieten sollte, 
ihm einen Dienst zu leisten, er sie mit Freuden ergreifen wurde. 
, — - — Den aasten nahm der Herr von Buren Abschied ; der Her- 
zog umarmte ihn, und that ihm aufs neue dieselben und ähnliche 
Anerbietungen. Man hatte damals die Grafen von Egmont und 
Hoorn verhaftet, ein grofser Theil der Burger von Brüssel be- 
giebt sich zum Herzoge und wünscht die Ursache ihrer Verhaf- 
tung zu erfahren. Darauf läTst dieser ihnen sagen (pag. 126): 
Ich bin eben beschäftigt meine Troppen zu vereinigen , spanische, 
italienische, deutsche; bin ich damit fertig, so will ich euch 
Antwort geben. Er betheuert zugleich (p. 137), dafs er so auf- 
richtig wünsche, dafs die Grafen sich rechtfertigen könnten, als 

wenn die Sache seinen eignen Vater anginge. — TJeber 

den Anfang der Grausamkeiten ist hier pag. 239 sqq. das Zeug- 
nifs eines Augenzeugen: »Enthauptet wurden' die beiden Herren 
von Battenburgh, Cock, die Herren von Dhu und Villers. Die 
andern Namen, sagt dieser Augenzeuge, habe er nicht behalten, 

weil sein Herz nicht ausgehalten habe, es ferner anzusehen 

C'estoit, wird in der naiven Sprache der Zeit hinzugefugt, une 
chose de lautre monde les crys, lamentation et juste compassion 
qu'aviont ceux de Bruxelles, nobles et ignobles, ponr ceste bar- 
bare tyrannie Was Honig Philipp II. angeht, so findet 

man hier wenig über ihn. Einige Angaben (sagt Hr. Groen van 
Prinsterer) über die Gefangenschaft des Prinzen Don Carlos schei- 
nen zu beweisen, dafs der Honig in Beziehung auf diese traurige 
Geschichte zu hart beut theilt worden. Da der Verf. blos auf die 
hieher gehörigen Briefe verweiset, vielen Lesern der Jahrbucher, 
denen das Buch nicht zur Hand ist, aber vielleicht gerade diese 
Notizen anziehend seyn könnten , so will Bef. die hauptsächlich« 
sten kurz angeben. Die Sache wird übrigens nicht weiter ge- 
bracht , als sie vorher schon war, weil auch hier die zwei be- 
kannten verschiedenen Angaben sich zusammen finden. 



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- r Carrespondance inedite d*«la malaon .«"Orange- Nw.au. 81 

• 

, Landgraf Wilhelm von Hessen nämlich schreibt hier Na. CCCII 
p. 188 u. f. an den Prinzen von Oranien , er habe den Spanier 
de Luis, der jetzt bei ihm sey, gefragt, ob Philipp »einen einzi- 
gen Sohn wirklich habe verhaften lassen, nie die Königin Elisa« 
beth an ihre Mutter nach Frankreich geschrieben. Dieser habe 
es bejaht, die Ursache aber nicht gewußt Es wären drei Ge- 
ruchte darüber, etzliche sagen, der Printe sey Calvinisch und 
man habe in seine cahmmer Calvinische Bücher fanden — andere 
sagten, er habe wollen in die Niederlande gehen f andere, er 
habe seinem Vater nach dem Leben getrachtet. Er habe sich 
krank gestellt, in der Erwartung, dafs ihn sein Vater, wie ge- 
wöhnlich, besuchen werde, dieser sey aber gewarnt worden, 
denn sein söhn der Printz bette zwo gespanter feuerbuchsen an- 
der seinem hauptkuszen liegen ; es sey aber die Koenigl. Wurde 
gleich woll zu ihm , dem Printzen , in sein chammer gangen , ihnen 
angesprochen und gefragt, wie es ihm gehe; bab der Printz ge- 
antwortet^ er were gahr schwach, daruff die Koenigl. Wurde 
ihn bey der Hand genohmen und gesagtt, er soltt uffstehen, er 
wehr nicht so gahr schwach wie er sich annehme, het auch nls- 
palt das hauptkuszen ander dem Printzen abgeworffen und die 
zwo gespante Buchsen darunder funden und den Printzen ge- 
fragt, was er damit vorgehaptt und gemeint und was ihn dartzu 
verursacht; hab der Printz geantwort,. er hette über zwantzig 
uhrsachen, die ihnen dartzu bewegt; daruff der Honig zu ihm 
gesagt, so hett er über dreiszig uhrsachen derwegen er ihnen 
hart straffen wollte, unndt also den Printzen a Ispalt dem Conte 
de Feria zu custodiren bevolhen. Es wird auch geschrieben, das 
bis in die achtzehn groszer und vornehmer Spanischer herren 
solcher Conspiration halben, auch gefänglich eingezogen sein sollen. 
Das wichtigste Actenstück ist Lettre CCCIV pag. 194. Wilhelm 
von Hessen an den Prinzen von Oranien über Don Carlos. Wir 
wollen den Brief ganz hier einrücken , die Sache wird dadurch 
nicht weiter gebracht, doch ist Ref. immer noch der Meinung., 
die er schon oben geäussert hat, welche auch Herr v. Raumer 
;n einer hier angeführten Stelle als die seinige angiebt. Wilhelm 

schreibt: Es hatt uns jetze (den «3. März i568) Hertzogh 

Heinrich zu Braunschweigk Copien zugefertigt was der Koenig 
zu Hispanien seines Sohnes Caroli gefänglicher intziehung halb 
an S. L. geschrieben , wie E. L. aus biebey verwartter abschritt 
freundlich and vertrewlich zu sehen. Nachdem nuhn in solchen 
der Koenigl. Wurde schreiben die wortte stehen : » Das solcher 



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unser väterlicher ernst nicht der uh rsach erfolgt , noch wir die- 
sen eussersten weg gegen 8. L. darumb furgenohmeo , das wir 
von derselben so hoch and schwerlich beleidigt sein oder sie sich 
to weit und strafillich gegen ans vergeszen noch auch sonst ichtes 
anders dergleichen ongepürlichs solle begangen haben. Item am 
ende solcbs schreiben : Was wir hierin aus Christlichem and vat- 
terlichen eiffer thun und furnhemen soll tzuvorderst seiner Goett- 
Hchem Allmacht tzu ehren und dan onsern Königreichen, Fur- 
stenthuraben , Landen und Leuthen , auch ingemein der gantzen 
Christenheit tzu ruhe und wolfarth gereichen.« Koennen wir, 
setzt der Landgraf hinzu , daraus anders nicht abnhemen dan das 
der Koen. Wurde zun Hispanien söhn ettwa durch die Inquisition 
der Religion halben ingezogen sey. Da auch solchs also wehre, 
trugen wir mit berürtem Printzen ein freundliches und Christ- 
liches mitleiden. 

Weiter unten in der Einleitung hat Herr Groen van Prio- 
sterer einzeln hervorgehoben , welche deutsche Herren und auf 
welche Weise sie sich der Niederländer annahmen, wir dürfen 
ihm aber in dem Einzelnen nicht folgen, da uns der Baum man- 
gelt. Im Allgemeinen erscheint August, wie immer, vor lauter 
Eifer für das Lutherthum , um die Pflichten der Menschheit ganz 
anbekümmert, Wilhelm von Hessen und Christoph von Wurtem- 
berg edel und hui fr ei eh , die Reformirten und ganz besonders der 
edle, wahrhaftig fromme Friedrich von der Pfalz voll Eifer den 
Leidenden zu helfen , Freiheit und Recht gegen Despotismus und 
WillUuhr, Religion gegen Aberglauben und pfäffischen Wort- 
glauben in Schutz zu nehmen. Zwei Stellen müssen wir jedoch 
ausheben, weil darin zuerst von Lutheranern die Rede ist, wel- 
che Reformirten helfen, dann aber, was weit mehr ist, von Kauf- 
leuten, die ihren Geldvnrtheil der Theilnahme an einem Kampfe 
für Menschenrechte opfern. Graf Ludwig von Nassau schreibt 
nämlich, als er bei Groningen liegt, zuerst S. a33: Die benach- 
barten Grafen und Herren sind sehr wohlwollend für unsere Sache 
gestimmt, namentlich die Grafen von Embden, Oldenburg, Hen- 
tern ; und S. «34 : Auch die Burger von Bremen und andern See- 
städten sind uns sehr gewogen. 

(Der Beschlufg folgt.) 



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N°- 8- HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Qroen van Prinsterer: Correspondance inedUe de la 

nutison d Orange-Nassau. 

(Beschlufs.) 

Ja, man findet hier Lettre CCCLXXXIV pag. 4 9 3 sqq. einen 
Brief des Herzogs Adolph von Holstein , worin er dem Herzoge 
von Alba (1572) den traurigen Stand der spanischen Sache, die 
er verfechten hilft, schildert, und unter andern S. 495 schreibt: 
Wir wollen auch E. L. freund tiieh un verhalten sein lassen das 
wir uiT die zehen tausend thaler, darauf Caspar (Schetz) sich 
obligirt nicht mehr den viertehalb tausendt thaler in Hamburgk 
bekommen können, und haben uns selbst dafür obligiren müssen; 
den in den Stetten Hamburgk und Bremen sint die kaufTleute und 
der gemeine man den rebellen dermassen zugethan , das sie wie- 
der dieselbige, so hoch und guet sie auch versichert 
werden mügen, kein Geld ausleihen wollen. Ref. uber- 
geht das Uebrige, was der Herausgeber der Briefe in der Ein- 
leitung anfuhrt, um seinerseits noch eiqen nnd den andern Punkt 
hervorzuheben. Zuerst mufs er noch einmal auf Anna von Sach- 
sen zurückkommen , weil Herr Groen van Prinsterer der Apo- 
logie seines Helden in Beziehung auf sein Betragen gegen diese 
zweite Gemahlin die Seiten XLIV — LI, also sechs Seiten, sowie 
dem Beweise, dafs sein Held aufrichtig fromm gewesen sey, 
einige folgende Seiten widmet. Ueber den letzten Punkt hat Bef. 
wiederholt seine Meinung ausgesprochen , und er bleibt dabei, 
auch nachdem er Alles gelesen, was Hr. G. v. P. gesagt und an- 
geführt. In Beziehung auf Anna von Sachsen scheint der Heraus- 
geber der Briefe, besonders in Beziehung auf einen Aufsatz Bö't- 
tigers in v. Baumers historischem Taschenbuclie immer noch ge- 
sonnen zu seyn, alle Schuld allein auf die unglückliche Prinzessin 
zu schieben. Dafs die Prinzessin unleidlich war, dafs sie zuletzt 
alle Schaam und Scheu verlor und nothwendig in Haft gehalten 
werden mufste, wird niemand leugnen; nach Allem, was der 
Herausgeber als Defensor des Prinzen vorbringt, kann man aber 
immer noch fragen : warum liefs man es so weit kommen ? wo 
und wie lebte der Prinz, während seine Gemahlin allein war? 
XXX. Jahrg. 1. Heft. 3 



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t 



84 Griten tan Prtnsterer 

Ref. hält indessen dafür t dafs dieser Streit von gar keiner histo . 
rischen Bedeutung ist. Er glaubt, dergleichen Dinge gehören zu 
den Curiositäten , die Untersuchung giebt eine angenehme Unter- 
haltung, eine Uebung des Scharfsinns u. s. w. Es mochte nach 
den Akten zu urtheilen, Wilhelm seiner sehlechten zweiten 
Gemahlin wohl nicht mehr Aufmerksamkeit und Treue bewiesen 
haben, als er der vortrefflichen ersten erwiesen hatte, und 
doch opferte, wie aus den von Herrn G. v. P. selbst angeführten 
Stellen hervorgeht, die leichtfertige Anna ihm noch später das 
Ihrige ! ! 

Wir wollen weiter unten das Nähere andeuten, und bemer- 
ken im Allgemeinen zuerst, dafs wir in diesem Theile unsere 
deutschen Fürsten gerade so finden , wie überall , sie geben Rath, 
sie lassen lange Briefe schreiben und schicken Gesandte, ohne 
irgendwo Nachdruck zu beweisen oder auch nur vernünftiger 
Weise erwarten zu können , dafs die Spanier oder Catharina von 
Medicis, an welche sie ebenfalls Gesandte schicken, die mindeste 
Rucksicht auf Vorstellungen ohne Nachdruck oder Anstalten , im 
Nothfall den Unterdruckten zu helfen, nehmen werden. August 
bleibt sich in Rücksicht des Lutherthums getreu. Man kann es 
aber dem Zeloten nicht verdenken , wenn er die scheinbare In- 
differenz des Prinzen von Oranien anders deutet, als Hr. G. v. P. , 
da man sieht, wie der Prinz sich bald für die Augsburgische 
Confession erklären will , bald wieder einmal nicht. Friedrich II. 
von Dänemark schreibt No. CCLXXIX im Juli 1667 einen sehr 
herzlichen Brief an den Prinzen, um ihn einzuladen, nach Däne- 
mark zu kommen, wo er mit ihm theilen möge, so gut er es 
habe. Wilhelm, der damals in Dillenburg lebte, dankt ihm 
pag. 111 sehr verbindlich und höflich, und schreibt in Beziehung 
auf seine Entfernung aus den Niederlanden: — — ob ich schon 
itze aus den Niederländen gezogen bin und mich noch ein Zeit- 
lang derselben enthalten muesz. Darzu mich under andern fur- 
nemblich bewogen hatt, das man die Ron. Mat. nit allain die lehr 
des hailigen Evangelii der örten underdrücken und in derselben 
iren landen^ underdrücken, vertilgen und die armen Cristen hien 
und wieder jaemerlich' vervolgen und umb leib und guett bringen 
lassen, sondern mir auch ein newen und ungewönlichen aidt ufT- 
dringen wollen, damit ich mich verpflichten solte das ich die 
Bäbstische rclligion erhatten helfen und ire Mat. wieder mennig- 
lich, niemand ausgenommen dhienen solte, neben dem das auch 
die frau Regentinn aus sondern gefasten mistrauwen un versehener 



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Correspöndfince intSditc de U malton d'Orange-NaMao. W 

sachen hinder mir und ohne mein wissen fremdes Kriegsvolk in 
mein* gou?ernement*li f5ren and dieselbigen hat einnehmen las- 
sen u. s. W. 

Bei Gelegenheit Entwurfs zu einem Traktat , Welchen der 
PHnz reu Comic* und der Admirai Colighy mit dem Printen ab* 
schliefsen wollen, utti Gewissensfreiheit in Frankreich Und in des 
Niederlanden zu erhalten, sucht der Herausgeber dieser Brief« 
Iii einer langen Note den Punzen von Conde* durch einzelne Stel* 

leu aus Schriften jener Zeit ton allem Ehrgeiz freizusprechen} 
das ist keine gute historische Methode Die Tbattaeben ter- 
gleicben, das ist das einzige Mittel, aber Motive abzusprechen \ 
anzuführen, der urtheilt So über den Mann, jener anders, das 
führt nicht weit. Ucber Coligny stimmen wir ihm bei. Was 
Anna betrifft, SO ist zwar Wilhelms Brief No. CCOXXX ganz vor. 
trefflich und rührend, wir würden aber eben darum keinen Be- 
weis für sein Betragen gegen seine Gemahlin daraus herleiten. 
Er ist ßberdies für eine Person, wie Anna war, viel zu VeMtan. 
dig geschrieben , das konnte nur geschehen , um ostensible Briefe 
in schreiben, deren Copien hernach, wie aus dem Folgenden 
hervorgeht, an Kurfürst August Und an Wilhelm von Hessen ge- 
schickt worden; bei der Prinzessin war damit nichts auszurich- 
ten. t>er Prinz hatte verlangt, Seine Gemahlin solle za ihm nach 
Dillcnburg kommen , sie (wahrscheinlich fürchtend , was auch her- 
nach geschah, man möchte sie in Deutschland einsperren) hätte 
ihm geschrieben, Sie hafte ein GelSbde gethan, nie ins Nas- 
sau i sc he zu gehen; er solle mit ihr nach Frankreich oder Eng- 
land reisen; darauf antwortet er, und sagt ihr, er wßnsche sie 

ZU sehen , um ihren Rath ZU hören , CS sey ihm ein Trost , sie • 
bei sich zo haben, sie nur wenige Tage zu sehen u. s. w. Wer 
kann das glauben? Obgleich Anna, bei allem ihren Leichtsinn f 
doch die Worte sehr schmeichelhaft finden mochte. Wie studiert 
der Brief war, kann man daraus sehen, dafs er ganz franzö- 
sisch geschrieben ist, Und dafs gleichwohl hier noch der Anfang 
desselben deutsch Sich findet, also zweimal und zwar ?on der 
eignen Hand des Prinzen. Auch ist darin eine offenbare Unwahr- 
heit (man sehe den oben angeführten Brief Friedrichs ton Da'ne- 
mark). Es heifst : car tant en viles que re'publiques je pense 
cju'ils le penseront plus de deux fois arant que rae receroir; 
comme je pense aussi que Ia Hoyno d'Angleterre, Rof de Danemark, 
Boy de Poloni et bien de Princes dWIemaigne feront le mOme- 
Uebrigns ist der Brief in schriftstellerischer Rücksicht mefeter«. 



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30 Groen t. Printteror Correspondance ined de la mai». dOrange -Nassau. 

baft. So versichert er in dem deutschen Aufsatz desselben seine 
Gemahlin, dasz in der gefahr und elent , worin er itzunder sey , 
kain grössere» trost zu finden sey , dan wan ain man befind t und 
siebt das seine hausfraw beweiset das sie mit gedult ires herrn 
creutz, das Gott im bat zugeschickt gern wil mitt helffen dra- 
gen, sunderlich, wan es im darumb kompt, da er batt ge- 
maint Gottes ehr zu befordern und seines Vaterlands 
freibeit zu suchen. Auf diesen Brief vom Dec. antwortet 
sie im Febr. , und schreibt : in sein Nassauer Land wolle sie nicht 
kommen , wohl aber nach Leipzig oder nach Braubach , wo der 
Landgraf hause : leb weisz deine bessere und bequemere oerter 
als in meiner zwei vettern landt, und dar mich dünkt, Ir wol 
sicher werdet sein. Diesen Brief hat Wilhelm eigenhändig co- 
pirt, wahrscheinlich weil er das Original wie sein Schreiben den 
Verwandten der Prinzessin mittheilte. Diese stand allerdings blos 
aus den Briefen sehr im Schatten. Den weitern Gang der 
Sache findet man bei v. Bommel; hier hat man noch einen Brief 
der Anna aus Köln No. CCXLl, wo sie sagt: Was angehet das ir 
schreibet (warumsind nicht auch die Briefe hier abgedruckt?) 
das ir nicht mittel habt mihr gelt zu schicken, ich habe es bisz 
daher wol befunden, das ir nicht grossen willen habt gehabt, mir 
zu helffen, ob es an der macht hat gebrochen wist ir besser. 
Sie schliefst diesen Brief: und will euch biemitt in Gottes schütz 
bevelen , den ich bitt er besser ahn Euer selbst wolt thun, dan Ir 
ahn mir habt gethan. In einem Briefe des Prinzen vom Mai i!yjo 
No. CCCXL V ist er wieder sehr zärtlich , versichert sie , sein 
Bruder werde sie in Siegen, wohin sie jetzt sehr gern gehen 
will, aufs beste aufnehmen. Die weiter unten folgenden Briefe 
der Prinzessin beweisen dann freilich, dafs sie sich ganz allein 
überlassen, heftig und sinnlich, wie sie war, ganz herunter- 
sank. Wilhelm heirathete hernach zum drittenmal — und 
zwar politisch. Die Prinzessin, als sie, des Ehebruchs uberfuhrt, 
sich Lettre CCCL1I an Wilhelms Bruder wendet, Alles einge- 
steht, bittet, man möge die Sache nicht an den Kurfürsten brin- 
gen, erinnert mit Recht daran, dals ihr als sechzehnjährigem 
Mädchen von dem Meister aller höfischen Feinheit der Kopf ver- 
rückt sey, und fleht: und das man will meine ehre sauveren — 

das ich nicht ursach mag haben mich vor dem letzten ge- 

richt Gottes zu beiklagen, dasz das heiradt, so ich zu dem Pre- 
tzen von Uranien gethan habe , mihr ursach sein gewest von 
verlust guttes, ehre, leibes und der scle. 



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Monument» Germaniao ed. Poris. T. III. 37 

' Ref. mufa hier abbrechen, weil er, .um die Wichtigheit der 
übrigen in diesem Bande enthaltenen Documente , die grobe Sorg- 
falt und den historischen Fleifs, den der Herausgeber auf die 
trefflichen Noten and Bemerkungen gewendet hat , anschaulich 
zu machen, zu tief in das Einzelne der Geschichte der Gueusen 
und der französischen Protestanten eingehen muTste. Bef. be- 
merkt nur noch , dafs auch diesem dritten Theil 4 Platten mit 
17 Fac Simile's beigefugt sind. Die erste Platte enthält das Fac 
Simile eines Billeta der Anna von Sachsen, unter den andern sind 
die Signatur Friedrichs von Danemark , die Handschrift von Wil- 
helms Schwester u. s. w. 

Schlosser. 



Monument a Germanitie hittorica. Tom. Hl. (tive legum T. I.) Rdidit 
6. H. Perts. Hannoverae , impenti» bibHopotii autki Umkniani. 
MDCCCXXXr FoL 

Endlich ist der dritte Band der Monumente erschienen. Die 
Hindernisse, die dessen frühere Herausgabe verzögerten, sind also 
gehoben. Gewifs wird nun künftig , da auf Verwendung des deut- 
schen Bundestages die hohen Regierungen Deutschlands diesem 
wahrhaften NationalwerUe eine bestimmte und bedeutende Unter- 
stutzung zugesichert haben , wohl keine andere Unterbrechung 
desselben mehr Statt finden , als die durch den Druck selbst be- 
dingte. 

Vielleicht hatte man aber erwartet, dafs von den Geschicht- 
schreibern die Fortsetzung, oder dafs von den Legionen der Ur- 
kunden einige geliefert werden wurden , und doch enthält dieser 
Band nichts von beiden. Gleichwohl giebt er eben so Werth- 
volles und Willkommenes , als Unerwartetes , nämlich Gesetze. 
Bei der grofsen Menge des höchst Wichtigen, Neuen, und viel- 
fach Verbesserten , was hier dargeboten werden konnte , ist es 
mit Dank anzuerkennen, dafs dieses nicht länger zurückgehalten 
und vielmehr eine neue Abtheilung der Monumente damit ange- 
fangen wurde. Statt der Urkunden können ja einstweilen die 
vortrefflichen Regestenwerke des Herrn Dr. Böhmer mit Nutzen 
gebraucht werden; die Fortsetzung der Geschichtschreiber hin- 
gegen durfte doch bald zu erwarten seyn. 

Was enthält nun dieser neue Foliant? Er enthält die soge- 
nannten capitularischen Gesetze der meroviogischen und karolio- 
gischen Regenten, von 554 — 921 ; jedoch nicht blos die eigent- 



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38 * Monumenta German iac ed. Pertt. T. III. 

Heben Capitularien , sondern auch manche? zu ihrer Erklärung 
wichtige Document, damit uns die Art und Weise, wie damalt 
die Gesetze zu Stande kamen, veröffentlicht und vollzogen wur-t 
den, so wie deren Geist, Umfang and Einfluß, möglichst deut- 
lich und anschaulich werde. Dafs in diesem Binde der Freund 
der deutschen Staats- und Rechtsgeschiehte, dafs der Kirchen« 
Historiker und Canonist eine reiche Fundgrube für »ich entdecken 
werden, braucht kaum angedeutet zu werden. So mufs es z. B, 
klar werden, dafs und warum in der Blüthezeit der Karolinger 
christlicher Staat und christliche Kirche keine Gegensätze bilde« 
ten und die Priester es noch nicht wagen konnten) sich allein 
für die christliche Kirche zu erklären. Hieraus läfst sich ferner 
die Frage beantworten , ob Karl d. G. wegen seiner Feindschaft 
gegen die Verehrung der Bilder und der neuen Heiligen , und 
wegen seiner üeberzeugung , dafs man Gott nicht in einer be- 
stimmten , sondern in jeder Sprache verehren dürfe, für einen 
Ketzer zu erklären sey , oder nicht. Auch wird es sich deutlich 
machen lassen, wie es kam und kommen mufste, dafs unter sei- 
nen Nachfolgern die Geistlichen sich zu erheben und unter dem 
Namen der Kirche sich vom Staate unabhängig zu machen such- 
ten, und wie dann ihr wahres und verfälschtes canonisches Becht 
sammt den verfälschten Gapitularien auf die Gesetzgebung des 
Staates, vorzuglich hinsichtlich der Ehe, einen überwiegenden 
Einflute erhielt. Doch die Fortsetzung dieser und ähnlicher An- 
deutungen würde zu weit führen, deshalb gehen wir gleich über 
zu der Angabe der Verschiedenheit dieser Capitularienausgabe von 
den früheren. Sie unterscheidet sieb von ihnen durch das, was 
sie weniger, mehr und besser enthält, als sie. 

Vergebens wird man das bei Baluze aufgeführte Capitular 
von 744 ex concilio regum etc. suchen und eben so erfolglos 
folgende : von 799 die Capitolarien über verbrecherische Presby- 
ter, über die Chorbischofe und über die dem romischen Stuhle 
zu beweisende Hochachtung ; von 8o3 das erste Capitular nebst 
denen , die de purgatione sacerdotum handeln ; das achte Capitu- 
lar von 8o3 ; das fünfte von 8o5; dafs zweite und dritte von Lud* 
wig und Karl d. G. aus ungewisser Zeit und das ingelheimische 
von 826 de rapinis, Warum diese Stücke hier fehlen, darüber 
giebt theils die Vorrede einigen Aufschlug , thcils wird der hof- 
fentlich noch in diesem Jahre erscheinende zweite Band der Ge- 
setze das Weitere lehren. Es sind nämlich diese Capitularien aus 
äusseren und inneren Gründen unächt. Die meisten finden sich 



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0 



Monumrnia Germaoiae eil. l'erti. T. HI. «0 

nur in der Sammlung verfälschter Capitularien des mainzischen 
Diaconus Benedict und sind entweder von Goldast, Sirmond und 
Baluze aus dieser excerpirt, oder waren, so fiel sich deren in 
Bandschriften finden, am Ende des neunten Jahrhunderts, oder 
später, aus ihr genommen. Es kommen auch in diesen Karl dem 
Grofseo angedichteten Gesetzen Stellen aus den Briefen des Erz- 
bischofs Bonifacius von Mainz und der 836 zu Achen gehaltenen 
Synode vor, was allein hinreichend ist, sie aus dem Kreise der 
ächten Capitularien so verbannen und sie mit dem Werke des 
Benedict und anderen falschen Gesetzen in den Anhang des fol- 
genden Bandes zu verweisen. Dort wird auch der Unterzeichnete 
in der Einleitung zum Benedict zeigen , worauf es bei der Be- 
trachtung dieser Machwerke ankommt. — Um indefs eine voll- 
ständige Säuberung vorzunehmen und alles Verdächtige und Un- 
gewisse aus der Gesellschaft des Zuverlässigen wegzuweisen, hät- 
ten die S, 191 fg. zum ersten Male mitgetheilten langobardischen 
Capitel entweder gleichfalls in den Anhang des zweiten Bandes 
gesetzt , oder , um Mifs Verständnisse zu verhüten , mit' der Be- 
zeichnung versehen werden müssen, dafs sie nur verschiedene 
Auszuge wären. Sie finden sieb ja nicht in alten und gleichzei- 
tigen, sondern nur in späteren Handschriften; Karl dem G. kön- 
nen sie aber deshalb nicht zugeschrieben werden , weil Cap. 6 
(S. 192) von ihm als einer dritten Person geredet wird. Ist aber 
auch das eine oder das andere Capitel später aus seinen Gesetzen 
entlehnt, so sind doch andere ans anderen Quellen geflossen, 
z. B. Cap. 3. S. 19a und Cap. 2. S. 191. Bei dem letzten ist zu 
bemerken, dafs es sich nicht suf die in der Einleitung dazu von 
Blume angegebenen Quellen beziehe ; vielmehr ist es wörtlich aus 
einem, dem alarichschen Breviar angehängten, falschen Gesetze 
geschöpft , das Sirmond als das aoste seines Anhanges zum theo- 
dosianischen Codex bekannt gemacht hat. (Operum Tom. I.) Ohne 
die Vergleichung dieser Quelle ist das Capitel durchaus unver- 
ständlich , weil der Epitomator , oder auch der Schreiber der 
Handschrift, viele Wörter ausliefs, andere aber entstellte. Aus- 
ser diesen Capitularien wird man noch das dritte von 8i3 ver- 
missen; allein dieses, das sich als ein Lokaliccht Xanthens er- 
geben hat, konute deshalb nicht hier, sondern mufs mit den 
Yolksrechten erscheinen. 

Grofs ist die Zahl der Veränderungen und Verbesserungen, 
die den schon bekannten ächten Capitularien zu Theil geworden 
sind. So ist Karlmanna Gesetz von 742, das durch den Text des 



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40 Monumente Germania? ed. Perts. T. III. 

Benedict (1,2) Einwirkungen erfahren hatte , mit Hülfe der 
Handschriften rein und in seiner ursprunglichen Gestalt herge- 
stellt. Nicht weniger berichtigt erscheint das vernensische Capi- 
tular Pipins von 755. Von dem aus ungewisser Zeit herstam- 
menden Gesetze eben dieses Königs sind auf Auetoritat der Hand- 
achriften Cap. 4 und 5 ausgelassen , weil sie sich aus Benedict 
(I, i3, 14) eingeschlichen hatten. Das langobardische Gesetz 
des italischen Königs Pipin von 782 und Karls admonitio generalis 
Ton 802 , deren erste Hälfte früher dem ersten Capitular dieses 
Jahres angehängt war, sind gleichfalls vervollständigt. Mancher- 
lei Berichtigungen erfuhren die Decrete Childeberts I. von 554, 
Childeberts IL von 5q5 und 596, Karls d. G. von 794 zu Frank- 
furt und 80 1 zu Tessino, Ludwigs L von 822 zu Attigny, Lo- 
thars L von 8a3 zu Olona , Ludwigs II. von 85o zu Tessino. 
Ganz vorzugliche Sorgfalt ist indefs auf die Herausgabe der an. 
segisischen Capitulariensaramlung verwendet. Diejenigen Capitel 
* derselben, die man mit oder ohne Hülfe einer Handschrift ein- 
geschaltet hatte , sind auf die Auctorität der meisten und besten 
Codices wieder entfernt worden. Demnach enthält jetzt das zweite 
Buch nicht 48, sondern 46 Capitel, weil die beiden nach Cap. 32 
eingeschobenen Stücke weggelassen sind. Aus dem dritten Buche 
ist aus demselben Grunde Cap. 91 , und aus dem vierten Cap. i5, 
26 und 27 verbannt. Dadurch hat dieses Werk des fleifsigen und 
redlichen Abtes seine ursprüngliche Gestalt wieder gewonnen. In 
den Vorbemerkungen zu demselben werden die Appendices mit 
Recht dem Ansegis selbst zugeschrieben , denn er schreibt sie 
sich ja selbst zu ; dann wird auf die zweifache Ausgabe dieser 
Sammlung aufmerksam gemacht. Die zweite , in welcher die 
Dedication den Namen Lotbars neben Ludwig dem Frommen weg- 
läfst , konnte erst um 83o entstehen , denn damals wurde in Folge 
der Zwistigkeiten zwischen Vater und Sohne auch in den Urkun- 
den der Name Lothars nicht gesetzt, was Erzbischof Agobard 
von Lyon in seinen Schriften heftig tadelt. 

Bisher redete man auch von einer Capitulariensammlung Lo- 
thars II.; von nun an mufs dieses aufhören. Dieselbe Handschrift, 
welche zu dieser Meinung Veranlassung gegeben hatte , wurde 
jetzt wieder benutzt. Sie enthält aber keine solche Sammlung, 
sondern nur einen Auszug oder eine kurze Wiederholung frühe- 
rer, wichtiger Gesetze, die Lothar seinen Unterthanen als vor- 
züglich zu beachtende und noch immer zu befolgende darlegte; 



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Monnmenta Gcrmaniac cd. PerU. T. III. 



41 



ihnen hat dann der Schreiber der Handschrift noch einige andere 
Stucke hinzugefugt (8. 36o ff.). 

Die langobardischen Capitularien , unter denen beinahe gar 
keine Ordnung herrschte und die mit den fast gleichlautenden 
fränkischen gewöhnlich verwechselt wurden, sind erst jetzt recht 
zu gebrauchen , weil man weifs, wenn und von wem sie abgefaßt 
worden und in welches Verhältnifs zu den ähnlichen fi-Snkischen 
Gesetzen sie gebracht werden müssen (S. 46, 70, io3, 109, i53, 
157, 248). Anderen Capitularien ist eine richtigere Zeitbestim- 
mung gegeben, z. B. Pipins ron 753 zu Worms erlassener Ver- 
ordnung; jener Karls von 811 de exercitu promorendo , jetzt 8o3; 
dem baierschen Gesetze von 806, jetzt 8o3; dem wichtigen De« 
crete Ludwigs aus Achen von 823, jetzt 825. 

In Bucksicht der hier zum ersten Male gedruckten Stucke 
mufs zuvor bemerkt werden, dafs zwar einige derselben keine 
Capitularien, aber dennoch wichtig sind für das genauere Ver- 
standnifs dieser Gesetzgebung. Dahin gehört das leider nicht 
vollständig erhaltene , an die Suffraganbischofe gerichtete Umlauf* 
schreiben des Erzbischofs Biculf von Mainz aus dem Anfange des 
neunten Jahrhunderts, worin er ihnen die nach dem Willen des 
Kaisers zu feiernden Fasttage anzeigt. Hierher sind auch zu reeb- 
nen die S. 77 ff. roitgetheilten , unter dem Erzbischofe Arno von 
Salzburg am Ende des achten Jahrhunderts auf den Synoden zu 
Rispach, Preising und Salzburg abgefafsten Synodalcanonen. Auf 
diesen Synoden wurde nicht nur die von Karl d. G. eingeführte 
dionysio- hadrianische Canonensammlung gebraucht, sondern et 
wurden auch die Beschlüsse ganz dem Geiste der karolischen Ge- 
setzgebung gemäfs abgefafst , während man später den Vorschrif- 
ten der Capitularien sich zu entziehen suchte. S. 4*0 ff. sind die 
Canonen einer grofsen , unter dem Erzbischofe Bhaban zu Mainz 
im Jahre 85 1 oder 85« gehaltenen Synode bekannt gemacht. Sie 
wiederholen zwar viele Bestimmungen früherer mainzer Kirchen- 
versammlungen , allein sie enthalten doch auch manches Neue, 
was einiges Licht auf den damaligen Zustand der deutschen Kirche 
wirft, Uebrigens war der von dem anstufsigen Leben der Pres- 
byter handelnde Canon schon bekannt, nur wußte man die Zeit 
und den Ort seiner Abfassung nicht. Canisius fand ihn , als ex 
concilio magno sub Ludovico rege genommen, einem alten PÖni- 
tenzialbuche angehängt, mit welchem er ihn herausgab. (Lectt. 
antiqq. Tom. II. part. 9. pag. 129.) Merkwürdig sind, ausser die- 
sen, noch folgende neue Stucke: das mantuasche Capitular von 781, 



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42 Monument* Gcrmaniac cd. Perlt. T. III. 

das achensche von 8oa und 8o5; das über die Räuber von 804 , 
über kirchliche Angelegenheiten von 804 ; die Instruction für ei- 
nen kaiserlichen Sendgrafen S. i35 und i36; das lango bardische 
Gesetz von 808; über das Münzwesen S. 159; wegen der Jaden 
S. 194 (cf. Icgg. Wisigothorum XII, i5.); über Freie und VaseW 
ien S. 196; der Bericht der Bischöfe an Ludwig von 804 S. 238 5 
Lotbars I. Verordnung aus Marengo von 8a5 S. 2/4 1 ; eben so das 
S. 363, 434, 437 t 439, 523,568 Mitgetheilte. Aufmerksame Er« 
wägung verdient endlich der aus einer wolfenbüttelschen Hand- 
schrift bekannt gemachte Bericht (S. 33 1 ff.), den die Bischöfe 
829 zu Worms dem Kaiser über die Beschlüsse der kurz vorher 
. gehaltenen Synoden abstatteten. Ludwig der Fromme hatte näm- 
lich an vier Orten seines Reichs die Geistlichen zu Synoden zu- 
sammenberufen , damit sie sich über gewisse , von ihm bezeich- 
nete Gegenstände berathen, den Grund mehrer Uebei und die 
Mittel , diesen abzuhelfen , aufsuchen und ihm angeben sollten« 
Nach/ Beendigung dieser Kirchen Versammlungen begaben sie 
sich auf den Reichstag nach Worms , um dem Kaiser das Ergeb- 
nifs ihrer Berathungen mitzutheilen und ihm die Beschlüsse der 
Synoden zur Bestätigung vorzulegen. Sie fanden aber für gut, 
ihren hierauf bezuglichen Bericht ganz in dem Sinne und selbst 
zum grofsten Theile mit den Worten der Synodslacten abzufas- 
sen, die auf einer dieser vier Kirchenversammlungen, auf der zu 
Paris, aufgenommen waren. Allein auf dem Reichstage wurden, 
weil wahrscheinlich die weltlichen Grofsen widersprachen, nur 
wenige Satze dieser Relation allgemein gebilligt und in das 
wormsische Capitular aufgenommen. Die Bischöfe suchten indefs 
diese Grundsätze weiter zu verbreiten und geltend zu machen. 
Der Bischof Jonas von Orleans, der auf der pariser Synode ge- 
genwärtig und bei der Abfassung ihrer Synodalactcn thätig ge- 
wesen war, 'schrieb seine beiden Werke de institutione regia und 
de institutione laicali fast ganz mit ihren Worten und ganz in 
ihrem Geiste. Die im Jahre 836 zu Achen versammelten Geist- 
lichen nahmen unter ihre Canonen ebenfalls viele aus jener Sy- 
node wieder auf. Dem Erzbischofe Otgar von Mainz und seinem 
Diaconus Benedict war auch viel an ihrer Verbreitung gelegen. 
Obwohl sie ihnen, wie ihre falsche Capitularsammlung beweist, 
noch zu gemäfsigt waren, so verschmäheten sie es doch nicht y 
die wichtigsten Stellen derselben und der daraus geflossenen Werke 
aufzunehmen. So benutzte Benedict die Pariser Synode, die Re- 
lation der Bischöfe , die Werke des Jonas und das Concilium von 



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Monument« Garmaniae ed. Paris. T. III. 43 

Achen für seine CapituUrsaramlung , in der er alle diese Grand, 
aätze für wirkliche Capitularien atisgiebt ; ja seine aweite Addition 
entnahm er ganz der gedachten Relation. Dadurch aber wird be- 
truglich etwas für ein allgemein angenommenes und allgemein zu 
befolgendes Gesetz aufgestellt, waa nie Gültigkeit gehabt hatte 
und nur die Ansichten und Wunsche einzelner Bischöfe oder der 
Geistlichkeit enthielt. 

Bs wäre überflüssig, über diese neue, mit Hülfe von mehr 
denn hundert Handschriften veranstaltete Auagabe der Capitularien, 
die nach ihrer Beendigung alle bisherigen Ausgaben völlig anti- 
cjuiren wird , noch mehr hier anzuführen ; nur folgende Bemerkun- 
gen mögen schliefslich noch Raum finden. 

In den capitulia ezeerptis Ingelheimensibua von 826 ist der 
Druckfehler » constitntionis Juliani imperatoris septimae« zu ver- 
bessern in »constitutionis Juliani antecessoria septimae«, denn ea 
ist hier nichts Anderes gemeint, als die Novellensammiong in der 
lateinischen Bearbeitung dea Julian, eines Rechtsgelehrten. 

Die unter dem acbenschen Capitular von 789 angeführten 
Beweisstellen sind eigentlich überflüssig. Das Capitular giebt aus 
dem Codex der Canonen und Decretalen, den Karl d. G. von 
Hadrian I. erhielt, die wichtigsten und gelten sollenden kurz an; 
wer sie aber im Zusammenbange lesen wollte , müfste die erwähnte 
Canonensammlong, die allgemein verbreitet wurde, aelbst nach- 
sehlagen. Allein die unter dem Gesetze angeführten Canonen sind 
gar nicht aus dieser Sammlung, sondern aus jener entlehnt, wel- 
che zuerst Quesnel bekannt machte und worin die griechischen 
Synoden in einer anderen , alteren Uebersetzung aich vorfinden. 
Die gedachten Canonen rühren also , falls sie sich wirklich in ei- 
ner Handschrift finden sollten, nicht von der Redaction des Ca- 
pitulara her, sondern von irgend einem klösterlichen Abschreiber 
desselben. 

Die Freunde der altdeutschen Sprache werden das S. 67 am 
Ende des acbenschen Capitulars von 789 zum ersten Male ge- 
druckte alte Gebet und die S. 261 mitgetbeilte verbesserte alte 
Uebersetzung von Ansegis IV, 18. willkommen heifsen. 

Frankfurt a. M. 

F. U. Knti9(. 



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Hävernick Einleitung in das A. T 



i 



Handbuch der hütorisck-kritischcn Einleitung in da» Alte Testament, von 
H. A. CA. Hävernick , der Theologie Licentiaten und Privatdocenten 
an der Universität Rostock. Erster Thcil , erste Abtheilung. Erlan- 
gen, Verlag von Carl Heyder. 1836. Vlll und 312 & 8. 

Herr Ha Vernich, ein Theologe von der strengen Observanz, 
hat schon in der Auslegung Daniels seine dogmatische Überzeu- 
gung walten lassen ; dieselbe durchdringt diesen Anfang einer Ein- 
leitung allenthalben, aber nicht zum Vortheile des allerdings fleifsig 
gearbeiteten und gelehrten Buches. Vergebens bemüht sich der , 
Verf., seinen Standpunkt als wissenschaftlich zu rechtfertigen, und 
sich gegen die Andersdenkenden in Vortheil zu setzen. Er meint 
S. 3, die Betrachtung der biblischen Urkunden nach religiöser 
Ansicht zu verwerfen, wie de Wette gethan habe, sey eine ir- 
religiöse Betrachtung, und somit eine parteiische , während sie 
doch als unpartheiisch dastehn wolle. Nun hat aber de Wette 
die Betrachtung nach religiöser Ansicht nicht verworfen , sondern 
sie für die Einleitungswissenschaft nur in die nöthigen Schranken 
gewiesen; und weifs denn Hrn. Ha Vernichs Logik nicht, dafs 
zwischen nicht religiös und irreligiös ein Unterschied be- 
steht ? Der Verf. gibt S. 4 zu , die Einleitung wolle und müsse 
historisch seyn. »Geschichte ist aber ohne sichere und feste zu 
»Grund liegende Principien keine Wissenschaft: nicht eine ge- 
»priesene, aber in der Praxis unmöglich zu Stande kommende 
» Unpartheilichkeit verleiht der historischen Forschung ihren Werth, 
»sondern allein die wahre und allein haltbare ihr zur Basis die. 
» nende Überzeugung. « Meint Herr H. , es sey überhaupt nicht 
möglich, je unpartheiisch zu seyn, so spricht er sich sein eignes 
Urtheil; sagt er aber, eine vollkommene Unpartheilichkeit sey 
nicht zu erreichen , so fragen wir , soll man sie etwa darum nicht 
anstreben? Soll der Mensch, weil Sundlosigkeit in praxi hienie- 
den unmöglich zu Stande kommt, die Sunde nicht ernstlich mei- 
den ? Auch glaube uns der Vf. , eine zu Grunde liegende Über- 
zeugung, wie er sie wünscht, gibt nicht der Geschichtforschung, 
sondern der Geschichtschreibung einen Werth , wenn sie anders 
die wahre ist Aber da liegt es eben. Was nennt Herr H. die 
wahre Überzeugung, welche der Geschichtforschung zur Basis 
dienen soll? Schwerlich etwas anderes, als das feste zum Voraue 
Fürwahrbai ten von Sätzen, welche doch erst das Besultat der 
Forschung und Prüfung seyn sollten. "Des Vfs Forschung weifs 
also theil weise- und gerade in den Hauptsachen zum Voraus , was 
sie herauszubringen hat; sie kennt das Ziel, bei welchem sie an- 



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Hävernick Einleitung in da« A. T. 



kommen mufft, und richtet sich darnach ein, ei um jeden Preif 

zu erreichen. Ist ein solches Verfahren kritisch ? Herr H. sagt 
ferner: »die Einleitung will und mufs aber auch kritisch leyn. 
»Wahres von falschem, achtes vom unechten, lauteres von un- 
lauterem zu unterscheiden ist unmöglich ohne Prüfstein, ohne 
»das richtige Princip, welches das Vorurtheil abhält und der 
»Willkühr steuert. In beiden Bucksichten ist es also (!) die 
»Dogmatil«, die wahre dogmatische Überzeugung, welche in hoch- 
»ster Instanz als Schiedsrichterin auftritt u. s. w. « Man ist Hrn. 
H. für die Offenheit, mit welcher er seine Grundansicht aus- 
spricht, zu Dank verpflichtet. Mit Consecrucnz auf seiner einmal 
eingeschlagenen Bahn vorwärts strebend , dringt er bis zum Ady« 
tum des Irrthums selber vor, und erspart uns die Muhe, ihn ad 
absurdum zu führen. Der Prüfstein des Einzelnen ist das All- 
gemeine, dessen Anschauung aus. der Kenntnifs des Einzelnen 
emportaucht; und das Einzelne im gegebenen Falle an diesen 
Prüfstein hält die prüfende Vernunft. Wäre die Dogmatik der 
Prüfstein, so würde sie wohl das Urtheil abhalten und der Frei- 
heit steuern. Der Verf. sagt aber nicht blos : die Dogmatik , 
sondern setzt hinzu : die wahre dogmatische Überzeugung. Meint 
er etwa, es könne nur eine wahre Dogmatik geben? Nicht doch! 
Tbatsächlich existiren neben einander widersprechende dogmati- 
sche Überzeugungen ; und S. ia findet Herr H. , es sey unwissen- 
schaftlich , von vorgefafsten dogmatischen Meinungen auszugehn. 
Also greift auch hier eine Sonderung des Wabren vom Falschen 
Platz; auch die Dogmatik unterliegt der Kritik; und natürlich 
kann sie, das zu prüfende Objekt, nicht sein eigener Prüfstein 
seyn, an welchen es gehalten werde. Hr. H. aber statuirt nicht 
nur dies , indem er eine von vorn wahre Dogmatik , nämlich die 
seinige postulirt, sondern will sogar, wie er defs gar kein Hehl 
hat | die Dogmatik zum Prüfstein erheben , dessen die Kritik sich 
bedienen solle ! * 

Die vorliegende erste Abtheilung der allgemeinen Einleitung 
handelt in drei Capiteln von der Geschichte des Canons, von der 
Geschichte der Grundsprachen des A. Test, von der Geschichte 
des Textes. 

Einem „ Irrthum huldigend, den mit dem Verf. die meisten 
Zeitgenossen theilen , geht er für die Sammlung des A. Test, von 
dem Begriffe einer regula veritatis aus , was für das Neue Test, 
ganz in der Ordnung seyn mag. Man vergifst, dafs im A. Test, 
die sämmtlichen Überreste der Literatur eines Volkes bis zum 



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Hävernick Einleitung In das A. T. 



seiner Sprache enthalten sind , während das N. T. aus 
den heiligen Buchern einer religiösen Sekte besteht; und man 
setzt unbedenklich beide Sammlungen auf gleiche Linie. Ja Hr. 
H. glaubt sogar aus der frühzeitigen Sammlung des Corans auf 
eine baldige des A. Test, schliefsen zu dürfen (S. 12) , während 
doch der Coran gleich dem Neuen Test, das Gesetzbuch einer 
Beltgionsparthei bildet, ferner das Werk ist Einer Zeit und Ei- 
nes Mannes , so dafs er nicht einmal für den Pentateuch eine voll- 
kommene Analogie bettt, und endlich neben ihm noch eine höchst 
bedeutende, auch religiöse Literatur besteht, welche bisher nicht 
gesammelt worden. Was die altern Kirchenväter und jüdisch«* 
Gelehrte lange nach der Sammlung der alttestamentlichen Schrif. 
ten von derselben sich vorstellten, wird ohne weiters adoptirt, 
und der unerlfifsliche Beweis , dafs die Sammler des A. Test, eine 
regula veritatts sammeln gewollt, unterlassen. So legt denn auch 
Herr H. dem Gerede des Josephus gegen Apion I, §. 8. ein be- 
sonderes Gewicht bei. Zwar findet er, es enthalte thcils Privat- 
raeinungen des Josephus , theils allgemeines Ui theil seiner Zeit, 
genossen ; nichts destoweniger erklärt er es S. 35 fiir das nach- 
drucklichste Zeugnifs, dafs bald nach dem babylonischen Exil 
der Canon abgeschlossen sey. Auf dieses Resultat nämlich mufs 
der Verfasser , welcher den Daniel für authentisch ansieht , hin- 
steuern; dies zu erhärten, gibt er sich alle erdenkliche Muhe. 
Die Periode des Esra und Nehemia soll schon fn sich selbst be- 
trachtet als die passendste für jenes Geschäft erscheinen S. *8. — 
O ja ! wenn damals die hebräische Sprache ausstarb. — In der* 
Periode nach Esra und Nehemia finde man überall den Canon im 
Ganzen als eine heilige Urkunde behandelt, und mit der tiefsten 
Ehrfurcht angesehn. — Die ältesten Stellen , welche Herr H. 
§. 10 beibringt, lassen eine Lücke von ein Paar Jahrhunderten, 
und sagen nur vom Pentateuch und den Propheten etwas aus. 
Der Pentateuch galt noch viel früher für gottlich ; von ihm han- 
delt es sich noch weniger, als von den Propheten; die Frage 
dreht sich um die Hagiographen. Das weifs Herr H. sehr wohl; 
also fragt er S. 3o : wie kam es, dafs das ursprünglich hebräisch 
geschriebene Buch Sirach, welches mit grofsen Ansprüchen auf- 
tritt, nicht in den Canon aufgenommen wurde? Die Antwort 
könne nur die sejn , dafs nur eine fest und sicher gestellte Au- 
torität des Canons allein im Stande war, dies zu verhindern. — 
Eine positive und doch auf Schrauben stehende Äusserung ! So* 
gleich nachher sagt Herr II., Sirach sey nur dem Anschein und 



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Hü vor nick Einleitung in da« A T. 



den Ansprüchen nach der Aufnahme in den Canon würdig ge- 
wesen. Also mufste das Buch , auch wenn der Canon spater erst 
geschlossen wurde, dennoch d müssen bleiben; und nun argumen- 
tum Herr H. aus seiner Ausschliefsung auf einen frühem Abschlufs 
des Canons. Wie dann aber, wenn wir sagen, der hebräische 
Text war bei Sammlung der llagiographen bereits verloren , und 
somit konnte das Buch in eine Sammlung hebräischer Schriften 
natürlich nicht aufgenommen werden ? Was kann Herr H. er- 
wiedern ? Er beruft sich freilich auf Sirach selbst C. 44? 5. 3. 
Allein wenn dieser neben den Weissagungen noch tnn iv y^a<ff 
kennt, so beweist dies eben nicht ihre Sammlung in ein corpus, 
sondern lediglich ihr Vorhandenseyn zu Sirachs Zeiten ; aber nicht 
einmal, welche, oder daf alle, die jetzt im Canon der Iftubim 
stehn, vorhanden waren, sondern nur, dafs überhaupt welche 
existirten, lernen wir aas jener Stelle Sirachs, d. h. wir lernen 
daraos, was wir langst gewufst und niemals bestritten haben. 
Auch der -Prolog des Obersetzers hilft um keinen Schritt weiter. 
Herr H. steift sich trotz Allem, was längst gesagt worden ist, 
wieder auf die Worte xa dXka ndx^ia ßißXla und rä Xomd 
Ttnv ßtßXUov. So und ähnlich, sagt er, seyen die K'tubim auch 
bei Philo, Josephus nnd im N. Test. Bezeichnet. — Ist erstens 
theils nicht wahr, und wurde zweitens, wenns wahr wäre, nichts 
beweisen. Dafs zu PhüVs Zeit der Canon geschlossen wer, wis- 
sen wir schon sonst; und also, wie der Prolog tbut, konnte man 
Tor und nach der Sammlung von den IVtubim sprechen, weil man 
damit nicht einmal negativ , geschweige positiv etwas Bestimmtes 
über die Sammlung aussagt — Der Ausdruck sey auch keines- 
wegs ein vager; es heifse ja nicht etwa »andere« oder » einige 
übrige Schriften « , sondern » die andern c , » die noch übrigen « . 
— Hierauf erwiedern wir Herrn Hävernick: der Ausdruck konnte 
allerdings noch vager seyn , als er ist. Da der Übersetzer den 
Artikel braucht , so redet er offenbar von bestimmten , ihm be- 
kannten Schriften , nicht von solchen , von deren Zahl , Namen , 
Inhalt er nichts wüfste; und dafs er die zu seiner Zeit vot-han- 
' denen Hagiographen alle , oder viele von ihnen , gekannt habe , 
ist noch nicht bezweifelt worden. Dafs aber der Ausdruck »die 
andern Bücher« die* Vereinigung »der andern Bücher« in Ein 
corpus aussage und beweise , ist eine so grelle Behauptung , dafs 
Ref. kein Wort weiter dagegen verlieren mag. Wolle Herr H. in 
Zukunft seinen Matthiä zu eigenem Gebrauche nachschlagen , und 
nebenbei auch lernen, dafs die Wahrheit hebräisch mhi heifst, 



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Hävernick Einleitung in das A. T. 



und nicht emei, wie die Schuler aussprechen, und 8. 173 Herr 
H. geschrieben hat 

Die Annahme so frühe geschehener Abschliefsung des Canons 
macht ein gleich frühes Aussterben der hebräischen Volksspraohe 
wünsebenswerth ; allein wir vermissen S. 240 ff. den S. 26 ver- 
heifsenen ausführlichen Beweis. Die Argumentation läuft im 
Grande darauf hinaus: weil man nach dem Exil noch hebräisch 
schrieb, so war das Hebräische also noch Schriftsprache, ergo 
war es nicht mehr lebendige Volkssprache. Herr H. beruft sich 
wieder auf das mindestens höchst zweifelhafte EPBB Neb. 8, 8; 
selbst das bekannte Glossem Jer. 10, it«, das jedes Zusammen- 
hanges spottet, wird nicht verschmäht. Er meint S. 242, es aey, 
wofern das Chaldäische nicht die Volkssprache war, unerklärbar, 
wie die chaldäischen Abschnitte in Esra und Daniel Eingang fin- 
den konnten. Wie aber, wenn der gelehrte Esra zu seiner Mut- 
tersprache auch das Aramäische erlernt hatte? Und glaubt Herr 
H. nicht auch selber , dafs das Aussterben des Hebräischen in 
der verhängnifsvollen Periode von Antiochus Epiphanes bis He- 
rodes den Grofsen wenigstens eben so passend gedacht werde, 
als in der viel kürzern des Exils , wo die Juden beisammen wohn- 
ten, ihre eigenen Ältesten und Richter hatten, und weitere An- 
griffe auf ihre Nationalität gar nicht versucht worden sind ? 

Wo der Verf. seinen dogmatischen Prüfstein der Kritik zu 
befragen unterläfst, da nimmt seine Forschung sofort einen wis- 
senschaftlichen Charakter an. Zeuge dessen ist .das Capitel von 
den Grundsprachen des A. T. an vielen Stellen. Doch ist das- 
selbe für den Zweck der Einleitung zu breit angelegt , und t heil- 
weise in eine Geschichte der Literatur ausgeartet. Namentlich 
ist von der arabischen Sprache und Schriftstellerei ausfuhrlicher 
die Rede, als nothig war, um auf die wirklichen Grundsprachen 
des A. T. vom verwandten Arabismus aus das hinreichende Liebt 
zu werfen. Wenn der Verf. dagegen S. 145 f. das Hebräische 
gern für die Ursprache der Menschheit erklären , oder es wenig- 
stens in ein besonderes inniges Verhaltnifs zur Ursprache treten 
läfst, so kommt auch dies wieder auf Rechnung seiner Unfreiheit; 
und es wäre allzu langweilig, mit ihm darüber zu streiten. 

(Der Besehlufs folgt.) 



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N°. 4. HEIDELBERGER iSS7 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Hävernick : Einleitung in das Alte Testament. 

(Beschluft.) 

Mit S. i55 beginnt eine allgemeine Charakteristik der hebräi- 
schen Sprache als Schriftsprache : ein Abschnitt, welcher vieles 
Brauchbare aufweist, z. B. S. 162 — 164 die Beiträge zur Syno- 
nymik, neben Vielem, was zweifelhaft oder verfehlt, z. B. wenn 
er 5 Mos. 33, 2. die Punktation Jfl CK für richtig halt, für 

01^2 Hob. L. 4, i3. eine semitische Etymologie sucht, und sich 
gegen den griechischen Ursprung des Wortes ]^P30B r)an » 3, 
5. 7. noch jetzt wehren mag. Die meiste Veranlassung aber zu 
Ausstellungen bieten die §§. 3i — 34« in welchen die verschiede- 
nen Perioden der hebräischen Sprache bis zur Zeit des Exils ab- 
gehandelt werden. Dem Vf. gebeut bekanntlich seine Dogmatik, 
vor den augenscheinlichsten Besultaten der neuern Kritik die Au- 
gen zu verschliefsen ; zum Voraus gläubig, nimmt er den ganzen 
Pentateuch für mosaisch, hält für uralt nicht nur Hiob, sondern 
auch das Buch Josua , und kämpft für die Authentie des ganzen 
Büches Jesaja. Sein Kampf für das Deuteronomium lehrt deut- 
lich, dafs ihm ebenso sehr, als seinen Gegnern, Jeremias Wirk- 
samkeit und schriftstellerischer Charakter unerkannt geblieben; 
und in der Verteidigung des zweiten Theils des Jesaja läfst er 
sich in dem Maafse von der blinden Leidenschaft übermannen, 
dafs er poltert, sich auffallende Versehen zu Schulden kommen 
läfst, und sogar untreuen Bericht erstattet. Wir heben Einiges 
aus. In der Auslegung Jesaja s soll S. 273 Ref. behauptet haben, 
HjT heifse bei Spätem geradezu Verkehr treiben. Ref. aber 
sagte, dies sey C. 23, 17. der Sinn des Wortes ; die Bedeutung buh- 
len wird in der Übersetzung ausgedrückt. »Die Form »IDDÜ^i 

wirft er ferner ein, »soll nicht vor dem Exil gebildet seyn, und 
doch kennt sie schon der Pentateuch.« Ref. aber schrieb: »vor 
dem Exil wurde das W 7 ort als Substantiv nicht gebildet vgl. zu 
C. 49, 7.,« wo gesagt wird, es sey ein Verbalsubstantiv, von 
Piel abgeleitet. Vgl. Ewald kl. Gr. §. 339 am Schlufs. Diese 
Verbalsubstantive aber verwechselt Herr H. , wie auch zu Daniel 
S. 385 sein Gerede über DEtöE verrütb , acht empirisch mit dem 
XXX. Jahrg. 1. lieft. 4 



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50 



Hävernick Einleitung in das A. T. 



Participium , welches freilich auch 3 Mos. 9, 19. (Tgl. 2 Mos. 
29, i3.) vorkommt. Was Ref. ferner S. 395 zu Jesaj. 34. Begr. 
d. Rr. S. 76 f. gesagt hat, wird von Herrn H. gänzlich untreu 
und schief referirt. Ganz vergeblich verweist Herr H. den Ref. 
weiter für TIP ySIl Jes. 42, 21. auf die erst in der Zwischen- 
zeit erschienene zweite Ausgabe von Ewalds Grammatik S. 33i , 
wo auch aus der reinsten hebr. Prosa durchaus ähnliche Fälle 
citirt seyen. Rein einziger ist wirklich analog, aber am Tage 
liegt, dafs Herr H. in diesem Punkte wenigstens weder die he- 
bräische, noch die arabische Syntax versteht. Wenn ausserdem 
Herr H. S. 222 glauben kann, Jes. 54, i5. stehe VHXE der 
Pausa wegen für ">flXE; wenn er die Stelle Jes. 47, 11. /nach- 

dem das Richtige gezeigt worden, und zugleich auch Joel 2, 2. 
gröblich mifs versteht , so verlangt er damit offenbar zuviel, dafs 
wir ihm auf sein Wort glauben sollen, TX!"! Je«. 34, *3., Ge- 

hofte, sev nicht das gleichlautende arabische j & * n*w = Ge- 
höfte, sondern ein sonst nirgends als solches vorkommendes 
Ädjectiv von Herrn Hävernicks Fabrik. Eine ansehnliche Zahl 
noch anderer Machtspruche und Flausen, welche sich überall 
breit machen , übergeht man am besten mit Schweigen. 

Das dritte Capitel: von der Geschichte des Textes des A. T. 
ist von allen dreien wohl das unbedeutendste, und hat die we- 
nigsten gelungenen Parthieen. Um die Fragen nach dem Alter 
der Buchstabenschrift bei den Semiten, nach dem Schreibematerial, 
nach der Genesis der Quadratschrift u. s. w. genügend zu be- 
antworten, scheint der Vf. nicht hinreichend ausgestattet zu seyn, 
und auch nicht immer gewufst zu haben, worauf es eigentlich 
ankomme. Wir verweilen deshalb auch nur kürzere Zeit bei 
demselben. 

Der Verf. entscheidet sich dafür , dafs die Buchstabenschrift 
zu den Hebräern, wie zu den Griechen übergegangen sey von 
den Phoniciern (S. 268), welche er auch für die Schrifterfinder 
selbst zu halten scheint. Die Aramäer, heifst es S. 263, als 
Schrifterfinder zu denken , sey eine Hypothese , welche leicht zu 
machen , aber auch eben so leicht zu widerlegen sey. Versuche 
es doch Herr H. einmal , ob er auch nur den Schein einer Wi- 
derlegung zu produciren vermöge ! Aber die Beweisführung 
müfste sorgfältiger geschehen , als sie von S. 265 an sich ent- 
wickelt. Was für Cadmus und die Phonicier gilt, wird hier ganz 



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Olahauson : ObserT. ad V. T. 



»1 



in der Stille auf die Vorderasiaten überhaupt und somit auch auf 
die Hebräer auagedehnt; und weil die Phönicier die Schrift wei- 
terhin nach Griechenland verbreiteten, »so dürfen wir bei den 
9 stamm verwandten Hebräern ihre Verbreitung mit Fug und Recht 
* voraussetzen. « O. E. D. Und zwar noch vor Mose. Bei die- 
sem Punkte gebehrdet sich der Verf. gewaltig kritisch. Da die 
mosaische Abfassung des Pentatedohs kritisch angefochten ist, so 
will er sich nicht suf diese berufen, jedenfalls aber »müssen wir 
Ton dem mosaischen Zeitalter ausgehen, als von demjenigen, in 
welchem uns die ersten schriftlichen Urkunden der Hebräer dar- 
geboten Werdern * Wenn wir sie annehmen ! Dafs schritt liehe 
Urkunden bis in Mosis Zeit hinaufreichen , wird ja von der Kri- 
tik gleichfalls beanstandet; und die Frage hängt mit der nach der 
Mosaischen Abfassung des Pentateuches enge zusammen. Des Vfs 
ganz* Entwickelung bis S. 277 ist demnach vollkommen vergeblich. 

In dem Abschnitte vom Schreibematerial herrscht arge Ver- 
wirrung. Das notwendigste Hülfsmlttel, die bekannte treffliche 
Abhandlung von Hug in der Zeitschrift für die Geistlichkeit des 
Erzbisthums Freiburg , ist Herrn H. entgangen. Also glaubt er, 
die Hebräer hätten sich zu allen Zeiten nur Eines Materials , des 
Pergamentes, bedient, und zwar auf .solches mit dem Griffel 
(Ps. 45, 2.) geschrieben, welchen man ohne Zweifel in Tinte 
(Jer. 36, 18.) getaucht hat! 

- Mochte Herrn Hävernick eine ruhige, klare Erwägung des- 
sen, was er tbut, möglich werden! Möchte er mit demselben 
Maafse von Fleiß und Eifer, demselben Vorrat he mannigfaltigen 
Wissens einst der Wissenschaft dienen , mit welchem er sie jetzt 
noch zu Gunsten seiner Dogmatik zu untergraben sucht! Schwer 
wird es auch ihm werden, wider den Stachel zu lecken. 
Zürich. Hitzig. 



Solemnio Natatitta regte augustissimi et serenimmi Fridetiei VL die XXV III 
mensis Januarii artni MDCCCXXXFI hora XII in auditorio majore 
ritt cchbranda academiae Chris tianae Albertinae reetor et ienatus in- 
dicunt per J tut um OUhausen LL. 00. Pt P. Ord. (Innrnt obeervatio- 
nee criticae ad vetue teetamentum.) Kiliae , ex offieina Christiani Fri- 
derici Mohr. 

Herr Prof. Olshausen, welcher einer der Ersten die Gebre- 
chen erkannt hat , an denen unsere Kritik und Exegese des A. T. 
kränkelte und noch kränkelt, gibt in diesem sehr lesenswerthen 



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52 Logik tod Twesten, Bachroann, Troxler, 

Programrae einige Textverbesserungen zum Besten, als Proben 
. aus einem zu erwartenden kritischen Commentar. Herr Dr. Ols- 
hausen beabsichtigt ihn zunächst zum Nutzen der Studirenden ; 
doch ist ein solcher überhaupt ein Bedurfnifs geworden auch für 
die Gelehrten und Lehrer, und Bef., der dasselbe längst lebhaft 
fühlt, hofft, Herr O. werde sich der verdienstlichen Arbeit in 
ausgedehnterem Maafse unterziehn. Zugleich möchten wir dem 
verehrten Manne den Wunsch ausdrücken, des Guten doch nicht 
zuviel zu thun, sondern den Werth seines Buches durch jene 
vorsichtige Mäfsigung zu erhöhen , welche in dem Schriftchen 
vom Begriffe der Kritik dessen Verfasser jetzt vermifst. 

H i t % i g. 



1) Die Logik, insbesondere die Analytik , vorgestellt von A. D. Cfc. T«>«- 
sten. Schleswig, im K. Taubstummeninstitut. 1825. 

2) System der Logik. Ein Handbuch zum Selbststudium von Dr. C. Fr, 
Bachmann. Leipzig, bei Brockhaus. 1828. 

8) Logik- Die Wissenschaft des Denkens und Kritik aller Erkennt nifs , 

von Dr. Troxler. Stuttgart und Tübingen, bei Cotta. 1828. ^ 

4) Lehrbuch der Logik, als Kunstlehre des Denkens, von Dr. F. B. 
Benecke. Berlin, bei Mittlen 1832. 

5) Denklehre, zum Gebrauch bei Vorlesungen von F. J. Zimmermann. 
Freiburg, bei Groos. 1831. 

(Zweiter Artikel.) 
(e. Jahrg. 1836. Nr. 56.) 

Ein zweiter Hauptpunkt der Logik, welcher gänzlicher Re- 
vision bedarf, ist die Eintheilung der Urtheile. 

Und hier ist es denn billig , weil sie allgemein reeipirt oder, 
bei Abweichungen im Einzel nen, wenigstens zu Grunde gelegt 
wird, von der Hantischen (in der Kritik der reinen Vernunft vor- 
getragenen) Eintheilung auszugehen und sie einer desto strenge- 
ren Kritik zu unterwerfen, je unbefangener sie wiederholt wird, 
ungeachtet sie ein ganzes Nest von logischen Verstöfsen einschliefst 
und zu einem Specimen fast aller gegen die logischen Regeln der 
Eintheilung möglichen Fehler dienen kann. 

Nach Kant kann die Function des Urtheilens unter vier Titel: 
Quantität, Qualität, Relation und Modalität, gebracht werden, 
deren jeder wieder drei Momente unter sich enthält. Unter dem 
vagen Ausdruck: Titel mit drei Momenten, der in der Termino- 
logie der Eintheilung gar nicht vorkommt, versteckt sich der 



- 



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* 



Benecke und Zimmermann 53 

schwankende und unausgetragene Grundgedanke der Kantischen 
Einteilung, und es wird namentlich unentschieden gelassen, ob 
jene vier Titel ebenso viele Hauptarten oder aber vier Einthei- • 
lungsprineipien der Urtheile bezeichnen sollen. Im ersteren Falle 
wären die je dreigliedrigen Momente Unterarten, im letzteren 
Falle dagegen wären erst sie die unterschiedenen Arten des 
Urtheils. Diese schwankende Haltung konnte Bachmann ver- 
leiten, die Hantische Eintheilung nach der Voraussetzung zu be- 
urtheilen, als ob sie durch jene vier Titel vier Hauptarten des 
Urtheils hätte bezeichnen wollen; was freilich ein ganz unverzeih- 
licher Verstofs wäre, da jene vier Titel einander nicht ausschlic- 
fsen, wie Arten es sollen, nach der logischen Regel: membra 
sint disjuneta , sondern vielmehr in jedem Urtheile nothwendig 
zusammen vorkommen. Allein die vage Haltung des Hantischen 
Ausdrucks läfst freie Hand , jene vier Titel in einem richtigen 
Sinne zu fassen: als die vier Hauptgesichtspunkte oder Seiten, 
wonach die Urtheile eingetheilt werden können , kurz als die vier 
Eintheilungsprincipien des Urtheils. Jede Classe von Gegenstän- 
den läfst sich nämlich von mehr als einer Seite eintheilcn, so 
z. B. die Hute in weifs und schwarze nach der Farbe, in Filz- 
und Seidenhute nach dem Stoff, in runde und spitze nach der 
Form. Hiebei schliefsen sich immer nur die nach einer und der- 
selben Seite unterschiedenen Arten aus , können sich dagegen mit 
sii «amtlichen nach andern Seiten unterschiedenen Arten combi- 
niren. 

Die Eintheilungsprincipien den unterschiedenen Arten voran- 
zustellen, war nun ganz in der Ordnung und getreu der logi- 
schen Begel : divisio ne careat fundaroento. Allein die Begriffe 
der unterschiedenen Eintheilungsprincipien hätten, etwas deutlicher 
und bestimmter angegeben werden sollen, als durch die unbe- 
stimmten und unverständlichen Titel geschehen ist. Nach allen 
Andeutungen versteht Hant unter Quantität den Umfang des Sub- 
jects, in welchem ihm das Prädicat beigelegt wird; unter Quali- 
tät die Beschaffenheit der Aussage , also der Copula ; unter Re- 
lation das Verhältnis der zwei Urtheilsglieder zu einander, und 
endlich unter Modalität den Grad der Uberzeogung , mit welchem 
. das Urtheil gefällt wird. 

Nach jedem dieser Gesichtspunkte sollen die Urtheile in drei 
verschiedene Arten zerfallen ; so dafs es also am Ende zwölf ver- 
schiedene Formen des Urtheils gäbe , die aber , da sie verschie- 
denen Seiten angehören, nicht alle aussereinander fallen, sondern 



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54 Lofcik von Twetten, Bochmann, Troxler, 

nur je zu drei einander ausschliefsen , dagegen mit snmmtlichen 
Gegensätzen aller übrigen Seiten sich combiniren können. 

Eine solche mehrseitige Einteilung dei Urtheils vorerst zu- 
gegeben , vermifst man freilich den Beweis: warum das Unheil 
gerade vier Seiten zum Behuf der Eintheilung darbieten soll und 
nicht mehr; so wie auf der andern Seite die durchgängige Drei- 
gliedrigkeit gar zu nett ist, als dafs sie nicht fast zum Voraus 
Verdacht erweckte. Doch betrachten wir erst die Eintheilung 
im Einzelnen : 

1. Der Quantität nach zerfallt Kant die Urtheile in all- 
gemeine, besondere und einzelne, je nachdem das Urtheil von 
allen, oder von mehreren, oder von einem einzelnen Dinge einer 
Ciasse gelte. Gleich diese Eintheilung, so scheinbar sie klingen 
mag, hat einen (indefs ziemlich allgemein gerügten) Fehler, den 
Kant selbst, indem er ihn fühlte; nur mit Muhe verdecken kann. 
Bei der Quantität eines Urtheils handelt es sich nämlich nicht 
▼ob dem Umfang des Subjekts an sich, sondern von dem Umfang, 
in welchem es genommen wird; mit andern Worten: es handelt 
sich nicht darum r ob der Subjekt begriff weit oder eng ist, son- 
dern wie weit von ihm die Rede ist. Nun ist ein individuelles 
Subjekt zwar die möglichst kleinste Begriffssphäre ; allein diese 
Beschränktheit der Individualsphäre kommt bei der Quantität des 
Urtheils eben so wenig in Betracht, als die Beschränktheit einer 
Artsphäre gegenüber von der Gattung. Auch fragt sich wirklich 
bei einer Individualsphäre, so klein sie auch seyn mag, immer 
noch, wie weit sie genommen werde, namentlich aber, ob ganz 
oder blos tbeilweise ? Denn es giebt , wie allgemeine Individual- 
urtheile, z. B. Cajus ist ein Genie, so auch partikuläre Aussagen 
von Individuen, z. B. Cajus ist tbeilweise ein Narr; — was nun 
freilich Kant, ohne wie es scheint, sich lange zu besinnen, laug, 
net, Kant fiel mit Aufzählung des individuellen Urtheils aus dem 
Eintheilungsprincip , in dem er ungefähr folgendermafsen aufzählt: 
Der Subjektbegriff wird entweder ganz oder theilweise genom- 
men , oder aber ist er ein Individuum. 

2. Nach der Qualität oder nach der Beschaffenheit der 
Aussage zerfallen, wie Kant richtig aufzählt, die Urtheile in be- 
jahende und verneinende; ganz verfehlt dagegen ist die Aufzäh- 
lung der dritten Art, welche er bald unendliche, bald limitirende 
nennt. Es werden hierunter die Urtheile verstanden, wo die 
Negation nicht zur Copula, sondern zum Prädikate gehört, z. B. 
die Seele ist unsterblich, du bist nicht- klug u. dgl. Unendlich 



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Bcnucko und Zimmermann 55 

nennt Kant diese Urtheile, weil er sich vermöge des herrschen- 
den yagen Begriffs Tom negativen Gegensatze einbildet, das Sub- 
jekt Wierde dadurch in die weite, unendliche Welt ausser dem 
negirten Prädikate hinausgesetzt. Allein in Wahrheit erhalt durch 
solche negative Prädikate das Subjekt seine ganz bestimmte Stelle, 
so die Seele in obigem Beispiele im Gebiete der Dauer auf der 
dem Sterblichen entgegengesetzten Seite, der Unkluge auf der 
der Klugheit entgegengesetzten Seite der Intelligenz; und- es ist 
somit ein solches Urtheil , da das Subjekt in eine bestimmte Prä- 
dikatssphäre versetzt und wirklich etwas von ihm ausgesagt wird, 
in Wahrheit positiv, nämlich Beilegung des negativen Gegen- 
satzes. Wenn man im Kantiscben Sinne von einem unendlichen 
Urtheile reden will, so ist es das negative. — Merkwürdiger 
Weise gesteht Kant selbst die Positivität seines unendlichen Ur- 
tbeils zu , fuhrt es aber doch , der Trilogie zu lieb , als dritte 
Art auf. 

Dem Zusammenhange nach hat der Ausdruck limitirendes Ur- 
theil bei Kant ungefähr den gleichen Sinn , nämlich Freistellung 
aller möglichen Prädikate bis aui eines. In einem andern Sinne 
konnte man unter dem Titel des limitirenden Urtheils wirklich 
eine dritte, der Bejahung und Verneinung coordinirte Art der 
Aussage aufzählen, nämlich eine solche, die weder ja noch nein 
sagt , sondern durch allerlei Limitationen , z. B. so zu sagen , 
ziemlich, ge wisser raafsen u. dgl. die Aussage unbestimmt halten 
will. 

Das eigentliche Nest von Fehlern , welche denn auch bis jetzt 
noch nicht gerügt worden sind , sitzt jedoch in der Eintbeilung 
der Urtheile 

3. % nach der Relation. Hierunter ist, nach Yergleichung 
der Kategorientafcl , das Yerhältnifs der zwei Glieder des Urtheils 
zu einander zu verstehen. Je nach Verschiedenheit diesess Ver- 
hältnisses sollen nun die Urtheile entweder kategorisch, oder 
hypothetisch, oder disjunetiv seyn. Das kategorische Urtheil soll 
.das Verbältnifs von Subjekt und Prädikat, das hypothetische das 
Ton Grund und Folge aussprechen; es werden wenigstens nach 
der Kategorientafel unter jener Urtheilsform die Begriffe von 
9 Substanz und Accidens , unter dieser der von Ursache und Wir- 
kung gefunden. Das disjunetive Urtheil endlich soll das Veihält- 
nifs des Subjekts zu den verschiedenen Eintheilungsgliedern der 
Sphäre des Prädikatbegriffes angeben. 



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Logik von Twcstcn, Hachmann, Troxlcr, 



Zwei verschiedene Arten des Urtheils sind , abgesehen von 
den falschen Titeln , das kategorische and das hypothetische, und 
zwar besteht ihre Verschiedenheit darin, dafs in beiden ein ganz 
verschiedenes inneres Verhältnifs der zwei Urtheilsglieder ausge- 
sprochen wird: in dem kategorischen ein Verhältnifs der Identität, 
io dem hypothetischen dagegen ein Verhältnifs der Causalitat. 

Das disjunctive Urtheil hingegen ist den beiden übrigen nicht 
coordinirt; denn die Disjunction oder die Aufzählung der Einthei- 
lungsgliedcr statt des Gattungsbegriffes kommt in den beiden Ur- 
theilsformen , der hypothetischen wie v der kategorischen, vor; 
wobei sich denn der weitere Fehler zeigt, dafs Kant unter dem 
Titel des disjunetiven Urtheils blos die kategorische Disjunction 
berücksichtigt hat. Es giebt nämlich 1) ein kategorisch -disjunc- 
tives Unheil, z. B. die Thiere sind (was ihr Geschlecht anbe- 
langt) entweder Männchen oder Weibchen. Hier werden dem 
Subjecte, anstatt des Gattungsbegriffes des Prädikats, die Art- 
begrifle desselben beigelegt ; und es liegt dem Urtheile ganz das- 
selbe Verhältnifs wie bei dem einfachen kategorischen Urtheile zu 
Grunde, nämlich das von Subjekt und Prädikat. Allein es giebt 
nun 2) auch ein hypothetisch - disjunetives Urtheil , wenn die ver- 
schiedenen möglichen Grunde oder die verschiedenen möglichen 
Folgen aufgezählt werden, so dafs also im hypothetischen Urtheile 
sogar eine gedoppelte Disjunction vorkommt, von Seiten des Grun- 
des wie von Seiten der Folge, z. ß. man mufs hungern oder 
borgen, wenn man zu viel ausgiebt oder zu wenig einnimmt. 
Die Disjunction ändert auch hier an dem Grundverhältnisse nichts. 

Die Disjunction wird, da sie sich mit den beiden Formen 
der Relation verträgt, eine anderswohin gehörige Abänderung 
des Urtheils seyn. Sie ist eine Zusammensetzung des Urtheils, 
deren es noch eine ganze Reihe giebt, welche aber von der bis- 
herigen Logik kaum rhapsodisch sind aufgezählt worden. 

Der schlimmste Fehler der Kantischen Eintheilung der Re- 
lationen des Urtheils liegt jedoch in den verfehlten Titeln kate- 
gorisch und hypothetisch, welche auf eine mangelhafte Unter- 
scheidung des Eintheilungsprincips der Relation von dem folgen- 
den der Modalität, welchem jene Namen eigentlich angehören, 
deutet. Denn kategorisch heifst eine bestimmte, der Gewifsheit 
correspondirende Aussage, und besagt auf Griechisch nichts an- 
deres als das lateinische assertorisch; hypothetisch ist dagegen 
nur eine besondere Modifikation des Problematischen, nämlich 
eine von einer Bedingung abhängige Möglichkeit. Indem so die 



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Benecke uml Zimmermann. 



51 



Kantische Unterscheidung des kategorischen and hypothetischen 
Urtheils in zwei ganz verschiedene Eintheilungsprincipien hinein- 
schwankte, der Sache nach ein Yerhä'ltnifs der Urtheilsglieder 
meinte, dem Worte nach aber einen Überzeugungsgrad sagte, 
haben sich bei Kant und seinen Nachfolgern sub titulo der Re- 
lation die wunderlichsten Wechselbälge schillernder und schwan- 
kender Begriffe erzeugt. 

Eine Folge des unklaren Begriffs von hypothetischem Urtheil 
war gleich: dafs, während es doch die Aussage des Causalverhält- 
nisses seyn sollte, seine Ausdrucksform auf die Conjunction, 
wenn — so, beschränkt wurde; ungeachtet in jeder Grammatik 
nachgesehen werden kann, dafs es, ausser wenn — so, noch eine 
ganze Reihe causaler Conjunctionen giebt. Daher ferner die Her- 
einziehung des unmittelbaren Schlusses, und selbst des disjunkti- 
ven Urtheils, welche nicht selten die Conjunction wenn — so 
annehmen, unter dem Titel des hypothetischen Urtheils. 

Um wirklich verschiedene Arten der Relation oder des Ver- 
hältnisses zwischen den zwei Urtheilsgliedern zu bezeichnen, 
müfste man die Aussage des Verhältnisses zwischen Subjekt und 
Prädikat das prädikative, die Aussage des Verhältnisses zwischen 
Ursache und Wirkung dagegen das causale Urtheil nennen. 

4. Von Seiten der Modalität oder des Überzeugungsgi ades 
ist endlich die Trilogie der Eintheilung richtig, indem das Ur- 
theil wirklich hienach in das problematische, assertorische und 
apodiktische zerfällt. Dagegen aber schlich sich wieder ein Feh- 
Jer in die Specification dieser drei Abtheilungen ein , wie Kant 
in der Kategorientafel als correspondirend dem problematischen 
Urtheile die Begriffe der Möglichkeit und Unmöglichkeit, corre- 
spondirend dem assertorischen die Begriffe der Wirklichkeit und 
Nicht Wirklichkeit , und endlich correspondirend dem apodiktischen 
Urtheile die Begriffe der Nothwendigkeit und Zufälligkeit auf- 
fuhrt. Es ist Zwar ganz richtig, dafs das assertorische oder, wie 
man es ebensogut nennen könnte, das kategorische Urtheil das 
Verbältnifs der Urtheilsglieder als ein wirkliches oder nichtwirk- 
liches aussagt ; ganz falsch ist dagegen , wenn gemeint wird , das 
problematische Urtheil spreche die Zusammengehörigkeit der Ur- 
theilsglieder auch als unmöglich aus, indem die Aussage der Un- 
& roöglicheit vielmehr dem apodiktischen Urtheile angehört, woge- 
gen das problematische Urtheil die Negation wie die Bejahung 
Mos als möglich darstellt. Die Ausdrucksform der problemati- 
schen Negation ist nun auch nicht: es kann nicht, sondern: viel- 



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Logik ron Twestcn, Bachmann, Troxlcr, 



leicht nicht u. dgl. , wenn nicht jener Ausdrucksform durch eine 
ganz besondere Betonung ein blos problematischer Sinn gegeben 
wird. Ebenso verfehlt war es , unter dem Titel des apodiktischen 
Vrtbeils oder der nothwendigen Überzeugung die Aussage des 
zufälligen Verhältnisses aufzufuhren, denn dieses wird vielmehr 
assertorisch, als eine blofse Wirklichkeit ausgesprochen. 

Die Kantische Eintheiiung hat nun aber nicht blos die man- 
nigfachen , gerügten Fehler im Einzelnen , sondern ist nun auch 
noch im Ganzen als Eintheiiung des Urtheils oder als Aufzahlung 
seiner Arten verfehlt. Es ist eine Eintheiiung, wie wenn man, 
um die verschiedenen Arten des Reisens anzugeben, untereinan- 
der aufzählen wollte: langsam oder schnell; zu Fufs, zu Pferd, 
zu Wagen, zu Schiff; bequem oder unbequem. Der Fehler, den 
die Kantische Eintheiiung nur in minder auffallender W eise be- 
geht , springt hier in die Augen : nerolich dafs neben den wirk- 
lichen Arten des Reisens, welche in den verschiedenen Weisen 
des Fortkommens bestehen, ganz untergeordnete Abänderungen 
in gleicher Reihe aufgezahlt werden. Ein Fehler, welcher auf 
mangelhafter Unterscheidung des wesentlichen und der unwesent- 
lichen Eintheilungsprincipien beruht. 

Sollte man nun im Unklaren seyn, welches das wesentliche 
Eintheilungsprincip der Urtheile seyn mochte , so gibt es ein sehr 
sicheres Mittel, darüber ins Reine zu kommen: es ist, wie bei 
jeder einzuteilenden Classe von Gegenständen, so lange sie we- 
nigstens in rein wissenschaftlicher Absicht betrachtet werden, ihr 
Gattungsbegriff; nur bei einem speciellen Zwecke der Betrach- 
tung kann eine andere, untergeordnete Seite als die wesentliche 
hervortreten. Da nun der Gattungsbegriff des Urtheils einstim- 
mig dahin angenommen werden wird: dafs es die Aussage des 
inneren Verhältnisses zweier Vorstellungen sey, so kann das we- 
sentliche Eintheilungsprincip der Urtheile kein anderes seyn, als 
die Relation, An dieser allein zerfallen die Urtheile in ihre wirk- 
lichen Arten , die übrigen Sorten des Urtheils mögen dagegen 
blos zu Unterabtheilnngen dienen, um innerhalb der Hauptarten 
die verschiedenen Abänderungen des Urtheils zu unterscheiden. 

Ein dritter Hauptpunkt der Logik , welcher dringend einer 
Revision bedarf, ist die bisherige, ebenfalls wieder, und zwar 
noch ausnahmsloser als bei dem Urtheil, Kant nachgeschriebene 
Eintheiiung der Schlüsse; daher wir wiederum Kant zum 
stellvertretenden Gegenstande unserer Kritik der bisherigen Logik 
nehmen können. 



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Benecke und Zimmermann. 



Die bisherige Einteilung und Aufzählung der Schlösse ist 
unvollständig und mangelhaft, indem gerade die wichtigsten und 
fruchtbarsten Schlüsse, nämlich die auf den Verbältnissen der 
ürtheile beruhenden , noch gar nicht beachtet und dargestellt sind; 
wogegen die Logiker die einfacheren und unergiebigeren Elemen- 
tarschlüsse mit desto grofaerer Breite ausgesponnen haben und 
müßigen Hirngespinsten, wie den Soriten, und ähnlichen, dem 
wirklichen menschlichen Denken gänzlich fremden Künsteleien 
nachgegangen sind mit ungemeinem Aufwand von Spitzfindigkeit. 

Die bisherige Eintheilung der Schlüsse in unmittelbare und 
mittelbare ist übrigem, abgesehen von ihrer UnVollständigkeit, 
richtig. Unmittelbare Schlüsse sind solche, welche durch blofse 
Veränderung eines Urtheils entstehen , wobei sonach nur mit zwei 
Hauptbegrifien operirt wird, z. B. wenn alle speeifisch schwere» 
ren KSrper im Wasser untersinken, so wird dies auch bei die- 
sen und jenen eintreten. — Mittelbar nennt man dagegen den 
Schlufs, wo das Schlufsurtbeil durch Zwischenurtbeile vermittelt 
wird, z. B. das Gold sinkt im Wasser unter, weil es ein speei- 
fisch schwererer Horper ist, diese aber im Wasser sinken, Die 
zwei letzteren Ui theile treten gleichsam zwischen das Subjekt und 
Prädikat des ersteren vermittelnd ein; sie entstehen durch einen 
Mittelbegriff, welcher in dem einen mit dem Subjekte, in dem 
andern mit dem Prädikate in Verhältnis gesetzt wird und so das 
zu erschliefsende Verhältnis zwischen diesen beiden vermittelt 
In diesen mittelbaren Schlüssen wird mit drei Begriffen operirt , 
nämlich mit dem Subjekt und Prädikat des Scblufssatzes und dem 
Mittelbegriffe. Diese Zusammensetzung des mittelbaren Schlus- 
ses aus drei Hauptbegriffen, sowie die vermittelnde Stellung des 
Mittelbegriffs leuchtet am deutlichsten ein in der compendiösen 
Ausdrucksform des täglichen Lebens, so in unserem Beispiele: 
das Gold sinkt, als speeifisch schwererer Körper, im Wasser unter. 

Indem wir den Unterschied der unmittelbaren und mittelba- 
ren Schlüsse, welcher durch die einfache Abzahlung der Haupt- 
begrifTe, mit denen operirt wird, fixirt werden kann, anerkennen, 
können wir aber nun auf der andern Seite diesem Unterschied 
nicht die Wichtigkeit geben , wie manche Logiker nach dem Vor* 
gange Kants, dafs wir die unmittelbaren Schlüsse Verstandes-, 
die mittelbaren dagegen Vernunftschlüsse nennen und somit ein 
gedoppeltes Denkvermögen für beide unterscheiden mochten. 
Denn der mittelbare Schlufs ist wesentlich dieselbe Denkoperation, 
nur mit einer kleinen Complikatioo vermittelst des MittelbegrifTa ; 



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60 Logik von Tveiten , Bachmann, Troxler, 

so dafs er denn auch im täglichen Lehen meist in der Form des 
unmittelbaren ausgesprochen wird. 

Der unmittelbare Scblufs ist in der bisherigen Logik rich- 
tig eingeteilt; er entsteht durch die Veränderungen, welche an 
einem gegebenen Urtheile oder an dem gegebenen Verhältnisse 
zweier Hauptvorstellungen vorgenommen werden können ; diese 
aber sind so vielfach als das Urlheil Seiten hat, an welchen die- 
selben angebracht werden können. Es giebt demnach unmittel- 
bare Schlüsse durch veränderte Quantität , Qualität und Modali» 
tat. Was die Relation anbelangt , so kann kein Urtheil aus einem 
gegebenen prädikativen Verhältnisse in ein causales verwandelt 
werden, oder umgekehrt; es ist demnach kein Schlufs möglich 
von einer Art der Relation auf die andere, wodurch sich die 
Relation wiederum als das wesentlichere Eintheilungsprincip er- 
weist. Wohl aber kann bei dem prädikativen Urtheile durch 
Conversion und Contraposition aus dem gegebenen Verhältnisse 
des Subjekts zum Prädikate auf ein Verhältnifs des Prädikats als 
Subjekt zum Subjekte als Prädikat geschlossen werden; weil diese 
Urtheilsglieder in Identitätsverhältnifs stehen und sonnt bei ver- 
schiedener Ansicht ihre Rollen tauschen können , was bei Ursache 
und Wirkung nicht der Fall ist. . 

Ausser den genannten vier Arten von unmittelbaren Schlüs- 
sen, welche alle Veränderungen umfassen, welche mit dem ge- 
gebenen Verhältnisse zweier Hauptvorstellungen vorgenommen 
werden können, findet man in der bisherigen Logik zu den un- 
mittelbaren Schlüssen noch ferner gerechnet: die Gleichheits- 
schlüsse und die Schlüsse durch den Gegensatz. Letztere wer- 
den an die Schlüsse durch veränderte Qualität eines gegebenen 
Urtheils angeknüpft; ersterc dagegen als eine eigene Art aufge- 
führt , welche gemeiniglich die Reihe der unmittelbaren Schlüsse 
eröffnet. Man hätte schon an dem umfassenden Fortschritte des 
Denkens, welcher in diesen beiden Schlufs weisen liegt, abneh- 
men können, dafs sie nicht zu der einfachen, fest auf der Stelle 
des gegebenen Urtheils verweilenden , nnmittelbaren Schlufsweise 
gehören. Denn selbst die Gleichheitsschlüsse bilden einen sehr 
bedeutenden und ungemein häufig gebrauchten Fortschritt des 
Denkens: wenn z.B. ein und derselbe Gedanke, dadurch dafs er 
verschieden gewendet wird , sich von immer neuen Seiten auf- 
schliefst und sich gleichsam eben so oft für die Erkenntnifs ver- 
doppelt. Sodann war es, was die Schlüsse durch den Gegensatz 
anbelangt, nicht ohne Zwang möglich, sämmtlicbe Abänderungen 



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Bcncckc and Zimmermann. «I 

■ • 

derselben bei dem unmittelbaren Schlüsse durch veränderte Qua- 
lität einzureihen. Dieser läfst sich zwar als Schlufs durch den 
contradiktorischeo Gegensatz der Copula oder der Abfolge dar- 
stellen. Allein nun giebt es auch noch Schlüsse durch den con- 
tradih toriseben und endlich Schlüsse durch den conti aren Gegen- 
satz der Prädikate und Wirkungen, welche auf keinerlei Weise 
unter die blofse Veränderung der Qualität eingereiht werden 
können. 

Diese beiden Schlufsweisen durch die Gleichheit und den 
Gegensatz gehören oflenbar in die von der bisherigen Logik noch 
gar nicht dargestellte Abtheilung der Verhältnifsschlüsse. 

Der mittelbare Schlufs, welcher durch einen dritten, zwi- 
schen die Glieder des Schlußsatzes vermittelnd eintretenden , Be- 
griff entsteht, correspondirt der Zusammensetzung des Urtheils, 
wie die unmittelbaren Schlüsse den möglichen Abänderungen ei- 
nes einfachen Urtheils correspondiren; wie denn auch im täglichen 
Leben die mittelbaren Schlüsse durchweg als zusammengesetzte 
Urtheile ausgesprochen werden, z. B. Ca jus, als Mensch, ist 
sterblich. 

Der Gewinn an Fortschritt oder Begründung der Erkenntnifs 
durch den mittelbaren Schlufs ist ziemlich unbedeutend und ver- 
lohnt kaum die ungemeine Breite und Sorgfalt der Ausführung, 
welche diesem Theile der Logik noch jetzt gegeben wird. In- 
dessen hat diese Parthie der Logik auf der andern Seite wieder 
das Interessante, dafs sie, wenigstens was den sogenannten kate- 
gorischen Schlufs anbelangt, absolut im Reinen und abgeschlossen 
ist, und zwar gröfstentheils schon seit Aristoteles. Die Lehre 
vom kategorischen Schlufs darf sich, an Präcision und Notwen- 
digkeit der Darstellung , mit jeder Parthie der Mathematik mes- 
sen; denn nur Logiker, welche sich nicht die Mühe nehmen sie 
zu studiren oder muthwillig revolutioniren , werden versuchen , 
zu einer Darstellung , wie sie z. B. Twesten gegeben , noch ein 
Titelchen davon oder dazu zu thun 

Die Eintbeilung der mittelbaren Schlüsse, welche 
wiederum die Kantische geblieben ist , überbietet an Fehlern noch 
die Eintbeilung der Urtheile. 

Als die drei Arten der mittelbaren Schlüsse werden aufge- 
zählt: der kategorische, hypothetische und disjunktive. 

Das Eintheilungsprincip, wovon hiebei ausgegangen wird, ist 
die Relation. Schon hieran hätten die Logiker rückwärts abneh- 
men können , dafs dieselbe auch das Haupteinthcilungsprincip der 



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62 Logik von Twesten, Bachmann» Troxtor, 

ürtheile scyn mufs, indem bei der Verwandtschaft der Urtheüe 
and Schlüsse offenbar ein and derselbe Hauptunterschied durch 
beide gehen mufs; welchen die Logiker nur beim Schlüsse weni- 
ger verkennen konnten , als bei den Urtheilen , indem je ver- 
wickelter die Formen werden , desto mehr die Nebenunterschiede 
in den Hintergrund treten und die Hauptunterschiede durchgreifen. 

Dagegen machen die Logiker nun den grofsen Fehler, nur 
auf die Relation des Obersatzes zu sehen , während sie auf die 
durch den ganzen Schlufs hindurchgehende Relation hätten re- 
flectiren und fragen sollen : welches Verbältnifs zwischen den zwei 
Gliedern des Schlufssatzes wird durch den Mittelbegriff vermittelt? 

Wenn schon dieser Fehler nichts Gutes von der gebrauch, 
liehen Eintheilung der Schlüsse erwarten läTst, so wird dieses 
vorläufige Mifstrauen noch verstärkt durch einen Rückblick auf 
die Eintheilung der Urlheile. Nach Analogie der letztern werden 
wir vermuthen dürfen , einmal dafs die Titel der drei Schlufs- 
arten verfehlt und unpassend seyn werden, sodann aber, dafs es 
der Hauptarten des mittelbaren Schlusses nicht diei, sondern nur 
zwei geben wird, nämlich einen prädikativen und einen causa len. 
Die disjunktive Form wird wohl eben so wenig eine dritte Haupt- 
art des Schlusses seyn , als sie eine dritte Hauptart des Urtheils war. 

Beginnen wir mit einer Untersuchung der letzteren Vefmu- 
thnng: der angeblich disjunktive Mittelschlufs besteht darin, dafs 
von einer Alternative, welche im Obersatze von dem Subjekte 
prädicirt wird, im Untersatze das eine Glied gesetzt und somit 
im Schlufssatze das andere gelnugnet, oder aber im Untersatze 
das eine geläugnet und somit im Schlufssatze das andere gesetzt 
wird. Haben wir z. B. die Alternative: dieser Körper ist entwe- 
der fest oder flussig, so läfst sich der gedoppelte Schlufs bilden: 
nun ist er fest, also nicht flüssig, oder nun ist er nicht flussig, 
also fest. 

Diese disjunktive Schlufsweise kann schon darum keine be- 
sondere Art des mittelbaren Schlusses seyn, weil kein Mittclbe- 
griff vorhanden ist, sondern blos mit zwei Hauptbegriffen operirt 
wird, indem die Alternative des Obersatzes, welche nur für Ei- 
nen Begriff, nämlich für den Gattungsbegriff ihrer Glieder, zählt, 
sich nur in veränderter Form im Unter- und Schlufssatze wieder- 
holt. Eine nähere Betrachtung zeigt denn auch : dafs der dis- 
junktive Schlufs bereits, nur noch etwas richtiger, unter den 
unmittelbaren Schlüssen abgehandelt ist und somit von der bis- 
herigen Logik, welche sich durch die verschiedene Ausdrucks- 



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Beneclo und Zimmermann. f>3 

form täuschen Hefs, doppelt aufgeführt wird. Cr ist nämlich 
nichts anderes ats eine, überflussiger Weise durch den Obersatz 
vermehrte , Darstellung des unmittelbaren Schlusses vermittelst 
veränderter Qualität , wie solcher gemeiniglich zum Schlüsse ver- 
mittelst des Gegensatzes erweitert wird. Der modus ponens oder 
ponendo tollens ist die Folgerung aus der Wahrheit des einen 
yon zwei entgegengesetzten Urtheilen auf die Falschheit des an- 
dern ; der modus tollens oder tollendo ponens dagegen ist der 
Schlufs von der Falschheit des einen Gegensatzes auf die Wahr* 
heit des -andern. Letzterer Schlufs geht, was die Logiker bei 
dem disjunktiven Schlüsse anzumerken vergessen, nicht bei allen 
Gegensätzen an, nämlich nicht zwischen zwei universellen. 

Der Darstellung der einen Hauptart des mittelbaren Schlus- 
ses, des prädikativen, wenngleich unter dem falschen Titel det 
kategorischen, haben wir bereits die verdiente Gerechtigkeit wie- 
derfahren lassen. Er selbst zerfallt wieder nach der Stellung oder 
Relation des Mittelbegriffs zu den beiden SchluPsbegriften in die 
vier Figuren oder Unterarten; und diese nach den Abänderungen 
der Quantität und Qualität in verschiedene modos oder Modifika- 
tionen , wobei sich die verschiedene Dignität dieser Eintheilungs- 
prineipien noch einmal schlagend herausstellt. 

Die gewöhnliche Darstellung der andern Hauptart des mittel- 
baren Schlusses, des causalen , unter dem schiefen Titel des hy- 
pothetischen, ist dagegen leider wieder verfehlt and zwar wie- 
derum eine, wir mochten fast sagen gedankenlose, Wiederholung 
bereits abgehandelter, unmittelbarer Schlüsse. 

Der sogenannte hypothetische Vernunftschlufs hat zwei Ab- 
änderungen , 1) den modus ponens, %o von der Existenz der 
Ursache auf den Eintritt der Wirkung, und s) den modus tollens, 
wo von dem Nichtantritt der Wirkung auf die Nicbtexistenz der 
Ursache geschlossen wird; beidemal vorausgesetzt, dafs ein noth- 
wendiger und allgemein gültiger Causalzusammenhang vorhanden 
ist , der nun freilich nur in seltenen Fällen mit Sicherheit statu irt 
werden kann. 

Das Schema der schulgerechten. Darstellungsform des modus 
ponens ist: wenn A ist, so ist auch B: nun ist A, also ist auch 
B ; z. B. wenn die Sonne scheint , so wird es warm : nun aber 
scheint die Sonne, also wird es auch warm werden (wenn anders 
keine störenden Umstände dazwischen treten). Wenn dem ober- 
flächlichen Anschein nach hier ein Ober-, Unter* und Sehl ufssatz 
und somit ein mittelbarer Schlafs vorzuliegen scheint, so wird 



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64 Logik Ton Twetten, Bächmann, Troxlcr, Beneckc u. Zimmermann. 

diese Illusion doch sogleich schwinden, wenn man auf die Zahl 
der HauptbegrifFe reflektirt: denn deren sind es in der That nur 
zwei , A und B , Sonnenschein und Wärme. Wir haben somit 
nur einen unmittelbaren Schlufs vor uns , der auch als solcher 
vor Augen gestellt werden kann, wenn wir nur die für den Lo- 
giker ganz gleichgültige Aus drucks form verändern: da, wenn 
die Sonne scheint , es allgemein und nothwendig warm wird , so 
wird diese Wirkung auch im vorliegenden Falle eintreten. Zu- 
gleich springt nach dieser die Gedankenverbindung nicht ändern- 
den Veränderung, die Denk form hervor, unter welcher der mo- 
dus ponens anderweitig schon abgehandelt ist, nämlich als unmit- 
telbarer Schlufs durch Veränderung der Quantität oder Modalität. 
Denn der modus ponens ist nichts, als ein Schlufs von dem All- 
gemeinen auf das Besondere oder, wie er auch betrachtet wer- 
den kann, von der Noth wendigkeit auf die Wirklichkeit. 

Nach dieser Entdeckung wird sich zum voraus, der Analogie 
nach, vermuthen lassen, dafs der modus tollens auf einem un- 
mittelbaren Schlüsse durch veränderte Qualität oder vermittelst 
des negativen Gegensatzes beruhen wird und so ist es denn auch 
in der That. Sein Schema ist: Wenn A ist, so ist auch B: nun 
ist B nicht, also existirt auch A nicht; z. B. so lange die Sonne 
über dem Horizonte ist, ist es Tag: nun ist's aber nicht mehr 
Tag, also ist auch die Sonne nicht mehr über dem Horizonte 
(wenn anders keine totale Sonncnfinsternifs oder eine ganz ausser- 
ordentliche Wolkenbedeckung 'oder ein Londner Nebel eintritt). 
Der nervus probandi dieses Schusses liegt in dem Widerspruche, 
welcher zwischen der Position und Negation derselben Wirkung 
bei der Position der glcicl^en Ursache stattfinden würde. 

Übrigens giebt es nun wirklich einen mittelbaren causalen 
Schlufs, an welchen denn auch schon hin und wieder einige Lo- 
giker, z.B. Bachmann, gedacht haben, ohne ihm jedoch zu sei- 
nem Bechte als alleinigem Gegensatze des prädikativen Mittel- 
schlusses zu verhelfen. Er entsteht durch Angabe einer Mittel- 
ursache, ist übrigens wogen der unveränderlichen Belation der 
letzteren ganz einfacher Art oder Figur: z. B. wenn der Hund 
geschlagen wird, so schreit er, weil es ihm wehe thut, was leicht 
in einen Schlufs in Barbara wird auseinandergelegt werden können. 

(Der Bcschlufs folgt.) 



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N # .ö. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Logik von Tweslen, Bachmann, Troxler, Benecke ttnd 
A immermann* 

(Beichtuf:) 

Was nun die dritte, von den Logikern bis jetzt noch nicht 
dargestellte, Classe von Schlüssen, die Verhältnifsschlüsse, 
anbelangt, so ist es hier nicht der Ort dieselben zu entwickeln y 
und wir begnügen ans mit einer blofsen Aufzählung derselben. 

Die Urtheile stehen mit einander in verschiedenen , von der 
bisherigen Logik übrigens wiederum mangelhaft dargestellten, 
Verhältnissen. Vermittelst dieser Verhältnisse bann der schlies- 
sende Fortgang des Denkens von einem Urtheile auf ein anderes 
übergeben, während er in dem mittelbaren wie in dem unmittel- 
baren Schlüsse sich nur innerhalb des Umfangs Eines gegebenen 
Unheils bewegt, dort nämlich in blofsen Abänderungen, hier in 
einer Vermittlung desselben besteht. Durch diesen Übergang von 
einem Unheil auf das andere macht das Denken wesentlich gro- 
fsere und fruchtbarere Fortschritte ; wie denn auch in dem Bä- 
sonnement des täglichen Lebens und dem wissenschaftlichen Ge- 
dankengange der achliefsende Fortschritt im Grofsen jenen Ver- 
hältnissen der Urtheile untereinander nachgeht, und nur bei der 
Durcharbeitung im Kleinen, wenn er gleichsam stille steht um 
sich umzusehen und seine gemachten Fortschritte zu begründen , 
jene Eiementarschiüsse innerhalb einzelner, meist schon gefällter, 
Urtheile macht. 

Die Verhältnisse der Urtheile untereinander sind theils In- 
halts- theils Umfangs-Verhältnisse. In jener Beziehung sind die 
Urtheile entweder gleich, oder verschieden, oder schliefsen sie 
einander ein, wie das Ganze den Theil ; die verschiedenen Ur- 
theile aber zerfallen wieder in die absolut verschiedenen oder 
einstimmigen und in die verwandten oder entgegengesetzten. Die 
Schlüsse durch Gleichheit wie durch den Gegensatz der Urtheile 
sind in der bisherigen Logik bereits dargestellt; dagegen fehlen 
yon den auf Inhaltsverhältnissen gegründeten die Einstimmigkeit«- 
und die Einschliefungsschlüsse ; nur letztere werden hin und wie- 
der unter den Gleichheitsschlüssen beispielsweise aufgeführt. Da- 
hin gehurt z. B. folgendes von Bachmann zur Erläuterung des 
' XXX. Jahrg. 1. Heft. 5 



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66 Logik von Twisten, Bachmann, Troxler, Benecke u. Zimmermann. 

Gleicbheitsschlusses gebrauchte Beispiel : Der Meosch ist endlich, 
also beschränkt in seinen Erkenntnissen und Handlungen; also 
mannigfachem Irrthum biosgestellt u. s. w. Die Einstimmigkeits- 
schlüsse gehen auf die Möglichkeit des Zusammenbestehens ver- 
schiedener Urtheile und Sätze. 

Dem Umfange nach stehen die Urtheile in Subordinations- 
und Coordinationsverhältnissen. Hiervon bat die bisherige Logik 
blos das Subordinations verbal tnifs in Betracht genommen , oh n ge- 
achtet die Coordinationsverbältnisse der Urtheile gar nicht ohne 
logisches Moment sind ; auch hat sie blos die Subordination der 
Subjekte ins Äuge gefafst , während es ebensogut auch eine Sub- 
ordination der Prädikate, ja eine Subordination ganzer Urtheile gibt. 

Coordinirt sind Urtheile, welche sich zu einander verhalten 
wie Arten desselben Gatturigsurtheils, in welches sie denn auch 
-müssen zusammengefafst und wieder daraus abgeleitet werden 
können. Dieses kann nun aber auf dreifache Weise der Fall seyn 
und es findet also ein dreifaches Coordinationsverhältnifs zwischen 
Urtheilen statt, nämlich entweder zwischen den Urtheilen im Gan- 
zen , oder blos zwischen ihren Vordergliedern oder blos zwischen 
ihren Hintergliedern. Die eoordinirten Urtheile können, unge- 
achtet sie Gegensätze bilden, nicht nur nebeneinander bestehen, 
sondern setzen auch einander voraus als nothwendige Ergänzungs- 
glieder des gemeinsamen Gattungsurtheils , und es dient demnach 
das eine zur Auffindung, ja zur Erzeugung und Beleuchtung des 
andern. 

Das Subordinationsrerhältnifs der Urtheile gestattet den dop- 
pelten Schlufsgang : von dem Gattungsurtheile vorwärts auf die 
Arturtheile und von diesen wieder rückwärts auf das Gattungs- 
urtheil ; indem dieses dem Inhalte nach in jenen , dieselben aber 
wieder dem Umfange nach unter ihm begriffen sind. 

Durch Gleichheit und Gegensatz, wie durch Entwicklung des 
Eingeschlossenen, namentlich aber durch Subordination und Co- 
Ordination gliedert sich jeder geordnete Gedankengang im Grofsen; 
der schliefsende Fortgang nach diesen sich von selbst vollziehen* 
den Verhältnissen ist die bewegende Seele alles Gedankenfort- 
schritte, die immanente Methode alles wissenschaftlichen Denkens. 
Möchte demnach die Logik, statt der nutzlosen Fortspinnung der 
Soriten , sich bald mit Entwicklung dieser wichtigsten aller Schlufs- 
formen, der Verhältnifsschlusse , befassen. 

Fit eher in Basel. 



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Schriften über Irrenanstalten von Pinel , Nowok und Engelken. «1 



1) Scipion Pinel, TraiU eompltt du ngime »anitaire des alients ou Ma- 
nuel de» itablu—mtn» , gut leur »ont consaa tn. Avec dt» plancket ex- 
plicative», exe'cute'e» »ur le modele dt» tonttruetion» que Vadministration 
de» höpitaux a faxt ilever a la Salpetriere , d'apri» le» plan» de M. Hut)4. 
A Paria che: Mauprivez , iditeur, et ehe» Bittet, libraire. 18». gr. 4. 
VI und 32t Seiten. 

2) AXau» Nowak, Votizen über die Präger k, k Irrenanstalt und die Vtr~ 
ander ungen in derselben »eit dem Jahr 1830, nebst 2 über sieht st abellen 
und einigen Krankheitegtschickteu. Prag 1835. 8. 79 Seiten. 

3) Friedrich Engelken, die Privatirrenauttalt zu Oberntuland bei Bre- 
men. Mit 2 Steindrucktaftin. lirtmen 1835 bei J. G. //eyte. 8. 38 S. 

r 

Dafs abermals drei Schriften über Irrenanstalten erschienen 
find, nachdem in kurzer Frist sieben solcher in diesen Jahrbü- 
chern angezeigt worden waten, zeugt, ganz abgesehen von dem 
sehr verschiedenen Werth der einzelnen Schriften, von einem 
grofsen, weitverbreiteten Interesse, das sich glücklicherweise nicht 
nur in Büchern, sondern in den humansten Einrichtungen und 
Vorkehrungen kund gibt. 

Der Verf. von No. i , medecin surveillant an der Irrenabtheu 
long der Salpetriere und Sohn, aber nicht geistiger Erbe des 
hochverdienten Ph. Pinel , sagt selbst von seinem Buche I » 1' ordre 
des matieres et le titre des chapitres suflisent pour indiquer qu*un 
tel ou trage peot et re egalement consulte par le medecin , le ma- 
gist rat , le jure et par les families qui ont besoin d'un guido pour 
cette aflligeante infirmite.« Jeder Sachverständige wird schon 
wegen einer solchen vielseitigen Bestimmung eines und desselben 
Buches bedenklich werden. Einer höchst unvollständigen , zum 
Theil aus Ferrus entlehnten geschichtlichen Notiz über die Ver- 
besserung der französischen Irrenanstalten entlehnen wir nur den 
Umstand, dafs die ersten neuen Gebäude in der Salpetriere 1820 
aufgeführt wurden. Esquirols Ausspruch , dafs die Irrenanstalt 
selbst schon ein Heilmittel wäre , wird von dem Vf. dahin amen- 
dirt , dafs ohne zweckmässige Baueinrichtungen (construetions) 
und Verkeilung der Kranken die Behandlung der Seelenstörung 
unmöglich wäre. [Hierin geht der Verf. offenbar zu weit Gei- 
steskranke können ebensowohl in Privathäusern genesen als in gut 
organisirten , wenn auch nicht neu erbauten, Irrenanstalten, ob- 
wohl in der Regel die Behandlung in einer Anstalt der in einem 
Privatbause vorzuziehen ist und obwohl eine eigens zu ihrem 
Zweck erbaute Anstalt ceteris paribos günstigere Resultate liefern 
nnd auch nicht viel kostspieliger seyn wird, als eine, zu der ein 
altes ScWofs oder Kloster »kkommodirt werden raufste.] — Ohne 



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G8 Schriften übet Irrenanstalten 

weitere Erörterung gibt der Verf. in der Einleitung alt Grand* 
bestimmung einer Irrenanstalt an , dafs sie heilbare und unheilbare 
Kranke, höchstens 3 — 400 aufnehmen und in sechs, weiter unten 
anzuführende, ünterabtheilungen zerfallen soll. Die Grunde, 
warum die heilbaren nicht gänzlich von den unheilbaren getrennt 
werden sollen — ein Punkt, der jetzt zu den wichtigsten gehört 
— sind nirgends angegeben. 

Erster Abschnitt Über Lage und Bau. Die Zahl 
der beiden Geschlechter nimmt der Vf. gleich, jedes zu i5o an, 
[wodurch freilich manche Schwierigkeit beseitigt ist ; in den aller- 
meisten deutschen Anstalten würde aber dadurch auf der Frauen* 
seite viel disponibler Baum entstehen. Auch in England, Bel- 
gien, Italien, Spanien und Sicilien, welche der Verf. als Beleg 
für seine Meinung anfuhrt, mochte das Verhältnifs nicht so gleich 
seyn.] Für die Lage der Anstalt wird die Nähe einer grofsen 
Stadt, eine leichte, gegen Norden durch einen Hügel geschützte 
Anhöhe, sodann Wasser und endlich Sandboden gefordert, der 
nicht feucht sey und einen soliden Baugrund darbiete. Die Ge- 
bäude sollen gegen Osten gerichtet seyn , unter Anderm auch 
defswegen, weil alsdann der Scorbut [diese Schmach der fran- 
zosischen Irrenanstalten] seltener vorkomme. Für 3oo Kranke 
werden mindestens a5 Morgen Land gefordert [wohl zu wenig]. 
Die zweckmäTsige Vertheilung der Kranken , wie sie von seinem 
Vater empfohlen worden, hätten zwar alle Arzte anerkannt, aber 
keiner ausgeführt. Die Desportes'sche Eintheilung wird von dem 
Verf. sehr gerühmt und mit Vereinfachungen angenommen. Ge- 
gen die Strahlenform des Ferrus sehen und mancher andern Pro- 
jekte bemerkt der Verf. sehr richtig, dafs die damit bezweckte 
Aufsicht von einem Punkte aus eben so unausführbar als unnütz 
wäre. Gegen den Esquirol'schen , dem Verf. aus Löwenhayn's 
Schrift bekannt gewordenen, Plan führt er die allzu zahlreichen 
Unterabtheilungen an , sodann die Quadratform , wodurch die 
Kranken allzu isolirt würden und die Luit nicht frei genug durch- 
streichen könne, und endlich den wegen durchgebends einstocki- 
ger Gebäude erforderlichen enormen Hostenaufwand. Des Verfis 
eigener Plan ist dem von Desportes, wie er ihn in seinem Pro- 
gramme und sodann in den einzelnen Neubauten der Salpetriere 
und des Bicetre dargelegt hat , entnommen und durch Zeichnun- 
gen erläutert. Zwischen den parallel laufenden Gebäuden für 
die beiden Geschlechter befinden sich die für die gemeinschaft- 
lichen Raumbedüi fnisse , zuerst die Kapeile. Gottesdienst hält 



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von riot-1, Nowak und Engelken. 69 

der Verf., wenn die Kranken nach dem ärztlichen Ermessen zu- 
gelassen wurden , für heilsam. Zu beiden Seiten ist eine Pfört- 
nerswohnung ; folgt sodann nach der Seite zu der Saal der Auf- 
nahme für jedes Geschlecht. Noch weiter seitlich , auf jeder der 
beiden Tordern Ecken, ist eine Wohnung für den Chefs- und eine 
für den Hülfsarzt. Hinter der Kapelle ist das Verwaltungsgebäude 
mit Bureau, Magazinen, Wohnungen für Angestellte, Anspracbs- 
zimmer; hinter diesem ein Pavillon, im untern Stock mit gemein- 
schaftlichen Speisezimmern für das Wärterpersonale; im ohern 
mit einem Saal, der für Lektüre, Musik, Tanz und Unterhaltung 
der Kranken höherer Stände bestimmt ist. Oben im Betvedere 
befindet sich der eleve de garde. Folgt hierauf nach hinten die 
Küche und Pharmacie in einem Gebäude; hinter diesem das für 
Bäder, sodann das für die Lingerie und endlich das für die Wasch- 
anstalt und die Meierei , wovon die erste den weiblichen , die an- 
dere den männlichen Reconvalescenten zur Beschäftigung bestimmt 
ist. . Alle diese in der Mitte befindlichen Gebäude sind zwei- und 
dreistockig. Rechts und links ton diesen Gebäuden befinden sich 
auf jeder Seite 6 Abtheilungen. Die erste, die Infirmerie, be- 
steht aus zwei Sälen, jeder zu 6 Betten. Für Unreinliche schlägt 
der Verf. Betten mit einem konkaven Boden von Zink vor und 
erwähnt einer in der Salpetriere eingeführten Vorrichtung, wor- 
nacVi das aus Stroh bestehende Mittelstück der Matratze gewechselt 
wird. Die zweite Abtheilung ist für die Reconvalescenten, die dritte 
für die ruhigen Heilbaren und die \tc für die ruhigen Unheilbaren 
bestimmt. Die fünfte, für die unruhigen Unheilbaren, hat eine 
besondere Unterabtheilung für die Epileptischen. Diese Kranken 
schlafen sammtlich in Sälen. Jeder der beiden Säle einer Abiheilung 
fafst 14 Betten. Auf der einen Seite ist der Versammlungs- und 
Arbeits- , auf der andern der Speisesaal. Die sechste Abtheilung 
enthalt für die Tobsüchtigen einzelne Logen , deren hölzerne 
Zwischenwände auf steinernem Grunde ruhen. Die FufsbÖden, 
unter dem hölzernen ein steinerner, sind abhängig. Die Fenster 
sollen durch Gitter und Läden verwahrt seyn , aber keine Glas- 
scheiben besitzen. Die Logen bilden nur eine Reihe. Zu jeder 
Abtheilung gebort ein kleiner, etwas entfernt stehender Pavillon 
mit einigen Zellen zur schnellen Unterbringung ruhestörender 
Kranker. Ganz zuletzt befindet sich mit einem eigenen Ausgang 
nach aussen der Saal für die Todten und die Scctionen. Abtritte 
im Innern der Logen verwirft der Verf. Statt deren will er für 
die Nacht Leibstühle und zum Gebrauch am Tag Abtritte in der 



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Schriften aber Irrenanttalteo 



Mitte der Höfe [also im Freien], die durch da« Walser der eben, 
daselbst befindlichen Brunne» gereinigt werden. Die einzelnen 
Gebäude sind durch bedeckte Gallerieen verbunden. Für Luft- 
heizung gibt er eine voh Maupri vez verbesserte Methode an , wozu 
Zeichnungen auf der ersten Tafel gehören. Die Gebäude für die 
Irren sind durchgehends einstöckig. Unter denselben sind keine 
Keller, sondern nur Luftzuge angenommen. Die Kosten der Aus- 
führung sollen 1 Million, nach Desportes nur 600,000 Franken 
betragen. 

Zweiter Abschnitt. Beamte, Leitung, Hausordnung. 
Für den ärztlichen Dienst will der Verf. einen dirigirenden Ars*, 
einen Hulfsarzt, * interne und 4 externe Eleven, 3 Personen für 
die Apotheke. Er dringt auf uneingeschränkte Stellung des Arz- 
tes, besonders auch der Verwaltung gegenüber, will aber den 
agent comptable, welcher die obere Behörde in der Anstalt re- 
präsentiren soll , dem Arzte nicht untergeordnet wissen , sondern 
dafs beide sich wegen Vorschlagen zu neuen Anstellungen be- 
rat hen. [Gewifs ein höchst unpraktischer Vorschlag.] Den Ober- 
aufsehern räumt der Verf. sehr grofse Befugnisse, selbst die der 
Entlassung des untern Wärterpersonals ein. Jeder der 6 Männer- 
Abtheilungen soll ein Oberaufseher, jeder Weiberabtheilung eine 
Oberaufseherin vorstehen, und ausser den garicons und tilles de 
Services sollen noch drei Unteraufseher für jedes Geschlecht be- 
stimmt seyn. Zur obern Leitung will der Verf. eine nicht ärzt- 
liche , dem conseil general der Pariser Spitäler ähnliche Behörde. 
Dieser sehr verdienstvollen Stelle ist auch das vorliegende Buch 
zugeeignet In einem sehr dürftigen Überblick über die in der 
innern Leitung dieser Anstalten stattgehabten Verbesserungen ist 
nur die nähere , von dem ) ungern Pinel übrigens bereits anderswo 
mitgethcilte, Angabe der Umstände interessant, welche 179a vor- 
fielen , als der ältere Pinel im Bicetre die Ketten so vieler Un- 
glücklichen löste. Ks verdient gelesen zu werden, mit welchem 
Muthe und welcher Ausdauer dieser edle Menschenfreund sein in 
der damaligen Schreckenszeit nicht ungefährliches Vorhaben durch- 
führte , und wie gerade einer der von den Ketten befreiten Irren 
ihm später das Leben rettete, als eine Horde Unsinniger den 
menschenfreundlichen Arzt zur Laterne schleppen wollte. Dafs 
übrigens Ketten und andere Mifsbräuche noch jetzt in französi- 
schen Irrenanstalten fortbestehen , gibt der Verf. nach Ferrus an. 
In dem Kapitel über die Nahrungsmittel wird des altern Pinel 
grofse Sorgfalt zur Verbesserung der Kost im Bicetre, wie sie 



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von Pioel , Nuwük und fcogclkcu . 71 

dieser selbst erzählt, mitgetheilt. Dem anter den Irren der Sal- 
petriere verabreichten Wein wird das Aufhören des Skorbutes 
Bogeschrieben. Nach der dortigen, von dem Verf. für seine Mu- 
steranstalt angenommenen, äusserst wunderlichen Speiseordnung 
erhalten die Kranken des Morgens um 7 Uhr Brod , um 9 Uhr 
Suppe, um 10% Fleisch, Brod und Wein, um 2 Suppe, um 4 
Bohnen, Linsen, Pilaumen oder Käse. Eine ernste Buge aber 
verdient die ebenfalls in der Salpetriere bestehende und vom Vf. 
empfohlene Einrichtung, wornach sich die Kranken im Winter 
um 5, im Sommer um 7 Uhr schlafen legen, und um 6 Uhr im 
Winter, im Sommer um 5% Uhr aufstehen, sie also im Winter 1 3, 
sage dreisehn, im Sommer 10 Vi Stunden im Bette zubringen!! 
Efsgeschirr und Löffel will der Verf. von Holz und nur fSr die 
bettlägerigen Kranken und die Reconvalescenten von Zinn. Zur 
Auetheilung des Nachts soll sowohl Brod als die gewohnliche Ti- 
sane vorhanden seyn. Zum Lob der Beschäftigung citirt der Vf. 
abermals, eine Stelle seines Vaters. 36 Jahre aber waren nöthig, 
bis es von Worten zu Thaten kam, da erst im J. i835 ein Pachtgut 
für die genesenden Kranken des Bicetre angekauft ward. Belehrt 
durch den dortigen günstigen Erfolg will der Vf. ein hinreichend 
grofses Gebiet zur Beschäftigung für alle Klassen, selbst die Idio- 
ten, die empörend genug noch uberall [ein französisches überall] 
einer stupiden Unthätigkeit überlassen wären. Von den Zwangs- 
mitteln will der Verf. nur die Zwangsjacke, und diese nur auf 
kurze Zeit, gelten lassen. Den grofsten Werth legt er auf die 
Mittel, welche die Hausordnung darbietet, auf Isoiii ung, zweck- 
mäßige Behandlung, Milde, sodann auf die Douche. Alle andere 
Mittel, wie Sturzbäder , Drehrad , Drehstuhl, Drehbett, das Zwang- 
liegen (lemboitement) und der Zwangstuhl heifst der Vf. Folter- 
instrumente, würdig des i3ten [nach Löwenhayn des löten] Jahr- 
hunderts, <|ui placent ceux, qui ont encore le courage de s'en 
servir au dessous des insenses, qu'ils pretendent guerir ainsi. 
[Ref. glaubt, dafs solche Aussprüche mehr einer leichtfertigen 
Unwissenheit als einer groben Unverschämtheit zuzuschreiben sind.] 
In der Aufzählung der einzelnen Heilmittel folgt er gröfstentheils sei- 
nem Vater; so namentlich im Urtheil über die Aderlässe, die er übri- 
gens nicht unbedingt verwirft. Um dasselbe mit der pathologischen 
Ansicht von Gehirnreiz oder Entzündung in Einklang zu bringen, 
adoptirt er die Hypothese, dafs nicht der färbende, sondern der 
seröse Theil des Blutes das wirkliche Element der Beizung abgäbe. 
Parisets Methode, Melancholischen mit Blutandrang gegen den 



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71 Schriften über Irrennnsialten 

Kopf zwei Blutegel in die Nasenlöcher zu setzen, wird rühmend 
erwähnt. Bäder werden gebühiend gewürdigt, zumal in Verblö- 
dung mit der Douche, welche letztere man erst gegen das Ende 
des Bades und nur einige Minuten , nie aber während der Ab- 
nahme der Krankheit, anwenden soll. Beachtung verdient die 
zu oft vernachlässigte Bestimmung, dafs die Douche nur in Ge- 
genwart des Arztes angewandt werden dürfe. Von ihrem unge- 
eigneten Gebrauche können der Kopf sehr heftig , sympathisch 
auch der Magen, und zaraal die Lungen afficirt werden, wie aus 
Esquirols an sich selbst angestellten Versuchen bekannt ist. Nie 
soll man die Douche als Mittel zur Furcht gebrauchen. Vortreff, 
lieh sollen die von Pariset nach den Bädern angewandten trocke- 
nen Friktionen wirken. Äussere Ableitungsmittel werden im An- 
fang der Manie nicht gutgebeifsen. Ganz vorzüglich wird das 
Haarseil im Nacken beim Beginn der allgemeinen Lähmung [wohl 
mit Recht] gerühmt. Das Glüheisen soll besonders dann indicirt 
seyn, wenn nach den Anfällen der Manie oder Monomanie ein 
Ungewisser Zustand mit leichten Verstandesverwirrungen, Ver- 
nachlässigung der Reinlichkeit eintrete, sodann in den mit Hallu- 
cinationen, namentlich des Gehörs, verbundenen Seelenstörungen, 
wo es in i3 Fällen umal vollkommen geholfen haben soll. Die 
Gebörstäuschungen sollen von einer besondern Neurose der Ge- 
horwerkzeuge herrühren. Zu den allgemeinen Vorschriften rech- 
net der Verf. die Isolirung der Kranken, die Art der Beschrän- 
kung, zweckmässige Ernährung und Sorge für Reinhaltung der 
ersten Wege, frische Luft und den ganzen Tag über möglichst 
freie Bewegung, säuerliche, schleimige und erschlaffende Ge- 
tränke, die Benutzung jedes freien Augenblicks, um die Kranken 
zu ermuthigen oder zu beruhigen, die Entfernung schädlicher 
Eindrücke, die Unterdrückung etwaiger Aufwallungen, ein leich- 
tes Beruhigungsmittel bei Schlaflosigkeit , alle 2 Tage ein laues 
Bad. Des Verfs werth vollste Vorschriften besteben darin, dafs 
man von Zeit zu Zeit mit den Arzneimitteln aussetzen und der 
Heilkraft der Natur vertrauen soll »devant le constant et raer- 
veilleux privilege de l'organisme, l'observateur a le couiage de 
savoir nc rien faire. « Bei Melancholischen , wo durch einen 
Schwäcbezustand die Verirrung unterhalten wird , räth er China 
und Opium ; in der Verstopfung und Empfindlichkeit des Darm, 
hanals, welche der periodischen Manie vorangeben, reichliche 
Getränke von einer Cichorienabkochung mit einem Sali*. Diese 
und andere schleimige, oder säuerliche oder mit Zucker versetzte 



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▼OU Pinel , Nowak und Engclkcn. 18 

t 

C ntrn'nLp 0 in« P pr«tf»n»hUnr>V»iino Mnl Ii An T imAnirlo f*tn hält 
utirüuhü , eine uti »itiittUButiiuii^ , xuuinvn | ijimuiiaut tric. naiv 

er för sehr wichtig, zumal weil dadurch die Wirkung der Bader 
unterstützt werde. Die Anwendung so vieler Arzneimittel wird 
getadelt Am Schlüsse spricht er als von zwei wesentlichen 
Punkten: i) von den kritischen Bewegungen des Organismus in 
der Seelenstörung , die viel sichtbarer als in andern Krankheiten 
wären und die auf die mannigfaltigste Weise, besonders aber als 
stinkende Schweifse , schaumichter Speichelilufs , als Hautaus- 
schläge , A bscesse und Diarrhöen aufträten, wozu er bemerkt, 
dafs nach einer auf solche Weise erfolgten Heilung kein Becidiv 
mehr einträte; a) von den in dieser Krankheit stattfindenden Ver- 
änderungen, welche zuerst von Foville und Pinel -Grandebarops 
and dann von Calmeil und ihm selbst einer nähern Beobachtung 
unterworfen worden wären. Die rothe Färbung des Gehirns ent- 
spricht den Symptomen von Tobsucht. Im Blödsinn sind nur 
einzelne marmorirte Flecken auf demselben zu sehen ; die graue 
Substanz ist entfärbt, wird weifs; das Gehirn hart. Die merk- 
würdigste Erscheinung bei der Manie oder Tobsucht ist die rothe 
und violette Färbung der mittlem Lage der grauen Substanz. 
Mit der Fortdauer der Krankheit wird sie weich, verliert ihre 
Farbe, verwandelt sich in einen Brei oder wird hart. In dieser 
Lage ist der Sitz der intellektuellen Exaltationen. Die Marksub- 
stanz wird livid, braun, bisweilen gelb, erhält schwarze Flechen, 
Ekchymosen. Häufig sind bei Gehirnreizung die Markfibern zer- 
stört Je nach dem verschiedenen Grade der Beizung gibt es 
eine ceVebrie (so nennt der Verf. die $eelenstorung zum Unter- 
schied von cerebrite) aigue, sur-aigue und sous-aigue. Immer 
ist es eine blutige Injektion der Kapillargefafse im Gehirn, welche 
die Symptome der Tobsucht bedingt. Der akute Blödsinn ent- 
steht von Serosität oder Ödem des Gehirns und wird am besten 
.durch Drastika in grofsen Gaben und durch Diuretika geheilt. 
Den Übergang zu den chronischen SeelenstöYungen bildet die 
periodische Manie, die in Beziehung auf die ihr zu Grund liegende 
Gehirnrerletzung und auf ihre Behandlung der akuten Manie ana- 
log ist. Zu den chronischen Übeln dieser Art gehört der Blöd- 
sinn , die Irobecillität, die allgemeine Lähmung und der Idiotism. 
Hier finden sich die bedeutendsten Gehirnverletzungen. — In 
dem Kapitel über regime moral wird als erster und heilsamster 
Eindruck der Anblick und die innere Einrichtung der Anstalt 
genannt. Der Verf. schildert hier die woblthätigen Folgen der 
Isolirung, der uneingeschränkten Gewalt des Arztes und der K'as- 



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U Schriften über Irrenanstalten 

sificirung der Irren. Bekannt Ut gleichfalls, meist aus seines 
Täters Buch, das über moralische Behandlung und Hausordnung 
Gesagte. — In einem wettern Kapitel spricht er von PrivatanstaL 
ten, beklagt es, dafs , wie keine öffentliche, so auch keine Pri- 
vatanstalt zu ihrem Zweck neu erbaut worden wäre [wobei es 
nur schwer abzusehen ist, warum der Verf. die Estjuirolsche 
nicht dafür gelten lassen will; denn der Vorwurf, dafs diese 
nach einem allzu engen Plan ausgeführt wäre und die nöthigen 
Unterabtheilungen nicht gestatte , scheint wohl unbegründet, stufst 
jedenfalls die Thalsache nicht um, dafs jenes Pri?atinstitut su sei- 
nem Zwecke fast ganz neu errichtet worden ist und am wenigsten 
sollte sich ein solcher homuncio berufen fühlen y das Werk eines 
Meisters zu bekriteln.] Bei dieser Gelegenheit erwähnt der Verf. 
der übrigen Pariser Prirat-Irrenanstalten, der von Falret und Voisin 
bei Van v es , deren Gebäude alt, allzu nah bei einander und deren 
Hofe eng wären; der maison de Montmartre, die reine Luft, 
eine herrliche Aussicht, aber keine Gärten besitze und keine Ab- 
theilungen zulasse; der des D. Pressat im Faubourg SL Antoine ' 
und der des D. Belbomme, rue de Charonne. Bücksicbtlich der 
Lage macht der Vf. dieselben Forderungen, wie für seine grofse 
Anstalt; ebenso mufatis mutandis rucksichtlich der Stellung der 
einzelnen Gebäude ; sie soll für 70 heilbare und unheilbare Kranke 
beiderlei Geschlechts bestimmt seyn. 

Dritter Abschnitt. Psychisch gerichtliche Medicin. 
Die Zeichen des Wahnsinns und seiner Formen gibt der Verf. 
nach Chambeyron an , den^ Idiot ism theilt er ein in abrutissement, 
stupiditc, betise. In der ersten Form stehen die Geisteskräfte 
unter denen einer Auster; in der letzten findet sich die Fähig* 
keit der Sprache; hierauf folgt die imbecillite, sodann die de- 
xnence. Diese 5 Klassen sind unheilbar. In die sechste gehört 
die Monomanie und zwar die eigentliche , sodann die mit Neigung 
zum Selbst- oder Menschenmord. Die ebenfalls hierher su rech- 
nenden Hallucinationen zerfallen in Täuschungen äusserer und 
innerer Wahrnehmungen. Die siebente Form ist die Manie, 
Wuth , allgemeines Delirium. Als achte fuhrt der Verf. deraison- 
nement auf, einen Mittelzustand zwischen Wahnsinn und Vernunft, 
wo die Tausende von Ideen, die durch den Kopf gehen, nicht 
zurückgehalten werden, z. B. im Rausch. Unter JSo. 9 steht merk- 
würdigerweise die Vernunft ! — Zu den Ursachen des vorüber- 
gehenden Wahnsinns rechnet der Verf. die Trunkenheit, gewisse 
Arzneimittel, plötzliche Leidenschaften und, wie in der meningitis 



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von Pincl , Nowak and Engelkeo 15 

und Epilepsie, eine krankhafte Reizung der Peripherie des Ge- 
turnt. Ein ausführlich aus der Gazette des tribunaux mitgeteil- 
ter Fall, zum Beleg für die heftigen Wirhungen der Liebe als 
Leidenschaft , ist besonders defswegen merkwürdig , weil hier in 
einem wirklich, zweifelhaften Falle Freisprechung erfolgte , wäh* 
read sonst in Frankreich Seelengestorte , über deren Unzurech- 
nungsfähigkeit kein Zweifel obwalten konnte, zum Tode verur- 
theilt wurden. Auch wird hier von den Zwischenzustanden zwi- 
schen Schlaf und Wachen f vom Somnambulismus gesprochen und 
in all den hier angeführten Zuständen die Unzurechnungsfähigkeit 
als erwiesen angenommen , aber nirgends deren nähere Merkmale 
angegeben. Nur darauf macht der Verf. sehr aufmerksam , ob 
diese Zustände wahr oder nur vorgeschützt seyen , und kömmt 
bei dieser Gelegenheit auch auf den simulirten, verborgen gehal- 
tenen oder angeschuldigten Wahnsinn zu reden. Nach Marc gibt 
er hiefür folgende Verhaltungsregeln r man forsche nach den Mo- 
tiven einer in Untersuchung gekommenen Handlung; man er- 
mittle, zu welcher Form von Seelenstörung die vorhandenen Zei- 
chen gehören; ob die körperlichen Erscheinungen der geistigen 
Störung entsprechen ; wann die Seelenstörung begonnen hat ; man 
wende bei solchen Untersuchungen Milde an. Am meisten spricht 
für vorhandene Geisteskrankheit die Anlage der Erblichkeit und 
des Temperaments, die Lebensweise, die Erziehung, der Einflufs 
des Klima. Vorzugsweise sind die Umstände zu beachten, welche 
dem Verlust der Vernunft vorausgingen oder ihn begleiteten. Bei 
dem simulirten Wahnsinn fehlen die Vorläufer. Zur Erkenntnifs 
der Monomanie homicide ist eine sehr lange Einschliefsung des 
Subjektes und eine von ihm nicht bemerkte Beobachtung nöthig. 
[Unter vielem Spreu zwei werth volle Bemerkungen.] Ist diese 
Krankheit wirklich vorhanden , so bemerke man eine ausserordent- 
liche Aufregung [die übrigens mit der unten erwähnten Ruhe nicht 
recht harmoniren will], Ruthe im Gesicht, funkelnde Augen und 
vielleicht auch, wie beim Selbstmord , erhöhte Temperatur in den 
Hypochondrien. Frauen seyen diesem Uebel mehr unterworfen, 
hauptsachlich während der Menses und der Schwangerschaft. End. 
lieh sollen die Beweggründe maafsgebend seyn. Bei dem Ver- 
brecher sey immer ein persönliches Interesse mit im Spiel. Wo 
der Mord von Diebstahl begleitet sey, fehle der Wahnsinn. Hier 
ist noch von wahrer und falscher Nostalgie , Ekstase und Dämo- 
nomanie die Rede; vom Simuliren der Stummheit und derJCon- 
vulsionen. Der Blödsinn soll nie periodische Anfalle bilden. Rich- 



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76 Schriften über Irrenanstalten 

tiger scheint dem Ref. die Vorsichtsmaßregel , daft man -Sich in 
Benrtheilung der Geisteskräfte durch Taubheit, Stottern und 
Gliederzucken nicht soll täuschen lassen. — In einem zweiten, 
* Straf barkeit und Unvernunft« überschriebenen Kapitel gibt der " 
Verf. auf 35 Quartseiten die von Georget erzählten Processe des 
Leger und Papavoine. Nach Esquirol nimmt er von der Mono- 
manie bomicide zwei Formen an. In der einen liegt dem Mord 
eine tief begründete, falsche Vorstellung, ein bestimmtes aber fal- 
sches Räsonnement zu Grund; in dem andern folgt er aus einem 
blinden Instinkte. Der Verf. eifert gegen die Vei ui theilung sol- 
cher Kranben, und glaubt, sie wurde nicht vorkommen, wenn 
man wüfste, dafs das Gehirn der Sitz des Erkenntnifs Vermögens 
und der Neigungen (intelligence et penchans) ist und dafs jedes 
dieser Vermögen unabhängig vom andern erkranken kann. Man 
müsse eine Art monora. bomicide anerkennen, in der sich durch- 
aus keine Unordnung in den Ideen wahrnehmeu lasse, wo der 
Morder durch einen fremden Impuls hingerissen werde und ihn 
gegen seinen Willen handeln liefse. Verschieden hiervon sey ein 
gewisser habitueller Mordtrieb, ein wahrer Blutdurst. Solohe 
Menschenfresser, von denen einige, glücklicherweise seltene, Bei- 
spiele erzählt werden, sollen lebenslänglich eingeschlossen aber 
nicht hingerichtet werden. Merkmale der monom. homicide seyen, 
dafs Mitschuldige fehlten, dafs der Mord gerade an den theuer- 
sten Personen begangen wurde, dafs nach demselben der Thäter 
ruhig sey , den Folgen nicht zu entgehen suche. Der Verf. will 
die Wirkung einer Leidenschaft oder einer idee delirante von der 
monomanie homicide geschieden wissen , und stimmt Georgets 
Urtheil bei, dafs Feldtmann nicht wohnsinnig gewesen sey, doch 
will er gewisse Leidenschaften als Milderungsgrunde angesehen 
wissen. Die Schlufssätze der 60 Quartse'iten grofsen Abhandlung 
sind: es gibt Neigungen zum Mord, Diebstahl und Feuereinlegen, 
welche wahre Seelenstorungen sind ; es gibt andere , welche aus 
einer angeblichen Verirrung, aus einem leidenschaftlichen Deli- 
rium entstanden sind , welche nur als Milderungs- und nicht als 
nechtfertigungsgrunde angesehen werden dürfen. Im ersten Fall 
ist lebenslängliche Einsperrung im Irrenhause, im zweiten dieselbe 
in einer Strafanstalt nGthig. Als Amendement für den Art. 64 des 
code^penal, nach welchem nur demence Straflosigkeit begründet, 
schlägt der. Verf. vor, dafs auch die monomanie daselbst aufge- 
führt werde. Die Art der Festnehmung dieser Kranken und ih- 
res Transportes wird nach Ferrus angegeben; von den bezüglich 



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von Pinel, Nowak and Kngelken 17 

der Isolirung dieser Kranken bestehenden und mangelnden Ge- 
setzen Georgets und Calmeils An/icbt angeführt. Von den Irren 
in Charenton mufs der dirigirende Arzt oin Jahr nach ihrer Auf- 
nahme ein Certifiltat über den Krankheitszustand ausstellen. Wird 
dieser für unheilbar erklärt, so wird der Staatsanwalt ersucht, 
die Entmündigung einzuleiten. Erfolgt diese nicht 18 Monate 
nach der Aufnahme, so wird der Kranke entlassen. Wo nach 
dem ersten Jahre noch Hoffnung zur Heilung vorbanden ist, wird 
ein zweites abgewartet. Zur Abwendung von Mißbrauchen wer- 
den in Paris die Privatirrenanstalten vom Polizeipräfekten und 
Staatsanwalt, und die öffentlichen überdies von dem Hospital- 
Administratioos-Conseil beaufsichtigt. Der Code civil läfst unter 
den Formen, welche die Entmündigung nöthig machen, die ha- 
bituell gewordene imbecillite' , dcmence und fureur gelten , selbst 
wenn freie Zwischenzeiten vorhanden sind , während im code penal 
nur die demence aufgeführt ist. Mit Recht wird die mündliche 
Vernehmung vor dem Richter, welche der Entmündigung voraus- 
geben mufs, als unsicher verworfen. Auch Zeugenaussagen rei- 
chen hier nicht aus ; es wird das Zeugnifs sachverständiger Ärzte 
▼erlangt. Der Verf. hält die Entscheidung bei der Melancholie 
für die schwierigste. Zu den entschieden unheilbaren Formen 
rechnet er ausser dem Idiotism, der Epilepsie, der Imbecillitat , 
dem Blödsinn, der allgemeinen und partiellen Lähmung, merk- 
würdigerweise auch die Monomanie von Aberglauben und Grüfte 
und die Melancholie. Die Geistesverwirrung , welche häufig den 
apoplek tischen Anfällen vorhergeht, bildet, ebenso wie die Alters- 
schwäche, einen Grund zur Entmündigung. Der Verf. will nach 
den verschiedenen Graden der Seelenstörung eine vollständige 
oder beschränkte, jährlich sich erneuernde Entmündigung. — 
In dem letzten, »principes de legislation pour les alienes«, über- 
schriebenen Kapitel dringt er darauf, dafs die Rechte der mit jeder 
bedeutenden geistigen Entwicklung zunehmenden Zahl von Geistes- 
kranken gewahrt und ihre Mitmenschen sicher vor ihnen gestellt 
würden. Er verlangt zur Aufnahme in eine Anstalt das Zeugnifs 
zweier Ärzte und die Ermächtigung der Polizeistelle, wie dies bereits 
in Paris der Fall ist. Eine authentische Krankheitserklärung soll auch 
die Entmündigung in sich schliefsen und diese mit der Heilung und 
Entlassung wieder aufhören. [Ref. bat, um die mit der Entmün- 
digung der Irren verbundene odiose Publicität zu umgehen, einen 
ähnlichen Vorschlag vorbereitet.] Die ersten Spuren einer Seelen- 
stSrnng sollen der Polizeistelle angezeigt und von dieser zwei 



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98 S«fcriftenlftler Irrenanstalten 

Arzte zur Untersuchung abgeschickt werden. Wird der Kranke 
als wahnsinnig erklärt , so müsse seine Abführung in die Irren- 
anstalt erfolgen, es sey denn, dafs die Familie ihn zu Hause be- 
halten wolle und dazu das geeignete Lokale besitze. [Bemerkun- 
gen , die wohl gutgemeint sind , aber allzusehr in die Rechte der 
Familien eingreifen mochten.] Dem von Breton entworfenen, 
Ton Ferrus mitgetheilten Gesetzesentwurf über Entmündigung und 
Entmündigte löTst der Verf. die für öffentliche und Privatanstal- 
ten von Staatswegen zu treffenden Maßregeln folgen, woraus 
Ref. nur den seltsamen Vorschlag hervorhebt, dafs Ärzte nie Ei- 
gentümer der letztern seyn durften, weil ihnen dadurch zu viel- 
Gewalt eingeräumt wurde. Zur Beschränkung der Zahl der Gei- 
steskranken macht er folgenden [bei unsern Juristen schwerlich 
Beifall erndtenden] Gesetzesvorschlag: Pendant 60 ans a partir 
des presentes nul individu ne pourra contracler mariage s'il est 
sujet a l'alienation mentale ou a lepilepsie : le mariage sera nol , 
• il est ne de parens dont l'alicnation mentale ou Pepilepsie pour- 
ront etre constatees. c Er motivirt denselben mit den Gefahren 
der Erblichkeit dieser Krankheit und der grofsen Irrenzahl der 
jetzigen Zeit. Die Julirevolution allein habe, nur was er wisse, 
mehr als 35o Menschen verrückt gemacht. England sey das ei- 
gentliche Land des Wahnsinns, doch hält er Fodere's Angabo 
von 32000 Irren in Frankreich nicht für übertrieben. Weniger 
und mehr nur religiöser und verliebter Wahnsinn komme in Ita- 
lien vor; in den Gegenden des Nordens [wozu die Franzosen be- 
kanntlich auch Deutschland zählen] entstünden aus der Unwissen- 
heit des Mittelalters vielfache Damonomanieen , der Vampirism 
und jede Art von Aberglauben. 

Ref. hat sich die Mühe nicht verdriefsen lassen, das Wesent- 
liche, wofern solches vorhanden war, aus diesem voluminösen 
Buche hervorzuheben. Am schwierigsten war dies in dem Ab- 
schnitt über die Zurechnungsfahigkeit , in welchem der Mangel 
aller logischen Ordnung nur von der Oberflächlichkeit der Be- 
arbeitung ubertroffen wurde. Erleichtert war dem Ref. diese 
Arbeit freilich dadurch , dafs so vieles schon aus andern Schriften 
bekannt ist. Mit kindlicher Ehrfurcht schreibt der Verf. seines 
Vaters Buch zu einem guten Drittheile ab, aber dieselbe Pietät 
übt er auch gegen andere Schriftsteller aus. Von Deutschland 
und deutscher Literatur läuft nur das unter, was ihm aus Löwen- 
hayns Machwerk bekannt geworden ist Ausgesöhnt wird man 
etwas durch den vielfach hindurchblickenden guten Willen und 



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durch die YV arme , nrn weicnen uer vert. menrere tur das uren- 
wohl wichtige Punkte geltend zu machen sacht und womit er, 
wie Ref. wünscht and hofft, auch manchen Nutzen stiften wird. 
Dafs aber aas der sogenannten Hauptstadt der Civilisation kurz 
hintereinander zwei Werke erscheinen, die wie das vorliegende 
and das von Ferrus (vgl. das 3te Heft Jahrg. i836 dieser Jahrbb.) 
den billigsten Anforderungen so wenig entsprechen , reranlafst 
vielleicht Esquirol , die Ehre seiner Landslente zu retten and die 
Erwartungen endlich zu befriedigen , die er durch seine bisheri- 
gen Mittheilungen rege gemacht hat. 

Der Verf. von No. 2, zweiter Arzt der Prager Irrenanstalt, 
gibt hier eine Fortsetzung der vor 5 Jahren erschienenen Schrift 
von Dr. Riedel: »Prags Irrenanstalt und ihre Leistungen in den 
Jahren 1627, 1828 u. 1820« Prag i83o. « Die hier vorliegende 
ist dem verdienstvollen Primarärzte dieser Anstalt, D. Rilke, dedicirL 
Die im Eingang befindliche Bemerkung des Vfs, dafs Prags Irren- 
anstatt den jetzigen Anforderungen an solche Institute , die er übri- 
gens mit Amelung zu hoch gestellt findet , nicht wobl entsprechen 
könne, weil sie keine neue zu ihrem Zwecke besonders erbaute und 
eingerichtete Anstalt ist, veranlagte einen Ree. im letzen Marzhefte 
der AI Ig. med. Zeitung, Birds würdigen Zögling, wenn es dieser 
Meister nicht selber ist, gegen den Neubau von Irrenanstalten und 
gegen die Ärzte zu eifern, welche ihre Bucher mit pallastähnlichen, 
idealen Aufrissen ausschmückten , wofiir kein deutscher Staat Geld 
besitze etc., von welchem Allem, beiläufig gesagt, nichts wahr 
ist, weil solche Bucher — in Deutschland wenigstens — gar nicht 
ezistiren und weil es in deutschen Staaten , in kleinen wie in gro- 
fsen , wirklich weder am Geld noch am guten Willen für diese 
wichtige Angelegenheit fehlt. Alles wohl erwogen, kommt der 
Neubau nicht viel hoher , ja oft nicht einmal so hoch zu stehen , 
als die Herrichtung alter Gebäude, wie niedrig hier auch die 
ersten Kostenuberschläge lauten. Wer sich hierin Erfahrung 
erwerben konnte, weifs, dafs man in den alten Hausern nie mit 
den Verbesserungen, wohl aber mit grofsen Summen fertig wird. 
Man frage einmal, was z. B. auf die Siegburger und die erst vor 
wenig Jahren errichtete Winnenthaler Anstalt schon verwendet 
worden ist, was man künftig noch darauf verwenden mochte und 
welche Nachtheile auch dann noch übrig bleiben , schon wegen 
so mancher unabänderlicher Lokal Verhältnisse , and man wird 
nicht ferner versucht seyn , die Wohlfeilheit dieser Hergänge allzu 

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80 Schriften über Irrenanstalten von Pinel , Nowak and Engelken. 

sehr anzupreisen. Von dem segenvollen Wirken der beiden ge- 
nannten Anstalten ist übrigens Niemand inniger überzeugt als Ref. y 
der sie beide, aus mehrmaliger Anschauung kennt und mehr alt 
einmal empfohlen hat. Wenn aber die beiden dortigen Ärzte 
unter beengten Verhältnissen schon so Treffliches leisten, was 
liefse sich von ihren Bemühungen in einer neuen md zweckmäfsi- 
gen Irrenanstalt erwarten ! Dafs der vorhin erwähnte Recensent 
alten Gebäuden darum den Vorzug gibt, weil die Neubaue oft 
mifsriethen , war dem lief, nur um defswillen interessant, weil 
derselbe Unsinn von einem andern Recensenten in Schmidts Jahrbb. 
schon einmal ausgesprochen worden ist. Immer ist es eine un- 
erfreuliche Erscheinung, wenn Ärzte mit Hintansetzung ihrer 
natürlichen Pflicht die Errichtung neuer Irrenanstalten für über- 
flüssig erklären , während sie gewifs den Bau anderer Spitäler als 
preiswürdig anerkennen und aus den da und dort sich erhebenden 
neuen Kasernen , Schauspielhäusern , Gemäldegallerieen etc. doch 
wohl folgern dürfen , dafs es an Geld zu edlern Zwecken nicht 
fehlen könne. In allen menschlich fühlenden Gemüthern nimmt 
die Sorge für Irren, je hilfsbedürftiger sie sind, eine um so 
höhere Stelle ein, und gerade die deutschen Staaten lassen sich, 
wie in mancher andern, so auch in dieser Pflicht edler Mensch- 
lichkeit, von keinem Reiche der Welt überbieten. Neu gebaut 
wurde schon eine Irrenanstalt , die Sachsenberger unter Dr. Flem- 
ming, in Mecklenburg-Schwerin und eine andere, die Marsberger 
unter Dr. Buer, in der preufsischen Provinz Westphalen; neu 
gebaut wird eben jetzt eine dritte im bayrischen Rezatkreise bei 
Erlangen, eine vierte, wie Ref. versichert worden ist, in der 
preufsischen Provinz Sachsen, und eine fünfte endlich im Grofs- 
herzogthum Baden, bei Achern, eine für mehr als 400 Kranke 
bestimmte, vereinigte Heil- und Pflegeanstalt, welche durch die 
herrliche Gegend und durch die mit vieler Sorgfalt entworfenen 
Plane bereits überall die lebendigste Theiinahme erregt bat. 

(Der Beichlufs fol^t.) * 



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N°. 6. HEIDELBERGER 1837 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Schriften über Irrenamialten von Pinel, Nowak u. Engelken. 

b ( Bachlufi.) 

Auf eine zwec&mäfsige Weise wurde, wie der Verf. berich- 
tet , der Raum der Prager Irrenanstalt erweitert durch Zimmer 
für Kranke aus hohem Ständen, für Genesende, durch ein Ge- 
sellschaftszimmer mit einem Billard und einer Hausbibliothek, 
durch ein eigenes Arbeitszimmer. Mehrere der mit Ziegeln ge- 
pflasterten Corridore wurden mit Quadersteinen ausgelegt; meh- 
rere Gärten acquirirt, so dafs die Anstalt deren jetzt sechs zählt, 
einer mit schonen Anlagen und einem Sommerhaus ausgestattet, 
und der Plan dazti sowie die Ausfuhrung von Geisteskranken 
besorgt. Die der Anstalt gehörigen seither nur zur Hälfte von 
Geisteskranken bestellten Felder werden nun ganz von ihnen be- 
arbeitet. Die pünktliche Handhabung der Hausordnung wird 
hauptsächlich durch Strenge gegen das Dienstpersonale und durch 
milde Behandlung der Kranken erreicht. Hier stehen die Kran« 
ken des Sommers um halb 5 Uhr, des Winters um 6 Uhr auf 
und legen sich auch im Winter erst um o, Uhr zu Bett , was Ref. 
für einen grofsen Vorzug der Prager vor vielen öffentlichen Irren-' 
anstalten hält. Morgen- und Tischgebete werden gesprochen , den 
meisten Kranken gewöhnliche Bestecke verabreicht. Vor und nach 
dem Abendessen und zumal an Sonn- und Feiertagen wird die 
Zeit mit Musik ausgefüllt , an den letzten Tagen auch die Erlaub- 
nifs zu Besuchen bei den Kranken ertheilt, kleine Feste gehalten. 
Die Anwendung der Zwangsmittel wird immer seltener. Schläge 
bleiben , trotz Amelungs neuerlicher Empfehlung , verbannt. [Dies 
gewifs mit Recht; nur kann es Bef., obwohl er selbst einen klei- 
nen Apparat von Zwangsmitteln möglichst sielten gebraucht, für 
keinen Vorzug erklären, dafs der Zwangstuhl nie in Anwendung 
kommen soll, durch welchen die Anwendung so mancher anderer 
Mittel erst möglich gemacht und ein so mächtiger und beilsamer 
Eindruck hervorgerufen wird. Viel wird in der Prager Irrenanstalt, 
trotz der Abmahnung unverständiger Ärzte, auf Beschäftigung 
gehalten und der in Gärten und Feld die erste Stelle eingeräumt. 
Überdies ist verschiedenen Handwerkern, wie Schustern, Schnei- 
dern , Tischlern , Zimroerleuten und Maurern Gelegenheit zur Ar- 
XXX. Jahrg. 1. Heft. . 6 



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beit gegeben ; andere werden durch verschiedene hausliche Ar- 
beiten , durch das Kleinmachen des Brennholzes, das Umzupfen 
der Matratzen, Gebildete durch Musik, Lektüre, manchfacbe 
Verstandesübungen, durch Zeichnen, die Frauen überdies mit 
Nähen, Stricken etc. beschäftigt. Mit Erfolg werden Geldbeloh- 
nungen ausgetheilt. »Wo Beschäftigung bei Seelengestörten nicht 
Mittel zur Heilung, zur vollkommenen Genesung ist, da schafft 
dieselbe doch häutig Linderung und Zerstreuung.« 

Im zweiten Abschnitt werden tabellarische Übersichten über 
das Verhältnifs der Geschlechter, über den ledigen und verhei- 
rateten Stand , über das Alter, über Genesung, Besserung , Sterb- 
lichkeit und sonstigen Abgang, sodann über den frühem Stand und 
das Gewerbe der Kranken mitgetheilt. Die männl. Kranken verhal- 
ten sich in der dortigen Anstalt zu den weibl. wie 3 zn 3; geheilt 
und gebessert wurden zwischen V* und s /s 5 vollkommen genesen 
sind zwischen Vs und 1 [welches Verhältnifs in einer vereinig- 
ten Heil- und Versorgungsanstalt, um glaubwürdig zu bleiben, 
kaum gunstiger seyn durfte, ünzweckmäfsig aber scheint dem 
Ref. die Anordnung dieser Tabellen zu seyn. Unter der ersten 
Bubrik «Zahl der Aufgenommenen« versteht der Verf. die im 
Laufe des Jahres Hinzugekommenen , obwohl man wegen ihrer 
grofsen Zahl fast irre werden könnte. Dadurch erfahrt man nicht, 
wieviel am Anfang und Ende eines Jahres (das Ende von 18S4 
ausgenommen) zugleich in der Anstalt waren oder wieviel in ei- 
nem Jahre überhaupt genesen und gestorben sind. Die Irrenzabi 
belief sich übrigens zur Zeit, als Ref. diese Blätter schrieb, 
auf 190.] 

Die erste der im diitten Abschnitt erzählten fünf Krankbeita- 
geschichten betrifft ein 1 - jähr. Mädchen, das nicht menstruirt war 
und 1 Jahr lang oder länger alle 4 Wochen von einem Anfall mit 
unwiderstehlichem Trieb zu lügen und zu stehlen heimgesucht war 
und vor Eintritt der «Wenses, die übrigens noch in der Anstalt 
erfolgten, davon befreit wurde. Auch die vier weitern rationell 
behandelten und erläuterten Fälle verliefen glücklich. Wenn sich 
Ref. eine Bemerkung erlauben darf, so ist es die, dafs Blutent- 
ziehungen hie und da, namentlich die allgemeinen, im zweiten 
Falle wenigstens theilweise hätten unterbleiben Können. 

Die ganze Schrift ist eine recht willkommene Erscheinung. 
In prunkloser Darstellung gibt der Verf. Nachricht von einer der 
bessern deutschen Irrenanstalten, in welcher die Ärzte, fern von 
einseitiger Betrachtungs- und Handlungsweise das wahre Beate 



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von rioei , novik uoa rungeikcn 



dieser Krankeo mit einfachen Mitteln zu fördern suchen und , wie 
▲lies zeigt, auch wirklich fördern. Uoier den wenigen Schrift. 
eieHern, welche der Verf. citirte, hefte der Plagiaruis Löwen, 
hayn wohl wegbleiben können, Bird dagegen bei den roanchfachen 
Gelegenheiten etwas derber, als geschehen, abgefertigt werden 
•ollen, dagegen war nach den verdeckten Angriffen dieses un- 
sauber n Geistes auf Jacobi die ihm vom Verf. an verschiedenen 
Stellen gezollte Anerkennung recht an ihrem Platze. 

Der Verf. von No. 3 ist Besitzer und Arzt der hier beschrie- 
benen Privat-Irrenanstalt Hodeuberg in Oberneuland bei Bremen 
und von einem andern Engelken-, der in jener Gegend, zu Rock- 
Winkel, ebenfalls einer Privat-Irrenanstalt vorsteht, zu unterschei- 
den. Jener hatte die Irrenbehandlung als ein Geschäft seines Va- 
ters und Großvaters ererbt und mufste dasselbe, nachdem er 
eben seine Studien zu Heidelberg beendigt hatte, schon 1839, m 
welchem Jahre sein Vater starb, antreten, Die Gegend des Ho* 
denberger Institutes wird als lieblich und angenehm beschrieben. 
Das Areal beträgt zwischen 8 und 9000 oButhen und besteht 
ans Äckern, Wiesen, Gärten, Obstbaumschule und Wald. Ein 
Fischteich kann mit einem kleinen Nachen befahren werden. In 
mehreren isoliiten, nahe bei einander liegenden, zum Theil neu 
gebauten , grofseren und kleineren Gebäuden sind die Wohnungen 
der Kranken und die übrigen Raumbedürfnisse der Anstalt ver. 
theüt, welche Einrichtung der Verf., und mit Recht, nur bei 
einer kleinen Anstalt für passend halt, da sonst die Einheit ver- 
letzt und die Aufsicht erschwert werden würde. Die Benützung 
älterer Gebäude hält er gleichfalls für einen Lbelstand. Daa 
Äussere erscheint nach dem beigegebenen Steindruck als eine 
freundliche ländliche Wohnung. Der Vf. spricht offen aus, dafr 
öffentliche ohne Privat - Irrenanstalten , aber nicht umgekehrt , be- 
stellen konnten , hält jedoch die letzten in manchen Fällen für 
sehr nützlich, und wünscht nur, daß sie bei den Verbesserungen 
der ersten nicht zurückbleiben und auch über sie öffentliche Mit- 
theilungen erscheinen mochten. [Eine Beschreibung seiner Privat- 
anstalt lieferte auch Dr. Gorgen schon 1820; da sie aber seither 
in ein viel schöneres Lohale verlegt worden ist, so wäre wohl 
eine zweite Auüage erwünscht] Von 1800 bis 1814 wurden i34 
Kranke aufgenommen, 37 ungeheilt , 84 geheilt, 9 gebessert ent- 
lassen, 4 starben. Von i8i5 bis 1 834 wurden 426 aufgenommen, 
147 ungeheilt, a3o geheilt, 28 gebessert und 21 starben. [Dar- 



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84 Schriften aber Irrenanstalten von Pinel , Nowak u. Engelken. 

nach sind */• genesen, Vis wurde gebessert, im Ganzen also Vi» 
gebeilt und gebessert entlassen.] Diese Anstalt ist für Kranke 
beiderlei Geschlechts, meist höherer Stände, bestimmt. Ausge- 
schlossen sind Kranke mit unreinen, schweren und unheilbaren Kor- 
perübeln ; ungern werden die aufgenommen , deren Krankheit 
schon 3 Jahre gedauert hat und wenig Hoffnung zur Genesung 
übrig läfst. Zu gleicher Zeit sind meist 20 bis a5 Kranke in der 
Anstalt. Über das Wesen und die Behandlung dieser Krankhei- 
ten werden vom somatischen Standpunkte aus kurze Betrachtun- 
gen in deutlicher und populärer Sprache mitgetheilt. Dafs der 
Irre sich nie für geisteskrank halte, dafs er Störungen, die ihm 
durch das Gemeingefübl zugeführt werden, entweder gar nicht 
bemerke, oder nicht darauf achte, oder sie absichtlich verschwei- 
ge, erkennt Ref. nicht als allgemeingültige Bemerkungen an. Psy- 
chische Behandlung ist gebührend gewürdigt und der Werth des 
Zusammenlebens des Kranken mit dem Arzte, eines Vorthciles 
von Privatanstalten, hervorgehoben. Sehr oft hält es der Verf. 
für gerathen , den Irrthum der Kranken direkt anzugreifen. Reich- 
lieh ist für Beschäftigung und Unterhaltung gesorgt; die erste, 
zumal die, welche körperlich ermüden soll, wird von dem Verf. 
bei Kranken aus hohem Ständen für sehr schwierig erklärt und 
durch Spaziergänge und Fahrten ersetzt, welche er mit psychi- 
schen Beschäftigungen abwechseln läfst Auch dieser Arzt bat es 
erfahren, wie viel sich durch Güte, gepaart mit Geduld, ausrich- 
ten lasse. Die Honorare, von denen übrigens Abweichungen vor- 
kommen , sind für die erste Klasse jährlich 4 bis 600 Rthlr.; für 
die zweite 3 bis 4<x>; für die dritte i5o bis a5o; worunter nur 
besondere Bedürfnisse nicht begriffen sind. Das Dienstpersonale 
besteht ausser dem Oberaufseher, der zugleich Apotheker ist, und 
der Oberaufseherin aus i5 Personen, wovon 3 männliche und 3 
weibliche Wärter für den eigentlichen Krankendienst bestimmt sind. 

Auch diese Schrift trägt das Gepräge einer lebendigen An- 
schauung an sich und gibt, wie die vorige, ein Bild von dem Le- 
ben und Treiben der jetzigen bessern Irrenanstalten in Deutsch, 
land. Es zeugen die wenigen Blätter von reicher Erfahrung und 
erregen den Wunsch, dafs der Verf. bald einmal als Arzt zu 
Ärzten reden möge. 

Roller, 



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Kcch(« und Staats^ ieienechaft. 



ÜBERSICHTEN und KUKZE ANZEIGEN. 



HECHTS- und STAATSWISSEXSCHAFT. 

t 

Bemerkungen über den Stand der Gesetzgebung u. Jurisprudenz in Deutsch- 
land, von Ludwig Minnigerode t GH. Hessischem quiesc. Hofge- 
richts-Präsid. u. G Hat he , Command. 1. Klasse des GH, H. Ludwigs» 
Ordens. Darmstadt 1836. J. W. Hcyer's Hofbuchhandlung, G. Jong- 
haus. 134 & 12. 

Der Verf. theilt in dieser Schrift, (wie in einer frühern in 
unsem Jahrbuchern schon angezeigten Schrift,) Resultate der Er- 
fahrungen mit , welche er in einem viel jährigen Geschäfts] eben 
zu machen Gelegenheit hatte. Die Abhandlung enthält nicht blos, 
wie der Titel vermuthen läfst , Bemerkungen über die Mängel und 
Gebrechen unserer Civil - und Criminal - Gesetzgebung und Juris- 
prudenz, z. B. über die Menge und Verschiedenheit unserer Rechts- 
quellen, über die sowohl hieraus als aus der Beschaffenheit die- 
ser Bechtsquellen entstehenden Unsicherheit des Rechts, über den 
Eintlufs, welchen die wissenschaftlichen Untersuchungen der neue- 
ren und der neuesten Zeit auf die festere Praxis der Vorzeit ge- 
habt haben. Sie verbreitet sich zugleich über einige verwandte 
Gegenstände , z. B. über die Besserung der Verbrecher , über die 
zweckmäßige Einrichtung der Detentions- und Strafgefängnisse. 
Sie erörtert überdies, von S. n5 an, mehrere den Staatsdienst 
betreffende Aufgaben unter folgenden Aufschriften: Anstellung 
der Staatsdiener; Versetzen derselben; Pöniten z- Posten ; Prüfung 
der Staatsdiener; Wiederbesetzung erledigter Stellen; Visitatio- 
nen; Vorschläge bei Besetzung der öffentlichen Ämter durch 
Wahl der Staatsbürger oder ihrer Repräsentanten; Organisation 
and Centralisat i i — Fast immer wird man Ursache haben , den 
Äusserungen des Vfs. vollkommen beizustimmen. Ref. wenigstens 
hat nur bei der Stelle der Schrift Anstand gefunden, in welcher 
sieb der Verf. gegen die Rechtsregel erklärt, dafs ein in einer 
Strafsache gefälltes Erkenntnifs zum Vortheile des Angeschul- 
digten sofort rechtskräftig werde. Allerdings kann diese Regel 
die Folge haben, dafs der Schuldige der wohlverdienten Strafe 
entgeht Allein müfste man nicht aus demselben Grunde eine 
jede Förmlichkeit des Strafverfahrens verwerflich finden ? Liegt 
nicht in einem jeden Gesetze, welches die individuelle Freiheit 
in Schutz nimmt, zugleich die Erlaubnifs, von dieser Freiheit, 
so weit sie geht, auch einen Mifsbrauch zu machen? 



Germanntische Rechtsfälle zum Gebrauch bei Forlesungen und zum Privat- 
studium, nebst einem Repertorium für germanistische Rechtsfälle und 
Abhandlungen. Von Dr. C. F. L. Fr hm. v. Ldw, ord. Prof, dar 
Rechte in Zürich. Heidelberg 1836, in der afead. Buchhandlung vom 
J. C. B. Mohr. Fl und 388 S. 8. - 

Die Rechtsfalle, welche das vorliegende Werk (eine den 
Freunden des deutschen Rechts gewifs sehr willkommene Erschei- 
nung) enthält, beziehen sich nicht blos auf das bürgerliche, son- 
dern auch auf das Verfassung- und Regierungsrecht. Die Fälle 
sind nach der Verschiedenheit ihrer Gegenstande unter gewisse 
Überschriften geordnet; z. B. I. Collision der Gesetze: II. Stan- 
des Verhältnisse ; III. Nachsteuer und Abschofs; IV. Juden. (Die 
Zahl dieser Rubriken ist 34.) — Ein jeder Fall wird mit muster- 
hafter Kurze und Klarheit erzählt, mit Hinzufügung der streiti- 
gen Frage, übrigens ohne die Entscheidung der Frage. Bald ist 
der Fall allgemein bald speciell (mit Bezeichnung der Partheien) 
gefafst. Z. B. 

Ein Landesherr erklärt ein uneheliches Kind für legitim. Mufs 
dasselbe überall für ein eheliches gehalten werden ? 

Nach Errichtung des Rheinbundes verordnete der Grofsberzog 
von Hessen am ersten August 1807: »Der Standesherrn bis. 
berige und künftige Familien vertrage, Fideicom misse und be- 
sonders ihre Successionsordnungen erfordern zu ihrer Gültig, 
keit Unsere Einsicht und Bestätigung. Die bereits vorhan- 
denen Familienstatuten sind binnen drei Monaten an Unier 
Staatsministerium einzusenden.« Eine hessische standesLerr- 
liehe Familie, in welcher durch ein Hausgesetz Primogenitur- 
Ordnung und Unveräusserlichkeit der Stammgüter eingeführt 
war, versäumte jene Bestätigung einzuholen, und so hielt 
sich im J. 181 3 der Besitzer der Standesherrschaft für be- 
rechtigt , einen Theil der Stammgüter zu verkaufen und in 
einem Testament ausdrücklich zu verordnen, dafs seine drei 
Sohne in seiner Erbschaft zu gleichen Theilen succedirea 
sollten. Er starb am Ende des Jahres 181 3, und es entstand 
nun Streit zwischen dem Erstgebornen und seinen Brüdern 
über die Erbfolge, sowie zwischen ihm und dem Besitzer 
der veräusserten Immobilien über die Gültigkeit der Ver- 
äosterung Wie ist zu entscheiden? 

Auf die Darstellung der Rechtsfalle folgt in einem Anhange: 
I. Ein alphabetisches Verzelchnifs der Werke, aus welchen die 
Fälle entlehnt sind. II. Die Nachweisung der Orte , an welchen 
sich die mitgctheilten Fälle abgedruckt finden. (Die Citate folgen 
in derselben Ordnung auf einander, wie in dem Werke die ein- 
zelnen Falle.) 



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darauf bezüglichen öffentlichen Rechte. AWA 
Quellen bearbeitet und mit Urkunden belegt vom Juetinamtmann B. J. 
J. Pfister zu Heidelberg. - Erster Th*iL Auster* Staat, Verhält- 
nis** des Grofahcrzogthums. Verfassung »einet Regentenhautet. — Mit 
dem Bildnute de* Großher zogt Carl Friedrich. — Heidelberg , A. Oft- 
Vniv. Buchhandlung. 1*36. I UI u. 601 S. 



Das Werk, weichet der Gegenstand dieser Anzeige ist, — 
eine geschichtliche Entwicklung des heutigen Staatsrechts des 
GH. Baden, — wird aus drei Th eilen bestehn. — Der jetzt 
erschienene erste Theil enthält das auswärtige Staatsrecht des 
Grofihersogthums und dss Familienrecht des regierenden Hauses. 
(Einen Abschnitt dieses Theiles, den ersten, hatte der Verf. he. 
reits im J. 1829 herausgegeben. Jedoch die seit diesem Jahre 
eingetretenen Veränderungen haben den Verf. bewogen, diesen 
Abschnitt mit einigen zeitgemäfsen Verbesserungen in dem vor- 
liegenden Werke wieder abdrucken zu lassen. Der Verf. fugt 
hinzu, dafs er die Käufer der früheren Schrift ersuche, diese 
gegen seine neue Bearbeitung desselben Gegenstandes umzutau- 
schen.) Der zweite Theil wird das innere Staatsrecht des Grofs- 
herzogthums, das Verfnssungs- und das Regierungsrecht, umfassen. 
In dem dritten und letzten Theil e will der Vf. die das Baden- 
sche Staatsrecht betreffenden Haupturbunden abdrucken lassen. 

Der vorliegende erste Theil zerfällt in zwei Abtheilun- 
gen. — Die erste dieser Abtheilungen ist uberschrieben: Die 
Regierung Carl Friedrichs, des ersten Grofsherzogs von Baden. 
(1806 — 1811.) Errichtung des Grofsberzogthums Baden und seine 
Constituirnng zu einem Rheinischen Bundesstaate. Verfassung 
des Grofsherzogliehen Hauses. S. 1— a63. Die zweite Abtei- 
lung hat die Überschrift: Die Regi erung der Grofsherzoge Carl 
und Ludwig, nebst dem Anfange der Regierung Leopolds. (1811 
bis i836.) Constituirnng des Grofsberzogthums zu einem deut- 
schen Bandes-, RheinschiflTahrts- und Zollvcreinsstaate. Weitere 
Ausbildung der Verfassung des grofsherzogliehen Hauses. Die 
eine und die andere Abtheilung zerfallt wieder in zwei Ab- 
schnitte. ( Auswärtige Verhältnisse. — Verfassung des regie- 
renden Hauses.) In den einzelnen Abschnitten befolgt der Verf. 
bald die chronologische bald eine von der Verschiedenheit der 
Gegenstände entlehnte Ordnung , so wie es der Inhalt eines jeden 
einzelnen Abschnittes mit sich brachte. So enthält z. B. der erste 
Abschnitt der ersten Abtheilung folgende Rubriken: 1. Das Kur- 
furstenthum Baden , seine Bestandteile und staatsrechtlichen Ver- 
hältnisse. II. Die Souveränetät des badischen Staates ; ihre Aus- 
bildung und Befestigung. III. Das GH. Baden; seine Bestandteile 
und staatsrechtlichen Verhältnisse. IV. Rheinische Bundeskriege 
mit Preufsen und Österreich. V. Staatsverträge mit den Nachbar- 
staaten. VI. Grenzen des GH.; seine Enclaven. Umfang seiner 



1 



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Hechts- und Staatswissenschaft. 



Man hat es dem Verf. zum Verdienst anzurechnen, dafs er 

seinem Werke nicht die Form eines Lehrbuchs sondern die einer 
geschichtlichen Entwickelung des Staatsrechts des GH. Baden ge- 
geben hat. Ein Werk dieser Art hat auch für den Geschäfts- 
mann ein besonderes Interesse. Denn diesem bieten sich nicht 
selten Fragen dar, über weiche er sich nicht aus den Gesetzen, 
sondern nur aus der Geschichte belehren kann. Sollte sich auch 
der Verf. bewogen finden, in dem zweiten Theile seines Werkes, 
(welchem das Publikum mit Verlangen entgegensehn wird,) we- 
gen der Beschaffenheit der diesem Theile vorbehaltenen Gegen- 
staude , eine mehr systematische Ordnung und Darstellung zu 
wählen, so bitten wir ihn doch gar sehr, deswegen nicht die 
ursprüngliche Idee des Werkes ganzlich zu verlassen. Ja es 
würde gewifs Vielen willkommen seyn , wenn der Verf. an den 
geeigneten Stellen zugleich auf den vormaligen Rechtszustand der 
heutigen Bestandtheile des GH. Baden einige Rucksicht nähme. 

Zachariä d. Aelt. 



Dr. B. W. Pfeiffer (Kurfürstlich Hessischem Oberappellationsrathe ) , 
Praktische Ausführungen aus allen Theilen der Rechtswissenschaft. Mit 
Erkenntnissen des Oberappellationsgerichts zu Cassel. Werter Band. 
Hannover, Hahn' sc he Hofbuchhandlung. 1836. 4. 

Der ruhmlichst bekannte Herr Verf. setzt ein Werk fort, 
dessen dritter Band im J. 1 83 1 erschienen ist und, gleich den 
frühern Bänden, die Fortsetzung um so wünschenswerther ma- 
chen mufste, als zu erwarten war, derselbe werde der Schrift: 
»Prüfung der neusten Einwendungen gegen die Zulässigkeit der 
Verwaltungsjustiz und gegen ihren Umfang. Von Carl v. Pfi- 
zer. Stuttgart 1 833. , welche vorzüglich gegen die lote Abhand- 
lung des dritten Bandes dieser Ausführungen gerichtet ist, einige 
Aufmerksamkeit schenken und nicht, wie in der Vorrede ge- 
schehen, sie kurz mit den Worten abfertigen: »Gegen einzelne 
»Ansichten, z. B. über Administrativjustiz, bat sich wohl hin und 
»wieder eine Stimme erhoben, deren Befangenheit sich jedoch 
»schon durch die Art ihres Ausdruckes selbst kund giebt.« Je- 
den Falles hätte durch genauere Bestimmung einzelner Grund- 
sätze und durch Widerlegung der dagegen gemachten Einwen- 
dungen die Wissenschaft und die Legislation gewonnen, und Ref. 
glaubt in dieser Beziehung den Herrn Verf. bitten zu dürfen, in 
dem versprochenen fünften Bande noch einige Mittheilungen über 
des rechtliche Verhältnis der Justiz zur Administration zu ma- 
chen. Der Herr Verf. entschuldigt das späte Erscheinen dieses 
Bandes mit überhäuften vielfachen Dienstgeschäften, welche der 
Eintritt in die Ständeversammlung und die Versehung der Präsi- 
deuteostelle bei dem Oberappellationsgerichte verursacht habe. 



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Der Torliegende Band enthält 7 Abhandlungen des römischen 
4 des deutschen Privalrechts. Der Inhalt ist folgender: 1) 
Ton dem Rechte , Fenster in der eigenen Wand anzulegen and 
das Verbauen oder Verdunkeln der schon vorhandenen dem Nach- 
bar zu untersagen. 2) Über die Befugnifs eines Gemeinschuld, 
ners zur Erbschaftsausschlagung nach erkanntem Concurse. 3) 
Von den wesentlichen Bedingungen eines Stundungsvertrages zum 
Zwecke einer Nothigung der Minderzahl der Gläubiger, demsel- 
ben beizutreten. 4) Über die rechtliche Unwirksamkeit eines zu 
verbotenem Hazardspiele gegebenen Darlehens , mit besonderer 
Bücksicht auf das in Badeorten ausnahmsweise erlaubte Spielen. 
5) Über die Zinsverbindlichkeit in Beziehung auf die bei einer 
Erbvertheilung zu conferirende Gegenstande. 6) Von den not- 
wendigen Einschränkungen des römisch -rechtlichen Verbots der 
Übertragung von Schuldforderungen an einen Mächtigem. 7) Von 
den eigentümlichen Merkmalen einer TbeiJung der Eltern unter 
ihren Kindern. 8) Von den durch die deutsch -rechtliche Gut- 
abtretung (Guteransatz) begründeten Rechten und Verbindlichkei- 
ten, insonderheit von dem elterlichen Auszuge oder der Leibzucht. 
q. lieber das Vorzugsrecht der Erbgelder im Concurse der Gläu- 
biger. 10. Von der Notwendigkeit einer Nachweisung der Er- 
mächtigung dessen , welcher das Indossement eines Wechsels 
Namens eines Andern (per procura) unterzeichnet hat , im Wech- 
se/processe. 11. Mehrere Rechtsfragen, die Curatel über Abwe- 
sende (Verschollene) betreffend : insonderheit über Todeserklärung. 

In die Beurtheilung der einzelnen Abhandlungen und der 
darin ausgeführten Ansichten sowie der jede Ansicht unterstutzen- 
den Gründen einzusehen , ist hier der Ort nicht und gestaltet der 
Zweck der Jahrbücher nicht. Nur soviel kann angeführt werden, 
dafs der Herr Verf. dieselbe Gelehrsamkeit , dieselbe Schärfe des 
, dieselbe Umsicht entwickelt und darlegt , welche aus den 
n sichtbar sind. Möge es dem Herrn Verf. gefal- 
den fünften Band nachfolgen zu lassen, der, wenn 
Ministerprocefs nicht enthält, doch sehr willkommen 
Die Hahnsche Holbuchhandlung als Verlegerin hat 
würdig ausgestattet. 

Handelsgesetzbuch der Kbnigl. Preufsischen Rheinprovinzen, übersetzt 
und erläutert von C. A. Broicher und F. F. Grimm, Kdni&l. Land- 
gerichtsräthen. Köln 1835. 8. 




Schrift enthält nicht blos eine Übersetzung des fran- 
zösischen Handelsgesetzbuches, sondern erläutert dasselbe vor- 
züglich durch die in Frankreich und in den preufsischen Rhein- 
Binzen ergangene Urtheile. Es sind die Rechtscontroversen 
angegeben mit den Gründen, welche sich für eine oder an- 
Ansicht anführen lassen , mit Hinweisung z. B. auf Sirev 
Recueil general etc. Sind gleichwohl dadurch die gröTsern Scbrif- 



grovi 



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Römische Literatur. 



ten von Locre , Pardessus , Sirey etc. nicht überflüssig geworden, 
•o wird durch dieses Werk dem Geschäftsmann , der oft die Zeit 
nicht hat, lange zu suchen, doch Gelegenheit gegeben, s ; ch schnell 
zu orientiren und selbst bei dem Mangel der gröTsern Schriften 
ein richtiges Unheil, wenn auch nicht vollständig motivirt, zu 
geben. Es verdiente diese Schrift in die Hände eines jeden prak- 
tischen Juristen zu kommen. Es ist nicht zu zweifeln, dafs die 
Erläuterung des französ. Civilgesetzbuchcs auf gleiche Weise dem 
Geschäftsmanne angenehm seyn wurde , besonders da die Bearbei- 
tung des Gesetzbuches von Sirey und de Yilleneuve noch Man- 
ches zu wünschen übrig läfst. 

Dr. Uihlein. 



HÖMISCHE LITERATUR. 

P. Ovidii A'asoni» Metamorphoscon libri XV. Mit kritischen und 
erläuternden Anmerkungen von R. C. Chr. Bach, Director am Gymna- 
sium zu Schaffhausen , wie auch Professor der lat. Sprache am dasigen 
Cotleg. Human und Mitgliede des Schulraths. — Zweiter Band, 
VIII — XV. Nebst nachträglichen Bemerkungen des Hrn Prof. 0 c hs- 
ver , Register über die Anmcrkk und eine Übersicht der abweichenden 
Lesarten in Jahn's Ausgabe. Hannover 1836. Im Verlage der Hahn'- 
sehen Hof buchhandlung. VIII u. 632 Ä. in gr. 8. 

Wir freuen uns, mit dem Erscheinen dieses zweiten Bandes 
die Vollendung dieser werthvollen und nützlichen Ausgsbe anzei- 
gen zu können, über deren ersten Band in diesen Jahrbb. ( i83q 
pag. 70a fT. ) berichtet wurde. Der längere Zwischenraum seit 
dem Erscheinen des ersten Bandes (mit durch gehäufte Berufs* 
geschälte , aber auch durch das Streben möglichster Sorgfalt und 
Genauigkeit in Ausarbeitung der Noten herbeigeführt, wie, auch 
ohne die ausdrückliche Erklärung des Herausgebers in der Vor- 
rede, leicht ein Blick in die Noten selbst lehren kann), ist auf 
diese Weise nur zum Vortheil des Ganzen ausgefallen, dessen 
Brauchbarkeit durch möglichst vollendete Ausarbeitung des Ein- 
zelnen nur gewinnen konnte. Die Grundsätze, nach denen der 
Verf. arbeitete, sind im Ganzen dieselben geblieben, so wie der 
Plan der Ausgabe, die zunächst Lehrer sowohl als reifere Schü- 
ler beabsichtigt und von Jenen ebensowohl mit Vortheil beim Un- 
terricht als auch von Diesen beim Privatstudium im Allgemeinen 
benutzt werden kann. In der Constituirung des Textes hat sich 
der Verf. noch mehr als bei dem ersten Bande an die Autorität 
der Handschriften und altern Ausgaben gehalten, aus Gründen, 
denen man schwerlich den Beifall versagen kann ; er bat daher 
noch manche von Heinsius eingeführte Lesart beibehalten , zumal 
da manche angebliche Conjectur des geistreichen Mannes steh bei 
näherer Nachforschung als handschriftlich beglaubigt auswies und 



« 



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feigere und passendere Lesart erschien; überdem die Mehrzahl 
der Handschriften , welche die schlechtere Lesart darbieten , nicht 
in Vergleich kommen bann mit der Minderzahl der altern Hand- 
schriften, die eine bessere Lesart darbieten: ein Satz, der beson- 
ders bei einem im Mittelalter so fiel gelesenen, darum so häufig 
abgeschriebenen und auch so häufig interpolirten Dichter, wie 
Ovid, besonders beachtet werden sollte, so wenig dies auch frü- 
her geschehen ist. Indessen würde man sich wohl irren, wenn 
man in dieser Ausgabe die Mittheilung eines vollständig gesam- 
melten, kritischen Apparates erwarten wollte; das lag nicht im 
Plane des Herausgebers, das konnte nicht darin liegen, wenn mau 
Veranlassung und Bestimmung seiner Ausgabe bedenkt, wornach 
zunächst nur solche Varianten erwähnt werden konnten, welche 
auf die Gestaltung des Textes einen wesentlichen Einflufs aus- 
üben und den Sinn der Urschrift verändern, oder welche wenig- 
stens Veranlsssung zu sprachlichen und andern Bemerkunsen, 
oder Gelegenheit zu weitern Erörterungen , die für den Lehrer 
wie für den Schüler gleich erspriefslich und dienlich ausfallen, 
geben konnten. Eine gleiche Rücksicht auf den Zweck und die 
Bestimmung der Ausgabe hat auch den Umfang, Inhalt und die 
Einrichtung der Noten bestimmt, die, wie bereits früher bemerkt, 
unter dem Text gedruckt, neben den bemerkten kritischen Anga- 
ben zugleich das Wesentlichste darbieten, zumal in sprachlicher 
Hinsicht, was für Verständnifs und richtige Auffassung des Dich- 
ters erforderlich ist, der bisher im Ganzen doch mehr in Absicht 
auf sachliche, insbesondere mythologische und antiquarische Punk- 
te , als hinsichtlich der genaueren Hunde des Sprachgebraucht 
und der davon abhängigen Auffassung des Sinns so mancher Stel- 
len, sowie der richtigeren Würdigung und Beurtheilung so man- 
cher Varianten, seine Erklärung gefunden hatte. Die gedrängte 
Kürze, die Bestimmtheit, und die vollständige Auswahl, die wir 
in diesen Noten auch bei diesem Bande , bei allem Reichthum 
derselben anerkennen müssen, erhöht den Werth und die Nütz- 
lichkeit dieser Ausgabe für die oben bemerkten Zwecke. Eine 
sehr schätzbare Beigabe sind die Bemerkungen des Herrn Prof. 
Ochsner, die am Schlüsse von S. 5i5 bis Si5 reichen und eine 
grofse Anzahl von Stellen kritisch und exegetisch bebandeln oder 
durch eine feine Auswahl von Parallelsfellen erläutern; dann folgt 
S. 576 ff. ein Verzeichnifs der vom Herausgeber benutzten kriti- 
schen und exegetischen Hulfsraittel, worin er zuerst die verschie- 
denen Sammlungen von Varianten nennt, die sich in der Bur- 
mannschen Ausgabe v. 1727, bei Bothe u. A. finden, dann die 
vollständigen Collationen der Jahnschen Codd. und des Codex 
Hhenovanus (der jedoch nur bis XIII, 753 reicht) und darauf die 
von ihm selbst für diese Ausgabe verglichenen Handschriften, 
eine Dresdner, zwei Gothaer und vier Basler, zum Theil in das 
zwölfte Jahrhundert zurückgehend, verzeichnet und beschreibt; 
dann folgt ein stets mit kurzen Urlheilen über Gehalt und Werth 



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des Einzelnen begleitetet Verzeichnifs der Ausgaben und ande- 
rer, Kritik und Erklärung der Metamorphosen berücksichtigenden 
Schriften, bis auf eine bekannte deutsche Übersetzung herab, die 
indefs nur einzelne Partien giebt, obwohl (wie der Vf. bemerkt) 
» das Original leichter als die Übersetzung zu verstehen ist. « Man 
wird übrigens nicht wohl eine Ausgabe oder eine die Metamorpho- 
sen betreffende Schrift von einiger Erheblichkeit nennen können, 
die hier übersehen wäre. An diese Verzeichnisse reiht sich ein 
genaues Register über die Anmerkungen (denn grofsere Wort- 
register lagen wohl ausser dem Plan und der Bestimmung der 
Ausgabe) von S. 582 — 6a 1, und dann zum Schlufs S. 6*3: »Ab- 
weichende Lesarten der Jahn'schen Ausgabe von i832», nebst 
einigen Berichtigungen. Die möglichste Correctheit des Drucks 
und eine empfehlenswerthe typographische Ausstattung verdienen 
rühmliche und dankbare Anerkennung. 

Ein besonderer, zunächst zum Behuf der Schulen veranstal- 
tete^ Textesabdruck erschien unter folgendem Titel: 

P. Ovidii Nasonis Metamorphoseon Ubri XV. Mit Inhaltsanteigen 
und Varianten de$ Gierig- Jahn'schen und Bothe'schen Testet versehen 
von K. C. Chr. Bach, des Gymnasium* in Schaffhausen Director etc. 
Nebst Übersicht der abweichenden Lesarten der Jahn'schen Ausgabe vom 
Jahre 1832. Hannover 1836. Im ( erlag der Hahn' sehen Hofbuchhand- 
lung. IV und 361 S. in 8. 

Die auf dem Titel genannte Übersicht ist am Schlufs des 
Textes beigefugt ; unter dem Texte stehen die Varianten der auf 
dem Titel genannten Ausgaben, der Gierig- Jahn sehen vom Jahr 
1821 und i8*3, und der Bothe sehen ?om J. 1818, welche aus 
dem Grunde beigegeben wurden, weil jene Ausgabe die durch 
vielfältige Abdrücke noch bis jetzt fielfach verbreitete Heinsius- 
Burmann sehe Textesrecension im Ganzen reprasentirt , die Bothe- 
sebe Ausgabe aber manches Eigene darbietet; auf diese Weise 
aber eine Übersicht der Abweichungen im Texte der gangbarsten 
Ausgaben gewonnen ist, welche dem Lehrer manche Gelegenheit 
darbieten kann zu kritischen, grammatischen und sprachlichen 
Erörterungen. Wenn ein moglicht correcter Druck, gute Let- 
tern und Papier eben so wie ein möglichst berichtigter Text eine 
Schulausgabe insbesondere empfehlen müssen , so kann dies von 
der vorliegenden in jeder Hinsicht gelten. 



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M. Tulliu* Cicero «fciWarwv. Düpuuitio de philo, oph iac Cicero- 
nianaefonte pr aeeipuo, quam — pro gradu doctoratui summisque 
in philüsophia tkeorttica et Uteri* humanioribus , konoribu» ae privitegiie, 
in Acadcmia Rheno-Trajectina altcria succularibus aeudemiae concele- 
brandia more majorum consequendis , publico nc $olemni esamini tub- 
mittit Joannee Adolphue Carolue van Heuede, Rkeno Trajectl- 
nus. Trajecii ad Rhcnum, ex officina J. Altheer, MDCCCXXXVL 
XVI und 292 & in gr. 8. 

Diese Schrift, zunächst eine Gelcgenheitsschrift, obwohl vor 
andern Schriften der Art sowohl durch Form wie durch den um- 
fassenden Inhalt ausgezeichnet, umfafst in jeder Hinsicht weit 
mehr, als man nach dem Titel derselben erwarten sollte, indem 
der Vf. die ganze Bildungsgeschichte des Cicero und eine Wür- 
digung der meisten und bedeutendsten seiner rhetorischen und 
philosophischen Schriften mit in den Kreis seiner Darstellung ge- 
zogen, die, unmittelbar aus den Quellen selbst entnommen und 
auch die neuere Literatur stets berücksichtigend, nirgends die 
Beweise grundlicher Bildung vermissen läfst. So erklärt sich der 
verhältnifsmä'fsig bedeutende Umfang des Buches , das von Cice- 
ro's frühester Jugendbildung ausgehend diese weiter bis in die 
Jahre verfolgt, wo Cicero die öffentliche Laufbahn begann, dio 
bald darauf durch eine Heise nach Griechenland und Asien unter- 
brochen , nur dazu beitrug, Cicero 's Liebe für die Wissenschaft 
zu nähren und seinen Studien eine bestimmtere und festere Bich- 
tung zu geben, die ihn mitten unter den folgenden Stürmen des 
Lebens nie verliefs und in späteren Jahren, als er von öffentlicher 
Tbätigkeit sich zurückzuziehen genothigt sah , ganz einer wissen- 
schaftlichen Thätigkeit zuführte. Das was Cicero als Schriftstel- 
ler in der Redekunst und in der Philosophie in dieser Periode 
seines Lebens geleistet hat, ist Gegenstand des gröfseren Theils 
dieser Schrift vom dritten Abschnitt an , indem der Verf. darin 
nachzuweisen sucht , wie Cicero's ganze wissenschaftliche Bildung 
aus Plato hervorgegangen, gegen den daher auch Cicero, wie dio 
vom Vf. am Eingang der Schrift gesammelten Belege und Zeug- 
nisse beweisen, eine Achtung und Liebe, ja eine Verehrung be- 
wies, die den griechischen Philosophen fast wie ein höheres, 
übermenschliches Wesen betrachtete. Dies ist dann auch der 
Grund, warum der Verf., so ausführlich in den beiden ersten 
Abschnitten, freilich auch manche damit verwandte, zunächst 
literarhistorische Punkte berührend, die ganze Bildungsgeschichte 
Cicero's darzustellen sucht, dessen besondere Neigung und Vor- 
liebe für Plato er zugleich aus der verwandten Denk- und Sin-, 
nesweise des Börners, den geistigen Anlagen und der sittlichen 
Richtung desselben zu erklären bemüht ist. 

So lehtt uns denn der erste Abschnitt, überschrieben: M. 
TuWi Ciccronis adolcscentia , Uterarum et philosophiae studio. , prae* 
ceptores, inprimis Philo, ab ineunte attatt ad annum duodctrict&i- 
mum , Cicero's ganze Erziehung kennen, seinen Unterricht und 



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seine Jugendbildung sowie seine Lieblingsstudien und Neigungen, 
namentlich auch seine Beschäftigung mit der Poesie und die dar- 
aus hervorgegangenen Versuche, die am Ende doch meistens nur 
Gegenstände der Übung und formeller Ausbildung wareo. Der 
Verf. durchgeht selbst die einseinen unter Cicero's Namen vor- 
kommenden Dichtungen, so wenig wir auch Näheres über deren 
Inhalt, ja oft bäum mehr als den blofsen Namen wissen. So hält 
er z. B. die Alcyone für ein elegisches Gedicht , worin Cicero 
gleich andern römischen Dichtern , wie z. B. Ovid , nach dem 
Vorbilde der Griechen, den Mythus von Ceyx und Alcyone ele- 
gisch bebandelt (p. aj ff. ), den Glaucus aber hält er für eine 
lateinische Bearbeitung eines Äsehyleischen Drama's (p. ao), wie 
denn Cicero auch an Stücken des Sophokles und Euripides in 
ähnlicher Weise sich versucht. Den gleichen Zweck einer Übung 
und Ausbildung halten wohl auch die Übersetzungen des Aratus, 
wobei jedoch der Verf. auch (vgl. p. 41 fl.) an Cicero's Liebe 
für das Landleben, Naturbetrachtung u. dgl. erinnert, um daraus 
den Grund abzuleiten, warum Cicero gerade diesen Gedichten 
sich zugewendet, ebenso wie er auch damals eine Bearbeitung 
des Xenophonteischen Oeconomicus unternahm , die leider so we- 
nig wie andere Versuche aus jener Periode auf uns gekommen 
ist. Wir wollen bei dieser Gelegenheit auf eine Stelle des Ca- 
pitolinus in Vit. Gordian. 3. aufmerksam machen, welche der Vf. 
S. 35 ff. kritisch behandelt, weil durch die Veränderung, welche 
der Verf. vorschlägt , zwei angebliche Gedichte Ciceros , über 
deren Inhalt man freilich auch nicht das mindeste bisher nur mit 
einiger Sicherheit anzugeben wufste, aus der Reihe derselben 
verschwinden. In jener Stelle heifst es nämlich : » Adolescens 
quum esset Gordianus, poemata scripsit, quae omnia exstant et 
cuneta il In , quae Cicero ex Demetrio et Arato et Alcyonas et Uxo- 
rium et Nilum: quae quidem ad hoc scripsit, ut Ciceronis poemata 
nimis antiqua viderentur«: eine offenbar verdorbene Stelle, an 
der schon Salmasius sich versuchte, der eben so wenig alt An- 
dere über den hier genannten Demetrius nähere Auskunft zu ge- 
ben wufste. Unser Verf. schlägt daher die Verbesserung vor i 
9 — et cuneta illa, quae Cicero hexamclris ex Arato haiueinatui 
* est, Exorlum et Nixum: quae quidem etc.« Da oämlich des 
Aratus Phänomena in zwei Bücher abgelheiit waren , wovon das 
eine die Aufschi ift WoTpo^eoLa 9 das andere die Aufschrift 'Ava- 

mm 

toXij führte, so seyen Exorlus und Nixus die lateinischen Über- 
setzungen dieser Titel der beiden Bücher. Mehr Anstofs Könnte 
vielleicht der Ausdruck halucinatus est erregen , welchen der 
Vf. auf d»e irrige und falsche Auffassung mancher Stellen des 
Aratus, auf einzelne Nachlässigkeiten dei lateinischen Übersetzung 
bezieht. Auch über den muthmafslichen Inhalt des Marius, eines 
epischen Gedichts, bei dem wohl die Verherrlichung seiner mit 
Marius gemeinsamen Vaterstadt ein Hauptgegenstand seyn mochte, 
Terbreitet sich der Vf. S. 44*ff , desgleichen über Ciceros Vor- 
liebe für den alten Enoins (wovon die vorhandenen Schriften 



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zeigen) und für den Komiker Terentius, bei welcher 
er auch die Vermuthung ausspricht , daft das unter 
tischen Versuchen aufgeführte Gedicht Limon , eine 
mlong, eine Blumenlese ( — — ■) von ein reinen klei- 
nem Gedichten, von Epigrammen auf einzelne, ausgezeichnete 
Manner, wie etwa Terentius, gewesen. Dann lallt die Ton A. 
Schott vergeschlagene Änderung, hier Libon statt Limon zu lesen, 
Ton selbst weg. Vgl. pag. 5o. 5i. Das Gedicht De Consuiatu , 
das Cicero zwei Jahre nach der Verwaltung des Consulats schrieb, 
wird hier S. 55 , und wir glauben mit Recht , sorgfaltig unter- 
schieden von dem andern Gedicht De temporibus suis, das erst 
nach der Rückkehr aus dem Exil geschrieben wurde; ein anderes 
elegisches Gedicht, TameUstis , woraus Servius Einiges anfuhrt, 
wird vom Verf. muthmafsungsweise in Tempestas (8. 58) verwan- 
delt , was freilich immerhin etwas gewagt ist; das Buch, das die 
Aufschrift führte: Uber jarularis , wird als eine Sammlung von 
Epigrammen betrachtet. Nachdem so der Vf. die verschiedenen 
einzelnen Poesien, deren Hunde uns zugekommen, durchgangen, 
schliefst er mit einer Zusammenstellung der Urtheile über Oice- 
ro's Poesie und über Cicero's poetische Leistungen im Allgemei- 
nen, wie sie bei spatern Schriftstellern Roms vorkommen, wobei 
er insbesondere der bekannten Stelle des Quintilian Inst. Or. XI, i. 
$. 34* (in carminibus ut triam pepercisset , quae non desierunt car- 
pere maligni etc.) ihre richtige Deutung zu geben sucht, da sie 
nicht sowohl eine tadelnde Äusserung über Ciceroa Poesie im 
Allgemeinen — denn darüber dachte Quintilian wohl anders — 
als vielmehr den Wunsch ausspreche, Cicero hatte doch in sei- 
nen, die Zeitereignisse berührenden Gedichten — De consuiatu, 
De temporibus suis — die von allzugrofser Selbstgefälligkeit und 
Eigenlob zeugenden Stellen, die seinen Neidern und Gegnern nnr 
neuen Stoff gaben , lieber unterdrucken und in dieser Beziehung 
mehr Schonung beobachten sollen. An diese Urtheile alter Kri- 
tiker und Dichter über Cicero's poetische Leistungen reihen sich 
einige Urtheile neuerer Kunstrtcnter. Wir wollen nur Voltaire^ 
Unheil hier anführen, dem auch unser Verf. vollkommen bei- 
pflichtet , aus der Pre face zu Rome sau vee : » Ciceron etait un 
des premiers poetes [?] d un Steele oü la belle poesie commencait 
a naitre. 11 balancait la reputation de Lucrece [7]. I a-t-il rien 
de plus beau que ces vers, qui nous sont res t es de son poeme 
sur Marius et qui font regretter la perte de cet ouvrage? etc. c 
Ref., so günstig er auch über Cicero denkt, würde darum doch 
nicht wagen , dieses Urtheil , obwohl eines berühmten französischen 
Kunstrichters, der ja auch selbst ein Dichter war, unbedingt zu 
unterschreiben, da er den Werth der poetischen Leistungen Cice- 
ro's, so weit nach dem, was wir noch davon besitzen, ein Schlufs 
zu machen erlaubt ist , mehr in die Form , in die gefällige und 
anziehende, Behandlung des Gegenstandes, als in den Inhalt sel- 
ber setzen au müssen glaubt. — Nun bespricht der Verf. die 
Zeit fallenden rhetorischen Studien Cicero's , wovon seine 



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Römische Literatur. 



damals versuchten Übersetzungen einzelner Reden des Demosthe- 

nes und Aschines zeugen , sowie seine philosophische Auabildung 
in befriedigender Weise. Über Philo, den Lehrer des Cicero, 
und über dessen System wird S. 73 ff. 88 ff. mit Ausführlich- 
keit geredet und der Bekanntschaft, die Cicero damals mit der 
Platonischen Philosophie machte, wie man aus der Übersetzung 
des Platonischen Protagoras und vielleicht auch noch anderer 
Dialoge schliefen kann, gedacht, sowie seiner Verhältnisse zu 
dem gelehrten Stoiker Diodotus : lauter Gegenstande , die wir hier 
nur im Allgemeinen andeuten können , um auch noch über die 
übrigen Theile der Schrift Einiges zu bemerken. Der nächste 
Abschnitt befafst die beiden nächsten für Ciceros wissenschaftliche 
Bildung so wichtigen und einflufsreichen Jahre: >0/. Tullii Cice~ 
ronis philosophiae studio ac praeeeptores , infirimis Antiochus et Po- 
sidonius; ab anno aetatis duodetricesimo usque ad tricesimum — 
Iter in Grarciam.* Den Mittelpunkt bildet die eben erwähnte 
Heise nach Griechenland und Asien , die personliche Bekannt- 
schaft, die Cicero mit den Häuptern griechischer Hedekunst und 
Philosophie machte und die für seine ganze Folgezeit so wichtig 
geworden ist, da sie in ihm mitten unter dem Gewühl praktischer 
Thätigkeit und mitten nnter allen politischen Stürmen die Liebe 
und den Sinn für die Wissenschaft erhalten hat, der ihn später- 
hin zu dieser, als zu einer siebern und nützlichen Zuflucht statte 
des Alters, zurückgeführt hat. Dafs der Grund zu dieser Reise 
Ciceros in politischen Bücksichten gelegen , die ihn zu einer 
Entfernung von Rom veranlagt, kann der Verf. so wenig glau- 
ben, als Ref., der sich schon in der zweiten Auflage seiner Rom. 
Lit. Gesch. S. 490 darüber in gleichem Sinne ausgesprochen hat, 
mit Bezug auf die Haupt st eile in Cicero 's Brutus cap. 91 , die 
auch für unsern Verf. in dieser Hinsicht entscheidend ist. Es 
wird kaum noch einer besondern Bemerkung bedürfen , dafs auch 
in diesem Abschnitt alle einzelnen, dahin einschlägigen Punkte 
mit gleicher Genauigkeit behandelt und insbesondere Cicero's 
Verhältnisse zu den berühmten Männern, die er auf jener Reise 
kennen lernte, namentlich zu Posidonius und Molo, ausführlich 
besprochen werden. 

(Der ücschlufs folgt.) 



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PI». 7. HEIDELBERGER i837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

Römische Literat u r. 

(Beichlufs.) 

Nun erst , nachdem der ganze Gang der wissenschaftlichen 
Bildung Cicero's, insbesondere seiner philosophischen, entwickelt 
worden, kommt der Verf. mit dem dritten Abschnitt, der die 
nächsten sechszehn Jahre seines Lebens umfafst, auf die Schrif- 
ten Cicero's innerhalb der genannten Zeit, zunächst die rhetori- 
schen, in denen sich "die Spuren dieser philosophischen Bildung 
und die Früchte derselben bald mehr bald minder nachweisen 
lassen. Es werden zuerst die Bücher De inventione rhttorica be- 
sprochen . auch mit Rucksicht auf die Rhetonca ad Herennium, 
die der Verf. dem Bhetor Gnipho beilegt, ganz nach Schützens 
Vermatbung (vgl. S. 149 not.), die wir indefs aus manchen Grün« 
den für noch nicht so sicher und ausgemacht halten; dann wird 
Inhalt und Tendenz der Schrift , sowie der innere Werth und 
Gehalt derselben, untersucht, und aus einzelnen Spuren der Be- 
weis versucht, dafs Cicero durch seine Platonischen Studien, durch 
seinen F.ifer und seine Vorliebe für Plato und dessen Ittalogc, die 
in dieser Schrift überall durchblicken soll, zu Ablassung dersel- 
ben überhaupt veranlafst worden. Vgl. S. i54: »Postrerao vero 
loco animadvcrtimus, Ciceronem, studio Platonis imbutum, ad 
hujus operis scriptionem accessisse. Cujus rei vestigia non diffi- 
cile est invenire (?) etc. etc. 1 nebst den Schlufsworten der gan- 
zen Untersuchung S. 160: »Sic igilur, quod operae pretium est 
animadvertere , in his rudibos inchoatisque praestantioris discipli- 
nac eiementis , quae a Cicerone puero aut adolescentulo conflata, 
e commentariis exciderunt, juvenem jam statim (ptXonXd'vova 
agnoscimus. * Sollte, namentlich was die erste Stelle betrißt, 
der Verf. hier aus natürlicher Vorliebe für das Thema seiner 
Schrift, nicht zu weit gegangen seyn und die Sache zu speciell 
aufgefafst haben? Es ist dies eine Frage, die sich uns auch im 
Verlolg mehrfach aufgedrängt hat, wo wir nämlich glauben, dafs 
einzelne Schlüsse und Folgerungen zu speciell und bestimmt ge- 
nommen sind , während höchstens nur allgemeine Folgerungen 
zulässig waren. Oer Vf. nämlich , um Cicero's Vorliebe für Plato 
zu erweisen, durchgeht mehrere Beden, in denen er die Be- 
lege einer philosophischen Bildung (was gewifs nicht in Abrede 
zu stellen ist) , und zwar zunächst der platonischen Philosophie, 
sowie eines besonderen Einflusses derselben auf Fassung und In- 
halt dieser Beden nachzuweisen versucht; so die Bede pro Boscio 
Amerino, die Verrinen, die Bede für die Manilische Bill, die 
Catil inarischen Beden, deren Leetüre uns, wie es S. 178 heifat, 

XXX. Jahrg. 1. Heft. 7 



einen Redner erkennen lasse, der nicht aus den Schulen der Rhe- 
toren sondern »ex Academiae spatiis« hervorgegangen, wefshalb 
denn auch mehrere einzelne Stellen , die der Verf. für Nachbil- 
dung Platonischer ansieht, hervorgehoben werden. Den in neue- 
ren Zeiten mehrfach erhobenen Zweifel an der Achtheit einiger 
dieser Reden berührt der Verf. nicht; was wir ihm nicht auch 
gerade verargen wollen. Ebenso betrachtet der Verf. , mit glei- 
chen Erörterungen über Inhalt und Tendenz , die Reden für den 
Murena und für den Dichter Archias, in welcher Rede er ganz 
besonders ein Vorherrschen Platonischer Philosophie . findet , so- 
wohl in Absicht auf Form wie auf Inhalt. An der Achtheit der 
Rede zweifelt der Verf. so wenig wie an ihrer Trefflichkeit , da 
er sie nach dem Vorgang eines Victorius und Wyttenbach mit 
zu den vorzuglichsten Geistesprodukten des Cicero reebnet. Ei- 
nige Bemerkungen über Cicero's verlorene Schrift De Gloria be- 
schliefsen diesen Abschnitt. — S. hat der Verf. eine Ver- 
muthung seines Vaters , des berühmten holländischen Philologen, 
über eine Stelle bei Cic. Tuscull. III, 1., wo unseres Wissens 
bisher Niemand angestofsen ist (wir finden auch in Mosers großer 
Ausgabe Nichts darüber bemerkt), angeführt. Statt: »nunc par- 
vufos nobis (natura) dedit igniculos etc.« soll gelesen werden: 
» nunc parvu/ts nobis etc. 

Der nächste, vierte Abschnitt: »JH. Tullii Ciceronis Diahgi 
inprimis de eloquentia et de republica, ab anno actatis sexto et qua~ 
dragesimo ad sexagesimum secundum « durchgeht in ähnlicher W eise 
den Inhalt der Bücher De Oratore, Orator und Brutus, der Bu- 
cher De republica und De legibus, um auch in ihnen überall die 
Spuren und den vorherrschenden Einflufs Platonischer Philosophie 
im Einzelnen nachzuweisen, und in dem fünften Abschnitt, der 
die in die letzten Lebensjahre fallenden Schriften berücksichtigt, 
werden diese Untersuchungen über die verlorenen Schriften, die 
Consolatio und den Hortensius fortgesetzt und mit allgemeineren 
Bemerkungen über Cicero'a Art und -Weise, die Philosophie zu 
behandeln , beschlossen. 

Der letzte Abschnitt stellt nun noch einmal im Allgemeinen 
die Resultate zusammen , welche der Verf. durch seine Untersu- 
chung gewonnen zu haben glaubt, dafs nämlich Piatons Philoso- 
phie eine Hauptquelle der Ciceronianischen bilde, und knüpft 
daran noch einige Bemerkungen über die Art und Weise, in der 
Cicero diese seine Quelle benutzt, namentlich auch im Vergleich 
und im Verhältnifs zu den Schriften anderer Philosophen, deren 
Werke Cicero gelesen und benutzt, und wie Cicero selbst die- 
jenigen Dialoge Piatos, welche dialektische Fragen behandeln, 
z. B. einen Sophistes, oder Philcbus, oder Parmenides, durchaus 
nicht berücksichtigt (eben aus dem natürlichen Grunde, wie wir 
glauben, weil sie seiner weniger spekulativen, sondern rein prak- 
tischen Natur nicht zusagen Konnten und ihm für die Zwecke, 
zu deren Erreichung er überhaupt die philosophischen Studien 
betrieb, nutzlos waren), dagegen vorzugsweise an einen Phödros 



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Römische Literatur. »9 

Gormas, an den Phadon oder die Politia steh hält: was die 
Geistesrichtung und Tendenz des Romers zur Genüge cha- 



indem wir unsere Anzeige einer Schrift schliefen , die sieh 
auch von Seiten der reinen und fließenden Sprache empfiehlt, 
können wir nicht umhin, der Pietät zu gedenken, mit welcher 
der dankbare Sohn und Schuler sich hei dieser Gelegenheit ge- 
gen seine Lehrer wie gegen seinen würdigen Vater ausspricht , 
der ibn in die Laufbahn eingeführt, die er mit so Tieler Ehr« 
betraten und auf eine so ruhmliche Weise weiter zu verfolgen 
tertpricht: und dieser Umstand veranlafst uns, auch hier mit ei» 
nem Worte der trefl liehen Bede zu gedenken, welche der glei- 
chen Veranlassung, die auch die Schrift, die wir eben näher be- 
sprochen haben; ihre Entstehung verdankt: 

Ormtio dt naturali artium et doetrinarum c onjunetione , alte- 
ru eeUbraudie Academiac Rheno - Trajectinae saccularibus , habita d. 
XULm.Ju*ii c MDCCCXXXri. Accedit Protrepticu» ad /•- 
Ii um promotionis more majorum opportunitute. Auetore Phil. G uil. 
van Heus de. Trajeeti ad Rhenum , apud Joh. Altheer, 
1836. 40 8. gr. 8. 



Die geschmackrolle Behandlung des Gegenstandes, eine schone 
Sprache und ein inniges Gemuth, das sich besonders in dem 
Protrepticus ausspricht, lassen dieser Bede recht viele Leser wün- 
schen; für die zahlreichen Freunde und Verehrer des berühmten 
holländischen Gelehrten wird es dazu auch bei uns keiner beson- 
dern Aufforderung bedürfen. 

Wir verbinden damit zugleich die Anzeige einer andern al- 
teren in Holland erschienenen Preisschrift, die eine andere Seite 
des romischen Alterthums in einer gefälligen und fliefsenden Spra- 
che auf eine nicht minder bef riedigende Weise behandelt : 

Cowmentatio de Mllitum Praetorianorum apud Romano» historia. Auetore 
$. A* J. Gr oneman, in Acad. - Rheno -Traj. theolog. »tud. Praemio 
omatu die XXVI m. Martii o. MDCCCXXXI. Trajeeti ad Rhenum, 
apud Joh. Altheer, academiae typographum. 1832. 101 S. in 8. 

Die von der philosophischen Facultä't zu Utrecht gestellte 
Aufgabe, welche in dieser Schrift auf eine Weise gelöst wurde, 
der die Facultät — und mit Becht — den Preis ertheilen konnte, 
lautete folgendermaßen : »Sic enarretur militum Praetorianorum, 
sb Augusto inde ad Septimium Severum , historia, ut demonstre- 
tur simul , quam illi vim , hoc temporis spatio, in imperium Bo- 
manorum habuerint.« Dem Geist und Sinn dieser Aufgabe ge- 
mifs giebt der Verf., nachdem er in einem Vorwort den Begriff 
und den Sinn des Wortes Praetoriani und damit die Entstehung 
und der Ursprung der Leibgarde, die unter dies/m Namen seit 
Auflustus vorkommt, entwickelt, einen geschichtlichen , un<mtteU 



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100 Römische Literatur. 

bar aus den Quellen geschöpften Überblick dieses Instituts bis 
auf die oben in der Aufgabe selbst als Gränze bestimmte Periode, 
abgetheilt in zwei Abschnitte, wovon der erste bis auf Commodas 
reicht, der zweite die ungleich wichtigere Periode von Commo- 
dus bis Septimius Severus befafst, weil in dieser Zeit, besonders 
seit dem Tode der Antonine, der politische Einflufs und. die po- 
litische Wichtigkeit der Prätoriani und ihres Chefs sich eigent- 
lich entwickelte und ausbildete. Die weitere Geschichte, die uns 
die furchtbare Entartung dieses Institute und den frechen Über- 
muth dieser Satelliten bei jeder Gelegenheit zeigt, bis unter 
Constantin ihre Auflösung erfolgte, hat der Verf., als ausserhalb 
der Gränzen seiner Aufgabe liegend, nicht behandelt. Zur Ver- 
vollständigung und Vollendung des ganzen Bildes möchten wir 
wohl von seiner Hand auch die Erörterung dieser Punkte in gleich 
befriedigender Weise wünschen. 

An die historische Darstellung schliefsen sich Betrachtungen 
über den Grund und die Veranlassung des Entstehens dieser Art 
von Leibwache unter August, dann Angaben über ihre Anzahl 
unter den verschiedenen Imperatoren , welche alsbald deren Macht 
fühlen und selbst in Abhängigkeit von denselben kommen mufs- 
ten, seit jene in frechem Übermuth über alle Schranken der Ge- 
setze und des Lebens sich wegsetzend blos diesem Übermuth und 
ungestümer Willkühr sich überlassen konnten. Dafs in dieser 
Schilderung auch der Praefectus praetorio nicht übergangen ist, 
wird kaum zu bemerken nöthig seyn. Der Verf. schliefst seine 
Untersuchungen damit , dafs er aus der Geschichte dieser Leib- 
wache nachzuweisen sucht , wie die durch Augustus gegründete 
_ römische Militärherrschaft nach und nach in die einer Soldateska 
überging, die damit den Grund des Falls und Untergangs des 
römischen Reichs legte oder vielmehr beforderte, wie sich dies 
wohl kaum wird bezweifeln lassen. 



Zu der öffentlichen Prüfung und Redeübung, welche am 12. und 13. Sept. 
1836 in dem königl. Gymnasium und der Hedetchule zu Duisburg ge- 
halten werden sollen, ladet ehrerbietigst ein der Director Land/ er- 
mann. Duisburg 1836, gedruckt bei Schmaehtenberg u. Korschefsky. 
Inhalt: 1. Commentatio in Quintiliani Instit. orat. lib. X. 
c. 1. §. 104. 2. Schulnachrichten. 44 Ä in 4. 

Die vorliegende Abhandlung hat sich zu ihrem Thema die 
vielbesprochene und vielgedeutete Stelle Quintilian's in der Instit. 
orat X, i. §. 104. gewählt: »Superest adhuc et exornat aetatis 
nostrae gloriam vir saeculorum memoria dignus, qui olim nomi- 
nabitur, nunc intelligitur. Habet araatores nec imitatores ; ut li- 
bertas, nuamquam circumeisis , cjuae dixisset, ei noeucrit. Sed 
elatum abunde spiritum et audaces sententias deprehendas etiam 
in iis, quae mgnent. « Es ist bekannt, wie die Allgemeinheit die« 
ser Äusserung verschiedene Deutungen und Erklärungen hervor- 

/ 



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Literatur. 10t 

v fr 

rief, wer denn eigentlich hier gemeint tey, welchen Geschicht- 
schreiber Ouintilian hier vor Augen habe, ohne ihn ausdrücklich 
zu bezeichnen und mit seinem Namen zu nennen. Man dachte an 
Tacitus, was jedoch Andere bestritten, indem sie zugleich an» 
dere Namen von Geschichtscbreibern , welche in Quintilians Zeit 
zunächst fallen und hier gemeint seyn sollten , in Umlauf brach- 
ten , ohne jedoch ihre Ansichten oder vielmehr ihre Vermuthun- 
gen auch nur einigermaßen naher durch sichere und bestimmtere 
Beweise begründen zu können. Ref. will seine Lieser nicht mit 
Aufzahlung der verschiedenen Namen , die man hier geltend ge- 
macht hat, oder der verschiedenartigen Deutungen und Beziehun- 
gen dieser Stelle ermüden, zumal da er schon früher in der 
Rom. Lit Gesch. §. 2i3. not. a. Einiges darüber angeführt hat, 
was er jetzt noch mit Mehrerem Andern vermehren konnte, wel- 
ches indessen auch dem Herrn Vf. dieser Abhandlang keineswegs 
entgangen ist, der vielmehr am Anlange seiner Untersuchung die 
verschiedenen Deutungsversuche und Erklärungsversuche der Stelle 
sorgfältig durchgeht und prüft: woraus man denn freilich bald 
die Überzeugung gewinnt , wie ungenügend und unbefriedigend 
eigentlich alle die zahlreichen bisher angewendeten Versuche sind, 
den wahren Sinn der Stelle auszumitteln, um dann mit mehr Glück 
und Sicherheit eine weitere Vermuthung wagen zu können. Der 
Verf. schlägt daher einen andern Weg ein , den einzig sichern 
gewifs, der zu einem erspriefslichen Resultate führen konnte, in- 
dem er nämlich , ehe er über die Beziehung der Stelle sich irgend 
eine Deutung und Vermuthung erlaubt, den wahren Sinn und die 
wahre Bedeutung der einzelnen Worte* auf streng philologisch 

grammatischem Wege und mit besonderer Rücksicht auf den 
prachgebrauch und die Redeweise Quintilians, in einer sicheren 
und zuverlässigen Weise auszumitteln sucht, was die zahl- 
reichen Vorgänger mehr oder minder vernachlässigt, oder woran 
sie vielmehr nicht gedacht hatten. So zeigt sich denn z. B. 
dafs gleich der erste Ausdruck superest nicht mit Niebuhr und 
Andern in dem Sinne von superstet est: es lebt noeb, son- 
dern in dem Sinne von regtat , aufzählungsweise zu nehmen ist, 
dafs ferner die nachfolgenden, bei der weiteren Frage nach dem 
Sinn und der Bedeutung des Ganzen besonders in Betracht kom- 
menden Worte: libertas, elatus Spiritus, audaces sententiae, nicht 
sowohl auf den Inhalt des Vorgetragenen , als auf die Form des 
Vortrags, den rednerischen Ausdruck und Vortrag zu beziehen 
sind, keineswegs aber einen moralischen oder politischen Sinn ha- 
ben, zumal da, wie S. i3 f. ganz richtig bemerkt wird, Quinti- 
lians Beurtheilung und Kritik im Allgemeinen nicht sowohl auf 
den Inhalt der von ihm angeführten Schriftsteller, deren Moral, 
politische und andere Ansichten u. dgl. sich erstreckt , sondern 
rein formell, auf Darstellung und Vortrag sich bezieht, in wie- 
fern der junge Mann, der Schüler aus deren Lcctüre für seine 
rednerische Ausbildung, die damals den Mann allein machte und 
immer noch das einzige Bildungsmittel war, um im Staate zu 



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102 Römische Literatur. 

Ehren und Wurden, zu Ansehen and Einfluß) zu gelangen, Et« 
was gewinnen konnte. Da wir dem Vf. in seiner Beweisführung 
im Einzelnen nicht folgen können , so wollen wir wenigstens ans 
S. 21 die deutsche Übersetzung der Stelle anfuhren, wie sie nach 
den von ihm gegebenen Erörterungen und nach der Erklärung 
der einzelnen Worte mit Sicherheit sich herausstellt : » Noch bleibt 
zu erwähnen und vollendet unsers Zeitalters Ruhm ein Mann, des 
Andenkens der Jahrhunderte würdig, den man einst nennen wird, 
jetzt schon kennt. Er wird geschätzt, aber auch nicht nachge- 
ahmt, so dafs sein freier Styl ihm sogar geschadet haben mag, 
obgleich er beschnitten hatte, was er gesagt hatte. Aber erha- 
benen Schwung und gewagte Stellen findet man auch in dem, 
was bleibt« 

So weit wird man mit dem Vf. gern und auch sicher gehen 
oder vielmehr mit ihm gehen müssen , da Alles Einzelne wohl 
begründet, und die gegebene Übersetzung in dem wahren Sinne 
der Stelle durchaus gerechtfertigt erscheint. Die nächste Frage, 
wer aber nun der so charaklerisirte Historiker sey, läfst sich nur 
vermutungsweise beantworten und wird daher immer mehr oder 
minder problematisch bleiben. Der Verf. nämlich stellt hier die 
Verroutbung auf, dafs dieser so gerühmte Historiker kein anderer 
gewesen, als der Kaiser Domitianus, und er weifs auch ge- 
schickt S. 21 — a3 Alles das anzuführen, was für diese Vermn- 
thung sprechen und sie einigermafsen begründen konnte. Der 
Vorwurf einer wirklich übertriebenen und darum verächtlichen 
Schmeichelei würde dann freilich den römischen Bhetor noch in 
weit gröTserem Grade treffen, als wir dies bisher nach einigen 
in der Institutio oratoria vorkommenden Äusserungen thun zu Kon- 
nen glaubten , zumal da diese Äusserungen aus äussern Verhältnis- 
sen , wenn auch nicht gerechtfertigt , so doch einigermafsen ent- 
schuldigt werden konnten, was indefs bei vorliegender Stelle, 
wenn sie wirklich auf Domitian zu beziehen ist, schwerlich mög- 
lich wäre. — Eine klare Entwicklung des Gegenstandes, eine 
fliefsende und classische Sprache macht die Leetüre der Abhand* 
long sehr angenehm. 



Index Lcctionum in Acadcmia Turiccnsi inde a die XXVll mensis Jprilis 
usque ad diem XXV meniie Septcmbri$ MDCCCXXXV h abend ar um. 
Intunt Jo. Caep. Orellii Symbolae nonnullae ad historiam philolo- 
giae, adjectU duobus Poggii epittolis. Turici, es offieina Ulrichiana 
MDCCCXXXV. 82 S. in 4. 

Dieses Programm enthält interessante Mittheitungen aus den 
Schriften , namentlich aus den Briefen einiger ausgezeichneten 
Humanisten des fünfzehnten Jahrhunderts, auf den Fund einiger 
der bedeutendsten römischen Schriftsteller und deren Kritik be- 
züglich, begleitet von dem Herausgeber mit manchen kritischen 
und literarhistorischen Bemerkungen, die den Werth dieser Mit- 



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theilungen nicht wenig erhohen. Zuerst Einiges aus den Briefen 
des Gasparinas Barzigius aus Bergamo (1870 — 143t), über 
Cicero's Bücher Deoratore; dann folgt Mehreres aus den Briefen 
des Florentiners Poggi , dessen Anwesenheit auf dem Costnitzer 
Concilium bekanntlich die Veranlassung zur Auffindung des bis 
dahin nur stückweise bekannten Quintiiianus und einiger andern 
römischen Classiker gab. Herr Prof. Orelli hat aus den Briefen 
des gelehrten Mannes die interessante Nachricht über den Fund 
des Oaintilianus zu St. Gallen abdrucken und diesem Abdruck 



weitere erklärende und ergänzende Bemerkungen folgen lassen, 
die sich z. B. unter Anderm auch über das Schicksal der durch 




Poggi zu St. Gallen entdeckten und jetzt nicht mehr dort vor- 
findlichen Handschrift verbreiten und es wahrscheinlich machen, 
dafs Poggi durch welche Mittel auch immer den Codex an sich 
gebracht, der jetzt bekanntlich in der Laurentiana zu Florenz 
sich befindet, weshalb Ref. auf Bandinis Catalog II. p. 382 f. 
▼erweist Die spater nach Zürch gekommene Handschrift des 
tyuintilian (von der uns Herr Prof. Orelli in dem andern , dem- 
nächst anzuführenden Programm 8. 18. 19 Nachricht giebt , nebst 
einem Fac Simile) ist es in keinem Fall gewesen; sie mochte wohi 
dem Poggi nicht unter die Augen gekommen seyn, was bei der 
schlechten Verwahrung der Handschriften »in teterrimo rjuodam 
et obscuro carcere , fundo scilicet alieujus turris , quo ne cajutalis 
qoidem rei damnati detruderentur « wohl denkbar ist. 

Aber aimch* über die anderen merkwürdigen Funde des ge- 
sntiners , der bekanntlich so glücklich war , einen 
larcellinus, Asconius Pedianus, Calpurnius Siculus, 
Firmicus, Frontinus, Petronius, Valerius, Mehreres 
von Cicero u. s. w. aufzufinden , verbreiten sich die belehrenden 
Miüheiiungen des Hrn. Prof. Orelli, der bei dieser Gelegenheit, 
veranlalst durch einige Angaben Poggi's über die von ihm gefun- 
denen Handschriften des Plautus, seine Ansicht über die kritische 
Behandlung dieses Autors mittheilt, die wir um so mehr hier 
anführen wollen, da wir bei Gelegenheit der Ausgaben des Bac- 
chides von Herrn Prof. Bitsehl dieses Punktes mehrmals gedacht 
haben. Herr Prof. Orelli nämlich nimmt eine vierfache Abstufung 
oder Classification der Handschriften des Plautus an ; vor 1429 
seyen in Italien blos Handschriften der acht ersten Stücke gewe- 
sen, welche nun die erste Classe (A) bilden, zu welcher auch 
die Wolfenbüttler Handschrift bei Bothe gehöre. Im Jahr 1429 
kam nach Rom der Codex Nicolai Treverensis mit sechszehn 
Stücken , indem vier Stücke (Curculio, Casina , Cistellaria, Fpi- 
dicus) fehlen , deren Lesart sich auf die Autorität der ersten Classe 
A stützt; eine Abschrift dieser oder einer ähnlichen sey die Pfal- 
zische (jetzt Heidelbergische) Handschrift, welche die 19 letzten 
Stücke enthält, und somit dieser zweiten Familie (B) angehört 
(ob wohl auch die andere grofsere, noch in Born befindliche alto 
Pfälzische Handschrift?); eine dritte Classe (C) bilden die nach 
»4*9 geschriebenen Codd. und die Editt. prineipes , gemischt aus 



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104 Komische Literatur 

den beiden andern Classen oder aus A und B. Eine vierte, ei- 
gene Classe bildet das Ambrosianische Palimpsest. Was demnach 
für die Kritik des Plautus nun zu thun sey , spricht der Verf. in 
folgenden Worten aus S. 9 : » Sed nulla prorsus Plauto Salus ferri 
potest, nisi xpfocc ejus de integro instituta erit. Ante orania 
opus est, ut praestantior aliquis codex veteris Plaut i (A) fidel iter 
exprimatur , eique varietas solorum faroiliae A Codicum subjunga- 
tur: idem faciendum in familia B, ut si fieri potest, investigetur 
Cod. Treverensis postea Ursinianus vel saltem Optimum aliquod 
ejus exemplar. Benovandus, quantum ejus condicio patietar, Co- 
dex Ambrosianus Palimpsestus idemque separatim edendus: inqui- 
rendum deinde, utrum in quattuor fabulis prioribus exstent Codd. 
aec. XV et Edd. vett. mixtum ex familiis A et B contextoro ex- 
hibentes: tum denique in editione vere critica e trium familiär um 
A B D varietat e (nam familiae C nulla fere est auetoritas) et e 
conjecturis V. V. D. D. nova recensio artis legibus satisfactora 
constitui poterit. Vides igitur minimum quattuor editiones di- 
plomaticas requiri , priusquam nepotibus nostris Plauti lectione 
vere f rui licebit. « Diese Worte können immerhin zeigen , wie 
viel noch für die Kritik des Plautus zu thun ist und wie wenig 
Ersprießliches im Ganzen hisher noch dafür geschehen ist, wenn 
man von den bereits genannten Versuchen des Hrn. Prof. Bitsehl 
und Einigem Andern absieht. In wiefern es möglich seyn wird, 
den oben gestellten Anforderungen in ihrem ganzen Umfange zu 
genügen, mag die Zeit lehren; immerhin aber wird es gewifs 
fruchtbringender und ersprießlicher seyn , bei der Kritik des Plau- 
tus vorerst mehr auf die Handschriften und zwar auf die älteren 
zu sehen, als dies bisher der Fall war, und den von Hrn. Prof. 
Orelli bezeichneten Weg einzuschlagen , nicht aber in Verviel- 
fältigung der bisherigen Textesabdrucke und Wiederholung der 
alten Ausgaben Zeit, Kräfte und Mittel zu verschwenden. 

Auch über die vorgeblichen Hoffnungen des Poggius, einen 
ganzen Livius oder Cicero De republica oder des Plinius Werk 
über Deutschland und die darin geführten Kriege der Römer, 
zu gewinnen und irgendwo aufzufinden, erhalten wir in diesem 
Programm noch einige weitere Mittheilungen; den Schlufs bildet 
ein erneuerter Abdruck der beiden herrlichen, in ihrer Art ge- 
wifs unübertrefflichen (darum wohl auch von Shepherd in dem 
Leben des Poggi p. 58 (T. der französischen Übersetzung wort- 
lich aufgenommenen) Briefe desselben Poggi, von denen der 
eine die letzten Schicksale des Hieronymus von Prag auf eine in 
der That erhebende, und im Ganzen, mit wenig Ausnahmen, par- 
teilose Weise erzählt , der andere aber eine äusserst anmuthige 
Schilderung des Lebens in den warmen Bädern zu (Schweizerisch) 
Baden, des gemeinschaftlichen Badens daselbst, der dort üblichen 
Unterhaltung und Belustigung u. dgl. m. enthält , die zumal aus 
der Feder eines Italieners gewifs recht anziehend für uns ist. 



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DM nächste Programm zu den Winter Vorlesungen (i835 — 
i836) enthält von demselben Verfasser und unter demselben Ti- 
tel : Index Uctionum etc. etc. 

I. M. Tullii Ciceroni* in P. l'atinium Interrogatio. 11. Specimen Codd. 
Turicensium et Kinsicdlensium. Turici ex offxc. Ulrickiana MDCCCXXXF. 
22 £ und 8 S Faaimile'* der Handechriften. 

Dieses Programm läfst sich in seinem ersten Abschnitte als 
ein Nachtrag zu der auch in diesen Blättern (i836 pag. qo3 ff.) 
angezeigten Ausgabe einer Auswahl von Reden des Cicero be- 
trachten, in welche die Vatiniana nicht aufgenommen werden 
konnte. Dann soll aber auch dieser erneuerte und berichtigte 
Abdruck der genannten Bede als Probe einer neuen, minder um- 
fangreichen , aber desto berichtigteren Ausgabe der Werke Cice- 
ro's , welche der um diesen Schriftsteller so hochverdiente Kriti- 
ker beabsichtigt, gelten. Benutzt zur Gestaltung des Textes wur- 
den ausser den in einem Programm vom Jahr 1 834 enthaltenen 
Bemerkungen Madvigs zu dieser Bede und den darin gleichfalls 
mitgetheilten Varianten einer Pariser Handschrift, eine Berner, 
die der Herausgeber aufs neue verglich , ferner die Erfurter und 
Vaticana und die Ascensiana Editio v. i53i. Unter dem so be- 
richtigten Texte stehen die Abweichungen von Ernesti und die 
Lesarten der genannten Handschriften, auch wohl mit einzelnen 
Bemerkungen begleitet , unter denen wir nur beispielshalber auf 



aufmerksam machen wollen. Auf den Abdruck' der Rede folgen 
Nachrichten über eine Anzahl alter und wichtiger Handschriften 
zu Zürich (wohin sie zum Theil von St. Gallen aus gekommen 
sind) und zu Einsiedfen , aus dem achten , neunten und den fol- 
genden Jahrhunderten. Diesen Nachrichten sind auf vier grofsen 
Quartblättern trefflich ausgeführte Facsimile's der in diesen Nach- 
richten aufgeführten und beschriebenen Handschriften beigefügt. 



Das dritte Programm oder der Index Lectionum für das 
Sommersemestcr i836 enthält 

Jo. Caep. Orcllii Lcctiones Petronianae. Turici, es oßteina Ul- 
_ riehiana MDCCCXXXVL 28 S. in 4. 

Es sind genaue Zusammenstellungen verschiedener Lesarten 
des Petronius, begleitet mit kritischen Bemerkungen und Verbes- 
serungsvorschlägen, die bei einem Autor, für den seit der Mitte 
des vorigen Jahrkunderts in kritischer Hinsicht gar Nichts ge- 
schehen ist , und der in Sache wie in Sprache so manche Schwie- 
rigkeit darbietet, doppelt erfreulich seyn müssen, zumal da Herr 
Prof. Orelli sich nicht zur Herausgabe eines Pal ronius, wie wohl 
zu wünschen wäre, entschlossen hat. 




von Partes d. i. Actien, 



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106 Römische Literatur. 

Hern Dr. G. IS. A'Iau»cn, Professor und Rettor des königl Chri- 

slianeum in Altona etc. , am 22. Mai 1836 gewidmet von Dr. K. L. 
Struvc, Director dee altstädtischen Gymnasium in Königsberg. Kö- 
nigsberg, gedruckt in der Uartung'schen Hof buchdruckerei. 15 8. 8. 

AU einen Nachtrag zu der durch eine gleiche Veranlassung 
hervorgerufenen (i836) S. 725 ff. dieser Jhrbb. angezeigten Schritt 
glauben wir auch dieses Programm nennen zu dürfen, das neben 
den personlichen Beziehungen zugleich einen wissenschaftlichen 
Gehalt durch die Bemerkungen erhalten hat, die der Herr Vf. über 
eine Anzahl Horazischer Stellen beigefugt hat, deren Unächtheit 
hier mit Bezug auf die bekannte Recension Peerlkamps bespro- 
chen wird. So wird als eine solche Stelle, die bei näherer Be- 
trachtung als unächt, mithin als untergeschoben erscheint , Od. 
IV, 8, 17. bezeichnet; als verdächtig werden ferner bezeichnet 
die Strophen IV, 4, 18 — 22. III, 17, 5 — 8. III, 11, 17—20. 
I, 2, 9 — 12 oder III, 4, 69 — 72; sie enthalten meist historische 
oder mythologische Notizen, die seit Horatius Schulautor gewor- 
den und in die Hände gelehrter Grammatiker gefallen war , leicht 
eingefügt werden konnten , eben darum aber auch , unbeschadet 
des Sinns und der Verbindung, wieder ausfallen können. Ein 
solches, weiteres Einschiebsel wird denn auch in Od. IV, 4» 61 
— - 65. erkannt. 

Bei dieser Gelegenheit wollen wir auch nachträglich auf die 
schone Rede aufmerksam machen , welche derselbe Herr Verfasser 
am Jubelfeste der Obergabe der Augsburgischen" Confession am 
26. Juni i83o gehalten und welche später als Einladungsscbrift 
zu den Prüfungen des Altstädter Gymnasiums (Honigsberg i833. 
32 S. in gr. 4.) im Druck erschienen ist. Inhalt und Form zeich- 
nen diesen Vortrag in jeder Hinsicht aus. 



Dbcr den Strafsenzug der Peutin gersehen Tafel von Vindonissa nach Sa- 
mulocenis und von da nach Regino. Von August Pauly, Professor 
der alt. Lit. am Ober- Gymnasium zu Stuttgart, des königl. wärtemb, 
Vereins f. Vaterlandskunde ordentl. und d. archdol. Vereins zu Rotvoeü 
corresp. Mitglied. Stuttgart, gedruckt bei d. königl. Hof- u. Kanzlei- 
buchdruckern , Gebrüder Mäntler. In Commission der Metzler'schen 
Buchhandlung. 33 5. in gr. 4. JVe6tt einer Karte. 

Der Gegenstand, den diese Schrift behandelt, gehört zu de- 
nen, welche, ihrer eigentümlichen Schwierigkeit wegen, vielfach 
in der neuerer Zeit die süddeutschen Alterthumsforscher beschäf- 
tigt , ohne jedoch zu einem befriedigenden und sichern Resultate 
bisher geführt zu haben ; denn es galt hier , einen Strafsenzug , 
dessen Anfangs- und Ausgangspunkte allein sicher waren , eine 
Strecke von wohl hundert Meilen hindurch im Einzelnen nachzu- 
weisen, während die auf jenem Strafsenzuge, wie ihn die Peutin- 
gersche Tafel angibt , verzeichneten einzelnen Orte innerhalb der 
beiden bemerkten Endpunkte, keineswegs in ihren Benennungen 



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irgend eine Ähnlichkeit mit jetzigen Orten in dieser Richtung 
darboten, noch weniger aber alte Denkmale der R5merzeit selbst 
nns Ton diesen Orten Kunde geben oder nur auf eine nähere und 
sichere Spur der auf diesem Strafsenzuge nach den einzelnen Di- 
stanzen bezeichneten Orte fuhren konnten. Die natürliche Folge 
davon war, dafs man sich durch Verrauthungen zu helfen suchte, 
die aber, eben weil sie der festen und sichern Basis ermangelten, 
meist mehr oder minder verunglückt ausfallen mufsten und den 
Gegenstand selber in der That fast mehr vet wirrt und verdun- 
kelt, als aufgebellt haben. Um so nothiger war daher eine neue 
Prüfung und eine streng kritische Untersuchung des GcgensUn- 
des, die auf fester und sicherer Grundlage, das Unsichere und 
Ungewisse ausscheidend, damit zugleich das, was nach den vor- 
handenen Forschungen und nach aufgefundenen Resten römischer 
Bauwerke als sicher und wahr sich zur Erläuterung des auf jener 
Tafel angegebenen Stralsenzugs herausstellt, nachweise, und die 
wissenschaftliche Forschung so bis auf den äussersten Punkt führe, 
von wo aus nur durch die Ergebnisse neuer Funde der Gegen- 
stand weiter fortgeführt und aufgeklärt werden kann. Eine sol- 
che Untersuchung haben wir durch die vorliegende , den Gegen- 
stand allerdings erschöpfende Schrift erhalten, insofern nicht neue 
Thatsachen , aus dem Schoofse der Erde hervorgerufen , neue 
Aufschlüsse über das bringen werden, was der Verf. nach den 
vorhandenen Daten als problematisch ausscheiden und damit dem 
Reiche der Verrauthung uberlassen mufste. 

Der Verf. zeigt uns zuvörderst, wie und warum die bis- 
herigen Versuche, jenen StraPsenzug in der jetzigen Localität 
aus/u mittel n und nachzuweisen, schon darum scheitern in nisten, 
weil sie von durchaus falschen Voraussetzungen ausgingen, wie 
dies z. B. bei Mannert der Fall war, der, gleich Andern, von 
dem Satze ausgehend, dafs die Donau Gränzflufs der römischen 
Herrschaft gewesen, diesen Strafsenzug auf der rechten Donau- 
seite suchen wollte, und sich dadurch zu grundlosen Annahmen 
genöthigt sah , oder in Widersprüche sich verwickelte , die auf 
das ganzlich Verfehlte v und Mifsglückte des Versuchs hinreichend 
aufmerksam machen konnten. Weit richtiger sahen die, welche 
diesen Strafsenzug auf der linken Seite der Donau suchen woll- 
ten : wefshalb der Verf. auch das Verdienstliche der Forschungen 
eines Herrn v. Stichaner, Leichtlin, mit Gebuhr anerkannt bat. 
Des Letztern Untersuchungen waren es, die den Grund weiterer 
Forschung legen mufsten : denn er hatte nachgewiesen , dafs von 
Windisch aus die nordliche Richtung nach dem Neckarthale ein- 
zuschlagen war, über Burg bei Zurzach , Stühlingen , Hüfingen 
in die Nähe von Rottweil , wo die Arae Flaviae nun nach so 
reichen Entdeckungen nicht mehr zu bezweifeln sind ; dann wei- 
ter zu dem von Leichtlin nur geebneten, jetzt ebenfalls urkund- 
lich bestätigten Samulocennis , d; i. Rottenburg. Die weitere 
Strecke von da nach Regensburg ward muthmafslich bestimmt 
und daher auch manchen Einwürfen ausgesetzt. 



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108 Römische Literatur. 

Ungeachtet dieser Bestimmungen verliefs man nachher wie- 
der diese Bahn; Herr Prof. Pauly sucht deshalb insbesondere die 
entgegengesetzte Ansicht Oken's zu widerlegen , die zu ähnlichen 
Widersprüchen und Unrichtigkeiten wie Mannert's Meinung fuhrt, 
und es zeigt seine Widerlegung dieser Ansicht zur Genüge, dafs 
der auf der Peutingerschen Tafel angegebene Strafsenzug von 
Yindonissa oder Windisch nach Reginutn nicht den directen Ver- 
bindungsweg zwischen beiden Orten darstellen konnte, zumal für 
die wirkliche Donaustrafse die Zahl der Millien zu bedeutend ist 
und dabei auch das auf der Tafel nicht genannte Augsburg nicbt 
fuglich umgangen werden konnte. Man mufs also einen Bogen 
nördlich von der Donau schlagen und der oben bezeichneten, 
von Leichtlin schon bestimmten Richtung bis Samulocennis folgen, 
dessen Existenz durch neue Funde in der Nähe des heutigen Rot- 
tenburg am Neckar ausser Zweifel gesetzt ist. Bis hierher un- 
terliegt die Richtung des Zugs keinem weiteren Zweifel ; von da 
aber bis Reginum oder dem diesem zunächst liegenden Iciniacum 
(Itzing) sind wir auf Muthmafsungen beschränkt, da von Rotten- 
burg drei Strafsenzüge auslaufen, die sich bei Bopfingen vereini- 
gen und weder Alterthumer , an Ort und Stelle aufgefunden« 
noch Ähnlichkeiten der heutigen Ortsnamen mit den auf der Tafel 
angegebenen, uns hier mit Sicherheit auf die wahre Strafse fuh- 
ren können. Grinarione in dem heutigen Kannstadt zu suchen, 
hat gcwifs Manches für sich , mehr , wie wir glauben , als wenn 
man in die Nähe von Pforzheim zurückgehen und in den in des- 
sen Nähe entdeckten romischen Niederlassungen den Ort suchen 
wollte. , Nur neue Funde, die wir hoffen und wünschen, werden 
über diese Punkte ein befriedigendes Licht zu weifen und unsere 
Zweifel zu läsen im Stande seyn. 

Ref. hat , indem er die Hauptrcsultate dieser gründlichen und 
darum so befriedigenden Untersuchung in der Kürze angedeutet 
bat, Manches Andere übergangen, was man in der Schrift selber 
näher und nicht ohne manmebfache Belehrung nachlesen wird. 
Dahin geboren auch die Bemerkungen und Ansichten des Verfs 
über das merkwürdige Document selber, das die Veranlassung zu 
der ganzen Untersuchung gegeben hat, S 27 ff» Er hält nämlich 
nicht Viel auf Mannerts Gründe, wornach die Abfassung der Peu- 
tingerschen Tafel oder vielmehr des Originals , wovon diese die 
Copie ist , unter Alexander Severus fallen soll ; er hält es über- 
haupt nicht leicht für möglich, das Alter der Tafel zu bestimmen, 
da Altes und Neues auf merkwürdige Weise zusammengetragen 
sey; indefs sey es ihm wahrscheinlich, dafs die Tafel einer Zeit 
angehöre, wo die Donau Reichsgränzc gewesen: eine Ansicht, 
die wir, anderer Ansichten über die Zeit der Abfassung der Ta- 
fel zu geschweigen (s. meine Rom. Lit. Gesch. §. 327), mit der 
von Eichhorn (Deutsche Staats, u. Rechtgescb. I. p. 114 der 4. 
Ausg.) aufgestellten Behauptung nun zusammenhalten , dafs näm- 
lich die Tafel die Gestalt, in der sie auf uns gekommen, nicht 
früher als in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts habe 



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Uoroi.che Literatur. 



erhalten können, und dafs sie in eine Zeit gehöre, wo das römi- 
sche Vorland in Germanien schon aufgegeben worden. Übrigens 
hält Herr Pauly die Tafel nicht sowohl für eine Landkarte , als 
vielmehr für eine Tabelle in Form einer Landkarte, und darum 
hält er auch Mannerts Behauptung , dafs wir in der Tafel eine 
Copie der auf Befehl des Augustus durch genaue Messungen zu 
Stande gebrachten grofsen Reichskarte besäfsen, für unwahrschein, 
lieh oder vielmehr für unverträglich mit der gegenwärtigen Be- 
schaffenheit der Harte, indem aus den Aufnahmen der Romer 
gewifs eine bessere Landkarte, als die, welche wir jetzt besitzen, 
voll von manchen groben Fehlern und Irrthümern , hätte hervor- 
gehen können. Er sagt S. 29 : » Das Verfahren der Letzlern ist 
kein, die Gegenstände verzeichnendes, sondern blos ein andeu- 
tendes. In die allerdings sinnreich angelegte, aber höchst seltsam 
in die Lance gezogene Länderconstruction worden nun, so gut 
sichs thun lief» , Distanzen aus den vorhandenen Itinerarien ein« 
getragen und die Orte ohne sorgfaltige Vergleicbung mit ihrer 
wirklichen Situation oder ohne Kenntnifs derselben, angesetzt.« 
Mannerts Annahme unterliegt allerdings manchen Bedenken, wäh- 
rend andrerseits es sich wohl erklären läfst , wie man , nachdem 
schriftliche Itineraria , eine Art von Guides zu militärischem Ge- 
brauche zunächst bestimmt, und die Entfernungen der einzelnen 
Stationen von einander angebend, aufgekommen waren, dann auch 
weiter darauf verfiel , diese Ortsverzeichnisse mit ihren Entfer- 
nungen auf eine Art von Karte einzutragen, die das Ganze noch 
mehr zu versinnlichen und zu veranschaulichen fähig war. Vgl. 
Krause in Büschin gs wochentl. Nachrichten IV, 4. p. 235. 

Für das beigegebene nette Kärtchen, auf dem alle alten, 
römischen Strafscnzüge durch Schwaben genau angegeben und 
alle Orte , die sicheren sowohl als die unsichern und bezweifelten 
(durch besondere Zeichen kenntlich) möglichst genau verzeichnet 
sind , hat man dem Verf. alle Ursache zu danken. 



Die beiden 

Karten der westlichen und östlichen Hälfte des Römischen Hcichs 
mit beigefügten ' Warnen der neuen Geographie, von Dr. Georg Lau- 
teschläger, Grofsh. Hess. Hofrath. Verlag von C. W. Leske in 
Darmstadt. 

kann Ref. als ihrem Zweck entsprechend, als nutzlich und brauch- 
bar beim Unterricht in der alten Geographie (wo solcher beson- 
ders ertheilt wird) oder zum Privatgebrauche bei der Leetüre 
der Alten empfehlen : wozu die jedem Orte beigefügten jetzigen 
Benennungen gewifs recht dienlich sind. Stich und Ausführung 
der Karte auf Steindruck ist sehr befriedigend ausgefallen. 

Chr. Bäh r. 



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MATHEMATIK. 



Des Apollonius von Perga zwei Hücker vom Ferhältnifsichnltt (de sectione 
rationis). Aus dem Lateinischen de* IIa Hey übersetzt und mit Anmer- 
kungen begleitet und einem , Anhange versehen von August Richter. 
Mit 4 Tafeln Figuren. Elbing , Druck und Verlag von F. W. Neu- 
mann-Hartmann. 1836. 8. XXXU u. 143 S. 

Die Schrift des Apollonias de sectione rationis ist nicht in 
der Ursprache , sondern nur in einer arabischen Übersetzung er- 
halten. Der codex ins., der diese Übersetzung mit mehreren! 
andern enthält, gehörte früher dem bekannten Gelehrten Seide- 
nus, und kam 1659 mit den übrigen Ms s. dieses Mannes durch 
Schenkung in die Bibliotheca Bodleiana zu Oxford. Dies ergiebt 
sich aus dem Catalog die er Bibliothek (Oxonii, 1697, toi.) , io 
dem die Handschrift S. i5-, Nr. 3 140 mit der Inhaltsangabe: 
v Apollonius de Sectione linearum secundum proportionem , cum 
aliis scriptis Mathematicis, Arab. « aufgeführt wird. Aus dem 
Umstände, dafs Seldenus den Codex besessen hat, darf man wohl 
rückwärts schliefen , dafs die Handschrift eine lange Zeit in den 
Händen der Orientalisten war , und so ist es nicht zu verwun- 
dern, dafs die Mathematiker über den Verlust der Apollonischen 
Schrift klagen konnten , während sie sorgfältig aufbewahrt wurde. 
Unter den Mathematikern war Eduard Bernard (geb. i638, gest. 
1697) der erste, der von dem Vorhandenseyn der Handschrift 
Kenntnifs erhielt und zugleich die zur Benutzung ndthigen Sprach- 
Kenntnisse inne hatte. Bernard war schon im J. 1668 nach Lei- 
den gereist , um von einer dort befindlichen arabischen Hand- 
schrift des 5ten , 6ten und -u-n Buches der Kegelschnitte des 
Apollonius eine lateinische Übersetzung zu verfertigen ; welches 
Vorhaben jedoch nicht zur Ausführung kam, wohl deshalb, weil 
er von der Übersetzung derselben Bücher, welche Ravius in Kiel 
am diese Zeit drucken liefs (sie kam 1669 heraus) Nachricht er- 
halten hat. Desto erfreulicher mufste für ihn, nachdem er 1673 
alt Professor der Astronomie nach Oxford gekommen war, der 
Fund in der Bibl. Bodlei. seyn ; er machte sich auch daran , eine 
lateinische Übersetzung der Schrift auszuarbeiten, liefs jedoch, 
nachdem er kaum den zehnten Theil übersetzt hatte, die Sache 
wieder fallen. Dies mufs schon vor 1684 gewesen seyn : denn 
schon einige Zeit vorher hatte Bernard alle Freude an der Astro- 
nomie und Mathematik verloren und der Theologie sich zugewen- 
det ; und uro 1684 legte er endlich seine Professur nieder. Nach 
•einem Tode (1697) kamen seine Papiere in die Bibl. Bodleiana, 
und dadurch war die angefangene Übersetzung gerettet. Ein 
Fortsetzer wollte sich jedoch nicht sobald finden : denn Gregori, 
dem Bernards Arbeit übergeben worden, liefs es bei einigen 
Verbesserungen bewenden. Endlich kam jedoch Edmund Halley 
(geb. i656, gest. 1742), welcher nach VVallis's Tode 1703 die 
Professur der Geometrie in Oxford erhalten hatte, an die Sache. 



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III 



Dieser, ein rüstiger Geist, der uberall mit kräftiger Harn] an- 
und eingriff, wo er nfitzen konnte, lief» sieb durch den € bei- 
stand, dafs er erst das Arabische lernen mufste, and sich durch 
die Schwierigkeiten eines schlecht geschriebenen Codex dm abzu- 
arbeiten hatte; nicht abhalten, sondern übersetzte die noch feh- 
lenden neun Zehntheile, verbesserte, wo im Codex Fehler, er« 
gänzte, wo Lücken waren, und gab das Ganze 1706 heraus. 

Diese Apollonius-Halley'sche Arbeit giebt Herr Richter in 
einer deutschen Übersetzung. Obwohl man den Gedanken, des 
Griechen Arbeit treu wiedergegeben zu finden, völlig aufgeben 
mufs, so mochte die deutsche Arbeit dennoch als eine willkom- 
mene Gabe zu begrüTsen seyn , aus der zweifachen Ursache : weil 
aus den Gründen, welche Hallt- v , und nach diesem Herr Richter, 
für die Acht hei t des Werkes anfuhrt, das wenigstens mit Zu ver- 
siebt anzunehmen ist, dafs man das Werk des A pol Ion ins der 
Hauptsache nach habe ; und weil die HalJey'sche Übersetzung nur 
sehr schwer zu bekommen ist. Es wird jetzt jedem , dem es 
um eine historische Ausbildung zu thun ist, leicht möglich, über 
den Gegenstand und die Behandlungsweiso sich zu unterrichten, 
und dies genügt. 

Wenn in einer ebenen Fläche zwei gerade Linien gegeben 
sind, in jeder derselben ein Punkt, und ausserhalb derselben, 
aber in der ebenen Fläche, noch ein dritter Punkt festgesetzt ist, 
und wenn durch diesen dritten Punkt eine gerade Linie angenom- 
men wird, welche den zweien anderen begegnet, so ergeben steh 
in erstem zwei Linien zwei Segmente, jedes von dem festgesetz- 
ten bis zum Durchschnittspunkte gerechnet. Die Gröfse dieser 
Segmente ist von der Lage der dritten oder schneidenden Linie 
abhängig, wenn alles übrige, einmal festgesetzt, unverändert bei- 
behalten wird. Deshalb kann eine Reihe von Aufgaben, welche 
bestimmte Bedingungen für die Lage der dritten Linie enthalten, 
aufgestellt werden, z. B. : die dritte Linie so zu ziehen, dafs das 
Produkt aus den zwei Segmenten, als Ausdruck für den Inhalt 
eines Rechtecks genommen , einem gegebenen Rechteck gleich 
werde; oder: die dritte Linie so zu ziehen, dafs das Verhältnifs 
der zwei Segmente einem gegebenen Verhältnifs gleich werde ; 
oder : die dritte Linie so zu ziehen , dafs irgend eine (bestimmt 
zu nennende) Function der zwei Segmente einer gegebenen ent- 
sprechenden Gröfse gleich werde. Die zweite der hier genann- 
ten Aufgaben ist der Gegenstand der vorliegenden Schrift. 

Behufs der Auflösung betrachtet Apollonius viele einzelne 
Falle , deren Unterscheidung sich leicht darbietet , zugleich aber 
auch ein sicheres Mittel ist , um nichts zu ubersehen und der 
Gefahr auszuweichen , allgemeinen Sätzen eine weitere Bedeutung, 
als logisch zulassig ist , beizulegen. Hinsichtlich der Lage der 
zwei gegebenen Linien sind zwei Fälle möglich: die parallele, 
und auch jene Lage, bei welcher ein Durchschneiden stattfindet; 
weiter ist rucksichtlich der zwei Punkte, welche in den Linien 
Torausgesetzt sind, eine Mannichfaltigkeit von Fällen untersebeid- 



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112 



Mathematik. 



bar; dazu kommt noch die Möglichheit verschiedener Stellungen 

des dritten Punktes, und endlich in jedem Falle die Möglichkeit 
mehrerer Lagen für die schneidende Linie. Die Einzelnbeiten 
dieser grofsen Mannigfaltigkeit hält nun Apollonius dadurch fest, 
dafs er das Ganze in verschiedene Aufgaben vertheilt und bei 
jeder Aufgabe wieder die einzelnen möglichen Fälle anfuhrt. 

Ausser dem Texte hat Herr R. auch Halley's Anmerkungen 
in der Übersetzung raitgetbeilt. Unter diesen sind besonders jene 
wichtig, in welchen Halley das von Apollonius behandelte Pro- 
blem nochmals vornimmt und die Gesammtheit der Einzelfalle 
auf drei reducirt. 

Zugleich hat Herr R., der schon bei der Wiederherstellung 
der Apollonischen Schrift de sectione spatii seine .Bekanntschaft 
mit der Metbode der Alten dargethan hat, uberall, wo es nÖthig 
schien, eigene Bemerkungen beigefugt, theils zur Berichtigung, 
theils zur Ergänzung. Dafs er dabei einen interessanten Beitrag 
zu geben unterlassen, soll hier zwar ausgesprochen, jedoch ihm 
nicht zum Vorwurf gemacht, sondern nur in der Absicht erwähnt 
werden, damit irgend jemand vielleicht zum Versuche einer Aus- 
fuhrung Veranlassung nehme. Nämlich das Problem, wie es Apol- 
lonius gefafst hat, ist ein specieller Fall; allgemeiner genommen 
müfste es so gestellt werden: Es sind zwei gerade Linien, die 
nicht in einer Ebene liegen, und in jeder derselben ein Punkt 
gegeben; ausser den Linien ist noch ein dritter Punkt gegeben, 
und ein Verhältnifs : man soll durch den dritten Punkt eine Ebene 
legen, welche die zwei Linien so schneidet, dafs das Verhältnifs 
der Segmente dem gegebenen Verhältnifs gleich ist. Die Auf- 
losung dieses Problems, rein geometrisch und einfach gehalten, 
ohne Calcul, wurde natürlich auch die Auflosung des Apolloni- 
schen Problems enthalten , und es wäre ein höherer Vereinigungs- 
punkt für eine grofsc Masse von Einzelnheiten gefunden, anderer 
interessanter Gegenstände nicht zu erwähnen , die sich dabei not- 
wendig darbieten würden. 

M iille r. 

» 



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N\8. 1JEIDI I BERGER . i887. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

t * 

- 

Die Religion der Römer nach den Quellen dargestellt von J. 4, Bar- 
tun g. Erster Theil Erlangen, bei Palm und Enke. 1836. XVI und 
320 S. Zweiter Theü. Ebendas. 1886, mit dem Register. 298 & gr. 8. 

Der Zusatz: »nach den Quellen dargestellt« enthält die Erklä- 
rung der Unabhängigkeit von den Vorarbeitern. Und wirklieb 
sind die wenigsten Hilfsmittel auch nur erwähnt, z. B. das ältere 
Werk des Dallaeus de cultibus religiosis Latinorum Genf 1671. 
Benjamin Constant Du Polytheisme Romain Paris 1 833. 2 Voll., 
Spangenberg de veteiis Latii reügionibua Güttingen 1806; Frand- 
sen Haruspices, Berlin i8a3; Thorlacius de privatis Romanorum 
sacris, Kopenh. 1823 ; Jaekel de Diis domesticis priscorum Italo- 
rum, Berlin i83ö. Doch da der Verf. sich nun einmal blos an 
die Quellen halten wollte, so will ich darüber mit ihm nicht 
rechten ; — wohl aber Tragen > warum er doch auf diesem dun« 
kelen Gebiete , wo jeder Lichtstrahl willkommen seyn mufs, meh- 
rere neugewonnene Quellen grofsentheils gar nicht oder sehr 
sparsam zu Rathe gezogen ? — wie die Werke des Fronto , die 
Mythographi Vaticani , die von Ph. Ed. Huschke zu Breslau 1829 
zuerst edirten und trefflich erläuterten: Incerli auctoris Magistra- 
tuum et Sacerdotiorum eipositiones ; des Jo. Laurent. Lydus Bü- 
cher de magistratibus rei publicae Rom.; dessen Fragmente de 
• ostentis; und warum er desselben Autors Buchlein de mensibus 
vett. Romanorum lange nicht gehörig benutzt bat , dessen ziem- 
lich neuer Verfasser doch manche von ihm selbst angeführte äl- 
tere romische Schriftsteller, die uns abgehen f excerpirt hat. 

Zu dieser beschränkteren Quellenbenutzung gehört auch die 
Vernachlässigung der bildlichen Denkmahle, deren Einsicht . 
heut zo Tage doch so sehr erleichtert ist. Auf dem jetzigen 
Standpunkt der Alterthumswissenschaft ist es doch wohl fast all- 
gemein anerkannt, dafs Archäologie und Mythologie untrennbar 
sind, und dafs eine Betrachtung altclassischer Religionen und 
Culte, welche die bildlichen Monumente von der Hand weiset, 
sich selber nicht nur der sinnlichen Anschauung, sondern auch 
einer Fülle von Aufklärungen beraubt, die allein von dorther zu 
gewinnen sind. 

XXX. Jahrg. 2. Heft. 8 



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114 Härtung : Religio» der Römer. 

Doch abgesehen von diesen Beschränktheiten mofs an on- 
serm Verfasser eine höchstlöbliche Selbstständigkeit, Terbanden 
mit grofser Wahrheitsliebe , gepriesen werden. In Wahrheit , 
Herr H. ist ein Selbstdenker, und sein Forschungsgeist kennt 
keine Autoritäten. Nirgends wird mit Vorliebe irgend einem 
grofsen Namen gehuldigt , sondern eine und dieselbe Notabilität 
der neuern Philologie gewinnt jetzt seinen Beifall , ein andermal 
trifft sie sein unumwunden ausgesprochener Tadel. Eine so männ- 
liche Unabhängigkeit verdient alle Ehre, und Ref. erweiset sie 
ihr mit wahrer Freude; und wenn er das Verdienstliche dieses 
Werkes, wo nicht im Ganzen, so doch in manchen Einzelheiten 
gern und willig anerkennt, so furchtet er Ton einem solchen 
Schriftsteller hinwieder auch den Verdacht oder Vorwurf der 
Partheilichkeit oder unreinen Absichtlichkeit nicht, wenn er sich 
ganz freimutbig im Voraus darüber erklärt, dafs er mit vielen 
Grundsätzen und Ansichten des Vcrfs. , ja mit dem Geist und 
Tone seines Buches grofstentbeils sich nicht vertragen kann. 

Herr H. ist ein tüchtiger Grammatiker , und hat davon in 
mehreren nützlichen und werthvollen Schriften bundige Beweise 
geliefert. Wenn er aber nun die Förderung der Mythologie und 
Religionsgeschichte zu sehr in blos grammatischen Forschungen 
sucht, so giebt dies seinem Buch eine grofse Trockenheit, die 
gegen die lebendige und seelenvolle Art, womit solche Gegen- 
stände behandelt seyn wollen, sehr unangenehm absticht. Mit 
den Zangen der Grammatik lassen sich wohl Gotter- und Heroen- 
namen und Cultusformeln ans Licht der Welt ziehen; aber am 
jene Wesen nun auch zu beseelen , sie in sprechende Handlang 
za versetzen , dazu gehören andere Kräfte. Solche aus Beseelung 
der Natur und aus den Bedurfnissen des Herzens geborne Wesen 
der antiken Religionen sollen vom Mythologen aus den Elementen 
jener Natur und aus der Denk- und Sinnesart der Vorwelt, die 
sie geglaubt und angebetet , aufs Neue ins Leben gerufen werden« 
Dazu gehört eine Gewandtheit des Geistes, ein Reproductiont- 
vermögen, eine Assimilationskraft, wie ich sie in diesem Buche 
mit Bedauern vermisse. Mit dem Heruberziehen von Parthien 
aus den sogenannten romischen Antiquitäten und mit der . : i leser- 
lichen Beschreibung von Cultushandlungen , wie sie hier, zum 
Theil sogar aus der Compilation des Maternus von Cilano , gege- 
ben werden , treten uns die Personalitäten des römischen Pantheon 
noch nicht anschaulich gegenüber; und ist uns noch nicht gehol- 
fen , wenn wir nun auch das Walten jener italischen Junonen and 



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_ 

Härtung : Religion Je* Römer * Hft 

das geisterhafte Leben und Thun jener Laren * und Penaten be- 
greifen, ja, so so jagen, mitempfinden wollen. 

Dies bangt mit einer andern Beschränkung zusammen, wo- 
durch sich der Verf. um viele Mittel einer tiefeien Erkenntnif» 
gebracht, indem er nämlich das Latinisch - nomische Religionige. 
biet von dem Etruskischen fast gänzlich abscheidet. Er gehört 
nämlich auch zu der in Deutschland jetzt ansehnlichen Classe der 
Neuerer, d. b. solcher Alterthnmsforscher, welche vermeinen, 
nicht für originell und selbständig gehalten zu werden, wenn sie 
irgend einen Einflufs des Orients auf griechische Länder und 
Dinge, und wenn sie Verzweigungen morgenländischer Götter- 
wesen, Mythen und Cultushandlungen mit den abendländischen 
anerkennen. Demgemäfs wehret auch unser Verf. jeden Gedanken 
an die ursprungliche Verschmelzung ägyptischer, phonicischer, 
pelasgischer und hellenischer Elemente mit den italischen hart- 
näckig ab, — während er doch andererseits sich recht empfäng- 
lich zeigt für die Aufnahme mancher Ergebnisse der neuesten 
orientalischen Sprachforschungen, und verschiedentlich Latinisch- 
Römische Worte und Namen aus dem Sanskrit herzuleiten nicht 
verschmähet. Überhaupt ist eine idlosynkratische Neigung zum 
Etymologisiron ein recht eigentlicher Charakterzug des Verfs. — 
Belege dazu werden sich im Verfolg, bei Betrachtung einzelner 
Sätze, ergeben. 

Denn genug im Allgemeinen , dessen weitere Ausführung ich 
absichtlich fallen lasse, einmal weil damit, wie die Sachen auf 
diesem Felde jetzt stehen, doch nicht viel ausgerichtet ist, und 
weil ich nicht schon wieder als ein Cicero pro domo zu sprechen 
scheinen jnöchte. Deswegen begnüge ich mich, Diejenigen, wel- 
che unsers Verfs. Grundsätze im Allgemeinen kennen lernen und 
sie mit meinen obigen Ausstellungen controliren wollen, auf fol- 
gende Stellen des ersten Theils dieses Werkes zu verweisen: 
I. S. 30. ia3. I. 244 ff. 280. 237 — 240. 269. 273 — 277. 279, 
294 fT. 3i2 ff. 

Mit Grondansichten des Herrn H. hängt die Behauptung zu- 
sammen , dafs Symbol nicht Bild, sondern Zeichen oder 
Pfand sey. S. 14 sagt er (und schon in der Vorrede S. VII f. 
hatte er diesen Satz eingeschärft): »Doch haben sie (gewisse 
Gelehrte) bei aller Sorgfalt, mit der sichs Einige derselben an- 
gelegen seyn liefsen, den Begriff und die Anwendung des Bildes 
zu erörtern , und die Bilder der Religion .von andern Bildern zu 
unterscheiden, nicht beachtet, was das Lexikon einen jeden lehrt, 



* 

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1 J 

116 . Härtung: Religion der Römrr. 

dafs nämlich das Wort ovpßoXov gar nie und nirgends Bild , son- . 
dern immer und überall nur Pfand oder Zeichen bedeutet. Der 
Unterschied zwischen beiden ist aber, mein' ich, sehr grofs. Denn 
das Bild wird durch einseitige Wahl geschaffen oder erhören, 
und durch einseitige Deutung errathen, das Zeichen aber beruht 
auf Einverstä'ndnifS oder Übereinkunft. « Um vom Letzteren zu- 
erst zu sprechen , so Sagt Aristophanes der Byzantier von Privat- 
gastfreunden , ifii6$evoi — an Herodiani Partitiones p. 286 Bois- 
son.): «welche vermittelst Siegeln und andern Symbolen 
mit einander verkehren können, ot xal 9tä fKppayldav mal ak- 
X&v avp$6X®v aXXtfXou, tivvavxui o^iiXtlv). Nun ist doch wohl 
ein Siegel etwas Bildliches, es zeigt uns beim Anblick ein Bild, 
und doch rechnet es der Scharfe Grammatiker durch den Beisatz 
andern zu den Symbolen. Ferner, ein Siegelbild ist doch wohl 
eine Sache der einseitigsten und eigensinnigsten Wahl, und doch 
wird es nicht blos einseitig gedeutet, sondern beiderseitig, vom 
Schreiber des Briefs und vom empfangenden Gastfreund, erra- 
then und anerkannt. — Wie vertragen sich hier mit des Verls. 
Definition Logik und Grammatik ? Ferner faeifst es , die Orphi- 
sebe, d. i. die alttheologische Lehrart sey symbolisch gewe- 
sen ; d. h. bildlich , wie wenn die sich selbst aufnehmende Schlange 
als da« Bild der Ewigkeit gebraucht wurde; wenn in derselben 
Lehrart der Begriff der sich unaufhörlich verjüngenden Zeit in 
verschiedenen Momenten, der Entstehung und des Bestandes, als 
* die Geburt und das Wachsen einer Schlange mit verschiedenen 
aus dem Zodiakus entlehnten Thiertbeilen aufgefafst wurde, so 
hief» das erstere dta avytßöXav , das letztere diu pt&iic&ly ovp- 
ßoXav lehren. (Proclus in Theolog. Piatonis I. 4. p. 9. Suidas 
in 'Op(pev<; und Eudocia Violar. p. 3i8.) Sind dies keine Bilder? 
ist dies keine bildliche Lehrart? — Aber, wird man einwen- 
den , von den Pythagoreern heifst es doch , und zwar zur Unter- 
scheidung von den Orphikern und Andern , sie hätten 9t6t t®v 
tlxnvav, durch Bilder, gottliche Personen und Dinge darge- 
stellt; wo also das Bildliche nicht mit: ovpßoXinmq oder mit Sia 
ovpßoXap bezeichnet wird (Proclus a. a. O.). — Es wird nicht 
damit bezeichnet , weil hier von der mathematischen Construction 
im Baum die Rede ist, wodurch die Pythagoreer Begriffe und 
selbst theologische Begriffe anschaulich machten , z. B. die Mut- 
ter der Gotter (Rhea) durch die mathematische Fignr des Cubos. 
Wenn aber dieselben Pythagoreer die beiden Bären am Polarkreis 
die Hände der Rhea nannten , so bemerkt Aristoteles (apud Por- 



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Hartwig Religion der Römer. • 117 

phvr. de Vit. Pythag. §. 41. p. 4a. Kust.), das sey symbolisch 
(avußoAixoc) — das heilst doch wohl bildlich oder sinnbildlich 
T gesprochen. Und wenn des Aristoteles Schüler Aristoxenus 
meldet, die Pytbagoreer hätten durch die Bohne (xrcm< ; >) einen 
gewissen Theil des thierischen Körpers angedeutet , so sagt der 
lateinische Berichterstatter (Gellius N. A. IV. 11 p. 286 Gronov.), 
das sey operte et symbolice geredet, d. h. pvoTixa rpönio ovp~ 
ßoXtxdc (Porphyr, a. a. O.) das heifst bildlich auf verborgene 
Weise > indem nun noch eine weitere Belehrung dazu gehört, 
um einzusehen , warum jenes vegetabilische Gewächs zur Bezeich- 
nung eines organischen Korpertheiles gewählt worden. — Ich 
denke, dies wird hinreichen, den Vf. von der Nichtigkeit seiner 
vermeinten neuen Entdeckung zu überzeugen und ihn gegen sein 
Lexikon mifstrauisch zu machen. Gelehrte non trepidant circa , 
Leiica , wie J. A. Ernesti sagte , sondern sehen sich hübsch in 
den Autoren selber um. 

Nach allgemeinen Betrachtungen über Religion, die Motive 
des religiösen Glaubens und der Cultusarten wird der zweite Ab- 
schnitt mit einer Erörterung der Begriffe Numeo und Deus er- 
öffnet, und wir lesen S. 3i f.: »Deus ist meistens noch lange 
nicht so viel als ein Heiliger: denn die Seele des Verstorbenen t 
wenn sie den Leib verlassen hatte, ward nach Verrichtung ahn. 
ücher Ceremonien , wie bei der Apotheose der Baiser, deus ge- 
nannt: deus hiefs ferner der unsichtbare Geleiter jedes einzelnen 
Menschen , der ihm von oben beigegeben war: deus bezeichnet 
sowohl ein gutes als auch ein schlimmes Wesen.« — Hier wäre hei 
mehrerer Umsicht ein höherer Standpunkt zu gewinnen gewesen. 
Ich mufs jetzt. auf das, was zum Porphyr, de vita Plotini p. i3o 
ed. Oxon , und in einer Anmerkung Symbolik I. S. i56 f. dritter 
Ausg. bemerkt worden, verweisen. Hier will ich den Appuleius 
(nicht Apuleius, wie Herr H. S. 57 und öfter schreibt, s. Ruhn- 
ken. Praefat. ad Appuleii Metam.) sprechen lassen (de deo Socrat. 
Tom. II. p. 1&3 ed. Bosscha.) : — nomine Manem Deum nuneu- 
pant. Scilicet honoris gratia Dei vocabulum additum est. Quippe 
tantum eos Deqs appellant, qui ex eodem numero iuste ac pru* 
denter yitae curriculo gubernato , pro numinibus postea ab homU 
nibus prodiii fanis ac caerimoniis vulgo advertuntur : ut in Boeo- 
tia Amphiaraus, in Africa Mopsus etc., und wie der Verf. S. 57 
selbst bemerkt, war ja Labeo vorzüglich der Führer des Appu- 
leius in diesen Lehren. — Wenn Herr H. (S. 56) selbst auf diese 
ältere Quelle mit den Worten hinweiset : »Aus Servias ( Aen. 

4 



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118 « Härtung : Religion der Römer. 

III. 168) entnehmen wir, dafs der Rechtsgelebrte Labeo eine 
Schrift über die Götter, welche ihren Ursprang aas 
Menschenseelen haben [Ich fuge aus dem Originaltext, der 
hier wohl hätte mitgetheilt werden sollen hinzu : sie war De Diis 
animalibus betitelt] verfafst, and unter denselben die Laren sowohl 
des Hauses (penates [?] ) als auch der Strafsen ( viales) verstanden 
hatte « , so bemerke ich , dafs aus dieser Schrift des Labeo auch 
ohne Zweifel die Stelle des Jo. Laar. Lydus (IV. 1. p. 17« Roe- 
ther.) über den Februarius als Trauermonat entlehnt ist, denn er 
wird dort zwar nur im Allgemeinen als Gewährsmann genannt, 
die sacra dieses Monats besogen sich aber grofsentheils auf Tod. 
tendienst und Geisterwesen. Wenn der Verf. kurz darauf fort« 
fahrt: vA pule jus, welcher nach deutlichen Sparen die Schrift 
des Labeo vor Aagen gehabt hat, überliefert uns folgendes Sy- 
stem von Geistern der Verstorbenen : Jeder Geist eines Verstor- 
benen, welcher umgeht, ist ein leraur: wenn er friedlich und 
wohltbätig im Hause waltet und den Nachkommen Sicherheit 
und Seegen bereitet, so heifst er lar [Es heifst aber im Original 
de Deo Socratis p. 688 sq. p. 1 5a Bossch. : Ex hisce ergo Le- 
rn uribus, qui posterorum suorum cur am sortitus placato et quieto 
numine domum possidet Lar dicilur familiär is , und von YVohltha- 
ten und Seegen ist nicht die Rede. Seegen verleihen die Pena- 
ten , Sicherheit und Ruhe die Laren , der Familie der Lar farai- 
liaris, welches Beiwort der Verf. ganz weggelassen hat]; wird er 
vom Bewufstseyn seiner Übelthaten gepeinigt and rastlos unter- 
getrieben [vielmehr in anstätem Umherschweifen wie in einer Art 
von Verbannung, incerta vagatione , ceu quodam exilio] zum nich- 
tigen Spuk für die Guten und zar Qual der Bosen, so nennt man 
ihn [meistens, plerique] Larva: ist er endlich indifferent [wenn 
es aber ungewifs ist, welches Loos einen jeden von ihnen betrof- 
fen, cum vero incertum est, quae cuiqae eoram sortitio evenerit], 
so wird er zu den Manengöttern gezählt.« Enthält diese classi- 
sche Stelle ein System, wie der Verf. selbst mit Recht sagt, 
und sie ist ja auch, fuge ich bei, vom Martianos Capella (IL 
162 — 164, wo man jetzt die Anmerk. des Fr. U.Kopp p. 217 sq. 
nachsehe) aufgenommen werden, so hätte sie wohl schon an dem 
Anfange dieses Abschnittes, nämlich S. 43 an den Anfang des, 
Manes übersebriebenen , §. 4. gehöret. — Doch über die oft sehr 
unsystematische Anordnung wollen wir mit dem Verf. nicht rech- 
ten. Er fährt fort: »Die Laren unterscheiden sich von den ge- 
meinen Manen wie in der katholischen Kirche die Heiligen von 



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Härtung: Religion der Römer. 119 

den Seligen: denn diese geniefsen ihren Zustand nur für sieb, 
jener Verdienst ist so überschwenglich, dafs es auch auf andere 
überquillt, c Wie vertragt sich dies mit der obigen ersten Stelle 
des Äppnlejus, wonach das Deus dem Manis beigesetzt worden 
seyn soll, honoris gratia und um sie den durch Apotheose öffent- 
lich göttlich verehrten Menschen gleichzustellen ; und wie ver> 
trägt sich ein solcher Manis Deus mit dem obigen Satze des Vfs.:' 
»Deus ist meistens noch lange nicht so viel wie ein Heiliger« — ? 
Einen andern Satz unsers Vei fs. S. 42 : » Diese Annahme macht 
erstlich den Grund begreiflich, durch welchen Varro veranlagt 
werden konnte, den Bang der Semonen so niedrig zu stellen« u. 
s. w. findet der ausserdem mit Herrn H. in diesen Punkte über- 
einstimmende Klausen (de carmine Fratrum arvalium Bonn. i836 
p. 04 ) bedenklich ; und ich verweise den Vf. überhaupt auf des- 
sen Äusserungen über die Herabsetzung des Varro. 

Es ist oben angedeutet worden, dafs in dieser ganzen Er- 
örterung ein Hauptpunkt verfehlt, und die Bedeutung der Pena- 
ten und der Laren nicht gehörig gesondert ist. So manches Gute 
und Richtige der Verl. (1. S. 60 f. vgl. S. 3oo und II. 49) über 
die Haus- und Stadt-Laren , von den Örtlichkeiten ihrer Vereh- 
rung, vom Juppiter Hercius, von heretum, heres und herus u. 
s.w. vorbringt, so hat er doch meines Bedünkens sich selbst den 
richtigen Einblick in diese Dinge durch hartnäckiges Abweisen 
aller griechischen Worte und Sachen verdüstert Daher er auch 
(IL 49), nachdem er doch kurz zuvor aus Festus angeführt hatte: 
» Hercius Jupiter intra conseptum domus cuiusque colebatur, quem 
etiara 3euro penetralem appellabant« gleich darauf in einer An- 
merkung sagt : » Vielleicht hat die lat. Form ursprünglich nicht 
Hercius sondern Hortius gelautet, und ist erst durch Vermengung 
mit ifxtlot in Hercius umgewandelt worden.« Hier stört ihn die 
juristische Formel de familia berciscunda so wenig wie andere 
Dinge. Es gebort die Vergleich ung mit der gesammten antiken, 
namentlich altdorischen ond jonischen Hausreligion dazu , um hier 
das Rechte zu treffen. Der Zets Ipxetoc hatte als Schutzgott 
neben dem schützenden Heros dem lar familiaris manchmal 
allerdings am kqxiov 9 an dem Zaune oder an der Ringmauer 
des Hauses sammt dem Hofe , seinen Altar , manchmal aber 
auch im Innern einer Kapelle, wie z. B. im Pandrosium. Doch 
hat Dionysius (A. R. I. 67. p. 169 Reisk.) die römischen Penaten 
richtig mit den ütoiq J pX fio#« der Griechen zusammengestellt; 
und wie die Bedeutung des Schutzgottes solchen Göttern ihren 



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120 Härtung i Religion der Römer. 

Platz am epxoq, oder k^nioy anweiset, so mufs sie folgerichtig 
dem Zeus- Juppiter als Penaten auch einen Altar im Innern des 
heiligen Hauses anweisen ; und darum nennet Festus a. a. O. den 
Juppiter Hercius auch Deus penetralis. Da ich hier in ausfuhr- 
liche Erörterung nicht eingehen bann, so verweise ich der Kurze 
wegen auf Stuarts Altert Immer von Athen I. p. 472. 481. 498 f. 
der deutsch. Übers, auf die Commentatt. HerodotL I. p. a32 sqq. 
und auf Raoul-Rochette Lettre a M. Panofka in den Annales de 
l'Institut de Francs III. p. 4i5 sqq. S. 61 beifst es: »Die lares 
praestites hüteten sowohl die Wohnungen als auch die Strafsen 
und Kreuzwege , nach dem doppelten Geschäfte aller Laren , so- 
wohl daheim als auch ausserhalb die Angehörigen zu beschützen. 
An diesen zwei Laren wird man um so gröfsere Ähnlichkeit mit 
den Dioskuren gewahren u. s. w. « Hier hätte man nun aber 
auch die verschiedenen Angaben des Nigidius (beim Arnobius III. 
41. p. i33 Orelli) über die Laren erwarten sollen; wo es heifst : 
»In diversis Nigidius scriptis modo tectorum domuumque custo- 
des, modo Curetas illos, qui occultasse perhihentur Joris aeribus 
aliquando vagitum , modo digitos Samothracios , quos quinque in- 
dicant Graeci Idaeos daetylos nuneupari.« obschon wir keines- 
wegs diese Zusammenstellungen alle zu vertreten gesonnen sind. 
Von den Dioskuren aber berührt unser Verf. zwar (IL 273) die 
Sage von ihrer Erscheinung und darauf erfolgter Verehrung nach 
der Schlacht am Regillus. Dagegen läfst er sich (IL 3i) so ver- 
nehmen : » Der freieren griechischen Religioo genügten kaum 
zwei Zeussohne mit ihrem unendlichen Reichthum ?on Kämpfen 
und Heldcnthaten, wo wir die einseitige römische bei Einem He- 
ros (dem Herkules) und Einem Mythus sich beruhigen sehen.« — 
Aber die Römer hatten doch auch den Cultus der Dioskuren ; 
hatte unser Verf. die alten amykläischen und alt - samothrakisebeu 
Elemente in den latinisch -romischen Religionen ins Auge gefafst, 
so würde er einerseits den Grund gesehen haben , warum die Ro- 
mer auf eine solche Sage verfallen konnten , andererseits sich die- 
ser letzteren Bemerkung über Herkules enthalten haben, obschon 
wir gerne zugeben, dafs die Römerreligion nicht jene epische 
Ausbreitung wie die griechische hatte. Es ist hier nicht der Ort, 
über den inneren Zusammenhang der Einsetzung von zwei Con- 
suln mit dem Cult zweier Dioskuren u. s. w. zu sprechen. Auf 
jeden Fall hätten die Dioskuren in einem Buche über die römi- 
sche Religion ein Capitel verdient. — S. 64: »Bei derjenigen 
ehelichen Verbindung, welche coemptio hiefs, kam die Braut mit 



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Härtung? Religion der Römer. 121 

drei Kauf'schillingen ins Haus des Bräutigams : den einen gab sie 
dem Gatten, den zweiten legte sie auf den Herd der Haaslaren, 
den dritten auf die nächste Kreuzung der Gassen für die oft ent- 
liehen Laren, womit sie ihre Rechte symbolisch erkaufte. Nonias 
p. 53i Merc.« Von der juristischen Handlung der coemtio 
sagt Nonias kein Wort. Jene rechtliche Eheschliefsung, per aes 
et libram genannt, hatte einen ganz andern Hergang. Auch kaufte 
die Frau den Mann nicht, noch Rechte auf den Mann. Jenes Dar- 
bringen von 3 Asses war eine blos symbolische, zu den Hoch- 
zeitfeierlichkeiten (das Rechtliche gar nichts angehende) 
gehörige Handlung. Jene juristische coemtio war eine Form der 
in manum conventio. (Grupen de uxore Romana p. s3i sq. vgl. 
Gau Institutt Commentar. I. 110.) Auch widerspricht schon, was 
(IL 88) nach Plutarch (Quaest. Rom. c. io5 aus dem Varro) er- 
zählt wird, jenem angeblichen Kaufen. — Nicht blos die Hbch- 
zeitgebrauche , sondern die altrechtlichen Formen des Eheschlus- 
ses machen aber ein bedeutendes Moment in der Religion der 
Romer aas, und hatten in ihren Gründen Betrachtung verdient. 
Das gleich folgende (nach Cato de r. r. c. 1 43. I. 144 Schneider) 
lautet im Original vollständig so: »Kalendis, Idibus, Nonis, fe- 
stus dies com erit coronam in focum indat. Per eosdem dies 
Lari familiari coronam in focum indat (villica) « Die Kaienden, 
Idus und Nonen waren der Juno, dem Juppiter and den Laren 
geheiligte Tage. Der Neumond (nascens luna) war aber nach 
dem alten Kalender identisch mit den Kälenden (s. die Ausleger 
p. 83 d. Schneider and Torrentias zum Horat Odarr. III. 23. 2.) 
S. 65. Mit der Erwähnung der Opfer und Gebete der Arvalbruder 
mufs das Gebet (II. 146) selbst verbunden werden. An beiden 
Stellen hätte unser Verf. aus Foggini in Verrii Flacci fastos p. 
127 , Marini gli Atti des fratelli arvali II. 600 , Lanzi Saggio d. 
Ung. Etrusca L p. 142 sqq. viele Belehrung ziehen können. Jetzt 
findet Herr Klausen (de carmine fratrr arvall. pag. VI.) des Vfs. 
Erörterung ungenügend , und konnte sie wohl nicht anders finden. 
So ist z. B. von der Ceres einigemal die Rede (I. 47* H. 1 35 ff.) 
— aber warum ist denn von dem so bedeutenden und langbe- 
standenen Cult und Wesen der italischen Aqa, bei den Latinern 
Dea Dia genannt, gar nichts gesagt? worüber ich (ausser Sym- 
bolik IL 329—686. 880. 905 zweiter Ausg.) jetzt auf die Erör- 
terungen des Herrn Klausen in der angefahrten Schrift (p. 56— 
65) der Kurze wegen verweisen will. 



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IM Härtung: Religion der Homer, 

S. 66: »Satornus ist aber Herr der sämmtiieheo Geisler, 
gleichwie Jopiter Herr der Genien ist, und sein Name kommt 
gleich dem der Semonen von serere her. Denn auch Kpnvoc 
bedeutet keineswegs die Zeit (xpövo^), sondern ist vielmehr von 
creare — karomi [?] benannt: beide Namen bezeichnen den Ur- 
heber der Existenz.« Da der Verf. in den Berichtigungen alle 
diese Sätze ausgelöscht wissen will, so enthalte ich mich gegen 
ihn zu sprechen und verweise kurzlich auf raeine Erörterungen 
in diesen Jahrbb. 1837. Nro. 34. S. 539 — 54 1. Eben so hat der 
Verf. eine andere unglückliche Etymologie getilgt II. S. 
wo wir lesen: »Die Molae des Mars (Gell. XI II. 22. 1.) haben 
wir im ersten Tbeile (p. i3o) für Musen (Moai) erklärt: be- 
rücksichtigen wir indefs , dafs ein dem Mars sehr nahe stehender 
Gott von der Morserkeile, womit man das Getreide stampfte, 
benannt worden war, so scheint es uns nicht unmöglich, dafs sie 
mit der Muhle in Verbindung standen.« — Eine Vergleichung 
dieser Molae mit der Molione und den Molioniden oder Aktoriden 
wurde diesem Satze mehr Sicherheit und Ausbreitung gegeben 
haben, zumal wenn benutzt worden wäre was Herr Welcher und 
ich selbst (Symbolik II. S. 387 ff. ater Ausg.) über diese letzte- 
ren ausgeführt haben. Wir nehmen gleich mit , was ebendaselbst 
über die Gattin des Mars Nerio oder Neri na bemerk wird. Hier 
ist Jo. Laor. Lydus de menss. IV. 43. von ihm angeführt, und 
weil dieser und Andere diesen Namen aus dem Sabinischen in der 
Bedeutung fortis ableiten [man füge bei Lydus de magist ratibus 
Rom. p. 44 : Kai Ni?ap 6 ia^r^s tjj Zaßivmv so er- 

innert Herr EL an das indische nri und an das griechische av^pt 
Mann. Ich habe nichts dagegen, hätte aber doch eine Erläute« 
rung erwartet, ob jene Nerina mit der Minerva oder mit der 
Venus identisch sey. Letzteres läugnet Lydus , und thut sich auf 
einen Homerischen Vers, den er geltend macht, etwas zu gut, 
aus Unkunde samothrakischer Gotterordnung. Dies hängt mit 
zwei andern Stellen (II. 5 und I. i65) zusammen. An letzterem 
Orte heilst es: »Bei ausserordentlichen Veranlassungen aber hat 
man sehr feierliche Kissenbreitungen ( lecti sternia) für mehrere 
Gottheiten zugleich, deren Bilder an geweihten Plätzen (fana) 
paarweise auf die Polster gelagert zu werden pflegten, veranstal- 
tet. « Hier frage ich : » paarweise « aber wie,? und was kann man 
daraas über den Ursprung des altromischen Cultus für Folgerun- 
gen ziehen , z. B. dafs Venus wie in der pompa circensi mit Mars 
und nicht mit Vulcan verbunden erschien ? nämlich nach sauao- 



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Härtung t Religion der Römer. 123 

ihrakischer Gotterordnung. Ware dies erwogen worden, so 
wurde (II. 5) diese Verbindung von Mars und Venus ?om Verf. 
njcht als un römisch, sondern als uralt samothrakisch- romisch 
bezeichnet worden seyn. — Übrigens, um auf den ersten Punkt 
zurückzukommen , so waren noch weit mehrere gewagte Etymo- 
logien zu streichen gewesen; z. B. wer möchte wohl geneigt 
seyn die Ableitungen des Verrius Flaccus (Festus p. 509 Dacer.) 
silicernium ron silentium und cernere, welches den Vorstellungen 
der Alten von der Unterwelt so angemessen ist, oder die des 
Jos, Scaliger (a. a. O.) von selucernium (dX«x»*«f s. dessen Note) 
mit folgender des Herrn H. zu vertauschen (l iß): »In silicer- 
nium ist der zweite Bestandteil aus coesium geworden, und 
von coesna oder coena hergeleitet, der erste aber vielleicht 
aus situs unorganisch verändert. « ? — 

Zu S. L 68 und II. 16a, woselbst der Verf. seine Unabhän- 
gigkeit von den Sanscritgelehrten beweiset und über die oft 
schwankende Quantität in den Götternamen eine beachtungswerthe 
Anmerkung macht, verweise ich noch auf Servius ad Aen. I. 282: 
»Mars quura saevit, Gradivus dicitur, quura tranquillus est, Qi/i- 
rjmu«, womit man Martianus Capella I. 4 «nd 4& den 
Auslegern p. o3 ed. Kopp, vergleiche ; wie auch auf derselben 
Seite zu maniae und larvae denselben Martianus II. 162 sqq. mit 
p. 119 und K. O. Mullers Etrusker 11. 8. 101. — Ohne 8. 76 
der ans Dionysius Hai. (I. 68) mitgetbeilten Notiz von der Vor- 
stellung der Troischen Penaten: »immer zwei Junglinge im krie- 
gerischen Anzüge« geradezu widersprechen zu wollen, mufs ich 
doch auf eine ganz abweichende Angabe aufmerksam machen. 
In einem Scholion einer sehr alten Trierer Handschrift des Per- 
sius (zu Satir V. 81) fand ich: »Quia Gabino habitu cincti Pena- 
tes formabaotur , obvoluti toga super humero sinistro et dextro « 
Auch mit verschleiertem Hinterhaupte sind sie in den Bildern des 
Vatikanischen Codex des Vigilius und daraus in Miliin s Gallene 
mythol. pl. CLXXVI vorgestellt ; also togati , friedlich und prie- 
sterlich oder den verborgenen Gottheiten, wie dem Kronos-Sa- 
turnus ähnlich ; welche Nachweisung zum Beleg dienen mag, dafs 
die Religionsgeschichte der antiken Denkmahle der Bildnerei nicht 
entbehren kann. Zu S. 79 verweise ich, wegen der meteorolo- 
gischen und astronomischen Seite , von welcher die Penaten auch 
betrachtet wurden, wieder auf Martian I. 41 ™d ^ 45 wie auf 
K. O. Mullers Etrusker II. 81 f. Dort heifst es: »Qui Penatet 
ferebantur Tonantis ipsius«. NämHch nach diesem System 



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IM mrtun* f Religion der Römer. 

men unter den 16 Regionen des Himmels die erste ein: post ip- 
som Jovem dü Consentes, Penatet , Salus ac Lares, Janus, oper- 
tanei, Nocturnusque. « — Zu S. 81 oben bemerke man die In. 
sebrift bei Muratori: »Dibus Penatibus ob rem mililarem votum 
solyit T. A. Largus« vgl. des Marini fratelli Arvali p. 120. 

S. 68 f. erzählt der Verf. nach Virgilius (Aen. VII. 678) die 
Mythen von den dii Indigetes und vom Caeculus , und macht zu 
den Worten: »Zu Praeneste gab es Pontiüces und Dii indigetes 
so gut wie zu Rom. Es gab nämlich daselbst zwei Bruder, wel- 
che indigetes genannt wurden«, die Anmerkung: »Im Texte [des 
Servius] Heist es: erant etiam duo fratres, qui divi appellabantur. 
Allein der Zusammenhang zeigt deutlich, dafs enim oder autem 
für etiam [?] und indigetes für divi geschrieben werden mufs.« 
Hierzu bemerke ich: La Gerda zum Virgilius I. 1. wollte: digitii. 
Aber der Mythographus Vaticanus II. 184 hat divini und die In- 
terpretes Virgilii L I. ed. Ang. Mai haben : Varro a Dipidiis pa- 
storibus educatum , ipsique Dipidio nomeo fuisse et cognomentum 
Caeculo tradit libro , qui inscribitur Marius aut de fortuna. Hier- 
auf wird (S. 89) aus Solinus berichtet : » Praeneste ist laut den 
Piaen es tinischen Urkunden von Caeculus gegründet, den, wie die 
Sage geht, die Schwestern der Digitii neben einem zufälligen 
Feuer gefunden haben«. [Es mufs heifsen: zufallig neben einem 
Feuer, denn es mufs fortuito gelesen werden s. H. Grotius zum 
Martianus VI. 642.] Hierauf fährt der Verf. fort : Aber was sol- 
len hier die Digeti oder Digitii , womit die Romer die idäischen 
AgcxtüXoi zu übersetzen pflegen ? denn von diesen ist keine Spur 
in der latinischen Religion [? S. oben die Stelle des Nigidius bei 
Arnobius III. 41.] Offenbar mufs Indigetum geschrieben werden, 
welches Wort auch bei Arnobius und anderwärts mit Digeti ver- 
wechselt ist. [Aber die Codd. Palatini haben Digitorum sorores. 
Dagegen wollte Salmasius in Solin. p. 46 : Jgidiorum sorores, i.e. 
ieidiorum, otxidimv i. e. Lamm. Allein alsdann müTste es oeci- 
diorum heifsen, da die Lateiner von olxoq oecus bildeten. Ohne 
triftige Autorität mochte ich also Digitorum oder Digitiorum nicht 
ändern. Im Verfolg beschliefst dee Verf. seine Ausdeutung die- 
ses latinischen Mythus mit den Worten : » Caeculus ist sein Name, 
ein Name, der ohne Zweifel aus xcuo (caleo) gebildet ist, und 
dessen Bedeutung mit der Sage übereinstimmt, dafs die Flamme 
des Herd gottes ihn umleuchtet hatte.« Dieser Herleitung kommt, 
wie es scheint, Martianus zu Hilfe (a. a. O. p. 5a5 Kopp.): 
»Praeneste ab Ulyisis nepote Praeneste (conditum) , licet alii ve- 



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liot Caecollim conditorem , quem pignus asserunt fmsse ßamma- • 
rum.c Aber in der Beschreibung des Caeculus heifst es beim 
Servius (a. a. O. Tgl. die Mytbogr. Vaticc. 1. 84« H. 1Ö4. und die 
Interprr. Virgilii 1. 1.) : oculis minoribus, quam rem cfTicit fumus; 
— also die Alten dachten beim Caeculus an caecus , und in cae- 
cal ta fit (beim Festus p. 60 Daccr. ), wo das / erscheint, liegt 
die nähere Etymologie. Das Naturliche des genealogischen My- 
thos leidet darunter nicht; des Feuers Sohn ist der Rauch, und 
der hinkende Vulcanua hatte einen blinzelnden Sohn Caeculus 
ganz in der naiven Sprache der Vorwelt , welche naturliche Er- 
scheinungen in ihrem ursachlichen Zusammenhang personificirt ; 
and wenn die alten Pränestiner den Caeculus abgebildet haben, 
so haben sie ihn , in der Kunstsprache zu reden , o^paat peuv* 
xöai vorgestellt, wie wir auf alt - sicilischen Münzen die chtbo- 
nische Demeter - Ceres vorgestellt sehen. Wer endlich diesen 
mythisch- genealogischen Spuren weiter nachgeht, wird in einem 
von Flammen umleuchteten und halbblinden Sohn des Vulcanus 
einen Feuerarbeiter und demzufolge auch seine Verwandt- 
schalt mit den mythischen Digitis oder was einerlei ist AaxTvXoK 
nicht verkennen. 

S. 94: »Nehmen wir an, dafs novcnsides aus novc insidcs 
zusammengezogen sey, und im Gegensatz von indigetes, den alt« 
heimischen, die neu eingebürgerten Gotter bezeichne« In 
diesem Sate über die noyensiles stimmt Kopp zum Martianus p. 
94 mit Herrn H. uberein, mit der Bemerkung, dafs auch R. O. 
Müller (Etrusker II. 84) die Neunzahl zu bezweifeln scheine, 
aber auch wieder mit dem Beisatz: »modo eam voccm (noven- 
siles) Latinam putemus. « — Zu S. 96 f. über omen, ostentum, 
portentum , monstrum , prodigium wäre wohl das Büchlein de dif- 
ferentiis vocabulorum hinter den Werken des Fronto ed. Mediol. 
Ii p. 467 sq. zu vergleichen gewesen. '[ ^ 

**S. 110 heifst es von den Auguren: »Die Macht dieser Yrie- 
ster war sehr grofs. « Aber die Auguren waren keine Priester. 
In dem Schriftchen : Incerti auctoris roagistratuum et sacerdotio- 
rum expositiones p. 4 werden von den yerschiedenen romischen 
Priestern die Auguren abgesondert , und so bezeichnet : » Colle- 
giam augurum ordo hominum prudentum erat , qui prodigiis pu* 
biicis praeerant ; — eine Unterscheidung , welche der Herausge- 
ber Herr Pb. Ed. Husch he p. 187 sqq. gelehrt findet und selbst 
sehr gelehrt beleuchtet und bestätigt hat. — Auf der folgenden 
Seite mufs Z. 11 Cic. Philipp. II. 3a ergänzt werden. 



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Härtung» Religion der Römer 



S. 118 heifst es: »in dessen (des Krummstabs, lituas des Aa- 
gnrs) Gestalt in der That die Pflughrütnme nachgeahmt zu seyn 
scheint.« Hätte der Verf. sich in den bildlichen Denkmahlen 
anderer Völker umgesehen, so wurde er diese Vermutbung un- 
terdrückt haben; auch geben uns 'die Alten über den Ursprung 
und über die Gestalt des Lituus viel naturlichere Erklärungen, 
die ich zu Cic. de divinat. (I. 17. p. 82 — 84 ed. Moser.) ange- 
führt habe; .wo besonders die Stelle aus den neuaufgefundenen 
Bruchstücken der Rom. Gesch. des Dionysius von Halik. zu be- 
achten ist. Ebendaselbst (nämlich zu I. 41 p. 2o3 sq. Moseri und 
in der Symbolik II. S. 836 f. zweiter Ausg.) habe ich mich für 
eine Meinung erklärt, die auch, wie ich aus S. ia3 f. ersehe, 
die des Heern H. ist : » Um jene Kunst zu lernen , und sich nicht 
immer mit gedungenen Etruskern behelfen zu müssen, sandten 
die Romer einst in ganz früher Zeit in die einzelnen etruskischen 
Staaten entweder sechs oder zehn der vornehmsten Junglinge in 
Unterricht.« Für diesen Satz, dafs ehemals romische Junglinge 
in Etruskerstädte zur Unterweisung gesendet worden, bringt der 
Verf. in einer Anmerkung noch mehrere sehr triftige Grunde bei. 
Nun aber höre man, wie sich derselbe (t S. »4* ) vernehmen 
läfst: »Diese Nachricht (nämlich von jenen Absendungen römi- 
scher Jünglinge) ist jedoch sicherlich, wo nicht erdichtet [?], 
doch sehr übertrieben, da sich nicht einsehen läfst, was diese 
Junglinge, ausser der Opferschau, irgend von den Tuskern hat« 
ten holen können. Denn da deren Fortschritte in Kün- 
sten und Wissenschaften nicht beneidenswerth waren, 
so konnte blos ihre pedantische Genauigkeit und abergläubische 
Scrupulosität in Beobachtung von Ceremonien den Römern, wel- 
che an demselben Fehler krankten , nachahroungswerth scheinen.« 
Im Verfolg wird sodann der Einflufs jenes gegenseitigen Verkehrs 
auf die römische Religion als nicht so gar wichtig be- 
zeichnet und mit den Worten geschlossen: »Kaum Erwähnung 
verdient endlich dafs Mifszerständnifs , dafs die alten römischen 
Ritualbücher ganz oder zum Theil etrurbch (Festus p. 333) wohl 
gar in etrurischer Sprache verfafst gewesen seyen. « Ich sage da- 
gegen : Kaum Erwähnung verdienen solche Behauptungen , zumal 
heut zu Tage. Es sey also nur ganz kurz bemerkt, dafs die Bau- 
ten des ältesten Roms über und unter der Erde etruskisch wa- 
ren , dafs die Römer ihre ältesten Götterbilder gröfstentheils von 
den Etruskern erhalten hatten , die dit fictiles , neben andern 
Tcmpelgerathen , Insignien und Ornamenten , dafs die römischen 



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Härtung : Religion der Romer. y \ Ml 

Schriftsteller übereinstimmend den et russischen Eu>f1uiS«*uf ru- 
mischen Cult und römische Sittigung anerkennen , dafs die Etrus- 
ker ihre eigene Literatur hatten, zumal eine priesterliche, wie 
die Bücher des Tages u. a. beweisen, dafs, trotz der Vorherr- 
schaft des griechischen Mythus zumal des Heroenmythus , in den 
Bilderdenkmahlen der Etrusker sich noch eine Menge von Eigen- 
* thumlichkeiten zeigen , die auf nationalem Mythus und Cultus be- 
ruhen; wovon sich der Verf. hätte uberzeugen können, hätte er 
sich in den Monumenten umsehen wollen, die seit Dempster bis 
auf Micali , Inghirami u. A. besonders auch durch das römisch- 
archäologische Institut bekannt gemacht werden. — Sollte aber 
nun einmal die Religion der alten Römer durchaus als ganz ei- 
gen , originell und abgeschlossen vorgestellt werden , so mußten 
nicht nur fast alle orientalische und griechische Verzweigungen 
mit ihr geleugnet , sondern es mufste auch das tiefsinnige , eigen- 
thumlich in seiner Art durchgebildete und in Künsten erfahrene 
Volk der Etrusker als eine Schaar von Pedanten und peinlich- 
ängstlichen Kleingeistern dargestellt wurden. Durch solche Vor- 
urt heile hat sich der Verf. eine freiere Umsicht selbst verschlos- 
sen und sich des Gewinnes beraubt, den er aus der in neuerer 
Zeit durch K. O. Mullers u. A. Werke gewonnenen tieferen Kunde 
des Etrusker volkes hätte ziehen können. — Wir haben hiermit 
einen Hauptfehler dieses sonst in manchem Betracht brauchbaren 
Buchs bezeichnet, und mufsten ihn im Interesse der Wissen- 
schaft bezeichnen. 

Bei einem solchen Urtheile , das sich mir aus der Lesung 
dieses Buches gebildet, konnte es nicht fehlen, dafs ich an den 
Rändern desselben eine Menge von Fragezeichen machen mufste, 
die, wollte ich sie in wirkliche Zweifel oder Einwurfe verwan- 
deln , hinlänglichen Stoff zu einer eignen Schrift darbieten w (ir- 
den. Ich unterdrücke sie der Kurze wegen, und beschränke mich, 
das Weitere betreffend , auf einige Bemerkungen und Nachwei- 
sungen über Einzelnes: 

Bei I. S. 129 und 219 habe ich die Stelle des Festus p. 96 
(p. 217 Ducer.) aber auch noch eine zweite in Aemiliam gentem 
(p. 14 Dac.) verglichen, und mich von Bentley (Respons. ad Boyl. 
p. 188 Lips.) darüber belehren lassen, welcher dazu bemerkt: 
»Narrat enim Festus v. Aemiliam g. fuisse Pythagorae filium no- 
mine Mamercum ; quod formatum videtur e Dorico Mvdpapxoc«. 
Aber auch des Pythagoras Vater hatte diesen Namen. (S. meine 
Schrift: Zur Gemmenkunde S. i34-) — 8. i3o : »Einstimmig 



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128 Härtung : Religion der Römer. 

melden die Zeugen , dafs dies die cu maische Sibylle gewesen sey, 

deren Namen auf Maltea zurückzuführen, dergestalt dafs er mit 
Martea — Martia identisch wäre, ich grofse Lost hatte. « Diese 
Lust wurde ihm wohl vergangen seyn, hätte er den Sobrates ap. 
Stob. (Serm. LIV. p. 40g Gaisford) , den Jo. Laur. Lydus de mens«, 
p. iq3 sqq. ed. Roether mit den Noten, und besonders Bottigers 
Ausfuhrung in den Amalthea L S. 18 einsehen wollen. Diese Sy- 
nonymie der Sibylle mit Juppiters nährender Ziege Amalhea, die 
zum Sternbild und Vorzeichen geworden, leitet bei einer Weis- 
sagerin auf einen ganz andern Kreis von Anschauungen und Vor- 
stellungen hin. — Bei S. i5i über die Zeiteintheilung der Ro- 
mer verweise ich den Verf. auf Pb. Ed. Huschke's Abhandlung 
über die Stelle des Varro von den Liciniern, Heidelb. 1 835 S. 59. 
— Zu dem ganzen §. 4 von den Priestern mufste das bereits 
oben angeführte Büchlein Incerti auctoris Magistratt. et Sacerdo- 
tiorum Expositiones mit Huschke's Commentar zu Rath gezogen 
werden. — S. 157 (vgl. 1. S. 209 f. und II. S. 116): »Jede 
Gottheit hat ihre eigenen Priester, und alle Priester stunden un- 
ter der Aufsicht der Pontifices (Cic. Leg. II. 8.)« — Hier und 
dort war 1) zu zeigen, wie Religion und Staatsregierung sich bei 
den Römern zu einander verhielten ; 2) wie der Pontifex Maximus 
sich zu den Magistraten verhielt (s. Incert. auct. de Magistratt. 
p. 3 mit den Erörterungen Huschke's p. 121 sqq. vgl. meinen 
Abrifs der rom. Antiqq. p. 167 sqq. 2ter Ausg.); 3) wie in der 
römischen Hierarchie die Aufsicht und die Gewalt des Pontif. Max. 
über die Vestalinnen sich gestaltet hatte. Zu I. S. i58 und II. 
S. 267 bemerke ich, dafs Husch ke ad Incert. auctor. p. i36 sq. 
die Herleitung des Hamen von filum, filare sehr unwahrscheinlich 
findet, und wohl mit Recht — Derselbe neugefundene Schrift- 
steller (pag. 3 et 4) und sein Ausleger (p. 128 sqq.) hätten auch 
den Erörterungen (L S. 159. II. i63 und 267 f.) über den rex 
sacrificulus und namentlich über seine Verhältnisse zum Pontifex 
M. , über die Fetiales und den Pater patratus so wie über die 
Salier manche Erläuterungen und Berichtigungen an die Hand 
geben können. Bei I. S. 171 über den ludus Troiae würde der 
Verf. gaoz andere Aufschlüsse gewonnen haben, hätte er Raoul- 
Rochettes Monumens inedits, im Abschnitt Oresteide, nachgesehen. 

(Der Betchlufs folgt.) ' 

s 



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N°. 9. HEIDELBERGER 1837, 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR* 



Härtung , Die Religion der Römer. 

( Bcschlufs.) 

S. 207 f. Die Urtheile des Polybius (VI. 56) über die romi- 
sche Religion sind eine Aasgeburt des damals unter den Aufge- 
klarten und Weltleoten eingerissenen Euhemerismus , welchem 
entgegengetreten zu seyn wenigen andern, wie einem Arrianus 
und Plutarchus, desto gröfsere Ehre und Achtung sichert. — S. 
sis. Den Handel zwischen dem Pontifex M. Aemilius Lepidus 
und dem VolUstribunen Cn. Tremellius (Liv. Epitom. 47) hat neu- 
lich Herr Husch he zum Incert. auctor p. 122 sq. sehr lichtvoll 
dargeslel/t. — Zu 8. 2i3 oben von den Religionsurbunden ge- 
hörten die libri augurales im engeren Sinne nicht, wie die au- 
gures anch nicht Priester waren (s. oben). Es waren vielmehr 
hieratisch- wissenschaftliche Bucher, der disciplina Etrusca ange- 
hörig, und von den Römern aufgenommen. Das Fetialenrecht soll 
erst Ancus Martins eingeführt haben. — Zu S. 226 bemerke ich, 
dafs Herr Husche in der Abhandlung über posessio und posses- 
siones (Heidelb. 1 835) mit unserm Verf. in der Vergleichung der 
ersten röm. Konige nicht in der Etymologie der Namen überein- 
stimmt. Huschke sagt (S. 82) : » Dem Romulus gleicht wieder 
Tullus Hostilius, dem Nuroa , Ancus Martins, welche sämmtlich 
anch schon durch ihre Namen bestätigen, was die Geschichte 
bezeugt, dafs sie alternirend vom Römer- und Quiritenstamme 
ausgingen. — Numa Pompilius von vopoq und pompa ; Tullus 
Hostilius von tollere hostibus; Ancus (verwandt mit saneus, san- 
ctus) heiligte zuerst den Krieg durch das Fetialenrecht. Sein 
Name zeigt aber auch , dafs mit ihm der Gegensatz beider Stam- 
me erschöpft war, und anfing zusammenzufallen. « Ich lasse zwar 
auch diese Etymologien dahingestellt seyn , bemerke jedoch , dafs 
Herr Huschke wegen der Verwandlung des o in u auf die Ana- 
logie von vopoq (vöfu dp«) und dem dorisch- sicilischen vovppo^ 
numus, hätte verweisen können (Pollux IX. 79 Bentley Resp. ad 
Boyl. p. 41 5 und Ekhel üoetr. N. V. Prolegomm. p. II.) — S. 
226: »Dieser kleine Staat im Staate, oder die Famili«'ngemeinde 
hatte ihre eigenen Götter.« Hier hätte zur Verhütung irriger 
Vorstellungen gleich bemerkt werden sollen, dafs diese GotiheU 
ten der Sacra privata keine von denen der Sacra publica verachie- 
XXX. Jahrg. 2. Heft. 9 



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Härtung: Religion der Römer. 



dene waren; und über das Folgende (S. 227) hätte aas v. Sa- 
vigny's Abhandlung über die sacra privata der Römer viel Licht 
gewonnen werden können. 

Der siebente Abschnitt, betitelt: Geschiebte der romi- 
sehen Religion und schon §. 1: Charakter der r ö m. R e- 
lig. konnte einem Ref. reichen Stoff zu allgemeinen Betrachtun* 
gen über den Geist der röm. Religion darbieten. Da ich mich 
jedoch erst neulich im allgemeinen Theil der Symbolik und My- 
thologie (S. 120 ff.) auch mit Berücksichtigung der Vorlesungen 
über die Philosophie der Religionen von Hegel (II. S. i32 ff.) 
darüber ausgesprochen habe , so unterdrucke ich dieses im Allge- 
meinen , und bemerke nur nachträglich^ dafs seitdem ein geist- 
reicher und philologisch durchgebildeter Rechtsgelehrter diese 
Punkte berührt hat (s. Ed. Platneri Qaaestiones historicae de 
criminum iure antiqoo Romano Marburg. i836. pag. 21 sqq.), wo 
auch ein Satz Hegels gehörig eingeschränkt wird. Sodann über 
den angenommenen grofsen Wendepunkt in der romischen Sitten- 
geschichte (S. 219) und der religiösen Denkart seit dem zweiten 
punischen Kriege schliefse ich mich mehr der Meinung des Herrn 
Klausen (de carm. fratrr. arvall. pag. VI sq. und p. 3i sqq.) an: 
» lmo qaamdiu exstitit quisquam , qui iure suo Romami m se dice- 
ret , religionum, quas prisci instituerant Quirites , non omnino in- 
terisse potest conscientia et intellectus. « Wie wenig der grie- 
chische Mythus und Cultus in das römische Volk im Ganzen ein- 
gedrungen war, zeigen die Fasti des 0?idius jedem Unbefange- 
nen, ja wer sich in den Schriften des Augustinus, Lactantius, 
Amobius, Minutius Felix und anderer Kirchenschriftsteller um- 
sehen will, ja selbst noch in den Autoren des sechsten Jahrb. 
nach Chr. Geb., wie z. B. im Jo. Laur. Lydus, wird auf allen 
Blättern sehen können , wie fest der gemeine Mann in Rom und 
in den latinischen Orten, an den religiösen Örtlich keiten , an den 
heimischen Gottheiten , Genien und Heroen und an den Gebräu- 
chen hing, die ihm seit undenklichen Zeiten von den Altvordern 
überliefert worden waren. Ist doch Manches der Art bis auf den 
heutigen Tag in dem Sitze der katholischen Christenheit wie in 
Roms Umgegend aus dem Leben und den Gewohnheiten des Volks 
noch nieht ganz entschwunden, sondern behauptet, mit christ- 
lichen Vorstellungen und Gebräuchen vermengt, noch immer eine 
Art von Leben; worüber neuerlich/ der Engländer Blunt manche 
interessante Tbatsachen zusammengestellt hat 

Es wäre die Aufgabe einer eigenen 8chrift, wollte man in 



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Härtung : Religion der Römer. 131 

■ 

eine Epikrise der non folgenden Kapitel über die einzelnen 
Gottheiten der römischen Religion eingehen. Hier vermifst 
Ref. gerade am meisten jene poetische Kraft, die längst in den 
Hintergrand der Zeiten zurückgetretenen Personalitäten der alt- 
römischen Colte wieder in den Vordergrund hervorzurufen und 
in den Bereich unserer Anschauung zu stellen; und manche Par- 
teien, welche doch in Her lebendigen Sage ihre Local färben mit 
sich bringen , wie- z. B. der geniale Cultus und Mythus der Anna 
Perenna, erschienen ihm ziemlich farblos. 

11. S. 14 ff. Über die Bedeutung des Juppiter in der römi- 
schen Staatsreligion , seine irdische Repräsentation durch den 
Konig, den Vorsitzenden Consul , den triumphirenden Imperator, 
über die religiöse Seite des Triumphs u. s. w. wird der Verf. 
jetzt aus dem zweiten Theil der von Herrn Sillig redigirten Konst- 
mjthologie des sei. Böttiger manche Aufklärungen und Berich- 
tigungen schöpfen können. — 8. 59 über den Summanus ver- 
weise ich den Verf. auf Kopps Noten zum Martianus Capella II« 
161. p. st6 sqq. — S. 61, wo es vom Juppiter heifst: »Im 
Gegensatz zu den Todesmächten war dem Fürsten des Lichts die 
weifte Farbe heilig u. s. w. « , hätte aus Jo. Faur. Lydus (IV. 3. 
p. »5e Rother.) beigefugt werden sollen, dafs in dem sogenann- 
ten processus consularis einer der Consuln auf einem weifsen 
Rosse zum Capilolium hinaufreiten mufste. Auch bemerken die 
Kunstkenner, dafs die alten Lithoglyphen die Bilder des Zeus- 
Juppiter vorzugsweise in weifsen Chalcedon einzugraben pflegten. 
— S. io3 zu §. 6-: »Die Argecnopfer« vermifst man ungern die 
Benutzung von K. O. Müllers Abhandlung: Uber die Fragmente 
der Sacra Argeorum bei Varro de L. L. V. (IV.) 8. in Bätti- 
gers Archäologie und Kunst I. 1. 8. 69 — 94. — Ebenso möge 
der Verf. (zu II. S. i55) über den Mars-Silvanus jetzt Klausen 
de carm. fratrr. arvall. p. 36 — 43 einsehen; der ihm übrigens 
(zu S. 258) in Betreff der Erörterung über den Mutinus (p. 64) 
seinen Beifall bezeigt. 

Hiermit beschließe ich meinen Bericht über ein Buch , das 
ich, bei manchem Verdienstlichen, das es hat, und hei dem un- 
verkennbaren Fleifse, womit es bearbeitet worden, seinen Grund- 
sitzen und seinem Geiste nach nicht für ein gelungenes halten 
kann. Ich- glaube dies sine ira et studio auszusprechen , da ich 
mit dem achtbaren Verfasser in keinerlei Verhältnissen stehe, und 
mein Name in seinem Werke weder in Gutem noch im Büsen 
genannt ist. F r. C r e u % e r. 



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132 



Uotcrholzner : De raut. rationc Centt. Coraitt. 



C. A D. Unterholzner, de mittat a ratione Centwiatorum Comitiorum 
a Servio Tulllo Rege inititutorum. fratislaviae 1835. 

Es ist eine bebannte Sache, dafs die genaue Kenntnifs der 
Staatsordnung in der Periode der römischen Republik von der 
L6sung dieser in der neueren Zeit so oft und hier am neuesten 
aufgeworfenen Frage abhängt. Am auffallendsten ist es dabei, 
dafs die Meisten darüber einig zu seyn scheinen, dafs auch in der 
umgeänderten Centurienverfassung das Vermögen (die Schätzung) 
noch Bedeutung gehabt habe, aber Einige davon am Ende doch 
glauben, auf Livius I. 43. i. f. bauend, die Centurieneinrichtung 
sev später lediglich darin bestanden, dafs in jeder der 35 tribus 
eine Centurie seniorum und eine Centurie juniorum gezählt wor- 
den sey. Was soll hier die Schätzung bedeuten ? Hieher gehört 
z. B. unter den neuesten Büchern Dahlmanns Politik S. 4 2 « — 
Viel consequenter sind diejenigen , welche geradezu annehmen , 
auf die Schätzung sey in der späteren Zeit bei der Centurien- 
einrichtung Nichts mehr angekommen, und man habe von dem 
System der Centurien nur die Eintheilung in den ritterlichen und 
nichtritterlichen Stand, und den Unterschied der seniores et ju- 
niores beibehalten — die Classen seyen abgeschafft worden, und 
Alle von i Million Assen bis zu 4000 Assen seyen sich gleich ge- 
wesen. Diese Ansicht verlheidigt vorzuglich Niebuhr III. Bd. 
S. 382. Abgesehen davon, dafs das Wesen der Centurienein- 
richtung auf die Vermögens classen gerichtet und der Unter- 
schied des Alters nur secundär war, welcher letztere gewifs auch 
leicht gefallen wäre, wenn er nicht mit dem ersteren in Verbin- 
dung gestanden: abgesehen davon, dafs die römischen Schrift- 
steller selbst immerhin von den classes reden, namentlich auch 
Cicero de republica in einer Stelle, die man gewöhnlich in das 
vierte Buch stellt: Quam commode ordines descripti, aetates, clas- 
ses, equitatus, in quo suffragia sunt etc. — so ist der Unter- 
schied zwischen der Abstimmung in den Tributcomitien und jener 
in den Centuriatcomitien gar nicht leicht zu fassen , wenn man 
annehmen soll, dafs die letzteren allein das voraushatten, dafs die 
Alteren die eine Hälfte, und die Jüngeren die andere Hälfte der 
Stimmen hatten. Sicherlich hätte man wegen dieser Bücksicht 
von einer Beibehaltung der Centuriateinrichtung nicht sprechen 
hönnen. Die gröfste Schwierigkeit macht freilich der Umstand, 
dafs man gewifs ist, dafs der alte Maasstab der Vermögensabthei- 
lung sich geändert hat, aber nicht weifs, welcher Maasstab an die 



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UnterhoUner i De mut. ratione Ctnü Comitt. 128 

» 

Stelle getreten ist. Allein auch hier bann man wohl annehmen, 
dafs die erste Classe einen Maasstab hatte, welcher die ganze 
Zahl der bemittelten Burger umfassen konnte, was schon 
aus dem Verhältnisse von 80 Centurien zu 20 und 3o hervor- 
geht, and dafs daher von jeher der Geist der Centariencinthci- 
lung darin zu soeben ist , — dafs die erste Classe die wirblich 
gut bemittelten Burger sämmtlich umfafst, und so ein Gegensatz 
dieser ersten Classe zu allen andern entstanden ist. Mit Recht 
wurde daher von jeher gesagt, dafs, wenn die Stimmen der Cen- 
timen der ersten Classe vereinigt seyen, von den andern Classen 
nicht mehr die Rede seyn hÖnne. — Unter solchen Voraussetzun- 
gen mufs auch die Hauptstelle bei Livius I. 43. ausgelegt werden, 
und Niebuhr hat daher nicht nur von Gegnern, wie z. B. von 
Schultz, sondern auch von Freunden und Anhängern, wie z. B. 
von Walter, Widersprach erfahren. Auch dürfte schwerlich 
v. Savigny seine frühere Meinung geändert haben. Dieser be- 
rühmte Rechtgelehrte vertheidigt nämlich die in Drahenborch ad 
Livium L 43. angeführte Ansicht des Antonias Aagastinas oder 
vielmehr des Ottavio Pantagatho , wornach in jeder der 35 tribus 
nach Classen gefragt wurde , und folglich schon die erste Classe 
aas 35 Centurien seniorum und ebensoviel Centurien juniorum 
bestand. Abgesehen davon , ob hinsichtlich der Ritter etwas ge- 
ändert wurde, in welcher Beziehung wir auf Burchardi über 
den Census der Romer S. 67 verweisen — ist diese Ansicht die- 
jenige , welche sich als naturliche Fortentwicklung der Census- 
anstalt nach der hauptsächlich auf Regionen sich beziehenden 
Abtheilung der grofsen Römerstadt am meisten empfiehlt.' Es 
hat auch nicht an solchen gefehlt, welche bei der Annahme, dafs 
nur 70 Centurien gewesen seyen , weil sie das Zeugnifs des Livius 
f3r unangreifbar hielten , doch eine Vermogensrücbsicht damit zu 
verbinden wtifsten , wie z. B. Zachariä in seinem L. Cornelias 
Sulla, welcher der Ansicht ist, dafs nach der Bedeutung der 
ganzen tribus in Hinsicht auf das Vermögen die zwei Centurien 
der tribus in eine der fünf Classen gebracht worden seyen; allein 
es mufs doch wohl angenommen werden, dafs in jeder tribus 
sowohl Reiche als Arme waren, und dafs im Geiste des Census 
die Einzelnen in Bcrüchsichtigung genommen wurden, worauf 
auch schon die mitverbundene praefectara morum hinweist , und 
der Umstand , dafs die Einzelnen in die tabulae censuales einge- 
tragen wurden. Die Meinungen von Nie. Gruchius de comitiis 
RomaDorum, von Schulze von den Volbsversammlungen der 



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134 Unterholsner : De mut. ratione Ceott. Comilt. 

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Börner, von Frannlte de tribuum, curiarum atque centuriarum 
ratione, von Hüllmann in seinem Staatsrechte des Alterthums, 
von Boner in seiner Dissen, de comitiis Romanorum centuriatig 
sind bekannt. Nur das Einzige ist noch zu erwähnen, daft Schultz . 
in seiner Grundlegung zu einer geschichtlichen Staatswissenschaft 
der Börner von der sicherlich falschen Idee ausgeht, dafs bei der 
Bildung des Census nicht die einzelnen Bürger angeschlagen wor- 
den, als vielmehr eine bestimmte Vermögenssumme , so , dafs 
Caput nicht die Person als vielmehr den Capitalstock gleichsam 
bedeute, welcher als Typus der Classification angenommen wor- 
den. Endlich wollen wir noch erwähnen, dafs die neueste Stirn- 
me, eine Recension über Zachariä in den gelehrten Blattern 
der Akademie der Wissenschaften zu München, ebenfalls der An* 
sieht des Ottavio Panthagatho beitritt. 

Allein unser Verfasser verwirft dieselbe, und will , dafs man 
bei den 70 Centurien als dem Totale festhalte* Zuerst bezieht 
er sich auf die bekannte Stelle von Livius I. 43. ond darauf, 
dafs Livius immer in jeder tribus nur eine Centurie juniorum 
und eine seniorum nach dem Namen der tribus aufführe, sodann 
darauf, dafs die Annahme von 35o Centurien, wozu noch die 
Ritter- und andere Centurien kommen, die Abstimmung in einem 
Tage fast unmöglich gemacht habe, endlich darauf , dafs Niemand 
von dem neuen Vermogensmaasstabe etwas wisse , und man bei 
Gelegenheit der Contributionen , z. B. im zweiten punischen Krie- 
ge , ein neues System erfunden habe, was nicht noth wendig ge* 
wesen wäre , wenn ein allgemeines Vermogensstcuersystem des 
Census existirt hätte, im besten Falle könne man das System der 
Classen nur zum Schein als beibehalten annehmen, so dafs etwa 
die 35 tribus in 5 Classen geordnet worden , wornacb jede Ciasso 
7 tribus umfafst habe , und wo dann die 4 tribus urbanae in der 
letzten Gasse gestimmt hätten. Wir sind von diesen Gründen 
nicht überzeugt worden , denn Livius Endworte im 43» Capitel 
müssen mit Rücksicht auf das Vorhergegangene gedeutet werden. 
Hier beifst es: non enim viritim suffragium eadem vi, eodemque 
jure promiscue omnibus datum est: sed gradus facti, ut neque 
rxclusus quisquam suftragio videretur, et vis omnis peuos pri- 
mores civitatis esset. Equites enim vocabantur primi : LXXX 
inde primae classis centuriae; ibi si variaret, quod raro incide« 
bat, ut secundae classis vocarectur: nec fere unquam inft-a ita 
descenderent, ut ad intimos pervenirent Nun kommt unmittelbar 
die Stelle über die Abänderung, in welcher Nichts von dein Auf- 



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Uoterholmoer: üe mut. ratione Ceatt. Cocnitt. 135 

geben der Clauen Tiod des ganzen Systems , sondern blos von der 
Verkeilung der Centurien über die 35 tribus gesprochen ist. 
Dabei konnte Livius nur die Bildung der ersten Classe um so 
leichter im Auge haben, als er gerade zuvor gesagt hatte, nur 
sie stimme in der Regel, und zu einer weiteren Abstimmung 
am wenigsten iu einer niederen Classe scy es je gekommen. Was 
Li vi us schon von der älteren Zeit sagt , mufs noch mehr von der 
spateren angenommen Herden , wo gerade , wenn man nicht tri- 
butim im engern Sinne d. i. viritim stimmte , blos auf die primo- 
res dachte. Also wollen wir auch zugeben, dafs die Aufstellung 
des Volkes in 35o und mehr Centurien nicht leicht vorkam oder 
vielleicht gar nicht de facto vorkam ; dies ändert aber nicht das 
juristisch angenommene Princip der Classenabtheilung. Auch thut 
es nichts zur Sache, dafs wir die Veränderungen in der Quanti- 
tät des census nicht mehr kennen : noch wichtigeres wissen wir * 
nicht mehr genau aus der mittelalterischen germanischen Geschich- 
te, und gar leicht läfst es sich denken, dafs für einzelne Zwecke 
ein neues System der Vermögenssteuer erfunden werden 
mnfste, wie in den Hriegszeiten in Deutschland zum öftesten vor- 
gekommen ist Am wenigsten behagt uns der Versuch des ge- 
lehrten Verfassers , doch wieder in das System der Gassen zu* 
rückzukehren, weil dieser Versuch zu seinen historischen Argu- 
menten nicht pafst, und an sich eine ganz ohne Stütze stehende 
Conjectur ist. Warum Unterholzner die bekannte Stelle bei Ci- 
cero Philipp. IL 33. nicht näher gewürdigt hat, ist uns ebenfalls 
aufgefallen; daraus geht nämlich hervor, dafs die Aufrufung der 
zweiten Classe als Form sicher beibehalten war, wobei aber wie- 
der folgt, dafs der Theorie nach das wenn immerhin erschütterte 
alte Comitialsystem blieb. Ecce Dolabellae comitiorum dies ; sor- 
titio praerogativae : quiescit. Renuntiatur : tacet. Prima classis 
vocatur; renuntiatur; deinde ut assolet, sufTragia; tum secunda 
classis quae omnia sunt citius facta , quam dixi. Ich vveifs wohl, 
welche kritische Schwierigkeiten die Stelle hat; aber die End- 
worte sind jedenfalls gegen die Bedenklichkeiten gerichtet, weU * 
che wieder Niebuhr und Unterholzner aulgestellt haben, 
nämlich, dafs die Ausführung der Classenabstimmung in einem 
Tage unmöglich gewesen sey: denn gesetzt auch, Cicero spricht 
mit Bücksicht auf den coneteten Fall, so kaun man annehmen, 
dafs, wenn auch für andere Falle die Abstimmung ein und das 
andremal mifsglückte , der Kalender reich genug mit dies comi- 

tiales ausgestattet war. Doch es ist hier nicht der Ort, diesen 

< 

V 



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1&6 UoterhoUner : De mut rationc Ccntt Comitt. 

* 

Gegenstand weiter auszuführen, sondern unter Zweck gebt ledig- 
lich dahin, auf die Versuche der neueren Zeit in diesem schwie- 
rigen und wichtigen Punkte in unsern Annalen aufmerksam zu 
machen und die Vermuthung zu äussern , dafs die Auctorität auch 
eines Niebuhr und Unteholzner schwerlich die gelehrte Welt 
tür die neuere Ansicht gewinnen werden. Noch sey uns erlaubt, 
einen ähnlich schwierigen Punkt und unsre Ansicht darüber zu 
berühren. Es ist dies die famose Stelle bei Cicero de republica 
II. 22 : Nunc rationem videtis esse talem , ut equitom centuriae 
cum sex lall ragiis et prima classis , addita centuria , quae ad 
sammum usum urbis fabris tignariis est data , LXXXYIIII centu- 
rias habeat ; quibus ex centum quatuor centuriis (tot enim reliquae 
sunt) octo solae si accesserunt, confecta est vis populi uni versa : 
reliquaque inulto maior multitudo sex et nonaginta centuriarum 
neque excluderetur suff ragiis , ne superbum esset , nec valeret 
nimis, ne esset perniciosum. Wir wollen hier durchaus nicht 
auf die verschiedenen Versuche, diese Stelle mit Livius und Dio- 
nys, zu vereinigen , eingehen ; sondern nur Folgendes bemerken : 
die centuriae equitum waren nach Livius und Dionys 12 , und die 
6 suffragia dazu genommen waren 18 centuriae; dieser Stand laTst 
sich nicht läugnen . oder die Sache sich so darstellen , als wenn 
3 centur. aus Romulus Zeit und 6 su.il ragia aus späterer Zeit, 
also nur 9 centur. gewesen wären; wo würde dann der Satz una 
addita centuria Bedeutung haben? Also es waren 18 Rittercen- 
turien und unä addita 19. Demnach aber bleiben nach der Zäh- 
lung Cicero s nur noch 70 andere Centurien. So scheint er auch 
die Sache angesehen, aber leider aus seiner Zeit der zweimal 35 
tribus Centurien auf die alte Zeit zurückgeschossen zu haben. 
Freilich wäre dann auch die ganze andere Rechnung falsch, und 
dies anzunehmen wird keine grofse Überwindung kosten , da Li. 
vius und Dionys übereinstimmend anders rechnen , und Cicero 
mehr nach dem Resultate zu streben scheint , die Übermacht 
der Reicheren zu zeigen, als eine historisch treue Darstellung 
der allen Centurieneinricbtung zu geben. War einmal der Irr- 
thum der Berechnung der ersten Classe gemacht, so ist der dar- 
auf gegründete Zahlencalcul, da Cicero das Totale der 19^ Cen- 
turien im Kopfe hatte, leicht erklärlich, und wievielen ist es 
nicht schon begegnet, dafs, wenn sie aus zwei Zahlengrüfsen 
Berechnungen machten und die eine falsch hatten, sie sich durch 
gewagte und falsche Annahmen zu helfen suchten, sich und an- 
dere täuschend ! Eine mir erst , nachdem ich diese Zeilen schon 



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v. Savigny: Zar RechUgeacbkhte de* Adel«. 181 

■ 

hingeworfen hatte, bekannt gewordene Ausführung von Orelli in 
seinen in diesem Jahre herausgegebenen selectis orationibus, and 
zwar im Excurse ad Philipp. II. 33 , ist mit uns zwar darin über- 
einstimmend, dafs Cicero de republ. II. 22. seine Berechnung der 
ersten CJasse von der Abstimmung der Centurien nach der Ein- 
richtung der Tribuiim geschehenen Zusammenberufung genommen 
habe, so dafs 12 centuriae equitum , 35 centuriae juniorom, 
35 c. seniorum und die 6 suffragia die erste Classe gebildet hät- 
ten: allein er gladbt, dafs auch in der späteren Zeit wirklich die 
alte Zahl von 193 Centurien bestanden habe, was ihn auf Con- 
jecturen fuhrt , die nicht nur ohne Bestätigung sind , sondern 
auch in sich unverlässig scheinen. So sollen nämlich in der 2ten 
Classe 35, in der 3t en und 4ten ebensoviel, oder in der aten 
Classe 70 und in der 3ten 35 Centurien gestimmt , damit aber 
die Abstimmung beendigt gewesen seyn , ja , daher erkläre es 
sich, dafs wenn nach Cicero die 89 Centurien der ersten Classe 
einig waren , nur noch 8 der zweiten Classe dazu zu kommen 
brauchten. Von uns weicht also der gelehrte Herausgeber Cicc- 
ro's darin ab, dafs er für die erste Classe 70 Centurien zugibt, 
aber die Durchführung für die übrigen Classen nach dem Maas- 
stabe von 35 Centurien juniores und 35 Centurien seniores lütig- 
net. Seine Ansicht wäre plausibler — wenn er annehmen würde, 
dafs in der 2ten bis 5ten Classe die Centurien nicht in gleicher 
Zahl bestanden hätten , und die vollen 70 Centurien nur in der 
ersten Classe hervorgetreten seyen. 

Rof shirt. 



v. Savigny , Beitrag zur Heehtsgcschichtc de$ Adel» im neuem Kuropa. 
Eine in der königl. Akademie der H'icscnsehaßcn am 21. Januar 1836 
gelesene Abhandlung. 

Dem Unterzeichneten, welcher sich in seinen germanistischen 
Studien auf den engern Kreis des Strafrechts beschränkt, sey es 
erlaubt, diese durch ihre eben so gründliche als klare Darstellung 
ausgezeichnete Schrift in uhsern Jahrbüchern anzuzeigen. Gleich 
1 will er gesteben, dafs er die Resultate des ersten und zweiten 
Abschnittes der Schrift über den Adel in der Urzeit und nach 
den Volhergesetzen nicht prüfen kann und will , wenn er auch 
mit dem berühmten Verfasser der Meinung ist, dafs immerhin die 
Grundlage der Beurtheilung unsers Gegenstandes dort gefunden 



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138 



v. Savigny : Zur RcchUgescIiichte de« Adelt. 



werden wird. Mit der Bildung einer festeren Ordnung, mit der 
Gewinnung eines neuen Anhaltspunkts für neue Gesittung durch 
die Herrschaft Karls des Grofsen beginnt eigentlich die Geschiebte 
des deutschen Adels, und nur aus jener Zeit sind die einzelnen 
Familiengeschichten abzuleiten, von welchen wir zu einer allge- 
meinen Geschichte des deutschen Adels aufsteigen können. Immer 
war der Unterzeichnete des Dafürhaltens, dafs nur dann, wenn 
die Archive der Dynasten mehr noch, als bisher geschehen, 
geöffnet sind , wir zur rechten hinsieht ihres ursprünglichen Ver- 
hältnisses gelangen werden, und dafs die beste Kenntnifs der al- 
ten Volkergesetze nicht im Stande ist, den Bau der Brücke in 
die Zeit, wo wir durch die bekannten Forschungen unsrer Ge- 
lehrten fester stehen, zu vollenden. In der neuesten Zeit hat 
man besonders in Baiern Manches geleistet, und mehr wird durch 
die überall organisirten historischen Vereine daselbst noch ge- 
schehen. Das Land in Franken, Schwaben und am Bhein ist für 
die Geschichte des deutschen Adels das richtig gewählte Theater, 
ohne dafs wir daduroh die Ausdehnung der Forschungen begren- 
zen wollen. 

1. Als Kennzeichen des Adels aus der Karolingiscben Zeit 
sind von dem berühmten Verf. richtig angeführt : a) die Dienst- 
iölge freier Männer (active Gefolgschaft; b) die Dienst, und Ho£. 
folge für den Konig (passive Gefolgschaft). Mit Becht sagt v. 
Savigny S. aÖ : »das eine war die Fortdauer der alten Zeit, 
das andere hatte die neuere Zeit entweder zuerst hinzugefügt 
oder doch allgemeiner und wichtiger gemacht.« Das erste Kenn- 
zeichen ist das Hauplkriterium des Adels, oder des Herrenstandes 
durch das ganze Mittelalter in Deutschland geblieben, wie aus 
einer Reihe archivalischer Urkunden dargethan werden kann. 
Dies geht nebstdem hervor aus den Spiegeln »wir zelen dreier 
hande vreien der heizen eine Semper freien daz sind 
die freien herren als fürsten und ander freien ze man 
bant. So heizzen die andere mitervreien, das sind die 
die der hohen freien man sind. Auf dieses Vcihultnifs des 
wahren und alten Adels war man besonders im i6ten Jahrhundert 
noch höchst eifersüchtig, denn so steht in dem PräsenzproJocoü 
des Reichstags vom Jahre i52i.« Georg, Bischof zu Bamberg, 
aus dem Geschlechte von Limpurg semperfrei, und darneben 
andrepBischofe mit dem Pradicat » aus dem adelichen Geschlechte« 
was schon den Adel der neueren Zeit, den Ritterahnenadel be- 
deutet. Was die passive Gefolgschaft des Adels in Beziehung 



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▼ . Snvigny : Zar Rcchtagctchichte de« Adels. 

auf den König anseht , so bildete sieh daraus die Umgebung des 
Königs im Rath und Gericht, und Manches, was bis snf die spa- 
teste Zeit herunter davon abgeleitet werden raub, z. B. die Reichs- 
standschaft , dafs der Reichskammerrichter vom Herrenstande seyn 
mufste u. s. w. Diese passive Gefolgschaft, die such in der Ver- 
sehung der Reichsämter hervortrat, und zwar in Ober* und Un- 
terämter, wo aber auch die Unterämter nur dem Herrenstande 
gebührten , z. B. das Schenkamt dem obengenannten Geschlechte 
von Limpurg , war natürlich nach dem Standpunkte der Ministe- 
rialität nicht zu beurtheilen ; ebenso wenig war Ministerialrat vor. 
banden, wenn Fürsten blos honoris causa Ämter bei den geist. 
liehen Fürsten ubernahmen , obgleich sie deshalb Ehrenbaiber 
aber ohne weitere Folgen um einen Schritt zurücktreten mufsten. 

IL Die Ent wickelung des Herrenstandes in Deutschland wäh- 
rend des Mittelalters erfordert noch grofser vorbereitender Unter- 
suchungen , denn wenn die Ssche vor und mit den Spiegeln fest- 
steht hinsichtlich derjenigen Geschlechter, welche 
damals als Fürsten anerkannt waren, so ist von der 
andern Seite, nämlich hinsichtlich der domini , die nicht als 
Fürsten aneikannt waren, Alles höchst im Trüben. Aus den 
Archiven in Franken läTst sich nachweisen, dafs mancher Burg, 
mann eines Herrn später durch eine mit Einwilligung des Herrn 
erhaltene kaiserliche Immunität selbst zum Herrn , später zum 
Grafen und Fürsten geworden, ferner dafs manches Herrenge- 
schfecht ausgestorben, der Name desselben aber von Burgleuten 
jenes Geschlechtes fortgcfükrt worden, und dafs mit einem Worte 
verschiedene Erscheinungen dies Gebiet so ängstlich machen, dafs 
die Schwierigkeiten der Geschichte des Adels nicht in den Er- 
innerungen aus den ältesten Zeiten, sondern vielmehr in dieser 
uns so nahen Zeit liegen. 

III. Im übrigen mufs man wieder mit dem gelehrten Verf. 
darin übereinstimmen, dafs der Rilterstand, auch wenn er wegen 
der Rückführung des ordo miJitaris in seine Ahnen eine Art von 
Adel in Anspruch nahm, nur zjj den geraeinen Freien oder Schöf- 
fenbarfreien zu rechnen war, und der sprechendste Beweis hie- 
für liegt in der Bestellung der kaiserlichen Landgerichte, von 
welchen Eichborn III. S. 178 der neuesten Auflage mit Recht 
sagt, dafs die Geschichte dieser Gerichte soviel wie noch gar 
nicht geschrieben sey. Wenn auch in einzelnen unmittelbar aus 
Archiven gearbeiteten Büchern Materialien hiefür liegen , z. B. in 
Lang's Baireuther Geschichte, so ist doch hier nichts ex pro- 



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140 v. Savignj : Zur Rccht&gcschichtc des Adelt. 

posito dargestellt , und man darf nur die Verzeichnisse ansehen , 
die sich von den Gerichtspersonen in diesen Landgerichten , z. J3. 
des Herzogthums Franken in Wurzburg, des kaiserlichen dem 
Bischof von Bamberg überlassenen Landgerichts zu Bamberg fin- 
den, um zu erkennen, dafs die Besetzung bis in die ganz neue 
Zeit aus den Geschlechtern dieser freien Bitterleute vorgenom- 
men wurde. Der Zustand der Schoflen bar freien bildet also einen 
Gegensatz zum Herrenstande. 

IV. Soweit sind wir mit den Besul taten des berühmten 
Verls, für die neuere Zeit, die wir allein in dieser Anzeige vor 
Augen haben, einverstanden: dagegen scheint uns etwas nicht 
einmal angezeigt zu seyn , was in Beziehung auf den deutschen 
Adel von der gröfsten Wichtigkeit ist. Wir meinen die Berüh- 
rungspunkte des Herren- und Bitterstandes , welche die Veran- 
lassung des Unterschiedes in hohen und niederen Adel wurden, 
und den einen Theil offenbar dem andern näher rückten; so dafs 
eine strenge Grenzscheide, die fürstlichen Geschlechter abgerech- 
net, wenn sie auch früher vorhanden war, schon im Mittelalter 
gefallen ist, wie wir dies ja auch in den Ländern ausser Deutsch- 
land wahrnehmen. So sehr Bef. überzeugt ist, dafs Pütter und 
jetzt v. Savigny den rechten Punkt eines Fundamental -Unter, 
schiedes des eigentlichen oder Herrenadels und des uneigentlichen 
oder Bitteradels getroffen haben , so kann man doch die Gestal- 
tungen der späteren Zeit nicht ausser Betracht lassen, welche 
gebieten, im Leben und in der Wissenschaft bedenklicher bei 
Aufstellung fester Grenzen zu seyn. Wir erinnern hier nur an 
die Concurrenz des Herrenstandes und des Bitterahnenstandes in 
den Domstiftern, und die dadurch bewirkte Erleichterung des 
Ineinandei heirathens dieser beiden Classen des Adels, an die Er- 
werbung reichsfreien mit Immunitäten versehenen Guts in blos 
rittermäfsige Hände und an den Einilufs dieses Punktes auf das 
Geschlecht , an die Einigungen des Herren- und Bitterstandes ' 
zum Schulze und Trotze — später an das Zusammentreffen bei- 
der Arten des Adels im Kriegsdienste eines angesehenen Fürsten, 
ebenso in den Beichsgerichten, an das Erheben von einem Stande 
in den andern durch die kaiserliche Macht u. s. w. Das früh- 
zeitige Ineinanderlnufen der Herren- und Bittergeschlechter sieht 
man am besten aus den Tafeln der Geschlechtsverwaodten , die 
gewöhnlich bei den Grabmalen der Bischöfe und Domherren in 
den Domkirchen sich befinden. Gewifs aber läfst es sich nicht 
läugnen , dafs die an Land und Leuten mächtigen Herren , die 



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alten Furstengeschlechter , ihres Herrenthums and der angestamm- 
tcn Rechtsgrundsätze bei allen Schritten des öffentlichen and des 
Familienlebens mehr eingedenk waren , als die anderen Herren , 
die ihrerseits mit mächtigen Rittern den Weg der Ehre und des 
Lebens gingen , so dafs in der That in letzterer Hinsicht die 
grofse Erzeugerin des Rechts, die Gewohnheit, hier Manches 
that, womit sich eine Rückführung in die Zeiten der alten Völ- 
kergesetze nicht verträgt. Die Welt war durch und durch eine 
andere geworden , und verband und schied sich nach neuen WahU 
verwandschaften. Ebendeshalb werden wir für das neuere Recht 
neben dem Fürstenadel in Deutschland noch einen andern Adel 
annehmen müssen, in welchen manche Dynastengeschlechter fiel- 
leicht herabgesunken sind (obgleich die meisten sich durch die 
Gunst der deutschen Reichseinrichtung und selbst bei der Media- 
tisirung erhalten haben ) ; wogegen einzelne rittermäfsige Ge- 
schlechter allerdings zu dem wirklichen Adel sich hinaufgehoben 
haben. Was den praktischen Punkt des jus connubii oder die 
Ebenbürtigkeit betrifft, so haben sich im Mittelalter gewifs Dy- 
nastenfamilien mit rittermafsigen verbunden, wenn auch die Für- 
sten die alte Sitte wohl in Obacht nahmen. Dann ist und bleibt 
es eine noch nicht verhandelte Frage, wenn man hierin den Dy- 
nasten an sich keine Schwierigkeit machte, aus welchem Grunde 
man den fürstlichen Dynasten gegenübertreten wollte? Gerade 
deshalb sorgte man durch Hausgesetze, und aus diesen geht ei- 
gentlich das Fürstenrecht hervor, so dafs hierin dann Betrach- 
tungen der älteren Sitte und des alten Volksrechts praktisch un- 
fruchtbar werden. Im Übrigen raufs die Wissenschaft immer den 
Grundstein so legen, wie ihn auch hier der berühmte Rechts- 
historiker gelegt bat. 

Rofahirt. 



Geschichte des Hellenismus von Joh. Gust. Droysen. Erster Theil. 
Geschichte der Nachfolger Alexanders. Homburg 1836, bei Eriedrich 
Perthes. XVI und 166 S. gr. 8. 

Der Verfasser ist dem gelehrten Publikum schon durch seine 
Geschichte Alexanders des Groden bekannt Dieselbe soll als 
die Einleitung des vorgenannten Werkes angesehen werden. Suchte 
Herr Droysen in der Geschichte Alezanders nachzuweisen, wie 
von demselben das altheimische macedonische Wesen und die Be- 



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142 Droysen : Geschichte der Nachfolger Alexander«. 

schränktheit des Griecbentboms uberwunden und die neue Zeil 
Torgebildet, kurz das abendländische Leben mit dem morgenlän* 
dischen verschmolzen habe, so setzt er sich in der Geschiebt« 
des Hellenismus die Aufgabe, die Entwicklungen , welche aus 
Alexanders Eroberungen hervorgegangen sind , in allen ihren Rich- 
tungen und Beziehungen zum frühem Griecbenthum und zu der 
romischen Weltherrschaft, zum Christenthum und zum Islam, 
darzustellen. Der Verf. meint, man habe bisher in dem Hellenis- 
mus nichts als Negatives, nichts als Verschlechterung, Verwor- 
fenheit und Untergang gesehen: jedoch sey es gewifs, dafa er 
ausser der Schwache auch Kraft enthalten und wäre es auch nur 
die des Verneinens und der Zerstörung, des Leidens und der 
Trägheit; von dieser Ansicht, von diesem Principe aus müsse 
die Geschichte des Hellenismus begriffen werden. 

In dieser Beziehung unterscheidet sich des Verfs. Darstellung 
und Auffassung der Zeiten, welche nach Alexanders Tod folgten, 
wesentlich von der Behandlung derselben durch frühere Bearbei- 
ter, und es ist daher natürlich, dafs er nicht mit Flathe (Ge- 
schichte Macedoniens und der Reiche, welche von macedonischen 
Konigen beherrscht wurden) in der Art der Auffassung überein- 
stimmen konnte. Bei dem, was Flathe als macedonisch bezeich- 
net, findet der Verf. nichts Macedonisches als nnr den Namen 
und einige Formen in Bezog auf das Hofleben , alle Einrichtun- 
gen, alle Sitte, Mode, Bildung, alle Verhältnisse der neuen Staa- 
ten und der alten Bevölkerung, der Unterthanen zu ihren Herr- 
schern und der Reiche zu einander bezeichnet Herr Droysen als 
hellenistisch. Mit Recht erklärt er sich dagegen , dafs die höch- 
ste Aufgabe des Historikers darin bestünde, den historischen StofT 
fleifsig und sorgfältig zu sammeln, mit Kritik von dem Fremd- 
artigen zu reinigen und ihn zu einem Ganzen zusammenzufügen: 
ihm ist die historische Kunst ihrem Wesen nach, dafs sie den 
Gedanken geschichtlicher Entwicklungen erkennt und in Bezie- 
hung auf ihn den Verlauf des ä'usserlich Faktischen begreift und 
durch die rechte Vertheilung der Massen das Ganze als eine viel 
gegliederte Einheit darstellt, die ein Bild von dem Werden und 
der Gestaltung eines einigen und wesentlichen Gedankens in der 
Erinnerung haften läfst. Jedoch wird Herr Droysen bei dieser 
philosophischen Auffassong der historischen Kunst einräumen , dafs 
ohne Gelehrsamkeit, ohne Kritik, der Gedanke geschichtlicher 
Entwicklungen zwar errathen , aber nicht nachgewiesen , nicht be- 



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Drosen i Geschichte der Nachfolger Alexandere. IIS 

gründet werden kann , und dafs ohne diese fette Grandlage leicht 
ein Verlieren in die Nebelbilder philosophischen Räsonnements 
stattfindet. 

Von dem in dem Vorworte ausgesprochenen Princip ans stellt 
der Verf. die Geschichte der Nachfolger Alexanders im Buche 
selbst dar. Sie ist ihm die Antistrophe der Geschichte Alexan- 
ders: sie entwickelt die negativen Bestimmungen, die sich an 
dem Werke des grofsen Eroberers herausstellen mufsten : sie stellt 
die blutigen Kämpfe dar, durch welche aas dem Weltreiche die 
Anfange der hellenistischen Staaten sich gebildet haben. Dem- 
gemäfs theilt er den ersten Theil in Tier Bücher oder Stadien, 
deren jedes das von Alexander gegründete Reich dem Untergange 
naher fuhrt. Im ersten Buche ( v. J. 3g3 — 319 vor Chr.) steht 
Perdikkas im Mittelpunkt der Geschichte, im zweiten (v. J. 3io, 
- — 3 1 5 ) stellt der Verf. Polysperchon und Eumenes in den Vor- 
dergrund, den einen im Abendlande, den andern im Oriente; im 
dritten Buche (v. J. 3i5 — 3oi) gruppirt sich alles um Antigonus, 
der das Reich Alexanders wieder herzustellen sucht, aber in der 
Schlacht bei Ipsus unterliegt; im vierten Buche (v. J. 301—278) 
verschwindet mit dem Tode des Demetrius Poliorcetes und Sc- 
leueus, indem sie dem Gedanken, Wiederhersteller des grofsen 
Alexanderreiches zu werden , vergeblich nachhängen , jeder ähn- 
liche Versuch. Es ist in derselben Zeit als Pyrrbus mit den Rö- 
mern kämpft und. die Pest und gallische Völkerwanderung Thra- 
eien , Macedonien und Kleinasien heimsuchen. 

Es ist nicht zu bestreiten, dafs für eine klare, leicht zu 
ubersehende Darstellung wenige Zeiten des geschichtlichen Alter- 
thuras so viele Schwierigkeiten darbieten, als die der Nach- 
folger Alexanders, da die vielfach sich kreuzenden Verhältnisse 
und die Menge der handelnden Hauptpersonen in verschiedenen 
Reichen und Gegenden, wie auch der Mangel und die Einseitig- 
keit der Nachrichten verhindern ein überschauliches Bild zu lie- 
fern. Herr Droyscn hat in seiner Geschichte diese Schwierigkei- 
ten so viel als möglich glücklich überwunden, indem er die 
Hauptpersonen und die Hauptmotive in den Vordergrund stellt 
und sie mit scharfen Umrissen zeichnet. Es war freilich, was 
der Verf. selbst gefühlt hat, nicht zu vermeiden, dafs an den 
bestimmten Urtheilen, an den scharfen Zeichnungen, die strenge 
historische Kritik Manches konnte zu' tadeln finden. 

Dafs der Verf. die Quellen sorgfältig studirt und auch die 



1 



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144 Droyten: Geschichte der Nachfolger Alexanders. 

Hülfsschriften von Bedeutung benutzt bat, läTst sieb aus der 
ganzen Bearbeitung nicht verkennen. Nach den jetzigen Anfor- 
derungen, die man an ein historisches Werk macht, genügt es 
nicht mehr, die Quellen allein zu kennen, man verlangt auch, 
dafs der Schriftsteller die Vorarbeiten über seinen Gegenstand 
berücksichtigt und die Ansichten der Vorgänger über streitige 
Punkte, insofern sie Beifall oder Widerlegung verdienen, be- 
leuchtet. Über den Charakter der Quellen selbst bandelt der 
Vf. in der ersten Beilage S. 667 — 688. Bekanntlich sind sa'mmt- 
Hche gleichzeitige Quellen über die Nachfolger Alexanders ver- 
loren gegangen : wir haben über ihre Geschichte nur solche 
Schriftsteller, welche mehrere Jahrhunderte später gelebt haben, 
doch haben sie zum Theil aus gleichzeitigen Quellen geschöpft. 
Bei der Würdigung der jetzt noch vorhandenen Schriftsteller 
über die Diadochen, haben Diodor von Sicilien, Arrian, Plutarch, 
Justin , Pausanias als die Hauptquellen besondere Beachtung er- 
halten ; kürzer ist über Pnlyän, Frontin, Appian, Cornelius Nc- 
pos, Memnon von Heraclea gesprochen: die fragmentarischen 
Berichte und Notizen , die sich sonst noch bei den alten Schrift- 
stellern, Kirchenvätern etc. finden, sind zwar in dieser Beilage 
S. 688 nicht näher bezeichnet, jedoch zeigt der Verf. in den 
Noten zur Geschichtsdarstellung, dafs er mit dem Material der 
Geschichte bekannt ist, auch selbst mit zerstreuten, ganz kurzen 
Notizen. In Bezug auf die Quellen und die Zeitbestimmungen 
ist die zweite Beilage über die Angabe einiger Chronographen 
(S. 689 — 697) wichtig. Sie enthält vorzüglich über des Euse- 
bius (Porphyrius) , Syncellus (Dexippus) und des Ptolemäus Kanon 
Untersuchungen , deren Resultate in der chronologischen Ta- 
belle (S. 726 — 738) von Alexanders Tod bis zum Jahr »78 vor 
Chr. niedergelegt sind. 

(Der Beschlufs folgt.) 



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N°. 10. HEIDELBERGER * i837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

Dr oyten: Geschichte der Nachfolger Alexanders. 

» 

(Betehlufs.) 

In Betreff der Hilfsschriften und Vorarbeiten, welche Herr 
Droysen benutzt hat, so zählt er dieselben in der Vorrede auf. 
Er nennt darunter mit ganz besonderer Auszeichnung das Buch 
▼on Mannen »Geschichte der unmittelbaren Nachfolger Alexan- 
ders.« Wir verkennen keineswegs die Verdienste dieses Gelehr- 
ten um alte Geschichte und Geographie , wir bezweifeln jedoch 9 
dafs auf ihm ein Historiker, der auf das innigste mit allen Quel- 
len bekannt und selbständig in der Behandlung der Geschichte 
und seinem Urtheile ist, fufsen werde. In dieser Beziehung ist 
daher der Ausspruch offenbar unrichtig, den die Phrase Vorrede 
S. IX enthält: »Auf ihm (Mannert) fufsend konnte Schlosser, 
in Wahrheit ein Historiker im grofsen Styl , auch diesem Abschnitt 
seiner treft(iehen alten Geschichte eine Füllung und eine Deutlich- 
keit geben, wie man sie umsonst bei den Historikern des Aus- 
landes , namentlich bei Gillies sucht. « Wenn auch Herr Droysen 
mit Flathe (Geschichte Macedoniens etc.) nicht in der Art der 
Auffassung der Zustände der Zeit übereinstimmt, so bekennt er 
doch diesem Historiker, der sich in seiner Geschichte nur an die 
Quellen hält, ohne sich um die neuen Forschungen zu beküm- 
mern, viele Aufklärungen streitiger Punkte zu verdanken. Das 
Werk von Champollion Figeac annales des Lagidca ou Chronolo- 
gie des rois Grecs d!Egypte, fand Herr Droysen weder in den 
Sachen noch in den chronologischen Bestimmungen zuverlässig, 
bessere Hülfe leisteten ihm die Clintonschen Fasten nach der 
Hrugerschen Bevision, ferner Niebuhrs Abhandlung über den ar- 
menischen Eusebius und dessen Ansichten über die Zeit der Dia- 
dochen in Grauert's Ansichten. 

Einzelne wichtige Streitpunkte hat der Verf. in besondern 
Beilagen besprochen. Man wird seinen Gründen Beifall geben, 
dafs Alezander ohne Testament gestorben und erst zweihundert 
Jahre nach seinem Tode die Sage verbreitet wurde, dafs die 
Nachfolger nicht durch Gewalt der WafTen , sondern durch testa- 
mentarische Verfugung die Herrschaft erlangt hätten (Beilage III. 
XXX. Jahrg. 2. Heft. 10 



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146 Römer: Versteinerungen. 

8, 698—704). Auch die Sago von Alexanders Vergiftung (Bei- 
läge IV. S. 705 — 707) verwirft er mit Recht. Was die Beilage 
VI. (S. 711—726) über die mittelalterlichen Sagen von Alexan- 
der und seinen Nachfolgern betrifft, so hatten diese, ungeachtet 
ihres historisch -literarischen Interesses, füglich in einem histori- 
schen Werke der Art wegbleiben können. Das beigefugte Re- 
gister gibt nicht nur über den ersten Theil der Geschichte des 
Hellenismus, sondern auch über die Geschichte Alexanders Nach- 
weisungen. 

Die folgenden beiden Bände sollen die politische Geschichte 
des Hellenismus bis zunl Untergange seiner selbständigen staat- 
lichen Existenz enthalten. In den weitern Bänden verspricht der 
Verf. die religiösen und sittlichen Zustände bis auf den Sieg des 
Christenthums und die Reaction im Sassanidenreich und Muham- 
medismus, endlich die Literatur und Kunst bis zu den letzten 
byzantinischen Nachklängen der grofsen Vorzeit zu behandeln. 

Wir wünschen dem Verf. Mufse, Kraft und Ausdauer zu der 
Fortsetzung. Möge derselbe durch eine gedrängtere Darstellung 
und eine freiere Auffassung seines Gegenstandes den Werth des 
Werkes noch mehr erhöhen. 

As chba ch. 



Fr. Ad. Römer, Die Versteinerungen de» norddeutschen Oolithcn- Gebirges 
Zweite und dritte Lieferung, enthaltend: neuen Titel, Text von S. 65 
bis 68 und 15 bis 218 und Taf. 1 - XVI. Hannover 1836. gr. 4. 
(Preis des Ganzen 14 fl. 24 kr.) 

Wir haben die erste Lieferung auf S. 5o d. J. angezeigt, 
und haben die Freude, nicht nur die Vollendung des Werkes so 
bald berichten , sondern auch dem wesentlichsten von uns be- 
zeichneten Mangel desselben abgeholfen, nämlich die gespenstisch 
aussehenden 12 Tafeln der ersten Lieferung durch wohlgediehene, 
ganz neu lithographirte und bei dieser Gelegenheit in einigen 
Punkten berichtigte und zum Theil mit mehr Figuren versehene 
ersetzt zu finden. Zu diesen dankenswerthen Leistungen gesellt 
sich die Erweiterung des Werkes um 4 Tafeln mit Supplemen- 
ten und der Umdruck einiger Seiten des Textes zum Behufe sei- 
ner Berichtigung, indem die 2 Placuna-Arten sich nun wirklich, 
mit unserer früher ausgesprochenen Vermuthung nahe überein- 
stimmend, als Klappen von Pollicipes ergeben haben, welches 
Genus daher bei den Cirrbopoden noch beigefugt werden mufs 
und das erste Auftreten dieser Familie zu bezeichnen scheint. 



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Römer: Versteinerungen. 147 

Von Konchiferen werden im Ganzen nun 35 Genera mit 24a 
Arten angegeben. Zn den früher genannten Geschlechtern kom- 
men nämlich noch hinzu : Lima, Posidonia, Inoceramus, Perna, 
Gervillia, Avicula, Pinna, Mytilue, Modiola, ünio, Trigonia,' 
PfacoJa, Area, Cucullaea , Isocordia, Cardium, Venns, Aatarte 
Cjrrena, Laoina, Corbis, TeUina, Amphidesma, Mactra, Mja,' 
Panopaea, Pholadomya. Unter diesen sind denn natürlich manche, 
die keine ganz bezeichnende äussere Form besitzen , hier nur mit 
sehr zweifelhaften Arten versehen worden , da oft auch die Schaale 
mangelt und gewöhnlich auch das Schlofs nicht zu sehen gestattet 
war. Dies gilt insbesondere von Cardium, Venns, Corbis, Tel- 
lina, Amphidesma, Mactra, Mya, Panopaea, deren Arten oft so- 
gar einen diesen Geschlechtern fremdartigen Habitus besitzen, 
doeb furerst noch nicht besser untergebracht werden können. 

Die Gaiteropoden mit «3 Geschlechtern und 81 Arten zer- 
fallen auf folgende Weise in Unterordnungen: a) Cirrhobranchier 
mit dem Genus Oentalinm ; b) Cyclobrancbier mit dem Geschlecht 
Pateila, dessen 4 Arten jedoch einen befremdlichen Habitus be- 
sitzen; c) Scutibranchier mit dem Genus Emarginula, wovon die 
eine deutlich erhaltene Art eine überraschende Erscheinung in 
den Oolithen ist; d) Tectibranchier mit dem Genus Bulla, wel. 
ches einige deutliche Arten liefert; e) Pectinibranckier mit 7, 
von Lamarck unter die Zoophagen, und mit 13 von demselben 
zu den Pbytophagen gestellten Generibus, nämlich Bnccinum, Fusus, 
Potamides, Cerithium , Nerinea, Pteroceras , Rostellaria, — Sca- 
laria (deutlich!), Pleurotomaria , Trochus, Cirrus, Turbo, Turri- 
teils, Littorina, Nerita, Natica, Melania, Paludina, Helix. Be- 
kannt ist, dafs in den sekundären Formationen: aus der Abthei- 
lung der Zoophagen nur die flugelmundigen Geschlechter Ptero- 
ceras und Rostellaria so wie das Genus Nerinea zn den bezeich- 
nenden gehören , die übrigen aber nur mehr zufallig oder zwei- 
felhaft darin vorkommen. In der Tbat liefern auch hier diese 3 
Genera 9 Arten von 23 ; und von den übrigen 14 Arten trägt keine 
mit Bestimmtheit die Charaktere und den Habitus des Geschlech- 
tes, dem sie beigezählt ist Die thurmfSrmigen Gestalten schwan- 
ken zwischen Cerithium , Potamides , Melania . . . . , die übrigen 
grolstentheils konnten möglicher Weise noch verstummelte Flü- 
gelmunder aeyn. Unter den aufgeführten 7 Nerinea-Arten sind 
N. nodosa und N. fasciata verschieden von den Voltz'schen die- 
ses Namens und gehört die erste gar nicht zu diesem Genus. — 
Unter den Pbytophagen-Geschlechtern wurde das Auftreten von 



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148 



Homer ; Versteinerungen. 



Hei ix in den Oolithen überraschen ; doch hat keine der drei dahin 
gerechneten Arten den bestimmten Charakter dieses Geschlechts. 

Die Cephalopoden endlich sind durch die 4 Genera Beiern* 
nites, Nautilus, Ammcmites und Bbyncholites mit 81 Arten re- 
präsentirt, und bei Angabe der Uoterabtheilungen noch manche, 
nicht in den Weser-Gegenden einheimisch gefundene Arten nebst 
ihren Diagnosen je an ihrer Stelle eingeschaltet* 

Eine Krebsscheere , welche der Verf. Glyphea Meyeri nennt, 
eine Schildkröte Emys Menkii, und einige ? Ichthyosaurus-Zähne 
sind noch abgebildet, aber nicht beschrieben. 

Ein Supplement enthält noch 3 Pecten-, 1 Plicatula- and 1 
Unio-Art , nebst einigen geognostischen Bemerkungen über die 
früher mitgetheilte Gebirgs-GIiederung an der Weser, sowie die 
Nachweisung, dafs unter allen in diesem Werke beschriebenen 
Arten nur 5 sind , welche drei Formationsgliedern : dem Coralrag, 
Portlandkalk und Hilsthone, und nur 4 bis 7 , welche je zweien 
derselben: dem Lias und Dogger?, dem Dogger und Oxford- 
thon?, dem Coralrag und Portlandkalk, oder dem Portlandkalk 
und Hilsthone gemeinschaftlich zustehen; alle übrigen sind, in 
jenen Gegenden wenigstens , auf nur je eines dieser Gebilde be- 
schränkt. 

Das Werk schliefst mit einer Angabe des Inhalts der Tafeln 
und einem Begister der Genera. Was die Ausstattung desselben 
in seiner jetzigen Vollkommenheit betrifft, so ist solche sehr 
glänzend zu nennen. Nicht leicht wird es seyn ein anderes Werk 
zu finden, welches die so trefi liehe Beschreibung von mehr als 
5oo Arten und die oft noch mit Detail -Zeichnung versehenen 
schönen Abbildungen von mehr als 3oo derselben um einen so 
billigen Preis lieferte. Der Umstand, dafs diese Versteinerungen 
aus einer, bis gegen die Mitte von Deutschland reichenden, und 
bis jetzt in Beziehung auf sie fast gar nicht untersucht gewese- 
nen Gegend abstammen , so dafs sie mit denen analoger Gebilde 
im übrigen Deutschland gewifs grofse Ähnlichkeit darbieten und 
viele Belehrung verschaffen können , mufs dem Werke noch eine 
besondere praktische Nützlichkeit geben, sowie andrerseits gewifa 
zu vielen neuen Forschungen anspornen. 

H. G. Bron n. 

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» 

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Uem. de la Societ. de Neuchatel. 



149 



Memoire* de la SoeiiU de» »eieneee naturelle* de Xeuehdtel Tom. i, 99 
pp. t Bulletin de 86 pp. . et Will pll. 4. Neuchdtel 1884i. ( Freit 
20 Franc«; du« Bulletin insbesondere 5 France, beim Secretariat der 
Gesellschaft.) 

Wir freuen ans, den ersten Band dieser Memoiren als einen 
Beweis energischer Tbätigkeit einer noch jugendlichen und klei- 
nen Gesellschaft anzuzeigen, welche sich zur Aufgabe gesetzt hat, 
in ihrem Bereiche den Sinn für die Naturwissenschaften und deren 
Anwendung auf Medizin und Gewerbe mehr zu erwecken und zu 
verbreiten. Es ist die zweite Kantonal-Gesellschaft der Schweitz, 
die aich aber gleichwohl mit der allgemeinen Schweitzer-Gesell- 
schaft in Verbindung halt. Wenn in beiden Kantonen schon eine 
hinreichende Grundlage wissenschaftlichen Sinnes und, Strebens 
vorhanden war, um sich mit Naturforschern von Beruf durch 
deren Anstellung zu öffentlichen Lehrern der Naturgeschichte zu 
verbinden, nämlich in Genf' mit De Candolle einem Fremden, 
hier mit Agassiz einem Eingebornen, so war an beiden Orten 
eben diese Verbindung der Vorbote gemeinschaftlich planmäfsi- 
geren Arbeitens und öffentlichen Auftretens mit diesen Arbeiten. 
In der That zählte diese Gesellschaft bis zum Jänner i835 nur 
34 ordentliche, in Neuchatel ansässige, und ig ausserordentliche 
Mitglieder, welche meistens Neuchateier von Geburt, thcils im 
Hantone, theils im Auslände umher wohnen, oder sich auf Reisen 
befinden. Der erste Band der Gesellschafts-Schrift enthält ausser 
den Berichten der beiden Sekretäre über die Arbeiten der Ge- 
sellschaft im Jahre i833 auf i834, nämlich dem des Professors 
De Joannis von der physikalisch. raathematisch -ökonomischen , 
und den des Professors Agassiz von der naturhistorisch -medi- 
zinischen Sektion , folgende Abhandlungen. Aus dem Gebiete der 
Naturgeschichte finden wir einen Aufsatz von L. Coulon : Be- 
schreibung und Abbildung von einigen seltenen Thieren des Mu- 
seums in Neuchatel, nemlich von Sciurus humeralis C. , Sc. Baf- 
ilesii Horsf., Sc. griseiventer Geoffr., Sc. auriventer Geoffr. , 
und eine Varietät des Palaeornis Benghalensis VVagl. (S. 122 — 
125, Taf. 8 — i3); — Beobachtungen von Allamand über die 
Sitten einiger Hausthiere (S. 77 — 92); — Beschreibung und Ab- 
bildung einiger neuen Cyprinus-Arten ans dem Neuchatcler See, 
Ton Agassiz, nemlich des Leuciscus rodens, L. majalis und L. 
prasinus Ag., der eine allgemeine Charakteristik der Familie der 
Cyprinen (Cyprinus und Cobitis Lin. ohne Zähne in den Kinn- 
laden, im Gegensatz« der Cyprinodonten mit Zähnen und welche 



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Mdm. de la Societ. de Neuchatel. 



die übrigen Cuvier'schen Genera in sieb begreifen) and eine 
Eintheilung derselben in i3 Geschlechter nach des Verfs. eigenen 
Untersuchungen mit Angabe ihrer lebenden und fossilen Species 
vorangeht (S. 33 — 48, Taf. I. IL). Ferner liefert derselbe Verf. 
den Prodromus einer Monographie der Radiarien oder Echinoder- 
men , welche er in drei Ordnungen sondert , in Fistuliden mit 1 1 9 
in Ecbiniden mit 29, und in Stellenden mit 41 — 44 Geschlech- 
tern, die alle neu charakterisirt , theils neu gebildet sind durch 
Zerlegung der schon früher bekannten; bei jedem Geschlechte 
fuhrt der Verf. alle ihm bekannte, lebende und fossile, alte und 
neue Arten namentlich auf, die er in der Lage war auf seinen 
Reisen grofstentheils selbst zu untersuchen. Doch war er nicht 
bedacht , die Arten über die Gebuhr zu vervielfältigen ; er hat 
im Gegentheil solche in manchen Geschlechtern vermindern müs- 
sen, da man bei den fossilen insbesondere nicht berücksichtigt hatte, 
dafs in ihrer Körperhülle die Anzahl der kalkigen Tafelchen in 
jeder Reibe mit dem Alter zonimmt und hiedureb auch die Form 
sich ändert. Auch hat er die Stelle nachgewiesen, wo diese Zu- 
nähme erfolgt: bei den Echiniden nämlich da, wo am die Ei- 
leiter-Täfelchen her die radialen Täfelchen-Reihen sich mit ihren 
kleinsten Täfelchen endigen; bei den Stellenden aber an der (der 
vorigen Stelle entsprechenden) seitlichen Basis der Arme, und 
nicht am Ende derselben, obsebon hier die Reihen der kleinsten 
und unregelmäßigsten Täfelchen sich wahrnehmen lassen. Um bei 
den regelmäßig radialen Echiniden zu einer genauen Parallelisi- 
rung der Theile mit denen der übrigen Formen zu gelangen und 
namentlich zu bestimmen, was vorn und was hinten sey, bediente 
sich der Verf. des sog. Madreporenförraigen Körpers der Stellen- 
den, welchem das unpaare OviduktaUTäfelchen des Scheitels bei 
den Eckiniden (sofern es nicht ganz fehlt und seine Stelle dann 
durch einen blofsen Eindruck angedeutet ist) entspricht. In bei- 
den Fällen steht dasselbe, gleich dem After, zwischen den zwei 
hintersten Fühlergängen und mithin dem unpaaren Füblergange, 
welcher seine Richtung auf der vordem Mittellinie zum Munde 
nimmt, gegenüber (S. 168—199). — Daran schliefst sich eine 
fernere üntertuchung von Agassiz über die fossilen Reste (16 
Arten Echinodermen) des Kreidegebildes im Neuchateier Jura 
(S. 126 — 145, Taf. XIV), welches Aug. v. Montmollin (S. 49 
— 65, Taf. 3) vortrefflich beschrieben und durch Aufzählung sei- 
ner Fossil-Reste — wozu dann jener Aufsatz als Ergänzung gel« 
ten kann — als ein reines Kreide- und zwar Grünsand-Gebilde er- 



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Mcm. d« la Societ. de NeuchaUl. 



151 



diesen hat, in welchem keineswegs eine Untermengung von Oolith- 
Versteinerungen zu erkennen sey. — Nicolet untersuchte die 
Portland, und verwandten Kalksteine um Chaux-de-Fond rücksicht- 
lieh ihrer Brauchbarkeit zur Lithographie; welche sehr befriedi- 
gende Resultate gewahrten, obschon sie grofstentheils nnr in klei- 
nen Tafeln gewonnen werden Können (S. 66 — 70). — Professor 
Ladine bat eioe Abhandlung über die Bildung der gegenwärti- 
gen Oberfläche der Erdkugel geliefert (S. 149—167). — Von 
Osterwald lesen wir eine Bestimmung der Hohe des Neucha- 
teier Sees auf i34*' Par. über dem Meere (S. 146—148),— 
und von Montmollin, dem Vater, Beobachtungen über die 
Änderungen in der Hohe des Seespiegels während der Jahre 
1817 — 1(&4 (S. 116 — 121 nebst 4 Tabellen), sowie eine Dar- 
stellung der Bewegung der Bevölkerung von Neuchatel in den 
34 Jahren seit dem Beginne des Jahrhunderts (S. 116 — 121 mit 
3 Tabellen), wornach 1,8 illegitime Geburten auf 100 legitime, 
eine Geburt auf 35,88 Lebende, eine Heirath auf i56,oi, und 1 
Tod auf 48,a3 Lebende kommen , die mittle Lebensdauer 37,77 
Jahre (im letzten Quinquennium allein nur 35 Jahre) beträgt und 
die wahrscheinliche Lebensdauer der Ncugebornen 38 Vi Jahre ist. 
1 — Endlich hätten wir drei medizinische Abhandlungen anzufüh- 
ren, eine von Dr. de Castella über Heilung eines falschen con- 
secutiven Aneurisma's durch Unterbindung der Crural- Arterien 
(S. o3 — 98), — eine Bemerkung über die Unterbindung dieser 
Arterie, — und Bore Ts Beobachtungen und Betrachtungen über 
Wasserscheu (S. io3— n5). Das Bulletin bibliographique liefert 
eine Übersetzung von Lyell's Beobachtungen über die allmüh- 
Jige Emporhebung einiger Tbeile Schwedens, besorgt von Cou- 
)on (S. 1 — 35, Taf. XV — XVIII), — und eine kurze Anzeige 
von Brandt und Erichson's Monographia generis Meloes, i83i, 
und Erichson's Genera Dyticeorum, Bero). i83a. 

Die gegenwärtige Tendenz der Gesellschaft ist daher vor- 
zugsweise eine naturhistorische , insbesondere auf Zoologie und 
Geognosic gerichtete , im Gegensatze mit der mehr zur Botanik 
und Physik neigenden ihrer Nachbarin, so dafs sich beide gegen- 
seitig ergänzen, wenn nicht, wie zu erwarten, diese Lücke künf- 
tig durch Männer aus ihrem Schoofse selbst ausgefüllt werden 
sollte. 

II. G. Bron m. 



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152 Kramer: Erkenntnüt u. Heilung der Ohrenkrankheiten. 



Die Krlcenntnif» und Heilung der Ohrenkrankheiten. Von Dr. WUh. Kra- 
mer. Zweite, sehr verbesserte und vermehrte Auflage seiner „lang- 
wierigen Schwerhörigkeit ". Mit Abbildungen in Kupferstich. Berlin , 
in der Nicolai'schen Buchhandlung. 1836. gr. 8. 8. VI und 400. 
(Pr. 3 fl. 86 kr.) 

(Vergl. diete Jahrbb. 1834. Utes Heft. No. 59. S. 942 ff.) 

Der Herr Verf. hätte diese Auflage mit allem Hechte eine 
neue Schrift nennen können, und wir müssen sie auch als eine 
80 1 che ansehen; indem man hier eine ziemlich erschöpfende Dar- 
stellung der gesammten Ohrenheilkunde findet , wogegen die erste 
Auflage blos eine fragmentarische Arbeit über die wichtigern 
chronischen Krankheiten des Gehörorgans war. 

Die Schrift zerfällt in zwei Abschnitte. Der erste handelt 
Ton der allgemeinen, der zweite von der besondern Ohren- 
heilkunde. 

Der Herr Vi, gibt in dem ersten Abschnitte (S. i — 94) 
zuerst eine chronologische Übersicht und eine kritische Beleuch- 
tung der wichtigern Leistungen im Gebiete der Ohrenheilkunde. 
Die Kritik des Herrn Verfs. ist scharf und mit Sachüenntnifs ge- 
schrieben, aber oft völlig rücksichtslos, nicht beachtend, dafs 
Einzelne auf dem jedesmaligen Standpunkte, den die Ohrenheil- 
kunde hatte, sehr Wichtiges geleistet haben. Herr Kramer hat 
die Leistungen seiner Vorgänger von einem falschen Gesichts- 
punkte aus beurtheilt , er hat die Zeit und die Umstände , in wel- 
chen und unter welchen die einzelnen Schriften erschienen, nicht 
gehörig ins Auge gefafst, und nicht bedacht, dafs er ohne diese 
Vorgänger gewifs das nicht hätte leisten können, was er in der 
vorliegenden Schrift geleistet hat. Unverkennbar gehört das Bes- 
sere in der Ohrenheilkunde der neuern Zeit an , und diese ver- 
spätete Ausbildung ist hauptsächlich der oberflächlichen und ver- 
nachlässigten Untersuchung des Gehörorgans im kranken Zustande 
zuzuschreiben, wodurch Unsicherheit in der Diagnose und somit 
Planlosigkeit und Verwirrung in dem Heilverfahren entstanden 
sind. 

In den Hippokratischen Schriften werden die Krankheiten des 
Gehörorgans als selbstständige Krankheitsformen fast nirgends er- 
wähnt. Sie waren den Götschen Ärzten nur wichtig als Beglei- 
ter anderer, namentlich fieberhafter und sturmisch verlaufender 
Krankheiten, insofern sie nämlich für die Prognose günstige oder 
ungünstige Momente darboten. — Gelsus begründete eine wissen- 
schaftliche Entwickelung dieses Zweiges der Heilkunst, indem er 



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u. Heilung der 

• 

die Ohrenkrankheiten als selbstständige Krankheitsformen 
aufführte, vortreffliche Vorschriften bei heftigem Entzündungen 
des Gebororgans gab and bei langwieriger Schwerhörigkeit zur 
Ocularinspecction des Gehörganges aufforderte. — Zu Galen's 
Zeiten machte die Ohrenheilkunde einen nicht unbedeutenden 
Rückschritt, indem die bei Oelsas deutlich her vortretende Rich- 
tung zum Individualismen der Krankheitszustande offenbar in den 
Hintergrund trat , man die verschiedensten Krankheiten , obgleich 
theoretisch unterscheidend, in der Praxis aber nicht beachtend, 
mit den heftigsten , erhitzendsten Mitteln bebandelte. Langer als 
ein Jahrhundert erhielten sich diese roh empirischen Grundsatze 
Galens in vollem Ansehen. Die unschätzbaren anatomischen Ent- 
deckungen im Bereiche des Gehörorgans gegen das Ende des 
i5ten und in der ersten Hälfte des i6ten Jahrhunderts durch 
Achilliai, Berengar, Vesalius, Ingrassias, Eustachius, Fallopia 
u. s. w. gewannen keinen Einflufs auf die pathologischen und 
therapeutischen Ansichten der Ärzte damaliger Zeit, so dafs wir 
in der für jene Zeit am meisten in Ruf stehenden Abhandlung 
des H. Mercurialis (de oculorum et aurium affectibus praelectio- 
nes. 1591.) nach Abzog der theoretischen Ausschmückung, in kei- 
ner Beziehung mehr finden, als was Galen 14 Jahrhunderte frü- 
her ausgesprochen hatte. — Fabr. Hildanus (Opera omnia 1646) 
kam zuerst wieder auf den Weg grundlicher Untersuchung, rich- 
tete aber nur seine Aufmerksamkeit auf den äussern Gehörgang 
und dessen krankhafte Zustände. Er erfand zur bessern Unter- 
tuchang des Gehörganges das erste Speculum auris. — Bonet's 
Leichenöffnungen (Sepulchretum. 1679) naDen wenig Werth, da 
keine erläuternden Krankengeschichten beigefugt und die Unter- 
suchungen des Gehörorgans nicht genau sind. — Du Verney's 
Werk (Traite de lorgane de Ponte etc. i683) verdient in anato- 
mischer Hinsicht seinen grofsen Ruf; allein dieser darf nicht auf 
den pathologisch -therapeutischen Theil ubertragen werden. Ein 
Gleiches gilt von den Leistungen eines Vieussens , Yalsalva, Cas- 
sebohm. — Die vereinzelten pathologischen Beobachtungen von 
Wepfer, Willis, Riedlin, Friedr. Hoff mann u. A. konnten die 
Diagnostik und Therapeutik der Ohrenkrankheiten wesentlich nicht 
fordern. Den erfolgreichsten Anstois zu weitern, wichtigen Fort- 
schritten gab ein Postmeister in Versailles, Namens Guyot, in- 
dem er zur Erleichterung eigner Schwerhörigkeit die Eustachische 
Trompete durch die Mundhöhle einspritzte, worüber im Jahre 
»7*4 der Pariser Akademie der Wissenschaften eine kurze Mit- 



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IM Kramer: Erkeontnife u. Heilung der Oi 



theilang gemacht wurde. Dieses Verfahren wurde durch Cleland 
1741 zuerst vervollkommnet, indem dieser einen silbernen, aber 
biegsamen Catheter durch die Nase einzubringen versuchte. Mont- 
pellier sehe Ärzte verwandelten nach einer Reihe von Jahren den 
biegsamen Catheter, als unbequem in der Anwendung, in einen 
unbiegsamen. — Wathen (1 "55) theilte die ersten Krankenge- 
schichten mit, bei denen durch Einspritzungen in die Tuba Eu- 
stachi ein wenigstens theilweise günstiges Ergebnifs von ihm er- 
zielt worden ist. Von der Diagnose der Krankheiten dieses Ha- 
nais war damals noch nicht die Bede. — Nach Herrn Kramer 
hat Leschevin diese Operation nur an Leichen vorgenommen. — 
Büchner, Goiditsch und Wildberg dürfen als ganz unwichtig für 
die Krankheiten des Gehörorgans . übergangen und ihnen auch 
Morgagni zugesellt werden, dessen wenige Sectionsberichte über 
Eiterungen und Caries im Gehörorgan wenig Aufschluß geben, 
da das Organ weder bei Lebzeiten noch nach dem Tode der 
Kranken genau untersucht worden ist. 

Bei all' diesen Mängeln der besten literarischen Arbeiten da- 
maliger Zeit war in der Praxis die Behandlung der acuten Gehör- 
krankheiten leidlich; man fügte sich mit gutem Erfolge den au- 
genfälligen allgemeinen therapeutischen Indicationen. Allein über 
die acuten Kranhheits zustande hinaus reichte die Einsicht der 
Arzte am Schlüsse des i8ten und am Anfange des loten Jahrhun* 
derts nicht; wovon Lentings verunglückter Versuch (1793) den 
besten Beweis liefert. Er verlor sich in Speculationen über die 
krankhaften Veränderungen der Aqua Cotuoni und deren Heilung, 
und seine therapeutischen Vorschläge sind praktisch unbrauchbar. 
(Diese Vorwürfe verdient Lentin nicht, denn er trieb zuerst warme 
Luft in die Eustachische Bohre. Bef.) 

Bei dem gänzlichen Mangel einer gründlichen Diagnostik der 
Ohrenkrankheiten (sagt der Herr Verf.) gewannen selbst die 
abenteuerlichsten Dinge Eingang ; man ergriff am Ende des 18k 
und zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Durchbohrung des 
Trommelfelles, die Elcctricität, den Galvanismus als 
allgemeine Heilmittel der Taubheit mit einem Enthusiasmus, bei 
dem man nur bedauern kann , dafs er nicht eine bessere Bichtung 
genommen hat Allein weder Cooper, noch Himiy, Itard, Deleau 
u. A. , welche die Durchbohrung des Trommelfelles ganz beson- 
ders empfohlen, haben den Beweis gründlich geführt, dafs diese 
Operation die Lobsprüche wirklich verdiene, welche ihr so reich- 
lich gespendet worden sind. Keiner von ihnen hat vor der Ope- 



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raüon die Eustachische Trompete genau untersucht Das unsichere 
Verfahren und die überspannten Hoffnungen brachten diese Ope- 
ration bald in Mifscredit. Noch schlimmer erging es der, freilich 
noch leidenschaftlicher angepriesenen elektrischen, galvani- 
schen und mineralisch-magnetischen Behandlung der Ob- 
renk ranken. Cavallo , le Bouvier - Desmortiers , Grapengieser , 
Sprenger, Augustin, Becker u. A. erwecken durch ihre Mitthei- 
lungen so wenig Vertrauen zu der wohlthatigen Wirksamkeit je- 
ner mächtigen Naturkräfte auf das Gehörorgan, da Ts durch die 
Aufrichtigkeit unbefangener Beobachter, wie Eschke der Vater, 
Schubert, Castberg, PfafF, Pfingsten u. A. in jedem Leser das 
ungläubigste Mifstrauen gegen die gepriesenen Wunderkuren rege 
gemacht werden mufs. 

Fahre d'OIivet behandelt seine , wahrscheinlich auf Electrici- 
tat beruhende, Methode, die Taubheit zu heilen, als GeheimmiU 
tef, rühmt sich der Heilung dreier Taubstummen in wenigen Ta- 
gen. Da er aber das Versprechen , seine Methode bekannt und 
einer wissenschaftlichen Prüfung zuganglich zu machen, nicht 
erfüllt hat, so geräth er mit andern Geheimnifskramern , wie J. 
Williams , Mene-Maurice u. A. in eine Kategorie. 

Sogar bei den sonst ausgezeichneten Ärzten der letzten De« 
cennien begegnet man, nach Herrn Kramers Behauptung, einer 
nur wenig geläuterten Empirie, da sie ohne alle Kritik die ober- 
flachlichsten Beobachtungen und die irrigen Ansichten ihrer Vor- 
ganger wiederholen , nach sogenannten merkwürdigen, ganz isolirt 
aufgefafsten Beobachtungen haschen , sich und die Leser durch 
Hypothesen beruhigen , — statt zu untersuchen , was in den krank- 
haften Veränderungen- des Gehörorgans der sinnlichen Wahrneh- 
mung zuganglich ist. Trampels Arbeit ist zu unbedeutend, als 
dafs sein Name genannt zu werden verdiene, und dieselbe verliert 
noch an Werth durch die weitschweifige Bearbeitung von Menke, 
Selbst Jo«. Frank läfst sich noch im Jahre 1821 durch Autoritä. 
ten zu hypothetischen Annahmen verleiten, stellt Otalgie und 
Ohrentönen als selbstständige Krankheitsformen auf und stutzt die 
Diagnostik überhaupt nur auf subjective Empfindungen der Kran- 
ken , statt auf das objective Resultat der Localexploration. — 
Vergebens bemuhte sich Rauch in Fetersburg mit grofsem Eifer 
um eine gründliche Erforschung der Krankheiten des äussern Ge- 
hSrganges; die unzuverlässige Sonde, deren er sich noch zur 
Erforschung der Krankheitszustände des Trommelfelles bedient, 
fiöfct schon keio Vertrauen ein. 



Chronologisch reihen sich hier an die fleifsigen , aber ohne 
alle, nur durch eigne Erfahrung zu erlangende, Kritik geschrie, 
benen und deshalb zur praktischen Belehrung untauglichen Schrif- 
ten von van Hooven und von Beck, sowie die Volksschrift von 
Biedel und die Aphorismen von Vering. , 

Die Engländer scheinen die Vorarbeiten ihrer Landsleute, 
Cleland und Walthen, ganz vergessen zu haben. Whright's Ar- 
beit ist höchst ungenügend und wird an Oberflächlichkeit und 
Gehaltlosigkeit nur durch Stevenson und Curtis übertreffen. Herr 
Kramer behauptet von Curtis, dafe derselbe trotz alles Nachbeten« 
des Saissy den Catheterismus der Eustachischen Trompete niemals 
an Kranken ausgeübt habe. Man stufst in seinen Schriften auf 
die roheste Empirie und trotz dieses geniefst er bei seinen Lands- 
leuten und im Auslande allgemein den Buf eines ausgezeichneten 
Ohrenarztes. — Nicht minder grofs, obgleich nicht ganz so un- 
verdient, ist der Beifall, mit welchem man die Arbeiten von 
Saunders und Buchanan aufgenommen. Nnach Herrn Kramer ist 
Buchanan der einzige unter den englischen Ärzten, der den Ca- 
theterismus der Eustachischen Trompete kennt und übt, wenn 
auch dies das einzige Gute an seiner Arbeit , welcher alle wissen- 
schaftliche Ordnung fehlt, ist. 

Die Gründlichkeit, deren Mangel wir bei den deutschen und 
englischen Ohrenärzten (fährt der Herr Vf. fort) mit Bedauern, 
aber doch nothgedrungen, nachgewiesen haben, tritt uns endlich 
auf eine recht erfreuliche Weise in den otiatrischen Schriften von 
ltard und Deleau entgegen. Desmonceaux dürfen wir denselben 
nicht zugesellen , selbst nicht Alard , obgleich seine Arbeit von 
ltard klassisch genannt wird. — Monfalcon ist ein sclavischer 
Nachbeter des Leschevin. Selbst Saissy verdient nicht entfernt 
das Ansehen', welches ihm seine beiden Übersetzer in Deutschland 
zu verschaffen gesucht haben. Weit über Saissy erhebt sich ltard, 
obgleich auch er von grofsen Mangeln nicht frei ist, die haupt- 
sächlich in der Systematisirung der von ihm abgehandelten Krank, 
heilen hervortreten. So trennt er die materiellen Krankheiten 
des Gehörorgans von den Function sstorungen derselben; die 
Entzündung des Gehorganges und der Trommelhohle von den 
Nachkrankbeiten derselben u. s. w. Ungeachtet dieser und ande- 
rer Mängel hat er unleugbar das grofse Verdienst, die Ohrkrank- 
heiten umfassender , geordneter und mit mehr Kritik , als jemals 
vor ihm geschehen, abgehandelt au haben. Mit Vergnügen siebt 
man, wie er das Steckenpferd der Autoren, die Erschlaffung 



uigitizeo Dy 



and Spannung des Trommelfelles , die Trennung und 
Verwachsung der Gehörknöchelchen unter sich, die 
Lähmung und die Con vulsionen der Muskeln eben die- 
ser H nocheich eo als ein Ergebnifs theoretischer Speculationen 
betrachtet und sie aus der Reihe der Krankheitsformen des Gehör- 
organs streicht. Am meisten verdanken wir dem Fleifse, welchen 
Itard auf Behandlung der Krankheiten des mittleren Ohres durch 
wasserige Einspritzungen verwendet hat. Aus der grofsen 
Brauchbarkeit seiner Instrumente , aus seiner Art , sie anzuwen- 
den, aus den praktischen Cautelen bei seinem Verfahren sieht 
man deutlich , dafs er die Einspritzungen in der That öfter in 
Anwendung gebracht hat 

Nach solchen Vorarbeiten war der Schritt, statt des Wassers 
couiprimirte Luft in die Trommelhöhle zu treiben und als 
mechanisch-dynamisches Heilmittel bei den Krankheiten, der- * 
selben zu benutzen, nicht so grofs und erstaunenswürdig, als 
Deleau glauben machen möchte. Defsungeachtet hat sein Ver- 
fahren grofse Vorzüge vor der Wasserdouche. Lentin hat schon 
früher warme Luft in die Eustachische Trompete geprefst. Lei- 
der bat sich Deleau 's Fleifs nur auf die Diagnose und Therapie 
der Krankheiten des mittlem Ohres erstreckt. Besonders reicht 
seine Kunst nicht bis in das Labyrinth, dessen Nerv natürlich kei- 
nen wohlthätigen Eindruck von einem Strome comprimirter Luft 
erfahren kann. Da, wo die geprefste Luft frei ins mittlere Ohr 
einströmt, erklärt Deleau die Schwerhörigkeit für nervös und 
unheilbar. Nicht ganz so muthlos hatte sich Itard von diesem 
Felde der nervösen Taubheit zurückgezogen ; er bestimmt sehr 
richtig die Diagnose und Entstehungsweise derselben und machte 
sogar einen, dem Wesen dieser Krankheit vollkommen angemes- 
senen Heil versuch, dessen geringer Erfolg ihn aber leider zu früh 
von dem eingeschlagenen Wege zurückscheuchte. 

Kein Schriftsteller hat seitdem diesen mifslungenen Versuch 
wieder aufgenommen , keiner hat die Mängel zu verbessern ge- 
sucht, weiche den gewünschten Erfolg nothwendig vereiteln mufs- 
ten, so dafs die grofse Zahl nervös -Schwerhöriger noch immer 
ohne alle Hülfe blieb. Diesem Mangel abzuhelfen ist das haupt- 
sachlichste Bemühen des Herrn Vfs. gewesen. Ausserdem ging 
aber das Bestreben des Herrn Kramer dahin , die Krankheiten des 
Gehörorgans naturgemäfser , als bisher, zu ordnen; sie auf be- 
stimmte organische Veränderungen der constituirenden Bestand- 
teile des Ohres zurückzufuhren ; alle hypothetischen und specu- 



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lativen Annahmen zu vermeiden 5 die Diagnose der einzelnen 
Krankheitsformen durch Aufstellung objecti ver Kennzei- 
chen von den immer zweifelhaften Aussagen der Krau- 
ken unabhängig zu machen und auf diese sichere Basis eine 
möglichst einfache und sichere Behandlung za gründen. 

Der Herr Vf. spricht von der grofsen Wichtigkeit des Ge- 
hörorgan! ; ubergeht dessen Anatomie , da sie durch die Arbeiten 
eines Scarpa , Sommerring u. A. als abgeschlossen angesehen wer- 
den kann; zeigt, wie unsicher und unbestimmt unsere physiolo- 
gischen Kenntnisse des Gehörorgans sind und wie wichtig die 
Sorge uro die Erhaltung der Gesundheit desselben ist Hier warnt 
der Herr Verf., zumal bei schon geschwächtem Gehöre, vor 
Kalte und scharfem Schalle als vor zwei sehr wichtigen 
Schädlichkeiten. 

Nur ein einziges Symptom, eine entweder krankhaft ge- 
steigerte oder in den verschiedensten Gradationen verminderte 
Thätigkeit des Gehörnerven ist allen Ohrenkrankheiten ohne Aus- 
nahme eigen. — Bei jeder Krankheit des Ohres mufs die Hör. 
fähigkeit genau untersucht werden. Zur Ausmittelung der 
Hörweite (Entfernung, in welcher ein bestimmter Schall noch 
geh5rt wird) bedient sich der Herr Verf. einer Taschenuhr, 
wie schon vor ihm Sunders. Nur bei einer genauen Messung 
der Hörweite, welche stets unter gleichen Verhältnissen und Be- 
dingungen angestellt werden mufs , kann eine Folgerung zu Gun- 
sten einer oder der andern Behandlungiweise gezogen werden. — 
Der Verlauf der Ohrenkrankheiten neigt vorzugsweise 
zum langwierigen, fieberlosen; selbst der ursprunglich entzünd- 
liche, fieberhafte Charakter mancher dieser Krankheiten ist nur 
sehr selten wahrhaft acut. — Ohrenkrankbeiten sind ausser- 
ordentlich häufig, viel häufiger, als man gemeiniglich glaubt. 
Unbezweifelt sind viele Menschen erblich zu Ohrenkrankheiten 
prädisponirt; auch gibt das höhere Alter eine bedeutende Prä- 
disposition zur Schwerhörigkeit. — Unter den ursächlichen 
Momenten, die aber bei vielen Kranken ungeachtet aller Nach- 
forschungen in tiefes Dunkel gehüllt bleiben, steht Erkältung 
oben an; daran reihen sich die acuten und die chronischen 
Hautkrankheiten mit ihrer dyskrasischen Grundlage. — 
Die Prognose ist im Allgemeinen bei Ohrenkrankheiten nicht 
so schlecht, als man gewöhnlich annimmt. Organische Ohren- 
krankheiten sind im Allgemeinen sicherer zu heilen und nach ge- 
lungener Heilung vor Rückfällen zu hüten, als dynamische. Un- 



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Kramer: Erkenntnis u. Heilung der Ohrenkrankheitei. 159 

ter 3oo Ohrenkran hen (der Herr Vf. gibt S. 93 eine interessante 
tabellarische Übersicht der Heilbarkeit und Frequenz der Ohren- 
krankheiten) fanden sich 104 vollkommen Unheilbare, jeder Bes- 
serung Unzugängliche, die gar nicht in Behandlung genommen 
wurden, also etwa Einer auf Drei; 188 dagegen wurden ent- 
weder ganz geheilt oder gebessert aus der Behandlung entlassen; 
nur 8 waren einer Behandlung unterworfen, bei welcher trotz 
aller Muhe und Sorgfalt keine Besserung erlangt werden konnte. 
Im Allgemeinen ist die Behandlung der Ohrenkrankheiten 
eben noch eine empirische, die sich aber nicht entschuldigen 
läTst, weil bei einer sichern Diagnose eine rationelle Behandlung 
uns zu Gebote steht. Hier unterwirft der Herr Verf. die gang, 
barsten der bisher bei Gehörkrankheiten empfohlenen Mittel einer 
scharfen Kritik. Er theilt sie ein in I. Örtlich und II. AI Ige* 
mein wirkende Mittel. Zu den ortlich wirkenden Mitteln 
zahlt er i, 3 und 3, El e c tric ita't, Galvanismus und den 
mineralischen Magnetismus, welche nach seinem Urtbeile 
bei den Krankheiten des Gehörorgans durchaus keine Hülfe brin- 
gen , sondern den Gehörnerven sehr wesentlich gefährden. Ree. 
hat bei nervöser Schwerhörigkeit die Electricitat öfter, den Gal- 
vanismus aber nur zweimal angewendet, aber nie irgend ein 
gunstiges Resultat erhalten, wefshalb er mit dem Herrn Verf. 
bierin völlig ubereinstimmt. An diese Mittel schliefsen sich an 
4) die Moxa und das Gluh eisen, welche Herr Kramer als zu 
gewaltsame und vernichtende Mittel bei den Obren krankheiten 
verwirft. 5) Spanische Fliegen und Brechweinstein- 
salbe, hinter den Ohren angebracht, sind nur in gewissen Fal- 
len angezeigt, in andern ohne allen Nutzen, bei nervöser Taub- 
heit sogar positiv schädlich. 6 und 7) Fontanelle auf dem 
Arme und Haarseil im Nacken haben Herrn Kramer niemals 
einen wesentlich wohlthätigen Einflufs auf Geh5rkrankheiten be- 
obachten lassen. 8) Douchebader in und hinter die Oh- 
ren sind gefährlich für das Gehörorgan. 9) Eintröpfelungen, 
Einspritzungen, zumal spiritu5ser, scharfer, reizender Mittel 
sind im Durchschnitte nachtheilig für das Gehör , und da die mei- 
sten gegen Taubheit empfohlenen Geheimmittel in diese Klasse 
gehören , so müssen sie als durchaus schädlich verworfen werden, 
besonders das acustische , höchst theure Ol von Mene-Maurice. — 
CajeputÖl , Kampher, Opium, Zwiebelsaft, Gewürznelkenöl, Ka- 
atoreumtinktur , Eau de Cologne und unzählige andere Mittel müs- 
sen als schädlich betrachtet werden. Am nachteiligsten wirken 



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die Mittel, wenn sie in Salbenform in den Gehörgang gebracht j 
werden. — Warme Bähungen, Einspritzungen von warmer 
Milch, Flieder, und Charoillenthee, heifse Dampfe und heifses 
Brod u. s. w. können durch zu grofse Hitze schaden. 10) Blut- 
egel nutzen nur bei acuten Entzündungen des Gehörorgans, 
schaden bei Ohrentönen von Erethismus des geschwächten Ge- 
hurnerven. | 

Die allgemein wirkenden Mittel haben nur selten einen 
wohltbätigen Einflufs auf das Gehörorgan, was sich aus dem ge- 
ringen Säftezuflusse zu den Ohren und der unbedeutenden Ana- 
stomose des Gehörnerven mit den übrigen Nerven erklären läfst. 
Der Hr. Vf. zählt hieher: 1) die russischen Bäder; 2) die 
Seebäder, Schwefel-, Stahl- und andere Bäder; 3 und 4) 
Brech- und Abführmittel; 5) Aderlässe; 6) Hunger- 
und Schmierkur; 7) Gebrauch der Arnica u. s. f. Diese Mit- 
tel können sogar höchst nachtheilig wirken. 

Nach dieser verwerfenden Kritik der allgemeinen gegen Oh- 
renkrankheiten gerichteten Heilmethoden könnte es leicht das An- 
aehen gewinnen, als wollte Herr Kramer die Gehörkrankheiteo 
durchaus als isolirt, ausser allem Zusammenhange mit den Krank- 
heiten des übrigen Organismus für sich bestehend betrachten; 
allein er protestirt förmlich gegen eine solche Auslegung. Er ist 
uberzeugt, dafs bei jeder, namentlich langwierigen, Ohrenkrank- 
heit das allgemeine Befinden des Patienten nach den Regeln der 
allgemeinen und speziellen Therapie sorgfältigst geregelt werden 
mufs, aber nur nicht in der Absicht oder mit der Hoffnung, auf 
diesem Wege das Ohrenleiden zu bessern oder gar zu heilen. 
Die bei weitem gröfste Mehrzahl der Ohren übel ist einfacher 
Natur und nicht von allgemeinen Krankheiten begleitet, welche 
in irgend einer innern Verbindung mit denselben stehen. Diese 
Mehrzahl kann nur von einer dem jedesmaligen Krankheitszustande 
sorgfältigst angepafsten Behandlungs weise Heilung erwarten; diese 
aber naturlich nur durch eine sehr sorgfältig angestellte 
Untersuchung des Gehörganges festgestellt werden. 

(Der Betehlufs folgt.) 



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N\ ü. HBJDBLBEBGBR <837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Kramer, Erkenntnifs und Heilung der Qhrenkrankheüen. 

(Bachlufs.) 

• - 

Der zweite Abschnitt (S. 94 — 400) beschäftigt sich mit 
der besondern Ohrenheilkunde. In der Einleitung theilt der 
Herr Vf. die Einteilungen der Ohrenkrankheiten von mehreren 
Schriftstellern mit nebst einer kurzen Beurtheilung derselben. Er 
selbst bebalt mit geringer ModiGcation die in der ersten Aullage 
angenommene Eintbeilung bei. 

Das erste Kapitel (S. 99 — 239) umfafst die Krankheiten 
des äussern Ohres. Sie gehören vorzugsweise dem kindlichen 
und jugendlichen Alter an, in welchem die natargemäfs reich« 
liebere Absonderung eines weichern, hellgelben Ohrenschmalzes 
einen grofsern Säfteandrang zu diesen Theilen und somit eine 
grufsere Disposition zu Vegetationskrankheiten andeutet. 

1) Krankheiten des Ohrknorpels. Itard und nach ihm 
Vering sprechen dem .Ohrknorpel jeden Nutzen ab; Buchanan 
dagegen macht das feine Gehör vom Ohrknorpel dergestalt ab« 
bangig, dafs er in der Gestalt und dem Anheftungswinkel dessel- 
ben an die Schädelknochen, sowie in der Gestalt und Tiefe der 
Ohrmuschel schon hinreichend zuverlässige prognostische Andeu- 
tungen für solche Falle von Schwerhörigkeit zu finden glaubt. 
Vach Herrn Kramer liegt die Wahrheit in der Mitte. — Es wer- 
den hier abgehandelt: a) die rosenartige Entzündung; b) die 
scirrhose Entartung und c) die Furunkel des Ohrknorpels. 

2) Krankheiten des äussern Gehorganges. Anatomi- 
sche Beschreibung des äussern Gehorganges ; — Untersuchung 
desselben mit dem Ohrenspiegel ; — Beschreibung seines abgebil- 
deten Ohrenspiegels ; — Benutzung des Sonnenlichtes bei der 
Untersuchung mit demselben ; — Beurtheilung der Vorrichtungen 
zum Exploriren von Cleland , Bozzini und Deleau ; — physiologi- 
sche Ansichten der Schriftsteller über den Gehörgang; — Ein- 
tbeilung der Krankheiten desselben nach verschiedenen Autoren ; — 
Herrn Kramers Eintbeilung in a) erysipelatose Entzündung des 
Geborganges; b) Entzündung der drusigen Haut des Gehorgan- 
ges (catarrhalische Entzündung) ; c) Entzündung des Zellgewebes 
im Geborgange (phlegmonöse Entzündung) und d) Entzündung 

XXX. Jahrg. Z. Heft. 1 1 



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1C2 Krämer: Erkenntnis tt. Heilung der Ohrenkrankheiten. 

der Knochenhaut des Gehörganges ( metastatische Entzündung). 
Diese Formen werden genau beschrieben und die ursächlichen 
Momente, die Diagnose, Prognose und Cur exact angegeben.. 

3) Krankheiten des Trommelfelles. Die von den mei- 
sten Ohrenärzten angenommene Erschlaffung und krankhafte An- 
' Spannung des Trommelfelles wird für eine Hypothese, das Zer- 
reifscn desselben ohne vorherige Entzündung für unmöglich, und 
das Selbst verzehren und Selbst durch löchern desselben für einen 
Irrthum erklärt. Nach des Herrn Vfs. Beobachtungen bringt das 
Durchlochern desselben stets einen hohem oder geringem Grad 
Ton Schwerhörigkeit hervor. Herr Kr. nimmt nur die Entzün- 
dungen des Trommelfelles an und unterscheidet : a) acute Ent- 
zündung (Ohrenzwang) und b) chronische Entzündung desselben. 

Zweites Capitel. Krankheiten des mittlem Ohres 
(S. 239 — 33o). Der Herr Verf. begreift darunter alle diejenigen 
Krankheiten, welche sich in der Trommelhöhle und der En- 
stachischen Trompete entwickeln und hier schon bei Leb- 
zeiten der Kranken unserer Diagnose zugänglich sind. — Mifs- 
büdungen der Gehörknöchelchen überläfst er den Handbuchern 
der pathologischen Anatomie; die Lähmung und Zerreifsung der 
Muskeln -der Gehörknöchelchen, die Diagnose der Wassersucht 
der Trommelhöhle, der Oaries, der Ankylose der Gehörknöchel- 
chen u. dgl. m. den Hypothesenträumern. — Nur die Entzündung 
der Schleimhaut der Eustachischen Trompete und der Trommel- 
höhle mit ihren verschiedenen Ausgängen und Nachkrankheiten, 
so wie die Entzündung des unter jener Schleimhaut liegenden 
Zellgewebes lassen sich in der Wirklichkeit als deutlich ausge- 
prägte Krankheitsformen nachweisen. Darum fuhrt der Herr Vf. 
nur folgende Formen an : 

1) Entzündung der Schleimhaut des mittlem Oh- 
res. — Catheterismus der Eustachischen Trompete durch Köh- 
ren von Silber, welche bei den Einspritzungen liegen bleiben 
und mittelst eines Stirnbandes befestigt werden. Mit Deleau er- 
kennt der Herr Vf. die Übelstände der wässerigen Einspritzungen 
und wendet, wie jener, die comprimirte Luft statt der wässerigen 
Einspritzungen an, wozu er eine Luftpresse beschreibt und in 
Abbildung liefert. Ree. hat früher angeführt , dafs schon Lentin 
die Eustachische Trompete durch erwärmte Luft zu Öffnen suchte. 
Derselbe sagt nämlich : » Nach meinen jetzigen Erfahrungen ist es 
weit besser, die durch Schleim verstopften Eustachischen Bohren 
durch erwärmte Luft, als durch irgend eine Flüssigkeit zu 



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: Erkenntnifa u. Heilang der Ohrenkrank heitoo. 168 

offnen, and zwar aus dem Grunde, weil es eines Theils durch 
dieses Mittel eben so gut geschehen kann, andern Theils aber auch, 1 
weil man oft nicht ohne Nachtheil des Gehurs Flüssigkeiten in 
die Trommelhöhle bringt, die nicht leicht wieder abfliefsen kön- 
nen, auch hieher durchaus keine Flüssigkeiten gehören, sondern 
Luft das Element ist, das die Trommel haben mufs u. s. w.c 
(vgl. Lentin, Beitrage zur ausübenden Arznei Wissenschaft Bd. IL 
S. ia8). Herr Krämer geht demnach zu weit, wenn er den Lei- 
stungen Lentin 's alle praktische Brauchbarkeit abspricht« — Dir 
von Deleau gegen die Brauchbarkeit der unbiegsamen silbernen 
Röhren aufgestellten Grunde widerlegt der Herr Vf. und macht 
dann folgende Unterabtheilungen der Entzündung der Schleimhaut 
des mittlem Ohres : a) EntzGndung derselben mit Schleim* 
Anhäufung iim mittlem Ohre; b) Entzündung der 
Schleimhaut der Eustachischen Trompete mit Ter* 
engerung derselben; c) Entzündung der Eustachi, 
sehen Trompete mit Verwachsung derselben. — Die 
Beschreibung, Aetiologie, Diagnose, Prognose und Cur dieser 
Formen ist mit vielem Fleifse gegeben. 

2) Entzündung des Zellgewebes und der Knochen* 
haut in der Trommelhoble (echte innere Ohrenent« 
zündung). Der Herr Verf. unterscheidet und beschreibt zwei 
Formen der inneren Ohrenentzündung : a) eine acute nnd b) eine 



Drittes Capitel. Krankheiten des inneren Ohre. 
(S. 330 — 377). Es gehören hieher die Krankheiten des Laby- 
rinthes, d. h. des Vorhofes, der balbcirhelförmigen Canäle, der 
Schnecke nnd der in diesen Theilen enthaltenen Nervenausbrei- 
tungen. Die sehr rersteckte Lage dieser Theile, die nicht nur 
wahrend der Lebzeiten , sondern selbst nach dem Tode des Kran* 
ken die Untersuchung in hohem Grade erschwert, hat die rein 
speculative Richtung, welche die Bearbeitung der Krankheiten 
des inneren Ohres ron Anfang an genommen hat, ungemein be- 
günstigt — Der Herr Verf. geht nun die Meinungen der ver- 
schiedenen Autoren über diese Krankheiten durch, giebt eine 
scharfe Kritik der einzelnen Leistungen, und behauptet endlich , 
dafs die einzige unzweifelhafte Krankheitsform des Labyrinthes, 
d. b. der darin enthaltenen Nervenausbreitungen, die dynamische 
Affection derselben unter der Form veränderter Thätigkeits* 
Äusserung, der nervösen Taubheit, sey. Man findet ein 
verändertes, ein geschwächtes Gehör, ohne irgend 



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eine materielle Abnormität im ganzen Umfange des 
Gehörorgana. Übrigeos gesteht der Herr Verf. zu, dafs der 
Gehörnerv auch organisch erkranke, allein die materiellen Ter- 
Änderungen entziehen sich unserer sinnlichen Wahrnehmung. Auch 
mufs das Labyrinth sich entzünden können , aber gewifs nur in 
Folge sich weiter verbreitender primär entzündlicher AfTection 
der Trommelhöhle und der sie uroscbliefsenden Knochenpartbiea. 

4 — Der Schwächeznstand des Gehörnerven tritt in zwei wesent- 
lich von einander verschiedenen Formen auf: 1) mit erhöhet er 

•** Reizbarkeit, Erethismus, a) mit verminderter Reizbarkeit, Tor- 
piditat. Den wesentlichen Difierenzpunkt zwischen beiden bildet 
das Ohrentünen, welches der erethischen Form ohne Ausnahme 
angehört, während es der torpiden Form gänzlich fehlt Jedoch 
gehört dasselbe der erethisch - nervösen Form nicht ausschließlich 
an. — Die Diagnose der nervösen Schwerhörigkeit beruht ledig- 
lich auf der genauesten Localuntersuchung des Gehörorgans: der 
Gehörgang ist frei, meistens ohne alles Ohrenschmalz; die 
Trommelhöhle sammt der Eustachischen Trompete ist 
ebenfalls frei von materieller Anhäufung; die eingeblasene Luft 
dringt ohne alle Anstrengung bis zur Mitte des Gehörganges, bis 
zum Trommelfell. Zur nervösen Schwerhörigkeit disponiren eine 
gewisse erbliche Beschaffenheit , Schwäche des Nervensystems 
und hohes Alter. Die Prognose ist unsicher und meist ungunstig. 
Nachdem der Herr Verf. die bisherigen Behandlungsweisen und 
die einzelnen bisher angewandten Mittel einer Kritik unterworfen 
hat, kommt er zu seiner Metbode. Zuerst regulirt er den allge- 
meinen Gesundheitszustand, wodurch sich jedoch in der Regel 
das Local leiden nicht im geringsten bessert. Wie Itard benutzt 
er das Einfuhren ätherischer Dünste in das mittlere Ohr durch 
die Eustachische Röhre. Da sich bei dem Verfahren Itards der 
Essigätber, der vor allen andern Mitteln den Vorzug verdient % 
zersetzt und somit reizend einwirkt; so hat der Herr Verf. eine 
andere Vorrichtung getroffen, wozu er den Apparat abbilden Hefa. 
Wir müssen den Leser ersuchen , die Verfahrungsart selbst nach- 
zulesen, da sie ohne Betrachtung der Abbildung in Kürze nicht 
wiederzugeben ist. — Die Sitzungen , in welchen die ätherischen 
Dünste in das mittlere Ohr geleitet werden, müssen täglich auf 
einander folgen, wenn Nutzen erwartet werden soll. Bei der 
torpid - nervösen Schwerhörigkeit mnfs die Einwirkung kräftiger 
seyn. Defshalb läfst der Herr Verf. den Äther, der bei der ere- 



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Kramer: ErkeootmT« u. Heilung der Ohrcak rankheiten 165 

- - 

thisch nervösen Form durch Walter verdunstet wird, bei der 
torpid • nervösen Form durch eine Öllampe erwarmen. 

Viertes Capitel. Von den Hörrohren (S. 377 — 383). 
Der Herr Verf. halt es nicht der Muhe werth , die verschiedenen 
Hörrohren .zu beschreiben, da sie trotz aller angewandten Bemü- 
hungen doch unpraktisch seycn. Er fafrt deshalb nur das Ge- 
meinsame derselben zusammen und theilt sie, ohne Rucksicht auf 
ihre Form zu nehmen, folgendermafsen ein: sie nehmen entweder 
1) den Schall blos als einfache Leiter auf und leiten ihn unver- 
ändert in seiner ganzen Stärke dem Obre zu , oder 2) sie ver- 
stärken durch das Metall , woraus sie gefertigt sind , den Schall 
und verändern ihn zugleich. Unter der Verstärkung des Schalles 
durch metallische und andere ähnlich construirte Hörinstrumente 
gebt gewöhnlich die Verständlichkeit verloren, oder der Gehör- 
nerv wird in der Art gereizt, dafs die Lähmung um so rascher 
eintritt Darum warnt Herr Kr. nachdrucklich vor dem Gebrau- 
che dieser Instrumente. 

Fünftes Capitel. Von der Taubstummheit (S. 383 
— 400). Der Herr Vf. glaubt , dafs bis jetzt kein einziger Taub- 
stumme wirklich geheilt, d. b. in einen solchen Zustand versetzt 
worden sey, dafs er gleich einem gesundhörenden Menschen mit 
seinen Mitmenschen ungehindert durch das Gehör in allen Ver- 
hältnissen hätte verkehren können. Das so wichtige Problem , ob 
Taubstummheit heilbar sey, ist nach ihm praktisch noch nicht 
gelost, und er zweifelt auch daran, dafs es jemals bejahend auf 
eine befriedigende Weise gelost werden möge. Alle gegen die 
Taubstummheit Torgeschlagenen Mittel und Heilmethoden verwirft 
er unbedingt , und zwar defshalb , weil der Gehörnerv , auch ohne 
primär afficirt zu sey n y dennoch bei allen Taubstummen durch die 
viele Jahre dauernde Unthätigkeit so bedeutend gelähmt werde, dafs 
selbst die passendste Beseitigung materieller Mifsverhältnisse des 
Gehörorgans die Lähmung nicht aufheben könne. — Hier ist der 
Herr Verf. gegen seine Gewohnheit auf das Feld der Hypothese 
gerat hen. Wir wollen hoffen, dafs er den unglücklichen Taub- 
stummen seine Bemühungen für die Zukunft nicht entziehen wird. 

Der gedrängt dargelegte Inhalt dieser Schrift beweist ihre 
Reichhaltigkeit und Gediegenheit. Ihr praktischer Werth wird 
durch Mittheilung sehr vieler, höchst interessanter Krankheitsfälle 
aus dem Gebiete der verschiedenen Formen der Ohrenkrankhei- 
teiten, meist nach eigner Beobachtung, sehr erhöht. 



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16« Dödcrlein: Latein. Synonyme iL Etymologien. 5r Bd. 



Auf Tab. I. sind ein Ohrenspiegel , ein Et leuchtungsapparat 
für den Gehörgang, ein silberner unbiegsamer Gatbeter and ein 
8tirnband , auf Tab. II. die Loftpresse und ein grofser und ein 
kleiner Dunstapparat abgebildet. 

Dieses Werk verdient in hohem Grade die Berücksichtigung 
der Arzte. * 

Dr. Franz Ludic. Feist in Mainz. 



Lateinische Synonyme und Etymo logicen von Ludw. D öder lein. 

- Fünfter TheiL - Leipzig 1836, bei JE. C. W. Vogel. XIV m 
m 392 Seiten 8. 

Seit zehen Jahren bat dieses Werk , dessen vorletzter Band 
jetzt vor uns liegt , sieb auf dem Gebiete der philologischen For- 
schung, in dem Kreise, in welchem es sich zu bewegen bestimmt 
war, Achtung verdient und erworben, und Ref. hat jeden neu 
erschienenen Band in diesen Jahrbuchern bewillkommt und be- 
urtheilt. Wenn er dies auch bei diesem thut, so geschiebt es 
theils weil es von ihm erwartet wird, theils-weil er den lebhaf- 
testen Antheil an der Fortsetzung des Werkes nimmt, theils end- 
lich, weil er sich freut, jetzt im fünften Theile einen Wunsch 
erfüllt zu sehen, den er schon wiederholt, und gleich bei dem 
ersten Theile, ausgesprochen hat Der Verf. erklärt nemlich in 
der Vorrede, »es habe sich die Vollendung dieses Bandes haupt- 
sächlich dadurch verzögert, dafs er sich mehr und mehr über- 
zeugte, dafs er die Sprachvergleichung bei seinen etymologischen 
Untersuchungen weniger entbehren k5nne, als er bei seinem bis» 
herigen Verfahren that, und nach seinen frühern Grundsätzen 
thun zu müssen glaubte.« Es habe darunter, fährt er fort, frei- 
lich die Gleichförmigkeit und Consequenz gelitten, allein zum 
Frommen der Resultate: denn jetzt habe er das Griechische re« 
gelmäfsig , das Deutsche häufig zur Vergleicht! ng beigezogen , und 
bei seiner jetzigen Metbode sey ihm klar geworden, dafs die la- 
teinische Sprache , namentlich im lexikalischen Theile , nur als ein 
Dialekt der griechischen Sprache behandelt werden dürfe, und 
dafs die ungriechischen Elemente derselben auf eine unverhältnifs- 
mäfsig kleine Zahl zusammenschmelzen. Bei Vergleichung der 
germanischen Dialekte sey er vorsichtig gewesen, weil ihm ihre 
Kenntnifs abgehe , auch habe die nächste Bestimmung seines Wer- 
kes ein tieferes Eingehen in historische Forschung abgelehnt.« 



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E«*mologiea^5rB4. 



167 



Daf§ der Vf. nicht auf da« Ansinnen eingieng , vre I che« ein Re- 
censent des zweite^ Theils seines Werltes machte , neinlich das 
Sanscrit zur Grundlage seiner etymologischen Forschungen zu 
nehmen, können wir aus demselben Grunde nur billigen. Da der 
Vf. anfangs beabsichtigte, mit dem fön flen Theile das Werk zu 
echJiefsen, so beflifs er sich gröfserer Kürze und enthielt sich der 
kritischen Excurse, der Polemik gegen fremde Ansichten und der 
^ Häufung von Beweisstellen, konnte jedoch nicht verhindern, dafs 
nicht noch ein sechster Band nöthig wurde. Dieser wird denn 
auch ein Generalregister enthalten, um das lästige Nachschlagen 
der einzelnen Register unnöthig zu raachen , und dieses soll die 
weitere Bestimmung erhalten, zur Ergänzung und zur Bericht!* 
gung des ganzen Werkes sowohl in synonymischer als besonders 
auch in etymologischer Beziehung zu dienen, und mithin die 
Stelle eines Supplementbandes und zugleich einer neuen, verbes-* 
serten und vermehrten Ausgabe, auch wo möglich gar die Stelle 
eines Etymologicum Latinum zu vertreten. Da der Vf. sich zu* 
gleich vorbehält, in einer Einleitung zu dem nächsten Theile sich 
über die Motive seiner ausgesprochenen Bekenntnisse, wonach 
sich in seinen Ansichten und Grundsätzen hinsichtlich der Etymo- 
logie Manches geändert hat, auszusprechen, so versparen wir eine 
Erörterung darüber billig auf die Beurtheilung des letzten Thei- 
les , und fugen unsern obigen Äusserungen hierüber nichts weiter 
bei, um für die Bemerkungen Raum zu gewinnen, welche wir 
über den vorliegenden mitzutheiien haben : Bemerkungen , die 
zwar nicht Anspruch auf hohe Wichtigkeit machen, und zum 
Theil blos subjective Ansichten aussprechen wollen, die aber doch 
vielleicht in einzelnen Puncten bei dem sechsten Theile beachtet 
werden könnten. 

Wenn wir zuvörderst aussprechen, dafs wir in diesem Bande 
die gleiche Sorgfalt und Feinheit der synonymischen BegrifTsbe* 
Stimmungen, oder vielmehr der genauen Unterscheidung schein- 
Jbar synonymer Wörter, mit den treffendsten Stellen belegt, an- 
getroffen haben, wie in den frühern, ja dafs uns eine grofse Menge 
Artikel (der Band enthält ihrer hundert) vorgekommen sind, bei 
denen wir nicht nur Nichts zu erinnern haben , sondern die uns 
gleichsam aus der Seele geschrieben sind , so ist dies nicht eine 
Jblofse Folie, auf welcher, als auf einem glänzenden Hintergründe, 
sich der darauf folgende Tadel besser ausnehmen soll, sondern 
unsre vollste Überzeugung, welche wohl selbst diejenigen thcilen 
durften, die mit dem etymologischen Theile weniger, als wir, 



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168 Dödcrlein : Latein. Synonyme o. Etymologien. 5r Bd. 

einverstanden and zufrieden seyn mochten. Haben wir übrigens 
oben unsere Freude über die Änderung des etymologischen Prin- 
eips unsere Vfs ausgesprochen ; so sind wir doch nicht in dem 
Falle, alle Anwendungen desselben mit Beifall aufnehmen zu kön- 
nen. Indessen spricht er selbst, aus reiner Wahrheitsliebe, öfters 
nicht entscheidend, und hat dadurch gezeigt, wie ihm am per- 
sönlichen Rechtbehalten nichts, an Förderung der Wissenschaft 
alles liege. 

, +. Gleich auf der ersten Seite will uns die S t a m m Verwandt- 
schaft zwischen miiU und mollis, auf welche Seneca Ep. 114 
deuten soll, gar nicht einleuchten: eben so wenig der gemein, 
schaftliche Stamm melc, und die Entstehung von mitis aus melc- 
tis. Alle angegebenen Analogieen von Veränderung der Sylben 
el 9 il und ol beweisen nicht, was sie beweisen sollen, weil nir- 
gends das l wegfällt, sondern nur der Vokal verändert wird; 
was aber unter N. 3 S. 4 angegeben ist , möchte wohl nicht ge- 
eignet seyn , das Unhalthare zu unterstutzen , da es selbst sehr 
zweifelhaft ist. Denn wie kann z. B. die Ausstofsung des / da- 
durch bewiesen werden, dafs proecrus für procelrus stehe, und 
caecus von calim homme, vis (die Kraft) aber von valco herzu- 
leiten sey , und eigentlich vels heifse: da doch U so nahe liegt 
S. Passow u. d. W. Und warum soll denn muleeo von duAy© 
herkommen , und nicht vielmehr mulgeo ? *) — S. 4 konnten 
wir es nicht verdauen, dafs comis aus coquere stammen und mit 
höflich und hübsch verwandt seyn soll. Hübsch ist zwar 
wahrscheinlich höfisch (s. Frisch u. d. W. hupsch): aber was 
höflich und höfisch für eine Wurzel habe, darüber scheint 
doch kaum ein Zweifel seyn zu müssen. Und sind auch die Ab- 
leitungen von Varro aus x<ä>oc, von Baumgarten - Crusius aus 
coirs, die Vermuthung Freunds aus commilis, nicht sicherer, so 
möchten wir doch lieber die Sache dahingestellt seyn lassen, als 
solche Vermuthungen aufstellen und rechtfertigen wollen. Im 
Lateinischen weit mehr als im Griechischen ist in manchen Fällen 
das imytiv das Beste. — - S. 6 oder 10 fg. konnte bei mansue- 
tudo auch auf die Bedeutung des Wortes in der spätem Latini- 
tät , z. B. in der Vorrede des Eutropius , hingedeutet werden. — 
S. 7 hätten wir bei humanitus anstatt in Folge meiner Mensch- 
lichkeit lieber von Seiten meiner Menschlichkeit gesagt. — Zu 



•) Womit übrigens eine StammTerwandttchaft beider nicht gerade 
geläugnct aeyn toll. 



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Synonyme o. Etymologien, ftr Bd. 

S. 18 bemerken wir, dafi der Vf. des Schwäbischen 
nicht Schmidt, sondern Schmid, hiefs. — S. 21 f. war bei 
curiosus in der Bedeutung macer erstlich das Beispiel aus Nonius 
anzuführen, der eurio bei Plaut. Aulul. III. 6. 27. durch curiosus 
erklart; dann hätte aber das curiosus in der Bedeutung von macer 
aas eben jener Piautinischen Stelle III. 6. 36. nachgewiesen wer- 
den sollen (magis cur io tarn nusquam esse ullam belluam), wo 
freilich Mehrere curionem lesen, damit die Frage des Megadoms 
{volo ego ex le teire, qui sit agntu curio) darauf passe, worauf 
dann von Euclio die scherzhafte Antwort gegeben wird : qai ossa 
alque pelUe totus est, ita ut cura macet : wo man dann erst be- 
greift , warum Hr. O. sagt, die Ableitung von cura könne nur für 
Scherz gelten. Liest man aber an jener Stelle curionem und nicht 
curiosam, so bat curiosus in diesem Sinne weiter keinen Beleg 
mehr. — S. a3 hätten wir bei macer wenigstens den Zusammen- 
hang mit uaxobq angedeutet. — S. a5 N. 9 hatten wir die grie- 
chische Etymologie bei tener auch hereingezogen, etwa so: Die 
Ähnlichkeit zwischen Ti>ijv und tener ist gewifs eben so wenig 
zufällig, als die zwischen poqcpri und Jorma» Tendiere aber ist 
gewifs mit xety©, tavva und dadurch mit dehnen verwandt: 
mit tener dann das holländische teder , das franzosische tendre , 
engl, tender und durch diese Vermittelung das deutsche zart. — 
S. 26. Dafs lo%vbq auf igere f und nicht auf to^o, also l^o, zu- 
rückzuführen sey, davon mochten sich wohl Wenige überzeugen 
lassen: noch Wenigere aber von der Behauptung S. 37, dürf- 
tig und dürr seyen stammverwandt Die Buchstaben dür dür- 
fen uns nicht verleiten. Wir verweisen wegen dürftig, der 
Kurze wegen, nur auf den Artikel darben bei Frisch, und ebd. 
den Artikel dürr. — S. 39 wurde es auch passend gewesen 
seyn, die minuti philosophi des Cicero (de Sen. a3, 85. de Divin« 
1. 3o. 6a. p. i5o uns. Ausg. und die dortigen Citate), zu ver- 
gleichen. — S. 32 sollte zwischen tingere und tauchen die in 
Suddeutschland so häufige und fast allgemeine Mittelform tunken 
(d unken) stehen. — S. 35 hätten wir angedeutet, dafs schon 
in der Bildung des Wortes fundamentum (aus fundare) die An- 
deutung liege, dafs es einen kunstlichen (eigentl. gemachten) 
Grund bezeichne. — S. 38. Die Analogie von ^iyvv^i t mü- 
ceo, mixlus, um die höchst problematische Ableitung des Wortes 
restis von slringere, trahere zu vermitteln [dafs nerolich zwischen 
den Endradical und die Endung ein s eingeschoben sey], scheint 
nicht zu passen, denn misceo ist nicht auf diese Weise von pLyv*>\** 



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170 Döderleins Latein. Svnpnjmc u. Etymologien. 5r Bd. 

entstanden, sondern von MlZtö (hebr. TJOBi deutsch mischen) 

kommt es her, woyon es freilich eine alte, erweichte Nebenform 
MITß (daher mengen) gab; das Supinum aber ist von miscitum, 
syncopirt mislum, und erst durch die Aussprache mixtum (nicht 
Ton migstum) geworden. Nan vergleiche nur in dieser Hinsicht 
Sestius und Sexliusi ursprunglich ein Name, dann bekanntlich un- 
terschieden als patricische und plebejische Familie. Mistus also 
ist nicht, wie angedeutet zu werden scheint, aus mixtus entstan- 
den, sondern, wie wir glaubten, umgekehrt dieses aus jenem. *) 
— S. 44 wird zu Sancta puer, Saturni ßlia allzu unbestimmt Lir. 
Odyss. citirt, so dafs man gar nicht nachschlagen bann. Das Ci- 
tat sollte heifsen Liv. Andronic. in Odyssia bei Priscian. VI, 8. 42. 
p. 248. Krehl. p. 698. Putsch. — S. 4~> unten ist in der Stelle 
aus Cic. de Sen. 2. falsch geschrieben quam pueriliae adolcscen- 
tiae surrepU Druckfehler für adoletccntia. — S. 56. Gegen die 
angenommene Buttmann'sche (Lexil. I. 8. 26) Unterscheidung von 
9sXg> und ßovXopaii dafs jenes einen energischen Willen s- 
act, dieses nur ein blofses Gefühl, einen Wunsch bezeichne, 
haben wir einzuwenden, dafs, ob wir gleich die Beduction beider 
Vcrba auf Eine Wurzel und Grundbedeutung nicht bestreiten, 
sich uns doch , bei Beobachtung des Gebrauches der besten Schrift- 
steller , nicht ein blos gradueller Unterschied ergeben, sondern 
die Ansicht festgestellt hat, dafs St'Xciv, ISfXeiv ein Wollen aus 
Neigung, Laune, Eigensinn bezeichne, wo man den Grund des 
Wollens entweder nicht angeben kann oder nicht angeben will, 
aber dafür desto fester darauf beharrt, überhaupt ein Wollen, 
das in der Natur des Wollenden liegt , so dafs er nicht wohl an- 
ders wollen kann , weil er es nicht in Folge ?on vorgestellten 
oder von aussen ihm vorgehaltenen Gründen will : ßovXopai aber 
ein Wollen aus Gründen , mit Absicht oder in Folge eines durch 
Erwägung herbeigeführten Entschlusses. Wir wissen zwar wohl, 
dafs Rost in seinem deutsch - griechischen Wörterbuche (unter 
Wollen) nicht blos so ziemlich die entgegengesetzte Ansicht 
aufstellt, ja dafs er die Ansicht, welche wir aufstellten, und die 



•) Es löTst sich mixtus auch als J>loa durch Umstellung hart xusam- 
inenstorsender Consouanten entstanden denken , dafs neinlich aus 
miscitus warr mi actus, und aus diesem umgestellt miestus , d. i 
mixtua, geworden; ungefähr wie 6ich nervus und viupov (v«Ffov), 
parvua und xau^oq (wovon daa lateinische paulua nur eine andere 
Aussprache ist) verhalten. 



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Döderlein : Latein. Synonyme n. Etymologien. 5r Bd . III 

er auch einem Jenaer Recensenten (1822. i55.) zuschreibt, mit 
der kurzen Bemerkung abfertigt, sie sey grundlos. Passow, ohne 
Buttmanns Ansicht zu widersprechen, druckt sich behutsamer aus. 
\Vir getrauen uns, unsere Unterscheidung eher durchzuführen, 
als wir dies der entgegengesetzten zutrauen. Wenn z. B. Dutt- 
mann sagt, iStXeiv komme häufig vom Willen der Götter vor, 
So ist dies ganz im Sinne der Homerischen Menschen, welche 
ihre Götter nach dem Grundsatze handeln lassen: sie volo , sie 
iubeo : stat pro ratione voluntas. Ferner erklären wir aus unserer 
Ansicht leicht, warum nach Buttmann idsXfsr allein (nicht 0o». 
Xta^ai) gebraucht wird für ävvaoSai, warum fetkuv ohne 'die 
Überzeugung von der Möglichkeit in dem Wollenden nicht statt- 
finde, warum §oi\opai , und nicht e&Ao, bei Homer zuweilen 
für lieber wollen stehe, endlich warum und wie an einer 
Stelle (Odjss. p. 226.) ISiXo und ßovXopai einander entgegen- 
gestellt sind*). Und nun vergleiche man vollends t die Familien 
beider Wörter und die herrschenden, ja fast ausschliefsenden Be- 
deutungen in denselben: man halte ßovXsvuos, ßovXtvoiq, ßov- 
Xiviiii» ßov\ewixb<i , kurz ßovXtva mit seinen Derivaten, dann 

ßovXir^ ßui\r,ua f ßovXr/jyapuq gegen &€Xqai£ , StA^fia, £eA r,u W , 

V$%kovxr t q und alle mit iztXo— zusammengesetzten Wörter, und 
sehe, ob sich nicht ihre Bedeutung am ungezwungensten bei un- 
serer Unterscheidung erklären lafst **). — S. 07 mochten wir 
wir fragen, warum denn bei optare nicht die Bedeutung sich 
Etwas ersehen, wählen, herausgehoben ist, die doch z. B. 

— - • 

*) Damit verträgt sich auch reckt gut der Platonische Sprachgebraach 
von iSAift, z. B. Phaedon. c. 50. n. 51. p. 102 u 103. Steph. ri 
CfXi*{iv oux iZ'tktt treri }x<ya yiyvtvBai und ins7va oux av -rori (pzfxw 
iStX^cra* yivwv dXXtjXwv UiavSat. An solchen Stellen hätte /W- 
X4<rSai darum keinen Platz, weil es sich nicht davon handelt, data 
ein Entschlnfs zu etwas getafet werde, sondern dals das Nicht- 
wollen in der Natur liege und also fast ein Nichtkönnen sey. S. 
Wjttenbach ad Piaton. Phaedon. p. 212 sq. 

••) Ein gelehrter Freund, dem Ref. diese Ansicht niiltheilte, erklärte 
sich darüber so: „die Gränzlinie zwischen ßouko^t und iSiXw möchte 
oft nicht scharf gezogen werden können [natürlich, weil es oft von 
der Subjectivität des Sprechenden und Schreibenden abhängt, wel- 
che Art des Wollens er andeuten wolle]; übrigens glaube ich auch, 
dafs ßouXofjtat mehr auf eine v> illcnsmeinung geht, Willensvcrraö- 
gen vom Verstände bestimmt, «3&u> mehr auf eine Äusserung de« 
•ich seibat überlassenen Willensvermögens : wollen, dafs Etwas ge- 
schehe, weil man ea willt ein unabhängiges Wollen." 



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ganz deutlich in der ans Plaut. Rad. III. 6. 16: utrum vis opta p 
dum licet aasgehobenen Stelle stattfindet, auch offenbar in der 
Stelle aus dem Festua (S. 58 N. 7) gemeint ist, wo es Keifst: 

In re militari optio appellatur is 9 quem dccurio aut centurio op- 
iat sibi rerum privalarum magistrum — mag man npn gegen nie 
. Ansicht des Grammatikers selbst einwenden , was man will. Vgl* 
noch die verschiedenen bei Forcellini angeführten Stellen. — • 
S. 62 wird in Tac. Ann. XI. 9. Walthers Wiederherstellung der 
Lesart der meisten Handschriften Jbetus repente iaciunt, das 
neuerlich auch Ruperti , doch nicht ohne einigen Zweifel , wie et 
scheint, aufnahm, als die richtigere empfohlen, und die Erklä- 
rung Walthers: verba repente iniiciunt de foedere sanciendo haltbar 
genannt. Wir erblicken hier nichts Haltbares, wo eine Erklärung 
gegeben werden mufs, die zwar einen guten Sinn giebt, aber in 
den Worten nimmermehr liegen kann. Die von W. angeführten 
Stellen, welche diesen Gebrauch belegen sollen, sind alle anders: 
Ann. XV. 5o: scelera principis inter se aut inter amicot iaciunt $ 
I. 10: quamquam quaedam de — inst it Ulis eius ieccrat; III. 66: Afa» 
mercus antiqua exempla iaciens ; IV. 7 : neque apud paucos talia 
iaciebai ; IV. 68: La t iuris iacere Jortuitos primum sermonesi VI. 4* 
si qua discordes iecissent, melius obliterari; VI. 3i : veteres — ter- 
minos — per vaniloquentiam ac minas iaciebat ; VI. 46 r ioctis <a- 
men vocibus, per quas intelligentur providus futurorunu Wir las- 
sen uns sogar die Scheller'sohe Erklärung des von W. nicht an- 
geführten Beispieles aus Tac. I. 69 : odia in longum iaciens gefal- 
len: den Grund zum Hasse legen, und finden ans dadurch doch 
noch nicht bewogen, zu glauben, dafs foedus repente iaciunt gesagt 
und so erklärt werden dürfe. Der Sprache angemessener sind die 
nicht von Autoritäten entblofsten Lesarten iciunt (das freilich hier 
einzeln dasteht, da man sonst das Präsens von icere nicht findet), 
faciunt oder die Conjectur sanciunt. Damit aber das von Wal- 
ther gerügte vo-teqov npoxe^ov nicht in die Erzählung komme, 
nehmen wir an , es werde das Schliefsen des Bündnisses mit die- 
sen Worten erst im Allgemeinen angegeben , im Folgenden dann 
das Wie genauer erzählt , so dafs congressique stehe für et coh- 
gressi quidem (primo cunctantur cet). — S. 64 fg. Die angeführ- 
ten Redensarten über den Haufen werfen und nive verberat 
agros Jupiter beweisen nicht, dafs die Grundbedeutung von wer- 
fen der Begriff des Schlagens ist, und dafs verberare, umgekehrt, 
die Bedeutung von Werfen (goth. wairpan), seiner Abstam- 
mung nach, hat. Die erste Phrase entstand aus einem Act beim 
Ringen auf einem mit Sand bestreuten Boden , wenn ein Ringer 
den andern so zu fassen wufste, dafs er ihn über den Sand- 
Haufen hinüber warf, nicht dafs er ihn zu Boden schlug; 
in der zweiten aber ist der Ausdruck poetisch: Jupiter bewirft 
nicht die Felder mit Schnee, sondern er schlägt oder peitscht 
sie gleichsam mit Schnee. — S. 71. In der Stelle aus Columella 
XI. 1. prc. : Claudius Augustalis excudit mihi, cultus hortorum 
prosa ut oratiom componerem hilft es nichts, wenn man die Ver- 



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■ 

betserong extudil damit abweist, dafs sie »die bezeichnete Hand, 
long etwas zn derb, als zwingende Zudringlichkeit tiarsteile.« 
Die Grammatik erlaubt nicht zu sagen excudere alicui, ut aliquid 
faciat. Sagt doch Valer. Max. I. 4. n. 4 : exiuderunt , ut dorn um 
redirct, und V. 2. n. 2 : Pcrseveranti postulatione exiuderunt, ut 
— • addicerelur. So wird auch das starke exlonjuere gebraucht, • 
z. B. Cio. Tuscc. I. 7: extorsisti , ut faterer. Doch wir brauchen 
nicht mehr Beispiele beizubringen. — S. 71 mofs es in dem 
Fragment aus Plautos ne te — cajet, nicht cajat, beiden , da das 
Vernum cajare heilst , wie der Vf. zwei Zeilen weiter oben selbst 
sagt — S. 7«. Die für die Abstammung des Verbums soleo von 
f&o beigebrachten Analogieen haben für uns sehr wenig Über- 
sengendes, wenn schon der Vf. die Ableitung unstreitig nennt. 
Eben so will es uns 8. 77 mit der Beduction von ops auf juvarc 
gehen, nnd S. 83 mit dem zu potis und nÖTvioq gestellten Fe t Zen- 
ker 1. — S. 83 wird zu Tac. Hist. I. 1: Postquam omnem po le- 
st atem ad untlm confcrri pacis interfuit gesagt, Walther habe 
mit richtigem Sinne potentiam hergestellt, da die Allmacht des 
souveränen Herrsebers, nicht die Vereinigung der Staats« 
ge walten io Einer Person der Freimuthigkeit Abbruch gethan 
habe. Aber es handelt sich in dem Satze nicht davon, was der 
Freimuthigkeit Abbruch that, sondern zunächst ob potentiam in 
die Stelle pafst, nnd zu ad unum conferri pacis interfuit fug- 
lich gesetzt werden könne? Und darauf giebt es doch, in Er- 
wägung von conferri, nur eine ferneinende Antwort. Dafs diese 
übertragene potestas eine potentia zur Folge hatte , und dadurch 
der Freimuthigkeit Abbruch geschah, ist richtig nnd lag in der 
Natur der so übertragenen potestas 1 aber das war hier noch nicht 
zu sagen. — S. 85 fg. Was wollte wohl der Vf. mit dem ange- 
fangenen Satze sagen: »Aber eine Vergleichung von S c - 
neca — mit — Oder Plinius — mit — < nnd nun folgt 
keine Vollendung dieses Anfangs. — S. 88 und an verschiedenen 
andern Stellen ist uns aufgefallen, dafs bei der, übrigens ganz 
richtigen ; Unterscheidung zweier Worter nur der Unterschied 
der Bedeutung selbst angegeben ist, der dann, wenn nicht wie 
ein Orakel, doch wie ein Resultat einer Untersuchung erscheint, 
während er doch ganz einfach und offen in der Wortbildung und 
in der Bedeutung der Endungen liegt, nemlich hier in furialit 
die Ähnlichkeit mit den Furien, in furios us die Besessenheit ?on 
den Furien. Es sollte also gesagt seyn , die Bedeutung erhelle 
aus der Bildung der Wörter. — S. 00 will uns die Ableitung 
des Verb, delirare von delinquere nicht zusagen, nnd wir halten 
uns — nicht an lira, was wir, trotz der Erklärung des Plinius 
H. N. 18, 20, 49« mit dem Verf. gerne aufgeben, sondern an 
Xijoslv. Aber nicht viel besser sero von sequi, und noch weniger 
spirare, das eigentlich svenrare geheifsen habe, von ventus (S. 98), 
Heimath von civitas (S. 98), Schelm von calvere, schlimm, 
d. h. schief, von laevus ebd. Gewifs ist schlimm mit limus t 
im Sinne von obliquus, verwandt. Vgl. Frisch u. d. W. schlimm. 



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Döderleln : Latein. Synonyme o. Etymologien. 5r Bd. 



— S. q«. Hier bemerken wir, dafs Cicero nicht nur Univ. 5. am« 
ma für aer setzt, wo 7 Handschriften doch das Letztere geben, 
sondern auch Acad. II. 3o,, 12 j, und hier, wie es scheint, ohne 
Variante. — S. 120 wird ans zugemuthet, ira und Eifer für 
einerlei Wort zu nehmen, und succensere niobt von censere, son- 
• dem von succendere abzuleiten, S. 124 aber indagare , dqo und 
^r.relv von Einem Stamme herzuleiten, und dann soll wieder in- 
daginem buchstäblich das deutsche Za an seyn, S. 125 Fährte 
nicht nur Eines Stammes mit Spur, sondern auch mit vestigarc f 
S. i37 Jamal us von apa herkommen, (das ist eine starke Hin- 
neigung zur Ableitung lateinischer Wörter aus dem Griechischen, 
in Vergleichung mit der frühem Abneigung davon:) S. i5i pala- 
tum mit spclunca und palam verwandt seyn, S. 246 pangere be- 
deuten fangen. Dergleichen anhaltbare Ableitungen machen den 
Nichtkenner and Halbkenner und den Studierenden mifstrauisch 
auch gegen ganz Sicheres, and geben den hohlköpfigen Gegnern 
der Philologie Stoff zu ihren schaalen Witzeleien , welche beson- 
ders heut zu Tage die Masse der Ungebildeten so schmackhaft 
findet. — S. 120. Wenn Hr. Pr. D. Anstand findet,/«/ und bilU 
mit yoli] and Galle zusammen zu stellen, weil er kein evidentes 
Beispiel finde , in welchem das lateinische f dem griechischen % 
entspräche: so bemerken wir, dafs diese Verwechslung in den 
germanischen Dialekten wenigstens sichtbar genug ist : man ver- 

Sleiche das hollandische kracht mit Kraft, lucht mit Luft, ja 
ie zwei deutschen Wörter Schucht und Schluft. — S. 126 
steht in der Note yiy&va sey ein eben so regelmäfsig gebildetes 
Perfect von TONß, wie 6X0X0. von SXa — and doch giebt es 
keine verschiedenem Bildungen. Von yova könnte eben so we- 
nig ein Perfectum yiyava herkommen, als von KOIIß (gebr. 
xojiTw) xix<o*a 9 sondern yiyova wie xtxona. Sodann ist das 
Perfectaugment in yiyaava ein ganz anderes, als in ÖXaXa. Bei 
jenem ist dem augm. syllabicum , gang nach der Regel , der erste 
Stammbachstabe vorgesetzt: bei diesem ist von ÖXm das Perfectum 
mit dem augm. temporale (weil das Verbum mit einem Vocal an- 
fangt) eigentlich &Xa ; zu diesem wird nun , nach einer sich über 
viele Verba erstreckenden Analogie, der ganze Stamm noch 
einmal vorgesetzt , nemlich o X , folglich wird es ÖX - <oXa : gerade 
so bilden sich auch die Perfecte dd-coda, äit-cma, Kp-opa, 
bp-Spoxa, 6?-<bpvxa und andere ähnliche. — S. 148 fg. fiel 
ans die Stelle auf: » Faux existirt in seiner Bedeutung in dem 
schwäbischen Bun gerer d. i. Luftröhre; vgl. Schmids Wör- 
terbuch.« (Die Stelle ist S. 107). Wenn das sonst ganz unerhörte 
Wort nicht durch einen Schreibfehler entstanden ist, was ans 
sehr möglich vorkommt, so liegt es doch von faux so fern ab, 
dafs wir darin anmöglich die Verwandtschaft erkennen können. 
Wer weifs aber, ob es in dem Manuscript, aus welchem es Schmid 
hat, nicht Lungenrer, d. i. Lungenröhre, geheifsen hat ? Eben 
so seltsam war dem Ref. die Stelle S. i5i : »Und sollte nicht das 
deutsche Kottel, Kutt elf leck für Eingeweide, die deutsche 



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Dödcrlcin : Latein. Synonyme u. Etymologien. 5r Bd. 175 

Form für yaoxho and guttur seyn?« Wir wollen die Sache 
nicht weiter auseinandersetzen , nur auf Frisch verweisen, und 
andeuten, dafs Buttel fleck nicht sowohl Eingeweide bedeutet, 
als die xu einer Speise zubereiteten zerschnittenen Kaldauncn. — 
S. 166 will es uns sonderbar vorkommen , dafs urgerc in den Stel- 
len des Horatius (Ep. I. 14. 26: Vrges iam pridem non tacta ligo- 
ntbus arva) und Tibullus (I. 9. 8: Et durum terrae rusticus urget 
opus) nicht denselben Stamm haben soll, der S. 164 angegeben 
ist, sondern für die lateinische Form von ipydgouat angenommen 
wird : als ob die Dichter nicht das starke Verbum urgere in dem 
Sinne Ton sich eifrig beschäftigen brauchen kannten. — 
S. 181. Bei der Zusammenstellung von olxo?, vicus mit Schweig 
[Schwaig, auch Schweich; s. Schmid und Frisch] konnte noch 
ein Mittelglied, das hollandische wyk^ eingeschaltet werden. — 
8. 198 fg. Bei Erörterung der Bedeutung von meditari und m«- 
ditaiio Uonnte darauf hingedeutet werden , dafs die Romer oft sich 
im Spracbge brauche an das wahrscheinlich verwandte ueXexaJv 
and ptXixri erinnerten, und ihnen deswegen die oft ganz mate- 
rielle Bedeutung des Vorübens und Einubens irgend einer Fertig- 
keit gaben, wie eine ziemliche Anzahl von Stellen bei Forcellini 
beweist. Übrigens weifs Ref. wohl, dafs die Verwandtschaft zwi- 
schen utXttdv und meditari neulich von einem nahmhaften Ge- 
lehrten in einer Recension bezweifelt worden ist. Wyttenbach 
erklärte sie für gewifs. In Rucksicht auf das Obige mochte Ref. 
S. 200 bei der Unterscheidung zwischen commentari und meditari, 
(dafs jenes mehr extensiv, mit Mufse, Ruhe und Gründlichkeit, 
dieses mehr intensiv, mit Ernst, Anstrengung und .Lebendig- 
keit über Etwas nachdenken heifse,) wenn beide neben einander 
stehen, wie de Or. 2, 27, 118: locos multa commentatione et mc~ 
ditatione paratos — den Unterschied so roodificiren, dafs sie sich 
fast wie inneres und Äusseres (mens und intern) verhalten. — 
S. 200. Ob das gothische Verbum hugjan, denken, wähnen, mit 
cogitare oder mit voiiv und incohare zusammen hange, welches 
Beides dem Ref. gleich unwahrscheinlich vorkommt, wollen wir 
nicht untersuchen, sondern es nur auch aus dem Holländischen 
in den Wörtern heugen, gedenken, geheugen, Gedächtnifs, nach- 
weisen. — S. 207 war neben das deutsche Vogel, das gothische 
fugls, das althochdeutsche fogal , auch das englische jowl zu setzen. 
— 8. 345. Zu der Stelle aus Tacitus Ann. I. 42: Primane et 
vicesimä legiones, illa signis a Tiberio aeeeptis, tu tot praeliorum 
socio , tot praemiis aueta, egregiam duci vestro graliam refertis be- 
hauptet der Vf. »das Wort primanus stehe unerkannt in dersel- 
ben. Es haben nemlicjh olle Ausleger das Wort Primane als Fe- 
mininum mit der Fragpartikel gefaßt, und sich dann durch das 
folgende egregiam in Verlegenheit gesetzt gesehen , da es entwe- 
der heifsen müfste primane — hänc graliam oder prima — egre- 
giam gratiam rejertis. Lese man aber primane, so rede Germa- 
nicus damit die anwesende, mit vicesima legio die abwesende 
Legion an. « Hieiuit können wir nicht übereinstimmen. Erstlich 



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116 - Dödcrlcl n : Latein Synonyme u. Etymologien. 5r Bd. 

ist nicht die ertte Legion anwesend, und die zwanzigste abwe- 
send , sondern beide sind zugegen , und beide werden als gegen- 
wärtig angeredet : und zweitens läTst sich die Alternative , dafs 
man sonst entweder pr imune — hanc gratiam oder prima — - 
egregiam gratiam refertis lesen müfste, dadurch leicht beseitigen, 
dafs man nach Buperti's Vorschlage (den Hr. Pr. D. nicht zu 
kennen scheint) ganz einfach und ohne alle Änderung Prima ne 
oder nae d. i. profecto, liest: endlich wütde durch die Annahme, 
Primane sey der Vocativ von primanus, die Concinnität das Aus- 
drucks gar sehr leiden, und vicesima legiones gar seltsam daneben 
stehen. Doch genug der Bemerkungen, an welche wir nur noch 
die Berichtigung einiger uns zufällig vorgekommenen ungenauen 
Citate schliefen. S. 102 unten ist. die Stelle aus Tacitus nicht 
IL 4a, sondern 41; 8. i3i oben Tusc. II. 22. 53, nicht 5z; 8. 
i3z nicht Oeiot. 12, 3z, sondern 33; S. 144 ist die Stelle, die 
blos Cic. Rull, citirt wird, zu finden IL 35. 96; S. a3i , oben, 
sollte es Legg. I. 2. 5, für I, 5 heifsen. 

Der Kürze wegen mochte Bef. bei der Erörterung S. 276 
über Cic. de Bep. IV. bei Nonius Marcellus, doch auf seine An- 
merkung zu jener Stelle, nemlich zu IV, 8. p. 428 fg. seiner 
Ausgabe, hindeuten. 

Da wir uns nun bei lauter Einzelnheiten berichtigend oder 
zweifelnd aufgehalten haben , so fragt vielleicht Jemand, der un- 
sere frühem Anzeigen des Werkes nicht gelesen hat: was ist nun 
der langen Bede kurzer Sinn? Nicht der, der aus dem Tadel 
hervorzugehen scheinen konnte, sondern ein sehr entgegengesetz- 
ter. Wir laden vielmehr Jeden, der sich (ur grundliche Wort- 
forschung, Synonymik und überhaupt für gründliches Studium 
der lateinischen Sprache interessirt, falls er diesen Theil oder das 
ganze Werk noch nicht kennte, ein, sich einen eben so reichen 
Geuufs, als vielseitige Belehrung durch dessen Studium zu verschaf- 
fen. Wir waren etwas ausführlich in der Darstellung und Be- 
gründung einer Anzahl von Desiderien, womit wir dem würdigen 
Verfasser besser, als mit einem oberflächlichen Lobe, zu dienen 
glaubten : aber wir wären unerschöpflich , wollten wir die vielen 
treffenden und trefflichen Artikel (dergleichen z. B. der N. 214 
über Scientia. Nolitia. Inscius, Nescius. Lüerae. Artet. Doclrina. 
Disciplina ist) aufzählen oder gar zergliedern. Der Dank der 
Gelehrten, der Lehrer und der Studierenden wird dem Vf. nicht 
entgehen. Mit Vergnügen sehen wir dem Bande entgegen, der 
das Werk noch brauchbarer machen , runden und abschließen wird. 

ü I m. Nov. i836. G. IL Mose r. 



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N°. 12. HEIDELBERGER 1837 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



ÜBERSICHTEN und KURZE ANZEIGEN. 



HIST0RI8CHR LITERATUR. 

Iiistor igch - politische Darstellung der völkerrechtlichen Begründung de» Kö- 
nigreich» Belgien, von Nothomb. iVaeA dem Framotiechen bearbeitet 
mit Anmerkungen und Zugaben von Dr. Adolph Michaeti», ordentl. 
Profetor der Rechte in Tübingen. Mit einer Karte de» Königreich» 
Belgien. Stuttgart und Tubingen, Cotta. 1836. Clf und 501 und 
119 S. gr. 8. 

Ein als Lehrer der Rechtswissenschaft, als Henner der alte« 
ren Rechtsgeschichte von Flandern, wie der Verfassung und des 
Zostandes Ton Belgien auf gleiche Weise berühmter Gelehrter 
hat das Original der oben angeführten Übersetzung in diesen 
Blättern angezeigt, Ref. darf daher um so weniger auf den Inhalt 
zurückkommen, als er die Verhältnisse, von denen hier die Rede 
ist , nicht wie jener Gelehrte aus eigner Ansicht und Einsicht 
der belgischen Zustände und Verhandlungen kennt. Er begnügt 
sich daher mit einer blofsen, nackten Anzeige, womit er die der 
Gegenschrift des Herrn von Keyerberg verbinden will. Die Über- 
setzung enthält nicht blos alle Verbesserungen und Zusätze der 
neuern Auflagen von Nothombs Schrift, sondern auch Bemerkun- 
gen des gelehrten Übersetzers. Der Anhang von hundert und 
neunzehn Seiten besteht aus einem Urkundenbuche, welches die 
wichtigsten diplomatischen Staatsacten und politischen Documenta 
über die belgisch - holländischen Angelegenheiten enthält. Etwas 
weniger diplomatisch- juristisch ängstlich hätte vielleicht der Über- 
setzer verfahren können , ohne dafs der deutsche Leser etwas 
Wesentliches verloren hätte. Es scheint uns nämlich, dafs es 
nicht sehr schwer gewesen seyn würde , den Hauptinhalt der drei 
Vorreden der drei Ausgaben des Herrn Nothomb in einen kleinen 
Baum zusammenzudrängen, statt dafs hier diese drei Vorreden, 
eine nach der andern wortlich übersetzt, mehr als 100 Seiten 
füllen. Nothombs Werk hat übrigens in Holland einen Gegner 
gefunden, der, als Gelehrter und als Geschäftsmann ausgezeich- 
net , die holländische Regierung oder eigentlich den König , der 
unstreitig den besten Willen halte, wenn er auch nicht immer 
glücklich in der Wahl seiner Mittel und seiner Rathgeber war, 
gegen viele Vorwürfe Notbombs glücklich verthejdigt hat; auch 
ton diesem Werke liegt eine deutsche Übersetzung vor uns: 

XXX. Jahrg. 2. Heft. 12 



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118 Historische Literatur. 

■ 

Vom Königreiche der Niederlande. Durch den Freiherrn vom Keverberg, 

Commandcur des königl. Ordern vom niederländischen Löwen, Mitglied 
des Staatsraths und Prdfecten während des Kaiserreichs u. s. w. Stutt- 
gart, Hallbergerache Verlagsbuchhandlung. 183«. 392 S. 8. 

Der Verfasser dieser Anzeige mufs aufrichtig gesteben, dafs 
er sich über den historischen Werth des Bachs sehr getäuscht 
gesehen, da er es bisher nur aus einseitigen Anzeigen und Aus- 
zügen gekannt hat. Wahrscheinlich verdankt das Buch die gün- 
stige Aufnahme , die es gefunden hat , theils der Parteilichkeit 
eines Theils der Leser, und der Neugierde, die Defension der 
Holländer zu lesen, eines andern Theils, theils dem leichten, di- 
plomatisch vornehmen Styl und den klingenden Worten und Phra- 
sen , ganz besonders aber wohl, wie Ref. hofft, dem Hau)) itheil, 
worüber er sich kein Urtheil anraafst, dem Bericht über die hol- 
ländische Verwaltung und Regierung in Belgien. Er überläfst 
daher Männern von Fach, die Vertheidigung der Holländer, als 
den Haupttheil des Buches, zu prüfen, und beschränkt sich auf 
die ersten hundert Seiten, um deutlich zu machen, warum er 
sich geirrt hatte , als er es für historisch hielt. Es ist eine im 
Style der Napoleonischen Zeit geschickt und gewandt abgefafste 
Schrift eines dienstfertigen, geschäftskundigen Kosmopoliten. Das 
ist Alles, was man davon sagen kann; historischen Werth hat sie 
sehr wenig« Der Übersetzer redet in dieser Beziehung viel of- 
fener als der Verfasser. Er sagt nämlich ganz offen heraus, er 
wolle , wenn er den zweiten Theil des von ihm sehr hölzern 
übersetzten Buchs herausgebe, nicht blos widerlegende Rücksicht 
auf die dritte Auflage von Nothombs Buch nehmen, sondern auch 
in eignen Nachträgen Alles widerlegen, was Nothombs Übersetzer 
Neues beigebracht habe, ja, er wolle sogar zu Gunsten des Kö- 
nigs von Holland gegen Osianders Schrift über die niederländi- 
schen Finanzen zu Felde ziehen. Dabei mufs man eingestehen , 
dafs das Buch des Baron von Keverberg sich viel besser lesen 
läfst (nur nicht in der Übersetzung) als das belgische Buch , dafs 
es vortreffliche und genaue Angaben enthält, dafs es vielleicht in 
Beziehung auf seinen eigentlichen Zweck vortrefflich seyn mag , 
dafs es also ganz aliein Ref. Schuld ist, wenn er darin nicht ge- 
funden hat , was er suchte. Um anzudeuten , was er suchte und 
nicht fand , will Ref. die ersten scheinbar ganz historischen Seiten 
des Buchs durchgehen und seine Meinung leise andeuten. Die 
Einleitung will Ref. ganz übergehen , da diese vornehme nnd 
geistreiche Manier ihm für diplomatische Aufsätze passender 
scheint als für historische, weil es bei den erstem auf glänzen- 
den Schein , bei den andern ganz allein auf dürre Wahrheit an- 
kommt; er geht daher gleich zum ersten Abschnitt über, welcher 
überschrieben ist: Entstehung des Königreichs der Nie- 
derlande. Die Geschichte des Falls der alten Republik der sie- 
ben Provinzen hätte Herr von Keverberg lieber ganz übergehen 
sollen, sie hat mit seinem Gegenstande nichts an thon, und was 



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Historische Literatur. 179 

er berichtet , and die Quellen , aus denen er es nimmt, sind doch 
wohl hoffentlich selbst den Lesern, für welche er schreibt, gar 
zu flach. EU scheint uns sogar, als wenn es seiner Geschicktich- 
Ueit als Vertheidiger und Lobredner seines Honigs wenig Ehre 
macht, dafs er so weit ausholt. Wie wurde er sich aus der Sa- 
che sieben, wenn nun einer ihn von dieser Seite fafste (die Bei- 
gien ear nicht angeht) ? Wenn einer zu beweisen suchte , dafs 
seit der Erneuerung des Statthouderats um 1747 Holland unter 
englische Vormundschaft ham ? Wenn er auf die Zeiten von 
Schlüters Phocion und auf das Betragen der Regierung im ame- 
rikanischen Kriege, besonders zur Zeit des Plans der bewaffneten 
Neutralität, als ein schneller Entschluß, den Ludwig von Braun- 
*schweig und Oranien hinderten, der Bepublik ihre alte Bedeu- 
tung im Handel hatte wiedergeben können, zurückkäme? Wenn - 
er der Folgen der preufsischen Besetzung und ihres Zusammen- 
hangs mit dem Einfall um 1795 gedächte und Mirabeau sur le* 
Stadhouderat benutzte? War es nicht besser, die Heldenthaten 
des jetzigen Königs, deren S. 11 u. 12 gedacht wird, ganz zu 
ubergehen , als sich ein si taeuisses zuzuziehen ? Dies gehört 
unter die Dinge, die Herr ?on Keverberg in der guten Schule 
für dergleichen Defensionswerk , worin er zur Haiserzeit lange 
genug gewesen ist, hätte besser lernen sollen. Wir machen den 
Verfasser und das Publikum aufmerksam , dafs ein geschickter 
Gegner die vierzehn ersten Seiten diplomatischer Historie durch 
einen ganzen Band derber, und wie die Sophisten sagen, unarti- 
ger Historie auf eine solche Weise persifliren könnte, dafs da- 
durch auf die Hauptsache ein starker Schatten geworfen würde. 
F>ies wäre für den eigentlichen Inhalt des Buchs sehr Schade, da 
Herr r. Keverberg weiter unten wirklich historisch,' nicht diplo- 
matisch verfahrt, und die Thatsachen für ihn sprechen, auch sein 
Bönig höchst achtbar ist, wäre es auch nur, weil er Charakter 
bat ohne Despot zu seyn. Der zweite Abschnitt, Wiederher- 
stellung der holländischen Neutralität, enthält leider 
kein einziges Datum über den holländischen Aufstand im J. i8i3, 
sondern berichtet nur , was dieser und jener Legationssecretär 
gesagt und dieser and jener General einem holländischen Baron 
oder Grafen geantwortet habe. Wir müssen es also wohl dahin 
gestellt seyn lassen , bis wir bessere Quellen haben , als des Herrn 
Barons on dit, ob in der That die alliirten Mächte ihren Bhein- 
(lbergang von dem Aufstecken der oranischen Flagge und dem 
Volksgeschrei Oranje boven abhängig machten. BeF. traut den 
-verbundenen Mächten mehr zu als ihnen Herr v. Keverberg zu- 
zutrauen scheint , weil er gern beweisen möchte , dafs Holland 
nicht durch die alliirten Mächte, sondern durch sich selbst wieder 
hergestellt sey — Credut Judaetis Apella. Es folgt Seite 21 der 
Abschnitt: Auflösung des französischen Kaiserreichs. 
Dieser Abschnitt bat innere Wahrheit und streitet gegen die be- 
kannten französischen und belgischen Declamationen mit der siegen- 
den Gewalt unleugbarer Thatsachen. Wir übergehen die folgen- 



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180 



HUtoriiche Literatur. 



den beiden Seiten, Frankreichs Stellung im politischen System 
von Europa; denn was auf den beiden weitläufig gedruckten 
Octavseiten steht, ist doch offenbar gar zu wenig für eine so 
viel versprechende Überschrift Bei dem folgenden Artikel, Er- 
richtung des Königreichs der Niederlande, ist der Verf. 
etwas ausführlicher , und gesteht ganz offen und frei , dafs dio 
Verbindung der beiden ganz verschiedenartigen Staaten , Belgien 
und Holland , ein blofses diplomatisches Kunststück , oder , wie 
er sich sehr bedeutsam ausdrückt, eine Wirkung co nser va t i v e r 
Maasregeln der europäischen Monarchien gewesen sey. Dies an- 
genommen, sehen wir nicht ein, warum nicht dieselben Herren 
Diplomaten und ihre Committenten , sobald sie sahen, dafs ihre 
Maasregel nicht conservirend war, die gemachte Einrichtung 
wieder aufheben konnten. Dafs wir dem Verfasser nichts in den 
Mund legen, was er nicht gesagt hat, beweiset nicht blos sein 
Ausdruck conservativ, sondern er sagt S. 28 wortlich: dia 
Mächte hätten zwar den beiden von ihnen verbundenen Theilen 
des neuen Reichs alles mögliche Gute gewünscht , und auch ge- 
hofft, dafs die Einrichtung den Bewohnern dieses Reichs sehr 
heilsam seyn werde; aber gewollt hätten sie doch eigentlich nur 
die Errichtung eines Staats, von dein kein Volk je ehrgeizige 
Anschläge zu furchten habe, vor dem das allseitige Interesse der 
Hauptmächte Europa's (soll wohl heifsen: das Interesse aller Haupt* 
mächte Europa's) Achtung zu haben erforderte, welcher also das 
Unterpfand des allgemeinen Friedens werden konnte. Mit vieler 
Geschicklichkeit macht daher auch der Verfasser den Unterschied 
geltend , dafs Belgien ein erobertes Land gewesen sey , Holland 
dagegen nicht, dafs also über das erste Land durch Protocolle, 
wie über Algier oder über die Moldau, habe verfügt werden 
können, über das andere nicht Dafs diese ganze Argumentation 
eine blofse , sehr geschickte Benutzung des Scheins ist , siebt je- 
der, der weifs , was es eigentlich mit Holland für eine Bewandt- 
nifs hatte, und wie es damit zuging, dafs es sich selbst consti- 
tuirte. Wir würden indessen mit dem Verf. nicht darüber rech- 
ten, dafs er die Thatsache anführt nnd darauf einen Unterschied 
zwischen Holland, welches Republik, und Belgien, welches oster« 
reichische und französische Provinz gewesen war, gründet; lä- 
cherlich ist es aber, wenn man sich jener Zeiten erinnert, wo 
man über Sachsen und Polen schaltete und Italien vertbeilte, dafs 
er hinzusetzt, keine Macht der Welt habe ein Recht ge- 
habt über Holland auf irgend eine Art zu verfügen, 
und dadurch wahrscheinlich andeuten will, die Belgier aber 
hätten gar nichts zu fodern gehabt. Diese Logik schmeckt 
uns zu sehr nach der Kaiserzeit. Das Übrige ist vortrefflich und 
bündig entwickelt, um zu beweisen, dafs man die Rechnung ohne 
den Wirth gemacht hatte, dafs man eine Einigkeit voraussetzte, 
die nicht vorhanden war, dafs auf dem Papier ausgemacht wur- 
de, was sich nicht möglich machen liefs, dafs der neue König 
von Holland die unmögliche Aufgabe erhielt, durch Gesetze ein 



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HUtoriichc Literatur. 181 

* 

Volk zu erschaffen , wo Gott und die Natur zwei Naturen , zwei 
verschiedene Interessen geschaffen hatten. Möglich war das nur 
allein unter der Bedingung, dafs man Bonapartes eisernen Arm, 
seine Gensd'armes oder Hufslands Heere gebrauchen konnte ; dann 
ist freilich Alles möglich. Der Verf. gebt hernach zu einer An. 
deutung der Geschichte Hollands über und preiset 6. 3o* die Ur- 
heber des Aufstandes zu Gunsten des Prinzen von Oranien auf 
eine Weise, die sich in der Übersetzung ganz komisch ausnimmt, 
da diese französischen Stelzen , wenn sie ihren Mann heben sol- 
len, in Deutschland durchaus aus einer philosophischen Fabrik 
aeyn müssen. Was das übrigens für Leute waren , die in Holland 
handelten, sagt der Herr Baron ganz ohne dabei etwas Arges zu 
ahnden , wenn er um den neuen Honig , der übrigens aller Ach- 
tung würdig ist und bleiben wird, desto mehr zu erheben, sich 
darauf stützt, dafs ihm die Souveränität ohne Vorbehalt, ohne 
Sehranken, ohne irgend eine Restriction oder Bedin- 
gung angetragen worden. W T as soll die Geschichte dazu 
sagen ? Von England findet sich auch kein Wort — Oranien und 
die Statthalterische Partbei , die Fagels u. s. w. ohne England!!! 
und doch ist es auf der andern Seite ein Engländer, den der 
holländische Staatsrath über holländische Begebenheiten citirt ! 
Die Geschichte ist indessen getreu und richtig; die Holländer 
geben sich eine Verlassung , die ihnen nicht aufgedrungen , son- 
dern nach ihrer Art und ihrem Willen gemacht wird; alles ist 
fertig , dann kommen die Belgier als grofsmüthiges Geschenk der 
Mächte hinzu. Das ist Alles ganz in der Ordnung, da aber die 
Belgier bei der holländischen Constitution und der Grofsmuth der 
Mächte gar nicht gefragt sind, so scheint auch ihre Verpflichtung 
in der Sache nicht weiter zu gehen, als die Macht derer, welche 
die Einrichtung gemacht hatten. Sobald man auf dem Felde bleibt, 
worauf sich der Verf. in dem Abschnitt Ergänzung der con- 
atitutiven Verhandlungen über das Honigreich der 
Niederlande hält, ist schwerlich etwas Bedeutendes gegen ihn 
einzuwenden , denn es gilt nur positiven und von dem , der die 
Macht hat , gemachten Bestimmungen ; historisch ist das aber 
nicht, als nur in so weit es allerdings das Geschehene getreu- 
lich berichtet. Sobald man einmal darüber hinaus ist, dafs die 
Hauptsache nicht von Innen ausgehen konnte und durfte, dann 
wird man dem Verf. ganz Becht geben, wenn er S. 56 sagt, 
dafs er sich darauf beschränken könne, darzuthun , dafs der Gang, 
den man i8i3 in Holland genommen, i 8i5 in allen constiruiren- 
den Theilen des Honigreichs der Niederlande strenge befolgt wor- 
den, sowohl in der Vorbereitung als Discussion und Annahme 
des Fundamentalgesetzes u. s. w. Über den Hrieg von i8i5 gibt 
der Verf. sehr schone Bedensarten. Was die Hauptsache, den 
Vertrag, der die Wurzel des Übels war, weil er Unmögliches 
möglich machen sollte, angeht, so sagt der Verf. S. 66 — 67: 
Wäre die Begierung der einen oder der andern dieser Stipulatio- 
nen auch nur um das Mindeste ausgewichen, so hätte sie den 



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182 Hittoriicfce Literatur. 

kontrahirenden Mächten gegründete Ursachen zu klagen gegeben. 
Das nennt man Gewandtheit. Weniger Kunst bedurfte das , was 
er vom Negerhandel sagt, dagegen der Artikel Rheinschiflfahrt 
ein Meisterstück diplomatischer Kunst ist. Historisches finden wir 
gar nichts darin. Die Reden über die FamiJienverbindungen des 
Hauses Oranien ubergehen wir; die Nachrichten von der Expe- 
dition gegen Algier und der Bericht über die orientalischen An- 
gelegenheiten sind wenigstens historischer Art. Die Art, wie der 
Verf. zu den belgischen Angelegenheiten S. 83 übergeht, ist die 
beste, die man denken kann, in Beziehung auf das Publikum, 
für welches sein Buch besonders bestimmt ist. Wer das Stuck, 
welches er überschrieben hat: auswärtige Politik in Bezie- 
hung auf die belgische Revolution, gläubig lieset, der ist 
für den eigentlichen Gegenstand schon durch die Meinung ge- 
wonnen, und darauf kommt es ja für den Erfolg der Überre- 
dung nur ganz allein an; was innige Überzeugung ist, davon 
weifs der grofse Haufen der Menschen nichts. Die Demonstration 
ist ungefähr folgende : Die franzosische Juliusrevolution ist die 
Frucht des unruhigen Strebens der Franzosen nach Herrschaft 
und Kriegsruhm (das möchte wohl wahr seyn) , damit ist verbun- 
den Proselytenmacherei, deren Frucht die belgische Revolution, 
deren nothwendige Folge Bedrohung des in Europa bestehenden 
Systems ist. Der König von Holland, der sich weigert, Belgien 
als ein besonderes Königreich bei seinem Hause zu erhalten, ist 
daher nach dem Verf. dem System der monarchischen Machte, 
die ihn verlassen, getreuer als diese Mächte selbst. Das beweiset 
Herr von Keverberg bündig genug; Ref. glaubt indessen hinrei- 
chend angedeutet zu haben , wie meisterhaft hier die -Verteidi- 
gung der holländischen Verwaltung von Belgien nicht sowohl hi- 
storisch , als vielmehr historisch -diplomatisch vorbereitet wird 5 
das Übrige des Buchs mufs er jemandem überlassen, der mit der 
praktischen Staatsverwaltung vertrauter ist, als er. 

Pragmathehe Geschichte der nationalen und politischen Wiedergeburt Grie- 
chenlands bia zu dem Regierungsantritt des Königs Otto. Von J oh 
Ludwig Kl über. Frankfurt am Main. Frans Varrentrapp. 1835. 
gr. 8. 604 S. 

Ref. ergreift um so lieber die ihm gebotene Gelegenheit, 
auf dieses schätzbare Werk auch in diesen Blättern durch eine 
ganz kurze Anzeige aufmerksam zu machen, als er den Enthu- 
siasmus für Griechen und Griechenland mit jedem Tage mehr 
verschwinden sieht , und daher last zu furchten ist , dafs ein so 
ausführliches, gut und in würdigem, einfachem historischen Styl 
geschriebenes Werk nicht die Bedeutung erlange, die es vor vier 
Jahren würde gehabt haben. Thiersch allein hält aus; er bleibt 
immer voller Hoffnung und voller Bewunderung , hat aber nach 
unserer Meinung an Fallmereyer einen so furchtbaren Gegner er* 



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181 



halten, dafs Ref., seitdem ihm der gelehrte Tubinger Professor 
Tafel mündlich noch Manches mitgetheilt bat, offen eingesteht, 
dafs er Fallmereyers Ansicht für die richtigere halten muls, so 
sehr er ihr vorher entgegen war. Er bat selten etwas Stärkeres, 
Kühneres, Grundlicheres gelesen, als Fallmereyers Vorrede zum 
zweiten Theile seioes Morca. Wie selten trifft man unter der 
Masse der täglich erscheinenden Bücher ein einziges an, das auf 
mehrern hundert Seiten so viele wahre Belehrung gewährt, als 
Fallmereyers Vorrede auf wenigen Seiten ! Der Mann hat nicht, 
wie das zu gehen pflegt, vor Gelehrsamkeit, Tiefe der Speculation, 
Objectivitat der Aulfassung, Begeisterung der Poesie, und wie 
die Auadrücke sonst heifsen, den gesunden Menschenverstand ver- 
loren ! Er hat selbst den Orient und Griechenland gesehen , er 
hat gedacht, und das Gedachte mit dem Gelesenen verglichen. 
Man lese ihn! Ref. macht diese Bemerkung, weil er sehr ge- 
wünscht hätte, dafs ein so besonnener Geschichtschreiber, wie 
Herr Hliiher, auf das Resultat des Inhalts jener Vorrede hätte 
Rucksicht nehmen und viele dort gegebene Winke benutzen kön- 
nen. Für die Geschichte , wie sie Herr Kl über behandelt , war 
dort freilich nichts zu gewinnen, aber für Ansicht und Beurthei- 
lung derselben sehr viel , weil manche Begebenheit in einem ganz 
andern Lichte hätte gezeigt werden müssen. Vielleicht ist es 
aber auch besser, dafs Herr Hl übe r in seinem Vertrauen nicht 
wankend gemacht worden; sein Buch wird dadurch allen Par- 
theien als belehrende und lesbare Zusammenstellung der ganzen 
Geschichte um desto brauchbarer. Er bat sogar die ganze Or- 
ganisationsgeschichte des neuen Königreichs aus Maurers bekann- 
tem Werke aufgenommen; obgleich Vieles davon kaum eine hi- 
storische Bedeutung hat, da es eher verschwand, ehe es noch 
ganz fertig dastand , oder gar überhaupt nur in der Idee, oder 
höchstens auf dem Papier je vorbanden war. Nach der Vorrede 
hat der Verfasser dieser Geschichte sehr grofse Vorstellungen 
von der Bedeutung des neuen griechischen Staats und von des- 
sen künftiger Grofse, sowie von der Organisation desselben und 
von dem heilbringenden System, dessen Kind die jetzige Verfas- 
sung und Einrichtung der Griechen sey , und welches alle Mächte 
zu einer sittlich politischen Staatsgesellschaft vereinige. Ref. ge- 
steht, dafs er, auf Fallmereyer gestützt, in Rücksicht des Ersten 
ganz anders denkt, und das Letzte für ein doctrinäres und diplo- 
matisches Hirngespinst hält, das im besten Fall in einer charak- 
terlosen Zeit alle Nationalität und Individualität völlig vernichten 
würde. Der Satz des Vis., dafs man sich nicht über Zügerun- 
gen, Langwierigkeit der Verhandlungen, Anzahl der Noten, Si- 
tzungen und Protocolle beschweren dürfe, weil sie friedlicher 
Natur seyen , und nicht zu vergleichen mit dem Elend auch des 
kürzesten Kriegs, wäre nur dann wahr, wenn das Menschenge- 
schlecht eine Heerde Schaajje wäre , und wenn nicht diese Unter- 
handlungen u. s. w. andere Übel zur nothwendigen Folge hätten, 
die freilich nicht so auffallend als die des Kriegs , dagegen gleich 



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184 



Historische Literatur. 



allen schleichenden Übeln um desto verderblicher wären , and 
Venn der endlich doch unvermeidliche Krieg nicht am Ende mit 
völliger Aullösung verbunden seyn müfste, wenn man ihn künst- 
lich aufgeschoben. Eine nähere Anzeige des Buchs, welches be- 
sonders für Staats- und Geschäftsmänner bestimmt scheint, die 
sich auf dem kürzesten und dabei zuverlässigsten Wege mit der 
Geschichte und Organisation des neuen Königreichs und den Ver- 
handlungen, Unterhandlungen und diplomatischen Künsten, auf 
denen es gegründet worden, bekannt machen wollen, wird man 
von Ref. nicht erwarten, da er nur übersieh genommen hat, die 
Leser der Jahrbücher aufmerksam auf das Buch zu machen. Er 
will daher nur noch mit den eignen Worten des Vis. den Inhalt 
der Hauptabschnitte oder, wie der Vf. sich ausdrückt, die Zeit- 
räume angeben, damit der Leser wisse, was er darin zu suchen 
habe. Der erste, in sechs Abschnitte get heilte, Zeitraum begreift 
die Geschichte der Erhebung der Hellenen zur Befreiung von 
türkischer Herrschaft bis auf Grofsbrittanniens und Rufslands Ver- 
einigung zur gemeinschaftlichen Vermittelung des Streits , also 
vom März 1821 bis April 1826. Dies ist der Inhalt der ersten 
hundert und fünfzig Seiten. Der zweite Zeitraum begreift die 
Geschichte von Grofsbrittanniens und Rufslands, dann auch Frank- 
reichs Vereinigung zur Vermittelung bis auf die Zustimmung der 
Pforte zu den von den vermittelnden Mächten verabredeten Grund- 
lagen für Griechenlands eigne politische Stellung unter türkischer 
modificirter Oberberrlichkeit. April 1826 bis 14. Sept. 1829. 
Zwei Abschnitte von S. 1 53 — 242. Der dritte Zeitraum S. 242 
bis 287 begreift nur einen Abschnitt und reicht von der Zustim- 
mung der Pforte zu Griechenlands eigner politischer Stellung 
unter ihrer modificirten Oberherrlichkeit, bis auf deren Einwilli- 
gung in Griechenlands vollständige politische Unabhängigkeit un- 
ter einem erbmonarchischen Oberhaupt, vom 14. Sept. 1829 bis 
24. April i83o. Der vierte Zeitraum, S. 288 — 406, begreift in 
vier Abschnitten die Geschichte von der Einwilligung der Pforte 
in Griechenlands vollständige Unabhängigkeit unter einem erb- 
monarchiseben Oberhaupt bis auf des Prinzen Leopold von Sach- 
sen-Coburg Rücktritt von seiner Annahme der ihm angetragenen 
Würde eines souveränen Erbfürsteil von Griechenland. Vom 14. 
April bis 21. Mai i83o. Der fünfte und letzte Zeitraum begreift 
endlich in drei langen Abschnitten die Geschichte vom Rucktritt 
des Prinzen Leopold von Sachsen . Coburg , von seiner Annahme 
der Würde eines souveränen Fürsten von Griechenland bis — 
nach Ernennung des minderjährigen Prinzen Otto von Baiern zum 
Konig von Griechenland und nach Anerkennung einer Regent- 
schaft — zu dem Regierungsantritt des Rönigs Otto d. 21. Mai 
i83o bis 1. Juni »835. Angehängt sind Schriften für die Ge- 
schichte der Befreiung Griechenlands S. 5t/3 — 601. Ein furcht- 
bares Register, welches am besten» beweiset, wie nöthig Herrn 
Klübers Buch war, damit man die angeführte Bibliothek entbeh- 
ren kann. Darauf folgt ein Verzeichnifs von Zeitungen und Re- 



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Historische Literatur. 



185 



gierungsblättern, welche seit i8a3 in Griechenland erschienen 
sind , und endlich Verzeichnifs der Landkarten von dem alten and 
neuen Griechenland. 



Denkwürdigkeiten der tpanischen Revolution. Getammelt und herautge- 
geben von J. B. von Pfeilschifter, herzogt. Anhalt - Cöthcwchcm 
Legationtrathe. Aachaffenburg , bei Theodor Pergay. 1836. 375 S. 8. 

Die Verworrenheit der spanischen Angelegenheiten und der 
Mangel eines leitenden und sichern Fadens wird deutschen Lesern 
jeden neuen Versuch, Licht über die neuere und neueste* Ge- 
schichte zu verbreiten , empfeblungawerth machen , Ref. glaubt 
daher auf das aus spanischen Quellen zum Theil wörtlich uber- 
setzte Buch eines sonst gerade nicht sehr beliebten oder als zu- 
verlässig bekannten politischen Schriftstellers aufmerksam machen 
zu müssen, und ergreift diese Gelegenheit, um auf einen vor- 
trefflichen Aufsatz in einer ausländischen Zeitschrift zu verweisen. 
Man findet nemlich in dem Juli- Heft des Foreign Review eine 
Collectivanzeige von Schriften über Spanten, oder vielmehr, wie 
das die Sitte der englischen kritischen Journale ist, unter der 
blofsen Rubrik dieser Schriften einen klaren und vortrefflichen 
Aufsatz über die neuere spanische Geschichte. Ref. hofft, dafs 
dieser Aufsatz in irgend einem der vielen deutschen Journale, 
unter denen leider jetzt ausser dem etwas zu sehr befangenen 
und diplomatischen des Herrn Ranke kein einigermafsen erträg- 
liches politisches oder historisches sich findet, ubersetzt erschei- 
nen werde , da er sich für das grofse Publikum sehr gut eignet. 
Der Aufsatz des Foreign Review giebt eine vollständige, zusam- 
menhängende, beurtheilende Geschichte, Herr Pfeilschifter da- 
gegen giebt nur über einzelne Punkte Aufklärung, und zwar 
grofstentheils durch Übersetzung spanischer Schriften. Schon aus 
dem letztern Grunde, und noch mehr, weil sich Ref. über Spa- 
nien kein eignes Urtheil zutraut , will er nur bemerken , was der 
Leser in diesem Bändchen findet. Die ersten Aufsätze sind aus 
einer Historia de la guerra de Espana contra Napoleon Bonaparte 
ubersetzt, als deren Redacteur Herr' Pfeilschifter nach dem Ge- 
ruchte einen General anhiebt, der sich jetzt in Don Carlos Haupt- 
quartier befindet. So wenig Zutrauen auch Ref. zu Carlistischer 
Geschichte and Carlistischen Geschichtschreibern hat, so ist es 
doch unter den gegenwärtigen Umständen sehr anziehend , zu 
erfahren , wie diese Leute ihre Geschichte betrachten. Das Buch 
beginnt mit einem schrecklichen Gemälde des Godoy, Fürsten 
de la Paz , der uns neulich mit einem höchst langweiligen Buche 
über sich selbst hat beschenken lassen, welches nicht einmal den 
Vorzug der andern zahlreichen Fabrikate von Denkwürdigkeiten 
und Lebensbeschreibungen hat , dafs es eine Menge unterhalten- 
der Lugen verbreitet oder Geschichte im Romanenstyl vorträgt. 
Der gute, ganz redlich te Fürst, seine Helfershelfer und der 



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18« 



Historische Literatur. 



Buchhändler werden sich sehr betrogen finden , wenn sie geglaubt 
haben, der Armut h des Mannes, der einst Millionen besafs, durch 

den Absatz der dicken Bande voll diplomatischen Plunders etwas 
aufzuhelfen. Savary und Montholoo und Frau Junot, schmählichen 
Andenkens, haben das viel besser verstanden. Über diese Denk- 
würdigkeiten und ihre vollige Nichtigkeit und Abgeschmacktheit 
hat Herr Pfeilschifter übrigens hier S. 5 und 6 eine sehr gute 
Beurtheilung und Bemerkung eingeruckt, woraus man sehen kann, 
auf welche Weise dieses Verfertigen historischer Denkmale ge- 
trieben wird. Es ist bekanntlich jetzt in Paris und London ein 
formlich Gewerbe, wie Zeitungschreiben. Der arme Godoy kommt 
in dx-.n Aufsatze, der des Herrn Pfeilschifters Buch eröffnet, sehr 
. schlecht weg, denn der Carlist ist über die schlüpferigen Seiten 
des Helden eben so ausführlich als der Verfertiger von Godoy • 
Denkwürdigkeiten über sein Yerhältnifs zu Honig und Honigin 
unnatürlich kurz ist , oder eigentlicher , gar nichts sagt. Doch 
lafst man ihm auch hier die Gerechtigkeit wiederfahren, dafs er 
wohl zu weiten hart, nie aber grausam gewesen sey. Er habe je- 
den, der ihm widersprochen, heifst es, aus Madrid verbannt; er 
habe aber Jedem seine Besoldung gelassen , selten Einen der 
Freiheit, nie des Lebens beraubt. Übrigens wird er hier beson- 
ders darum sehr hart mitgenommen , weil er kein Pfaffenfreund 
war. Die folgenden Geschichten bis zum preußischen Kriege von 
1806 — 7 enthalten nichts, das uns neu gewesen wäre. Herr 
Pfeilschifter bat sehr wehl gethan, dafs er S. is i.-t der Note 
den ganzen Aufruf mitgetheilt hat, den der Friedensfürst damals 
ergehen liefs ; er gab dadurch bekanntlich dem franzosischen Kai- 
ser den erwünschten Vorwand und die unmittelbare Veranlassung 
zu seiner spanischen Unternehmung. Dafs in der weitern Erzäh- 
lung der elende Ferdinand ganz unschuldig erscheint , wird man 
von einer solchen Quelle nicht anders erwarten. Als Actenstücke 
sind hier beigefügt S. 20 — a3 das Decret des Honigs gegen sei- 
nen Sohn und das Abolttioitsdecret , und von S. s3 — 27 der Be- 
richt über diese ärgerlichen Geschichten aus der Gaceta de Ma- 
drid vom 3i. März 1808. Die folgende Erzählung, von den Er- 
eignissen kurz vor der Entfernung Carls IV. und seines Sohnes 
aus Spanien, ist sehr nüchtern, unzureichend und ungenügend; 
das einzige Merkwürdige, woran man wahrlich nicht ge wohnt ist, 
scheint uns, dafs Ferdinand in diesem Berichte sehr hervorgeho- 
ben wird. Um das zu thun , mufs mnn doch durchaus ein Carlist 
von der blindesten Gattung sey n ! Dabei kommen eben so lächer- 
liche Lügen und Übertreibungen zum Vorschein , als in den Be- 
richten, die der Moniteur giebt, und die von den Bonapartisten 
verbreitet werden. Besser als diese Geschichte , die einen solchen 
Namen nicht verdient, mögen vielleicht die folgenden statistischen 
Angaben seyn, in deren Prüfung wir nicht eingehen können. Ks 
folgt nämlich zuerst S. 49 e * ne allgemeine Bemerkung über Spa- 
niens Staatskräfte im Jahr 1808. Dann S. 55 Bevölkerung , Land- 
bau , Gewerbe und Handel. Daun S. 5o, Verwaltung, Staatsschuld, 



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Historische Literatur. 18? 

Stimmung des Volks , S. 64 folgt endlich Land- und Seemacht 
Wer diese Bemerkungen eines ächten Spaniers und Royahsten 
gelesen hat, der wird sich eher verwundern, dafs noch irgend 
etwas in Spanien geschehen kann, was einer Regierungsmaasregel 
ahnlich sieht, als darüber, dafs eine allgemeine Auflösung sich 
überall kund siebt. Schon 1799 betrug die Ausgabe i8a3 Millio- 
nen Realen , die Einnahme /jcj3 , also das jährliche Deficit 1329 
Millionen ! I Das zweite Stück dieses Bandes ist überschrieben: 
Eröffnung der ausserordentlichen Cortes im, Jahre 
1810 von Don Miguel de Lardizabal v Uribe. Diese für die 
Geschiebte von Spanien zur Zeit der Abwesenheit des erbarm, 
liehen Ferdinands allerdings sehr wichtige Schrift kennt man schon 
aus Pfeilschifters Staatsmann von i8a3. Sie ist unter den jetzi- 
gen Umständen für den denkenden Forscher in Rücksicht derje- 
nigen Stimmung der Cortes, die dem Lardizabal und seinen Col- 
legen so ungemein widrig war, von sehr grofser Wichtigkeit. 
Lardizabal ward Märtyrer für Ferdinand, er diente ihni hernach 
sehr getreu, und doch ward er auf Befehl des elenden Königs in 
harter Haft gehalten , weil er einen Brief an einen Freund ge- 
schrieben hatte, worin er die Verbindung mit portugiesischen 
Prinzessinnen in starken Ausdrücken mifs billigte. Dann folgt das 
unseelige Decret von Valencia , welches Ferdinand sich selbst und 
den PUffen zu Gefallen den 4. Mai 1814 undankbarer und unver- 
ständiger Weise erliefs. Des Louis Jullian Precis historique des 
evenemens politiques et militaires qui ont amene la revolution 
d'&spagne, woraus S. i5o — 182 ein Auszug gegeben wird, ken- 
nen wahrscheinlich diejenigen unserer Leser, die sich für Spanien 
interessiren, aus dem Original, und die Noten des Übersetzers 
werden schwerlich viel Glück machen, so verächtlich auch der 
Liberalismus der eiteln und gemeinen Seelen ist, die unter uns 
und in Spanien ein Gewerbe daraus machen ; denn, wahrlich ! wenn 
je auf einen willkührlichen Herrscher oder einen betenden Dumm- 
kopf, der sich durch Begünstigung des Aberglaubens von jeder 
menschlichen Pilicbt entbunden glaubte, Horazens Worte anwend- 
bar waren, so waren sie es auf den wiedereingesetzten Ferdinand. 
Horaz sagt bekanntlich von dem auf ähnliche Weise wieder ein- 
gesetzten Parteiischen Tyrannen : 

Bedditum Cyri solio Phrabaten 

Dissidens plebi, numero bea- 

torum exirait virtus , populumque falsis 
Dedocet uti 

Vocibus — — — 
Das fünfte Stück dieses Bändchens spanischer Geschichten ist 
die aus den im spanischen Journal la Colmena enthaltenen Acten 
gezogene Geschichte der Empörung des Generals Por- 
tier. Ref. gesteht, dafs ihn diese spanischen Gräuel zu sehr an. 
ekeln, als dafs er in ein solches Detail, als man hier findet, ein- 
gehen mochte , indessen ist die Bekanntmachung dieses acten- 
mäfsigen Berichts für Deutschland sehr wichtig, wie Herr von 



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188 



Hietorisdiu Literatur 



Pfcilschifter durch seine Schlufsbemerkung und seine zwar sehr 
scharfe , aber , wie uns scheint , keineswegs ungerechte Polemik 
gegen Buchholz, Münch, Venturini sehr einleuchtend bewiesen 
hat. Das folgende sechste Stuck enthält die aus Don Juan von 
Halen Memoires übersetzte Geschichte der Verschwörung 
des Obersten Vidal in Valencia. Ob die Spanier, von de- 
nen dort die Rede ist, wirklich glaubten, dafs ein Mensch, wie 
Honig Ferdinand, der doch gewifs zu den Leuten gehörte, .die 
weder etwas lernen noch verlernen , durch eine Reise nach Eng- 
land besser werden könne, lassen wir dahingestellt seyn; Ver- 
kehrteres konnte wenigstens nichts erdacht weiden , als' Carl IV. 
aus Rom zurückzuholen ! Die Geschichte dieser Verschwörung 
ist wenigstens unterhaltend , wenn sie gleich nicht sehr belehrend 
ist. Das siebente Stück enthält die Geschichte der nach 
Amerika bestimmten Armee von zweiundzwanzigtau- 
send Mann, oder der sogenannten Nationalarmee von San Fer- 
nando, aus dem Spanischen des D. Evaristo San Miguel und D. 
Fernando Miranda. Wer alle diese Geschichten aufmerksam ge- 
lesen und das Betragen und die Charaktere derer, die eine Rolle 
in Spanien gespielt haben , geprüft und erwogen , wer ferner die 
Theilnehmer der polnischen Revolution aus den Schilderun- 
gen ihrer eigenen Freunde kennen lernt, der mufs leider 
zu der Überzeugung kommen, dafs es in unsern Tagen weniger 
an den Verfassungen und Regierungen ; als an den Menschen 
überhaupt liegt, dafs wir, wie es scheint, nächstens ganz in die 
juristisch militärischen Zeiten des achtzehnten Jahrhunderts zu- 
rückkommen werden. Wenn jeder nur an sich denkt, kann frei* 
lieh nur der Stock Ordnung halten. Übrigens gesteht Ref., dafs 
er auch hier nicht ganz aufmerksam dem Einzelnen gefolgt ist, 
weil er an der ganzen Sache zu wenig Antheil nimmt. Dasselbe 
gilt von dem achten Stück , von der aus dem Spanischen des 
Obersten Santiago Rotalde übersetzten Geschichte des mifs- 
gl tickten Aufs tan des in Cadix. Wer Verschwörungen und 
Empörungen der Truppen zu leiten hätte, der könnte hier wahr- 
scheinlich manche Belehrung schöpfen. Der (olgende Aufsatz, 
der neunte, Riego's Kreuz zug, nach zwei spanischen Berich- 
ten, welche hier beide mitgetheilt werden, hat wenigstens den 
Vorzug, dafs der Hauptheld eine grofse Bedeutung in den all- 
gemeinen spanischen Angelegenheiten gehabt hat. Die Kunst, 
mit welcher diese Aufsätze dem letzten vorausgeschickt sind , 
mufs man bewundern, denn wenn man das lange Register der 
Verwirrungen , der Mordthaten und des Verraths gelesen hat 
und dann vernimmt, was deutsche Sophisten und Juristen und 
Professoren zu Gunsten des spanischen Despotismus und Aber- 
glaubens vorbringen , oder wie sie uns alles Veraltete dringend 
empfehlen, wird man eher geneigt seyn, mit Achselzucken ein- 
zugestehen , dafs die Hoffnung , in Spanien oder unter Men- 
schen , die den Spaniern gleichen, Tugend, legale Regierung, 
Freiheit und wahre Religion eingeführt zu sehen, ein leerer phi- 



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Historische Literatur. 

lanthropischer Traum sey! Diese Schutzschrift für das Priester- 
thum ist uberschrieben: über die Restauration Spaniens, 
geschrieben im 'Jahre i8a5. Man findet hier zuerst einen aus 
Madrid am 26. Not. i8s3 datirten Brief über die spanischen An- 
gelegenheiten , den der Verfasser des Briefs und dieses Buchs 
schon in »einem Staatsmann hat abdrucken lassen. Da der Geist 
dieser Zeitschrift seiner Zeit bekannt genug war, so braucht Ref. 
über S. 33a — 344 1 vvo dieser Aufsatz zum zweiten Male abge- 
druckt ist , nichts weher zu bemerken. Bei Gelegenheit der 
neaen Nutzanwendung eines alten von den Gläubigen schon ein- 
mal bezahlten Briefs kann Ref. indefs nicht umhin, einen Satz zu 
rügen, den er einem Katholiken nicht übel nimmt, den aber be- 
kanntlich auch die neuen Theologen unserer Kirche, die gar zu 
gern Kirchenväter wären, und allen alten Wust unter dem Titel 
Wissenschaft wieder aufwärmen , gläubig nachbeten: dafs die 
eigentlichen Protestanten (d. h. die nicht auf Formeln 
schworen) sonst wenig Gemeinsames hätten als das Pro- 
testiren. Darauf antwortet Ref. im Namen derer, die für ih- 
ren Glauben niemals Orden oder Besoldungen erhalten haben 
oder werden : dafs sie allerdings keine gemeinsamen Formen und 
Formeln, Dogmen und alte aus diesen oder jenen vergessenen 
Folianten geschöpfte Lehren gemein haben, wohl aber ein ewiges 
Wort in ihrem Herzen, das vor der Welt war, das die Welt 
geschaffen hat und nach der Welt ewig seyn wird, wie es vor- 
her ewig gewesen ist. Dies Wort in ihrem Herzen ist im Leben 
beim Vorwärtsgehen und beim Ruckweichen der theologischen 
* eitel n und herrschsüchtigen und heuchelnden Schaar ihr Trost, 
im Tode ihre Hoffnung, und verbindet sie, nicht mit Pfaffen 
und blinden Gelehrten , sondern mit den Edeln aller Zeiten und 
Orte, mit den grofsen Männern, welche Kirchenväter und Con- 
cilien, anmaßende Theologen und ihre einfaltigen Schüler in die 
Holle stofsen , weil sie ihre Dummheiten nicht nachsprechen. 
Solche Protestanten lassen jeden glauben , was er will ; schimpfen 
niemand, erinnern sich der Worte der Bibel, die sie gleich dem 
Haufen, aber auf andere Weise ehren: mein ist das Gericht, 
ich will vergelten, spricht der Herr, und harren getrost 
seines Tags, wo sich zeigen wird, wer zu den Bocken und 
wer zu den Schaafen gebort. 

Durch diesen Aufsatz S. 33 1 fgg. wird übrigens die Ge- 
schichte keineswegs gefordert, ob die Politik dadurch gefordert 
wird , weifs Ref. nicht , da das sein Fach nicht ist. S. 364 — 3~-5 
findet sich ein nutzliches Verzcichnifs spanischer Schriften über 
die spanische Revolution. 



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190 



, Hittorische Literatur. 



Die Rolle der Diplomatie bei dem Falle Polen». Ein belehrendes Beispiel 
für alle Völker. Von einem ausgewanderten Polen. St. Gallen und 
Leipzig, im Bureau des Freimut h igen. 1835. 198 S. gr. 8. 

Diese Schrift eines ultra •liberalen Verteidigers der polni- 
schen Clubbisten fuhrt leider durch die Geschichte zu demselben 
Resultat, welches der vorher angeführte Schriftsteller, der von 
ganz entgegengesetzten Grundsätzen ausgeht, aus der künstlichen 
Anordnung spanischer revolutionärer Unternehmungen nicht etwa 
durch logische Folgerung , sondern unmittelbar herleitete. Wir 
finden hier denselben Mifsbrauch gewisser hochklingender Heden, 
dieselbe Verschiedenheit der Ansichten und Interessen , dieselbe 
Erbitterung der Partbeien , denselben Ehrgeiz der Fuhrer, den- 
selben Verrath, und wenn Einige reiner scheinen, so ist es nur, 
weil sie nicht zum Handeln kamen. Eine eigentliche Geschichte 
der polnischen Revolution enthalt das Büchlein nicht, sondern nur 
eine Kritik alles dessen, was geschehen ist, und besonders aller 
der Männer , welche irgend eine bedeutende Rolle gespielt haben. 
Heiner der Generale, keiner der leitenden Männer wird verschont; 
Czartoriski und Radzivil fahren besonders übel. Wir wollen nicht 
leugnen, dafs die Herren, die viel zu verlieren hatten, zu viel 
aur diplomatische Waffen vertrauten, dafs sie sich tauschen Hes- 
sen, dafs sie nicht so rasch als die, welche wenig zu verlieren 1 
hatten, vorwärts schritten, weil sie fürchteten, aus der despoti- 
schen Charybdis in die ochlokratische Scylla zu fallen; aber es 
fragt sich doch auch, ob die vom Verf. gerühmten Demokraten, 
denen grofstentheils Alles fehlte, was Gewicht giebt, mit den 
Maasregeln der Clobbs weiter gekommen waren ! Schon Sollyks 

Sinz im demokratischen Sinne abgefafste Geschichte hatte uns in 
ucksicht der Polen fast auf dieselben Gedanken gebracht, als 
Fallmereyers Vorrede und Maurers Buch in Rucksicht der Grie- 
chen; diese Schrift eines geflüchteten Mitglieds der Clubbs über- 
zeugt uns völlig, dafs aus den in Polen gährenden Elementen 
kein Staat entstehen konnte, wohl aber eine Armee. Das Resul- 
tat der Leetüre dieses ungemein heftig geschriebenen Buchs wird 
für jeden aufrichtigen Freund der Freiheit und eines für alle 
gleichen Rechts ein ganz anderes eyn, als sich der Vf. gedacht 
hat. — Jeder Verständige wird verzweifeln und ausrufen , wenn 
diese Menschen nach dem Zeugnifs ihrer eignen Unglücksgenos- 
sen so waren , wie sie hier geschildert sind , wenn die Gebildet- 
sten und Edelsten aus solchen Beweggründen handelten, als ihnen 
hier zugeschrieben werden; wenn Generale und Minister, Regen- 
ten und Deputirte alle diejenigen verriethen, die sich ihnen anver- 
trauten; wenn Chlopizki, Skrzynecki, Dembinski und zehn andere 
nichts taugten, wie sollten wir vom rohen Pobel eines Landes, wie 
Polen, Besseres erwarten und hoffen? Dafs die Verdorbenheit 
srofs und unheilbar war, dafs hinter dem Dunst eines aufwallen- 
den Patriotismus und einer kriegerischen Begeisterung durchaus 
nichts Festes und Ernstes lag, dafs den Leuten alle Solidität, alle 



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Ausdauer fehlte, hat leider der Verf. nur gar zu gut bewiesen! 
Er hat vielleicht die Clubbs gerechtfertigt, er hat die Demagogen 
entschuldigt, er hat aber zugleich bei den Vcrsta'ndigen seiner 
Nation einen schlechten Dienst gethan , und Ruf. nrnfs, so sehr 
ihn das schmerzt, doch eingestehen, dafs er von Griechen, Spa- 
niern , Polen , nachdem er die angeführten Bucher durchgelesen 
hatte, so wenig hoffen kann, als von einem Thiers und (Konsor- 
ten, oder von den übrigen Leuten, welche die Politik als Mittel 
gebrauchen , zuerst ihre Parthei , dann sich selbst ans Ruder zu 
bringen. Er beklagt aber darum das Schicksal der den sogenann- 
ten praktischen Männern hingegebenen Menschheit nicht we- 
niger. Zum Schlüsse will Ref. die Leser noch auf zwei Artikel 
über Polen aufmerksam machen, die ihm viel Belehrung gewahrt 
haben , und durchaus frei von Declamation oder parteilicher 
Rücksicht sind. Der eine ist der Artikel Co n st antin in der 
bei Treuttel und Würz in Paris erscheinenden Encyclopedie des 
gens du monde, von der Gemahlin eines polnischen Generals, die 
in Paris lebt, während ihr Gemahl in russischen Diensten zurück- 
geblieben ist. Dieser Artikel ist im gemässigten Tone geschrie- 
ben , und begreift fast die ganze Geschichte des unseligen Kriegs« 
Der zweite Artikel ist eine Gesammtanzeige im Juli -Stück des 
Foreign Review, worin über die polnischen Angelegenheiten ein 
eben so vollständiger und klarer Bericht gegeben wird , als in 
der andern über die spanischen, nur wäre es sehr nützlich ge- 
wesen, wenn der Vf. das von uns angezeigte Buch gekannt hatte, 
er würde oft ganz anders geortheilt haben, als er gethan hat. 

Mit der Anzeige dieser Bücher, die von der Tagsgeschicbte 
handeln , wollen wir die des Werks eines bekannten gründlichen 
Gelehrten über das Mittelalter verbinden, blos um dem Vf. un- 
sere Achtung und Aufmerksamkeit zu bezeugen , und so viel an 
uns liegt beizutragen, dafs diese gründliche Arbeit nicht mit den 
Producten mechanischen Fleifses , hohler Speculation oder poeti- 
scher Narrheit , an denen wir über das Mittelalter keinen Mangel 
haben, verwechselt werde. 

Die Geschichte des Mittelaltere in eeche Büchern. Von Dr Friedrich 
Hör tum, Prof. der Geschichte an der Hochschule %u Bern. Erster 
Band. Bern 4836. Jenni Sohn. 592 .V. gr. 8. 
Zweiter Band, ebendaselbst. 575 S. 

Dieses Werk würde eine ganz durchgeführte und ausfuhr- 
liche Prüfung mehr als irgend ein anderes verdienen, aber theils 
fehlt es dem Ref. dazu an Zeit, tbeils würde der ihm nach dem 
Zweck dieser Jahrbücher vergönnte Raum dazu zu klein seyn; 
einzelne Ausstellungen an einem Werke von solchem Umfange zu 
machen , würde freilich leicht aber auch ungerecht seyn , eine 
kurze allgemeine Anzeige mag daher hinreichen. Herr Hortüm 
ist durch frühere Arbeiten als Kenner des Alterthums und als 
Forscher des Mittelalters bekannt; er ist ein kräftiger und ern- 



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Historische Literatur. 



» 



ster Mann , der weiter sieht als ein Rühs und Seinesgleichen , es 
wäre daher sehr zu wünschen, dafs dieses Handbuch das ganz in 
gewöhnlicher Compendien - Manier geschriebene Bach von Rühs 
verdrängte. Was Behm betrifft, so ist dessen Geschichte des 
Mittelalters sehr bequem neben Hort ü ms Buch zu gebrauchen, 
weil es die Geschichte auf eine andere Weise nicht weniger gründ- 
lich als das Werk, von dem wir hier reden, behandelt, auf das 
Einzelne genau eingeht und eine ganz vollständige Literatur giebt; 
dahingegen Herrn Kortüms Werk mehr die Form von- Vorlesun- 
gen über die Geschichte des Mittelalters hat. Der Verf. beginnt 
den ersten Theil mit einer Einleitung und einer kurzen Übersicht 
der Geschichte des romischen Reichs von Constantin bis zur Re- 
gierung des Ostgothenkonigs Theodorich, und endet ihn im vor- 
letzten Abschnitt des fünften Buchs mit der sicilianischen Vesper, 
die er eine Blutrache der Hohenstaufen nennt. Im vorletzten 
Abschnitt giebt er eine Übersicht der allgemeinen Völltergeschichte 
ausserhalb Deutschland und Italiens; dann im letzten Abschnitt 
eine Übersicht der innern Geschichte, oder des Zeitalters Grund- 
verfassung, Kunst, Wissenschaft. Den Inhalt des zweiten Bandes 
hat der Verf. in der Überschrift des sechsten Buchs , oder des 
sechsten Zeitraums, der darin behandelt wird, folgendermafsen 
angegeben: Vom Untergange der Hohenstaufen in Westen, der 
Chalifen von Bagdad in Osten bis zur Eroberung Constantinopels 
durch die Osmanen (1268 — i453); des Mittelalters Abnahme und 
Verfall. Ref. war bisher immer in Verlegenheit, wenn er gefragt 
wurde, wo man sich über das Mittelalter vollständig belehren 
könnte? Er wird künftig ohne alles Bedenken auf Kortüms Buch 
verweisen, und glaubt, dafs wer dieses studiert hat, leicht selbst 
erkennen wird , wie die übrigen Werke , deren Verfasser Herr 
Kortüm ganz am Schlüsse genannt hat , gebraucht werden kön- 
nen. Herr Kortüm kennt, besonders was Deutschland und Italien 
angeht, die er immer vorzugsweise im Auge hat, die Quellen 
und das Einzelne der Geschichte und Verfassung, wie sehr we- 
nige unserer Schriftsteller sie kennen. Man findet hier den rei- 
chen Vorrath der Kenntnisse eines tüchtigen Gelehrten, der seine 
Materie Jahre lang studiert bat, in einer gedrängten Übersicht, 
die nicht wie Rühs Sammlungen schnell in ein gewöhnliches Com- 
pendium verwandelt, nur consultirt, nicht aber durchgelesen wer- 
den können, sondern ein Buch, das sich gut lesen läfst. Dabei 
hat Herrn Kortüms Vortrag auch nicht die flache Glätte, die bei 
Hallara in den historischen Stücken so sehr gegen die juristischen 
Parthien seines Buchs absticht. Herr Kortüm macht auch nicht, 
wie jetzt unter uns Sitte ist, Schulphilosophie aus der Geschich- 
te, man findet keine Sophist ih irgend einer Art, obgleich er seine 
eigne Ansicht hat , von der Ref. sehr oft ungemein abweicht. 

(Der Bcschlufs folgt.) 



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N°. 13. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

» 



Historische Literatur. 

(Betcklufa.) 

Ref. hält aber den Mann allein für einen wahren und auf- 
richtigen Geschichtschreiber, der teine Individualitat nicht Ter* 
Stecht, vorausgesetzt, dafs diese Individualität achtbar ist. Ein 
Trotzen auf höhere Ansicht , auf objective Erkenntnifs , auf ein 
poetisches Gemüth , kurz, auf etwas Exclusives oder gewisser- 
mafsen Geoffenbartes, ist dem Publicum, das sich Ref. und ge- 
wifs auch Herr Kortüm wünscht, sehr lächerlich. Herr Kortüm 
wird mit dem Ref. in dem Alter, worin er ist, es Andern über- 
lassen, saevas currere per Alpes, ut pueris mulierculisque pla- 
ceat, utque fabula fiat. Vielleicht hätte Herr Kortum wohlge- 
than , Manches nicht so sehr zusammenzudrängen , als in dem 
Werke geschehen ist und den Schwachen am Geist durch öftere 
Absätze und häuügere Scheidung des Zusammenhangs der Bege- 
benheiten von den Zuständen zu Hülfe zu kommen. Ob der Vf. 
übrigens Recht hat, Karl den Grofsen S. 176 im häuslichen 
Leben glücklich zu nennen, und ob seine Tochter, die Herr Kor- 
tüm in Turnkünsten geübt nennt, so sittsame Jungfrauen waren, 
als sie hier beschrieben werden, darüber wollen wir hier nicht 
disputiren. Herr Kortüm mag das selbst verantworten; wenn aber 
Ref. das Beispiel der Tochter Karls andern Prinzessinnen em- 
pfehlen sollte, so würde er sich doch etwas bedenken. Auch 
würde er in einer allgemeinen Geschichte des Mittelalters nicht 
so ausführlich von Karls des Grofsen Beerdigung und der unbe- 
deutenden Inschrift über seinem Grabe geredet haben, als S. 76 
— 77 geschehen ist. Gedrängt und vortrefflich ist dagegen Al- 
les, was Karls Bauwesen angeht, angegeben, und Ref. hat in dem 
gedrängten Bericht manchen Wink gefunden , der ihm ganz neu 
und sehr belehrend war. Dafs Herr Kortüm der Geschichte der 
HohenstaufTen etwas mehr Umfang gegeben hat, als man in einer 
allgemeinen Geschichte des Mittelalters erwarten würde, wird 
man ihm aus vielen Ursachen Dank wissen. Er steht auf seinen 
eignen Füfsen, er giebt Bericht aus den Quellen und betrachtet 
die Geschichte in einem andern Lichte als seine Vorgänger; aus- 
serdem ist die Einsicht in die Verhältnisse 'des Mittelalters ohne 
eine ganz genaue Kenntnifs dieser Geschichte nicht zu erlangen. 
Er hat auch, weil er die Geschichte der Hohenstaufen sehr spe- 
ziell behandelt , dem ersten Bande zwei Actenstücke aus dem 
Wiener Archiv angehängt Das eine ist ein Schreiben der zu 
Bamberg versammelten Wahlfürsten an den Konig Friedrich II. 
von Sicilien, vom Jahre iaia; das andere ein Brief des Kanzlers 
Peter a Vineis über des unglücklichen Conrads Erziehung. Dem 
letztern, dem die That und die Erfahrung widerspricht, legen 

XXX. Jahrg. 2. Heft. 13 



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194 



Historische Literatur. 



wir, so wie allen den declamatorisch zierlichen Schreiben des 

Kanzlers, Keine gröfsere Bedeutung bei, als den von Bonapartes 
Sophisten in ähnlichem Styl im Moniteur und uberall bekannt ge- 
machten Artikeln. Herrn Kortüms kurze Darstellung der N ehme 
und des Vehmgerichts , so wie überhaupt vieler Sitten und Ein- 
richtungen des Mittelalters erhält dadurch etwas sehr Belehren- 
des, Bewegtes, Lebendiges, dafs Herr Kortüm dem Mittelalter 
sehr gewogen scheint; Ref. gesteht, dafs er nicht so sehr dafür 
eingenommen ist, weil ihm immer Spanien einfällt, welches aller* 
dings auch seine poetischen und vielgepriesenen Seiten hat. Im 
«weiten Theile wie im ersten, hat sich Herr Kortüm hie und da 
von einer gewissen Vorliebe verleiten lassen, das Ebenmaafs der 
einzelnen Theile nicht so eenau zu. beobachten , als die von ihm 
übernommene Verbindlichheit, das Ganze der Geschichte voll- 
ständig zu geben , erfordert hatte. Als Beispiel mag die türkische 
Geschichte dienen, wo er hie und da Besonderheiten und Einzel- 
nes mittheilt, wie wir sie in der Geschichte Karls des Grofsen 
angedeutet haben , oder wie sie in der Geschichte der Hoben- 
stauflen vorkommen. Um den Lesern dieser Blätter zu zeigen, 
welchen Gang Herr Kortum im zweiten Theile genommen hat, 
wollen wir das von ihm selbst gegebene Verzeichnifs des Inhalts 
der verschiedenen Abschnitte dieses sechsten Buchs mittheiten. 
Die erste Abtheilung behandelt die allgemeine Geschichte des 
sechsten Zeitraums , und zwar zuerst die ständische (parlamenta- 
rische) Entwickelung in Deutschland, England, Spanien und Frank- 
reich. Dann folgt, was Herr Kortüm das Freistädterthum nennt 
(der Republikanismus), und die freistädtischen Bünde. Diesem 
Stück hat der Verf. wieder eine Ausdehnung Gegeben, die aller- 
dings uns Deutschen willkommen seyn mufs, die aber doch den 
deutschen Angelegenheiten einen etwas zu bedeutenden Raum 

S'ebt. Dasselbe ist bei Hallam der Fall mit der englischen Ver- 
ssungsgeschichte. Bei diesem bildet die gedehnte und oft ganz 
juristische Ausführlichkeit der Verfassungsgeschichte mit der Dürf- 
tigkeit, Nüchternheit, Seicht ig heit , Oberflächlichkeit der andern 
Parthien einen ganz lächerlichen Contrast. Das ist nun freilich 
Herrn Kortüm nicht vorzuwerfen; man sieht immer und überall, 
dafs er ein Geschichtschreiber, aber nicht wie Hallam ein Advo- 
kat ist, der keck über das, was er gar nicht kennt, das erste 
beste Buch zu Rathe zieht , und mit der Feder oder der Rede 
daraus macht, was sich eben daraus machen läfst. Freilich dient 
so etwas den ge wohnlichen Lesern am besten, Herr Kortüm ach- 
tet aber sein Publikum und wird darum von uns ebenfalls ge- 
achtet. Die Abtheilung, welche die Städtebündnisse begreift, 
zerfallt in die folgenden Abschnitte. Von dem niederdeutschen 
Städtebund der Hanse, Ursprung, Wachs thum, Grundverfassung; 
dann von dem Aulblühen und Untergang des schwäbischen Städte- 
bundes , dann der hochdeutschen (schweizerischen) Eidsgenossen- 
schaft Ursprung und Wachsthum. Darauf folgen ähnliche Ab- 
schnitte über die Abnahme und den Untergang der meisten Frei- 



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Hittorische Literatur. 



Städte Italiens, und zwar zuerst über die Wirren und Umwand* 
Jungen der Republiken Mailand und Florenz; dann von Wirren 
und Umgestaltungen der Republiken Pisa , Venedig und Rom. 
Der dritte Hauptabschnitt befremdet etwas, doch mehr durch 
seine Überschrift als durch den Inhalt, obgleich hier allerdings 
der Verfasser, weniger einheimisch, weniger innig vertraut mit 
der sehr schwierigen Materie ist , als in andern Theilen seines 
Buchs. Er handelt nämlich von der ständisch -republikanischen (??) 
Fntwickelung der Hirche und Priesterschaft, oder vom zweiten 
Kampf des Papstthums mit der weltlichen Fürstenmacht und den 
religiös- philosophischen Brüderschaften. Dies ist der allgemeine, 
nach unserer Meinung etwas sehr ausgedehnte Theil. Dann erst 
folgt der Theil , der das Besondere enthält , und zwar zuerst des 
mittelalterlichen Reichs deutscher Nation Sinken und Verfall ; vom 
Untergang der Hohenstauftcn bis zur Aschaflenburger Verkom- 
nifs unter Kaiser Friedrich III. (1266 — 1447); dann Preufsen und 
Scandinavien ; dann England und Frankreich; Ursprung, Gang, 
Folgen der englisch • franzosischen Nationalkriege ; neuburgundi- 
aches Zwischenreich. Dann folgt Spanien , Portugall und das 
fOrstliche (monarchische) Italien. Im fünften Abschnitt endlich 
wird gehandelt von Slaven, Ungarn, Byzantinern, Osmanen und 
Mongolen , Fall von Constantinopel. Wer geneigt seyn sollte, 
den Vf. wegen der Eintheilung des Werks und wegen der Ver- 
keilung der Materie zu tadeln, der wird hoffentlich die Kunst 
nicht übersehen , mit welcher Herr Kort um nicht allein die wich- 
tigsten Punkte durch Anordnung und Ausführlichkeit der Behand- 
lung zü heben und voranzustellen verstanden hat ; sondern auch 
die Geschicklichkeit, mit welcher er, was sehr selten unter uns 
geschieht, das Buch zu einem Ganzen gemacht hat. Der Verf. 
rasonnirt nicht und macht keine Philosophie über die Geschichte; 
er ordnet aber das, was er giebt, auf eine solche Weise, dafs 
der Leser, der ihm aufmerksam gefolgt ist, zugleich die Kennt- 
nifs des Einzelnen nnd ein allgemeines Resultat nach und nach 
gewinnt. Dies scheint uns die einzige richtige Methode in der 
Geschichte zu seyn; jede andere Manier ist Spiegelfechterei. Die 
Wege und Mittel, den angegebenen Zweck zu erreichen, mu(s 
man billig jedem Schriftsteller selbst überlassen , und man bedarf 
daher verschiedener Werke dieser Art , damit der Leser nach 
seinem Bedürfnifs, welches sich nach seiner Individualität richtet, 
wählen könne. Was das Einzelne angeht, so wird man bei einem 
kräftigen Manne, wie Herr Kortüm, der, innig mit der Sache, die 
er behandelt, und mit den Quellen vertraut, überall selbst urt heilt, 
nnd eigne und eigentümliche, auch mitunter sonderbare Ansich- 
ten aufstellt und vertheidigt, leichter und öfter anstofsen, als bei 
einem Windmacher und Sophisten, oder einem fleifsigen Samm- 
ler und Bachmacher; gerade dieses ist es aber, was einem sol- 
chen Lehrbuche nicht blos für den Lernenden, sondern auch für 
den Gelehrten nnd für die Welt dauernden Werth giebt. 

fU-iV' - 8cMo**er. 



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19C 



UTERÄRGESCHICHTK. 

Catalogue de la Bibliotheque publique de Geneve, ridige par 
Louie V auch er, Poet cur 6$-lettrts et bibliothtcaire konoraire. Ge- 
neve. Se rend chex les prineipaux Ubrairee 1834. / et II Partie. — 
XLIV. 948 und 133 S. in gr. 8. 

Die Bibliothek zu Genf, deren Schätze in diesem Werke zu 
allgemeiner Kenntnifs gebracht werden, fallt ihrer ersten Anlage 
nach in die Mitte des sechszehnten Jahrhunderts, und sie hat seit 
dieser Zeit, theils durch den Patriotismus einzelner Burger Genfs, 
theils durch die Einsicht der leitenden Behörden , auf eine Weise 
zugenommen , dafs sie fuglich den ansehnlicheren Bibliotheken 
der Schweiz und Deutschlands, mehr noch durch die gute Aus* 
wähl und den innern Gehalt der darin enthaltenen Werke , alt 
durch die Zahl der Bände zugezählt werden kann. Was uns in 
dieser Beziehung über die Entstehung der Bibliothek, ihre all- 
raähligen Erweiterungen im Laufe der Zeit, ihre Schicksale bis 
zu dem dermaligen Bestand in der Preface von dem Herausgeber 
Hrn. Vaucher berichtet wird , dürfte wohl geeignet seyn , auch 
ausserhalb der Stadt und der Anstalt, deren Geschichte berich- 
tet' wird , Aufmerksamkeit und Beachtung zu verdienen, zumal 
da Herr Vaucher nicht unterlassen hat , auch über den gegenwär- 
tigen Stand der Anstalt, über die Administration derselben und 
Alles, was dahin einschlägt, genauere Nachrichten mitzutheileo , 
an welche sich zugleich einige weitere Vorschläge über den Ge- 
brauch und die Benutzung der Bibliothek von Seiten des Publi- 
kums knüpfen, um so in jeder Hinsicht ein vollständiges und ge- 
treues Bild der ganzen Anstalt vorzulegen. Wir freuen uns, 
aus dieser Schilderung zu erfahren , wie ausser den zahlreichen 
Geschenken, die von Einzelnen der Bibliothek zugekommen sind 
und deren dankbares Andenken die Vorrede erneuert, insbeson- 
dere die beaufsichtigenden Behörden stets ein sorgsames Augen- 
merk auf die Pilege und auf das Gedeihen dieser Anstalt gerich- 
tet, und namentlich auf die zweckmäfsige Verwendung der zum. 
Ankauf der Bücher bestimmten Fonds so sehr gesehen haben; 
was wir mit Dank und Achtung anerkennen müssen. Man gieng 
und geht auch dort von dem für solche Bibliotheken gewifs al- 
lein richtigen Grundsatz aus, nicht sowohl auf gewisse Raritäten 
alter Drucke und Editionen, die sonst ganz gehaltlos sind, bei 
den Anschaffungen sein Augenmerk zu richten, und gewissen 
Liebhabereien zu folgen , wie sie bei manchen Vorstehern von 
Bibliotheken angetroffen werden, sondern vielmehr, nach Mafs- 

fabe der vorhandenen Mittel , möglichst nützliche und brauch- 
are Werke, die somit durch ihren Inhalt auch einen Werth und 
Gehalt bekommen, anzuschaffen ; ein Grundsatz, dem Ref., nament- 
lich in Absicht auf Universitätsbibliotheken oder auf andere, min- 
der umfangreiche und minder reich dotirto, der öffentlichen Be- 
nutzung übergebene Bibliotheken, mit ganzer Seele ergeben ist. 



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LÜerürgetchichU. 107 

Daft ea übrigen» der Genfer Bibliothek auch nicht an solchen 
literarischen Seltenheiten fehlt, die übrigens wohl meist durch 
Schenkung ihr zugefallen sind, kann eine nähere Einsicht in das 
Verzeichnis dieses Bucherschatzes , wie es uns hier durch die 
Bemühungen des Herrn Vaucher vorgelegt ist, bald lehren. Wir 
linden darin manche merkwürdige Incunabel , manche seltene 
Editio prineeps; so z. B. den Augustinus De civitate dei von 
1468, den Apulejus von 1469, den Suetonius von 1470, ei- 
nen Lactantius aus demselben Jahre, Cicero's Ofticien von 
den Jahren 1 j 6 3 und 1466, die Aid in er Ausgabe der Grie- 
chischen II h et o res von i5o8 (ir Bd.), die selbst unserm 
Freunde Walz in der sorgfältigen Aufzeichnung der wenigen von 
dieser Ausgabe in den verschiedenen Bibliotheken Europas noch 
vorhandenen Exemplare unbekannt geblieben zu seyn scheint, und 
Anderes der Art. 

Die Gesaromtzahl der Bände wird auf 3iooo angegeben; vor 
etwas mehr als einem Jahrhundert, um 1702, belief sie sich 
auf 35o3, wovon 1485 in Folio, 719 in 4to und 1299 in Octav. 
Eine spätere Zählung vom Jahr 1717 erwies die Summe von 6374 
Bänden. Der bedeutende Zuwachs seit dieser Zeit hat in ver- 
schiedenen Ursachen seinen Grund, die aus dem, was über die 
Geschichte und Verwaltung der Bibliothek in der Vorrede be- 
merkt wird , leicht ersehen -werden können. Daher ist es denn 
auch die Literatur des achtzehnten Jahrhunderts oder vielmehr 
eine gute Auswahl des Besseren aus derselben , welche in dieser 
Bibliothek insbesondere zu suchen ist. 

Was nun den Catalog selbst betrifft, zu dessen Bekannt- 
machung durch den Druck die nSthigen Fonds aus Staatsmitteln 
bewilligt wurden, so kennt Jeder, der nur einigermafsen an einer 
Bibliothek gearbeitet und sich mit den dahin einschlägigen Ge- 
schäften bekannt gemacht hat, die grofsen Schwierigkeiten eines 
solchen Unternehmens , 1 die unsägliche , oft wenig oder nur mit 
Undank belohnte Muhe, welche mit der Ausführung eines solchen 
Unternehmens zumal dann unzertrennlich verbunden ist, wenn 
nicht schon eine bestimmte Anlage eines Catalogs exisliit , der 
nur fortgesetzt, und nicht erst ganz neu geschaffen zu werden 
braucht; um so mehr wird man dem Herausgeber dieses Catalogs 
zu besonderem Dank sich verpflichtet fühlen , da er diesem so 
schwierigen und muhevollen Geschäfte sich auf eine, seine Muhe 
zwar unendlich vermehrende, aber auch den Gebrauch und die 
Benutzung des Catalogs für das Publikum unendlich erleichternde 
Weise, mittelst einer streng systematischen Anordnung des ge- 
dämmten Buberschatzes nach den einzelnen Fächern , unterzogen 
hat; während die Anordnung eines freilich blos zum Nachschlagen 
dienenden Nominalcatalogs , der nichts, als das alphabetisch geord- 
nete Verzeichnifs aller Bucher , ohne Rücksicht auf den Inhalt , 
also ohne alle systematische Ordnung enthält, weit leichter gewesen, 
aber auch bei weitem nicht die Vortheile für das Publikum gehabt 
hätte , welche aus einem solchen systematisch nach den einzelnen 

* 

» » 



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190 



Literärgeschicht©. 



Fächern streng wissenschaftlich geordneten Verzeichnisse, oder 
einem Realcataloge , jetzt hervorgehen. Zu diesem Zwecke wur- 
den zuerst alle einzelne Büchertitel auf besondere Zettel geschrie- 
ben , diese dann nach den einzelnen Wissenschaften möglichst 
systematisch geordnet, und so überhaupt die Ausführung des Gan- 
zen und sein Erscheinen durch den Druck möglichst beschleunigt. 
Dankbar nennt der Verfasser bei diesem mühevollen Geschäft 
die Unterstützung und Hülfe, die ihm von Seiten mehrerer der 
namhaftesten Gelehrten Genfs zugekommen ist und es ihm mög- 
lich machte, schneller das ganze Geschäft zu beendigen. Die 
Ordnung des Catalogs ist daher die streng wissenschaftliche, in- 
dem die Bücher nach den einzelnen Wissenschaften, in welche 
sie einschlagen , zusammengestellt und geordnet aufgeführt wer- 
den : woraus denn zugleich ersichtlich ist , was von literarischen 
Hülfsmitteln die Bibliothek in jedem einzelnen Zweige der Wis- 
senschaft aufzuweisen hat : somit z. B. bald und leicht zu sehen 
ist, wie reich das Fach der Geschichte, namentlich der franzo- 
sischen, ausgestaltet ist, oder was von Bedeutung einzelne Zweige 
der Theologie, z. B. die Patristik, enthalten. 

Da die einzelnen Unterabtheilungen hier überaus zahlreich 
sind, was gewifs für den, der den Catafog braucht oder auch nur 
ansieht, nm zu wissen, was in jedem einzelnen Fache und über 
jeden einzelnen Gegenstand vorhanden ist, sehr bequem ist und 
manche Vortheile darbietet; so entsteht aber auch wiederum an- 
dererseits die Frage, ob nicht durch Vermeidung dieser zahlrei- 
chen Abtbeilungen und Unterabtheilungen und der dadurch her- 
beigeführten grofseren Zersplitterung der Herr Verf. sich seine 
schwierige Arbeit und sein mühevolles Geschäft selbst hätte er- 
leichtern können, ohne damit dem wissenschaftlichen Princip und 
der streng systematischen Anordnung und Abtheilung des Ganzen 
Abbruch zu thun: insofern er nemlich Manches zusammengestellt, 
und unter allgemeinere Rubriken gebracht, was jetzt allzu sehr 
von einander getrennt und an zu verschiedenen Orten aufgeführt 
erscheint. So, um ein Beispiel anzuführen, scheint uns die grie- 
chische und romische Literatur, d. h. die alten Classiker sammt 
der ganzen darauf bezüglichen Literatur, doch unter zu viele 
Fächer zerstückelt, dadurch dafs jeder Autor bei dem Fache 
und bei der Wissenschaft angeführt ist, der er seinem Inhalte 
nach angehört, so dafs wir nun die alten Autoren unter der Ge- 
schichte , der griechischen wie der romischen , der allgemeinen 
wie der besondern, unter der Mythologie (bei der Theologie) , 
unter der Kriegswissenschaft u. s. w. zu suchen haben , Wahrend 
dann wieder ein eigener Abschnitt Literalure Grecque und Litcra- 
iurc Romaine nur die Rhetoren und Redner, andere Prosaiker 
(Autres Prosateurs), Dichter und Polygraphen, als Unterab- 
theilungen enthält, und unter der alten Philosophie die Werke 
des* Piato und Aristoteles vorkommen; Einzelnes von Plato steht 
unter der Politik oder unter den Moralisten, wo auch Cicero's 
philosophische Schriften stehen; die rhetorischen Schriften des 



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UUrärgetchithte. 



201 



Aristoteles unter der Rhetorik u. s. f. Dafs das, was man Anti- 
quitäten nennt, sowie die eigentliche Literar- und Culturgescbichte 
u. a. ebenfalls abgesondert ist, wird wohl weniger befremden, 
als die eben erwähnten Trennungen, die wohl Manchem allzu 
zahlreich und dadurch selbst der Übersicht des Ganzen nachthei- 
lig erscheinen durften, wenn auch gleich in der consequenten 
Durchfuhrung des wissenschaftlichen Princips vielleicht zu recht- 
fertigen oder zu entschuldigen. Es würde Undankbarkeit ver- 
rathen, an vorliegendem Catalog eben das tadeln zu wollen, was 
nur aus dem Bestreben einer möglichst consequenten Durchfüh- 
rung des wissenschaftlichen Princips hervorgegangen, die an und 
für sich schon genug muhe volle Arbeit noch vermehrt hat, da 
auf Erleichterung der beschwerlichen Muhe bei solchen Arbeiten 
KU denken, eine gewifs eben so billige als erlaubte Rücksicht ist, 
und Ref. würde schon aus diesem Grunde , zur Vermeidung der 
grÖfseren Zersplitterung und Trennung, einen andern Weg ein- 
schlagen, weil jenes Princip in der consequenten Durchführung 
manchen Schwierigkeiten unterworfen bleibt, zu den bemerkten 
unvermeidlichen Nachtheilen führt , und leicht Verwirrung erre- 
gen oder durch vergebliches Suchen die Benutzung erschweren 
kann; obwohl diesem Übelstande in vorliegendem Catalog wieder 
dadurch abgeholfen ist, dafs am Schlufs noch zwei genaue Regi- 
ster beigelugt sind , eine Table alphabetinue des noms d auteurs 
und eine Table des anonymes, durch welche man im Stande ist, 
Alles mit Leichtigkeit und auf der Stelle zu finden; so wie im 
ersten Bande nach der Preface eine Table raethodique, d. i. eine 
sehr genaue und detaillirtc Inhaltsübersicht des Ganzen , mithin 
jedem Bedürfnifs vollkommen entsprochen und jede Beschwerde 
beseitigt ist. 

Ref. kann seinen Bericht nicht anders, als mit der wieder- 
holten , dankbaren Anerkennung der verdienstlichen Leistungen 
und der einsichtsvollen Leitung, welche dieses schwierige Unter- 
nehmen auszuführen und zu vollenden wufste, beschliefsen ; möge 
das Publikum, das diesen Catalog sowie die darin verzeichneten, 
ihm zur Benutzung gebotenen Schätze benutzt, die gleiche, ge- 
rechte Anerkennung dem Verf. zu Theil werden lassen und so 
der Zweck" des ganzen Unternehmens erreicht werden, den wir 
mit den eigenen Worten des Verfassers am Schlüsse unserer An- 
zeige beifügen wollen: » Ce Catalogue, schreibt derselbe p. XXV, 
roe parait destine ä faire appröcier, comme eile le merite, cette 
Bibliotheque, ä l'etablissement et au developpcment de laquelle 
nos ancOt res ont mis un si grand interet , et par consequent a 
soutenir , a ranimer meme cet interet dans le public de nos jours 
et dans le cot ps dont depend la veritable prosperite de cette pre- 
cieuse collection; 41 servira a montrer les ressources qu elle prä- 
sente a tous ceux qui veulcnt faire des recherches approfondies 
et consciencieuses , recourir aux sources et y puiser des connais- 
sances exaetes et solides, et non t>as ces notions superfizielles 
qu on ne regoit qua de seconde ou de troisieroe main lorsaue I on 



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201) Literärgeschichte. 

■ 

se contente d'ctudier la plupart des ouvrages modernes; il sera 
naitre chez tous ceux qui s'oecupent, com nie maitres ou comme 
clcves, des lettres, des arts ou des sciences, la pensee et le de- 
sir de faire usage du precieux depot qui leur est ouvert et leur 
epargnera de longues recherches ou des courses inutiles ; il pre- 
sentera etc. etc. 



Encyclopidie de» gen» du monde. Tome »eptieme. Premiere et »eeonde Par- 
tie. Pari», Treuttel et IVürtz, Rue de Lille, n. 17. Strasbourg 
mrme mai»on , Grand-Hue pr. 15. 1836. 800 & in gr. 8. 

Indem wir die Erscheinung eines neuen , aus zwei Theilen 
bestehenden Bandes dieser Encyclopädie anzeigen, können wir 
ans wiederholt auf die mehrfach in diesen Blättern und zuletzt 
noch (i836) p. 52 i sq. gegebenen Berichte beziehen, und hier 
nur die Bemerkung wiederholen, dafs die Ausfuhrung, in raschem 
Gange fortschreitend , geleitet durch einen eben so kenntnisreichen 
als einsichtsvollen Redacteur (Hrn. Schnitzler), der sich der Un- 
terstützung der nahmhaftesten Gelehrten Frankreichs, die wir in 
unsern früheren Anzeigen grofsentheils nahmhaft gemacht haben, 
erfreut, sich auch in diesem Bande den früheren durchaus gleich 
geblieben ist ; die aus dem deutschen Werke entnommenen Arti- 
kel verschwinden immer mehr und die eigenthümlichen Vorzuge 
des französischen Werkes, das wir durchaus als ein selbständiges 
nun betrachten müssen, treten immer mehr hervor. Wir hönn- 
tan in dieser Beziehung auch hier wieder eine Menge Artikel aus 
dem Gebiet der Geographie und Geschichte, der Biographie und 
Literärbistorie u. s. w. hervorheben , um daraus die Zweckmäßig- 
keit und Brauchbarkeit des Werks für die Bestimmung, die ihm 
gegeben ist, und für die Zwecke, die durch es erreicht werden 
sollen, nachzuweisen, wenn anders dies nach dem mehrfach Ge- 
sagten noch nothwendig scheinen konnte. So könnten wir z. B. 
im ersten Theile nur auf den umfassenden und wichtigen Artikel 
Croisades aufmerksam machen, dessen Bearbeitung Herr Geh. Rath 
Schlosser sich unterzogen hat; so wird man z. B. unter den bio- 
graphischen Artikeln nicht ohne Interesse die Artikel Courier, 
Dagucsseau, Dante d'Alighieri und zahlreiche andere der Art lesen. 
Ref. bemerkt nur noch am Schlüsse, däfs dieser Band in seinen 
beiden Abtheilungen von Cormenin bis Deport reicht. 



Vollständiges Wörterbuch der Mythologie alter Nationen. Eine ge- 
drängte Zusammenstellung de» IVis&enswürdigsten au» der Fabel- und 
Götterlehre aller Völker der alten und neuen Weit. Von Dr. /*'. Voll- 
mer. In Einem Hände mit einem englischen Stahlstich und 129 Tafeln. 
Stuttgart, Hoffmannsche Verlagsbuchhandlung 1836. 1558 & ingr.S. 

Einige der früheren Lieferungen dieses umfassenden mytho- 
logischen Wörterbuchs sind in diesen Jahrbuchern (i835. p. 1176 f. 



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Lille ra r«^c»t ntcn ti . 



201 



1826 p. io38) angezeigt und dabei auch Plan, Anlage und Be- 
stimmung des Ganzen besprochen worden. Indem wir nun mit 
dem Erscheinen der noch rückständigen Lieferungen und eines 
den Subscribenten unentgeldlich gelieferten Sehl ufsban des, dem 
zugleich eine- Reihe der bildlichen Darstellungen von Tafel XL1V 
bis CXXVIII beigefugt sind, die Vollendung des Ganzen anzei- 
gen, bemerken wir wiederholt, was auch in einer Nachschrift des 
Werkes selbst erinnert wird und was wir bereits in der frühe- 
ren Anzeige bemerkt haben, dafs der Verf. kein gelehrtes Werk 
liefern wollte, »kein Hilfswerk für den Antiquar, für den Ar- 
chaolo^en, für den Philologen«, sondern ein Werk, das dem 
Laien in diesen Wissenschaften zum Nachschlagen dienen und ihn 
mit dem bekannt machen soll , was die besten Quellen über jeden 
Gegenstand sagen, und zwar in einer einfachen und gedrängten 
ten Zusammenstellung. Das Buch ist demnach überhaupt für ge- 
bildete Leser bestimmt , die es zum Nachschlagen gebrauchen sol- 
len, um über jeden vorkommenden. Mythus , über jeden mytholo- 
gischen Namen, der ihnen aufstofst, er scy aus der alten classi- 
schen Zeit der Griechen und Römer, oder aus der Religion der 
nordischen und sla vischen Stämme sowie der Volker Asiens, der 
Inder, Chinesen, Japanesen u. s. w. oder auch der Bewohner der 
neuen Welt, vor der Entdeckung Amerika's, entnommen, be- 
friedigende Auskunft zu erhalten , wobei das Streben nach mög- 
lichster Vollständigkeit berücksichtigt wurde, und alle gelehrte 
Nachweisungen und Erörterungen, Citate u. dgl. wegfielen, eben 
sowohl um Raum zu gewinnen, als um dem Buche keinen zu 
gelehrten Anstrich zu geben und das gebildete Publikum , für das 
es bestimmt ist, abzuschrecken. Papier und Druck, wie über- 
haupt die äussere Ausstattung sind sehr befriedigend ausgefallen; 
insbesondere aber verdienen die sehr gut in Zeichnung wie im 
Druck ausgeführten bildlichen Darstellungen, welche in den oben 
bezeichneten Tafeln über die gesammte Mythologie sich verbrei* 
ten und eben so gut griechische Göttergestalten , als indische 
(z. B. die Incarnationen des Wischnu), chinesische, japanesische, 
mexikanische, deutsche und slavische Götterbilder liefern, eine 
dankbare Anerkennung. 



Die Sanchuniuthonische Streitfrage , nach ungedruckten Briefen gewürdigt 
von Dr. C. L. Grotefend. Hannover 1836. In der Hahn'echen Hof- 
buckhandlung, 28 5. in gr. 8. 

Nachdem in Nr. 5o und 5i dieser Jahrbb. die hier in Frage 
stehende Schrift ausführlich beortheilt worden, so sehen wir uns 
veranlafst , aoeh das vorliegende Büchlein zur Henntnifs unserer 
Leser zu bringen, mit dem Bemerken, dafs nach den darin ent- 
haltenen Mitthailungen, zumal wenn wir damit einige andere, in 
öffentlichen Blättern befindliche, Nachrichten verbinden, es wohl 
kaum einem Zweifel unterliegen kann, dafs die angebliche Ur- 



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2C2 Literürceichichtc. 

Geschichte der Phönizier von Sancbuniathon , womit uns Herr 
YVagenfeld überrascht hat, keineswegs als ein YVerk oder als ein 
Auszug aus dem Werke des phonicischen Weisen , sondern viel* 
mehr als ein Product der neuesten Zeit, und zwar des genannten 
Gelehrten , zu betrachten ist* Dem Herausgeber . dieser Docu- 
menta, Hrn. Dr. Grotefend, aber hat das Publikum alle Ursache 
zu danken, weil durch die Bekanntmachung derselben nun erst 
die ganze Sache klar geworden ist und das ganze Unternehmen 
in seinem wahren Uchte erscheint. 



Das Blumenblatt, eine epische Dichtung der Chinesen, aus dem Origi- 
nal übersetzt von Dr. Heinrich Kurz, Professor an der Kantons- 
schule zu St. Gallen, Mitglied der asiatischen Gesellschaft in Paria. 
— Nebst einleitenden Bemerkungen über die chinesische Poesie und einer 
chinesischen Novelle als Mang. St Gallen, Druck und Verlag von 
Hertmann u Scheitlin, 1836. XXI r und 180. 44 & 

Der gerechte Beifall, der in der neuesten Zeit Mehrerem 
von dem zu Theil geworden ist, das uns in passender Form, in 
gebundener wie in ungebundener Rede, aus der chinesischen Li- 
teratur mitgetheilt worden ist, konnte schon hinreichend den 
Herausgeber rechtfertigen , mit einer deutschen Bearbeitung einer 
epischen Dichtung hervorzutreten , die sich in China zu jeder Zeit 
eines ausgezeichneten Rufes erfreut hat, um damit zugleich einen 
Beitrag zu einer richtigeren und besseren Würdigung einer Lite- 
ratur zu liefern, über die, eben aus Unkunde , die verschieden- 
sten, meistenteils ganz irrigen Ansichten und Urtheile, obwohl 
oft mit der grüfsesten Bestimmtheit ausgesprochen worden sind, 
zumal da der Kreis Derjenigen , welche zu der Quelle selbst zu- 
rückgehen können und die Sprache dieses Landes verstehen, noch 
immer sehr gering ist Aber auch abgesehen von dem Interesse, 
das die Wissenschaft, die Literatur an einer solchen Erscheinung 
nimmt oder vielmehr nehmen mufs, werden selbst Diejenigen, die 
blos eine angenehme Unterhaltung durch Leetüre suchen, sich in 
dieser Dichtung, die bei allem Eigenthümlichen, was die Erschei- 
nung des chinesischen Lebens für uns darbietet, doch mehr Be- 
rührung- und Anziehungspunkte hat, als man auf den ersten 
Anblick glauben sollte, und die eben deshalb uns weit näher liegt, 
als so manche wunderliche Dichtungen anderer Nationen, weit 
eher befriedigt finden, als in dem elenden, schamlosen Roraan- 
und Novellengeschmier, mit welchem jetzt unsere Literatur über- 
schwemmt und besudelt wird , wenn anders in ihnen ein besserer 
Sinn und Geschmack noch nicht völlig erloschen ist« 

Ref. hatte bereits diese Worte niedergeschrieben, als ihm 
Eckermanns Gespräche mit Göthe in die Hände fielen ; er kann 
sich nicht enthalten, folgende Stelle daraus hier beizufügen: »In 
diesen Tagen (sagte Göthe) habe ich Vieles und mancherlei ge- 
lesen, besonders auch einen chinesischen Roman, der mich 



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Literärgeachicnte. 20* 

noch beschäftigt und der mir in hohem Grade merkwürdig er- 
scheint« Chinesischen Roman? sagte ich (Eckermann), der mu(s 
wohl sehr fremdartig aussehen. »Nicht so sehr, als man glauben 
sollte , sagte Gut he. Die Menschen denken , handeln und empfin- 
den fast eben so wie wir und man fühlt sich sehr bald als ihres 
Gleichen, nur dafs bei ihnen Alles klarer, reinlicher und sittlicher 
zugeht Es ist bei ihnen Alles verständig, bürgerlich, ohne 
grofse, Leidenschaft und poetischen Schwung, und hat dadurch 
viele Ähnlichkeit mit meinem Hermann und Dorothea, sowie mit 
den englischen Romanen des Ricbardson. Es unterscheidet sich 
aber wieder dadurch, dafs bei ihnen die äussere Natur neben deu 
menschlichen Figuren immer mitiebt. Die Goldfische in den Tei- 
chen hört man immer plätschern, die Vogel auf den Zweigen 
singen immerfort, der Tag ist immer heiter und sonnig, die Nacht 
immer klar; vom Mond ist viel die Rede, allein er verändert die 
Landschaft nicht, sein Schein ist so helle gedacht, wie der Tag 
selber. Und das Innere der Häuser so nett und zierlich, wie ihre 
Bilder — Und nun eine Unzahl von Legenden, die immer in der 
Erzählung nebenher gehen und gleichsam sprüchwörtlich ange- 
wendet werden — Und so unzählige von Legenden , die alle auf 
das Sittliche und Schickliche gehen. Aber eben durch diese 
strenge Mäfsigung in Allem hat sich denn auch das chinesische 
Reich seit Jahrtausenden erhalten und wird dadurch ferner be- 
stehen.« (S. Band 1. 8. 3aa ff.) 

Indessen auch für den, der von einem andern, dem wissen- 
schaftlichen, Standpunkte aus die Erscheinungen der chinesischen 
Literatur und des chinesischen Lebens kennen lernen und wür- 
digen will, ohne der Sprache selbst kundig zu seyn , wird es 
weiter keiner besonderen Aufforderung in Absicht auf das vor- 
liegende Buch bedürfen, um so mehr, als der Herausgeber seiner 
Bearbeitung eine Reibe von einleitenden Bemerkungen über die 
chinesische Poesie vorausgeschickt hat, geeignet, irrige und fal- 
sche Urtheile über chinesische Literatur und chinesisches Volk 
und Land, nie sie z. B. noch in Rottecks viel verbreiteter Welt- 
geschichte auf eine so auffallende , nur aus Unkunde zu erklärende 
Weise hervortreten, zu beseitigen und eine richtige Ansicht dar- 
über zu verschaffen. Wir erlauben uns eben deshalb einige Punkte 
aus diesen einleitenden Bemerkungen hier mitzutheilen , die von 
besonderer Wichtigkeit und Bedeutung zugleich zu weiterem 
Studium Veranlassung geben mögen. 

8. VH. »Wie das ganze Leben in China, so zerfällt auch 
der Ausdruck desselben, die Poesie, in zwei scharf von einander 
getrennte Perioden, welche durch das Auftreten Hhungtse's 
bedingt werden. Diesem grofsen Manne (welchen die Europäer 
ganz irrig Confucius nennen) gelang es, dem chinesischen 
Volke eine dem Alterthum beinahe ganz entgegengesetzte Rich- 
tung zu geben, unter dem Scheine, dasselbe in seiner ursprüng- 
lichen Reinheit wieder herzustellen. Vor Hhungtse waren in 
China alle poetischen Elemente vorhanden , die bei einem Volke, 



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t 



*04 Literärgeschichte. 

das eine uralte Geschichte und zugleich eine reichhaltige Sagen- 
welt besitzt, sich nur vorfinden können. Ihm und seiner bewun- 
dernswürdigen Consequenz in Lehre und That gelang es , den 
poetischen Genius seines Volbes , wenn nicht auszurotten , doch, 
in hohem Grade zu unterdrücken. Das chinesische Reich war zu 
seinen Zeiten und vor ihm eine Feudalmonarchie, der deutschen 
nicht unähnlich ; man kann einen gewissen ritterlichen Geist in 
den damaligen Fürsten und Herren nicht verkennen ; das Volk 
bekannte sich zu einer schon in sehr frühen Zeiten aus dem Stern- 
dienste entstandenen Religion und besafs daher auch alle mit Re- 
ligion noth wendig verbundenen poetischen Elemente, u. s. w.« 

»Ganz anders gestaltete sich das Leben in China, als Khuogtse 
auftrat und seine Moralphilosophie sich Eingang zu verschaffen 
wufste. Die Feudalmonarchie sank immer mehr und noch vor 
Christi Geburt wurden die alten zahlreichen Fürstentümer und 
Herrschaften in ein einziges grofses Reich zusammengeschmolzen. 
Die alte Religion wurde abgeschafft , und an ihre Stelle trat der 
leere, prosaische Gedanke; es wurde der Mensch von dem sehn- 
süchtigen HofTen auf ein besseres Jenseits abgezogen , wogegen 
er als Ersatz das schale Treiben des pedantischen Philisterlebens 
erhielt. Der Staat wurde durch ihn die Alles in Bewegung se- 
tzende Triebfeder; der Beamte und der in den administrativen 
Functionen ist Alles; der Enkel eines alten edlen Hauses ebenso i 
sehr als der Gelehrte und Schongeist ist als solcher mehr ver- 
achtet als geehrt und vorgezogen. Staatsver waltun gskunst 
ist der einzige, aber auch unfehlbare Weg zu Ehrenstellen und 
zum Reichthum, und nur einem um den Staat verdienten Manne 
wird die Achtung und die Ehrfurcht der Mit- wie der Nachwelt 
zu Theil. Es ist, mit einem Worte, das ganze Leben so pro- 
saisch, so einförmig; es ist zu einer so ängstlichen und geistlosen 
Nachbeterei des falsch verstandenen Lebens im hohen Alterthum 
geworden ; alle poetischen Elemente sind mit so vieler Einsicht 
unterdrückt, dafs es ein seltenes Glück ist, wenn ein poetisches 
Genie, deren es in China ebensogut giebt, als irgendwo sonst in 
der Welt, zu seiner eigenen Erkenntnifs gelangt.« 

Eben deshalb dringt der Herr Verf., und gewifs mit vollem 
Rechte, auf sorgfältige Unterscheidung der poetischen Erzeugnisse 
vor dem Auftreten des Khungtse oder Confucius und den Poesien 
der neueren Zeit, nachdem dieser grofse chinesische Reformator 
die Reste der älteren Poesie, wie sie in Schrift und Mund des 
Volkes sich erhalten, in eine Sammlung vereint, deren jetzige 
Gestalt allerdings von ihm herrührt, und die eigentlich nur eine 
Auswahl aus jenen älteren Liedern, eine Art von Bluraenlese ist, 
die äusserst mannigfach, über die verschiedensten Verhältnisse des 
öffentlichen wie des Privatlebens sich verbreitet, und darum für 
die Kenntnifs des chinesischen Lebens von besonderer Wichtigkeit 
ist Dieses chinesische Liederbuch, Schiking genannt, das frei- 
lich von den dreitausend Liedern , die der Reformator zusammen- 
brachte, nur wenig mehr als dreihundert enthält, — die übrigen 



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Literärgeschichte. 



soll derselbe vernichtet haben — ist uns bekanntlich seit Kurzem 
durch Rückerts geschmackvolle Bearbeitung näher bekannt ge- 
worden. Nun wendet sich der Verf.. nachdem er die einzelnen 
Theile dieser Sammlung durchgangen , zu der neueren chinesischen 
Poesie und Literatur (nach Confucius), die obwohl durch die 
äusseren Verhaltnisse vielfach eingeengt und gehemmt, doch im- 
merhin noch manches Beachtungswerthe , ja zum Theil sogar Aus- 

Sezeichnete geliefert hat. Besonders reich ist die Romanen- und 
lovellenlileratur, wovon auch die am Schlüsse des Bandes bei- 
gefügte Novelle: »Der weibliche und der männliche Bru- 
der« S. 181 fi. einen Beweis giebt; auch die dramatische Litera- 
tur ist nicht arm zu nennen ; weniger ist vom Epos anzuführen , 
das überhaupt mehr den Charakter erzählender Gedichte ange- 
nommen , wie dies wohl aus der Beschaffenheit der äusseren 
Verhältnisse und der ganzen Entwicklung des chinesischen Le- 
bens sich hinreichend erklären läfst. Mit einer dieser epischen 
Dichtungen, die in China eines besonderen Ansehens und grofsen 
Rufes sich erfreut , hat der Verf. in vorliegender deutschen Be- 
arbeitung uns bekannt gemacht. Diese Bearbeitung , zu welcher 
der Verf. durch seinen verstorbenen Lehrer Abel Remusat zu Pa- 
ris veranlafst ward, die auch unter dessen Leitung begonnen , 
später unterbrochen und jetzt erst wieder aufgenommen und voll- 
endet wurde , giebt uns jene Dichtung getreu wieder , nicht in 
Versen, sondern in nngebundener Rede. »Das Gedicht hätte frei- 
lich gewonnen, sagt der Vf. am Schluß der Vorrede, wenn es, 
statt in Prosa, in Versen wiedergegeben worden «äre; aber zu 
einer guten, metrischen Übertragung, welche die Eigentümlich- 
keit und den Charakter des Originals zu bewahren und mit einer 
ungezwungenen Darstellung zu verbinden weifs, gehurt ein Ta- 
lent, das neben Rückert nur noch wenige Auserwählte besitzen.« 
Freiere poetische Bearbeitungen, in einem deutseben, frei ge- 
wählten Metrum — wozu doch ein Übersetzer am Ende geno- 
thigt ist, wenn er eine poetische Übertragung liefern will, bei 
der Unmöglichkeit das ursprüngliche Metrum beizubehalten, ohne 
in weit grofsere Schwierigkeiten sich zu stürzen und eine gänz- 
lich unverständliche und\ unlesbare Ubersetzung zu liefern, ver- 
wischen gar zu leicht Ton und Farbe des Originals, das doch 
in der Nachbildung, in der Copie , immer erkannt werden soll, 
erschweren dadurch oft die gerechte Würdigung des Werkes , 
dessen Charakter sich nicht mehr in der Nachbildung erkennen 
läfst. Dieser Übelstand wird durch eine getreue prosaische Über- 
tragung vermieden, zumal wenn sie möglichst treu an die Ur- 
schrift sich hält und doch zugleich sorgfältig alle Härten vermei- 
dend , in einem angenehmen und gefälligen Flufs der Rede sich 
bewegt, wie man dies bei vorliegender Uebersetzung dankbar an- 
erkennen in ois. Am Schlüsse derselben S. 168 fl. sind eine An- 
zahl Noten beigefügt, in denen der Vf. alle in dieser Dichtung, 
dessen Abfassung unter die Dynastie der Ming 1367 — 1643 fällt, 
vorkommenden , einer Erklärung zum richtigen Verständnifs des 



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r !tniin*naki<li(«liiii 

liiierdr^CHCUicfiic. 



Ganzen bedürftigen Gegenstände, namentlich solche, welche sich 
auf Eigentümlichkeiten des chinesischen Lebens, oder auf die 
diesem Lande eigenthümliche Bildersprache u. dgl. m. beziehen, 
aufs genaueste erörtert bat. 

Wir zweifeln daher nicht, dafs diese Arbeit mit Beifall werde 
aufgenommen werden, der Vf. aber dadurch sich bewogen finden 
möge, die Übersetzung des Sisiangkhi, eines der geschätzte- 
sten chinesischen Romane , dialogischer Art und aus zwanzig 
Abtheilungen bestehend, an der er seit längerer Zeit arbeitet, zu 
Tolleoden und recht bald nachfolgen zu lassen. 



Die deutsche Philologie im Grundrifs. Ein Leitfaden zu Vorlesun- 
gen von Dr. Heinrich Hof f mann, Professor der deutschen Sprache 
und Literatur an der Universität zu Breslau. Breslau , bei Georg PAi- 
lipp Aderholz. 1836. XXXII und 239 Ä. in gr. 8. (Mit dem Motto 
aus Otfrtd ; Nu freuuen aih ea alle ao uuer so uuola uuolle loh ao 
uuer ai hold io ruuate Francono thiote.) 

Es ist diese Schrift, um des Verfs. eigne Worte zu gebrau- 
chen, ein bibliographischer Umrifs der deutschen Phi- 
lologie, bestimmt, den ganzen Stoff, die 1 Hilfsmittel und die 

Suellen dieser Wissenschaft , wie sie sich jetzt systematisch ge- 
altet, in der genauen Angabe aller darauf bezuglichen und dar- 
über erschienenen Werbe zu verzeichnen , um uns auf diese Weise 
ebensowohl das in dieser Wissenschaft bereits Geleistete als noch 
zu Leistende d. h. die Lucken näher kennen lernen und hervor- 
treten zu lassen. Urt heile über den Werth oder Unwerth der 
einzelnen Schriften, oder Andeutungen über den Inhalt und die 
Tendenz derselben (so weit sie nemlich nicht aus dem Titel ersicht- 
lich sind), beizufügen, lag ausser dem Plane und der Absicht des 
Vis., der dies dem mundlichen Vortrage uberlassen will. Ebenso 
gchlofs derselbe nach S. VII die Ausgaben einzelner deutscher 
Schriftsteller der älteren wie der neueren Zeit und deren Bio- 
graphien aus, weil sie ebenfalls der speciellen Literaturgeschichte 
und der Bibliographie anheimfallen. 

Demnach beginnt das Buch mit einem möglichst vollständigen 
Terzeichnifs aller derjenigen Männer, deren Bemühungen sich in 
mehr oder minder ausgedehntem Grade auf das, was man deut- 
sche Philologie im umfassenden Sinne des Worts, deutsche Spra- 
che und Literatur nennt, erstreckt haben, und zwar in einer ge- 
wissen chronologischen Ordnung von Notker, also von dem Jahre 
looo ungefähr an bis zu dem Jahre t836, äberall mit genauer 
Angabe des Geburts- und des Todesjahres, so weit nämlich eins 
oder das Andere oder auch Beides mit Bestimmtheit angegeben 
werden konnte. Auf diesen Abschnitt, der die Aufschrift fuhrt: 
»Geschiebte der deutschen Philologie«, aber nichts wei- 
ter als das angegebene Verzeichoifs mit diesen Lebens- und To- 
desnotizen enthält, folgt nun unter der Aufschrift Hulfsmittel 



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lerargescnicnie. zvi 

ein Verzeichnifs aller der im Bereiche der deutschen Literatur 
erschienenen Sammlungen gemischten Inhalts, oder, wie sich der 
Verf. ausdruckt, der Mischsammlungen literarhistorischen, 
sprachlichen, kritischen Inhalts nehst Quellenabdruck ( schliefsend 
mit Laube's modernen Charakteristiken?), worunter auch die Zeit- 
schriften und Briefe begriffen sind. Darauf folgen die Quellen- 
sammlungen, zuerst allgemeine und dann nach Zeiträumen (wor- 
unter auch die Musenalmanache und Taschenbücher) , nach den 
einzelnen Dichtungsarten, sowie auch der prosaischen Schriften; 
daran reihen sich bibliographische, bio - bibliographische , biogra- 
phische Werke und Literaturzeitungen. 

Ein zweiter Abschnitt S. ti3 ff. verzeichnet alle in die 
Geschichte der deutschen Literatur, im Allgemeinen wie im Be- 
sondern, d. h. in die einzelnen Zweige einschlagigen Schriften t 
im dritten S. ia3 ff. alle die auf die Sprache selbst und deren 
Studium bezuglichen Bücher, worunter also auch alle Gramma- 
tiken, Wörterbücher , Glossare, alle über die einzelnen Mund- 
arten und Volksdialekte geschriebenen Bucher vorkommen. Den 
BeschluCs des Ganzen machen dann die Schriften über Poetik und 
Prosodie, über Styl, und in einem vierten Abschnitt S. 216 ff. 
über Hermeneutik und Kritik. Die Preise der einzelnen Bucher, 
was vielleicht Manchem wünschenswert!) gewesen, sind nicht bei- 
gefugt, dagegen herrscht in den Angaben der Bucher selbst, neben 
der Vollständigkeit, die ruhmlichste, nur mit dem gerechtesten 
Dank anzuerkennende Sorgfalt und Genauigkeit , welche das Buch 
für den Literarhistoriker überhaupt, sowie specietl für den Freund 
der deutschen Literatur zu einem recht brauchbaren , die Schatze 
dieses Zweigs der Literatur in einer streng methodischen und 
systematischen Weise genau verzeichnenden Hulfsmittel und Hand- 
buch macht, zumal da man nicht leicht eine Schrift voo einiger 
Bedeutung anfuhren konnte, die dem Vf. entgangen wäre. Mehr 
freilich als diese möglichst genauen und wohlgeordneten Bücher« 
Verzeichnisse giebt diese deutsche Philologie nicht, indem keine 
weitere Angaben oder Erklärungen, wenn auch nur in kurzen 
Notizen , den einzelnen Buchern oder den einzelnen Abschnitten, 
nach denen sie geordnet und zusammengestellt sind, beigefügt 
werden; wohl aber enthält die ausfuhrliche Vorrede eine Reihe 
von schatzbaren, den Gang und die Behandlung*- und Eint hei- 
lungsweise, die der Verf. befolgt bat, näher erörternden Bemer- 
kungen zu den einzelnen Abschnitten und Paragraphen seines 
Wnrkes mit weiteren Andeutungen über einige spezielle Punkte 
unserer Literatur, namentlich in ihrem poetischen Theile oder in 
dem verhältnifsmäfsig grofseren Reichthum derselben an biblio- 
graphischen Werken u. dgl. oder über andere und noch sehr fühl- 
bare Lucken derselben u. s. w., wie denn diese Bemerkungen als 
eine zum Verständnifs der Schrift nothwendige, das Verfahren 
des Verfs. rechtfertigende oder näher erklärende Zugabe, somit 
als eine wahre Ergänzung zu betrachten sind. Ein PersonenregU 
ster am Schlüsse des Bandes fehlt nicht. 



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208 



LUerärgeschichte. 



Ref. glaubt durch diese getreue Darstellung Inhalt und Cha- 
rakter hinreichend bezeichnet zu haben um jeden Unbefangenen 
zu einer gerechten Würdigung dieser Schrift bei näherer Ein- 
sicht zu veranlassen. 



Grundriß der Geschieht e der deutschen Literatur. Von Dr. Johann Wil- 
helm Schäfer, ordentlichem Lehrer an der Hauptschule zu Bremen. 
Bremen, Verlag von A. D. Geißler. 1886. X u 133 & m 8. 

Ein seinem Zweck entsprechender und darum zum Gebrauch 
auf höheren Bildungsanstalten oder bei allgemeineren Vorträgen 
zu empfehlender Grundrifs , der nicht ein blofses Gerippe von 
Namen, Daten, Jahrszahlen und Buchertiteln giebt, oder einen 
blofsen Hamen , den der Lehrer erst auszufüllen hat und mit dem 
ohne diesen wenig anzufangen ist, sondern der in zusammenhän- 
gender Darstellung aus der gewaltigen Masse das, was den Stand 
der Bildung und Wissenschaft in jeder Periode am besten be- 
zeichnen und kenntlich machen kann, hervorhebt, und so mit 
den nuthigen, erklärenden, biographischen und bibliographischen 
Notizen begleitet, zu Einem in sich abgerundeten Ganzen ver- 
arbeitet. In das Einzelne einzugehen und die meist sehr gemäfsigt 
und in einem würdigen Tone ausgesprochenen Untheile (wie dies 
bei Schriften , die für die jüngere Generation bestimmt sind, im- 
mer der Fall seyn sollte), weiter zu prüfen, kann der Zweck 
dieser Anzeige und dieser Blätter nicht seyn. Was der Verf. S. 
i3i von der ästhetischen Kritik unserer Zeit schreibt, wie nem- 
lich hier allein die Oberflächlichkeit auf dem Markte der Literatur 
das Wort führe, läfst sich leider auch auf andere Zweige der 
wissenschaftlichen Kritik , wie sie unter namenlosen Artikeln jetzt 
in Deutschland in so manchen Blättern auf eine so schamlose 
Weise gefuhrt wird, anwenden. Wir schliefsen 'auch unsere An- 
zeige mit den Schlufsworten des Verfassers: »Wenn die poeti- 
sche Literatur der Gegenwart Sehnsucht nach einer schönem 
Vergangenheit erregen kann, so finden wir doch in dem wissen- 



der Nation nicht ermattet, dafs neue Keime der Bildung ausge- 
streut werden, damit neue Früchte künftigen Zeiten entgegen- 




Chr. B ä h 



r. 



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♦ 

N°. 14. 8 HEIDELBERGER i837. 
JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



1) Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den 
Alten, von G. Semper. Altona, bei J. F. Hammerith, 1834. XIV u. 
49 & 8. 

2) Über die Polyckromie der griechischen Architektur und Skulptur und 
ihre Grenzen, von Fr. Kugler. Mit einer farbigen Lithographie. 
Berlin, bei G. Gropius. 1835. 4. 75 & 

3) De veterum Graecorum pictura parietum conjecturae. Scripsit G. Her" 
mannue. Lipsiae MDCCCXXXIV. 4. 20 S. 

4) Lettree d'un antiquaire ä un artiete »ur Vemploi de la peinture histori- 
que murale dans la decoration de» temples et de» autree idifiees publice) 
ou particuliere che» lee Grece et lee Romain» ,• ouvrage pouvant eer+ir 
de »uite et de »upplcment ä tous ceux qui traitent de Vhietoire de Vart 
dan» Vantiquitd. Par M. Letronne. Pari», Heideloff et Campt 1835, 
8. XV I und 524 S. 

5) Peinture» antiquea intdite» pr&cedics de recherche» »ur Vemploi de la 
peinture dan» la decoration des idifices saeris et public», chez le» Grec$ 
et chez le» Romain»; faüant »uite aus Monument» inidits, par Af. 
Raoul-Rochette. Pw i» , imprimerie royaU , 1886. 4. XIII u. 470 & 
Mit 15 colorirten Tafeln. 

6) Die Malerei der Alten in ihrer Anwendung und Technik , insbesondere 
al» Decorationsmalerei, von R. Wieg mann. Nebst einer Vorrede von 
K. O. Müller. Hannover, bei Hahn. 1836. 8. XVIII u. 248 S. 

7) Die Malerei der Alten von ihrem Anfange bi» auf die christliche Zeit' 
rechnung; nach Pliniu» , mit Berücksichtigung Vitruv*» und anderer 
alten Oassiker, bearbeitet und erläutert. Aebst theoretischer u. prak- 
tischer Untersuchung der antiken Tafel-, Wand- und Vasenmalerei, 
der Enkaustik und ältesten Mosaik, von J. F. John. Berlin 1836 , 
bei L. Steffen. 8. XVI u. 224 S. 

Die revolutionärste Entdeckung, die auf dem friedlichen Gebiete 
der Archäologie gemacht worden ist, ist die Entdeckung der 
Polychromie in der griechischen Architektur und Sculptur. Bei 
uns Allen, die wir h. z. T. leben, gehört es so zu sagen zu den 
angebornen Ideen, dafs die antike Architektur und Sculptur sich 
mit der reinen Farbe des Marmors begnügt habe, und dafs ihre 
eigentümliche Würde und die gebietende Macht ihrer Schönheit 
eben darin bestehe , dafs sie mit Verschmäh ung alles Farbenreizes 
allein durch die Umrisse der Formen gefallen wolle. Wiockel- 
mann konnte zwar bei seiner ausgebreiteten Kenntnifs der Monu- 
XXX. Jahrg. 3. Heft. 14 



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210 

• 



Schriften übet die Wandmalerei der Alten 



mente nicht ubersehen , dafs sich bei manchen Statuen , z. B. bei 
einem Apollo im Museo Capitolino und bei der Pallas von Por- 
tici noch jetzt Spuren von Vergoldung in den Haaren zeigen, 
und dafs sich bei vielen Köpfen, sowohl von Marmor als von Erz, 
eingesetzte Augen finden *) , ja bei der Betrachtung der Diana 
aus Herculanum , an welcher das Haar, der Saum des Rockes 
ond andere Stücke der Kleidung bemalt sind **) , verbunden mit 
einer Stelle des Plato ***) , kam er wirklich auf die Idee , diese 
Bemalung für einen bei den Griechen üblichen Gebrauch anzu- 
sehen; allein die Meinung, diese Statue sey ein hetruscisches 
Werk, hielt ihn ab, dieser Idee weitere Folge zu geben f): und 
sein Commentator H. Meyer verwarnte alles Ernstes, man solle 
ja nicht glauben, dafs solche eingesetzte Augapfel ursprünglich 
an solchen Denkmahlen gewesen , im Gegentheil ergebe sich aus 
dem Augenscheine , dafs es ein meistens in späterer Zeit hinzu- 
gefugter Schmuck gewesen, von eben der Art, wie die vergol- 
deten Haare und die Ohrgehänge. In gleichem Geiste äussert 
sich auch Gothe , getreu den Lehren , die er ein halbes Jahrhun- 
dert vorher im Kreis der Weimar sehen Kunstfreunde empfangen 
und gegeben hatte, im 4ten Band seiner nachgelassenen Werke 
p. i58: »Wir sind nun unterrichtet, dafs die Metopen der ern- 
» stesten sicilischen Gebäude hie und da gefärbt waren , und dafs 
»man selbst im griechischen Alterthume einer gewissen Wirh- 
» lichkeitsforderung nachzugeben sich nicht enthalten kann. So 
»viel aber mochten wir behaupten, dafs der kostliche Stoff des 
»Pentelischen Marmors, sowie der ernste Ton eherner Statuen, 
»einer hoher und zarter gesinnten Menschheit den Anlafs gege- 
»ben, die reine Form über Alles zu schätzen, und sie dadurch^ 
»dem innern Sinne, abgesondert von allen empirischen Reizen, 
»ausschliefslich anzueignen. So mag es sich denn auch mit der 
»Architektur und dem, was sich sonst anschliefst, verhalten 
»haben.« 



*) Geach. der Kamt B. VII. c. 2 § 12 aqq. 

") R. Rochette giebt Taf. VII. eine colorirto, nach dem Original ge- 
fertigte Abbildung dieser Statue. 

**•) De rep. IV. p. 420. C. a><r*-*p oJv äv il SjfJuSv dv&pdvraQ y^d\povra^ Tgo$- 
iXBwv t/£ t\J/ry« Arfytuv, %n ov t«; xoAA/ctoi; tou {euou rd xaAA/^ra 
QdefjLUHa -r^o(rr<S<i^«v • oi yd? 6ip$aXf*ei, KaAA«rr©v ov, ©ü*k ompto tV- 
aX>ikif*pivoi ihv, dXXä fxäXa»t* tt. r. A. 

i) Gesch. der Kunst B. V II c. 4. §. 15. 



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von Semper, Kogler, Hermann, Letronne, Raoul-Rochette, etc. 811 

Zwar machte Miliin *) auf die siebtbaren Farbenreste an 
der durch Choiseol Goufßer ins Pariser Museum gebrachten Platte 
Ton dem Friese des Parthenon aufmerksam , und Dodwell **) 
machte dieselbe Beobachtung an den Sculptnren des Theseus- 
Tempels: allein diese Beobachtungen waren zu vereinzelt, und 
standen mit den über griechische Kunst herrschenden Ideen in 
so directem Widerspruch, dafs man sich eher entschließen konn- 
te, diese Färbung barbarischen Händen zuzuschreiben, als die 
Kunstler des Per i fleischen Zeitalters solcher Geschmacklosigkeit 
fähig zu glauben. Inzwischen aber brachten die vielseitigen For- 
schungen über griechische Kunst, welche im Laufe unsers Jahr- 
hunderts in Griechenland , Unteritalien und Sicilien angestellt wur- 
den, dasselbe Phänomen auf so verschiedenen Punkten, in Bassae 
in Arkadien, auf der Insel Aegina, in Selinunt in Sicilien und an 
mehrern andern Orten zum Vorschein , bei Bildwerken , von de- 
nen man mit Sicherheit annehmen konnte, dafs sie die ganze Zeit 
der Barbarei hindurch im schützenden Schoofse der Erde verbor- 
gen gelegen haben, dafs man nicht umhin konnte, der Sache mehr 
Aufmerksamkeit zu schenken. Gleichzeitig mit diesen Entdeckun. 
gen kam ein tiefer Kenner der alten Kunst auf dem Wege der 
Speculation zu demselben Resultate. Die Betrachtung des hohen 
Wertbes, den die Griechen in der schönsten Epoche ihrer Kunst 
auf die aus Gold und Elfenbein zusammengesetzten Statuen leg- 
ten , führte Quatremere de Quincy zu allgemeinen Forschungen 
über die farbige Sculptur der Griechen, die er 181 5 in seinem 
Jupiter Olympien bekannt machte. Nun erst, nachdem man durch 
Theorie Und Erfahrung mit der Idee von Bemalung der Statuen 
▼ertrauter geworden war , fieng man an , bei längst -bekannten 
Bildwerken auf eine Zuthat zu merken , vor der man lange Zeit 
mit einer gewissen heiligen Scheu die Augen verschlossen hatte« 
Die Diana von Versailles, die Venus von Arles, die Pallas von 
Velletri , die Vestalin von Versailles, die Amazone des Vatikans, 
Orest und Electra in Villa Ludovisi, die Med iceische Venus, vor 
allen aber die schon erwähnte Diana von Herculanum im alt-grie- 
chischen Styl, und verschiedene andere Statuen, die Herr Kugler 
p. 62 sqq. mit grofser Präcision aufzählt, zeigen an Haaren, Au- 
gen oder Gewändern unverkennbare Spuren ehemaliger Bemalung. 



*) Monam. ined. T. II. p. 48. 
•') Aleani' BsMirUievi della Grecia, Born. 1812. p. VI. 



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21t Schriften aber die Wandmalerei der Alten 

Ebenso gieng es bei der Architektur. Dieselben Forschungen, 
Ton denen wir oben gesprochen haben , führten auch hier zu 
überraschenden Resultaten. An den Attischen Monumenten, dem 
Thesen m , dem Parthenon , dem Erechtheum , den Propyläen , dem 
choragischen Monument des Lysicrates, dem jonischen Tempel 
am Ilissus, an den äusseren Propyläen des Ceres -Tempels zu 
Eleusis, dem grüfsern Tempel zu Bhamnus, ferner an dem Apollo* 
Tempel zu Bassae, dem dorischen Tempel-Ruin zu Korinth, an 
dem Minerven-Tempel auf Aegina, an den Tempeln zu Selinunt, 
in Metapont und an der Basilica zu Paestum hat man an ver- 
schiedenen Theilen eine mit dem Ganzen so harmonische , ge- 
schmachvoll ausgeführte Bemalung entdeckt, dafs man an der mit 
dem Bau gleichzeitigen Entstehung derselben nicht zweifeln kann. 
Nach diesen unwiderlegbaren Beweisen ist es h. z. T. beinahe 
allgemein anerkannt, dafs die Griechen in der Blüthezeit ihrer 
Kunst Malerei mit der Sculptnr und Architektur verbunden ha- 
ben : aber die grofse Frage ist nun die : wie weit gieng diese 
Anwendung der Malerei? dehnte sie sich auf die ganzen Statuen 
und Gebäude , oder nur auf einzelne Bauwerke und Theile der- 
selben aus? Herr Hittorff *) war der erste, der sich für eine 
vollständige Bemalung der Architektur und Sculptur aussprach ; 
und diese Theorie veranschaulichte er durch die colorirte Re- 
stauration eines kleinen Sacellums auf der Akropolis von Selinunt, 
das er den Tempel des Empedocles nennt. Noch weiter geht 
Herr Semper, der es als Resultat seiner grundlichen Studien, 
die er in Griechenland an den noch erhaltenen Gebäuden gemacht 
hat, ausspricht, dafs auch die Pracht-Bauten der Perikleischen 
Zeit vollständig bemalt gewesen seyen , und ein aus farbigen Li- 
thographien und Kupfertafeln bestehendes Werk verspricht, worin 
er seine gesammelten Studien, in ein System gebracht, auseinan- 
derzusetzen gedenkt. Gegen diese Ausdehnung der Polychromie 
nun ist das Werk von Herrn Kugler gerichtet, dessen Erscheinen 
als sehr zeitgemäfs erscheinen mufs. Er prüft zuerst die Zeug- 
nisse der alten Schriftsteller, betrachtet dann die Farbenreste an 
alten Monumenten der Baukunst, geographisch gesondert: nimmt 



*) De l'arcbitccturc polychrome ehez let Greca, on reatitution com- 
{ilete du tcmple d'Empcdoclcs , dang Tacropolia de Sri in ante. Ex- 
trait d un Memoire lu aux Acaduniies des Inacriptions et Bellea- 
Lettrea et den Beanx-Arta de Paris. — Annali deir Inetituto dl cor- 
riapond. archeol. 1830. T. II. p. Z68. 



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von Semper, Kuglcr, Hermann, Letronne, Raoul-Rochette, etc. 213 

> 

davon Veranlassung zu tieferen Untersuchungen über die Eigen- 
thümlichkeiten des Baustyles im Peloponnes und SicHien, — Un- 
tersuchungen , welche eine mehr als nur gelegcnhcitliche Behand- 
lung verdienen , dann aber durch Abbildungen der besprochenen 
Architektur-Theile beleuchtet werden sollten — er entwickelt 
dann an den im reinsten Styl ausgeführten Monumenten von At- 
tila die Bedeutung der architektonischen Formen, und auf die- 
sem Wege kommt er zu der Ansicht, dafs bei der Verschieden- 
heit der Formen das schon an sich beweglichere Gesetz der 
Farbe einem noch gröfseren Wechsel unterworfen gewesen seyn 
müsse, und dafs auch in dieser Beziehung in den Attischen Mo- 
numenten das reinste Maas vorausgesetzt werden dürfe. Nach 
diesen Prämissen entwickelt sich sein System der Polychromie, 
dessen Grundzüge in Kurzem folgende sind: Die Säule vollkom- 
men weifs; ob der Echinus mit Eiern zu verzieren, bleibt unbe- 
stimmt Der Architrav zeigt wiederum eine schlichte Masse, dient 
jedoch als Träger reicher, vergoldeter Weihschilde und Inschrif- 
ten. Das Band über dem Architrav, welches ihn mit dem Fries 
verbindet, durfte — in Bezug auf die dunklere Farbe der Me- 
topen — auch gefärbt und mit einem Mäander verziert seyn. 
Die Triglypben wiederum, als Haupttheile des gesammten Gerü- 
stes, weifs. Das Biemchen darunter mit zierlichem hängenden 
Palmetten-Ornament, welches das Biemchen als eine untere Be- 
grenzung oder Besäumung der Triglypben erscheinen läfst. Die 
Tropfen vielleicht vergoldet. Das Band, welches das Kopfgesiros 
der Triglyphen bildet, vielleicht mit einem ähnlichen, hier natur- 
lich stehenden, Palmetten-Ornament. Die schmalere Fortsetzung 
des Bandes über den Metopen wohl nicht weifs, sondern farbig, 
in einem gewissen Verhällnifs zur Farbe der letztern. Das hoher 
liegende Band, aus welchem die Dielen-Kopfe hervortreten, ge- 
färbt, etwa rotb, mit einem unter den Dielenkopfen durchlaufen- 
den Mäander. Die Dielenkopfe vielleicht, wie sich einige Anga- 
ben finden, und wie es dann als eine Vermittelung zu der färbe 
der Metopen motivirt wurde, blau, mit goldenen Tropfem Das 
Piättchen, welches die Dielenkopfe tragen, und welches unter 
der Hängeplatte liegt, vielleicht ganz roth. Die Bekronung der 
Hängeplatte mit zierlichen Blättchen. Ahnlich die Gesimse des 
Giebels, dessen Tympanum klein zu denken ist, um somit wie- 
derum einen angemessenen Grund für die Statuen des Giebels zu 
enthalten. Der Rinnleisten weifs, mit einer Palmetten-Verzierung 
in Gold. Die Acroterien , Stirn- und First-Ziegel als freier Schmuck 



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214 Schriften ober die Wandmalerei der Alten 

• 

farbig verziert, das Gold aber ebenfalls vorherrschend. Die 
Wände der Cella waren, wenn von Marmor, vermuthlich auch 
weifs. Die Friese für die etwaigen Reliefs blau. Die Aeten- 
Capitale bemalt, der Hals vielleicht mit einer Palmetren- Verzie- 
rung. Die anderweitigen Gesimse ebenfalls bemalt: ajs oberes 
Hauptglied gewöhnlich ein breites Band mit Palmetten. Die Deck« 
halben weifs mit Eierstäben. Der Grund der Cassetten dunkel- 
farbig mit vorleuchtenden Sternen. Dies in Kurze Herrn Kugters 
System der Polychromie, wobei man aber stets festhalten mufs, 
dafs er es nur auf die attischen Monumente deV schönsten Zeit 
angewendet wissen will, für den Peloponnes aber und noch mehr 
iur Sicilien eine reichlichere Anwendung der Farbe zugiebt Auf 
dieselbe Weise begründet Herr K. für die Sculptur sein System 
der Polychromie. Er prüft zuerst die Stellen der alten Schrift- 
steller, betrachtet dann die Monumente, an denen sich noch Far- 
benspuren finden, und hommt so zu dem Resultate, dafs sich die 
Bemalung eigentlich nur auf die Gewandung erstreckt habe, das 
Nachte aber durch weifsen Marmor oder durch Elfenbein darge- 
stellt worden sey : nur für das Auge wurde irgend ein dunkler, 
leuchtender Stein , irgend ein farbiges Material angewendet. Aach 
beim Haare , das dem Menschen als ein Schmuck gegeben ist und 
als solcher gepflegt und getragen wird, wurde Farbe, am häu- 
figsten Gold angewendet. Aller andere Schmuck, wie Agraffen , 
Kopfzierden, Gürtel , Armspangen , ferner die Attribute der Göt- 
ter, Waffen der Krieger, Geschirre der Pferde u. dgl. wurde 
entweder bemalt oder von Metall angesetzt , doch immer bleiben 
die nackten Theile des menschlichen Korpers in der einfachen 
Weise ausgeführt, welche dem vollkommensten Genüsse der rei- 
nen Form kein Hindernifs in den Weg legt. 

Unterwerfen wir nun dieses System, wie es sich nennt, einer 
nähern Prüfung, so erscheint als charakteristisch darin die Gel- 
tung, die der weifsen Farbe des Marmors gesichert wird, Gewifs 
ist es .mit dem bei der Architektur besonders gültigen Grundsatz 
der Zweckmäfsigkeit schwer zu vereinigen, dafs man das schone 
und kostbare Material des Marmors angewendet haben solle, um 
es wieder mit Farben zu verdecken. Am auffallendsten ist dies 
bei Gebäuden, wozu man den Marmor ans grofser Entfernung 
herführte : z. B. in Gortys in Arkadien war ein Tempel des Äs- 
kulap aus Pentelischem Marmor, Paus. VIII, 28, 1 (nicht 41, 5), 
in Delphi erbaute Herodes Atticus das Stadium ans demselben 
Steine, Paus. X, 3a, i. Zur Zeit der Pisistratiden . Herrschaft 



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von Semper, Kugler, Hermann, Lctronne, Raoul-Uodicttc, ete. 215 

erbauten die Alhmäoniden die Vorderseite des Delphischen Tem- 
pels aas Parischem Marmor, wahrend sie durch ihren Vertrag mit 
den Amphiktyonen nur verbindlich waren, Poros-Stein zu neh- 
men, Herod. V, 6a. In allen diesen Fällen sieht man nicht ein, 
warum man mit schweren Kosten das schone Material herbeige« 
schafft haben würde, wenn es nicht gerade durch seine natur- 
liche Beschaffenheit den Glanz des Gebäudes erhohen sollte. Auch 
verdient die Bemerkung von O. Muller (Gottinger gel. Anz. 1 834 
St. 140) Beachtung, dafs der bekannten Bauinschrift vom Krech- 
theum zufolge die Fläche der Wände erst, wenn sie aus den Stein- 
Quadern aufgesetzt waren , im Ganzen polirt wurde , dafs aber 
eine solche Politur annütz gewesen seyn würde, wenn man ihren 
Glanz wieder durch einen Farbenüberzug vernichtet hätte. Diese 
Wahrscheinlichkeitsgründe sucht Herr Kugler noch zu verstärken 
durch die Bemerkung , dafs Pausanias und Strabo öfters von Ge- 
bäuden aus weifsem Stein (X&ov Xtvxov) sprechen, dafs aber 
diese Erwähnung der Farbe gar keinen Sinn hätte, wenn man 
die Eigenschaft des Steines nirgends zu Gesicht bekam. Alle 
noch übrigen Zweifel aber glaubt er durch folgenden aus Hero- 
dot III, 57. geführten Beweis beseitet zu -haben. Die Siphriier 
befragten zur Zeit ihres gröfsten Wohlstandes das Delphische 
Orakel , ob ihr Wohlstand von langer Dauer seyn könne. Die 
Pythia antwortete ihnen : 

'AXV oxav iv Zicpvu n^vrav^'ia Xtvxä yn^rat, 
A$i>uo(ppvq t* ayopit, töts üßi (p^dSfiovoq avdf>6$ 9 

Town 3k XicppLotai %6t» iv ff dyopij *al tö n^vxavri'iov napup 
\&to ttoxr^iva. Diese Stelle ist nicht nur wegen der Angabe 
über die weifsen Gebäude der Siphnier, sondern, wie Herr H. 
richtig bemerkt, wegen des von Herodot angegebenen Grundes , 
warum sie weifs waren, von gröTster Wichtigkeit: dennoch aber 
können wir die Schlufsfolgeruog , die Hr. H. daraus als entschie- 
den zieht, nicht unterschreiben. Diese lautet: »Was in der 
Blüthezeit der griechischen Kunst von Parischem Mar- 
mor — und wir dürfen ohne Bedenken hinzufügen: von 
jedem edlen weifsen Marmor, namentlich dem Pente- 
lischen zu Athen — erbaut worden war, erschien im 
Äussern wesentlich als weifs.« Dafs diese Schlufsfolgerung 
zu allgemein gefafst sey, scheint uns aus folgender Stelle des Pau- 
sanias zu erhellen. Er spricht VII) 22, 4 von Tritäa in Achaja: 



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216 Schriften über die Wandmalerei der Alten 

Siaq xai tq xä dfXXa d$iov nal o%>x jfxtaxa inl t ai q'y p ac{) aiq 9 
at tiaiv inl tot xd<ßov, xi-^vr, Nixio», S^övos xe AtV 
<^avTOC 9 Kai fvvii via nal dSovs bv l^ovaa inl xo) Sqövco, Sf- 
panatva 3* awxjj npoasaxijxs axiddioy (fi^ovaa- *al.vtavia*o$ 
6föo<; ovx tpv 7tw 7s vetcc caxi ^ixcoya ^r3e<Ji>xo)$ xul ^XapvJoc 
inl tw ^ixovt ^otvix^v • Tiapa i?£ arxov oix^tt^ äxövxia ^py 
taxl, xai äyu xvva$ inixrjtlaq Sr^evovaiv ävSpanoic, tzv- 
St'aSat ph' xa öyopia avxöy oux ti'^opev xa^qvat de 
avJpa xai yvvatxa Iv xotvin napioxaxo änaaiv cixa£fty. Nach 
dieser Stelle sah also Pausanias von der Stadt Tritäa ein Grabmal 
(dafs pyi?f*a and rd<f>o<; gleichbedeutend seyen, setzen wir als 
anerkannt voraus) aus* weifsem Marmor, auf dessen äusserer Ober- 
fläche Gemälde ausgeführt waren: und dies geschah in der BIEU 
thezeit der griechischen Kunst, denn die Gemälde waren Ton 
Nicias , der nach Plin. XXXV, 1 1 , s. /p ». zu den berühmtesten 
Malern gehörte. Herr Raoul - Rochette (Journal des savans i833 
p. 369) erklärt zwar in der ganz ähnlichen Stelle Paus. VII, 25, 
7. die Worte inl x<jp uvjjuaxt von dem Innern des Grabmales, 
und ohne Zweifel versteht er in der von uns angeführten Stelle 
die Worte inl xov xd(pov^ebenso , da er beide Stellen neben 
einander stellt; allein Herr Hetronne, der dieselben Stellen in sei- 
nem sechszchnten Briefe für einen von dem unsrigen verschiede« 
nen Zweck bebandelt, hat vollkommen Recht, wenn er diese 
Erklärung nicht nur für sprachlich, sondern auch für sachlich 
unmöglich hält, denn so lange das Heidenthum bestand, konnte 
Pausanias in das Innere der Grabmäler nicht eindringen , und Ni- 
cias, einer der ersten Maler seines Jahrhunderts, würde sich wohl 
nie dazu hergegeben haben , das Innere eines Grabmales mit Ge- 
mälden zu schmücken , die Niemand zu Augen kamen. Die Stelle 
des Herodot verliert dadurch ihre Geltung nicht, aber eben so 
wenig , als wir aus der angezogenen Stelle des Pausanias auf die 
Bemalung aller Marmor-Gebäude schliefsen, eben so wenig darf 
Herr Kugler aus der Stelle des Herodot herleiten, dafs alle weifs ' 
gewesen seyen. Eine weitere Folgerung , die wir aus dieser 
Stelle machen können, ist die, dafs der Ausdruck des Strabo und 
Pausanias, dieses oder jenes Gebäude sey aus weifsem Stein ge- 
baut, durchaus keinen Beweis gegen die Bemalung derselben ab- 
giebt, dafs sie vielmehr unter Xiöo« Xtvxoq weifsen Marmor ver- 
stehen , ohne damit zu entscheiden , ob er seine natürliche Farbe 
behalten , oder eine fremde bekommen habe. Noch minder glück- 
lich ist Herr H. in den übrigen gegen die polychrome Arcbitek- 



« 



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von Seroper, Kugler, Hermann, Letronne, Raoul-Rochette etc. 117 

< 

tur angeführten Stellen. Plinius 36, C. 2 3. erzählt, dafs Panänus 
im Tempel der Minerya zu Elis den Stucküberzug der Winde 
in einer Auflösung von Milch und Safran aufgetragen habe, und 
dafs noch zu seiner Zeit der Geruch und Geschmack des Safrans 
empfindbar gewesen sey, wenn man die Wand mit Speichel rieb. 
Um nun aus dieser Stelle die Notiz von einer gelblichen Farbe 
der Wände zu entfernen , sagt Herr Kugler : » Die ganze Stelle 
ist eine von den wenig bedeutenden Kunstler- Anekdoten , in de- 
ren Aufsammlung sich Plinius wohlgefallt: die Hauptsache ist ihm 
der Safrangeruch , der noch zu seiner Zeit entstanden war, wenn 
man jene Wand mit Speichel rieb. « Wir möchten im Gegen, 
theil behaupten, dafs diese Stelle eine sehr bedeutende ist; denn 
das ist doch sonnenklar, dafs Panänus diesen Anwurf der Wände 
in der Absicht machte, um darauf zu malen, und insofern ist 
diese Stelle ein sicherer Beweis, dafs die griechischen Meister in 
der schönsten Periode der Kunst auf die Wand gemalt haben. 
Diese Sitte wird uns bestätigt durch die Angabe des Pausanias 
V, n, 2, dafs derselbe Panänus die um die Jupiter- Statue in 
Olympia herumlaufende Brustwehr auf drei Seiten mit Gemälden 
geschmückt , die vierte Seite der T^ür gegenüber blos einfach 
blau angestrichen habe. Auch diese Stelle fuhrt Herr K. an , und 
nimmt mit Völhcl (Archäol. Nachl. p. 5i) richtig an, dafs unter 
dieser Thüre die unmittelbar hinter der Statue befindliche Thure 
des Opisthodomus zu verstehen sey, so dafs b\so an dem hintern 
Theile der Brustwehr, wohin wenig Beschauer kamen und wohin 
nur ein geringes Licht fallen konnte, die Gemälde überflüssig 
waren. »Aber, sagt er nun weiter, wenn dieser Theil blau au- 
sgestrichen wurde, so liegt es nahe, in seiner Farbe eine Über- 
»einstimmung mit den umliegenden Wänden der Cella zu suchen; 
»waren diese weif 's , so hätte man, wie es scheint, die Wand 
» der Brustwehr am täglichsten ebenfalls weifs gelassen.« Wir 
müssen bekennen , dafs wir nicht einsehen , wie diese beiden Stel- 
len in Herrn Kuglers Buch kommen konnten, denn der Verlauf 
seiner Untersuchung zeigt uns, dafs er nur die Aussenseite der 
Gebäude behandeln wollte; dafs somit diese Stellen dem Zweck 
seines Buches ganz fremd sind ; wollte er aber auch auf das In. 
nere der Tempel Bucksicht nehmen , so konnte er unmöglich von 
» ganz einzeln stehenden und wenig bedeutenden Äusserungen der 
Alten über polychrome Architektur« reden, sondern mufste in 
seinem Plinius und Pausanias, die er fast auf jeder Seite citirt, 
Stellen dem Dutzend nach finden , die ihn von dem Gedanken an 

• 

i 

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218 Schriften über die Wandmalerei der Allen 

weifte Wände ablenken konnten. Da wir uns hierüber weiter 
unten ausfuhrlich aussprechen werden, so verweilen wir jetzt nicht 
langer dabei, und schreiten zur Prüfung des Koglerschen Systems 
der Polychromie. Vorerst können wir hier die Bemerkung nicht 
unterdrücken, dafs uns bei den bis jetzt vorliegenden, von Hrn. 
IL zwar mit grofser Sorgfa't aufgezählten, aber doch immer höchst 
fragmentarischen Daten die Ankündigung eines Systems der Po- 
lychromie anno Domini i835 etwas frühe vorkommt: doch man 
mufs sich h. z. T. daran gewöhnen, dafs die jüngere Generation 
mit folgerechten Systemen parat ist, wo andere Leute, wie in 
unserem Falle ein Gottfr. Hermann und Bröndsted, bescheidene 
Muthmafsungen äussern. Doch wollen wir an einem Beispiele 
zeigen, wie es bei diesem Verfahren hergeht Vitruv IV, «. 
§. 2. sagt, dafs man bei dem alten Holzbau vor die Balkenköpfe 
Bretter genagelt, und, um diese Verdeckung dem Auge wohl- 
gefällig zu machen , mit blauem Wachse bemalt habe : daraus 
Seyen dann die Triglyphen entstanden. Man sollte glauben, dafs 
bei einem Gegenstande, wo wir von der Angabe der alten Schrift- 
steller so ganz entblöst sind, ein solches Zeugnifs vom Meister 
Vitruv um so willkommene^ wäre, da Bröndsted (Reisen in Grie- 
chenland B. 3. p. 147) versichert, dafs diese Angabe Vitruv • 
durch seine und seiner Reisegefährten Untersuchungen in den 
Dorischen Tempeln von Griechenland und Sicilien durchgängig 
auf eine merkwürdige Weise bestätigt werde, indem die Trigly- 
phen der altdorischen Tempel überall, wo ihre Farbe noch er- 
kannt wurde, bimmelblau gewesen; ihre Zwischenflächen aber 
eben so allgemein einen hochrothen oder doch fast immer einen 
röthlichen Anstrich gehabt zu haben scheinen. Diese beiden Zeug- 
nisse waren Herrn K. nicht unbekannt, allein gefärbte Tryglypben 
passen einmal in sein System der Polychromie nicht: als Haupt- 
theile des gesammten Gerüstes müssen sie weifs seyn, wie die 
Säulen und der Architrav, und daher ist er der Meinung, dafs 
man bei Vitruv, da er über einen Gebrauch der Vorzeit berichte, 
mehr an alterthümliche Monumente, als an die eines entwickel- 
ten Styl es denken müsse,- zugleich an solche, welche ihm, wie 
die et russischen oder sicilischen, näher lagen, als die hellenischen: 
als ob Vitruv nach Weise der heutigen italienischen Künstler nur 
die Bauten seines Vaterlandes gekannt oder wenigstens präsent 
gehabt hätte, während sich ja in seinem Werke deutlich aus- 
spricht, dafs er mit den Gebäuden Griechenlands und Hleinasiena 
ebenso bekannt war , wie mit denen Italiens und Siciliens ; Herrn 



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von Semper, Kupier, Hermann, Lctronne, Raoul -Röchelte etc. 119 

^ * 

Bröndsted's Zeugnifc aber wird p f 46 damit zurückgewiesen , dafs 
er nar sicilische Monumente im Sinne zu haben icheine, wäh- 
rend er doch ausdrucklich von Griechenland und Sicilien spricht. 
Aus diesem Verfahren sehen wir zwar, wie fest Herr K. von der 
Folgerichtigheit seines Syst cm es uberzeugt ist} wir aber sind da- 
durch in unserer Überzeugung nicht wankend geworden , dafs 
man bei Sachen, die man nicht a priori sondern nur a posteriori 
wissen kann , glaubwürdigen Zeugnissen des Alterthums und neue- 
rer Reisenden den ersten Rang einräumen müsse. Für die Thä. 
tigheit der Phantasie bleibt immer noch ein weites Feld offen, 
sobald es sich darum handelt , aus einzelnen gegebenen Fragmen- 
ten ein harmonisches Ganzes zu componiren. Was diesen Punkt 
betrifft , so ist Herrn Huglers Restauration des Parthenon , nach 
seinen Ideen von Herrn Architekt Strack ausgeführt, sehr ge- 
schmackroll: wie weit sie im Einzelnen wahr ist, kann nicht un- 
tersucht werden. Der Hauptpunkt, der durch Herrn Kuglen 
Untersuchungen herausgestellt wurde, ist der, dafs der weifse 
Marmor seine Naturfarbe behalten müsse , weil wir bis jetzt noch 
nicht Data genug besitzen , um die Bemalung der Architektur 
auch auf die aus weifse m Marmor aufgeführten Gebäude der schon*, 
sten Periode griechischer Kunstubung auszudehnen. Dieses Re- 
sultat ist aber mehr negativ und so prekär , dafs wir nicht wis- 
sen , ob wir das, was wir am Ende des Jahres i836 für wahr 
halten, bis zum Ende des nächsten Jahres hinüberretten werden; 
denn sollte es Herrn Semper gelingen, seine p. a3 ausgesprochene 
Überzeugung , dafs die goldne Kruste der griechischen Monumente 
nicht Bodensatz der Zeiten, sondern Rest der antiken Male- 
rei sey, zu beweisen, so wird uns das Demonstriren und Weh- 
klagen der Systematiker ebensowenig hindern, eine durchgängige 
Bemalung der Architektur anzunehmen , als uns das bisher gang- 
bare System der Ästhetik gehindert hat , an eine theilweise Be- 
malung zu glauben. Die apriorische Wahrscheinlichkeit scheint 
uns viel mehr für das Gelingen als für das Mifslingen des Bewei- 
ses zu seyn; denn wenn dieser Punkt ins Reine gebracht ist, so 
sind alle Data zur Construction eines Systemes der Polychromie 
vorhanden. Wir haben oben gesehen, dafs auf die Aussenseite 
von Grabmälern sogar historische Gemälde durch berühmte Mei- 
ster ausgeführt wurden, ähnlich wie wir dies in den alten Städ- 
ten von Deutschland, Italien und der Schweiz in vielen Häusern 
erblicken , und dafs selbst der weifse Marmor die Bemalung sich 
gefallen lassen mufste. Als Beispiele für öffentliche Gebäude 



1 



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220 Schriften fiher die Wandmalerei der Alten 

erwähnt Pausanias I, a8, 8 zwei Gerichtshöfe in Athen, welche - 
der Grüne und der Rothe nach ihren Farben hiefsen, und bis auf 
seine Zeit diese Namen führten. Dafs diese Farben den an der 
Pforte der Gerichtshofe angebrachten Buchstaben entsprochen ha- 
ben und als ein blofses Abzeichen zur Unterscheidung für die 
der Schrift Unkundigen zu betrachten Seyen , wird uns Herr 
Raoul-Rochette und Herr Kugler ebenso wenig überzeugen, als 
wir je glauben werden , dafs das rothe und das grüne Haus in 
Stuttgart diesen Namen yon rothen oder grünen Täf eichen, auf 
denen die Feuer-Assekuranz oder die Strafsen-Nummer bezeichnet 
ist, erhalten haben. Die Fac,ade der Privathäuser wurde eben- 
falls bemalt, wie Herr Let rönne in seinem zweiundzwanzigsten 
Briefe aus vielen bis jetzt unbeachteten Stellen der Alten nach, 
weist. Tempel, die aus geringerem Material aufgeführt waren, 
wurden mit einem Anwurf überzogen, dessen Bemalung, wie 
Herr K. p. 7. richtig bemerkt, in ein gewisses Verhältnifs zu den 
mit weifsem Marmor errichteten Prachtbauten gesetzt worden 
seyn wird. Es kommt nun also Alles darauf an, welche Ent- 
deckungen an den letzteren in Zukunft gemacht werden. Woll- 
ten wir uns durch Systemsucht bestimmen lassen , so konnten wir 
der Erfahrung vorgreifen, und das, was wir an den verschiede- 
nen Arten von Gebäuden wahrgenommen, durch einen Inductions- 
Beweis auch auf die Gebäude aus weifsem Marmor in ihrer All- 
gemeinheit übertragen: aber wir halten es für unwissenschaftlich, 
ohne entscheidende Beweise die oben angeführten , von Herrn K. 
wesentlich verstärkten Wahrscheinlichkeitsgründe, welche für 
die weifse Farbe der Marmor-Bauten sprechen, zu verwerfen. 

Wenn wir denv Gesagten zufolge dem Kuglerschen System 
der Polychromie in Rücksicht der Architektur nur mit grofsen , 
Beschränkungen beitreten können, so müssen wir von demselben 
in seiner Anwendung auf die Sculptur ganz abweichen. Die äl- 
testen Holzbilder, welche roth angestrichen und ganz nach mensch- 
licher Weise bekleidet waren , lassen wir wie Herr K. ausserhalb 
des Bereiches unserer Untersuchung, und betrachten mit ihm die 
Akrolithen als die ersten Versuche einer entwickelteren Kunst- 
periode. Dies waren Statuen aus Holz, deren Extremitäten, Kopf, 
Hände und Füfse, von Marmor angesetzt waren: dieser Marmor 
war nach ausdrücklicher Bemerkung des Pausanias bei einigen 
parischer oder pentelischer.. Wenn nun aber Herr K. p. 5a dar- 
aus schliefst, dafs jedenfalls dieser Marmor im Wesentlichen in 
seiner natürlichen Farbe erschienen sey, weil es widersinnig wäre, 



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von Semper, Kugler, Hermann, Letronne, Raoul - Röchelte etc. 221 

wenn man an einzelnen Theilen ein anderes und zwar kostbareres 
Material angefügt, und dessen Eigentümlichkeit wieder durch 
einen Farbenüberzug verdeckt hätte, so ist dies eine petitio prin- 
eipü, d. h. Herr K. setzt als bewiesen voraus, was erst bewiesen 
werden sollte: wir haben aber bereits oben einen positiven Be- 
weis aus Pausanias angeführt , dafs der X3o( Xtvxbt die Bema- 
lung nicht ausgeschlossen habe. Betrachten wir die Sache psy- 
chologisch , so finden wir es im Gegentheil sehr unwahrschein- 
lich, wie das an die menschlich aussehenden Schnitzbilder ($6ava) 
gewohnte Äuge des gläubigen Volkes sich mit solchen gespenster- 
artig aussehenden Akrolithen befreundet haben sollte: erhielten 
aber die Marmortheile einen dem vergoldeten oder bemalten Tronc 
entsprechenden Anstrich, so finden wir darin einen wesentlichen 
und doch gegen die Ansprüche der gläubigen Menge nicht ver- 
stoßenden Fortschritt der Kunst , denn der Marmor gestattete 
nicht nur grofsere Präcision in Bildung der Gesichtsformen, son- 
dern auch, wenn die Färbung nicht zu dick aufgetragen wurde, 
grofsere Natürlichkeit des Colorits. In noch höherem Grade war 
dies bei dem Elfenbein der Fall, das vermöge seines weichen 
Charakters durch eine leichte Bemalung des schönsten Fleisch- 
tones fabig war. Dafs aber dieses Material in dem Pcrikleischen 
Zeitalter, wo die vom ganzen Alterthum angestaunten Wunder- 
werke der Kunst aus Elfenbein und Gold ausgeführt wurden, 
wirklich bemalt worden sey, dafür spricht uns der Umstand, dafs 
Plutarch (Perikl. c. 1a) unter den von Perikles beschäftigten 
Künstlern ausdrücklich die Elfenbeinmaler erwähnt; wenn es aber 
eigene Künstler gab, die sich damit beschäftigten, so können wir 
uns nichts denken , was sie malen konnten , als eben diese Statuen, 
denn von sonstiger Anwendung des Elfenbeins bei den Periklei- 
schen Unternehmungen haben wir keine Kunde. Herr K. sieht 
sich nun freilich p. 55 veranlagst , um diesem Schlufs zu entgehen, 
eine von Beiske und Facius (Excerpta p. 9) vorgeschlagene Emen- 
dation zu adoptiren. Diese wollen nemlich statt der gewöhnli- 
chen Lesart, .xqvcrov paXaxT>??f$y iXtyatxoc £*yp«tyoi p lesen: 
Xpvaov fioXaxT^pe$ xai iXifpawoq , ^ypacpoi Diese Verbesse- 
rung trägt die unverkennbaren Spuren eines Zeitalters, wo man 
von bemalter Sculptur keine Idee hatte, und darum mit den 
Worten l\i<f>ap%oq {oypcußot keinen Sinn zu verbinden wufste : 
h. z. T. aber sollte niemand mehr, am wenigsten ein Schriftstel- 
ler über Polychromie der Alten, diese längst zerfallene Hinter- 
thür aufsuchen, zumal da es stets eine mifsliche Sache ist, wenn 



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222 Schriften ober die Wandmalerei der Alten 

man eine kritisch unverdächtige Stelle einer aufgestellten Hypo- 
these zulieb abändert. Derogemäfs ist wohl der Scblufs von der 
Existenz eigener Elfenbeinrnaler aof Bemalung des Elfenbeins an 
den Statuen gerechtfertigt, und haben wir dies Datum gewonnen, 
so schliefen wir mit gröTserem Recht von der Bemalung der 
cbryselephantinen Bilder auf das ähnliche Verfahren bei den Akro- 
lithen, als Herr K. p. 54 von der Analogie der Aerolithen, de- 
ren weifse Extremitäten er nur postulirt, aber nicht beweist, auf 
die Nicht-Bemalung des Elfenbeins schliefst. Wenn er aber wei- 
ter argumentirt , dafs das Elfenbein an trocknen Orten durch 
Wasser, an nassen durch Öl frisch erhalten werden mufste, was, 
bei einem stärkern Farbenüberzug ohne Wirkung gewesen wäre 
und eine leichtere Färbung bald beeinträchtigt haben würde, so 
machen wir ihn darauf aufmerksam, dafs nach Pausanias V, 14, 
5. die Reinigung der Olympischen Jupiter-Statue den Nachkom- 
men des Phidias , unter dem Titel (pa 1 S ^vvxal 9 als erbliches 
Ehrenamt anvertraut war. Die Verwendung dieses Künstlerge- 
schlechts zu diesem scheinbar einfachen Dienste erhält ihren vol- 
len Sinn erst dadurch , wenn wir annehmen , dafs die Pbädrynten 
nicht blos das Öl einzureiben, sondern auch für die Erhaltung 
des zarten Colocits zu sorgen hatten ; und sofern diese Thätigkeit 
nur die Fortsetzung von dem Geschäft der Elfenbeinmaler war, 
wird uns diese Nachricht eine Bestätigung von der herkömmlichen 
Lesart in der Plutarchiscben Stelle. Wenden wir uns nun zu 
den Marmorbildern, so erblicken wir an den Selinuntischen , Agi- 
netischen, Attischen und Phigalischen Bildwerken unverkennbare 
Spuren der Bemalung, die sich bei den Ägineten, wie Herr H. 
p. 68 selbst erwähnt , nicht blos auf die Gewandung , sondern 
auch auf Augen und Lippen erstreckte: an den Augen der Mi- 
nerva war sogar noch der ümrifs des Augapfels und noch ein 
Hauch von Färbung zu erkennen. Damit verbindet sich , dafs 
einer der grofsten Meister auf dem Culminationspunkte der Kunst, 
Praxiteles, diejenigen von seinen Marmorarbeiten am höchsten 
schätzte., an welche der Maler Nicias Hand angelegt hatte: tan« 
tum circumütiont ejus tribuebat (Plin. XXXV, c. 11. s. 40.). 
Herr K. giebt p. 59 selbst zu, dafs die naturlichste und einfach- 
ste Erklärung dieser Stelle diejenige sey, welche die Hulfelei- 
stung des Nicias von einer vollständigen Bemalung verstehe: aber 
um diese einfache Erklärung zurückzuweisen, hält er sich an die 
Ton Sillig im Catalogus Artificum gemachte Bemerkung, dafs die 
Bluthe der beiden Kunstler um 5o Jahre auseinanderfalle, wefs- 



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von Semper, Kngler, Hermann, Letronne, Raoul-Rochette etc. 223 

wegen SilHg zwei Hünstier dieses Namens annimmt. * Wollen 
»wir jedoch,« sagt Herr K., »diese Annahme nicht gelten 1ns- 
»sen und das späteste Alter des Praxiteles mit der frühesten Ju- 
ngend des Nicias in Verbindung bringen, so müssen wir gleich* 
* wohl jedenfalls zogeben, dafs hieroit der Haaptumstand der obi- 
gen Untersuchungen verschwindet: der Nicias, von dem die 
»Circumlitio an den Statuen des Praxiteles herrührte, konnte ent- 
» weder dazumal noch kein berühmter Maler seyn , — oder er 
»war es überhaupt nicht; seine Arbeit schlug also, möglicher 
t> Weise, nicht in das Gebiet der hohem Kunst« Wir haben 
diese Argumentation wörtlich beigesetzt, weil wir gestehen müs- 
sen, dafs wir ein solches Dilemma nicht verstehen, nur so viel 
ist uns klar, dafs die Erzählung des Plinius dadurch ihrer Be- 
weiskraft beraubt werden soll; will man aber den Nicias durch 
ein Dilemma todtschlagen , so glauben wir unsererseits, ihn durch 
ein Dilemma retten zu können. Wir können in der angeführten 
Stelle entweder Einen Nicias oder zwei statuiren: gab es nur Ei- 
nen, so konnte dieser bei einer Altersverschiedenheit von fünf, 
«ig Jahren zu Lebzeiten des Praxiteles noch kein berühmter Name 
seyn, aber Praxiteles konnte schon in dem Junglinge den grofsen 
Künstler ahnen und seine Arbeiten denen anderer bekannteren 
Meister vorziehen: waren es aber zwei, so ist es allerdings mög- 
lich, dafs der ältere kein berühmter Maler war, wahrscheinlich 
aber ist es durchaus nicht, denn die hochachtungsvolle Äusserung 
eines Praxiteles scheint uns ein besserer Beweis für, als Herrn 
Kuglers Dilemma gegen seine Kunst. Wenn aber Herr Sillig 
zwei Nicias annahm, so war dies nicht der gewöhnliche Ausweg , 
den man bei schwierigen Zeitbestimmungen ergreift, sondern 
Plinius selbst gab ihm den Grund dazu an die Hand , indem er 
zu der in Bede stehenden Stelle beifügt: non satis dtscernitur, 
alium eodem nomine, an hunc eundem quidam faciant Olympiade 
centesima duodeeima. Wir dürfen wohl annehmen, dafs durch 
die frühzeitige Vermischung der Namen auch die Werke beider 
Künstler unter Einen Namen geworfen worden sind, und dafs 
demnach unter den von Plinius genannten Gemälden mehrere dem 
altern angehören, namentlich möchte die Gewandtheit, die Ge- 
mälde stark über die Fläche hervortreten zu lassen (ut eminerent 
e tabu Iis picturae, maxime curavit) als Folge seiner Bemalung 
der Sculptur zu betrachten seyn. Da demnach das Factum, dafs 
ein Maler Nicias Hand an die Bildsäulen des Praxiteles gelegt 
habe, auf keine Weise entkräftet werden kann, so handeln wir 



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224 Schriften über die Wandmalerei der Alten. 

den Gesetzen der Kritik angemessen, wenn wir dieses Handanle- 
gen von der dem Maler eigentümlichen Thätigkeit, von dem 
Bemalen ( und zwar in dem Fall , dafs es blos Einen Nicias ge- 
geben hätte, von dem enkaustischen Bemalen) verstehen, und 
wir verweilen uns bei den abweichenden Erklärungen um so we- 
niger, da Herr K. selbst dies als die einfachste Erklärung aner- 
kennt. An dieses Zeugnifs reiht sich die oben angeführte Stelle 
des Plato De Republ. IV. init. , wo er von dem a vd^id vtulc, yoo> 
<ßctv als einer gewöhnlichen Sache spricht. Dieses Bestreben, 
auch das Nackte der Bildsäulen zu bemalen, theilte sich selbst 
dem Erzgusse mit, daher erzielte Silanion, der Zeitgenosse des 
Lysippus, bei seiner sterbenden Jo haste die Todesblässe des Ge- 
sichts durch Mischung des Silbers unter die Bronze (Plut. de 
aud. poet. 3. Qu. Symp. V, 1), und Aristonidas brachte durch 
Eisenbeimischung Schamrothe im Gesiebt seines reuevollen Atba- 
mas hervor (PI in. XXXIV, 14). Wenn aber Herr K. dies zu 
der bereits entarteten Kunst zählt, so rauchten wir ihn ausser 
dem Zeitalter des Silanion auf die Bacchantin des Scopas , die 
aus Marmor war, aufmerksam machen. Hier war die Todten- 
blässe des zerrissenen Ziegenbockleins neben der vollen Lebens- 
farbe der taumelnden Bacchantin bis zur täuschenden Ähnlichkeit 
nachgeahmt; \ttav ovaav ttjv vXqy tiq bavdxov xai dnjpti 
viiv pipiiaiv sagt Callistratus Stat. 2. Somit haben wir aus der 
schönsten Periode der griechischen Kunst eine Reihe von Bewei- 
sen für die Bemalung der Statuen in den verschiedensten Zwei- 
gen der Kunstübung ; allein Hr. K. sagt uns p. 57 , in einer Stelle 
des Lucian sey mit Bestimmtheit ausgesprochen, dafs 
die bedeutendsten Statuen des Alterthums im Wesent- 
lichen farblos erscheinen. In dieser Stelle (de imagin. 5 — 
10) sagt Lykinos, er wolle sich eine vollendete Schönheit zusam- 
mensetzen, in welcher er die gelungensten Theile der vorzüg- 
lichsten Statuen vereinige. 

(DU Fort$et*ung folgt.) 



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X°. 15. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Schriften über die Malerei der Allen von Semper, Kugler, 
Hermann, Lei rönne , Haoul-Rochelle, Wiegmann und John. 

(Fortsetzung.) 

So nimmt er denn von der ltnidischen Venus des Praxiteles 
den Hopf und die Gröfse : von der Venus des Alkamenes in den 
Garten (zu Athen) die Brust und die vordem Theile des Gesichts, 
die Hand und die schönzugespitzen Finger; von der Lemnischen 
Pallas des Phidias die weichen Wangen und die symmetrische 
Nase; von der Amazone des Phidias den Mund und den Nacken; 
von der Sosandra des Calamis das sanfte Lächeln und die Sitt- 
samkeit; für das Colorit aber nimmt er das Haar von der Here 
des Euphranor, die Augbrauen und die Rothe der Wangen von 
der Cassandra des Polvgnot, den übrigen Körper von der Pakate 
(richtiger Pankaste) des Apelles, die Lippen von der Roxane des 
Aetion. Nun möchten wir gern hören, inwiefern in dieser Stelle 
ausgesprochen seyn soll , dafs die genannten Statuen farblos ge- 
wesen seyen. Es ist ganz der Natur der Sache genial s , das Ly- 
kinos die Formen für die ideale Schönheit , die er sich compo- 
nirt , von den Statuen entlehnt; nun ist es ober in der Kunst eben- 
sowenig als in der Natur der Fall , dafs mit der schönsten Form 
immer die schönste Farbe verbunden ist, wie die Venetianische 
Malerschule am evidentesten zeigt ; darum wählt er das Colorit 
für sein Idealbild von den anerkannt gelungensten Parthien der 
gefeiertsten Gemälde: nicht weil die Statuen nicht bemalt gewe- 
sen sind, sondern weil das Vollendetste in der Farbengebung in 
der Malerei, und nicht in der Sculptur, zu suchen ist. Somit 
ist also mit dieser Stelle nur so viel bewiesen, dafs ein Gemälde 
des Apelles ein schöneres Colorit gehabt habe, als eine Statue 
des Praxiteles, und da Niemanden einfallen wird, dies zu bestrei- 
ten, so gehört diese Stelle zu denen, welche zu der vorliegenden 
Frage gar nicht gehören. Dennoch nehmen wir unsern oben auf- 
gestellten Satz, dafs die Griechen auch das Nackte ihrer Statuen 
bemalt haben, wieder auf, und bestätigen ihn durch die an ein- 
zelnen Bildern erhaltenen Farbenspuren. An dem Capitoliniscben 
Apoll mit den Greifen scheint das Nackte ursprunglich mit einer 
XXX. Jahrg. 3. Heft. 15 



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226 



Schriften über die Wandmalerei der Alten 



rothen Farbe bedeckt gewesen zu seyn ; ebenso ist es mit dem 
Gesichte der Vestalin von Versailles (Quatreraere de Quincy Jup. 
Olymp, p. 54). Im Pariser Museum ist ein Pan mit Bocksfufsen , 
von griechischer Arbeit, in Haut-relief, an dem die Horner, 
die Bocksfüfse und die Nebris von Metall und ohne Zweifel ver- 
goldet waren, während die Lippen und das Innere des Mundes 
mit Zinnober roth gefärbt waren (R. Rochette Journ. d. Sav. i833 
p. 362). An der Pallas von Velletti waren nach Fcrnows Bericht 
im Neuen deutsch. Merc. 1798 p. 3oi , nach ihrer Entdeckung 
Augen und Mund mit einer schwachen violetten Tinte gefärbt, 
welche an den ersteren nicht allein den Augapfel, sondern auch 
die Augenlieder und die zwischen diesen uud den Brauen befind- 
liche Vertiefung über den Augen einnahm, und am Munde waren 
gleichfalls nicht die Lippen allein, sondern auch der ganze Um- 
fang der Oberlippe von den Mundwinkeln bis an die Nase und 
ein Theil der Unterlippe mit derselben Tinte gefärbt. Herr K. 
betrachtet diese Statue als eine Copie aus der Kaiserzeit nach 
irgend einem altern trefflichen Werke, und nimmt daher diese 
barbarische Bemalung als eine Zuthat des italischen Copisten an. 
Allein damit ist die Sache nicht abgethan, denn veilchenblauer 
Teint war auch in der Kaiserzeit nie Mode , darum strich auch 
der dümmste Copist gewifs nie ein Gesicht mit dieser Farbe an. 
So viel ist wohl gewifs , dafs Mund und Augen an dieser Statue 
bemalt waren; bei dem Umstürze der Statue aber scheint das 
Metall der Helmzierde vor das Gesicht zu liegen gekommen zu 
seyn , und durch seine Oxydation die ursprungliche Farbe alterirt 
und weiter auf die nächsten Theile ausgebreitet zu haben. Die 
Volscischen in Velletti gefundenen Reliefs aus Terra cotta zeig- 
ten bei ihrer Entdeckung eine vollständige Bemalung: das Nackte 
war fleischfarben , die Gewandung weifs und gelb, zuweilen auch 
roth, die Haare stthwarz, die Pferde weifs, auch braun und 
schwärzlich, die Wagen gelb, die Waffen und andern Geräthe 
meist weifs. Sollte die Menge der aufgezählten Monumente etwas 
zur Verstärkung unserer Argumentation beitragen , so konnten 
wir noch zahlreiche Reliefs aus Marmor oder Terra cotta anfüh- 
ren , könnten uns auch auf viele kleine vollständig bemalte Figu- 
ren aus Terra cotta berufen, aber wir glauben, dafs die ange- 
führten Monumente für unsern Zweck genügen, und daher wen- 
den wir uns zu der letzten Seite unserer Aufgabe, zu der Recht- 
fertigung unserer Ansicht von dem Gesichtspunkt der Ästhetik aus. 
Nach unserm Geschmack, für den wir natürlich keine andere als 



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von Semper, Kugler, Hermann, Letronne, Raoul-Rochette etc. 217 

subjective Geltang ansprechen , sind nur die zwei Extreme mög- 
lich , entweder ausschließende Herrschaft der reinen Forra % mit 
Verschmähung alles Farbenreizes , oder vollkommene Naturnach- 
ahmung. Die von Vielen gewählt« Miltelstrafse aber, vermöge 
der die Naturnachahmung in den Nebentheilen zugegeben, lur 
die Hauptformen aber der Conventionelle Typus der weifsen Farbe 
erhalten wird, scheint uns das Ergebnifs der Unentschiedenheit 
zwischen zwei entgegengesetzten Ansichten, deren jede mit ge- 
bieterischer Gewalt sich geltend macht: die eine durch altes Her- 
kommen, die andere durch zahlreiche Entdeckungen und Zeug- 
nisse der Schriftsteller. Es ist bei der Sculptur ein anderer Fall, 
als bei der Architektur : bei dieser ist es im Verhältnifs zur Na- 
tur gleichgültig , ob die Säulen und das Gebälke weifs oder roth 
oder gelb sind, und darin hat eine nur theilweise Bemalung für % 
das Auge und für den Geschmack nichts Störendes: bei der Statue 
aber bildet die Natürlichkeit in Augen, Haaren, Lippen, beson- 
ders in der Gewandung und Bewaffnung einen unangenehmen 
Contrast mit der gespensterhaften Unnaturlichkeit des weifsen Kor- 
pers : das Abstractionsvermogen des Beschauers wird durch die 
Verbindung von Natürlichkeit und Unnaturlichkeit in Einem und 
demselben Bilde so stark in Anspruch genommen, dafs er sich 
nicht mehr in dem zum GenuPs des Kunstwerkes erforderlichen 
Gleichmaas der Seelenvermogen befindet. Denken wir uns aber 
die weifse Fläche des Marmors von einer sanften Rothe ange- 
haucht , so haben wir auf der einen Seite treue Naturnachahmung, 
auf der andern aber durch die über die Naturerscheinung sich 
erhebende Schönheit des Bildes den für das Kunstwerk erforder- 
lichen Charakter des Ideales. Nehmen wir einen leichten fleisch, 
farbenen Ton, etwa wie bei den Volscischen Reliefs, für das 
Nackte an, so wird es uns auch erklärlich, warum die Spuren 
dieser Färbung sich in so seltenen Beispielen erhalten haben: 
ferner sehen wir dann ein, wie Pausanias an vielen Marmorsta- 
tuen das Material trotz der Bemalung als Parischen , Pentelischen 
und weifsen Stein bezeichnen, wie er VIII, 24, 6. sagen konnte, 
die FlufsgStter werden insgemein aus weifsem Stein gearbeitet, 
die Statuen des Nils aber aus schwarzem : denn einer leicht ge- 
rötheten durchsichtigen Hautfarbe war nur der weifse Marmor 
fähig , den man auch unter der Beraalung leicht erkennen konnte. 
Jedoch wir enthalten uns weiterer Muthmafsungen über die Art 
und Weise dieser Bemalung , denn wir dürfen , wie Herr K. rich- 
tig bemertU, dem griechischen Genius vertrauen, dafs er die 



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228 Schriften ühcr die Wandmalerei der Alten 

herrlichen Schöpfungen seines Meiseis nicht durch ein unpassen- 
des Colorit entstellt haben werde. Das Gewisseste , was wir über 
diese Bemalung aussagen können, ist das, dafs sie schon gewesen 
sey. Um übrigens de/i modernen Ästhetikern , denen zu grofse 
Naturwahrheit Schauder erregt, einen Beweis zu geben, wie leicht 
man sich mit der Verbindung von Plastik und Malerei befreunden 
könne, berufen wir uns auf das L itheil eines durch Geschmack 
und Talent gleich berühmten Künstlers. Herr Professor Wach 
aus Berlin sah in Prag und im Egerlande mehrere bemalte Holz- 
staluen, welche einen Eindruck auf ihn machten, den er durch 
die Verbindung dieser Künste gar nicht geahnet hätte, und er 
spricht die Vcrmuthung aus , dafs vielleicht diese Kunst zu nie ' 
geahnten Resultaten führen konnte (Kunstbl. i833, nr. 2). Wenn 
nun diese von unbekannten Holzschnitzern herrührenden Statuen 
durch die Malerei so tiefen Ausdruck erhalten konnten, was dür- 
fen wir erst von solchen erwarten , bei denen die Kunst eines 
Praxiteles und Nicias in freundlichen Bund getreten,? Am Schlufs 
dieser Untersuchung mögen die Worte Herrn Semper's p. 24 
stehen: »Man protestirt gegen die Wachsfigurengallerien , man 
» spricht von Gefühlen des Grauens, die bei zu grofser Treue in 
» der Plastik erregt werden , man versichert , dafs Farben ange- 
» wendet auf Bildnerei die Formen verwirren und das Auge ver- 
» wohnen müssen. Im Gegentheil , sie entwirren die Formen, 
»denn sie gewähren dem Künstler neue Mittel des Hervorhebens 
»und des Zurücktreibens. Sie bringen das Auge wieder zurück 
»auf den natürlichen Weg des Sehens, den es verloren hat durch 
»die Macht des Abslractionswcsens , das so haarscharf in der 
» Kunst die sichtbaren unzertrennlichen Eigenschaften der Körper, 
»die Farbe von der Form zu trennen weifs , durch jene unse- 
»ligen Principien der Ästhetik, welche das Gebiet der einzel- 
» nen Künste genau umschreiben und keine Streifereien in das 
» benachbarte Feld erlauben. Die Wachsfiguren erregen Grauen. 
»Ganz natürlich, denn nicht von Künstlern, sondern von Markt- 
»schreiern, und was oft dasselbe bedeutet, von Ärzten, wurden 
»hier die wirksamsten Hebel der Kunst gehandhabt. Und gesetzt 
»auch, man könne zu natürlich werden, bleibt nicht selbst bei 
»gemalter Plastik noch immer der Convention die Herrschaft? 
»Convention und Geschmack, das sind die beiden heilsamen Ge- 
ygengewichte schrankenloser Freiheit in der Kunst!« 

Eine andere Streitfrage , welche die Pariser Archäologen seit 
einigen Jahren beschäftigt , betrifft die Bemalung des Inneren der 



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« 

Ton Semper, fingier, Hermann, Lctronne, Raont-Rochette, etc. 229 

Gebäude. Herr Hittorff stellte in dem schon erwähnten Memoire 
über polychrome Architektur in dieser Beziehung die Behauptung 
auf, dafs die Wände der Tempel, Hallen, Propyläen, Pallaste 
und Grabmä'ler in Griechenland zu allen Epochen der Kunst mit 
historischen Gemälden bemalt gewesen scyen , gema'fs einer von 
Ägypten angenommenen Sitte ; derselbe Gebrauch sey für Italien 
durch die ältesten Wandgemälde in Atdea, Lavinium und Caere 
bezeugt, endlich seyen die Mosaiken der ersten Basiliken und die 
Fresken aus der Zeit der Renaissance nichts weiter, als eine 
Fortsetzung dieser Sitte. Gegen diese Theorie erklärte sich Herr 
Raoul Rochette in einer Abhandlung » De la peinture sur mur 
chez les anciens«, die er in das Journal des Savans i833, p. 36i 
— 371, 429 — 440, 486 — 491 einruckte. Er sucht darin die von 
BSttiger in der Archäologie der Malerei aufgestellte Behauptung, 
dafs die Arbeiten der grofsten Meister Griechenlands nicht auf 
der Wand, sondern auf Holz ausgeführt gewesen seyen, zu ?er- 
theidigen und in solcher Ausdehnung geltend zu machen, dafs er 
geradezu ausspricht p. 368: »nous navons ä ma connaissance au- 
cune preuve positive de texistance de peintures historiques executees 
sur mur et appartenant ä la haute antiquite Grecque. Diese Ab- 
handlung gab Herrn G. Hermann Veranlassung zu dem Leipziger 
Oster- Programm von i834 1 worin er mit dem ihm eigenthüm- 
lichen Scharfsinn und vollkommener Unparteilichkeit manche die 
Polychromie der Sculptur und Architektur betreffenden Stellen 
der Alten behandelt und verbessert, im Ganzen aber Herrn R. 
Rochette s Behauptung in ejnigen Punkten beschränkt: doch wid- 
mete er der ganzen Sache nur wenige Seiten: Herr Letronne 
hingegen unternahm es in einer Reihe von sechsundzwanzig an 
Herrn Hittorff gerichteten Briefen, dessen Meinung gegen die ihr 
entgegengestellten Behauptungen zu vertheidigen , und durch den 
gelehrten Apparat, der dem Kunstler abgieng, sicher zu stellen, 
und dies gelang ihm vermöge seiner siegreichen Dialektik zum 
grofsen Theil auf eine so schlagende Weise, dafs man ordentlich 
überrascht war, als Herr Raoul Rochette ein Jahr später mit 
einem grofsen Werke auftrat, worin er seine früher aufgestellte 
Ansicht mit einem wahrhaft glänzenden Apparat von Gelehrsam- 
keit zu halten und in ihrem weitesten Umfange zu begründen 
sucht. 

Da dieser Punkt für die Geschichte der alten Malerei von 
grofser Wichtigkeit ist, so wollen wir es versuchen, unsern Le- 
sern den Stand der Streitfrage vor Augen zu legen, und zu die- 



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S30 Schriften über die Wandmalerei der Alten 

scm Zwecke diejenigen Stellen, von deren Erklärung die Ent- 
scheidung hauptsächlich abhängt, zu prüfen. 

Wir haben von Panänus, dem Bruder oder Bruders Sohn 
des Phidias, zwei unumstößliche Beweise, dafs er auf die Wand 
gemalt habe. Plinius XXXVI , s3 , 55. sagt von ihm : in EHde 
aedes est Minervae, in qua frater Phidiae Panaenus tectorium in- 
duxit lacte et croco subactum, ut ferunt. Es ist zwar hier nicht 
ausdrücklich gesagt , dafs er diese Wand bemalt habe , aber selbst 
Böttiger und R. Rochette müssen dies als Zweck des Überwurfes 
annehmen. Nach Pausanias V, 1 1 , 5. schmückte er die um die 
Statue des Olympischen Jupiters herumlaufende Schutzwehr, die 
in einer Mauer bestand (rponov toIx<op ntnoinpiva)) auf ' drei 
Seiten mit Gemälden. Diese beiden Facta kann Herr Rochette 
nicht leugnen, dennoch aber behauptet er (Journ. de Sav. p. 43 1) , 
man könne daraus nicht mit der mindesten Sicherheit abnehmen , 
dafs diese Art der Malerei bei den Griechen in der schonen Epoche 
der Kunst und durch Künstler ersten Ranges ausgeübt worden 
sey. Das Beispiel des Panänus beweise nur soviel, dafs er bei 
dem thätigen Antbeil, den er an den Arbeiten des Phidias in Elis 
sowie in Athen genommen, es nicht verschmäht habe, die Hand 
an Arbeiten zu legen, die unter der Würde seiner Kunst und 
seines Talents scheinen konnten, dafs er sich aber durch die 
Bande der Verwandtschaft und Freundschaft, die ihn mit Phidias 
verbanden , zu diesen subalternen Arbeiten habe bestimmen las« 
sen. Dafs sich in diesem Haisonnemen t ein Widerstreben , den 
natürlichen Sinn der Worte anzuerkennen, ausdrückt, können 
wir am besten darlhun, wenn wir eine andere ebenso klare Stelle 
vornehmen. Plinius XXXV, 4o. sagt von Pausias : pinxit et 
ipse penicillo parietes Tbespiis cum reficerentur, quondam a Po- 
lygnoto picti. Hier ist von zwei berühmten Malern deutlich aus- 
gesprochen, dafs sie auf die Wand gemalt haben: Bottiger (Ar. 
chäol. der Mal. p. 368) und ü. Rochette (Journ. de Sav. p. 43 i) 
können nicht umhin dies anzuerkennen , doch verrouthet Letzte- 
rer, der Name Polygnot's könne sich durch Unachtsamkeit in die 
Stelle des Plinius eingeschlichen haben. Dagegen bemerkt Herr 
Letronne ganz treffend,, dafs für die Sache damit nichts gewon- 
nen scy; denn wenn Pausias, Zeitgenosse des Apelles, der im 
vierten Jahrhundert v. Chr. blühte, diese Wandgemälde wieder, 
herstellen mufste, so darf man doch immer annehmen, dafs sie 
ein Jahrhundert vorher gemacht seyn mufsten, was mit dem Zeit- 
alter des Polygnot übereinstimmt: und somit ist jedenfalls soviel 



4» 

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?on Seroper, Kogler, Hermann, Lctronne, Raoul-Rochette, etc. 231 

erwiesen, dafs um diese Zeit von irgend einem ausgezeichneten 
Künstler in Tbespiä Wandgemälde ausgeführt worden sind. Dies 
scheint Herrn Röchelte bestimmt zu haben, in seinem neusten 
Werke p. 182 seine eben erwähnte Vermuthung zurückzuneh- 
men, und in diesem Falle ein von Polygnot ausgeführtes Wand- 
gemälde anzuerkennen, aber mit der ausdrucklichen Restriction: 
ce n'est la du reste qu'une exception au Systeme general de la 
peinture grecque, exception unique sans doute dans la vie de 
Polygnote. c Was es mit der einzigen Ausnahme im Leben 
Polygnot's auf sich hat , werden wir später sehen : aber schon 
jetst, wo wir noch an der Schwelle unserer Untersuchung ste- 
hen, müssen wir uns wundern, wie dieser Fall als eine Ausnahme 
von dem allgemeinen System der griechischen Malerei aufgestellt 
werden kann, nachdem wir bereits zwei berühmte Künstlernamen, 
den des Panä'nus und den des Pausias, den einen im Zeitalter 
des Phidias , den andern im Zeitalter des Apelles mit Wandmale- 
rei beschäftigt gefunden haben. Wenn wir trotz dieser Zeug- 
nisse noch immer von einer Tradition des ganzen Alterthums, 
dafs die grofsen Künstler blos auf Holz gemalt haben, sprechen, 
und die Wandmaler verächtlich als Decorateurs der Mauern be- 
zeichnet sehen, so können wir nicht läugnen, dafs wir in die 
Unbefangenheit von Herrn Kochet te Mifstrauen setzen, und füh- 
len uns ebendeswegen zu desto strengerer Prüfung mancher sehr 
specioser Demonstrationen aufgefordert. Kehren wir denn zu 
Polygnot zurück, dessen Kunstübung sich an mehrere der berühm- 
testen Gebäude Griechenlands anschließt, aber am meisten im 
Streite liegt. Der Haupthebel, womit Kottiger und R. Kochelte 
ihr System unterstützen, ist ein Zeugnifs des Synesius über die 
Gemälde^des Polygnot in der Z-rod Hom&q zu Athen. Nachdem 
dieser Biscboff von Cyrene im Jahre 402 n. Chr. Athen besucht 
hatte , so schreibt er unter andern Bemerkungen über seine Reise 
Epist. 54. *al %iiv iv 5 Z^vav i<pi\oo6q>u HotxtAqv, vvv ovxix* 
Ovoav TloixLX^V. O yuy äv^v .tu r xd$ 0 Ol» n) a t, u^tiAtio ' 

innra Ixa'kvoev avxovq im xij ao(pia uei£ov (pgoviiv. Die- 
selbe Angabe wiederholt er noch bestimmter Epist i35: 6 yä$ 
dv^vnaioq xdg aavütaq dftiXexo , iv <*U ^xatfäiTO t^v 
xiyv^v 6 ex Qdoov Jlo'kvyvaxoq. • Diese Stellen sprechen unbe- 
zweifelt von Gemäldeo auf Holz , und wir sind dadurch nicht im 
mindesten befremdet, da beide Zweige der Kunstübung nicht nur 
in Einem Zeitalter, sondern auch bei Einem und demselben Mei- 
ster vereinigt seyn konnten. Darum können wir auch die Art, 



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232 Schriften über die Wandmalerei der Alten _ 

wie Herr Letronne dieses Zeugnifs zu entkräften sucht, nicht 
billigen. Er vermuthet nemlich, die Wandgemälde des Polygnot 
und Micon seyen zu der Zeit des Synesius grofsentheils verschwun- 
den gewesen , und nach und nach durch Gemälde auf Hole , 
welche man an den Wänden aufbieng, ersetzt worden; diese letz- 
teren nun habe der Proconsul weggenommen. Als man aber dem 
Synesius von den weggenommenen Gemälden erzählt habe, so 
habe er dies, voll seiner classischen Erinnerungen, auf die Ge- 
mälde des Polygnot bezogen; oder Synesius konnte bei dem An- 
blick der Mauern , deren Gemälde durch die Länge der Zeit ver- 
bleicht waren, auf die Vermutbung gekommen seyn, sie seyen 
ehemals mit Gemälden behängt gewesen, weil man zu seiner Zeit 
die Hallen mit Tafelgemälden schmückte. Uns fiel bei Lesung 
dieser sophistischen Argumentation mit einiger nähern Beziehung 
auf den Gegenstand unserer Untersuchung der bekannte Vers ein:- 

Iliacos intra moros peccatur et extra. 

Es würde übrigens ungerecht seyn, wenn wir die Gründe, welche 
Herrn Letronne zu seiner Erklärung bewogen, verschweigen woll- 
ten. Alle andere Zeugnisse des Altert Ii ums nemlich lauten so, 
dafs man sie am natürlichsten auf Wandgemälde deuten mufs. 
Plinius XXXV, 35. sagt: hic (sc. Polygnotus) e't Athenis porti- 
cum, quae Poecile vocatur, gratuito (pinxit), cum partem ejus 
Micon mercede pingeret. Lycurg (bei Harpocrat. v. IloXvfvaxos) 
u. Plutarch. Cim. c. 4* sagen ebenso: lloXvyi wt«, — ty^aCe %r,v 
ovoäv TCoolxa. Suidas (v. Heien« i ax-reiix; ) sagt: vattpov 3e 
^oypoKßq&cloa IloixiXq ixXr^rj. Lucian bis accus. §. 18. nennt 
sie xa%dypa(f)o<;. Allein da die Ausdrücke de» Synesius so be- 
stimmt von Tafeln sprechen, so halten wir uns britisch nicht für 
befugt, ein ausdrückliches Zeugnifs mehrern minder bestimmten 
aufzuopfern. Für Aufhängung von Tafelgemälden spricht auch 
der Umstand , dafs diese Halle jedenfalls nicht gleich bei ihrer 
Erbauung mit Gemälden geschmückt wurde , denn sie hiefs ur- 
sprünglich lletaiavdxTeioq , und erhielt erst später nach ihrer 
Ausschmückung mit Gemälden den Namen lloixikrj. Auch die 
Beschreibung des Pausanias I, i5, obwohl an und für sich zu- 
nächst auf Wandgemälde hinweisend, läfst sich mit Tafelgemäl* 
den wohl vereinigen; denn im Vergleich mit den zahlreichen ein- 
zelnen Scenen, aus denen jedes der Gemälde in der Lesche zu 
Delphi bestand, erscheint die Composition sehr einfach. Auf der 
ersten Wand standen die Athenienser in Schlachtordnung gegen 



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V • . * 

von Semper, Kugler, Hermann, Letronne, Raoal-Rochettc, etc. 23ö\ 



die Lacedamonier bei Oenoe. Auf der mittlem Wand , im Fond, 
waren zwei Gegenstande , die Schlacht der Atbenienser mit den 
Amazonen, und darüber die Eroberung von Troja ; dann in zwei 
Scenen : die Griechen , welche so eben Troja erobert haben , und 
die Versammlung der Honige wegen des Frevels, den A)as an 
der Cassandra begangen. Auf der dritten Wand war die Schlacht 
von Marathon in drei Scenen: 1) die Schlacht; 2) die Flucht der 
Barbaren, welche einander in den Sumpf treiben; 3) die phoni- 
ci sehen Schiffe, bei denen die Barbaren Zuflucht suchen. Bei 
dem reliefartigen Charakter, in welchem wir uns diese Gemälde 
zu denken haben, liefsen sich diese drei Scenen wohl auf Einer 
Tafel vereinigen : sollte aber auch jede Scene auf einer besondern 
Tafel dargestellt gewesen seyn , worüber wir nicht disputiren wol- 
len, so ist auch in diesem Fall eine symmetrische Anordnung 
wohl denkbar. Somit haben wir also an der Poecile ein Beispiel, 
dafs Polygnot auf Holz gemalt habe : ein anderes von seiner 
Wandmalerei haben wir früher kennen gelernt, und so können 
wir denn mit vollkommener Unbefangenheit an die Untersuchung 
seiner übrigen Arbeiten gehen. Die Cella im Tempel des The- 
seus war von Micon und Polygnot gemalt. Pausanias I, 17. nennt 
zwar den Namen Polygnot's nicht, aber die Correction iv S^aioq 
ifpej) für iv ©ijaarpw , welche Beinesius und Valckenaer bei Har- 
poeration s. v. üoXryvwTos machten , darf als entschieden ange- 
nommen werden. Ob die Gemälde auf Holz oder auf der Mauer 
ausgeführt gewesen, kann aus den Ausdrucken des Pausanias nicht 
mit Bestimmtheit entschieden werden , doch scheint der Ausdruck 
xov dk TptTot» xmv rot^ov ij ypCHp^ u^ nv^OfxtvoK, et "ktyovaiv 
ov aatfpfc iaxiv mehr auf Mauergemälde hinzuweisen. Doch um 
uns ein bestimmtes Urtheil zu bilden y müssen wir uns an das 
Monument selbst halten, das einer der wenigen Tempel ist, an 
denen die Cella erhalten ist. An den Wänden der Cella sieht 
man noch hie und da mehr oder minder beträchtliche Übcrbleib- . 
sei von Stuk, und auf den nackten Seiten der W T ände bemerkt 
man regelmäfsige Meiseiscbläge , wodurch die Wand rauh ge- 
hauen und zum Festhalten des Stuks taugVich gemacht wurde. 
Die Vermuthung , dafs dieser Stuk zum Behuf der von Pausa- 
nias erwähnten Gemälde aufgetragen worden sey, liegt sehr nahe, 
und wenn O. Müller aus diesem Grund diese Gemälde wirklich 
für Wandmalereien gehalten hat ( Handb. der Kunst-Archäöl. p. 
3io. 5.), so können wir darin mit Herrn Hermann p. i3 und 

» 



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Schriften ober die Wandmalerei der Alten 



Herrn Roche tte p. 1 48 *) so wenig als Herr Letronne eine Leicht- 
fertigkeit (levitas) erkennen: wenigstens würde Herrn Rochelte 
derselbe Vorwarf treffen , wenn er bei dem von Panänus im 
Tempel zu Elis gemachten Anwurf schliefst: »il est manifeste, 
que cet endnit n avait ete* prepare , que pour peindre « (Journ. d. 
Sav. p. 43o). Neuere Notizen hierüber haben unsere beiden Kam- 
pfer durch Fried. Thiersch erhalten, der bei seinem Aufenthalt 
in Griechenland an Ort und Stelle Forschungen angestellt hat, 
and es ist amüsant , zu sehen , wie dieselben Mittheilungen von 
jedem von beiden als Bestätigung seiner Ansicht benützt worden 
•ind. Herr Thiersch bemerkt nemlich einstimmend mit Semper, 
dafs die innere Mauer der Cella einen zehn bis zwölf Kufs hohen 
Sockel aus weifsem Marmor enthalte, darauf folgt eine 1 % Zoll 
zurücktretende Vertiefung, mit Stuk beworfen, auf dem er die 
Gemälde ausgeführt glaubt, und darauf folgt ein etwa drei Fuff 
hoher Fries aus Marmor. Auf der Stukmasse bemerkte Herr 
Thiersch farbenlose Linien , wie bei den Vasen , und diese hält 
er ftir die Umrisse der verschiedenen Gemälde. Von Lochern 
und Nägeln , die zur Befestigung von Holztafeln hätten dienen 
können, bemerkt man keine Spur. Oafs diese Notizen für Herrn 
Letronne's Ansicht sehr günstig sind, springt von selbst in die 
Augen : aber auch Herr Bocbette zieht daraus einen materiellen 
Beweis für sein System, und betrachtet als Zweck dieser Ver- 
tiefung den , um die Holztafeln darin anzubringen ,' die in ihrer 
Hohe und Dicke dieser Vertiefung so genau entsprechen mufs- 
ten , dafs sie keiner Befestigung durch Eisen bedurften. Die Be- 
merkung der Contouren , die ihm Thiersch wohl ebensogut als 
Herr Letronne mitgetbeilt hatte, übergeht er mit Stillschweigen. 
Später aber bekam er ein Zeugnifs von Herrn v. Klenze, das 
noch eben recht kam, um es in der Vorrede p. XII nachtragen 
zu können. Herr v. Klenze liefs auf Bitten von Herrn Bochette 
durch einen unter seiner Direction stehenden Künstler untersu- 
chen, ob sich auf den innern Wänden des Tbeieus-Tempels wirk- 
lich Spuren von Wandgemälden finden : und das Resultat der mit 
Leitern, Lichtern und der scrupulösesten Sorgfalt (»pour ainsi 
dire a la loupe.*) vorgenommenen Untersuchungen war, dafs auf 
keiner der noch übrigen Stukmassen, welche aus christlicher Zeit 
herzustammen scheinen, die mindeste Spur von Farben oder 



*) Wir bemerken hier ein* für allemal, dafs wir im Folgenden das 
gröbere Werk mit der blühen Seitensahl anführen. 

• 1» 



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Vpa Semper, Ktigler, Hermann, Letronne, Rnoul Rochcttc etc. 285 

Umrissen sich finde. Siegreich ruft daher Herr Bochette aas : 
»voilä dooc on fait qui devra desormais etre admis dans la science 
avec lautorite du nom de M. de Klenze, et qui remplacera tant 
d'observations fugitives, de conjectures hasardees , d'inductions 
gratuites ou interessees, auxquelles arait donne Heu le monument 
dont il s'agit.« Wir können in diesem Triumpbgesang nicht 
vollkommen einstimmen: denn was besagt hier die Autorität des 
Herrn ▼. Klenze, der ja die Sache nicht selbst untersucht, son- 
dern durch einen, ohne Zweifel sehr ebrenwerthen , aber unbe- 
kannten Kunstler untersuchen liefs, und nach Paris schrieb, was 
dieser ihm dictirte. Wir haben es also durchaus mit keiner Au- 
torität zu thun, wodurch die von Semper und Fr. Thiersch mit 
Einem Hiebe vernichtet wurde. Da Herrn Klenze's Beauftragter 
ausser Leuten und Lichtern , die auch Thiersch anwendete , noch 
so zu sagen die Luppe brauchte, so wollen wir ihm glauben, 
dafs es mit den Umrissen nichts ist, denn die Erfahrung lehrt, 
dafs die Phantasie der Naturforscher und Archäologen über das, 
was sie finden möchten , leicht eine Illusion machen kann ; neh- 
men wir also an, dafs die Wände ganz weifs seyen, so bleibt 
noch immer die Frage, wozu der Stuk und die nicht bestrittenen 
Meiselhiebe auf der Mauer dienen sollten, wenn man nicht darauf 
malen wollte. Wenn sich aber Herr Bochette p. 147 darauf be- 
ruft, dafs es unbegreiflich sey, wie die Reste der Farben bei 
den Sculpturen am Äussern der Cella sich haben erhalten können, 
während die Gemälde im Innern der Cella ganz verschwunden 
seyen, und im Bewufstseyn dieses schlagenden Argumentes sagt, 
dafs ihm darauf noch niemand geantwortet habe, ohne Zweifel 
weil man nicht habe antworten können , so hat er S. 99 in Herrn 
Letronne's Schrift ubersehen, wo der einfache Grund angegeben 
ward , dafs der Tempel frühzeitig in eine christliche Kirche ver- 
wandelt worden sey , dafs darum mit dem Act der Weihe die 
profanen Bilder ausgekratzt oder mit Farbe uberstrichen werden 
mufsten : und um diese vollkommen befriedigende Antwort zu 
geben hat man nicht einmal nothig, in die Mysterien der Archäo- 
logie eingeweiht zu seyn. Man sage einem von der Mutter Natur 
nur mäfsig bedachten Laien, der Theseus-Tempel sey zur Kirche 
des heiligen Georgius verwandelt worden, und er wird die Con- 
clusion von selbst ziehen , dafs man im Innern der Kirche die 
heidnischen Gemälde vernichtete, hingegen die mit dem Äussern 
des Gebäudes eng verwachsenen Sculpturen des Frieses und der 
Mctopen unangetastet liefs, um das Gebäude nicht zu beschädigen. 



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23G 



Schriften über die Wandmalerei der Alten 



Dem Gesagten gemäfs glauben wir denn noch immer mit über- 
wiegender Wahrscheinlichkeit annehmen zu dürfen , dafs die Ge- 
mälde Polygnot's and Micon's auf der Wand ausgeführt waren. 

Schreiten wir nun weiter zu den Propyläen. Pausanias sagt 
I f 23, 6.: toxi 3k iv dpiaxcpa %&v n^onvXaicov otxijpa iypv 
ypafas, bnooaic, yi ui\ xaSeot^xev 6 %povoq alxioq ÖKpavtaiv 
tlvai (nach Hermanns Emendation p. 19). In diesen Worten ist 
nicht bestimmt gesagt , ob die Gemälde auf Holz oder Wand 
gemalt gewesen , und Herr Rochette p. 176 hat ganz Recht, dafs 
ofxi?pa t%ov ypa(f>ä<; nichts weiter heifst, als ein Haus, das Ge- 
mälde enthält; wir glauben ferner, dafs verschiedene unter den 
angeführten Gemälden, namentlich die Portraits von Alcibiades, 
dem Dichter Musäus und einem Athleten , auf Holz gemalt wa- 
ren, was auch Herr Letronne nicht leugnet: dafs aber auch 
Wandgemälde darunter gewesen, finden wir hauptsächlich in dem 
Beisatz ausgedrückt: önoaaii f* n>; xa&caTqxey 6 %f6voq atxiog 
atyavtoiv ilvai : denn das Verbleichen und allmählige Verschwin- 
den trifft doch hauptsächlich die Wandgemälde, und der Aus- 
druck dfivtyd ypafii Paus. VII, a5, 7. war für Herrn Rochette 
selbst (Journ. d. Sav. p. 369) ein Bestimmungsgrund, jenes Ge- 
mälde für Wandgemälde zu halten. Herr Hermann p. 19 schärft 
diesen Beweis durch passende Anziehung von Paus. X, 38, 9, 
wo von einem Tempel der Diana gesagt wird: y^üUpai dl inl 
tcov Tot'/Giv c^txjjXot TS r t aav vnb xov %povov xut ovükv ext 
iXeLntto ic Se'av gcvt<dv. Wir wundern uns, dafs Herr Letronne 
diesen Beweis ganz übergangen hat: von Bedeutung aber ist al- 
lerdings seine vom jetzigen Zustand des Monumentes entnommene 
Bemerkung, dafs sich keine Spuren von Nägeln in den Mauern 
befinden, dafs dagegen die h. z. T. nackten Mauern mit dem 
Meisel gepickt sind, ohne Zweifel zu demselben Zweck, wie in 
dem Tempel des Theseus. Herr Rochette glaubt nun aber jeden 
Gedanken an Wandgemälde in den Propyläen dadurch zu unter- 
drücken, dafs er aus Harpocration v. Ä«/n« s das Werk des Po- 
lemon ne^l xmv iv Hponv'kaioi<; mvdxov citirt. Wir geben 
Herrn Rochette zu, dafs nlva§ nur von Gemälden auf Holz ge- 
braucht werde, glauben aber darum doch nicht, dafs aus diesem 
Titel gefolgert werden dürfe, in den Propyläen seyen nur Ge- 
mälde auf Holz gewesen, so wenig wir aus einem andern Werk 
desselben Schriftstellers ne?l xmv iv £txvct>t mvdx&v folgern 
mochten , dafs in Sicyon blos Gemälde auf Holz existirt haben , 
während wir bereits den Pausias aus Sicyon mit Wandmalerei be- 



» 

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tod Semper, Kngler, Hermann, Lctronne, Raonl Rochette etc. 237 

schäftigt gefanden haben. Dieser Polemon ist ganz in gleichem 
Falle mit Herrn Rochette. Dieser betitelte sein bedeutendstes Werk 
* Monuments inediis « , obwohl wir uns manches schon früher be- 
kannten Monuments daraus entsinnen : allein wir sind weit ent- 
fernt, den gelehrten Herausgeber darum zu tadeln, denn er ban- 
delte nach dem Grundsatz: denominatio fit a parte potiori: eben 
so machte es auch der alte Polemon mit dem Titel seiner beiden 
genannten Werke. Nun wäre noch immer die Frage übrig, ob 
unter diesen Wandgemälden gerade die von Polygnot befafst ge- 
wesen: dies wollen wir nicht bestimmt behaupten, aber dafs man 
bei den verblichenen Gemälden zunächst an die ältesten denkt, 
wird man uns nicht bestreiten: die ältesten waren aber wohl die 
des Polygnot. 

Betrachten wir ferner den Tempel der Minerva Area zu Pla- 
tää. Von ihm sagt Pausanias IX, 4, 2: yqaepai de tiaiv iv 1$ 
vaq, Ylo"kvyvwxov plv % Ob*voo%v$ tovq fifijtfTijpas xaTCip^aapl- 
vo,, 'Ovare? tH A (1/ .• • • int 0j;£a£ 7] npoxeoa orpareta • ar- 
Tai filv d*ij ticriv Ini tov npovdov tav toi^gjv al yoacpaL, 
Wenn Letronne diesen letzten Ausdruck nach dem Vorgang von 
Winckelmann, Hirt und Stieglitz von Wandgemälden versteht, 
so folgt er gewifs dem naturlichen Sinn der Worte, während es 
ganz gezwungen lautet, wenn Herr Rochette p. 190 den Aus- 
druck youKftaX ln\ tov npovdov täv toLx<ov als Gegensatz von 
den Gemälden, welche an Säulen aufgehängt waren, 0% vlonivd- 
xta, betrachtet; denn die biebei vorausgesetzte Erklärung von 
aTvXomvaxta ist bis jetzt noch nichts weiter, als eine Conjek- 
tur von Herrn Rochette: gesetzt aber auch, sie sey richtig, so 
kennt wenigstens Pausanias keine Gemälde , welche an Säulen 
hingen: in keinem Fall aber hatte er notbig , irgend einem seiner 
Deser zu bemerken , dafs Odysseus der die Freyer erlegt hat von 
Polygnot , und der erste Feidzug der Argiver gegen Theben von 
Onatas nicht an den Säulen gehangen haben, denn dies waren 
ohne Zweifel grofse Gemälde, und vermöge des Alters ihrer 
Meister, auch wenn sie auf Holz waren, zu einer Zeit in dem 
Tempel, wo man den Raum noch nicht an den Säulen suchen 
mufste. 

Noch knüpft sich der Name Polygnots an eines der berühm- 
testen Heiligthümer Griechenlands, den Tempel zu Delphi, was 
unsere beiden Kämpfer übersehen haben. Herr Rochette spricht 
von diesem Tempel p. 110 mit der Bemerkung, dafs wenn Be- 
raalung der Tempel üblich gewesen wäre, dies bei diesem Tempel 



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238 Schriften über die Wandmalerei der Alten 

vermöge seiner Bedeutung und Berühmtheit zu erwarten wäre. 
Dafs aber dies nicht der Fall gewesen, ist ihm so ausgemacht, 
dafs er sogar seinem Gegner eine für sein System günstige Stelle, 
die ihm entgangen sey n soll, bezeichnet. Es ist dies Plin. XXXV, 
4o: Aristoclidcs, qui pinxit aedera A pol Jinis Delphis. Es scheint 
aber im Gegentheil Herrn Rochette entgangen zu seyn , dafs diese 
Stelle bei Letronne p. 114 citirt, und aus derselben der Scblufs 
gezogen ist, dafs auch in diesem Tempel die Wände bemalt ge- 
wesen seyen. Ehe wir nun beweisen, dafs dies durch Po- 
lygnot in Verbindung mit Aristoclides geschehen sey, 
müssen wir vorher eine andere Argumentation Herrn Rochette's 
zurückweisen. Die mögliche Voraussetzung von Wandgemälden 
in diesem Tempel sucht er nemlich dadurch abzuschneiden, dafs 
nach Euripides Jon 189 — 21 5 im Pronaos des Delphischen Tem- 
pels Gemälde existirt haben , und dafs die geschicktesten Kritiker 
mit Inbegriff von Bockh (Graec. tragoed. p. 80 sqq.) nur darüber 
verschiedener Meinung seyen, ob Bilder auf Leinwand oder Holz, 
mit andern Worten , ob Gemälde oder Tapeten gemeint seyen. 
Was soll nun hier die Autorität der geschicktesten Kritiker be- 
sagen ? Niemand prägt es uns öfter ein, als Herr Röchelte, 
welch grofser Unterschied zwischen einem guten Kritiker und 
einem tüchtigen Archäologen sey. Im vorliegenden Fall, wo der 
Text unverdorben ist, Konnte also nur die Autorität der geschick- 
testen Archäologen Geltung haben: solche kennen wir aber unter 
den Bearbeitern des Euripides nicht, und es ist wahre Illusion, 
wenn Böckh wegen seiner jetzt allgemein anerkannten Celebrität 
uns als eine alles weitere Forschen abschneidende Autorität gel- 
ten soll , wegen eines ganz gelegenheitlichen Ausspruchs in einer 
Schrift, die er im Jahr 1808 als Jungling schrieb. Diese Auto- 
ritäten erlaubten also ebensowohl an eine dritte Art von Gemäl- 
den , auf der Wand , zu denken , wie es von dem Tempel der 
Minerva zu Platää heilst: avrai [xlv #17 eiaiv inl tob hqovolov 
räv Toi%G)v a't ypacpal (Paus. IX, 4 1 2 )> Allein ein oberfläch- 
licher Anblick der Stelle belehrt uns , dafs gar nicht von Gemäl- 
den, sondern von Metopen die Rede ist. Man sehe gleich v. i85: 

ovx tv ral( £a&cau$ 'Adqvcuc 

ivxtovt; ijuov avXal 

Sccdv UOVOV X. T. X. 

Besonders treffend aber ist v. ao5: 

axtjm x).6vov iv »vv^aloi 
"Kaiv ata 1 ytyuw&v. 



Gou£ 



ron Semper, Kogler, Hermann, Le trenne, Raoul- Röchelte etc. 239 

Wir fragen, wo kann eine den Giganten Enkeladus erschlagende 
Pallas iv n x v y alo i Xa Iva tot dargestellt seyn , als in den 
Metopen. Besonders interessant ist, dafs gleich die erste v. 190 
— 199 geschilderte Gruppe, Herkules und Jolaus, die Hyder er- 
legend unter den Metopen an der rordern Seite des Theseus- 
Tempels Torkommt. Dieselbe Ansicht über diese Stelle finden 
wir bei Brondsted Reisen u. Unters, in Griechenland B. 2. p. i5i. 
Für unsern Zweck ergiebt sich aas dem (gesagten so viel, dafs 
diese Stelle gar nicht Jacher gehört. Mit dieser Beweisstelle Ter* 
liert nun auch eine weitere p. 112 geführte Argumentation einen 
grofsen Theil ihrer Beweiskraft. Herr Rochette macht nemlich 
darauf aufmerksam, dafs Pausanias , welcher eine so detaillirte 
Beschreibung vom Tempel zu Delphi liefere, und nicht nur die 
Sculpturen der Frontons und die an dem Fries aufgehängten 
goldnen Schilde beschreibe (X, 19, 3), sondern auch von dem 
Pronaos so viele specielle Notizen gebe — dafs Pausanias, sage 
ich , der hier befindlichen Gemälde gar nicht erwähne. Daraus 
macht er den Schlufs, dafs diese Gemälde, welche sich früher 
hier befanden , von ihm nicht mehr angetroffen , folglich im Laufe 
der zahlreichen Kunstplünderungen entfuhrt worden, folglich — 
auf Holz geraalt gewesen seyen. Dieser Schlufs ist nun zwar in 
den Pronaos beseits beseitigt, da er aber auch auf 
den übrigen Tempel angewendet werden kann, so sehen wir 
uns doch veranlafst, in Bezug auf das Stillschweigen des Pausa- 
nias ein- für allemal unsere Erklärung abzugeben. Wenn bei 
diesem Schriftsteller das argumentum ex silentio gelten soll , so 
bin ich erbütig , Herrn Rochette zu beweisen , dafs Lord Elgin 
ein römischer Proconsul vor dem Zeitalter der Antonine gewesen 
sey. Es ist notorisch , dafs Lord Elgin die Metopen und den Fries 
vom Parthenon entführte; Pausanias erwähnt dieser Bildwerke 
nicht, was er gewifs gethan , wenn er sie noch angetroffen hätte, 
da sie zum wenigsten ebenso interessant waren, als die Gemälde 
des Aristoclides , eines Malers zweiten Ranges, im Tempel zu 
Delphi; also folgt ganz consequenterweise , dafs sie schon damals 
entfuhrt waren, und weiter, dafs der Entfuhrer , Lord Elgin, vor 
des Pausanias Zeit gelebt habe. Ebenso verhält es sich mit dem 
Theseus-Tempel. Pausanias I, 17, 2. spricht nur von den Ge- 
mälden darin, und doch wissen wir wenige Dinge in der Archäo- 
logie so gewifs , als dafs zu seiner Zeit die Metopen und der Friea 
vorhanden waren: dafs wir aber die ypofai, welche Pausanias 
erwähnt, von bemalten Reliefs verstehen sollen, wie man schon 



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240 Schriften über die Wandmalerei der Alten. 

< 

vorgeschlagen hat, wird uns hoffentlich Niemand zumutben. Nach 
diesen unvermeidlichen Digressionen nehmen wir unsern oben 
aufgestellten Satz wieder auf, dafs in dem Delphischen Tempel 
die Wände von Polygnot in Verbindung mit Aristoclides gemalt 
worden seyen. Plinius XXXV, 35. sagt von Polygnot: hic Del- 
phis aedem pinxit, was Herr Letronne p. 190 auf die Lesche be- 
zieht. Herr Bochette hat dieses Verfahren nicht nur nicht ver- 
bessert, sondern sogar p. 180 selbst adoptirt. Nun ist aber be- 
kannt, dafs aedes oder aedis im Singula»- nie von einem gewöhn- 
lichen Gebäude, sondern blos von einem Tempel gebraucht wird. 
Wir setzen die Worte des deutschen Herausgebers von Forcel- 
lini's Lexicon bei: singulari quidem numero, si nude ponitur, 
Semper signiflcat domum D cor um , gr. vabq s. templura, was die 
von Forcellini gesammelten Stellen bestätigen. Dennoch kann 
aedes nie auf ein profanes Gebäude, nie eine Lesche, bezogen 
werden , und wir haben in den Worten des Plinius nichts ande- 
res zu finden, als die lateinische Übersetzung seines griechischen 
Originals: rbv iv Ae\(pol<; vabv xotx^pa^e, and somit ist dies 
gleichbedeutend mit XXXV, 40. Aristoclides, qui pinxit aedem 
Apollinis Delphis. Auf diese Weise haben wir durch eine un- 
anfechtbare Exegese die Thätiglteit Polygnot's für den Delphi- 
schen Tempel gewonnen, und somit waren denn, ganz entspre- 
chend der Idee, welche sich Herr Rochette von der Bedeutung 
und Berühmtheit dieses Heiligthums macht, zwei Hünstier mit 
der Ausmalung desselben beschäftigt, einer ersten Banges, Po- 
lygnot, der andere zweiten Banges (primis proximus Plin. 1. 1.), 
Aristoclides, den auch Herr Letronne p. 114 als Zeitgenossen 
Polygnot's annimmt, obwohl ihm unsere Combination fremd ist. 
Wir finden dies um so passender, weil es befremden konnte } 
wenn der durch seine Arbeiten in der Lesche zu Delphi so be- 
rühmte Künstler nicht auch mit Bemalung des doch ungleich 
wichtigeren Tempels beauftragt worden wäre. 

(Die Fortittzung folgt.) 



« 

1 



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N°. 16. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

-==—-== U I 

. - • 

Schriften über die Malerei der Alten von Semper, Rugler, 
Hermann, Letronne, Raoid-Rochette , Wiegmann und John. 

(Fortsetzung. ) 

Wir fühlen, dafs wir ans schon zu lange bei dem Delphi- 
schen Tempel verweilt haben, aber noch ist ans ein letzter Ein- 
wurf Herrn Rochette's übrig, den er für den schlagendsten an- 
sieht. Es war nein lieh nach Polemon bei Athenäas XIII, 84. p. 
606 in Delphi eine eigene Gemäldegallerie, ein mvdxov S^ar- 
f>o v Herr Rochette denkt sich die Sache so : in dem Tempel 
zu Delphi sey eine eigene Kapelle (edicule particulier) gewesen , 
worin sich unter andern Kunstwerken auch eine Gemäldegallerie 
befunden habe: und dafs diese Gemälde auf Holz gewesen seyen, 
schliefst er sowohl aus dem Ausdruck nivaxeq, als auch daraas, 
dafs diese Thesauren nichts anderes als Weihgeschenkc enthiel- 
ten. -Aber wir mochten vor Allem wissen, woher Herr Rochette 
weifs, dafs dieser Thesaurus in dem Tempel zu Delphi war. In 
Olympia war in der Altis ein eigener Unterbau aus Poros-Stein , , 
auf dem die Thesauren erbaut waren. Pausanias VI, 19, 1. sagt: 
taxt dk Xt&ov itopLvov xp^nlq iv iy "AXtei, npbq äpxrov xov 
'H(»atot>, xard vfixov <tk avf^s nap^xtt xb Kpöviov. inl Tavrriq 
Tjfo xptinldoq tioiv oi Sr;o «r^oi, xada xal iv AfX<ßol{ 
'EXXnvav xivhq e n 0 1 r\ a * v t 0 Tcp 'Ait6\\<ov 1 Ä^aav- 
Qovq. Man lese nur die Beschreibung, welche Pausanias Ton 
den Thesauren der Sikyonier, Kartbaginenser , Epidamnier, Syba- 
riten, Kyrenäer, Selinuntier, Metopontiner , Megarenser und Ge- 
loer macht , und man wird leicht begreifen , dafs diese in der 
Cella des gröfsten antiken Tempels nicht Raum gehabt haben 
konnten. Ebenso war es in Delphi, wo nach Herrn Rochette's 
eigener Bemerkung die meisten griechischen Städte und Volker 
ihre eigenen Thesauren geweiht hatten, und demgemäfs scheint 
es ans mehr als wahrscheinlich, dafs dieser mvdxQv ^nuav^bq 
ein in der Reihe der übrigen Thesauren stehendes, von dem 
Tempel unabhängiges Gebäude gewesen sey. Polemon 1. 1. sagt 
auch nichts weiter, als: iv dtX(pol<; iv nivdxav Srjcratro«. Setzen 
wir aber auch den Fall, dafs dieser mvdnav ^noavobq eine im 
XXX. Jahrg. *. Heft. 16 



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Mi Schriften über die Wandmalerei derlAlten , 



Tempel befindliche aedicula gewesen sey, mit weichem Recht 
konnte daraus geschlossen werden, das die Gemälde des Polygnot 
und Aristoclides nicht auf der Wand gewesen seyen? Mit dem- 
selben Rechte konnten wir schliefsen: weil in der Kirche des heil. 
Franciscus in Assisi am Hauptaltar und an den Seitenaltären Ge- 
mälde auf Leinwand und auf Holz sind , so können in dieser Kir- 
che keine Frescogemälde seyn , oder umgekehrt : weil in der 
Kirche del Carmine zu Florenz eine der Kapellen von Masaccio 
a fresco gemalt ist, so können in dieser Kirche keine Gemälde 
auf Leinwand seyn. Doch wir sehen voraus, Herr Röchelte, der 
seinen Gegnern so oft vorwirft, dafs sie ihre in den Kirchen, 
Klöstern und Pallästen Italiens gebildeten Ideen auf das griechi- 
sche Alterthum übertragen, wird uns solche Analogien nicht gel- 
ten lassen. Dies veranlafst uns, hier eine Bemerkung auszuspre- 
chen, die uns bei Lesung von Herrn Rochette's Werk mehr als 
einmal aufgestofsen ist« G. Hermann nennt auf der ersten Seite 
seines Programms ebenso einfach als wahr drei Quellen, aus de- 
nen die Archäologie zu schöpfen bat: ipsorum contemplatio su- 
perstitum monumentorura ; testimonia literarum, indagatio eorum 
quae rei eujusque natura vel fert vel poscit. Hätte Herr Rochette 
der dritten dieser Quellen , die ihm ebensogut bekannt ist, als die 
zwei ersteren, mehr Rücksicht geschenkt, er wurde diejenigen 
Behauptungen , welche die Grundpfeiler seines Systems ausma- 
chen , um ein Bedeutendes ermä'fsigt haben. Denn seine Argu- 
mentation ist ohngefahr immer diese: wir wissen von Polygnot, 
Zeuxis und Protogenes, dafs sie auf Holz gemalt haben, folglich 
müssen sie das immer gethan haben ; wir wissen , dafs im Tempel 
zu Delphi eine eigene aedicula mit Holzgemälden war, folglich 
können die Wände nicht bemalt gewesen seyn; die Römer ent- 
führten drei Jahrhunderte lang aus Griechenland die schönsten 
Gemälde, diese waren alle auf Holz, folglich gab es keine (histo- 
rische) Gemälde auf den Wänden. Vor solchen Schlüssen wurde 
er bewahrt worden seyn, wenn er den so naturlich sich darbie- 
tenden Analogien der neuem Kunst einigen Werth beigelegt hätte. 
Wir können ebenso sagen, seit drei Jahrhunderten werden Ge- 
mälde aus Italien ausgeführt , und alle sind auf Leinwand , aber 
Niemand wird daraus schliefsen wollen, dafs es darum in Italien 
kerne Wandgemälde gebe. Ebensowenig wird es Jemand bet- 
gehen zu leugnen, die Stanzen im Vatican, die berühmte Kuppel 
in Parma, oder die Aurora im Pallast Rospigliosi seyen nicht von 
Rafael, Correggio oder Guido Reni, weil diese Meister in über- 



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▼on Semper, Kngler, Hermann, Letronne, Raoul- Rochette, de. 243 

wiegender Mehrzahl auf Leinwand gemalt haben. Solche Ana- 
logien neben gewissenhafter Prüfung der alten Zeugnisse zu Ra- 
the zu ziehen, halten wir sogar nicht unter der Würde des Ar- 
chäologen , dafs wir vielmehr glauben , der klarsehende Alter* 
thumsforscher wird ebensoviele Ähnlichkeiten als Verschieden- 
heiten zwischen der alten und der neuen Welt finden: ein Punkt, 
den gerade der jungst verschiedene B5ttiger, dessen Manen Herr 
Bochette sein W 7 erk ehrfurchtsvoll weiht, mit so glücklichem 
Erfolg bei allen seinen Forschungen hervorgehoben hat. Die 
Rucksicht auf die jedem Zweig der Runstübung eigentümliche 
Art und Weise wird uns wohl auch am sichersten leiten , um zu 
bestimmen, welcher Art die Gemälde Polygnot's in der Lesche 
zu Delphi gewesen seyen. Bekanntlich feierte dieser Meister in 
den zwei grofsen Gemälden , mit denen er die Seitenwände die- 
ser Halle bedeckte , den Triumph seiner Kunst. Auf der einen 
Seite war die Eroberung und Zerstörung Troja's, auf der andern 
der Besuch des Ulysses in der Unterwelt dargestellt. Über die 
Art dieser Gemälde haben wir keine bestimmte Angabe, denn 
die Stelle des Plinius : hic Delphis aedem pinxit , haben wir be- 
reits -als nicht hierher gehörig beseitigt; somit sind wir allein aaf 
Pansanias verwiesen. Dieser sagt X, 25, i: vnkp t^v Kaa* 
awn'ili iariv oix^a y^arpä<; l%ov tc5v HoXvyv^xov , ivd^fia 
u£» KviJtov, xaXeira* 91 vnb AeX^rav Xia^jj. Herr Rochette 
behält die alte Lesart ava&tuaxa bei, welche seinem System 
gunstiger ist : doch halten wir dies nicht für absichtliche Ignori- 
,rung der richtigen Lesart, denn wir glauben auch in sonstigen 
Citaten bemerkt zu haben, dafs er sich der Siebelis'schen Aus- 
gabe bedient. Dafs aber dvdSjjfia, was von Bekker aus Codex 
Paris. 1410 aufgenommen und vom Codex Angelicus bestätigt ist, 
die richtige Lesart sey, erhellt schon aus den Correlativ-Partikeln 
Avd^ijua per KvtfKoi», xaXstTot* 9 h i-nh A. Xea^i?. Es ist aber 
auch dem Sprachgebrauch des Pausanias ganz angemessen, der 
avdSr^ua und *vui&ivai nicht nur von mobilen Weihgeschen- 
ifen gebraucht, sondern auch von Gebäuden, Tempeln, Thesauren, 
Hallen , die einer Gottheit zu Ehren aufgeführt werden. Da Herr 
Rochette darauf, dafs die iva^i;uaTa immer von mobilen Gegen- 
ständen, also in Beziehung auf Gemälde von Holzgemälden ver- 
standen werden mufsten, eine grofse Anzahl seiner Beweise grün- 
det, so müssen wir unsere Behauptung durch evidente Belege 
Sichern. Der Thesaurus der Sikyonier in Olympia heifst VI, 19, «. 
Mrpoytx; ipdbftpa Ibid. §. 5. 6 dl rpiroq tcov $no<*vp*>P *«* 



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144 Schriften aber die Wandmalerei der Alten 

& rixagroq &vä$npd iaTtv 'Emdavplov. §. 10. heifst es: IV 
Xft)G)V dl rJtra^ua t6v TS Syjaar^öv Kai tgc a^aXuaxa tlvat 

ra at'Tw Xs')ft to e7n'/oapua j dasselbe, was §. 9 so ausge- 
drückt ist: Meya^elq Ith — £>7;aarp6v TS ( ; ixoJopi;aavTO xal 
dya^ifftara av&eaav Ii tov S^^aavpov. Der Tempel, den Dio- 
medes in Trözen errichtete, heifst II, 32, 2: Atoprtfovc dva^xa. 
Somit ist der Beweis , den Herr Bochette aus seiner Lesart a va- 
^fiaxa für Gemälde auf Holz zieht, entkräftet, der Ausdruck 
oUr^a ygafäi txov entscheidet für keine Ton beiden Ansichten, 
und es bleibt uns nichts übrig , als aus Gründen der Wahrschein- 
lichkeit 'uns für eine der beiden Ansichten zu entscheiden. Man 
denke sich zwei grofse Compositionen , jede aus siebzehn einzel- 
nen , in drei Reihen über einander geordneten Gruppen bestehend, 
über eine ganze Wand ausgebreitet: welcher Zweck, welcher 
Voitheil liefse sich vermuthen, diese auf hölzernen Tafeln auszu- 
führen ? an Rahmen , welche jede einzelne Tafel umgeben hätten, 
läfst sich bei dem engen Zusammenhang der einzelnen Gruppen 
nicht denken : man hätte wohl die ganze Wand mit Brettern be- 
decken müssen, auf die der Künstler nur an Ort und Stelle hätte 
malen können, da er stets die Disposition des Ganzen im Auge 
haben mufste. Alle diese Umständlichkeiten hätten nur dann ei- 
nen vernünftigen Grund, wenn man die Wandmalerei nicht kannte: 
da es aber notorisch ist, dafs sie nicht nur bekannt, sondern na- 
mentlich von Polygnot ausgeübt wurde, so scheint uns die zu- 
sammenhängende Fläche der Wand um so viel geeigneter zur 
Ausführung einer solchen organisch gegliederten Compositum, 
dafs wir es als feste historische Überzeugung aussprechen, dafs 
wir hier Wandgemälde zu erblicken haben; dabei wissen wir aber 
gar wohl, dafs dies beim Mangel an urkundlichen Beweisen nur 
subjektiven Werth bat. 

Nach den bisher behandelten Beispielen können wir schon 
zum Voraus annehmen , dafs Herr Bochette auch an andern Stel- 
len , wo in unbestimmten Ausdrücken von Gemälden die Rede 
ist, Gemälde auf Holz erblicken werde, z. B. in Athen im Tem- 
pel der Dioskoren, wo Polygnot und Myron malten (Pausan. I, 
18, 1), im Porticus des Ceramicus (I, 3, 3), im Tempel des 
Dionysos (I, 20, 3), im Tempel des Äskulap (I, 21, 4), im 
Erechtbeum (I, 26, 5). Uns machen nicht sowohl Ausdrücke, 
wie inl dh Ttp Toi^cp tö nt^av %i\aivq laxi yty^a^tvoq (1$ 
3, 3), oder yoayui dk inl räv zoiyav (1, 26, 5), geneigt, an 
Wandgemälde zu denken, als eine allgemeine Betrachtung, die 



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vnn Cpmimr knolfr Hermann I.rtrnmif» llnnn I- KnrhpHr nfr f4ft 

Sich ans aus Veranlassung der vielen Tafelgemälde , welche Pau- 
aanias in Griechenland nach Herrn Rochette's System vorfand, 
aufgedrungen hat Denn lesen wir die Geschichte der Kunst- 
plünderungen in Griechenland, wie sie Volhcl, Siebter, Jacobs 
und nun auch Herr Rochette p. 46 — 86 beschrieben haben, und 
betrachten wir das mehrere Jahrhunderte hindurch fortgesetzte 
System der römischen Statthalter, so können wir uns nicht genug 
wundern, wie Pausanias noch so viele Gemälde gerade von den 
berühmtesten Meistern angetroffen haben solle. Plinius (XXXV, 
35) kannte in Rom nur Ein Gemälde von Polygnot, welches Hr. 
Letronne p. i85 ohne zureichenden Grund für ein von der Wand 
ausgesägtes Wandgemälde hält; ist es nicht auffallend, dafs man 
die übrigen Gemälde dieses berühmten Meisters im Theseustem- 
pel, in den Propyläen, in der Poecile, im Tempel der I Positu- 
ren, in Platää unangetastet liefs, ja dafs aus der Lüsche in Del- 
phi, aus welchem Orte Nero allein fünfhundert Statuen entführen 
liefs, auch nicht eine einzige Tafel von den vielen, aus denen 
die zwei grofsen Gemälde zusammengesetzt waren, weggekommen 
seyn soll? und dies aus einem Gebäude, wo nieht einmal die 
Scheu vor der Heiligkeit des Ortes den Raublustigen zurück- 
schrecken koonte. Wir müssen gestehen, dafs der Schutz, wel- 
chen der Genius der Kunst dieser Classe von Kunstwerken leistete, 
an das Wunderbare grenzt. Vielleicht könnte es scheinen , als 
stehe Herr Rochette mit sich selbst in einem kleinen Widerspruch ; 
denn wenn er p. 62 erzählt, dafs Nero den Acratus und Carinus 
nach Griechenland und Asien geschickt habe, »pour en enlever 
iout ce qui pouvaii y rester encore de stalues et des peintures pre- 
cieuses,« so folgt daraus nach der streng buchstäblichen Deutung , 
welche er selbst bei den Ausdrücken anderer Schriftsteller gel- 
tend macht , dafs nach dieser Sendung von kostbaren Statuen und 
Gemälden nichts mehr übrig gewesen sey: und daraus würde sich 
nach gerade für unsre Ansicht ergeben, dafs diejenigen Gemälde, 
welche sich nachher noch vorfanden, nicht transportabel, d. h. 
auf die Mauer gemalt gewesen seyen. Wollen wir aber auch den 
Ausdruck in dem weiteren Sinne, in dem ihn der Verfasser ver- 
stand, aufTassen, so soH dem ganzen Zusammenhange der Ab- 
handlung nach jedenfalls soviel ansgesagt werden, dafs nach die- 
ser Plünderung Gemälde auf Holz äusserst selten gewesen seyen. 
Dies sind sie aber nach Herrn Roehette's System so gar nicht, 
dafs vielmehr sämmtliche Arbeiten eines sehr berühmten Meisters 
bis auf eine einzige , welche nach Rom entführt worden war , an 



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246 



Schriften ober die Wandmalerei der Alten 



ihren ursprunglichen Bestimmungsorten erhalten waren. Indem 
auf diese Weise Herr Rochette durch die Geschichte der Kunst- 
Plünderungen den materiellen Beweis liefern wollte, dafs alle 
Gemälde der berühmtesten Meister auf Holz gewesen seyen, hat 
er zugleich einen Wahrscheinlichkeitsbeweis gefuhrt, dafs das, 
was nicht entfuhrt wurde, nicht entführbar war, d. h. auf der 
Wand fest safs. Auf der andern Seite hieng es mit diesem Sy- 
stem der Kunst nlünderung ganz natürlich zusammen, dafs sich in 
den Pinakotheken Italiens wo nicht ausschließend , doch grüfsten- 
t hei Ii Wandgemälde befanden. Wenn sich daher Herr Rochette 
p. 160 sqq. auf die von Philostratus dem Älteren beschriebene 
Geranldegallerie in Neapel beruft, und aus dem Ausdruck (im 
Prooemium p. 4 cd. Jacobs) fiaXtaxa dk i;v%a (sc. % axoä) 
fQacyaiq , ev^ppoajit'i u>v «kij nivdxuv , der unleugbar von Ta- 
felgemälden, die in die Wand eingelassen waren, zu verstehen 
ist, schliefst, dafs dies in den Hallen und Leschen Griechenlands 
ebenso gewesen sey, so müssen wir uns wundern, wie er die 
Verschiedenheit der Zeit Verhältnisse so ganz übersehen konnte. 
In der Zeit, wo Philostratus schrieb, war die historische Malerei 
so zu sagen verloschen. Kennen wir doch aas dem ganzen Zeit- 
raum von den Antoninen bis zur Gründung Constautitiopels nur 
zwei Hünstiernamen: den Eumelus, von dem eine Helena auf 
dem Forum zu Rom zu sehen war (Pbilostr. Vit Soph. II, 5), 
und dessen Schüler Aristodemus aus Carien, bei dem Philostratus 
Tier Jahre zubrachte, um sich die für einen Sophisten notwendigen 
Kunstkenntnis e zu erwerben. Dafs in dieser Zeit historische Ge- 
mälde, wie sie Philostratus beschreibt, nicht mehr auf den Wänden 
ausgeführt werden konnten, ist ganz klar. Dafs aber die Galierie 
nicht Jahrhunderte lang vor Philostratus in Neapel gewesen, wird 
dadurch wahrscheinlich, dafs kein anderer Schriftsteller derselben 
erwohnt. Sollen wir also wirklich an die Realität dieser Galierie 
glauben, so müssen wir annehmen, dafs sie in der Blüthe dieser 
Stadt, die namentlich von Hadrian sehr gehoben wurde, errich- 
tet und dafs die Gemälde aus den Städten Grofs-Griechenlandi 
und Siciliens zusammengekauft worden seyen. Dafs diese Gemälde 
auf Holz waren, ist ganz natürlich: aber was soll daraus für die 
Hallen und Leschen Griechenlands in der schönsten Periode der 
Kunst folgen? Wenn aber Herr Rochette p. 160 die Realität 
dieser Gemäldegallerie des Philostratus als eine durch Einstim- 
mung der gröfaten Kritiker des letzten und des gegenwärtigen 
Jahrhunderts entschiedene Frage betrachtet, so machen wir ihn 



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tod Semper, Kugler, Hermann. Lctronae, Raoul-Rochette etc. tll 



jetzt auf eine von dieser Ansicht abweichende Abhandlung auf. 
merksam, die er bei Abfassung seines Werks noch nicht kennen 
konnte, nemlich auf die Vorlesung von Franz Passow über die 
Gemälde des altern Philostratus in der Zeitschrift für Alterthums- 
wissenschaft i836 Nr. 71 — 73. 

Da es uns bei den Grenzen , die durch das Wesen einer 
Becension geboten sind , nicht möglich ist , das ganze Bach Schritt 
vor Schritt durchzugehen, so möge es an den bisher geprüften 
Stellen genügen. Ohne leugnen zu wollen, dafs die Maler der 
schönsten Kunstperiode Griechenlands auf Holz gemalt haben, 
glauben wir klar dargethan zu haben, dafs in derselben Pe- 
riode historische Gemälde von den ersten Meistern 
auf den Wänden der Tempel und Hallen ausgeführt 
worden seyen. Die Wahrheit dieses Satzes wird noch bestä- 
tigt dadurch, dafs wir nach positiven Zeugnissen auch in Italien 
gleichzeitig mit oder wenigstens nicht lange nach der Einwande- 
rung griechischer Künstler historische Gemälde auf den Wänden 
der Tempel ausgeführt finden. Wir setzen die betreffende Stelle 
aus Plinius XXXV, 6. her: exstant certe hodieque antiquiores 
Lrbe pioturae Ardeae in aedibus sacris, quibus equidem nultat 
aeque demiror, tarn longo aevo durantes in orbitale tecti, veluti 
recentes; similiter Lanuvii, ubi Atalanta et Helena cominus pic- 
tae sunt nudae ab eodem artifice, utraque excellentissima forma, 
sed altera ut virgo , ne ruinis quidem terapli coneussae. Gajus 
prineeps tollere eas conalus est, libidine accensus, si tectorii na- 
tura permisisset. Durant et Caere, antiquiores et ipsae. — Be- 
seitigen wir hiebei die Angabe, dafs diese Gemälde älter als die 
Stadt gewesen seyen, als ein dem Plinius von unwissenden Cice- 
roni aufgebundenes Mährchen, so bleibt in dieser Stelle immer 
soviel übrig, dafs in Italien in sehr früher Zeit, wohl nicht lange 
nach Einwanderung der von Demaratus geführten korinthischen 
Colonie nach Tarquinii, historische Gemälde auf die Wand ge- 
malt worden sind, und da die Gegenstände aus der griechischen 
Mythologie genommen waren, so schliefst man mit Grund, dafs 
die Künstler Griechen oder von Griechen gebildete Etrusker wa- 
ren. Um aber nun den weiteren Schlufs, dafs die Griechen eine 
Technik , die sie in Italien ausübten , aus ihrem Mutterlande mit- 
gebracht haben müssen, abzuweisen, sagt Herr Rochette p. 970, 
die griechische Kunst habe sich auf dem fremden Boden nach 
dem Klima und dem Geist der Einwohner moditiciren müssen. 
9 La brique, qui fut dabord et qui resta longtemps leiement es- 



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248 Schriften über die Wandmalerei der Alten 

sentiel des construetions romaines, exigeait l'emploi da stuc pour 
revetir au dedans et au dehors la surface de teraples ou d'edi- 
fices bätis de cette maniere. Et ce stuc ne pouvait manquer 

detre colorie. De la, sans doute cet usage de peiotures 

Sur mur, ou sur enduit, que nous a fait connaitre le temoignage 
de Pline, pour quelques-uns des plus anciens temples du Latium.« 
Wir würden Herrn Röchelte sehr dankbar gewesen seyn, wenn 
er uns nachgewiesen hätte, dafs der Backstein ursprünglich das 
wesentliche Element der romischen Bauten gewesen sey. So weit 
uns die Anschauung der romischen Ruinen belehren konnte, fan- 
den wir bei den aus dem Königthum und den ältesten Zeiten der 
Republik herrührenden Bauten immer Peperino (lapis Albanus) 
und Travertin (lapis Tiburtinus) angewendet: so ist es bei der 
Cloaca maxima , bei den ältesten Resten der Stadtmauer , bei den 
Substructionen des Capitols, bei dem Emissar des Albaner-Sees» 
Wenn wir aber bei diesen Gebäuden, namentlich bei der Cloaca, 
auf Etruricn zurückgewiesen werden , so ist dies noch viel mehr 
der Fall bei den Tempeln , da uns der gründlichste Forscher über 
römische Alterthümer, Varro, bei Plin. XXXV, 45. berichtet, 
dafs vor Erbauung des Tempels der Ceres im J. d. St. 258 in 
den Tempeln alles etruskisch gewesen sey. Im alten Etrurien 
aber ist uns von Backstein- Constructionen ebenfalls nichts be- 
kannt, und wenn wir die Cyclopen-Mauern , mit denen die Et Mis- 
ker ihre Städte umgaben, betrachten, so wird uns sehr unwahr- 
scheinlich, dafs sie diese Mauern darum so fest gemacht haben 
sollten , um dahinter Gebäude aus Backstein zu bergen. Das ein- 
zige, was uns ausser diesen Mauern von ihrer Architektur übrig 
ist, sind ihre Grabmäler, die gewöhnlich in Tuffstein gehauen 
sind. Da nun vollends Vitruv II, 8, 9 eine Mauer aus Back- 
steinen in Aretium als eine Ausnahme für das alte Italien anfuhrt, 
so bleiben wir , bis wir eines Besseren belehrt werden , bei un- 
serer alten Meinung, dafs in Etrurien und Latium in den ältesten 
Zeiten der Steinbau herrschend gewesen sey, und dafs die häfs- 
licben Backstein-Ruinen, welche Rom und seine Campagna , sowie 
den paradiesischen Meerbusen von Bajä und die Ebene von Olym- 
pia bedecken, erst der spätem Zeit der Republik und dem Kai- 
serreich angehören. Ist dem aber so, so möchten wir wissen, 
welche Modificationen das Clima und der Geist der Einwohner 
in die griechische Kunstübung bringen sollte. Auch in Griechen- 
land waren die Marmorwände, besonders vor der Perikleischen 
Zeit, selten, und selbst diese wurden mit Stuk überzogen, wie 



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von Semper, Kugler, Hermann, Lctronne, Raoul-Rochette, etc. 



bei dem Tbeseus-Tempel gesehen haben: wenn der Tufstein 
bei dem Tempel zu Olympia, den die Eleer im Wetteifer 
Parthenon erbauten, angewendet wurde (Paus. V, io t 
3), so dürfen wir wohl voraussetzen, dafs er bei den meisten 
Tempeln, in deren Nähe er sich vorfand, gebraucht worden sey. 
Um dieses nnd anderes anscheinbare Material dem Auge angenehm 
so machen, wurde ihm ein Überwurf gegeben, welcher colorirt 
: und wenn wir dies ebenso in Italien finden, z. B. an 
aus porösem Tra verlin gebauten Tempeln zu Paestum und 
an dem Sibyllen-Tempel zn Tivoli, so haben wir dies nicht als 
eine Modificatioo der griechischen Kunst zu betrachten , sondern 
als eine im Gefolge der übrigen Technik geschehene Übertra- 
gung. Doch, wollten wir auch zugeben, dafs in Italien zur Zeit, 
als die griechische Kunst dahin verpflanzt wurde, der Backstein- 
Bau herrsehend gewesen sey, so hatten die griechischen Künstler 
auch in diesem Falle durchaus nicht notbwendig gehabt, Modi* 
ficationen in ihrer Kunst anzubringen, da auch in Griechenland 
auf Backstein-Wände gemalt wurde , wie aus der Erzählung bei 
Vitruv II, 8, 9, dafs Varro und Muräna in Lacedamon Gemälde 
intersectis lateribus aus den Wänden ausschneiden liefsen , zu er- 
sehen ist. Betrachten wir nun ein anderes Beispiel von früher 
Wandmalerei in Italien. Plinius XXXV, 45. sagt: Plastae lau- 
datissimi fuere Damopbilus et Gorgasus , iidemque pictores : qui 
Cereris aedem Bomae ad Circum Maximum utroque genere artis 
suae excoluerunt, versibus inscriptis Graece, quibus significarent, 

a dexträ opera Damophili esse , a parte laeva Gorgasi Ex 

hac, cum reliceretur , crustas parietura excisas tabulis marginatis 
inclusas esse (auctor est Varro): item signa ex fastigiis dispersa. 
Dieser Tempel wurde im J. d. St. a58 erbaut , und drei Jahre 
nachher, 261, geweiht, drei Jahre vor der Schlacht von Mara- 
lhon. Herr Bochette macht darauf aufmerksam , dafs nirgends 
angegeben sey , ob die Arbeiten dieser Kunstler gleichzeitig mit 
Erbauung des Tempels gewesen sejen , und dafs der Name 
imophilus sich ein halbes Jahrhundert später bei einem Maler 
aus Himera linde, welcher als Lehrer des Zeuxis , von dem eben- 
falls tiglina opera bekannt sind , genannt wird. Diese Combination 
hat ihre Wahrscheinlichkeit , ändert aber an dem, was die Stelle 
für unsern Zweck beweisen soll , nichts. Wichtiger aber ist die 
r Bemerkung, welche llerr J\ochette nach dem Vorgang von Grund 
(Malerei der Griechen Bd. I. p. 289) macht, dafs diese Arbeiten 
des Gorgasus und Damopbilus gemalte Basreliefs aus Terra cotta 



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250 Schriften über die Wandmalerei der Alten 



gewesen sejen , womit der Fries im Innern der Cella geschmückt 
gewesen sey, und dafs darin die Vereinigung der Plastik und 
Malerei bestanden habe. So sehr sich auch diese Erklärung durch 
die Analogie mit den vielen architektonischen Zierden aus be- 
malter Terra cotta, die uns aus Griechenland, Etrurien und Born 
zugekommen sind, empfiehlt, so scheinen doch die Worte »utro- 
que genere artis exeoluerunt« nicht sowohl das Zusammenwirken 
beider Künste in Einer und derselben Arbeit, als zwei verschie- 
dene Kunstprodukte zu bezeichnen. Zu dieser Unterscheidung 
werden wir namentlich durch das Verfahren bei der Restauration 
des Tempels veranlaßt Oer Ausdruck crustas parietum excisas 
tabulis marginal» inclusas esse stimmt schon den Worten nach 
zu genau uberein mit der Erzählung Vitruvs II, 8, 9. Lacedae- 
raone e quibusdam parietibus ctiam picturae excisae, intersectis 
lateribus, inclusae sunt in ligneis formis. Es ist zwar möglich, 
dafs die Reliefs in die Wand eingelassen und mit Mörtel darauf 
befestigt waren, so dafs bei ihrer Abnahme die Stücke Wand 
mitabgenommen werden mufsten , aber dafs man diese Wand- L n- 
terlage zugleich in hölzerne Rahmen gefafst haben soll, ist uns 
nicht wahrscheinlich , wenn wir solche Reliefs betrachten , deren 
nackte Platten stark genug sind, um sich bis auf den heutigen 
Tag zu erhalten. Zur Zeit des Plinius waren bematte Wende 
und Ausschneidung einzelner Stucke daraus eine so alltägliche 
Sache, dafs man unter crustae parietum excisae nichts anderes 
verstand, als Gemälde, und somit liegt iu seinen Worten selbst 
die Unterscheidung von zweierlei Arbeiten : Gemälden an den 
inneru Wänden der Cella, und Statuen oder Reliefs in den Gie- 
belfeldern. Dafs aber diese Statuen oder Reliefs aus Terra cotta 
gewesen seyen, wird uns nicht nur durch die Vorliebe, welche 
man in Etrurien für die Art Arbeiten hatte, wahrscheinlich, son- 
dern auch durch die Werthschätzung , welche ihnen bei der Re- 
stauration des Tempels gegenüber von den Gemälden zu Tbeii 
wurde , denn die signa der Giebelfelder , sey es , dafs sie durch 
die Zeit stark gelitten hatten , oder dafs man auf das Material 
keinen Werth legte, wurden zerstreut, während man die Ge- 
mälde so hoch schätzte, dafs man sie aus der Wand ausschnitt 
und in Rahmen fafste. Dem Gesagten zufolge scheint uns der 
Schlufs, welchen Herr Letronne p. 44 aus den angeführten Stel- 
len des Plinius zieht, vollkommen gültig, dafs sobald die Aus- 
führung historischer Wandgemälde für Italien ausgemacht ist, 

die Frage auch für Griechenland entschieden ist. 

» 



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ron Seroper, Kugler, Hermann, Lctronne. Raoul-Rochette, etc. 251 

Ehe wir jedoch ein Conclusurn ziehen, müssen wir noch eine 
Stelle des Plinios prüfen, die Herr Rochette als den stärksten 
Beweis seines Systems betrachtet. Es ist dies die Stelle XXXV, 
40. sed nulla gloria artiHcum est, nisi eorum, qtii tabulas pin« 
xere; eoque ?enerabilior apparet antiqaitas. Non enim parietes 
cxcolebant dominis tantum, nec domos uno in loco mansuras, 
qoae ex incendiis rapi non possent. Casula Protogenes contentus 
erat in hortulo suo. Nulla in tectoriis Apellis pictura erat, Non- 
durn libebat parietes totos pingere. Omnis eorum ars urbibus 
excubabat : pictorque res communis terrarum erat. Herr Rochette 
sagt p. 71 , seit der Wiedergeburt der Wissenschaften, wo so 
vieler Streit über Gegenstände des Alterthums gefuhrt worden, 
sey diese Ansicht des Plinius das Orakel der Kritik geblieben , 
und führt zum Beweis dafür eine Stelle aus Ansaldi, de sacro et 
publico apud Ethnicos pictarum tabularum cultu , Augustae Tauri- 
noram 176a p. 379 an : quia Graeci Romanique pictores usura 
piogendi in linteis prorsus ignorantes, .... suos credere labores 
ligneis tabu Iis consueverant, ut fuse Menardus, Maffejua , Belgra. 
dos, Abbas de Guasco, aliique sexcenti ostenderunt : und mit Be- 
ziehung hierauf fahrt er also fort : » vers la fin du siecle dernier 

le nombre des savants qui avaient adhere, sans une seule 

exceplion , au jugement de Pline, pouvait ctre evalue a sixcents; 
et ce nombre a peut-etre 6ic double dans Tintervalle d'un demt- 
siede. W'ir müssen offen gestehn, dafs es uns ordentlich bange 
wird, wenn wir denken, wir sollten ein Bollwerk angreifen, das 
durch so schweres Geschütz und von zwölf hundert Getreuen 
vertheidigt wird. Doch ehe wir uns entschliefsen können, als 
feiger Überläufer die dreizehnte Centurie dieser Glaubensarmee 
zu eröffnen, und das oi u,ßo\op , nulla glona artißcum est, nisi 
eorum, qui tabulas pinxere, zu beschwören, versuchen wir den 
Weg der Capitulation. Wir sind erbürtig den Eid zu leisten, 
unter der Bedingung , dafs Herr Bochette unsern ebenfalls auf 
PJinius ausdruckliches Zeugnifs gegründeten Satz adoptirt, dafs 
alle einigermafsen bedeutenden Gemälde vor der drei- 
und neunzigsten Olympiade auf der Wand ausgeführt 
gewesen. Plinius sagt ixXV, 36: nonagesima autem Olym- 
piade fuere Aglaophon , Cephissodorus etc. omnes jam il- 
lustres, non tarnen, in quibus haerere expositio debcat , festinans 
ad lumina aitis, in tjuihus plinius rcfulsit Apollodorus Atheniensis 




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232 Schriften aber die Wandmalerei der Alten 

uiiius ostentktur, quae Untat ooulos. Hier sagt also Plinius deut- 
lich, dafs vor Apollodor (Olymp. 93.) kein Gemälde auf Holz 
(tabula) aufzuweisen sey, das den Beschauer fessele. Da aber 
Panänus, Micon, Onatas und Polygnot lange vor Apollodor be- 
rühmte Maler waren , wie Plinius selbst wenige Zeilen weiter 
oben ausspricht, da namentlich von Polygnot, dem ißoy^d<poq 9 
vorauszusetzen ist, dafs er durch den Ausdruck, welchen er in 
•eine Gemälde zu legen wufste, die Augen der Beschauer gefes- 
selt haben müsse, so können wir diesem Widerspruch nur da- 
durch ausweichen, wenn wir den Ausdruck des Plinius streng 
nach dem Buchstaben Mos auf die Gemälde aus Holz bezie- 
hen, woraus denn folgt, dafs die genannten Meister nicht darun- 
ter begriffen, sondern als Wandmafer zu betrachten Seyen. So- 
mit würde der angeführte Ausspruch des Plinius ihre Gemälde 
ebensowenig treffen , als die auf den Wänden des Lanu vinischen 
Tempels gemalte Helena und Atalanta, welche die Augen des 
Caligula so sehr fesselten, dafs er in Liebe zu ihnen entbrannte. 
Wir sehen voraus, Herr Rochette wird uns diese Exegese nicht 
zugeben, und auch wir fanden uns nur aus dem Grunde dazu 
veranlafst, um zu zeigen, welche Widersprüche entstehen, wenn 
man einen Schriftsteller, wie Plinius, au pied de la lettre erklä- 
ren will. Es ist gewifs richtiger, wenn wir tabula im allgemein- 
sten Sinn von Gemälden verstehen , und die Worte » neque ante 
eum tabula ullius ostenditur , quae teneat oculos « so auffassen , 
dafs die Gemälde Apollodor's , namentlich in Beziehung auf die 
Behandlung von Licht und Schatten, die seiner Vorgänger bei 
weitem übertroffen haben. Es gieng dem Plinius wie noch h. z. 
T. so manchen Schriftstellern , welche über Kunst schreiben , dafs 
sie in der augenblicklichen Begeisterung, worein sie durch die 
Leistungen eines Hünstiers versetzt werden, die Ausdrücke ein- 
zig, un vergleieblich, al les übertreffend, unerreicht 
u. dgl. mit grofser Freigebigkeit gebrauchen , ohne darum ein 
Präjudiz gegen die Werke anderer Künstler aussprechen zu wol- 
len, mit andern Worten 1 man spricht häufig im Superlativ, wo 
man nach der strengsten Consequenz im Positiv oder Comparativ 
sprechen sollte. So ist es auch mit der besprochenen Stelle: 
nulla gloria artificum est, nisi eorum, qui tabulas pinzere. Der 
Ausdruck , der ebenso ausschliefsend lautet , wie der oben ange- 
führte, sagt nicht mehr, als dafs die Gemälde auf Holz ihre Mei- 
ster weit berühmter machen , als die auf der Wand ; und dies ist 
der Natur der Sache ganz gemäfs, denn alle Vortheile, welche 



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» 

zu der schnellen and weiten Verbreitung eines Kunstler-Naraens 
dienen, stehen auf Seiten der Holzgemälde. Sie sind in der Re- 
gel kleiner , der Künstler bann also weit mehr produciren , kann 
sie in seinem Atelier mit aller Mufse in dem ihm günstigsten Lichte 
ausfuhren, und ihnen im Einzelnen eine Vollendung geben, wel- 
che Gemälde auf der Wand, namentlich auf der nassen Wand, 
nicht zulassen; und zu dem allen können sie nach allen Seiten 
bin verbreitet und bei vorkommender Feuersbrunst gerettet wer» 
den. Sind nun die Wandgemälde in den öffentlichen Gebäuden 
der Städte ausgeführt (omnis eorum ars urbibus exeubabat), so 
ist es noch einigermafsen möglich, dafs die Künstler bekannt 
werden : sind sie aber in Häusern der Privatleute eingeschlossen, 
so ist aller Buhm für den Künstler verloren. "Ganz dieselbe An- 
sicht über unsere Stelle finden wir bei Herrn Wiegmann p. 93, 
dessen gehaltreicher Schrift wir folgende Worte entheben: »Es 
mufs uns auffallen , dafs das Verhältnis der Wand- und Tafel- 
bilder ein ganz ähnliches war, wie bei uns zwischen den YVand- 
ond Staffeleibildern stattfindet. Nicht weniger übereinstimmend 
sind die Zwecke jener und dieser. Wie die Alten besondern 
Werth auf den Privatbesitz ausgezeichneter Tafeln legten, oder 
sie in Pinakotheken sammelten, so wir unsere Staffeleibilder. 
Wie die Alten ihre Heiligthümer und öffentlichen Gebäude mit 
durch die Architektur bedingten und mit derselben verschmolze- 
nen Fresken schmückten, — so wir noch heut zu Tage. Und 
dieses Verhältnifs ist in der That auch zu natürlich , als dafs das- 
selbe hätte je ganz verleugnet werden können. Es wird gültig 
bleiben und stattfinden, so lange echte Kunst geübt wird; denn 
es ist ein notwendiges, « 

Wir schliefsen nun die Beurtheilung dieser beiden gelehrten 
Werke mit der Versicherung, dafs wir dieselbe mit vollkomme- 
ner Unbefangenheit unternommen haben. Das uns gewordene Er- 
gebnifs ist das, dafs die Ansicht über die Wandmalerei im alten 
Griechenland, die wir uns bei Lesung des Pausanias und Plinias 
längst gebildet hatten, sich nun durch die nothwendig gewordene 
Prüfung der entgegengesetzten Ansicht zur festen Überzeugung 
erhoben hat Wir wünschen aber jetzt im Interesse der Wissen- 
schaft , dafs die Behandlung dieser wichtigen Frage fernerhin 
nicht mehr als Controvers , sondern als ruhige wissenschaftliche 
Untersuchung geführt werde, und hoffen, Herr Röchelte werde 
in seiner Geschichte der alten Kunst , mit der er schon seit Jah- 
ren beschäftigt ist , seine Vorliebe für eine subjecüve Idee ver- 



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»I Schriften über die Wandmalerei der Alten 

läugnen und den Gegenstand mit der Objectivität behandeln, 
welche des Geschichtschreibers würdig and für Werke, die 
xT^uara cl{ dei scyn sollen, unerläfslich ist. Die verschiedenen 
Bei werbe, mit denen Herrn Bochettes Werk ausgeschmückt ist, 
müssen wir hier ubergehen: vielleicht wird uns Gelegenheit, an 
einem andern Ortte davon zu sprechen. 

Wir wenden uns nun zu den beiden Schriften von Herrn 
Wiegmann und Herrn John, die sich hauptsächlich mit dem tech- 
nischen Theil der alten Malerei beschäftigen, und sich somit an 
die bisherigen Untersuchungen als sehr willkommene Ergänzung 
anschliefsen. - Herr Wiegroann, ein durch O. Muller s Vorlesun- 
gen archäologisch gebildeter Architekt, theilt uns ganz neue, 
durch genaue Untersuchung der Pompejanischen Gemälde und 
durch eigene Versuche gewonnene Beobachtungen mit. Er nimmt 
die vielfach behandelte, und in neuerer Zeit als unergründlich 
fast aufgegebene Frage, wie die Wandmalerei der Alten ausge- 
führt worden sey , wieder auf, und behauptet, dafs es eine Art 
Frescomalerei gewesen , die sich jedoch in mehr als einer Hin- 
sicht von der jetzt gebräuchlichen unterscheidet. Diese Ansicht 
gründet sich hauptsächlich auf die Beobachtung, dafs an Wan- 
den, deren Oberfläche grofs oder auch verziert ist, der letzte 
Stukuberzug nicht in einem Male über die ganze Fläche aus- 
gebreitet worden ist , sondern nach Mafsgabe der Eintheilung der 
Felder, und ausserdem in den Winkeln des Zimmers sich ange- 
setzt zeigt, and dafs auch die Bilder, welche sich innerhalb der 
Felder zu befinden pflegen, von einer Ansatzfuge umgeben sind. 
Daraus schliefst Herr W. mit Becht, dafs eine gewisse Frische 
and Feuchtigkeit des letzten Überzugs zum Färben , Glätten und 
Malen erforderlich war, da sonst mit grösserer Leichtigkeit und 
Gleichheit die ganze Wand auf einmal hätte uberzogen werden 
können. Ferner bemerkte er Umrisse, Eintheilungen und Hfilfs- 
Knien , welche mit einem Griffel eingedruckt und nicht immer 
durch die Malerei wieder verdeckt worden sind. Diese Zeich- 
nungen konnten nur gemacht werden, während die Masse der 
Bekleidung noch weich und für leichte Eindrucke empfänglich 
war; denn in einem bereits völlig erhärteten Stuk hätten sie sich 
wohl einreiben, nicht aber eindrucken lassen. Der Umstand, 
dafs diese Umrisse nicht bei allen alten Wandgemälden sichtbar 
sind , ist kein Beweis für eine verschiedene Art der ßemalung ; 
denn man machte diese Zeichnung nur da , wo es auf grofse Ge- 
nauigkeit ankam; war dies nicht der Fall, so traute man dem 



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von Semper, Kngler, Hermann, Letronne, Rnoul -Rochette etc. 255 

durch Übung geschärften Augenmafse. Zuweilen ist die Zeich- 
nung auch defshalb nicht mehr sichtbar, weil der starke Farben- 
auftrag sie verdeckt hat. Zu diesen beiden Erscheinungen, für 
die sich nur im Falle der Frescomalerei ein vernunftiger Grund 
denken lädt , kommt eine dritte Beobachtung , dafs in jeder Farbe 
ohne Ausnahme, selbst in dem tiefsten Schwarz, Kalk vorhanden 
ist »Wie sollte aber der Antbeil Kalk zu allen Farben kom- 
men, wenn nicht als Auflösung in dem Wasser, welches von 
der feuchten Masse des Stühs aus die Farben durchdringt, und 
dieselben während der Krystallisation als Tropfsteingebilde bindet?« 
Diese durch sorgfaltige Forschung eines in jeder Hinsicht befä- 
higten Zeugen ermittelten Gründe scheinen uns den Gebrauch 
der Frescomalerei bei den Alten so evident darzuthun, dafs die 
von Herrn Hirt in den Abhandlongen der Berliner Akademie 1799 
und 1800 und neuerdings von Herrn Letronne in seinem vierund- 
zwanzigsten Briefe wider sie erhobenen Zweifel dagegen weichen 
müssen. Die Stelle des Vitruvius VII, 3: Colores autem udo 
tectorio tum diligenter sunt indueti, ideo non remittunt, sed fiunt 
perpetuo permanentes , quod calx in fornaeibus exeocto liquore 
et facta raritatibus evanida jejunitatc coacta corripit in se etc. 
handelt allerdings nur vom Bemalen des Stukanwurfes , und wir 
haben auch von dem Architekten, besonders an dieser Stelle, 
weitere Nach Weisungen gar nicht zu erwarten. Anders aber ver- 
halt es sich mit Plinius XXXV, 3i : ex omnibus coloribus cre- 
tutam amant udoque Mini recusant purpurissum , Indicum , caeru- 
leum, Melinum etc. Denn wenn man die Stelle in ihrem Zusam- 
menhang betrachtet, so kann man nur soviel darüber sagen, dafs 
es unentschieden sey, ob von dem blofsen Anstreichen oder von 
wirklichem Bemalen die Rede sey. Wundern müssen wir uns, 
wenn Herr Letronne p. 367 sagen mag : » le verbe dlini dont se 
sert Pline, et cjui ne repond pas du tout au Z&y$a(pglv grec, 
montre, quil ne sagit pas de la peinture proprement dite en cet 
endroit^ l'auteur ne parle que de l'opcration d'enduire les mu- 
railles de ces couleurs plates , qui etaient un des ornemens usites 
par les anciens , während er doch p. 200 in Betreff der Poecile 
in Athen die Ausdrücke des Suidas: 31 £ 0 y p a rp ?; $■ 1 1 a a II01- 
üiXii UXfön, und des Persius Sat. III, 53. illita Media porticus 
in Parallele setzt, und das Wort illinere als eine Hinweisung auf 
Wandmalerei betrachtet. Illinere heiPst nicht anstreichen, son- 
dern die Farbe auftragen. So sagt Plinius XXXV, 36. von Apel- 
les: absoluta opera atramento illinebat ita lenui. Ebenso wird 

t 



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256 Schriften über die Wandmalerei der Alien. 

sublinere gebraucht bei Plin. XXXV, 26. Pingentes sandyce sab- 
Uta — fulgorem minii faciunt. Si purpuram facere malunt, cae- 
ruleum sublinunt. Wenn aber Plinius sagt, das Weifs von Melos 
(Melinum) lasse sich nicht auf frischem Mauerbewurf auftragen, 
so finden wir darin keinen Widerspruch mit der Angabe, dafs 
dieses Melinum eine der vier Hauptfarben war, deren die alten 
Maler sich bedienten : denn sehen wir die Stelle XXXV, 32. na- 
her an, so heifst es : quatuor coloribus solis immortalia illa opera 
fecere, ex albis Melino, ex silaeeis Attico, ex rubris Sinopide 
Pontica, ex nigris atramento, A pell es; Echion, Melanihius, Nico- 
machus, clarissimi pictores, cum tabulac eorum singulae oppido- 
rum venirent opibus: es ist also nicht allgemein von allen alten 
Malern ausgesprochen , wie es Herr Hirt p. 352 und Herr Le- 
tronne p. 367 angeben, sondern nur von vieren, die wir als 
Maler auf Tafeln kennen. Wollte man aber den Ausspruch des 
Plinius auch auf die älteren Maler und selbst auf die Wand- 
maier ausdehnen, so konnten ja letztere das Melische Weifs auf 
einen Kreidegrund auftragen. Herr Lctronne fuhrt ferner an, 
nach Plinius XXXV, 25. haben Polygnot und Micon ihr Schwarz 
aus Traubenmark bereitet, diese vegetabilische Farbe aber sey 
von der Frescomalerei ausgeschlossen; es ist aber nicht gesagt, 
dafs sie dieses Schwarz bei allen ihren Gemälden gebraucht ha- 
ben, sondern unter den verschiedenen Arten, Schwarz zu berei- 
ten, wird auch diese angeführt; dabei versteht sich aber von 
selbst, dafs sie dieselbe nur bei der Art von Maierei, womit sie 
sich vertrug, anwendeten. Die Herren Hirt und Letronne hätten 
noch weiter darauf aufmerksam machen können, dafs sich auf 
den alten Gemälden Purpurissum finde, was nach Plinius XXXV, 
3i. auf dem nassen Bewurf nicht zu gebrauchen ist; allein Herr 
Wiegmann beseitigt diesen möglichen Einwurf damit, dafs diese 
Farbe erst mit Eiwcifs oder der gl. aufgetragen werden konnte, 
nachdem alles Übrige vollendet und durchaus trocken war. Viel- 
leicht gab man auch, um vor der Wirkung des Halbes ganz si- 
cher zu seyn , auf den Stuk einen schwachen Kreidegrund. Solche 
Farben waren naturlicher Weise nie so dauerhaft und fest, wie 
die andern : aber was blieb den Alten für ein anderes Mittel, wenn 
sie nun einmal das Purpurissum anwenden wollten ? — Unter den 
Frescofarben gab es keine ähnliche und giebt es noch gegenwär- 
tig keine. Und die Schönheit und Kostbarkeit derselben entschul, 
digt jene Inconsequenz hinlänglich. 

(Der Be$chlufs folgt.) 



N°. 17. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

Schriften über die Malerei der Alten von Semper, Kngler, 
Hermann, Lef rönne, Raoul- Rochelte, Wiegmaim und John. 

(Beschluft.) 

Soweit sind wir ganz einverstanden mit Herrn Wiegmann: 
hingegen sind wir noch nicht uberzeugt , ob nicht auf die bereits 
bemalten Wände einzelne Ornamente enkaustisch aufgetragen wur- 
den. Wenigstens erinnern wir uns einzelner Fragmente von Pom- 
pe janischen Wänden, auf deren roth bemalter Fläche grunlichte 
Decorationen in schmalen Schnörkeln so erhaben aufgetragen sind, 
and einen solchen Fettglanz an sich tragen, dafs man unwillkuhr- 
lich an ein fettes Bindemittel, wie Wachs, erinnert wird. Dafs 
enkaustisebe Malerei in Pompeji ausgeübt wurde, dafür scheinen 
uns schon die daselbst gefundenen Farbentopfe zu sprechen. Wir 
haben obnlängst bei Herrn Bauinspector Sibland in München ein 
solches Gefafs gesehen , mit ziemlich starber Ausbauchung und so 
schmaler Basis , dafs es ohne Zweifel in einem Behälter gestan- 
den hat: und dafs dieser Behälter zur Heizung eingerichtet war, 
sieht man aus den Spuren des Rauches, welche an dem Gefäfse 
in der Gegend der Ausbauchung, welche aus dem Behälter her- 
vortrat, sichtbar sind. Wenn uns aber auch zugegeben wird, 
dafs solche Gefäfse zu dem Apparate eines Enkaustikers gehört 
haben, so ist damit naürlich noch lange nicht bewiesen, dafs die- 
ser Enkaustiker auf den Wänden gemalt habe ; darum möge auch 
diese Bemerkung blos als eine gelegenheitlich hingeworfene be- 
trachtet werden. 

In den folgenden Abschnitten von der Polychromie der Werke 
der Plastik bei den Alten und von der Anwendung des Marmor- 
stuks und dessen farbiger Cbertunchung am Äussern der Bau- 
werke der Alten finden wir des Vfs. Ansichten den unsrigen oben 
ausgesprochenen so nahe stehend, dafs wir eine besondere Aus- 
einandersetzung derselben nicht für nothwendig halten, und es 
konnte pedantisch erscheinen, wenn wir uns bei einzelnen Ver- 
sehen aufhalten wollten, wie p. 107, wo die Kentauromachic und 
Amazonenschlacht am Hypäthros zu Phigalia und die Bildwerko 
vom Apollotempel zu Bassä in Arkadien als zwei verschiedene 
Dinge aufgeführt werden. Als besonders interessant heben wir 
XXX. Jahrg. 8. Heft. 11 



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Schriften über die Wandmalerei der Alten 



das sechste Capitel, Tom Gebrauch wirklicher Gemälde an Bau- 
werken als architektonischer Schmuck , heraus , worin wir das 
schöne Prognostikon der künftigen Leistungen dieses scharfsinni- 
gen Kunstlers zu erblicken glauben. Herr W. kommt hier auf 
den Fries des Erechtheums auf der Akropolis von Athen zu spre- 
chen. Dieser war noch nach Stuarts Zeit vorhanden, und be- 
stand aus eleusinischem Stein, der ein dichter grauer Kalkstein 
ist Auf der ganzen Ober! lache war er mit vielen Löchern ver- 
sehen, welche sich jedoch mit dem nämlichen Marmorstuck aus- 
gefüllt fanden , der die übrige Oberfläche des Steins bedeckte und 
sehr sorgfältig geglättet war. Hier ist nun schwer zu begrei- 
fen, wie ein griechischer Künstler für so wichtiges Bauglied den 
schlechten Eleusinischen Stein gewählt haben solle, während der 
ganze übrige Bau vom schönsten Marmor ausgeführt war. Welche 
Art von Bildwerken sollen wir uns auf diesem Fries denken ? 
Marmor-Reliefs hätten auf Platten gearbeitet seyn müssen , welche 
zwischen dem Vorsprung© des Architravs und des Kranzgesimses 
eingesetzt waren. Dann sieht man aber nicht ein , wozu die vie- 
len Klammerlöcher und der Stuck dienen sollte ; zudem springt 
die Friesfläche nicht so weit hinter den Architrav zurück, dafs 
die Tafeln mit den Bildwerken auch bei mäfsiger Stärke in die 
richtige Ebene hätten fallen können. Bei runden Figuren liefsen 
sich die Klammerlöcher am ehesten erklären; allein wo hat man 
ein Beispiel von runden Figuren in einem Fries, und wozu diese 
auf einem grauen Stein aufstellen, wenn das Übrige von weißem 
Marmor war ? Nun heifst es aber in der Bau-Inschrift des Erech- 
ineums : 

6 'EXtvaiviaxbs 

Xföof | 7tp5c co xot £coa .... 
Da nun ioiov gewöhnlich Gemälde heifst, so macht Herr W. 
p. 1 36 folgende Combination : * Der Fries des Erechtheums sollte 
mit Figuren bemalt werden, — und zwar der Dauerhaftigkeit 
und der Eleganz des Grundes halber — a fresco. Da zu dem 
Zweck der Stein des Frieses mit Marmorstuk überzogen werden 
roufste, so war es nicht nöthig , dafs man dazu den nämlichen 
kostbaren Marmor nahm , aus dem die übrigen Theile des Gebäu- 
des bestanden ; es genügte der schlechtere eleusinische Stein. 
Dieser war aber ein dichter Kalkstein, auf dem der Stuck ohne 
besondere Vorkehrung nicht dauernd gehaftet haben würde, zu- 
mal in einer solchen Dicke, als für die wirkliche Malerei unum- 
gänglich noth wendig war , wenn sie gehörig binden und ihr Grund 



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von Semper, Kugler, Hermann, Letronnc, Raoul-Rochettc etc. 259 



glänzend werden sollte. Deshalb traf man das sehr zweckmafsige 
Auskunftsmittel , jene erwähnten Löcher als sichere Haltpunkte 
des Stucks einzubauen.« Von diesem Beispiele ans schliefst nun 
Herr W. weiter , dafs es bei den Griechen Sitte gewesen , die 
Friese und Metopen an ihren Tempeln mit farbigen Bildern zu 
schmucken, entweder mit halberhabcnen Sculpturen, enkaus tisch 
bemalt, oder mit wirklichen Frescogemälden auf ebenem Grunde: 
und es hat uns wahrhafte Freude gemacht, diese scharfsinnige 
Vermuthung sobald durch entsprechende Entdeckungen bestätigt 
zu sehen. Herr Haoul-Rochette in seinem oben genannten Werke 
p. 391 theilt nach Briefen des Herrn v. K lenze vom 26. Sept. 
und 94. Nov. i834 die Nachricht aus Griechenland mit, dafs zwei 
neugefundene Stucke vom Fries der Propyläen, eines in der Lange 
von zwei Metopen und drei Triglvpben , das andere von drei 
Metopen und zwei Triglvphen, die Eigentümlichkeit darboten, 
dafs die Metopen abwechselnd etwa acht bis neun Zoll tief hohl 
oder voll und glatt waren, woraus sich ergab, dafs die vollen 
Metopen gemalt , die leeren mit Sculpturen ausgefüllt waren. 
Wirklich trugen auch die vollen Metopen sichtbare Spuren ver- 
schiedener Farben , besonders von Bolh und Blau , ohne dafs man 
jedoch die bestimmten Formen der Ornamente unterscheiden 
konnte. Die folgenden Abschnitte dieser Schrift handeln von der 
Enkaustik; der Kausis, die Herr W T . von der Enkaustik unter, 
scheidet, der Anleitung zur Stuckmalerei , und von den Farben, 
Mit diesem letzten Abschnitt sind die Untersuchungen von Herrn 
John p. it2—i43 seiner Schrift zu verbinden, die durch die 
chemischen Kenntnisse des Vfs. grofses Interesse erhalten. Als 
wichtigster Theil dieser Schrift aber erschienen uns die Unter- 
suchungen über die gebrannten Thonarbeiten der Alten in Rück- 
sicht auf ihr Material und Farbe p. 163—189, wozu Herr John 
aus der reichen Sammlung des Berliner Museums die verschieden, 
artigsten Fragmente zur chemischen Zerlegung erhielt. Nach 
diesen einzelnen Abschnitten wäre zu wünschen gewesen, der 
Herr Verf. hätte dem Titel der Schrift gemäfs die alte Malerei 
gerade von dem ihm eigentümlichen Standpunkte aus nach einem 
selbstständigen Plane behandelt: statt dessen aber erhalten wir 
eigentlich einen Abdruck seiner Collectancen. Er giebt nemlich 
zuerst eine deutsche Übersetzung des ganzen fünfunddreifsigsten 
Buches und der übrigen auf Malerei bezuglichen Abschnitte des 
Plinius, und schliefst daran seine Bemerkungen in Form eines 
fortlaufenden Coramentars an. Durch diese Anordnung mag die 



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Dr. Schncckenbargcr 



Schrift für den Anfänger, welcher die ersten Ideen über die Ma- 
lerei der Alten erhalten soll, immerhin ihren Nutzen haben: vor- 
gerücktere Leser aber, denen diese Basis für die Geschichte der 
alten Malerei schon aus dem Originale bekannt ist, machen wir 
auf die zwei oben genannten, frei verarbeiteten Artikel aufmerk- 
sam , welche die Archäologie als schätzenswert he Beiträge eines 
erfahrenen Chemikers mit Dank aufzunehmen hat. 

Tübingen. Chr. Wal*. 



Über da* Evangelium der Ägyptier. Ein historisch kritischer Per- 
tuch von Dr. Matth. Schnekenburger , Prof. d. Theol. an d. Uni- 
versität zu Hern, der historisch- theol. Gesellsch. zu Leipzig Mitglied. 
Bern, bei Jenni. 1834. 45 S. in 8. 

Die neuesten Untersuchungen: ob die geschichtlichen Erzäh- 
lungen unserer kirchlichgültigen (kanonischen) Evangelien aus 
der Tradition*) (historischer Überlieferung) unmittelbarer und 



*) Der Untcmchied , ob Tradition? oder ob Mythe? die Quelle 
unterer Keontnifs Ton Jesu Lehre und Leben scy, ift wichtig. Hi- 
storische Tradition besteht hauptsächlich aus dem, was man 
als geschehen sah und als gesprochen hörte, zum Thcil aber 
auch aus dem, was die Seher und Hörer daran unabsicht- 
lich insofern mehrend und mindernd änderten, als jeder Mensch 
nur nach seiner Fassungskraft auffafst und berichtet. Bemüht sich 
nun der Geschichtsforscher, in dem Tradierten das abzusondern, 
was nach der Individualität der Zeugen nur als ihre Meinung . 
au der Thatsache hinzugekommen oder von ihr weggelas- 
sen war, so bleibt doch aus der Tradition das Factum, 
die Basis des Gesehenen nnd Gehörten ! Die Mythe dagegen wäre 
nur eine aus Meinungen später entstandene und blos ge- 
schichtlich eingekleidete Sage. Sondert der Forscher die 
Meinung ab, so bleibt nicht das geschichtlich glaubli- 
che, sondern nur eine geschieh tartige Einkleidung oder 
Sage, von welcher nicht zu behaupten ist, dafs ihr etwas Gesche- 
henes oder Gehörtes als Factum zum Grund liege. Der Streit zwi- 
schen rationeller Behandlung der historischen Tradition und dor 
Hypothese von Mythen dreht sich demnach am Ende um die Frage: 
ob von Jesu Lehre und Leben uns fac tische Data, Kenntnisse 
dessen, was wirklich war, übrig bleiben, wenn wir die Tradition, 
soviel möglich, rationell von den Meinungen der Überlicferer rei- 
nigen? oder ob, wenn wir nur spätere Mythen, eine Nachgeburt 
der Phantasie, haben, uns nichts wirklich vorgegangenes, kein 
Factum des Worts oder der That, übrig bleibe, sondern nur 



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über da« Crange Ii um 



h den Acgypticrn 



mittelbarer Zeugen des Geschehenen und aus der Auffassungs- 
weise der Zeugen? oder aus später entstandenen und in das Le- 
ben Jesu blos zurückgetragenen »Mythen«, als Glaubenssagen 
und Meinungsverwirklichungen , abstammen? sind allbekannt. Sie 
machen auch aufs neue auf die sogenannte apokryph is che 
Evangelien, auf deren Ursprung, Alter, Verhältniis zu den ka- 
nonischen und zu der christlichen Religionsgeschicbte überhaupt 
aufmerksam. 

Der Verf., welcher gegen die Ableitung des ersten Evange- 
liums von Matthäus und überhaupt von einem Apostel, schon in 
seinen Beiträgen zur Einleitung ins Neue Testament (Stuttg. i83a) 
S. 16 — 47 bemerkenswerthe , aber doch, nach meiner Überzeu- 
gung , durch Berichtigung mancher Voraussetzungen wohl auf- 
lösbare Zweifel auf eine sehr würdige Weise bekannt gemacht 
hat, wurde dadurch auf neue Untersuchungen über das nur nach 
wenigen Fragmenten und alten Notizen bekannte, aber durch eine 
eigene Gnosis sonderbare Evangelium, quod, wie Origenes 
Homil. 1. in Locam sagt, scribitur secundum Aegyptios , geleitet. 

Er hat durch vorliegende Schult das schätzbare Verdienst, 
für mehrere Kenntnifs von diesem Apokryphon eine neue (Quelle 
in dem alten Aufsatz, welcher als Epistola II. Clementis Roinani 
citirt zu werden pflegt und eine Art von Homilie gewesen seyn 
mufs, entdeckt und überhaupt die Verwandtschaft des ägyptischen 
Evangelium mit einem altgnostischen Theil der Ebioniten und 



die Meinung der Späteren, die «ich ihr Meinen durch ■agen- 
hafte Erzählungen anschaulich machten? 

In wiefern geben Homer, Hesiod etc. Mythen? Ihre Glaubens- 
Meinung eetzte Gätter voraus mit gewissen charakteristischen 
Eigenschaften. Nun dachte der Begeisterte, wie jeder Gott nach 
seinem Charakter gehandelt und gesprochen haben könne oder 
müsse. Dies haben diese Gewciheten der Musen, voll vom Geiste 
der Götter, geschichtartig in sinnreiche Sagen verwandelt. Aber 
jeder, der denkt, was Mythe bedeuten soll, weifs, dafs ihm da- 
durch nichts bleibe, als die Kenntnifs , welche Meinung die My- 
thologcn von ihren Göttern hatten , welche Reden und Thaten sie 
derselben würdig achteten. Von den Göttern selbst bleibt durch 
die Mythe nichts übrig. 

Deutlich gemacht ist durch die neueste Durchführung der Mj- 
thenhypothese, dafs nur die Wahl bleibt, ob die rationelle Gc- 
schiehtfornchung uns Lehre und Leben Jesu, als gluubli- 
chei Factum gewähren könne, oder ob nur ein späteres 
Meinen über ihn durch die Mythik übrig seyn solle. 



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262 Dr. Schneckenbnrger 

Therapeuten nachgewiesen zu haben. Auch macht er sehr wahr- 
scheinlich, da Ts die beiden, als alt, merkwürdigsten apobyphi» 
sehen Evangelien, das nach den Hebräern und das nach der 
Ägyptiern, in der Wurzel Eines gewesen seyen. Sie wurden nur 
nach verschiedenen dogmatischen Bedurfnissen , anders bei dem 
popularglaubigen Theil der Ebioniten und Nazaräer, anders bei 
den Gnosticierenden redigiert und mit traditionellen Äusserungen 
Jesu vervollständigt. 

Für unsere Leser, denke ich, möchte das angemessenste seyn, 
wenn ich ihnen theils was ich durch des Verfs. eigentümliche 
Combinationen selbst gelernt , theils was. ich dabei in etwas ver- 
schieden zu denken veranlafst bin, in einem jene urchristliche 
merkwürdige Gedankenreliquien beleuchtenden Überblick vor- 
lege, und zugleich den altchristiichen Unterschied zwischen 
Pistis und Gnosis in Erinnerung bringe. 

Zuvörderst legt Herr Seh. die Stellen vor, welche in den 
Kirchenvätern als Citate aus dem Evangelium noch den 
Ägyptiern autbewahrt sind. Diese Methode, die Texte selbst 
aus den Quellen, mit nöthigen Erläuterungen, darzulegen ist al- 
lein die richtige, weil sie zu eigener Prüfung und Überzeugung 
vorbereitet. Joh. Casp. Orelli hat sie zu gründlicher Bildung 
der Zuhörer am Zürcher Carolinum in den Jahren i8ao — «5 
treftlich durch seine vSelecta Patrum Ecclesiae ad uoriy^Tixriv 
sacram angewendet. Mag man in akademischen Vorträgen noch 
80 viel über schwierige Punkte ans dem Allerthum discutiren, 
ohne das eigene Hineinblicken in die vieldeutigen Überlieferun- 
gen selbst entstehen meist nur moderne, nicht alterthumliche, 
Ansichten. 

Wer die letzten Bucher der Archäologie des Josephus, sei- 
nen judischen Krieg , den Gesandtschaftsbericht des Philo und 
dann das nur allzu Wenige , was von der Zerstörung Jerusalems 
an bis ans Ende des zweiten Jahrhunderts von christlichen Quell« 
Schriften da ist, der Reihe nach ohne Voiui theil liest, wird in 
kurzer Zeit viel anschaulicher in den äussern und innern Zustand 
der Juden und Christen der urchristlichen Weltperiode eingeführt 
seyn , als sonst durch eine Menge umschreibender Beschreibungen. 
Auch für die Theologen sollte (wie Semler und Stroth 
eine solche Förderung des theologischen Quellenstudiums beab- 
sichtigten) eine solche zweckmässig auswählende, gedrängte, nur 
durch die nöthigsten Sprach- und Sacherläuternngen ausgestattete 
»Bibliothek ihrer Classiker« bearbeitet werden; freilich aber 



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über das Evangelium nach den Aegjptiern. 



nicht, wie ja wohl Versuche gemacht worden sind, von Anfän- 
gern, sondern von geübten Sachkennern, die sich von dem An- 
wendbaren nichts wesentliches entgehen lassen , den alten Über- 
flufs von geschmackloser patristischer Vielredenbeit ober zusam- 
men wissen. 

Nach Clemens Strom ata 3, i3. berief sich Cassian, als En- 
kratite auf ein p»;tov, welches Cl. tv rop xat Aiyvnxtovs tvayy. 
fand. Nicht auf eine später mythisch und ohne Ge- 
währschaft entstandene Sage, sondern auf eine Beglei- 
terin Jesu, Salome (vgl. Mark. i5, 40) berief sich der doketisch 
gesinnte Enthaltsamkeitslehrer, indem er die wörtlich dunkle Stelle 
uberliefert: Der Herr habe auf ihr Fragen: wann das, wovon 
gesprochen worden war (??) erkennbar werde? geantwortet: 
»Alsdann, wenn ihr getreten habt die Kleidung der Scham, und 
»wenn die Zwei Eines geworden sind, und das Männliche nebst 
»dem Weiblichen weder männlich noch weiblich ist.« 

Dies klingt orientalisch räthselhaft genug, in der Tbat aber um 
so mehr wie ursprungliche ächte Rerniniscenz und Überlieferung. 
Zum Glück hat der sog. II. Brief von Clemens Rom. die be- 
stimmtere Notiz uns erhalten, auf welche Frage Jesus so ge- 
antwortet habe. Jemand nämlich habe ihn befragt: wann das 
Reich (der messianische höhere Regierungszustand 1 Hör. 1 3, 24) 
kommen werde? und die Antwort sey gewesen: »Alsdann, 
»wenn die Zwei Einet seyn werden, und das Äussere wie das 
»Innere, und das Männliche nebst dem Weiblichen weder mann- 
»lieh noch weiblich.« 

Der Sinn des Rathseis ist demnach unverkennbar eben der, 
welcher Mt. 2a, 3o. Lk. 20, 35. populär und kirchlichfafslich 
ausgedruckt ist. Die Sadducäer hatten Jesu aus der Voraus- 
setzung, dafs nach der pharisäischen crassen Vorstellung durch 
Auferstehung ein zur Fortpflanzung gebildeter Leib zu erwarten 
sey, eioe Einwendung gegen die idealischere Anastase, gegen die 
Fortdauer der Geister in angemessenen Leibern überhaupt, vor- 
getragen. Ihnen deutete Jesus pneumatischer darauf, dafs es 
in dem künftigen Äon des Reiches Gottes Leiber ohne Geschlechts- 
theile geben könne, weil man weder heirathen , noch sich ver- 
heirathen lassen werde , tv m avaoxaati ovxt yapovat , ovx$ 
iuyapi£ov%<xi. Paulus, über die pharisäische craste Dogmatik 
erhoben, deutet auf ähnliche Weise 1 Hör. iö, 39. darauf, dafs 
der Leiber (der organischen Mittel iür das äussere Bewufst- 
werden der Geister) gar mancherlei Arten seyn könnten, 



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204 

« 



auch solche, die nicht mehr für das Psychische, die Animalitat, 
sondern rein der Geistigkeit angemessen ( nviv^arixa ) wä- 
ren. Nach vs. 5o ist ein aus Fleisch und Blut bestehender Leih 
für jene ewige paoiXiia deov nicht zu erwarten, da die ßaoe 
Acta tov $eov nicht in Essen und Trinken bestehe. Rom. 14, 17. 
(Das Pneuina des Urchi istenthums ist, in allen solchen Stellen, 
die leidenschaftlos wollende Vernunftkraft des die begehrende 
iJ^^tj (to «juSvuijtixov) sowohl als den Leib regierenden Geistes.) 

Auch Jesu mehr änigmatische und deswegen schwerlich un- 
echte Beantwortung ging demnach darauf, dafs »nach dem ir- 
dischen Tode, wenn man auf diesen Leib, dessen Glieder zum 
Theil Scham erwecken, als auf einen abgelegten und der Erde 
übergebenen trete, ein Gottesreich beginne, wo man weder 
Mann noch Weib (weder heirathend , noch sich verheirathen las- 
send) sey, wo vielmehr das Äussere wie das Innere, das ist Alles 
geistig, und für das Geistige passend, seyn werde.« (Dies wäre 
das, was man dann einen verklärten Leib nannte.) 

Der Enkratite Cassian aber fehlte darin, dafs er, was Jesus, 
zwischen der pharisäischen crassen Behauptung und der saddu- 
cäischen grundlosen Verneinung künftiger Organisationen für die 
Menschengeister in der Mitte stehend, von einer ohne Verdauungs- 
und Fortpflanzungs-Organe wohl im höheren Aon denkbaren Kör- 
perlichkeit gesagt hatte, gegen die Fortpflanzuug diesseitiger 
irdischer Organisationen anwenden und das diesseitige Gebähren 
deswegen (gegen den Sinn Jesu, Matth. 19, 11. 12.) hindern zu 
müssen meinte. Auch dieser Irrthum entstand, weil die populäre 
Theologie damals, wie fast immer noch, die Sunde nicht im im- 
perativen Wollen des Geistes fand, sondern die zur Zeugung 
physikalisch nothwendige Erregbarkeit des Leibs, indem sie in 
das Leidenschaftliche ausarten kann , als Sünde deutete. 

Abgesehen von dem Dogmatischen dieser Gnosis (die wir 
übrigens nach S. 4* 5. bis von der pythagoräischen Zahlenphilo- 
sophie abzuleiten für allzu entfernt halten) fuhrt nun Herr Sch. 
S. i3 einen Schritt weiter. Ein Gluck ist's, dafs die Epa II. Cle- 
mentis jene Hauptstelle aus dem ägyptischen Evangelium aufbe- 
wahrt hat. Wir erfahren dadurch, nicht blos was Jesus antwor- 
tete, sondern auch wie er befragt worden war, und dafs also 
seine Antwort nicht auf den jetzigen Erdenzustand, sondern dar- 
auf sich bezog , wie ein Beich Gottes unter den Auferweckten 
und mit neuen, aber umgewandelten oder verklärten Leibern auf 
der Erde (in dem neuen Jerusalem ?) bestehen werde. 



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über da* Evangelium nach den Aegyptiern. 



Das Weitere ist noch etwas mehr problematisch. Auch die 
dogmatischen Grundideen des Clementinischen Fragments stim- 
men, wie der Verf. bemerkt, mit dem, was die speculative 
Parlhie unter den Ebionifen lehrte und gnostisierte , uberein. 
Sollten also, fragt er weiter, nicht auch die übrigen Evangelien- 
citate in derselben Reliquie aus dem ägyptischen Evangelium ge- 
nommen seyn? Dadurch wurde unsre Henntnifs von diesem um ia 
Citationen, welche §. 8. angiebt und beleuchtet , vermehrt werden. 

Ich finde nichts bedeutendes, was gegen diese Wahrschein- 
lichkeit einzuwenden wäre. Denn dafs Eine der zv»ölf Citalionen 
— Xiri* yap xvptoc iv to zvayyikua* ti to uixpo? ov* e-r >.('>> 
aaxt, to peya xi$ vptv ^att, Xfyo yap vutv, öri b itioibQ 
iv LXayioKo xal iv itoXX(3 moioq iaxi — mit Lukas 16, 1 1. 
»örtlich übereinstimmt, an Matth. s5, 23. aber nur entfernter 
erinnert, beweist uns nicht das Gegentheil, da die Redactionen 
der apokryphischen Evangelien offenbar späterhin ihre Texte im- 
mer mehr vervollständigten = ein einziges EvayyiXiov aber 51X17- 
pfOTaxov haben wollten. Sollte jedoch auf diese von dem Verf. 
scharfsinnig gefundene Probabilität einst etwas weiteres gebaut 
werden, so würde, dafs sie indefs nur eine Wahrscheinlichkeit 
ist , alsdann nicht vergessen werden dürfen. Man baut vergeb- 
lich, wenn nicht, so oft ein neuer Stein aufgestellt werden soll, 
die Festigkeit der Grundlage genau sondiert wird. 

Indefs scheint auf alle Fälle durch diese erweiterte Henntnifs 
von dem ägyptischen Evangelium weniger, als ich wünschen 
mochte, gewonnen, weil schwerlich zu bestimmen seyn wird, in 
welcher Zeit diese Epistola II. oder diese Homilie dem Cle- 
mens Rom. untergelegt worden sey. Wahrscheinlich doch nicht 
so lange er lebte? Wäre es früher entstanden, so müTste ein 
Umstand auffallend werden , den der Verf. nicht hervorgehoben 
hat, der Umstand nemlich, dafs wo die (S. s3 — 28) angegebenen 
und beurtheilten Citate des Briefs mit dem Matthäustext überein- 
kommen , sie auch schon den griechischen, nicht einen chal- 
däischen syrischen, Text als ihm einverleibt zeigen. Wie nun 
auch dasjenige Hebräer-Evangelium, welches Hieronymus 
aus dem mit hebräischen Buchstaben aber in chaldäisch - syrischer 
Sprache geschrieben, von den Nazaräern zum Übersetzen ins 
Griechische und Lateinische erhalten hatte, Spuren der Ent- 
stehung aus dem griechischen*) Matthäustext in sich 

') Ich habe aie in diesen Jahrbb. 1832. Juli, S. G30-S5 deutlich gemacht. 



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zw 



Dr. Schncckenburger 



hat, so werden, wenn das ägyptische Evangelium der Epa II« 
Dementis zum Grund liegt, diese Spuren vermehrt, dafs der 
griechische Text des Matth, schon die Grundlage dieser zwei 
Hauptstämme des Hebräerevangeliuros sey , welche mehr für 
hebraizirende als für gräcissirende Judenchristen aus Traditio- 
nen (wie von Salome) vervollständigt, aber nach dem Zweck der 
Partheien verschiedentlich modißcirt wurden. 

Der griechische Matthaustext dagegen war, wie mir sein 
Inhalt beweist, mehr für die griechischen Judenchristen in 
Galiläa aus früheren Aufzeichnungen des Zollpachters, Matthäus, 
zu Capernaum, zusammengetragen und so redigirt, dafs diese 
galilaischen und alle gräcissirenden Judenebristen das, was von 
den hebräischen oder alt palästinischen Juden an Jesu, des Mes- 
sias, Schicksalen anstößig aufgefafst werden mochte, durch alt- 
testamentliche Parallelen und Analogien desto eher vertheidigen 
konnten. Das Innere dieses galilaischen Evangelium pafst so sehr 
auf den bei Capernaum stationirt gewesenen Zollpächter Matthäus, 
dafs wir hierin die Tradition nicht bezweifeln können. Je viel- 
seitiger sie mit Scharfsinn betrachtet und bezweifelt worden ist, 
desto schärfer werden nach und nach die Grenzlinien erkennbar, „ 
innerhalb deren sie als wahr besteht, weil der Inhalt des Evan- 
gelium mit der äussern Hunde harmouirt. 

Sehr richtig ists, dafs weiterhin der VI. bei Betrachtung der 
mit einander nahe verwandten ältesten apokryphischen Evangelien 
zugleich auf den historisch und psychologisch gewissen Unterschied 
ihrer Partbeimeinungen und Bildungsstufen viele Rücksicht nimmt. 
Sogar unter den Ebionäern, die doch meist aus palästinischen 
Judenchristen, welche wegen der romischen Zerstörung aus Je- 
rusalem und dem Lande flohen, als abgesonderte Gesellschaft ent- 
standen waren, und bei denen also meist nur eine populäre Pi- 
stis (persuasio fiduciam et Ii dem gignens) vorauszusetzen ist, 
zeigt sich, wie ich auch sonst schon bemerklich machte, unter 
dem Namen Elxai (das ist El-csai = Gottesge- 
heimnifs) eine Gnosis. 

Nur ist unter dieser Bemerkung nicht speciell an die durch 
Irenäus bekannter gewordenen Gnostiker zu denken, welche sich 
besonders mit allerlei gleichsam genealogischen Ableitungen der 
Geistcrwelt und des materiellen und moralischen Übels aus dem Ur- 
wesen abmüheten. Nicht nur überhaupt bedeutet yivvoxtiv immer 
ein tieferes, genaueres Erkennen. (Das yyo&t oeavioy 
fordert zur Tiefkenntnifs und Scheidung dessen auf, was im 



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über dat Evaogdium nach den Aegyptiern. 261 

Menschen subjectiv und was individuell ist) Um die Zeit des 
ürcbi isienthums schrieb schon in jeder Parthie der selbstdenkende 
Theil sich eine Gnosia zu, insofern er die populäre Pistis von 
allzu sinnlichen Vorstellungen reinigen und dadurch glaublicher 
machen zu kennen bemuht war ( wie z. B. nach dem oben er- 
wähnten aich Paulus die neue Kürperauferstehung pneumatischer 
dachte.) Man wufste wohl, wie Gegner sich eine Gnosis als 
tiefere Kenntnifs zuschrieben, und nannte sie deswegen (nach 
i Timoth. 6, ao.) eine ^tvdinvv^. Sie lege den schönen Na* 
men ihren verkehrten Speculationen fälschlich bei. Auch der 
1. Br. v. Job. redet schon gegen solche, welche zu sagen liebten: 
syo lyv&xa 'Avxörl 2,4-, welche also ausdrucklich unter der 
Benennung jvaaiq sich eine Tief kenn Itiifa (dafs nämlich die 
Sunde nur in der crup(, nicht im Pneuma sey) zuschrieben und 
in dieser Beziehung die Johanneische Christen als beschränkt- 
denkende und allzu ängstliche verachteten. Dagegen sagt der 
Brief mit Recht und immer beharrend auf dem Kunstwort syrav 
xaucy, dafs Job. und die Seinigen die ächte Gnosis über die Sunde 
hätten, die nicht in der oafi sey, da auch der Messias einen 
wahren Menschenleib gehabt habe. 

Die sittlich schädliche Seite des Doketismus, welche denn 
auch leicht in ein Verbieten der Ehe, der Speisen etc. *, a. 
uberschreiten konnte , hatte sich also schon in dieser frühen Zeit 
gezeigt. Und überhaupt ist es zu allen Zeiten psychologisch nicht 
anders möglich, als dafs die Meisten sich an unentwickelte Über- 
zeugungen als an ihre Pistis glaubenstreu (gleichsam ankle- 
bend) halten, Andere aber das überschwengliche Wie und War- 
um tiefer und höher, superrational und sogar speculati? (von 
oben, gleichsam aus der Adlers-Perspective, vom Absoluten her- 
ab) zu erkennen d. i. eine Gnosis zu haben sich bereden. Des- 
wegen steht zu allen Zeiten diese unächte Gnosis, welche das 
wesentliche Seyn Gottes und der Geister durch gnädige Mitthei- 
lungen zu erkennen und die menschliche Rationalität zu überstei- 
gen (zu transcendiren) oder zu überfliegen meint, auf Stufen 
von gröTsercr und grÖfserer Hohe und blickt von ihren Höhen auf 
alles, was nicht sie selbst ist, als auf das Fade, Leere, Niedrige 
und Niedrigere herab. Die rationelle Gnosis hingegen steigt, wie 
der Johannesbrief in seiner wahren Ergründung des Sitzes der 
Sünde, in die Selbstkenntnifs des menschlichen Geistes und sei- 
nes Verhältnisses zur Natur und zu Gott mit beller Beobachtungs- 
kraft binab , wird dadurch dessen , was gottandächtige aber zu- 



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2(58 Dr. Schncckenburger 



gleich helldenkende Menschen über das GÖttlichvoIlkommcne und 
über alles übrige Unvollkommene theils erschliefscn theils beob- 
achten können, gewifs und berichtigt sich das, was in den un- 
Maren und unbestimmteren , wenngleich redlichen , Überzeugun- 
gen der Ungeübteren mehr Ahnung und Meinung, als reine, vor- 
urteilsfreie Gewifsheit seyn kann, ohne Übermut h und Eigen- 
dunkel , so , dafs sie auch in die Pistis , insofern dies Wort den 
Glaubensinhalt bedeutet, richtigeres, soviel es ohne Störung des 
Vertrauens geschehen kann, durch Grunde all mahl ig uberträgt. 

Jesus mufste zu seiner Zeit dem Pharisäismus im Setzen 
der äussern Handlungen über die praktische Gesinnung und in 
crasseren Dogmen, dem Sadducäismus aber in dessen politi- 
scher und theoretischer Selbstsucht, mit Ernst und Eifer als der 
Messias , das ist als Verwirklicher eines geistigen Reiches Gottes, 
entgegen seyn. Nur das Gottandnchtige der Essäer oder 

Seelenärzte, O^DN (- v gl* a °ch welche auch einige 

• M • | II 

Heilungskenntnisse , ohne Theorie , nach ägyptischer und über- 
haupt orientalischer Weise unter sich hatten, mufste als das Bes- 
sere aus dieser dritten judischen Religionspaithie Ihm näher ste- 
hen, ungeachtet er von den Sonderbarkeiten derselben unabhän- 
giger wirkte, als der Täufer Johannes. 

Diese Essäer nun theilten sich, dem Lande nach, in palästi- 
nische und ägyptische. In beiden Ländern lebten manche ganz 
abgesondert ihreo geistigen Beschauungen und Andachtübungen. 
Die palästinischen , nach Plinius Hist. natur. in der Nähe des 
Asphaltsees, also auch in der Nähe von dem Geburtsort des 
Täufers. Die in Ägypten bei Alexandria können durch den grie- 
chischen Namen Therapeuten, wenn er gleich ebenfalls nichts 
anderes als Seele närzte bedeutet, treffend unterschieden wer- 
den, weil sie für ihre Contemplation auch, was sie durch das 
Griechische erfahren konnten, theosophiscb benutzten. Die von 
der strengeren Observanz am todten Meere wohnenden schöpften 
mehr aus dem Hebräischprophetischen. 

Die meisten von beiden Parthien und Ländern aber waren 
auch in vielen Orten als die Stillandächtigen im Lande, zerstreut 
und waren äusserlich an ihrer weifsen Kleidung kennbar. Nach 
Josephus v. jud. Kr. II, 6. p. 785. Xev^etf*oyiiv Sia nuvroq tv 
xaXa r&gvxai. Sie haben, sagt derselbe ferner, nicht Eine 
Stadt (allein für sich), aber in Jeder wohnen Viele mit. 
Und Denen, welche anderswoher kommen, (sie blieben 



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über das Evangelium nach den Aegypticrn. 2G9 



also auch nicht allzu beschränkt auf die Heimath!) wird alles, 
was sie haben, wie eigen, dargeboten und sie tretten bei denen, 
die sie vorher nicht sahen, ein wie die gleichartigsten Bekannten. 
Deswegen machen sie auch ihre Beisen in die Fremde = <*»o- 
ditfiiac, ohne etwas mitzutragen. Nur wegen der Bäuber sind 
sie bewaffnet. (Vgl. Matth. 10, 10 — 13. Lüh. 22, 36.) 

Die Natur der Sache bringt es mit sich, dafs viele von die- 
ser zerstreuten und doch zusammenhaltenden Volksklasse für Jesu 
Auf forderungeu empfanglicher und , bei äusserer Armuth, im Geiste 
beseeligt (Mt, 5, 3.), wohl auch für das Bechte, die Jiaxcuo- 
avvr, , wirksam waren. 

Die vor dem Sclavenpressen der romischen Eroberer (Luk. 
21, 24«) fliehenden Christen im Lande waren naturlich Ebio- 
nim, meist arme. Sie hatten ohne Zweifel manche Essäisch- 
erzogene unter sich. Eine ziemliche Zeit vor dieser Flucht mufs 
schon das Evangelium oder die Memorabiliensammlung des Mat- 
thäus , meist aus seinen galiläischen Aufzeichnungen, geordnet 
worden seyn. Was darin über die Tempelzerstörung und die Be- 
lagerung Jerusalems gesagt wird , ist noch weit einfacher, als das 
bei Lukas, also von den Vorboten des Erfolgs noch entfernter. 
Lebensbeschreibung ist der Zweck nicht. Die Forderungen , die 
man daran, als Biographie macht, sind willkuhrlich und unbillig. 

Wer nun von solchen Flüchttingen essäisch -christlicher Art, 
die nach Matth. 24, 20. noch den Sabbat beobachteten, nach 
Pella oder weiter nach Arabien zog, blieb mehr in der palästini- 
schen Sprache und Weise, da jenseits des Jordans weithin Juden 
ansässig waren. Diese mögen dann auch in ihrer Pistis ebio- 
ni tisch heifsen , ohne dafs es recht und billig ist, ihre noch 
zeitnahe Kenntnifs von Jesu Persönlichkeit armseelig zu 
nennen. 

Andere nach Ägypten geflüchtete wurden mehr therapeutisch- 
gnostisch. Beide modificirten ihr Evangelium nach dem Gang 
ihrer Ausbildung; das der Ägyptischen wurde gnostischer, in dem 
oben angegebenen Sinn eines Strebens nach einer über die Pistis 
mehr transcendent als rationell sich erhebenden Tieferkenntnifs. 
Aber die Grundlage ihres beiderseitigen Evangeliums war eine 
gemeinschaftliche und schon vorhandene. 

Darauf deutet auch eine dritte Bedaction, die durch Ori- 
genes behanntere und von Hieronymus^ins^Griechische und Latei- 
nische ubersetzte, welche er von hcbräischen'Christen in 
Syrien als in chaldäischsyrischer Sprache, aber mit hebräischen 



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270 Dr. Schneekenbarger üb. d. figypt. Evang. 

Buchstaben geschrieben erhielt und die (mochte doch seine dop- 
pelte Übersetzung noch irgendwo gerettet seynü) viele eigene 
Anekdoten und Zuthaten gehabt haben mufs, weil er sie sonst 
nicht besonders ubersetzt haben wurde. Nach dem, was er dar- 
aus mittbeilt , war sie mehr historisch und nicht so umgebildet , 
wie Epiphanius aus der ebionitischen (seiner Zeit) Beispiele giebt. 

So lange wir der Regel folgen werden, dafs das Einfachere, 
wenn es nicht Merkmale der Entstehung durch Epitomiren (wie 
das Markusevangelium) in sich hat, das Ursprungliche ist, werden 
wir das so einfache galiläische Aneinanderreihen fragmentarischer 
Memorabilien , das die Tradition Matthäusevangelium nennt und 
dessen Inhalt so gut aus den Verhältnissen dieses Zolleinnehmer« 
bei Capernaum zu erklären ist, für die frühere Grundlage zu hal- 
ten habe, welche, schon als griechisch, Lukas durch zwei 
kleine Sammlungen (K. 1. u. 2. als libelltts de Infantia und dann 
K. 9, 5i. — 18, 14. ein libellus ltinerum ) vermehrte, Markus 
ebenfalls aus dem Griechischen epitomirte. 

Die syrischen Nazarencr hatten es späterhin (wahrscheinlich 
als ubersetzt) im syro-chaldäischen Dialekt mit hebräischen Buch- 
staben, durch allerlei, soriel aus den Überresten zu sehen ist, 
historischen Anekdoten vervollständigt. Die ägyptischen oder 
therapeutischen suchten für ihre Theosophie mehr änigmntisehe 
Überlieferungen, erwünschte Paradoxien von einer Salome, de- 
ren auf perfectior deutender Name schon bedeutsam scheinen 
mochte. Diese Redaction aber deutet auch auf Abstammung aus 
dem Griechischen als Urtext. 

Die transjordanische, gewohnlich ebionitisch genannte, ist 
am wenigsten bekannt, scheint aber ebenfalls — wenigstens bis 
eine Geheimnifslehre , elcesaitisch genannt, dazu kam — syro- 
chaldäisch gewesen zu se?n. 

- 

a8. Jan. 1O37. Dr. Paulus. 



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Chr. G. Schütz, Darstellung ■. Lebens, Briefe u. t. w. 271 

1 



Christian Gottfried Schütz. Darstellung deines Lebens, Charakter» 
und Verdienste»; nebst einer Auswahl aus seinem literarischen Brief- 
wechsel mit den berühmtesten Gelehrten u. Dichtern seiner Zeit. Her- 
ausgegeben von seinem Sohne, Friedr. Karl Julius Schütz. I. Bd. 
XU. 484 S. Briefe von Philologen. II. Bd. WML 558 S. Briefe von 
andern Gelehrten und Dichtern. Halle 1834. 1835. bei Scharre. 8. 

Mit Einstimmung las Ref. kürzlich bei der Recension des 
tod 8 nebelischen Briefwechsels die Bemerkung eines Zeit- 
kenners in der Allg. Literaturzeitung Nor. i836. S. 417: »Wer 
durch amtliche oder andere Verhältnisse die hentige Jugend in 
den höhern Classen der Gymnasien und auf den Universitäten 
kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hat , wird es mit uns bekla- 
gen, dafs das jüngere Geschlecht immer weniger von 
der Geschichte der nächsten Vorzeit weifs and dafs ihm 
die lyrischen and epischen Dichter aus dem Zeitalter der Hohen- 
Staufen besser bekannt sind als Gdthc, Schiller, Herder, 
Wieland, Vofs und Andere, durch welche seit Leasings Zeit 
die deutsche Literatur einen so glänzenden Aufschwung erhalten 
bat.« Dies gilt unstreitig nicht blos, ja nicht einmal hauptsäch- 
lich, in Beziehung auf das Schöngeistige, sondern noch viel- 
mehr auf den Gang der wissenschaftlichen Aufklärung 
überhaupt. Wie wenige hätten sich wohl von einigen nach Kant 
und Fichte einst schnell aufgeschossenen , indefs aber ins Stocken 
gerathenen Grofsphilosophen nach dem Sprichwort: Verdammt 
sey, wer vor Uns etwas erfunden hat! bereden lassen, dafs das 
Vorausgegangene nur Aofklärerei gewesen sey, wenn sie auch 
zuvorderst nur literarisch - historisch zu wissen sich bemüht hat« 
ten, was alles vorher, seit Friedrich der Grofse den freithätigen 
Verstandesgebrauch mit allen seinen klüger machenden Pro und 
Contra zum zuverlässigsten Alliirten und Garanten seines neuge- 
schaffenen, gegen allen Unverstand und Schlendrian protestanti- 
schen Staates gewählt hatte, in allen Fächern wegzureinigen, 
hinauszakiären und durch anderes, wenngleich nicht vollkomme- 
nes, doch nicht lichtscheues, aber auch nicht überspanntes und 
alleinrechthaberiscbes zu ersetzen gewesen sey. Und wieviel ar- 
rogantes , zweckwidriges , ja unsinnig verderbliches wurde hof- 
fentlich unterlassen, wie viele durch unvorbereitetes oder ohne 
verständige Mäfsigung benutztes Vorschreiten verursachte Ruck- 
schritte und Ruckfälle wurden leicht erspart worden seyn, wenn 
mau zurückgeblickt hätte, durch welche Vereinigung der nach 
Ehre and Ruhm strebenden Grofsen und Machthaber mit denen 



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272 Chr. 6. Schutz., Darstellung Lebens , Briefe a L w. 

« 

das Ehrenhafte vorschlagenden Rathgebern und Gelehrten mehrere 
Decennien hindurch viele verbesserte Institutionen, ohne Papier- 
Verschwendung, in die Wirklichkeit versetzt worden sind, wel- 
che seitdem durch Unkenntnifs der erprobten Mittel und Wege 
in Beargwohnung gestürzt und auf Jahre hinaus rückgängig ge- 
macht sind. Die Geschichte wird nur dann die Lehrerin der 
Menschen , wenn man , wodurch und wozu das Bedeutende ge- 
seheben ist, im Detail, pragmatisch und psychologisch kennen 
lernt. Da immer nur unter gleichen Umständen gleiches zu ra- 
then seyn bann, so ist nichts ralhsamer, als dafs von Denen, 
welche wirken wollen, jenes Detail vornehmlich an denen noch 
näheren Vorgängen der nicht schon allzusehr abweichenden Epo- 
chen der Vorzeit bis zur speciellsten Sachkenntnis studirt werde. 

Dergleichen Betrachtungen erneuern sich sehr natürlich bei 
einem sechsundsiebenzigjährigen Zeitbeschauer , besonders wenn 
die interessanten Briefsammlungen von Männern, denen er gleich- 
zeitig und geistesverwandt gewesen zu seyn als das reinste Glück 
seines Lebens schätzt, wieder durch Eine vermehrt wird, welche 
besonders in die Studierzimmer der Literaten und in das Pro- 
blem , was , und wie es nach Umständen ihnen möglich wurde, 
hineinblicken läfst. Schütz selbst hatte feines encyklopädisches 
Talent genug, um nicht allein als Philolog im umfassenden Sinn, 
sondern auch, da die Philosophie, in viele Terminologie und Dia- 
lektik gehüllt, in die Vorderreihe trat, den Geist aus dem Buch- 
staben in eine mehr geniefsbare Tinctur herauszuziehen und sogar 
in entfernteren Fächern als Bedacteur einer damals einzigen Be- 
urtbeilungsanstalt über die Gesammtliteratur die geistigere Behand- 
lung zu fördern. Auch seine philosophirenden Programme und 
manches Extemporisii te dieser Art gehört zu dem durchsichtig- 
sten oder durchlcuchtendsten jener antiskeptischen Kristallisatio- 
nen, die aber mit dem Karfunkel der mittelalterlichen Bomantiker 
und Leiermänner nichts gemein hatten. Auch durch Zudring- 
lichkeiten der Bonaventura s und anderer Herrschgierigen erhielt 
er sein Institut und seine Laune ungestört. 

(Der ßcschlufs folgt.) 



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N°. 18. HEIDELBERGER ' 1837. 

/JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

ggg ^ mssassssss g^gg " 1 " i 

Chr. G. Schute, Darstellung seines Lebens, Briefe u. s. w. 

( Betchluft.) 

Wer als Menschenkenner lesen kann und zu combiniren 
versteht (was freilich schwerer ist, als das apriorische Construt- 
ren oder das dialektisch mythische Destruiren der Geschichte !) 
der wird aus den beiden Bänden, welchen hoffentlich der 
dritte bald folgen wird, zwar nicht ganz neue Gestalten, 
aber doch viele Zuge in das literarische Zeitgemälde der nächsten 
Vergangenheit einzutragen finden. Mich selbst hat es erfreut, 
durch das im II. Tb. S. 3 06 — 329 aus meinen längst vergessenen 
Briefen Mitgetheilte wieder an manche heitere Stunde und an 
Verhältnisse erinnert zu werden, aus denen uns nichts reuen darf. 
Ich bekenne den Wunsch, dafs ich gar gerne noch, was der zeit* 
kundige Biograph seines Vaters aus den vielen Briefen von Gries- 
bach auswählen wird, zur Beminiscenz zu lesen bekommen möchte. 
Der mannhafte Griesbach, wie oft steht er noch vor mir, mit 
seinem lächelnden Scharfblick, mit der Zuverlässigkeit und Nicht- 
aufdringlichkeit seiner Forschungen, die auf den mühsamsten, 
vom Kleinen zum Umfassenden aufstrebenden Lucubrationen be- 
ruhten , mit der Umsicht, im Leben für Kirche und Staat wie in 
der Wissenschaft nur um des Praktischen willen der möglichst 
richtigen Theorie nachzuspüren , und dann zugleich mit jener auf- 
richtigsten, festen Biederkeit, den redlich dissentirenden nichts 
entgelten , den Jüngern von seinem Übergewicht nichts drücken- 
des fühlen zu lassen! Dafs ich ihm, einem solchen Mann, die 
fiübzeitige Einführung in akademische Wirksamkeit, von der mir 
Geistesausbildung und soviel inneres Glück abhieng', vornehmlich 
zuzuschreiben hatte, darüber und für sein lebenslängliches Ver- . 
trauen wird mein Dankgefühl nie verloschen. Ich darf wohl be- 
kennen, dafs, wie mir der gelehrteste, consequenteste und herz- 
lichste supernaturalistische Dogmatiker, Dr. Storr, bei den ab- 
weichenden Uberzeugungen oft zum Maasstab, was er mir ent- 
gegenzuhalten haben würde, geworden ist, ich ebenso bei exe- 
getisch kritischen, psychologisch historischen, auch chronologi- 
schen Untersuchungen , welche auch nur nachzuprüfen jetzt nicht 
XXX. Jahrg. 3. Heft. . •„ 18 



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274 ' * Müller i Arithmetik und Algebra. 

modisch ist, mir gar oft den gegen Neues nie abgeschlossenen, 
aber auch nicht nachsichtigen Blick Griesbachs vergegenwär- 
tigte, um, wie weit ihm meine Probabiiitäten genügen könnten, 
voraus zu wissen. Ehrwürdige Zeit , die uns solche Vorbilder 
gewährte. 

Jan. 1837. Dr. Paulus. 



Arithmetik und Algebra , nebst einer systematischen Abhandlung der juri- 
stischen, politischen, kamcralistischen , sowie der im Leben überhaupt 
vorkommenden praktischen Rechnungen. Von Dr. Anton Müller, 
grofsherzogl. Bibliothekar und Privatdoeenten an der Universität zu 
Heidelberg. Heidelberg, Mohr, 1833. 8. MI 11. 587 S. 

Die Ausarbeitung und Herausgabe dieser Schrift ist zunächst 
durch den Umstand veranlafst, dafs die praktische Arithmetik seit 
langer Zeit keine Tollständige Bearbeitung erhalten hat, und des- 
halb dem Geschäftsmanne die Hülfsraittel , deren er bedarf, wenn 
es sich um wichtige Rechnungsfragen handelt, nicht zu Gebote 
stehen; ferner dafs, grofstentheils wegen eben dieses Mangels, 
beim Unterrichte in gelehrten Anstalten auf Fragen aus der prak- 
tischen Arithmetik nur wenig Bucksicht genommen wird. Ein 
anderer Bestimmungsgrund lag in der Uberzeugung , dafs die 
theoretische Arithmetik in manchen Punkten einer wesentlichen 
Verbesserung und Nachhülfe bedürftig ist. 

Bei der Bearbeitung der theoretischen Arithmetik bin ich 
von der Ansicht ausgegangen, dafs die Angabe der Mittel und 
Wege, wodurch die Beantwortung der, durch die Bedürfnisse 
des Lebens (in der weitesten Bedeutung) hervorgerufenen Rech- 
nungsfragen möglich wird, die Aufgabe der allgemeinen Arith- 
metik ist; der Mensch mufs sich durch sie befähigen, und für 
alle Fälle einen Haltpunkt in ihr finden können. Um aber diese 
Aufgabe richtig zu lösen hielt ich folgende Punkte fest 

Der Mensch, wie er aus dem Leben kommt, mit seiner Ge- 
wohnheit, nur das Einzelne zu nehmen, unterscheidet leicht an 
Gegenständen jene Eigenschaften, vermöge welcher sie als ein 
Ganzes constituirend genommen werden können. Die Fragen, 
welche in Bezug auf solche Gegenstünde stellbar sind , sind zu- 
gleich so einfacher Natur, dafs ihre Beantwortung nicht schwer 
fallt. Deshalb, und weil keine Aufgabe denkbar ist, wo nicht 
wenigstens eine dieser Elementarfragen vorkäme, ist die Beant- 
wortungweise derselben der erste Gegenstand der Beschäftigung. 



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Müller i Arithmetik und Algebra . - 173 

Hierbei bleibt der gewöhnliche Mensch stehen ; er lieht sich 
in den Stand gesetzt, in einem gewissen Kreise alle einzelnen 
Fragen zu beantworten. Allein die Einsicht schreitet auch wei- 
ter: man erkennt an vielen einzelnen Fragen ein Gemeinsames, 
man unterscheidet Fragen derselben und Fragen verschiede- 
ner Art; es wird Bedürfnifs, ein einfaches Mittel zur gemeinsa- 
men Beantwortung der Fragen einer Art zu gewinnen, man 
kommt auf die Bildung und Festhaltung von Ausdrucken (Zahl- 
formeln), wodurch man der Zurückschreitung zum einzelnen 
Falle uberhoben wird. 

Sobald aber Fragen einer, und Fragen verschiedener 
Art unterschieden werden, giebt sich auch bei Fragen verschie- 
dener Art etwas Gemeinsames kund, wodurch sie verwandt wer- 
den , und ebenso stellt sich in den allgemeinen Beantwortungs- 
weisen derselben eine überraschende Ähnlichkeit dar. Es wird 
deshalb ein weiterer Schritt gemacht, und die gemeinsame Be- 
antwortungsweise von Fragen verschiedener aber verwandter Ar- 
ten aufgesucht Je gröfser dieser Schritt der Einsicht ist, desto 
schwerer ist er. Allein die Erkennung des Grundes, warum Fra- 
gen verschiedener Art verwandt erscheinen, fuhrt zum Ziele: es 
beruht alles auf der Beziehung, in welcher die Gegenstande in 
den Fällen der einzelnen Arten zu einander stehen , und auf der 
Weise, wie diese Beziehung festgehalten wird. Ist dies einge- 
sehen, so stellt sich auch das zur Zusammenfassung von Fällen 
verschiedener Arten, zur gemeinsamen Beantwortung ganz hete- 
rogener Fragen leicht dar. 

Das Festhalten der gemeinsamen Beantwortungsweise von 
Fragen derselben Art , oder von Fragen verschiedener aber ver- 
wandter Arten fuhrt unmittelbar zum Gebrauche allgemeiner Zei- 
chen statt der einem besonderen Falle entnommenen Zahlen , und 
mit der Einfuhrung dieser Zeichen (der Buchstaben) ist erst das 
Mittel zum Zusammenfassen aller Einzelnheiten gefunden. 

Dies ist der Weg, auf dem der Mensch zur wissenschaftli- 
chen Einsicht und Bildung sich emporarbeitet, also auch der 
Weg, auf dem der einer Leitung Bedürfende geführt werden 
mufs, auf dem die Entwicklung der Arithmetik zu geschehen 
hat. Demgemäfs habe ich zunächst die arithmetischen Elemen- 
taroperationen mit Bezog auf das Allgemeine der einschlägigen 
Fragen dargelegt; darauf gehe ich sogleich zum Zusammenfassen 
der Fälle von einerlei Art, uod zu dem der Fälle verschiedener 
Arten über, und bewirke das Letztere durch die Einführung po- 



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216 Möller: Arithmetik und Algebra. 

sitiver und negativer Grofsen; hieran schliefst sich in natürlicher 
Ordnung die Buchstabenrechnung, und damit ist die Grundlage 
vollendet; auf welche die Theorie der Gleichungen und alles 
Übrige folgen kann. 

Von den Ent Wickelungen der einzelnen Gegenstände erlaube 
ich mir zwei besonders anzuzeigen: die Theorie der negativen 
Grofsen, und den Beweis der Realität der imaginären Gr5fsen. 

Sucht man sich die einfache Frage zu beantworten: unter 
welchen Bedingungen kommt man, nach den gangbaren Regeln 
der Arithmetik, auf negative Zahlen, als Resultate? so liegt das 
ganze Gebeimnifs der negativen Grofsen klar und offen vor. Es 
werde, beispielsweise, durch a das vorhandene Vermögen, durch 
6 die Summe der Ausgaben bezeichnet, so wird man den Ausdruck 

a—b 

als Norm für die Berechnung des Vermogenstandes nehmen, je- 
doch unter der Bedingung , dafs immer a gröfser als b sey. Für 
jene Fälle, in denen die Ausgaben b grofser als a sind, wird 
man dagegen den Ausdruck 

6 — a 

als Norm aufstellen, oder man würde den ersten Ausdruck a — b 
noch als Schema beibehalten , dem Resultat fiber die Form 
— -(o — o) geben. 

Bei näherer Betrachtung dieser Beispiele kann nicht wohl 
entgehen, dafs das Behandeln der Falle der zweiten Art nach 
der Norm a — b für die Fälle der ersten Art durchaus nicht 
nothwendig, sondern dafs es der freien Wahl anheimgestellt 
ist, die Norm a — b oder b — a zum Grund zu legen. Ist aber 
dies wahr, so fallt überhaupt die Nothwendigkeit der nega- 
tiven Zahlen weg, und man steht mit der Einsicht auf dem rech- 
ten Punkte, nämlich die Zulassung oder den Gebrauch negativer 
Grofsen als will kührliches Mittel zu betrachten. 

So fafste ich die Sache auf, und bestimmte und entwickelte 
sie in der Weise, dafs ich in aller Vollständigkeit die Bedingun- 
gen zu eruiren und festzustellen suchte, unter welchen die Be- 
handlung von Fragen verschiedener aber verwandter Arten nach 
gemeinsamen Normen geschehen kann. Dabei kam ich auf die 
bekannten Sätze. Dem Kundigen kann der grofse Unterschied 
zwischen meiner Darlegung und der sonst gangbaren nicht ent. 
gehen: bei mir erscheinen die erwähnten Sätze als Bedingungen , 
unter welchen der Gebrauch eines Mittels zulässig ist, eines Mit- 
tels aber, das man, nach völlig freier Wahl, gebrauchen 



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Müller : Arithmetik und Algebra. 2U 

m 

kann oder nicht; in der gangbaren Mathematik dagegen sucht 
man die absolute Existenz jener Sätze zu beweisen. 

In Bezug auf die sogenannten imaginären Grüften ist die 
allgemein angenommene Argumentation folgende: »weil eine ne- 
gative Zahl — A nicht zweite Potenz einer andern Zahl aeyn 
kann, so folgt, dafs \f — A eine unmögliche GroPse ist.« Die 
Unbaltbarkeit dieser Beweisart fallt in die Augen, wenn map die 
Frage beantwortet: unter , welchen Bedingungen kommt der Fall 
vor, dafs aus einer negativen Zahl die Quadratwurzel gezogen 
werden soll? Um die einfache Antwort leicht zu erhalten, sta- 
tuire man zwei Beihen von Rechtecken , bezeichne durch a ir- 
gend eines der ersten, durch b irgend eines der zweiten Reihe, 
und setze fest, es soll die Differenz zwischen a und b in ein 
Quadrat verwandelt werden, » Wird durch x eine Seite dieses 
Quadrates bezeichnet, so ist der für die Bestimmung der Grolse 
des Quadrates dienende Satz 

entweder x*=za~— b 

oder x*=b — a 

je nachdem b kleiner oder grüfser als a ist. Verfahrt man, so 
unterscheidend, so erhält man für x x nie eine negative Zahl; 
macht man aber die Unterscheidung nicht, legt also z. B. den 
ersten Satz x 1 = a — b als Norm nicht nur für die Fälle, in de- 
nen a grofter als b ist , sondern auch für jene , in denen b grö- 
fser als a ist, zum Grunde, welches man, nach ganz freier Wahl, 
thun oder lassen kann , so erhält man für alle Fälle der letzteren 
Art die Bestimmungsnorm 

= — (b — a) 

Wie in diesem Beispiele , so tritt nun überhaupt der Fall , dafs 
aus einer negativen Zahl die Quadratwurzel gefordert wird, nur 
(]|nn ein, wenn die Fälle zweier verschiedener aber verwandter 
Arten nach einem einzigen Gesetze bebandelt werden, welches 
Gesetz zunächst nur die Norm für die Fälle der einen Art aus- 
drückt 

Wird aber die Richtigkeit dieser Antwort — und sie ist wohl 
richtig — zugegeben, so mufs es einleuchten, dafs die bisherige 
Auffassungs- und Erklärungsweise der imaginären Grüften un- 
haltbar, dafs zwischen den Vordersätzen und dem Schlufssatze , 
welcher die Unmöglichkeit der Grofsen von der Form \f — A 
ausspricht, logisch kein Zusammenhang ist. 

Um meine Auffassungs- und Fixirungswcise kurz anzudeuten, 
nehme ich das obige Beispiel wieder vor, und wähle den Falli 



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278 Müller : Arithmetik and Algebra. 

_ * 

in welchem das Rechteck b gröfser als a ist. Legt man die für 
die Bestimmung des Quadrats dienende Vorschrift x % — b — a zum 
Grunde, so erhält man für die Angabe der Seite % den Satz 

x =s \^(b — a) ; 

wird aber die andere Vorschrift x* = a — b zum Grunde gelegt, 
so ist der zur Bezeichnung der Seite dienende Satz 

x=\T—{b — a)=\/(b — a). \/— i 
Hier haben wir nun für eine nnd dieselbe Seite zwei Wert- 
ausdrücke: der eine wie der andere giebt an, dafs die Grobe der 
Seite =\/(b — a) ist, in dem zweiten ist aber durch das Zei- 
chen \/— ' 1 eine Beziehung festgehalten , in welche die Seite x 
dadurch gebracht worden, dafs man für die Angabe der Gröfse 
des Quadrats den Satz x*=a— b als Norm gebraucht hat. Diese 
Beziehung ist aber folgende: 

Man kann die Quadrate, deren jedes die Differenz zwischen 
einem Rechteck a der ersten , und einem Rechteck b der zweiten 
Reihe ist, in zwei Gruppen vertheilen: in der einen (a) kann 
man jene Quadrate zusammenstellen, deren jedes die Differenz 
zwischen einem gröfseren Rechteck a der ersten, und einem 
kleineren Rechteck b der zweiten Reihe, oder deren gemeinsame 
Bestimmungsnorm durch den Satz x*=a — b festgehalten ist; in 
der zweiten Gruppe (ß) aber kann man jene Quadrate vereini- 
gen, deren eines jeden Grofse nach dem Satze x*=zb — o, wo 
6>a vorausgesetzt ist, bestimmt wird. Wählt man nun für die 
Angabe der Quadrate der Gruppe (ß) eben den Satz x* = a — 6, 
welcher für die der Gruppe (o) Norm ist, so hebt man das Be- 
sondere der Quadrate in (ß) auf, bringt sie mit jenen der Gruppe 
(a) in eine Klasse, und legt ihnen damit eine Eigenschaft bei, 
welche sie vorher nicht hatten. Durch diese Transferirung d*r 
Quadrate (ß) ist die Seite x eines derselben in eine neue Bezie- 
hung gebracht, es ist ihr eine neue Eigenschaft beigelegt, und 
dies wird dadurch festgehalten, dafs man dem eigentlichen Werth- 
ausdruck \/(b— a) der Seite noch das Zeichen \/ — i beifugt. 

Wie raein Bestreben dahin ging , die sogenannten imaginären 
GröTsen als ein Mittel zu fixiren, das zur Zusammenfassung hete- 
rogener Fragen und Gegenstände dient, das man aber, nach völ- 
lig freier Wahl , gebrauchen kann oder nicht , so habe ich auch 
darzuthun gesucht, dafs die Logarithmen negativer Zahlen, und 
von Zahlen der Form A.*/ — l ebenfalls dazu dienen , eine Man- 
nigfaltigkeit von Beziehungen der Gegenstände zu fixiren. 



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Möller i Arithmetik and Algebra. . *19 

• * • • 

In der praktischen Arithmetik setze ick zuerst die allgemei- 
nen Methoden, die bei praktischen Rechnungen vorkommen, auf- 
einander; sodann folgt, in einzelnen Abschnitten, die Darlegung 
der Mischungsrechnungen, Münzrechnungen, der einfachen Zins- 
und Babatt-Becbnung, der zusammengesetzten Zinsrechnung , Ge- 
sellschaftsrechnung, des Nachlasses am Pachtzins; hierauf nehme 
ich die Wahrscheinlichkeitsrechnung vor, zeige die beim Spiele 
vorkommenden Berechnungen , und schliefse , nachdem vorher 
noch das Wesentliche von der Ordnung in der Sterblichkeit und 
von der Bestimmung der Lebensdauer beigebracht worden, mit 
der Berechnung der Leibrenten, Lebensversicherungen und Witt, 
wenpensionen. Beim Vortrage der einzelnen Gegenstände war ich 
bemüht, das Wesentliche, auf das es ankommt, hervorzuheben, 
und keine Seite des Gegenstandes, die der Beachtung werth ist, 
unberücksichtigt zu lassen; dadurch wurde ich in der Wahrschein- 
lichkeitsrechnung auf neue Fragen geführt, welche auf neue 
Branchen der Analysis hinweisen, auf deren ausfuhrliche Behand- 
lung ich aber, wegen der Bestimmung des Buches, mich nicht 
einlassen durfte; die gegebene Andeutung wird jedoch zur An. 
regung genügen, 

Schlielslich erlaube ich mir noch über zwei Beurteilungen 
meiner Schrift ein Wort zu sagen. Die eine derselben steht im 
Jahrgang i834 der Allgemeinen Scbulzeitung S. 966, die andere 
in den Neuen Jahrbüchern für Philologie und Pädagogik, 1 036. 
Bd. XVII, S. 5i u. ff. 

Diese Becensionen haben zunächst das eigen, dafs die eine 
lediglich eine zweite Ausgabe der andern ist, und zwar so wenig 
verändert, dafs die Bedaction der einen Zeitschrift von der der 
andern wegen Plagiat belangt werden konnte: ein gewisser Herr, 
der seinen Namen durch D. B. anzeigt , hat entweder aus Liebe 
zu seiner Becension oder aus besonderer Bücksicht auf meine 
Schrift, die Keckheit und den Unverstand gehabt, die erste Be- 
cension noch einmar abdrucken zu lassen, mit einigen unwesent- 
lichen Veränderungen und Zusätzen. 

Die Beurtheilung selbst, die der Herr D. B. in diesen zwei 
Ausgaben liefert, enthält so ziemlich Alles, was Unverstand, Bos- 
heit, Ignoranz, Frechheit und Faulheit mit einander zu Stande 
bringen können. Wenn man die Kapitelüberschriften, welche in 
der Beurtheilung angegeben sind, abrechnet, so ist das Übrige, 
was als in meiner Schrift enthalten angeführt wird, so sehr das 
Gegentheil und ein ganz Anderes, dafs ich selbst in den Angaben 



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180 Müller: Arithmetik und Algebra. 

den Inhalt meiner Schrift nicht finden bann; grofstentheils wird 
jedoch nicht gesagt, was ich gethan, und wie, sondern lediglich 
geschimpft und die Weisheit mitgetheilt , die der Herr R. aus 
einigen verdorrten Compendien geschupft hat. In seines Geistes 
Armuth und Liederlichkeit fuhrt Herr R. z. B. an, ich stellte 
mich, als ob die Darstellung der Wurzelgröfsen durch Potenz, 
ausdrücke mit Bruchexponenten von mir herrühre, während er, 
zu seiner Belehrung, in meiner Schrift die bestimmte Angabe, 
von wem die Bezeichnung eingeführt ist , hätte finden können. 
Ferner wird angegeben, ich wolle den imaginären Grofsen da- 
durch Realität verschallen, dafs ich z. B. ^/ — 49=1/49. \/ — 1 
= 7.-^/— 1 setze, und das sei doch eine so einfache und bekannte 
Sache, dafs er sich über mich wundern müsse. Wäre der Un- 
verstand des Herrn R. sonst nicht so stark voi leuchtend , so 
konnte man an dieser Stelle sagen : si taeuisses etc. Endlich wird 
mir vielfach vorgeworfen, dafs ich die Gegenstände, namentlich 
die Logarithmen, unvollständig behandelt hätte: die Wahrheit 
ist aber, dafs Herr R., entweder weil er das Buch nicht gelesen 
hat, oder aus Bosheit, baate Lugen zum Besten giebt. Dem 
praktischen Theile spendet er sogar Lob, aber damit nichts ohne 
Hudelei und Darlegung seines Unverstandes hingehe, so wird 
unter andern Dingen behauptet, bei den Leibrentenrechnungen 
kämen viele geometrische Reihen vor, die ich nicht summirt hatte« 
Während diese Behauptung nun einerseits eine Luge ist, so ist 
sie auch ein Beweis , wie der Herr in jener Partie zu Hause ist. 

Dafs Herr R. in der zweiten Ausgabe seiner Recension an- 
fuhrt, es scheine ihm, als ob ich Ideen, die er in andern Recen- 
sionen ausgesprochen, aufgefafst und zu benutzen gesucht habe; 
ferner, dafs in der ersten Ausgabe gesagt wird, es scheine, als 
ob ich Breithaupts praktische Rechnungen vor mir gehabt habe, 
in der zweiten Ausgabe aber die Benutzung des Breithaupt'schen 
Buches als bestimmtes Factum angeführt wird , — dies und ähn- 
licher Plunder ist belustigend und keines weiteren Wortes werth. 

Der saubere Herr R. ist übrigens dadurch bekannt, dafs er 
durch keine Abweisung seiner liederlichen Schreibereien abge- 
schreckt wird , den Redactionen kritischer Blätter seine Dienste 
anzubieten. 



A. JH iille r. 




» 



Bäbu. Lebensbilder aus Oatindien. Von Andrer. 281 

• * 

Der Bäbu. Lebensbilder aus Ottindien. Aus dem Englischen übersetzt von 
Karl Andre*. Erster Band. Leipzig, 1835. Verlag von Ludw. Schu- 
mann. 508 S. 8. 

— 

Der Anfang dieses Romans erregt nicht eben ein gunstiges 
Yorurthcil für die Originalität des Verfassers. In dem Frühstück- 
Zimmer einer vornehmen englischen Dame zu Kalkutta harren 
zwei junge Männer auf die Erscheinung der schonen , geistreichen, 
gelehrten und tonangebenden Herrin des Hauses Lady Auguste 
Wroughton, als der Gemahlin eines Oberbeamten der ostindischen 
Compagnie. »Beide, heifst es, waren Männer nach der Mode, 
und hatten sich (olglich bemuhet, der ihm?n nicht recht zusagen- 
den hindustanischen Kleidung so viel Ton zu geben , als sie nur 
immer vertragen konnte. Beide zeigten darin einen ganz -ver- 
schiedenen Geschmack. Roderich Rivers hatte die Einfachheit 
seiner schlichten weifsen Jacke durch eine geblümte, Scharlach- 
rotbe Weste, die dicht mit einer Reibe goldner Knopfe besetzt 
-war, zu heben gesucht. Jeder einzelne Knopf aber trug 
die Figur eines mit gehorigerLunte versehenen Fuch- 
ses. Dm den Nacken hatte Rivers ein schmales seidenes Halstuch 
geschlungen, das die Farbe seiner rothen Wangen, eine Selten- 
heit bei Leuten, die bereits längere Zeit in Bengalen gelebt ha- 
ben, noch erhöhet e. Das ganze Wesen des Mannes zeugte von 
einem Hange zur Pferde- und Jagdliebbaberci. Er war übrigens 
kurz und gedrungen von Gestalt und hatte etwas eingebogene 
Schenkel, wie sie bei. passionirten Reitern häufig vorkommen. — 
Friedrich Mosely , obgleich nicht weniger sorgfältig herausgeputzt, 
trug in seinem Wesen einen ganz andern Charakter. Seine 
Weste hätte im Musterbuche des berühmten Londoner 
Schneiders Stultz sicherlich den Preis davongetra- 
gen; unter dem rund ausgeschnittenen Fallkragen sah man den 
Rand einer mehrgrünen Unterwestc nur eben hervorstechen, etwa 
wie der Rand ein Gemälde einfafst; dazu trug er eine schwarze 
Halsbinde ä la militaire ....«: 

Genug; hat Ref. doch dieses Wenige mit Widerwillen abge- 
schrieben. Wann erscheint endlich in Europa der schaffende. 
Genius (denn was vermag hier die Kritik?), der uns von dieser 
Misere erlösen , und Lesern , Buchhändlern und Schriftstellern eine 
Manier ent leiden wird, die mit nichts Anderem beschäftigt scheint, 
als um einen oft winzigen Kern eine recht zierliche aber unge- 
nielsbare Schale zu bilden? 



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283 Bäbo. Lebensbilder aus Ostindien. Von Andree. 

Von dem ersten jener schneidermäfsig geschilderten jungen 
Männer erfahrt man in diesem ersten Bande des Romans nur 
höchst Unbedeutendes; er ist durchaus Nebenperson; der andre, 
Herr Moscly, ist zwar bestimmt, eine Rolle darin zu spielen, 
aber lange müssen wir uns mit der kahlen Versicherung begnü- 
gen, dafs der Mann mit der eleganten Weste ein Maler und Dich- 
ter ist, und erst Seite 100 erfahren wir zufällig, dafs »Mosely 
durch und durch ein redlicher, ehrenhafter Mann war«; aber 
bis dahin hatte er gerade nur so viel gesprochen und gethan, 
dafs man nicht unterscheiden konnte , ob er der beste Mann von 
der Welt, oder ein heimlicher Schurke sey, und er war, wohl 
gemerkt , dabei nicht etwa als rätselhafter Mensch aufgetreten , 
sondern höchst trivial geblieben. Auf derselben Oberfläche schwim- 
men auch die übrigen Charaktere des Verfassers ; von ihrem eng- 
lischen Con?enienzleben in Ostindien erfahren wir allerdings das 
■genaueste, und wir lernen die englischen Rosse Pluto und Nimrod 
psychologisch näher kennen , als manche Charaktere des Romans, 
deren Aussei lichkciten halbe Seiten gewidmet sind. 

Dies ist die tadelnswerthe Seite des Ruches, die es mit vie- 
len englischen und deutschen Kostumeromanen gemein hat , und 
bei der es uns recht begreiflich wird, wie die romantische Schule 
in Frankreich in ihren Romanen lieber des Teufels werden will, 
um doch eine Seele zu bekommen, als in dieser Körper- oder 
vielmehr Hleiderwclt der modernen Detailschilderung des Lebens 
untergehen. 

Wenn man aber darauf verzichtet hat, eine innere Welt 
hier anzutreten, so wird man sich in diesem Roman mit der 
äussern Welt doch allmä'hlig befreunden, und es gibt hier, wenn 
auch nicht ästhetisch, doch historisch und ethnographisch man- 
cherlei zu lernen. Vor allen Dingen ist das englische Gesellschafts- 
leben der hohem Klasse, das wir nach Ostindien verpflanzt hier 
zu schauen bekommen, mit einer Wahrheit und Genauigkeit ge- 
schildert , bei welcher mancher deutsche Romandichter in die 
Schule gehen dürfte. Dann erfahren wir über Europäer, Moha- 
medaner und Hindus und ihr Verhältnifs zu einander in Ostindien 
, in den anschaulichsten Scenen mehr , als uns die ausführlichste 
Reiseheschreibung vielleicht je gegeben hätte : aus den Gesell- 
schaftszimmern einer Diri-Ri oder vornehmen englischen Dame 
in Ostindien werden wir in den Kreis der Gentlemens von Cal- 
cutta und in ihre verschiedenen politischen Landesansichten ein- 
geführt ; ein andermal sehen wir einen Beamten und einen Nabob 



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4> 



Bäbu. Lebensbilder aus Ostindien. Von Andree. 283 

einander gegenüber. Der Afghane JussufT Ali Khan erzahlt seine 
in das Mark des Romans einfließende Geschichte; dazwischen 
thut sich wieder ein englischer Maskenball, nach Ostindien ver- 
pflanzt, auf; ein englisches Wettrennen stäubt im December, 
dem- fashionabeln Monat der Ostindier, Tor Persern, Hindus, Ma- 
laien, Chinesen, Amerikanern und Engländern vorüber; und mit 
einemmal sind wir in die weitläufigen Regiei ungs- und Gerichts* 
gebäude von Calcutta versetzt, ergötzen uns an der unendlichen 
Mannigfaltigkeit orientalischer Kostüme, und sehen den Oberrich- 
ter in hierländischer Form einen verwickelten Procefs verhandeln. 

Und durch dieses Alles schlingt sich eine der Erfindung nach 
keineswegs gemein zu nennende Novelle, welche das Hauptlebens- 
bild aus Ostindien bildet und von der wir auf künstlichen Irrge- 
winden im ersten, bis jetzt erschienenen Bande dieser Übersetzung, 
im Wesentlichen Folgendes erfahren. 

Bei Lady Wroughton ist das wunderschone Töchterchen ei- 
nes englischen Landpredigers , Eva Eldridge , eine weitläuftige 
Cousine dieser Geisteskönigin von Calcutta, angekommen, der zu 
Liebe, da sie um einen gestorbenen Bräutigam trauert, die Lady 
ihr geräuschvo'les Haus vereinsamt, und nur wenige Freunde bei 
sich sieht. Jener todtgeglaubte Bräutigam nun , der Hauptmann 
bei den Truppen der ostindischen Compagnie , Heinrich Forester, 
ist der eigentliche Held dieses Bomans, wenigstens im ersten 
Bande. Durch die wohlberechneten Bemühungen der Lady und 
ihres Freundes, des Dichters Mosely , der sich gelegentlich in 
die schone und unglückliche Fva verliebt, sowie durch den wun- 
derbarsten Zufall , der Foi estern mit der Lady zusammenführt, 
erfahren wir, dafs Forester selbst der Braut seinen Tod nach 
England gemeldet hat, weil er durch ein unentrinnbares Verhäng- 
nifs in ein zärtliches Verhältnifs mit einer eingebornen Muham- 
medanerin verwickelt worden ist. Im Kampfe mit den Engländern 
war Dost Ali Khan, ein Häuptling des Georgischen Stammes der 
Afghanen, mohamedanischen Glaubens, gefallen, und seine Toch- 
ter Dilafroz aus dieses Nabobs Harem von einem Europäer ge- 
raubt worden. Diese Nachricht erhielt in seinem Heerlager der 
Bruder des Verstorbenen, Jussuf Ali Khan, und schwur, furcht- 
bare Bache an den Mordern seines Bruders und dem Entführer 
• seiner Tochter zu nehmen. Auf diesem ßachezuge begegnet ihm 
ein englischer Oflicier, der Abgesandte des britischen Befehls- 
habers, der ihm Frieden anzubieten gesandt ist; in dem Augen- 
blicke sieht der Mubamedaner, dafs er von den meisten seiner Leute 



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281 Däbu. Lebensbilder aas Ostindien. Von Andre«. 

schimpflich verlassen worden ist , und ist genothigt , in die dar- 
gebotene Versöhnungshand einzuschlagen. Eine Erkennungsscene 
folgte. Der OfTicier (Heinrich Forester) ist — nicht der Räuber, 
sondern vielmehr der Retter der holden Dilafroz. Aber Jussuf 
hält ihn für jenen, und besteht mit ihm am andern Morgen einen 
Zweikampf , in welchem endlich Forester des Muselmanns Turban 
kci haut und dieser mit blutendem Hopf in den Staub sinkt. Aus 
der Bewußtlosigkeit erwacht, fühlt er sich gastlich gepflegt und 
seine Bruderstochter an seinem Lager. Ihr war kein Leid ge- 
schehen. Forester hatte sie mit Lebensgefahr vor den Beleidi- 
gungen der englischen Plünderer geschirmt. Dieser selbe hat 
dem verwundeten Feinde , der ihm Unrecht gethan , sein Zelt 
eingeräumt und pflegt ihn hier. Aber jenes reb engelochte Mäd- 
chen hat sich um sein Herz gerankt ; und weil , wenn der Blick 
eines Ungläubigen auf eine unverschleierte Afghanen- Jungfrau 
fällt, sie niemals mit einem Manne ihres Stammes vermählt wer- 
den kann , so erbarmt sich Forester ihrer — er wird Mahomeda- 
ner, fchliefst seinen Liebesbund mit Dilafroz, wird Jussufs, sei- 
nes Feindes, Freund, und erhält das Commando über jene Fe- 
stung, die bisher das Eigenthum von Jussufs Bruder gewesen. 

Dies alles war geschehen, ehe Forester nach England gegangen 
war und sich mit Eva verlobt hatte. Da ergreift ihn eine zeh- 
rende Krankheit, für welche der Arzt als einziges Rettungsmittel 
eine Rückkehr ins heimathliche Klima vorschlägt. Aber Forestern 
däucht es unmöglich , sich von der Geliebten zu trennen. Dila- 
froz, um ihn zu bestimmen und zu retten, macht ihn glauben, 
sie habe sich ertränkt Dadurch hofft sie ihn sich zu erhalten 
und dereinst den aus England zurückgekehrten gesundet für im- 
mer besitzen zu dürfen. Nun hält sie Forester für todt, reist 
nach England , verliebt sich mit erneutem Lebensinuthe dort und 
Ii ehrt als Eva's/ Bräutigam nach Ostindien zurück. Aber hier fin- 
det er Dilafroz lebend und ihren und seinen holden Knaben her- 
anwachsend. Dieser lebende Beweis, dafs früher schon eine an- 
dere Zuneigung in seinem Herzen lebendig gewesen war, 'ent- 
schied bei ihm, trotz seiner neuen innigen Liebe, für Dilafroz, 
und er liefs sich eine unverantwortliche Fälschung zu Schulden 
kommen: er schrieb an Eva , den Namen eines Andern mifsbrau- 
chend , er sey nicht mehr am Leben. Es war besser, dafs Eva 
ihn für todt als für treulos hielt. Und damit Eva alle Hoffnung 
aufgebe, hat ihr nun Forester auf einem Maskenballe in CalcutU 



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Biba. Lebentbilder aas Ostindien. Von Andrce. 



seine eigne Todtenlarve vorgehalten , aber auf eben jenem Aben- 
theuer auch träumend seine Liebe zu Eva vor Dilafroz verrathen. 

Diese Geschichte ist der Hern, um welche sich der erste 
Band allen seinen müTsigen Gestalten , kurzweiligen*Nebenereig- 
nissen und interessanten Aufschlüssen über Menschen und Leben 
in Ostindien dreht. Der Namensheld des Romans, der Bäbu, 
Sirkar (Kassierer) des Sir Charles Wroughton , ein tuchischer 
Hindu, Namens Brischmohun Bonurschi , tritt in diesem ersten 
Bande nur als Schurke in einem betrügerischen Processe gegen 
Jnssuf auf. Dadurch ist ohne Zueifel sein Schicksal mit Forester 
und Dilafroz verflochten ; ob er eine Hauptrolle in der Geschichte 
zu spielen hat , muff die künftige Fortsetzung lehren. 

Forester ist durch sein Veihältnifs zu einer mohamedanischen 
Eingebornen gewissermaßen vor der englischen Gesellschaft ge- 
brandmarkt, denn nie wird eine solche Vereinigung durch intel- 
lektuelle oder religiöse Bande inniger geknüpft, und seihst ein 
kuhner Mann wird Anstand nehmen , einer sittsamen europaischen 
Jungfrau ein Verhältnis zu gestehen, das sie zufolge den Grund- 
sätzen , nach denen sie erzogen wurde , für lasterhaft und verab- 
scheuungs würdig halten mufs. (S. 1 55.) Dies entschuldigt inzwi- 
schen Foresters Verbrechen gegen Eva in den Augen Lady 
Wroughtons nicht. Sie schlägt ihm die Bitte, sein Leben der 
Verlassenen zu verheimlichen, ab, und unterrichtet das Mädchen 
von Allem. 

Eva (wie es der Verf. mit allen seinen Charakteren Macht, 
bisher äusserlich zwar aufs genaueste signalisirt als geistig in to- 
taler Neutralität erhalten) entwickelt bei dieser Nachricht plötzlich 
eine ganz ausserordentliche Seelenstärke. »Mein Herz, sagt sie, 
mufs hier ganz aus dem Spiele bleiben. Hauptmann Forester ist 
mir fortan durchaus fremd, er hat Weib und Kind.« Auf die 
Frage, ob sie ihm vergeben könne, erwiedert sie: »Vergeben 
kann kein Weib eine Sunde , für deren Urheber sie nur Gott um 
Verzeihung bitten kann.« Und doch vermag sie es über sich, 
jetzt in einem Cirkel der Lady dem verlorenen Geliebten Aug' 
im Auge zu sehen. Mosely stellt ihn vor. »Herzlichen Dank, 
dafs Sie uns den Hauptmann Forester leiblich vorstellen , rief Sir 
Charles (Wroughton), denn ich habe von allen Seiten erzählen 
boren, er sey längst todt. — Gottlob, dafs dem nicht so ist 
(antwortet Forester), und dafs jenes Gerücht falsch war; ich 
hoffe noch manches Vergnügen auf Erden zu erleben. — Dahin 
gebort auch das, einer Dame wie Mifs Eldridge vorgestellt zu 



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286 Bäbu. Lebensbilder aus Ostindien. Von Andrce. 

— 

anzublicken.« (S. 273.) 

In derselben Gesellschaft kommt das belebte und geistreiche 
Gesprach auch auf das Verhältnis der Mahomedaner and der 
Hindus zu einander, und wir fuhren an, was der Vf. seine Per- 
sonen darüber sagen läfst , um die Bebandlungsweise der eigent- 
lich »ostindischen Lebensbilder« in dem Buche durch ein Bei- 
spiel kenntlich zu machen. Zugleich wird das Urtbeil über die 
Hindus, die man gewohnt ist, sich als äusserst gutmütbige Men- 
schen zu denken, manchen Leser überraschen: 

»leb bin überzeugt, sagt Forester, dafs alle Damen, die die 
ritterlichen Tugenden zu schätzen wissen, den muthigen, krie- 
geriscben Charakter des muntern Muselmanns dem intriguanten, 
hinterlistigen, bedachtsamen, habsüchtigen, sich selbst martern- 
den, düstern Hindu vorziehen werden. Jener ist obentheuernd 1 
folgt dem Strome des Glücks, ist lustig und groUtnüthig , wenn 
es ihm lächelt, und ergiebt sich in sein Schicksal, wenn es zürnt; 
er ist ungestüm, tapfer, und, wie ich zugestehe, etwas despo- 
tisch, aber sanfteren Gefühlen und Hegungen leicht zugänglich; 
auch weifs er Sitten und Einrichtungen des Westens besser zu 
schätzen und zu würdigen.« 

»Ei, ei, Forester! rief Beavoir, Sie dürfen, wenn Sie auf 
das Urtheil der Damen sich berufen, deren Einbildungskraft nicht 
blenden wollen. Dieser Abentheurer, von dem mein Freund 
spricht, kommt überall hin, kommt überall hin mit einem schar- 
fen Schwerte und einer leeren Tasche. Das erste läfst er auf den 
armen Hindu fallen, und behandelt diesen, als wäre er ein Hund; 
er zwingt ihn dann , die zweite zu füllen. Dankbarkeit und Eh- 
renhaftigkeit kennt er nicht; kurz zwischen dem Unterdrücker 
* und dem Bezwungenen kommt es eben nur darauf an, wer das 
Glück auf seiner Seite hat. Die Geschichte würde uns aber bes- 
ser als die Romantik lehren, dafs nicht nur all das Unglück, 
welches gewöhnlich im Gefolge der Tyrannen zu seyn püegt, von 
den Mahomedanern über die Hindus gebracht worden ist, son- 
dern dafs auch die Laster, welche jetzt unläugbar an den Hindus 
haften, eine Folge der Unterdrückung gewesen sind. Sie werfen 
ihnen Ränkesucht, Mangel an Ehrgefühl und Wahrheitsliebe vor, 
und Sie haben Recht ; allein sind sie nicht eben durch ihre Zwing- 
herren so schlecht geworden? Ihre mahomedanischen Dränger 
achteten weder Gesetz noch Recht, der Hindu war Gewaltthätig- 
keiten aller Art biosgegeben , und nirgends fand er Sicherheit 



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* 



Bäbn. Lebensbilder ans Ostindien. Von Andree. 28? 

and Schatz; da sah er zuletzt, dafs er nur durch Ba'nhe and 
Schliche, durch Pfiffigkeit, den Sturm von sich abwenden konnte; 
er stellte sich arm, er ward Heuchler, um nicht für reich zu 
gelten ; da er sein Recht nicht auf geradem Wege erlangen konn- 
te, nahm er zur Bestechung seine Zuflucht. Aus der Lage and 
dem Verhältnisse, in welchem bisher beide zu einander gestan- 
den, läfst sich auch die Verschiedenheit ihres Charakters erklären. 
Auf der einen Seite finden wir alle Verbrechen der Tyrannei und 
Bigotterie, auf der andern Seite alle die widerlichen, unedeln 
Künste und Bänke, durch die der Unterdrückte sich zu sichern 
sucht. « 

»Das Alles gebe ich zu, und mache dabei nur Eine Aus- 
nähme , die jedoch von wesentlicher Bedeutung ist. Wir müssen 
nämlich nicht in Anschlag zu bringen vergessen, wie grofs die 
Versuchung war, welche hier mehr als irgend anderswo die Er- 
oberer bestimmte, so und nicht anders zu handeln, als wie sie 
eben gethan haben. Bedenken Sie nur das Übergewicht der Brah- 
minenkaste , welche die ganze Nation in geistiger Hinsicht von 
jeher bevormundete und beherrschte , und vergleichen Sie mit 
derselben die Mollahs, Imams, and Mollawis der Mohamedaner, 
die ohne alle irdische Macht sind und lediglich nach Tugend 
streben. « 

»In Allem, was auf Priester th um Bezug hat, pflichte ich 
Ihnen vollkommen bei.« 

Der Charakter des Bäbu scheint bestimmt jene theoretische 
Schilderang der Hindus praktisch zu bestätigen. Er tritt aber in 
diesem Bande erst gegen den Schlufs so auf, dafs sein Charakter 
durch seine Handlungen kenntlich zu werden beginnt. Auch das 
Motto des Buches mufs erst im Verfolge der Geschichte seine 
Anwendung erhalten. Es ist angeblich einer alten Handschrift 
entnommen und lautet so: »Alle Aristokratien in England, die 
der Geburt und des Reicht hums sowohl als jene des Verstandes 
und Verdienstes, sind intolerant, und es ist zweifelhaft, welche 
von allen die unduldsamste seyn mochte. Alle aber sind zu uber- 
wältigen ; nur eine einzige liegt ausserhalb alles menschlichen Be- 
reichs, und das ist die Aristokratie der Haut. Wo weifse 
Männer herrschen , wird der farbige stets als unter diesen stehend 
und mehr oder weniger als ein Wesen niederer Gattung betrach- 
tet werden. 

Der vorliegende Roman wird es jedoch nicht so weit brin- 
gen, uns zu beweisen, dafs die Aristokratie der Haut, sobald sie 



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Bäbu. Lebensbilder aus Ostindien. Von Andrec. 

■ 

in Mifshandlung aasartet, weniger barbarisch und unvernunftig 
sey, als der Mifsbrauch jeder andern Superiorität , und dafs es 
nicht ausserhalb des Bereichs menschlicher Vernunft, wohl aber 
vielleicht ausserhalb des Bereichs menschlichen Eigennutzes und 
der Leidenschaft liege, dem Übel grundlich abzuhelfen. Denn 
gesetzt auch , was doch noch nicht als bewiesen anzunehmen ist, 
alle Hautfarben ausser der weifsen seyen durch eine moralische 
und intellektuelle Inferiorität bedingt: so wurde daraus noch gar 
nichts von Widerwillen und Härte gegen die von der Natur stief- 
mütterlicher bedachten Racen folgen. Vielmehr, so gewifs sich 
die Menschheit als eine grofse Familie zu fühlen und zu beneh- 
men den Beruf hat, so gewifs sollte sie gegen den Schwächeren 
und minder Begabten dasselbe Mitleid und dieselbe Schonung in 
ihren Institutionen wirken lassen, welche im engern Familienkreise 
das auch nur wenig cultivirte Gefühl verwahrlosten Hindern oder 
Geschwistern angedeihen läfst. 

Die Übersetzung, in welcher wir das Buch erhalten, ist flie- 
fsend und liest sich angenehm. Aufgefallen ist dem Beuitheiler 
nur das Imperfektum »siedete« statt »sott«. Während unsre 
grundlichsten Sprachforscher uns bewiesen haben, dafs unsre Spra- 
che nicht nur eine einzige reguläre Conjugation besitzt , wie sie 
Adelung angenommen, und alle andern Verba sich in Irregulari- 
täten zersplittern, fangt die Bequemlichkeit unsrer Schriltsteller 
an, die schone, gegliederte Mannigfaltigkeit aufzuheben und all- 
mählig eine häfsliche Regelmäfsigkeit einzuführen, die zu einer 
Gleichförmigkeit der Fäulnifs führen würde, wie wir sie z. B. 
io der neugriechischen Grammatik antreffen. Lesen wir doch 
schon nicht nur sehr häufig er haute statt er hieb, sondern 
auch bereits in manchen Tagblättern erfahren wir, dafs die und 
die Ständeversammlung sich über diesen und jenen Gegenstand 
beratbete. Ref. glaubte auf diese Nachlässigkeit einen Über- 
setzer, der alle Anlage zu einem guten und correkten Styl ent- 
wickelt, aufmerksam machen zu müssen. 

G. Schwab. 



UigitizGci by 



N°. 19. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



ÜBERSICHTEN und KURZE ANZEIGEN. 



PHYSIKALISCHE LITERATUR. 

1) Die Beugungserscheinungen aus den Fundamentatgesetzen der Ündu- 
lationstheorie analytisch entwickelt und in Bildern dargkstellt von F. M. 
Schwer*. Mit 18 zum Theit illuminirten Tafeln. Mannheim (und in 
mehreren Buchhandlungen) 1835. XII u. 143 & gr. 4. mit XIV Tab 

Ref. beginnt die Übersieht der neuesten physikalischen Lite- 
ratur mit diesem gehaltreichen Werke, welches mit vollem Rechte 
an der Spitze zu stehen verdient. Seitdem der durch Gelehrsam- 
keit und Scharfsinn gleich ausgezeichnete Britto Thomas Young 
als neuer und gewiegter Vertheidiger der ündulationstheorie auf- 
trat, zeigte hauptsächlich Fresnel, wie sehr diese durch die 
damals schon bekannten Beugungserscheinungen unterstutzt werde. 
Hauptsächlich aber war es Fraunhofer, welcher ein wahrhaft 
unermeßliches Feld neuer und höchst interessanter Erscheinungen 
eröffnete, dessen weitere Bearbeitung das Publikum von diesem 
Koryphäen in der Optik mit Sehnsucht erwartete, als ein früh, 
zeitiger Tod ihn seinem schonen Wirkungskreise entrifs. Die 
Phänomene, welche Fraunhofer mit seinen unvergleichlichen 
Vorrichtungen erzeugte , erregten freudiges Erstaunen , aber nur 
wenige Physiker waren mit den erforderlichen kostbaren Appara- 
ten versehen, um sie selbst mit Leichtigkeit hervorzurufen, und 
so blieb man im Ganzen bei dem bereits Aufgefundenen stehen. 
Der jüngere Her sc hei vermehrte das Bekannte durch einige 
neue Tbatsachen, im Ganzen aber war die Aufmerksamkeit seit- 
dem vorzugsweise auf die Theorie und die Phänomene der Po- 
larisation gerichtet. 

Mit Recht kann unser Verf. nach Fresnel und Fraunho- 
fer als der Dritte genannt werden, welcher nicht blos die Phä- 
nomene der Inflezion durch eine Menge neuer Tbatsachen erwei- 
tert, sondern auch der Ündulationstheorie durch diese eine neue 
bedeutende Stutze verschafft hat. Sein Werk , womit er das 
Publikum beschenkt, zeichnet sich zuerst durch die grofse Menge 
von Beugungsphänomenen aus, die er vermittelst einfacher und 
•ehr wohlfeiler *) Apparate genau beobachtet, gemessen und be- 



") Der Verf. erbietet tich , die läramt liehen zu seinen Versuchen gehö- 
rigen Vorrichtungen , womit man (im Besitze eines achromatischen 
Fernrohrs und, wenn man messen will, eines Theodolithen ) die 
Versuche wiederholen kann , für die geringe Summe von sechs alte 
Louisd'or unter seiner Aufsicht anfertigen zu lassen. 

XXX. Jahrg. 3. Heft. 19 



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290 Physikalische Literatur. 



schrieben hat. Es liegt zwar in der Natur der Sache, dafg die 
verschiedenen Modifikationen der lnflexionserscheinungen zahllos 
seyn müssen, allein man fühlt dieses erst dann recht lebhaft, wenn 
man aas der Menge der hier nachgewiesenen auf die vielfachen 
noch möglichen Veränderungen schliefst Ausserdem sind nicht 
blofs die Apparate und die Art, wie man sie in Anwendung bringt, 
nebst den Phänomenen, die dadurch hervorgerufen werden, so 
deutlich und vollständig beschrieben , dafs es bei einiger Lbung 
im Experimentiren durchaus nicht schwer fallt, die sammlicbcn 
Versuche zu wiederholen, sondern alle diese Erscheinungen sind 
einfach aus der Undulationstheorie abgeleitet , indem zuerst die 
allgemeinsten Gesetze der Wellenbewegung aufgestellt, durch Fi- 
guren versinnlicht , und dann auf die jedesmaligen optischen Er- 
scheinungen angewandt werden. Alles dieses ist so einfach dar- 
gestellt , dafs es auch ohne Calcul verständlich seyn wurde, wenn 
man sich blofs an die Figuren und die zugehörige Beschreibung 
halten wollte. Ref. hält dieses für sehr nutzlich ; denn Viele, die 
sich gern mit optischen Untersuchungen beschäftigen mägten, 
werden durch die Schwierigkeiten der Formeln abgeschreckt, und 
die ganze Optik, die nun einmal ohne die Vorstellung von Grofsen 
und Bewegungen nicht begriffen , mithin ohne geometrische Hülfs- 
mittel nicht grundlich dargestellt werden kann, erscheint sonach 
den Laien leicht als ein Labyrinth mathematischer Künsteleien, 
worin ohne diese und ausser diesen weder etwas zu finden noch 
auch zu begreifen sey. Riicksichtlich der mathematischen Behand- 
lung des Gegenstandes , welche hier aus leicht begreiflichen Grün- 
den nicht fehlen durfte, legt der Verf. die zur Undulationstheorie 
gehörigen, durch Fresnel aufgestellten, Formeln zum Grunde, 
erweitert diese, und fuhrt dann jede Erscheinung darauf zurück, 
so dafs die genaueste Übereinstimmung zwischen der Theorie und 
den Phänomenen erkannt wird, und man willkubrlich jene aus 
diesen, oder noch leichter und in gröTserem Umfange diese aus 
jener ableiten kann. 

Weiter ins Einzelne einzugehen würde überflussig seyn , da 
diese Anzeige nur dazu dienen soll, die Aufmerksamkeit der Phy- 
siker und der Liebhaber der Naturlehre auf das gehaltreiche Werk 
zu richten, was ihnen sicher einen reichen Genufs gewahren wird. 
Beiläufig möge noch die Bemerkung Baum finden, dafs der Vf. die 
Fraunhofer'schen Messungen der Licbtwellen zum Grunde gelegt, 
zugleich aber auch eigene angestellt hat, deren Resultate von 
jenen nur unbedeutend abweichen. 



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Physikalische Literatur. 



t) Beiträge zur Aufklärung der Entkeimungen und Gesetze de* organi- 
schen Leben», von G. R. Treviranue. Ersten Bande» Erste» Heft. 

Auch anter dem besonderen Titel : 

• 

06er die blättrige Textur der Krystallünse de» Auges, als Grund de» Ver~ 
mögen», einerlei Gegenstand in verschiedener Entfernung deutlich zu 
sehen, und über den innem Bau der Retina. Bremen 1835. VI und 
80 9. 8. Mit 2 Steindrucktofeln. 

Bef. bedauert, dafs dringende Arbeiten ihn verhinderten, 
diese gehaltreiche Schrift schon früher zu lesen, weil ihm dadurch 
während dieser ganzen Zeit diejenigen Belehrungen entgingen, 
die ihm jetzt durch dieselbe zu Theil geworden sind. Das eigent- 
liche, hier ausfuhrlich behandelte, Problem, nämlich die Weibe, 
sprochene Adjüstirung oder A ccommodir ung des Auges 
für nahe und ferne Gegenstände ist schon früher vom Verf. in 
seinen schätzbaren Beiträgen zur Anatomie und Physio- 
logie der Sinnes Werkzeuge, Bremen 1828 fol. erörtert, al- 
lein die Physiologen wurden dadurch nicht von der aufgestellten 
Hypothese uberzeugt, theils weil noch immer bedeutende Erfah- 
rungen derselben entgegenstanden , theils weil zwar bewiesen 
wurde, dafs der blofse Bau des Auges in Folge der eigentüm- 
lichen Krümmungen der Cornea und der Hrystalllinse hinreiche, 
von Gegenständen aus sehr ungleichen Entfernungen ein deutli- 
ches Bild auf die Betina zu werfen , nicht aber dafs dieses auch 
für eine sogenannte unendliche Entfernung möglich sey. Inzwi- 
schen ist die Aufgabe in dem vorliegenden Werke auf eine ganz 
andere Weise ausfuhrlich und grundlich behandelt, und wenn der 
Vf. bemerkt, dasselbe werde nur von Wenigen gelesen und ver- 
standen werden, so mofs Bef. wünschen und hoffen, dafs er hierin 
irren möge, weil die höchst wichtigen, darin enthaltenen, Wahr- 
heiten allgemeiner bekannt zu werden verdienen. Allerdings ist 
der Vortrag rein mathematisch, allein die säromtlichen Berech- 
nungen sind vollständig mitgetheiit, und können daher von Jedem 
geprüft werden, der sich die Mühe nimmt, sie nachzurechnen; 
sie gehören ausserdem zu den elementaren der Analysis, die we- 
nigen vorkommenden Diflerentialformeln nicht ausgenommen, und 
können daher ohne tiefere Kenntnifs des höheren Calcüls leicht 
verstanden werden. Zugleich sind für Mathematiker von Profes- 
sion die erforderlichen anatomischen und physiologischen That- 
sachen so deutlich angegeben, dafs es ihnen nicht schwer wer- 
den kann, der Darstellung zu folgen. 

Den Inhalt der Schrift einzeln anzugeben wurde zu viel Baum 
erfordern , wir wollen ihn jedoch der Hauptsache nnch bezeich- 
nen. Dafs das Auge von Gegenständen in Entfernungen, die von 
etwa 8 par. Zoll bis zum sogenannten Unendlichen verschieden 
sind, ohne weitere Veränderung seiner Gestalt oder Verrückong 
seiner Theile deutliche Bilder auf der Betina zu erzeugen ver- 
mag, beruht im Wesentlichen auf zwei Bedingungen, zuerst auf 



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dem blätterigen Baue der Krystalliinse', und zweitens auf einer 
ungleichen Weite der Pupille. Der Verf. äussert auf Veranlas- 
sung einer Bemerkung von Arnold, es sey ihm nicht bekannt, 
dafs Pouillet gleichfalls die Hypothese aufgestellt habe, die Zu- 
sammensetzung der Krystalliinse aus Lamellen von ungleicher Dich- 
tigkeit und die verschiedene Weite der Pupille diene zur Erklä- 
rung der Deutlichkeit des Sehens in verschiedenen Entfernungen, 
inzwischen findet sich die hierher gehörige Äusserung wirklich 
in dessen reichhaltigem Handbuche der Physik *) , jedoch nur als 
blofse Hypothese im Allgemeinen angedeutet, unser Verf. dagegen 
liefert den geometrischen Beweis aus den bekannten Thatsachen 
der Lichtbrechung und den gemessenen Dimensionen der Theile 
des Auges. Zuerst untersucht er die Bahn der Lichtstrahlen bei 
einer aus gleich dicken Schichten von gleich mafsig nach Innen 
wachsender Dichtigkeit bestehenden Kugel. Hiervon werden dann 
im folgenden Abschnitte (von p. 4> * n ) die erforderlichen Anwen- 
dungen auf das Auge, und zwar speciell das menschliche, ge- 
macht. Der Verf. bemerkt zugleich , dafs die Krystalliinse keine 
Kugel sey, und dafs die angegebene Art der Schichtungen von 
gleicher Dicke und gleichmäfsig wachsender Dichtigkeit in der 
Wirklichkeit nicht stattfinde, allein niemand wird deswegen gegen 
den Schlufs etwas einwenden, dafs man zu keinen andern Mitteln 
seine Zuflucht nehmen müsse, um das deutliche Sehen aus un- 
gleichen Entfernungen zu erklären , sobald dieses Problem aus 
dem eigentümlichen Baue des Auges genügend gelöset werden 
kann. Pouillet gründet seine Hypothese hauptsächlich auf die 
Voraussetzung, dafs die einzelnen Schichten der Linse eine un- 
gleiche Dicke haben , wobei man eine gleicbmäfsige Zunahme der 
Dichtigkeit mindestens als höchst wahrscheinlich annehmen darf. 
So viel ist wohl nach den mitgetheilten Berechnungen unbestreit- 
bar, dafs ein gewisses Verbältnifs der Dicke und der Dichtigkei- 
ten bei den Lamellen der Linse aufzufinden seyn würde, aus 
welchem unter Mitwirkung der ungleichen Öffnung der Papille 
und der eigenthümlichen Krümmungen der Oberflächen der Kry- 
stalliinse das Deutlichsehen ungleich entfernter Gegenstände voll- 
ständig erklärt werden konnte. 

Auf die durch den Calcül gefundenen Resultate gründet dann 
der Verf. folgende zwei Hauptsätze, zuerst: vdafs die Verände- 
rungen des Durchmessers der Pupille beim Nahe- und Fern- 
ssehen mit dem bewiesenen Gesetze übereinstimmen, wonach 
v dieser Durchmesser immer dem Producte aus dem Sinus des 
»Winkels, den die aussersten , van dem Obiecte ausgehenden, 
v Strahlen mit der Axe der brechenden Fläche machen, in die 
»Entfernung des Objectes vom Mittelpunkte dieser Fläche, ent- 



•) Klemens de Phvsiqnc oxpdri mentale et de radteorologie. Par CS. 
M. M. R. Pouillet. ParU 1829. Tome second, premiere partie, 
vag. 331 u. »32, §. 549, wo man auch einige der anderweitigen 
Hypothesen über dieses Problein findet. 



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rhjHikaluchc Literatur. 



»spricht, und demselben einen beständigen Werth gibt.« Dieses 
Gesetz auf das menschliche Auge angewandt , den Halbmesser 
der Hornhaut = 4 Lin. und ein Brechungsverhältnifs der wässe- 
rigen Feuchtigkeit = i,3366 angenommen, gehören den Entfer- 
nungen Ton 100 Linien bis zur unendlichen die zwischen 1,064 
und 1,1 Lin. wachsenden Halbmesser der Pupille zu, die sonach 
geringer sind , • als die in der Erfahrung gegebenen , welches 
jedoch davon abgeleitet wird, dafs bei der Berechnung auf 
die Brechung der Cornea , deren Flächen noch obendrein ver- 
schieden gekrümmt sind , nicht Rücksicht genommen ist. Der 
zweite Hauptsatz beifst: »dafs durch die Zusammensetzung der 
»Krystall linse aus Blättern, deren Dichtigkeit nach der Mitte der 
»Linse zunimmt, die Abweichung der Strahlen von einem ge- 
y roeinschaftlichen Brennpunkte gemindert wird, und dafs dadurch 
»die von einem und demselben Punkte unter verschiedenen Win- 
» kein ausfahrenden Strahlen innerhalb gewisser Grenzen auf eine 
»andere, der sonstigen entgegengesetzte, und mehr als diese dem 
»deutlichen Sehen angemessene Art gebrochen werden.« Auch 
in Beziehung auf diesen Satz sind die oben bereits erwähnten 
Voraussetzungen über den Bau der Krystalllinse angenommen, die 
in der Wirklichkeit nicht stattfinden, allein auf gleiche Weise 
gilt auch hierfür die ganz nahe liegende Kolgerung, dafs die ei- 
gentliche Beschaffenheit der Schichtungen der Krystalllinse , wie 
sie sich in der Natur findet , noch weit günstigere Resultate lie- 
fern würde. Nach Messungen des Querdurchschnitts von KrystalL 
korpern, die in Weingeist erhärtet waren, soll die Dicke der 
einzelnen Schichten = o,ooo5 Lin. gefunden seyn, und hiernach 
ihre Zahl i5oo betragen *), welche letztere in der Rechnung be- 
nutzt wird, um den Einflufs der Schichtung bei der Linse ge- 
nauer zu bestimmen. Ausser den beiden genannten Bedingungen 
mifst der Verf. mit andern auch der Turgescenz der Papillen der 
Retina einigen Einflufs auf das deutliche Sehen in ungleiche Eni- 
fernungen bei , und um diesen gehörig zu würdigen tneilt er die 
Resultate seiner mikroskopischen Untersuchungen über die Be- 
schaffenheit der Markiabstanz des Sehnerven mit, die in anato- 
mischer Beziehung von Interesse sind. 

In einem dritten Abschnitte macht der Verf. Anwendungen 
seiner Theorie auf die Erscheinungen des Sehens, um die erstere 
durch die letztere zu unterstützen. Sehr beweisend in dieser 
Beziehung ist die Erfahrung, dafs kleine Gegenstände deutlicher 
gesehen werden , wenn man sie durch ein enges Lochclchen in 
einer Karte betrachtet, weil dieses die Pupille vertritt, die sich 
so weit nicht verengern kann, als erfordert würde, um in so 
geringer Entfernung zu sehen. Gleich wichtig ist eine andere 
Erfahrung, dafs Weitsichtigkeit unmittelbare Folge einer künst- 




ln cl eingeführt, die Resultate bedeutend abändern würde. 



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Physikalische Literatur. 



liehen Erweiterung der Papille ist Dabei wird nicht übersehen, 
was sehr wichtig ist, dafs man allezeit nur die Deutlichkeit des 
im Augenblicke des Sehens erzeugten Bildes unmittelbar empfin- 
det, die des früher erhaltenen aber nur in der Erinnerung hat, 
und beide daher schwer genau mit einander verglichen werden, 
eine Wahrheit, wovon man sich augenblicklich uberzeugt, wenn 
man zwei optische Instrumente mit einander zu vergleichen ver- 
sucht. Ausserdem aber zeigt der Verf. als Resultat seiner For- 
meln, dafs, wenn ein Object aus irgend einer Entfernung bei 
angemessener Öffnung der Pupille deutlich gesehen wird , der 
Ort des Bildes durch eine Veränderung der Weite der Pupille, 
die den Winkeln von 40 bis 5o Minuten zugehört, nur unmerk- 
lich geändert wird, wodurch die Erfahrung Aulklärung erhält, 
dafs man auch dann bei umgeänderter Entfernung noch deutlich 
sieht, wenn die Pupille durch ungleich starkes Licht eine ver- 
schiedene Weite hat. Inzwischen ergiebt die Erfahrung überein- 
stimmend mit der Theorie, dafs bei einer in Folge wenigen Lich- 
tes grofseren Öffnung der Pupille die Bilder auf der Retina gro- 
fser sind , weswegen Gegenstände in der Dämmerung oder im 
Nebel gröfser zu seyn scheinen, woraus sich zum Theil auch die 
Vergr5fserung des Bildes der Sonne und des Mondes beim Auf- 
gange und Untergange erklären läfst. Eine neue, aber sehr an- 
sprechende und der Beachtung sehr werthe, Bemerkung ist end- 
lich noch die, dafs ein in völliger Dunkelheit gesehener heller 
Punkt, z. B. ein glänzender Stern, in Folge des gleichzeitigen 
Einflusses der Finsternifs und des Lichtes vielleicht wellenartige 
Bewegungen im Rande der Pupille hervorbringen m5ge, wodurch 
das erzeugte Bild sich stets verändern müsse, so dafs hieraus das 
Funkein der Sterne zum Theil erklärbar werde. Dieses soge- 
nannte Blinkern der Fixsterne ist gewifs noch nicht genügend 
erklärt , und daher darf man die angegebene Hypothese keines- 
wegs ganz verwerfen, wenn sie auch das interessante Problem 
nicht sofort aufzuhellen vermag. 

Überblicken wir nochmals das Ganze, so ist nicht in Abrede 
zu stellen, dafs der Verf. das Problem zollständig geloset habe, 
denn es lassen sich weder gegen die zum Grunde gelegten Grofsen« 
best im m 11 ngen, noch gegen den darauf gebauten Calcül gegründete 
Einwendungen vorbringen. Das hier nachgewiesene Verhalten 
des Auges beruht also auf ausgemachten Thatsachen , statt dafs 
alle andere Erklärungen einer Adjüstirung desselben blofs hypo- 
thetisch sind. Dennoch aber bleiben noch einige bedeutende 
Zweifel übrig, ob alle Erscheinungen nach dieser Ansicht genü- 
gend erklärt werden Können. Dahin gehört hauptsächlich die Ei- 
gentümlichkeit der sogenannten steifen Augen, die in einem 
gewissen normalen Abstände genau sehen, aber in grofseren und 
geringeren Entfernungen keine deutliche Bilder geben, eine 
Beschaffenheit, die selten ursprünglich ist und meistens durch 
anhaltendes Sehen in bestimmte Entfernungen erzeugt wird. Da- 
hin gehört ferner die bekannte Erfahrung, dafs es eine gewisse 



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Physikalisch« Literatur 



Zeit erfordert, bis das Auge Gegenstande in grüfserer Ferne 
deutlich siebt, wenn es einige Zeit auf nähere gerichtet war, und 
die hiermit übereinstimmende, dafs anfangs Gegenstande nicht 
deutlich gesehen werden, die bald nachher mit bestimmten Um- 
rissen erscheinen, obgleich sich die Entfernung nicht ändert, 
weswegen es bekanntlich so schwer hält, die genaue Gesichts- 
weite der Individuen zu bestimmen. Soll alles dieses aus der 
verlornen oder in ungleichem Grade vorhandenen Fähigkeit einer 
Verengerung und Erweiterung der Pupille erklärt werden, so 
wäre es sehr der Mühe werth, hierüber genugende Erfahrungen 
zu sammeln. Was der Verf. endlich am Schlüsse von einer Con- 
centrirung der Sehkraft auf einen einzelnen Punkt der Retina 
sagt, wie solche auch in der Extase und im Schlafwandeln inso- 
fern stattfinden soll, dafs die Sehkraft sich ganz von der Retina 
entferne und nach andern Centraltheilen des Nervensystems hin- 
ziehe, raogte Ref. insofern bezweifeln, als es schwerlich über- 
haupt eine der Concentrirung fähige, für sich bestehende, Seh- 
kraft giebt. Die Sehkraft ist bei klarem und gut gebautem Auge 
das Resultat der Empfindlichkeit der Retina, mag dieselbe in ei- 
ner gröfseren oder geringeren Ausdehnung vom erzeugten Bilde 
getroffen werden , ob aber das erzeugte Bild wahrgenommen 
werde, oder zur Apperception gelange, das hängt von der Auf- 
merksamkeit, von der psychischen Thätigkeit ab, mit Rucksicht 
darauf, dafs der stärkere Sinneseindruck den schwächeren ver- 
drängU 

An diese Schrift schliefst sich unmittelbar eine zweite: 

8) JVeu« Beiträge sur Philologie de» Genchtatinnee von Dr. A. W. Volk- 
marin, au*$erordentl. Profeaor zu Leipzig. Leipz. 1836. 206 S. 8. 
mit 3 Stcindrucktafeln. 

Die Functionen des Gesichtssinnes sind so mannigfaltig, so 
zusammengesetzt, und so schwer in gehöriger Allgemeinheit und 
mit der nüthigen Bestimmtheit durch Berücksichtigung der zahl- 
reichen bedingenden Umstände, und mit Ausscheidung der so 
leicht sich eindrängenden Eigentümlichkeiten , aufzufassen, dafs 
gründliche Forschungen in diesem Gebiete stets willkommen seyn 
müssen. Hieraus, in Verbindung mit der Wichtigkeit des Ge- 
genstandes, wird dann zugleich die Fülle der bereits vorhandenen 
Untersuchungen, und der vom Vf. bemerkte Umstand erklärlich, 
dafs man bei der Verschiedenheit der Ansichten, welche berühmte 
Physiologen und Physiker bereits aufgestellt haben, kaum irgend 
einer Meinung beipflichten kann , ohne zugleich in Widerspruch 
mit dem einen oder dem andern derselben zu kommen. Der Vf. 
bat im Ganzen mit grofeer Unbefangenheit geprüft, durchgehends 
selbst, und meistens auf eine eigenthümliche Weise, experimen- 
tirt, und giebt die Resultate mit so lobenswerther Bescheidenheit 
auf gleiche Weise klar und bestimmt, dafs man ihm mit grofsem 
Vergnügen auf jedem Schritte folgt, und unwillkürlich in sich 



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Physikalische Literatur. 



das Verlangen fühlt, über das noch immer ungewifs bleibende 
mit ihm zu verhandeln. Hierzu fehlt an diesem Orte der Raum, 
und Ref. mufs sich daher leider auf einige allgemeine Bemerkun- 
gen beschränken, die sich füglich mit einer Anzeige des wesent- 
lichsten Inhalts verbinden lassen. 

Das erste Capitel über den anatomischen Bau des Auges,, 
zunächst in Beziehung auf die Nervenfasern und Nervenkügel- 
cben , überläfst Bef. den Anatomen von Fach , und übergebt der 
Kürze wegen das zweite über die Sinnesthätigkeit im Allgemeinen 
und das dritte über das nach Aussen Setzen der Gesichtsobjecte. 
Die interessantesten und nichtigsten Capitel des ganzen Werkes 
sind wohl ohne Zweifel die beiden folgenden, welche über den 
Stand (den Ort) des Netzhautbildchens und die Drehungen des 
Auges neue Aufschlüsse geben. Auf der Retina entsteht bekannt- 
lich ein verkehrtes Bild des gesehenen Gegenstandes, für dessen 
Erzeugung, wenn wir uns der Bequemlichkeit wegen ein verti- 
cales, schmales Object vorstellen, die vom oberen Theile dessel- 
ben oberhalb der Axe des Auges auf die Cornea fallenden Licht- 
strahlen diese Axe irgendwo schneiden müssen. Der von der 
Mitte des Objects ausgehende, in der Axe selbst liegende, Licht- 
strahl leidet keine Brechung (welches der Verf. durch die Äus- 
serung p. 49, dafs selbst die Axenstrahlen der Lichtkegel nicht 
ungebrochen durchgehen können, sicher sieht zu bestreiten be- 
absichtigt), und so müssen nothwendig auch vom untersten und 
von allen andern Punkten des gesehenen Objectes Strahlen durch 
das Centrum der Linse gehen, wie Ref. schon an einem andern 
Orte bemerkt hat, ohne damit den Durchschnittspunkt der Haupt- 
strahlenbündel mit der Axe zu bezeichnen. Nehmen wir diese 
Strahlen von den beiden äussersten Enden des Objectes, so bil- 
den diese den sogenannten Gesichtswinkel, dessen Spitze hier- 
nach in der Linse läge, obgleich man sie, bei der Kleinheit des 
Unterschiedes, und wo es auf absolute Genauigkeit nicht ankommt, 
auch wohl in die Cornea setzt , die aber nach dem Verf. am 
richtigsten in den Durchschnittspunkt der Lichtstrahlen und der 
Axe hinter der Linse zu setzen ist. Diejenigen Lichtstrahlen, 
welche vor der Cornea oder vor der Linse die Axe schneiden, 
künnen sie hinter der Linse nicht abermals schneiden, woraus 
sich ergiebt, dafs nicht alle Strahlen in einem einzigen Punkte 
in der Axe Concentrin sind , was auch der Theorie und Erfah- 
rung über die Erzeugung der Bilder hinter sphärisch -convexen 
transparenten Korpern zuwider seyn würde. Inzwischen existirt 
allerdings in der Axe des Auges ein physischer Punkt, wo die 
Hauptstrahlen sich durchkreuzen, um dann durch Vereinigung der 
zusammengehörigen ein Bild auf der Retina zu erzeugen. Be- 
stimmte Angaben über die Lage dieses Punktes erinnert sich Ref. 
nur undeutlich irgendwo gefunden zu haben, unser Verf. aber 
construirte zur Auffindung desselben ein eigenes Instrument, Ge. 
Sichtswinkel raesser genannt, und fand vermittelst desselben den 
Abstand des von ihm so genannten Kreuzungspunktes der 



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Physikalische Literatur. 



Sebstrahlen von der Vorder! In che der Cornea zwischen 0,42s 
and o,522 par. Zoll, im Mittel alse 0,466 Zoll oder 5,592, in 
rander Zahl 5,6 par. Linien. Noch wichtiger, als dieses Resul- 
tat, and als eine interessante Erweiterung unserer Kenntnifs der 
Functionen des wunderbarsten aller Organe ist zu betrachten die 
aufgefundene Wahrheit, dafs dieser Punkt zugleich das Centrum 
der Drehungen des Augapfels ist. Die Versuche des Verfs. zur 
Begründung dieses Satzes sind allem Anschein nach streng be- 
weisend; auch mufs man gestehen, dafs diese Einrichtung die 
einfachste und zweckmäfsigste war , welche die Natur dem Auge 
geben konnte, um die Verlängerung seiner Aze über die zu se- 
henden Gegenstände hingleiten zu lassen, and die Abstände der 
einzelnen gesehenen Punkte durch den Winkel, welchen die ver- 
schiedenen Bichtungen der Augenaxe bilden , zu messen. Der 
Verf. erwähnt gehört zu haben, dafs das Fett der Augenhohle 
selbst nach auszehrenden Krankheiten noch vorhanden zu seyn 
pflege, ond betrachtet dieses als eine weise Vorsorge der Natur, 
damit das zum Bollen eingerichtete Auge in der leeren Hohle 
nicht schlottere. Bef. ist hierin nicht competent , meint aber, das 
Fett der Augenbühle werde im krankhaften Zustande, und selbst 
durch Ursachen , welche die Lebenskraft deprimiren , sehr bald 
resorbirt, und erzeuge durch Zurückziehung des Auges das so- 
genannte hohläugige Aussehen; übrigens bleibt auch nach dem 
Schwinden eines 1 heiles des Fettes noch Zellgewebe genug, um 
ein eigentliches Schlottern des Auges in der engen Hohle zu ver- 
hüten, da krankhafte Afiectionen des Korpers das Volumen des 
Angapfels nicht zu vermindern pflegen. Es verdient hier zu- 
gleich, wegen der Wichtigkeit der Sache, bemerkt zu werden, 
dafs mit dieser wälzenden Bewegung des Auges um den angege- 
benen Centraipunkt eine Veränderung der Form des Augapfels 
durch die Muskeln ganz un vertraglich ist, insofern hiernach die 
Anspannung des einen nothwendig von einem Nachlassen des ent- 
gegenstehenden begleitet seyn mufs , und zugleich ist es eine in* 
teressante Aufgabe für die Anatomen, die eigentümliche Thätig- 
keit der Muskeln, wie sie zur Erzeugung dieser wälzenden Be- 
wegung erfordert wird, zur deutlichen Vorstellung zu bringen. 

Zunächst kommt das Aufrechtsehen zur Untersuchung , wor- 
über der Verf., wie billig, äussert, dafs dieses eigentlich keiner 
Erklärung bedürfe. Bef. halt alle Angaben über beobachtetes 
Verkehrtsehen durchaus für apokrvphisch ; denn abgesehen davon, 
dafs das Verhältnifs zwischen dem empfundenen Netzhautbildchen 
und dem Gegenstande zuverlässig durch den Tastsinn gegeben 
wird , schliefst die unmittelbare Übertragung des empfundenen 
umgekehrten Bildes auf die Gegenstände einen Widerspruch in 
sich, indem ein mit dieser Fähigkeit behaftetes Subjcct die ver- 
kehrt gesehenen Gegenstände so zeichnen , und dann wieder ge- 
rade sehen müfste. Im siebenten Capttel, welches von der Schä- 
tzung der Grofse handelt, folgert der Verf. in Gemäfsheit der 
von ihm aufgefundenen Lage des Drehpunktes im Auge, dafs für 



29« 



Ph rai k ali sehe Literatur. 



den kleinsten Gesichtswinkel = 3o See. (die innere Axe des Au- 
ges mit Einschiufs der Hornhaut nach Treviranus = 0,816 Z. 
und den Abstand des Drehpunktes des Auges [von der Cornea] 
=; o, . 1 6 6 Z. angenommen, wonach also von da bis zur Retina 
o,353 Z. übrig bleiben, den Abstand des Objectes aber =48,466 
Zoll genommen) der Diameter des kleinsten empfindbaren Bildes 
= 0,00006 Zoll seyn wurde. Es sollen aber v. Bär's Schuler 
ein Haar von Y«o Lin. noch in a8 Fufs Abstand wahrgenommen 
haben, und dann betrüge die letztere Grofse nur 0,0000014 Z. , 
auch meint der Verf., jedes nur mittelmäfsige Auge erkenne ein 
Haar von 0,00". Z. Durchmesser in 3o Z. Abstand, was o,oooos3 
Z. geben würde, und es müfsten also die kleinsten Netzhautbild- 
chen kleiner seyn, als die kleinsten Elemente der Retina, deren 
Mafs wir kennen. Es dürfte hierbei jedoch fraglich seyn, ob ein 
so (scheinbar) gesehenes Haar, welches, wie gewöhnlich gegen 
das Licht gehalten, in Vergleichung mit dem seitwärts einfallen- 
den Lichte kaum überall empfindbares Licht rellectirt, eigentlich 
gesehen werde , und nicht vielmehr einen blofsen Schatten er- 
zeuge. Hiermit stimmen auch die im Nachtrage S. 201 mitge- 
theilten Erfahrungen überein. 

Ref. würde zu ausführlich werden, wollte er dem Verf. wie 
bisher mit seinen Bemerkungen folgen, da der untersuchten Pro- 
bleme zu viele sind, und es möge daher genügen, mit Über- 
gehung der folgenden Capitel über Schein er s Versuch, über 
die Richtung des Sehens und das Einfachsehen mit beiden Au- 
gen sogleich zu der wesentlichsten und vielbestrittenen Frage 
über die Accommodation des Auges überzugehen, nur sey es er* 
laubt, folgende Bemerkungen mitzutheilen. Der Ort des gesehe- 
nen Gegenstandes wird durch die Richtung der Augenaxen ge- 
geben, weswegen die Bestimmung desselben den Schielenden so 
schwer, das Einfädeln einer Nadel aber nach dem Verschliefsen 
des einen Auges fast unmöglich ist; die automatische Richtung 
der Augenaxen , und die hiermit zusammenhängende Bestimmung 
des Ortes, geht am überzeugendsten aus II ersehe Ts interessan- 
tem Versuche hervor, welcher im Wörterbuche T. VHL p. 777 
mifg et heilt ist; die Unterscheidung der Farben aber, wo der Ge- 
gensatz zweier oder des weifsen Lichtes fehlt , ist eins der schwie- 
rigsten Probleme, wie schon daraus klar wird , dafs beim Sehen 
durch ein langes, enges, inwendig geschwärztes Rohr alle Far- 
ben , mit Ausnahme des Gelben, fast gänzlich verschwinden. Die 
ganze folgende Hälfte der Schrift ist denjenigen Untersuchungen 
gewidmet, welche sich auf das Accommodations* Vermögen des 
Auges beziehen, oder damit in einiger Verbindung stehen. Na- 
türlich konnte hierbei eine beständige Rücksicht auf die oben 
angezeigte Schrift von Treviranus und die frühere desselben 
nicht fehlen. Unser Verf. stellt die Gültigkeit der Resultate des 
Calcül's nicht in Abrede, was viel zugestanden heifst, hegt aber 
dennoch viele Zweifel , die ihn hindern , der Ansicht jenes be- 
rühmten Physiologen beizutreten. Inzwischen läfst sich der gröfste 



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Theil der gemachten Einwurfe durch den Ein flu fs der 
den Pupillen-Öffnung beseitigen. Wie bedeutend dieser sey , und 
wie leicht er erfolge, davon kann man sich uberzeugen, wenn 
man sein eigenes Auge im Spiegel betrachtet, und dabei die Ent- 
fernungen wechselt. Ref. hat diesen Versnch oft bei verschiede- 
ner Intensität des Lichts angestellt, und sich dabei ausnehmend 
über die Beweglichkeit seiner Pupille gewundert, wodurch je» 
doch der oben von ihm gemachte Einwurf an Gewicht zunimmt, 
da sein Auge mit so beweglicher Pupille dennoch aus Entfernun- 
gen, die nicht eben bedeutend von der gehörigen Gesichts weite 
abstehen, nur sehr undeutliche Bilder erhält. Mehrere der vom 
Verf. aufgefundenen oder bestätigten Thatsachen wird Trevira- 
nus zur Unterstützung seiner Ansicht benutzen, und wenn na- 
mentlich der nachgewiesene Drehpunkt im Auge ein unveränder- 
licher im strengsten Sinne ist, so fallen damit die meisten ange- 
nommenen Mittel der Accommodation von selbst weg. Die Re- 
sultate der Versuche mit Belladonna, die der Vf. anfuhrt, schei- 
nen keineswegs für ein Accommodations- Vermögen zu sprechen, 
denn weitsichtig war das Auge mit erweiterter Pupille allerdings 
geworden, wenn gleich der Bereich, innerhalb dessen mit ihm 
gelesen werden konnte, kleiner war, als bei dem gesunden Auge, 
was sich leicht aus krankhafter Afteclion desselben und dadurch 
verminderter Reizbarkeit erklären liefse. Überhaupt ist es ein 
übler Umstand, dafs die Frage über die Accommodation des Au- 
ges blos aus der anderweitig vielfach bedingten Deutlichkeit des 
empfundenen Bildes entschieden werden raufs , und es könnte 
damit ebenso gehen, als mit der auf gleiche Weise geprüften 
Achromatie des Auges, die hiernach lange Zeit behauptet, und 
dennoch zuletzt durch fernere Versuche als nicht vollkommen 
vorhanden erkannt wurde. Das Problem wird vermuthlich noch 
eine geraume Zeit streitig bleiben, bis alle Einwürfe beseitigt 
sind; es ist jedoch sehr wichtig, dafs einmal eine so gründliche 
Basis durch Treviranus gegeben ist. 

Wir fügen dieser Anzeige deutscher Original werke noch die 
einiger werthvollen Übersetzungen hinzu. 

4) Abrifs einer Geschichte der Fortschritte und de* gegenwärtigen Zu- 
Standes der physischen Optik, t on Humphrey Lloyd, Professor tu 
Dublin. Aus dem Heport of the fourth Meeting of the British Associa- 
tion for the Advancement of Science. Lond. 1835. Übersetzt und mit 
ergänzenden Anmerkungen versehen von G. A. Kloeden. Berlin 18ä6 
196 S. 8. 

Die Engländer haben in den neuesten Zeiten die Optik vor* 
zugsweise bearbeitet, und die berühmten Namen Brewster, 
A iry und insbesondere Herschel verdienen in dieser Beziehung 
vorzugsweise genannt zu werden. Sowohl durch diese als auch 
durch andere Gelehrte ist diese Wissenschaft nicht blos erwei- 
tert , sondern sogar bedeutend umgestaltet , insbesondere durch 
fast allgemeine Aufnahme der Unduiationstheorie. .Lloyd giebt 



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300 Phjiiknliichc Literatur 

hier eine sehr vollständige Übersicht des gegenwärtigen Zustandes 
der Optik, ohne die mathematischen Formeln, deren man sich 
gewöhnlich zur schärferen Bezeichnung der Sachen zu bedienen 
pflegt, und ohne erläuternde Figuren. Dieses geschah wohl, weil 
die Abhandlung zu einer Vorlesung in der Versammlung der 
brittischen Naturforscher bestimmt war; jedoch weifs Ref. nicht, 
ob sie wirklich in dieser Ausführlichkeit gehalten ist, in welchem 
Falle sie nothwendig ermüdend seyn mufste. Ungleich geeigneter 
ist sie zum Lesen, denn sie ist sehr gelehrt, geht tief in das ei- 
gentliche Wesen der optischen Erscheinungen und Gesetze ein, 
und ist zugleich sehr bestimmt und klar. Alle Anwendungen, 
die nicht direct zur Erläuterung und Begründung der Gesetze 
über das Verhalten des Lichtes geboren, z. B. vom Sehen, sind 
weggelassen. Der Übersetzer hat ganz in diesem Sinne einige 
werthvolle Anmerkungen hinzugefugt, und die Schreibart ist so, 
das das Werk fuglich als Original gelten konnte. 

4) Abrifs einer Geickichtc der neueren Fortschritte und de» gegenwärtigen 
Zustandet der Meteorologie. Von Juni es Farben, Professor an der 
Universität zu Edinburgh u. s. w. Aus dem Report of the ßrst and se- 
cond Meetings of the British Association cet. Lond. 1833. Übersetzt 
und ergänzt von W. Mahlmann. Berlin 1886. VI u. 248 & 8. 
Vit 3 Tafeln. 

Der an die Stelle des bekannten Leslie gekommene James 
Dr. Forbes zu Edinburgh, allgemein geachtet wegen des Um- 
fangs seiner Kenntnisse und seines regen wissenschaftlichen Eifers, 
gab in der ersten Versammlung der brittischen Naturforscher zu 
York i83i und in der zweiten zu Oxford i83a eine Übersicht 
dessen , was gerade jetzt zur Beförderung des Studiums der Me- 
teorologie geschieht, und eine Bezeichnung des Standpunktes, 
worauf sich dieser Zweig der physikalischen Wissenschaften be- 
findet , hauptsächlich in der Absicht , um mehrere der anwesenden 
Gelehrten zu veranlassen, einige noch dunkle Probleme durch 
neue, zweckmäfsig eingerichtete, Versuche aufzuhelfen, die auch 
wirklich angestellt , und deren Resultate in den späteren Versamm- 
lungen vorgelegt wurden. Es war dieses zugleich interessant und 
nutzlich, denn in Grofsbrittannien herrscht sehr allgemein Liebe 
zu den Naturwissenschaften, inbesondere auch zur Meteorologie, 
es wurden daher bisher schon an sehr vielen Orten Witterungs- 
beobachtungen aufgezeichnet, hauptsächlich von den Geistlichen, 
jedoch trugen diese bis jetzt noch fast allgemein Spuren des Man- 
gels an einer eigentlich genauen Kenntnifs der Sache. Forbes 
bezeichnet diesen Standpunkt, indem er sagt: »die meteorologi- 
schen Instrumente sind meistenteils als Spielzeug betrachtet, 
»und auf die Beobachtung derselbrn ist nicht wenig Zeit und 
»Mühe verwandt worden, die ganz unnutz für irgend einen wis- 
senschaftlichen Zweck erscheinen. Ja selbst von den zahlrei» 
» chen Tabellen , die einen höheren Werth als jene Beobachtun- 



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Phyaikaliiche 



Literatur. 



301 



»gen haben, und die monatlich, vierteljährlich oder jährlich der 



»Welt bekannt gemacht werden, kann nur wenig speeifische Be- 
v lehrung über irgend eine Hauptlehre oder ein Hauptfactum der 
»Wissenschaft erwartet, oder durch sie beabsichtigt werden. Sie 
»enthalten kaum das Geringste, was sich dazu eignete, einem 
» Abrifs über die Fortschritte der Meteorologie einverleibt zu 
»werden.« Wenn er aber zugleich den Satz ausspricht, dafs vor 
einer zweckmäßigen Behandlung der Meteorologie zuerst das We- 
sen der Wärme-Erscheinungen näher gekannt werden müsse, wozu 
vorzuglich das Studium der Werke von Fourier und Poisson 
dienen könne, so durfte es noch lange dauern, bis die Bearbei- 
tung der Meteorologie nur beginnen kann , denn das Wesen und 
das eigentliche Verhalten der Wärme wird sobald nicht er- 
grundet werden , da hier noch so viel zu thun vorliegt , so 
manche Schwierigkeiten noch zu beseitigen sind , und einige der 
wichtigsten Resultate der theoretischen Forschung mit ausgemach, 
ten Thatsachen im Widerspruche stehen; wie denn unter andern 
r. Humboldt noch neuerdings darauf hingewiesen hat, dafs 
Hofs bei seinem Winteraufenthalte zu Bootia felix eine geringere 
Wärme beobachtete, als Fourier und Svanberg dem Welt- 
räume beilegen, wonach also in jenen, sicher noch nicht kälte* 
sten , Gegenden der Erde die Kälte mit der Hohe über der Erd- 
oberfläche abnehmen müfste. 

Nach dem Plane, welchen Korbes im Voraus angiebt, theilt 
er zuerst eine Übersicht der Literatur mit, die sich jedoch blos 
auf die Meteorologie von Daniel 1 und das Handbuch der Physik 
von Pouillet bezieht; die Werke von Schübler und Hämtz 
waren ihm nur dem Namen nach bekannt, doch sind die wichtig- 
sten Abhandlungen auch in franzosischen und selbst deutschen 
Zeitschriften von ihm nicht unbenutzt geblieben. Der Übersetzer 
bat indefs keineswegs eine eigentliche Übertragung des Textes 
geliefert , auch sich nicht begnügt , diesen mit Anmerkungen zu 
begleiten, sondern er hat die Ergänzungen und Erweiterungen 
so geschickt eingewebt, dafs man nicht mehr erkennt, was aus 
der Originalschrift entnommen , und was von ihm zugesetzt ist. 
Bei einigen Anmerkungen, namentlich im Anfange, ist zwar be- 
merkt, dafs sie zugesetzt seyen, allein dieses läfst sich als blofse 
Ausnahme betrachten. Somit dient die Abhandlung von Forbes 
nur gleichsam als Grundlage eines , wie der Übersetzer selbst 
sagt, mehr einem Compendium, als einer geschichtlichen Über- 
sicht, gleichenden Werkes über die hauptsächlichsten Probleme 
der Meteorologie, wobei die im Originale gewählte Reihenfolge 
beibehalten ist. Hiernach folgt auf die genannte kurze Angabe 
der Literatur zuerst über die Beschaffenheit (hauptsächlich Zu- 
sammensetzung) der Atmosphäre, dann über die Temperatur, 



Feuchtigkeitszustand derselben, und endlich über die atmosphä- 
rischen Phänomene und Niederschläge, als die Winde, den Thau, 
den' Regen, den Schnee und, nach einer Untersuchung der Luft- 




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elektricität, die Gewitter, den Hagel nebst dem Nordlichte. Haupt- 
sächlich sind hierbei die reichhaltigen Arbeiten von Hämtz und 
Do vc benutzt, die Quellen findet man sebr vollständig und genau 
angegeben , und somit dient also die Schrill denen , welche die 
größeren benutzten Werbe und namentlich die in Poggen- 
3 orf Ts reichhaltigen Annalen enthaltenen Abhandlungen nicht 
zur Hand haben , als ein reicher Schatz wissenswert hei- Thatsacben 
und der Resultate der neuesten gelehrten Forschungen im Ge- 
biete der Meteorologie. 

6) Ünterhaltungen aus dem Gebiete der Naturkunde. Von Dr. Fr. Arago. 
Au» dem Franzöeuehen übersetzt von Carl v. Rem*. Erster Theit. 
Stuttgart 1837. Fl u. 278 & 8. 

In der Vorrede wird bemerkt, dafs dem seit 1827 zu Paria 
jährlich erscheinenden Annuairt presente au Roi par le Bureau des 
Longitudes (einem kleinen, eng gedruckten Tni leiten- Alma nach , 
worin ausser dem Kalender noch die Mafsc und Gewichte, die 
Posten , die wichtigsten geographischen Ortsbestimmunsen u. s. w. 
enthalten sind) meistens noch kürzere oder längere Abhandlungen 
unter dem Titel : No/ices scien/ifiaues angehängt zu seyn pflegen , 
die meistens die neuesten und interessantesten Gegenstände aus 
dem Gebiete der Physik enthalten. Ihr Verfasser, Arago, hat 
bekanntlich die Gabe, bei tiefer Gelehrsamkeit einfach und klar 
zu seyn , seine Darstellungen werden daher ausnehmend gerne 
gelesen, und es ist in der That zu verwundern, dafs nicht schon 
früher jemand auf den Gedanken kam, diese Abhandlungen ent- 
weder in der Grandsprache vereint herauszugeben , oder ins 
Deutsche zu ubersetzen, denn sie sind nicht blos im Allgemeinen 
belehrend, sondern auch mitunter selbst dem Physiker von Fach 
unentbehrlich, welcher sich dann die einzelnen Jahrgänge, und 
damit zugleich die fast unverändert wiederkehrenden Sachen an- 
schaffen mufs , von denen er keinen Gebrauch machen kann. 
Ebenso sind auch in den meisten Jahrgängen der Connaissance 
des Temps, namentlich denen aus dem laufenden Jahrhundert, sehr 
gelehrte Abhandlungen enthalten, die man selbst in Frankreich 
nicht von der blos für Astronomen von Fach geeigneten Abthei- 
lung getrennt erhalten kann. Ref. zweifelt daher keinen Augen- 
blick, dafs die vorliegende Übersetzung Beifall finden werde, nur 
vermissen sicher die meisten Leser eine Angabe der Jahrgänge, 
woraus die einzelnen Abhandlungen genommen sind, insofern man 
oft veranlagst wird, zum Originale uberzugehen. 

Die in diesem ersten Theile enthaltenen Abhandlungen sind: 
zuerst die weitläufigste unter allen, über die Dampfmaschinen. 
Man findet darin eine sehr ausführliche Geschichte der Erfindung 
dieser neuerdings so berühmt gewordenen Apparate, worin mit 
tief eingehender Kritik die Ansprüche der verschiedenen Gelehrten 
an diese Ehre geprüft werden. Unser Verf. legt sie dem Salo- 
mon de Caus um das Jahr i6i5 bei, den er zugleich seiner 
Nation vindicirt, obgleich anderweitig erwiesen ist, dafs dieser 



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Physikalische Literatur 



Heidelberger Professor ein Deutscher war. Dafs der von den 
Engländern so allgemein angenommene Marquis von Worchester 
nicht der Erfinder sey, laut sich wohl genügend dort hu n, allein 
nach unserer Ansicht gebührt die Ehre entweder dem Heron 
Ton Alexandrien , welcher eine dem Segnerschen Wasserrade ähn- 
liche Maschine durch Dampf in Bewegung setzte, oder dem Dio- 
nysius Papinus (von welchem Arago wohl nicht mit Unrecht 
sagt: »der Mann von Genie, der seinem Jahrhundert zu weit 
» vorausgeeilt ist, wird überall verbannt, in welchem Fache es 
»seyn mag«), denn dieser erfand den jetzt allgemein gebräuch- 
lichen Embolus und die Stiefel mit Ventilen, statt dafs die Ma- 
schine des de Caus nur ein durch Dampf getiiebener Heronsball 
ist, dem Sa Vary das Saugwerk hinzufugte. Inzwischen erfor- 
derte die Construction der Maschine des Letzteren weniger tech- 
nische Fertigkeit, und ihrem Erfinder standen bedeutende Hülfs- 
roittel zu Gebote , statt dals der Marburger Professor mit Mängeln 
aller Art zu kämpfen hatte, ein Umstand, welcher in der Ge- 
schichte der Erfindungen und wissenschaftlichen Leistungen über- 
haupt wohl berücksichtigt zu werden verdient. 

Ref. darf des Baumes wegen dem reichhaltigen Inhalte nicht 
weiter folgen, nnd unterläfst dieses um so mehr, je sicherer die 
Schrift selbst sehr viele Leser finden wird. Die folgenden Ab- 
handlungen betreffen die Artesischen Brunnen, gleichfalls mit ge- 
nauen historischen Nachrichten über die ersten Versuche, solche 
Quellen aufzufinden. Es folgt dann die bekannte gelehrte Abhand- 
lung uher den Wärmezustand unserer Erdkugel, hierauf über den 
frostbringenden Mond und den Thau, worin die dem Monde falsch- 
lich beigelegte Hälteerzeugung aus der bekannten Wärmestrahlung 
abgeleitet wird; demnächst eine kurze Zusammenstellung der den 
verschiedenen Thierarten eigenen Temperatur , und endlich über 
die ägyptischen Hieroglyphen. Überall findet man interessante 
Bemerkungen eingestreuet , und mitunter schwierige Probleme 
höchst anschaulich dargestellt, wie z. B. den Zusammenhang eini- 
ger Quellen mit der Ebbe und Fluth, wenn anders die Thatsache 
völlig begründet ist. Die Übersetzung, obgleich man sie als sol- 
che erkennt, ist sehr iliefsend, und der Druck correct, nur findet 
sich 8. i3i ein leicht irre führender Druckfehler, indem 80 Mil- 
lionen statt 80 Billionen steht. 

7) Die denkwürdigen artesischen Brunnen zu Oberditchingen in H'ürtem- 
berg , in geognottisch - hydrographischer und construetiver Beziehung 
ausgeführt und dargestellt von A. R Bruckmann, Architekt u. 9. w. 
Mit einer Steintafel. Heilbronn 1836. 60 8. 8. 

Wir erwähnen diese kleine Schrift von dem Sohne des be- 
kannten Verfassers eines ausfuhrlichen Werkes über das Bobren 
artesischer Brunnen, dem Neffen des als praktischen Hydrotectea 
rühmlichst bekannten Bruckmann zu Heilbronn, weil der be- 
handelte Gegenstand von allgemeinem Interesse ist, und die Er- 
gebnisse solcher Operationen allezeit belehrend für diejenigen sind, 



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304 Physikalische Literatur. 

welche ahnliche Unternehmungen aaszufuhren beabsichtigen. Aus- 
scrdem ist es interessant, zu erfahren, dafs in einem Abstände, 
welcher nicht mehr als 260 Fufs betrug , drei Bohrquellen mit 
einem reichlichen Ertrage zon Wasser, zusammen von 1408 Ku- 
bikfufs in einer Stunde, aufgeschlossen wurden, welches bei allen 
beträchtlich über die Bodenfläche anstieg; auch wird der Geognost 
nicht ohne Interesse die Verschiedenheit der durchbohrten Schich- 
ten in einem so geringen Bereiche aus den Zeichnungen entnehmen. 

Ref. erwähnt noch zwei Schriften, um sie nicht mit Still- 
schweigen zu ubergehen, obgleich die Gesetze unseres Instituts 
verbieten, uher inländische literarische Producte ein Urtheil zu 
fällen. 

■ 

8) Lehrbuch der Physik zum Gebrauche bei Vorlesungen und beim I nter- 
richte, von IV. Eisenlohr, Professor der Mathematik u. Physik am 
grofsherz. Gymnasium in Mannheim. Mit 8 Tafeln. Mannheim 1836. 
VIII und 448 8. 8. 

Der Verf. befolgt die gewohnliche Ordnung, indem er in 2 
Abschnitten von der Beschaffenheit der Korper handelt , dann die 
Bewegungsgesetze folgen la'fst , woran sich die Wellenbewegung j 
und die Phänomene des Schalles schliefsen. Die folgenden Ab- 
schnitte sind den Inponderabilien gewidmet, zuerst dem Lichte, 
darauf der Wärme und der Elektricität nebst Magnetismus, wor- 
auf das neuerdings entdeckte gegenseitige Verhalten des Magne- 
tismus und der Elektricität zu einander unter dem Ausdrucke: 
Electrodynamik , zusammengefaßt wird. Veranlassung zur Her- 
ausgabe des Handbuches gab das Halten von Vorlesungen vor 
einem zahlreichen und ausgezeichneten Publikum , wobei der 
Wunsch ausgesprochen wurde, den Inhalt der Vorträge gedruckt 
zum Nachlesen zu besitzen. 

9) Beiträge zu einer künftigen Physiographie des Grofsherzogthums Baden 
und seiner Angrenzungen, in einer Hei he zwangloser Hefte. Heraus- 
gegeben von Dr. C. Fr. Wucherer. Erstes Heft. Freiburg 1836. 22 S. 8. 

Die Schrift enthält die vom Verf. im Jahre 1820 in der hie- 
sigen Versammlung der Naturforscher und Ärzte gehaltene Vor- 
lesung über die Cassinische Mittagslinie zu Karlsruhe, die dortige 
Abweichung der Magnetnadel, und Länge des Secundenpendels. 
Neues ist nicht hinzugesetzt, ausser einige literärische Nachwei- 
sungen. 

M u n c k e. 



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N 0 .2O. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



SCHUL SCHRIFTEN. 

Die Entwicklung des deutschen Schalwesens bildet sich im« 
mer bestimmter in die einzelnen Anstalten aus, die von der fort- 
schreitenden Cultur verlangt werden. Die Gelehrten- und poly- 
technischen Schulen neben einander, und die niederen Volksschulen 
scheinen sich in dieser Ausbildung scharfer von einander sondern 
au wollen, und zwar wie ehedem nach den Stufen der Stände, so 
jetzt nach den Zwecken des Erwerbs; weshalb das Bedürfnifs der 
Gelehrtenschulen gegen sonst etwas zurücktritt. Da nun seit cini- 

§en Jahren, wo die Überfullung der Adspiranten besonders unter 
en Theologen und Juristen unangenehm gefühlt wurde, die Fre- 
quenz auf den Universitäten in einer bemerkbaren Abnahme be- 
griffen ist , so dafs gegenwärtig in den deutschen Ländern , deren 
Gesammtbevolkerung etwa aus 3o Millionen besteht , ungefähr 
10,000 deutsche Studirende sich befinden, so wird sich in dieser 
Hinsicht die Zahl derer, die für den Gelehrtenstand unterrichtet 
werden, vielleicht bald ins Gleichgewicht setzen, und diesem wird 
denn auch die Abtheilung der vorbereitenden Schulen zeitgeroäfs 
entsprechen. Die Hauptgrundsätze für jede Art derselben haben 
sich geltend gemacht, und hierin bringt die Literatur dermalen 
wenig Neues, aber die Nachrichten über die Art, wie sie in die- 
sen verschiedenen Anstalten in das Leben eingeführt werden, hat 
dafür, wie Ref. früher einmal in diesen Jahrbb. äusserte, jenen 
literarischen Werth gewissermafsen übernommen. In dieser Be- 
ziehung zeigen wir auch jetzt wieder einige Schulschriften an. 

1) Gelehrtenschulen. Einer der verdienstvollsten Lehrer 
einer solchen vorzuglichen Anstalt, der schon früher auch durch 
Druckschriften wirksam gewesen, hat herausgegeben: 

Ansichten über Erziehung und Unterricht in gelehrten Schulen. Eine Aus- 
wahl der Schulachriften von Dr. J. G. K. FöhUich, Grofeher*. Bad. 
Hofr. und Dlrector des Gymnatiume zu IVcrthheim. Erste Sammlung, 
Karleruhe, in der Braun'$chen Hofbuchhandl. 1836. IX u. 880 S. 

Es sind Abhandlungen von 1814 bis zu i834, und bezeichnen 
also für diesen Zeitraum von 20 Jahren zugleich eine geschicht- 
liche Entwicklung dieser Ansichten. Die erste (v. J. 1814) redet 
über die logische Wichtigkeit der Mathematik in 
Gymnasien, nebst einigen wissenschaftlichen Anden- 
tungen. Auch jetzt noch, seitdem dieser formale Nutzen der 
Mathematik allgemeiner anerkannt worden, ist diese Abhandlung 
den Schulmännern sehr zn empfehlen, da sie mit tiefer Sachkennt- 
nis den Gegenstand ins Klare setzt; sie zieht an durch die reiche 

XXX. Jahrg. 3. Heft. 20 



* 



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306 Schuluchriften. 



Belescnheit und den belebten Styl des Verfs. Sowohl die treff- 
lichen katechetischen Proben als die Winke für eine nützliche 
Schullogik werden den Lehrern dienen. — Die zweite Abh. redet 
Über dasVerhältnifs der Mittels chulen zu dem Geiste 
unserer Zeit (v. J. 1821). Unter dem provinziellen Ausdruck 
Mittelschulen werden nämlich die Gelehrtenschulen verstanden, 
und für diese wird sowohl die Idee ihrer hohen Bestimmung, 
als der Weg zur Ausführung , und zwar praktisch angegeben. 
Den sittlich bildenden Schulmann erkennt man überall, z. B. in 
folgender Stelle: »So zweckmäßig die belobende Hervorhebung 
der Volkstugenden und namentlich der Vaterlandsliebe überall ist, 
so erfordert doch der Vortrag ihrer Beweise, vorzüglich aus der 
alten Geschichte zu unserer Zeit und vor einer christlichen Ju- 
gend, besondere Vorsicht. Die Aufopferungen eines Harmodius 
und Aristogiton, eines Mutius Scävola, M. Brutus u. A. sind da- 
her nichts weniger als unbedingt zu empfehlen, sondern vielmehr 
aus ihren Triebfedern und dem sittlichen und wissenschattlichen 
Bildungsgrade des Zeitalters zu erklären. Die höhere und fried- 
lichere Ansicht des Lebens, welche die Christuslehre und Liebe 
der Welt verkündigt hat , verbannt alle feindselige Leidenschaf- 
ten aus dem Herzen, achtet auch im verworfenen Gegner noch 
den Menschen , und opfert den Dolch der Bache dem Geiste der 
Liebe auf.« Diese Worte der Wahrheit in dem J. 1821 ausge- 
sprochen, wo der politische Fanatismus die Jünglinge (und Kna- 
ben!) schon auf den Schulbänken ergriffen hatte, waren Worte 
zu seiner Zeit , und sind es noch. Wie oft wird in solchen Schu- 
len durch eine falsche Bewunderung jener Männer unter Griechen 
und Römern das sittliche Gefühl und L itheil verfälscht! — III« 
und IV. Über Menschenbildung durch das Schone, mit 
besonderer Hinsicht auf Ton- u. Zeichenkunst, haupt- 
sächlich in Mittelschulen (1823 u. 24). Hier geht dieser 
Freund des Schonen, von Schiller, Gothe und den Griechen ge- 
leitet, ins Einzelne, um zu zeigen, wie jener Unterricht die Seele 
zum Schonen und auch von dieser Seite zum Wahren und Guten 
erheben könne. Nachdem der zweiten Abth. der Verf. das Schil- 
lersche Wort vorgesetzt: »Was wir als Schönheit hier empfun- 
den, — Wird einst als Wahrheit uns entgegengehn « , fuhrt er 
auf den tieferen Grund hin: » Der Bildungstrieb der menschlichen 
Natur erscheint in seinem innersten Wesen als Streben nach Ent- 
wicklung. Wie sich die Pflanze dem Lichte zuwendet, um sich 
an dessen Lebenswärme zu entfalten, so sehnt sich der lebendige 
Beim der Menschenkraft nach einem milden Beize der Erregung. 
Diese eingeborne Sehnsucht nach Selbstgestaltung ist das Wesen 
der Liebe, welche alle Geschöpfe bildet, und mit einander zu 
einem Höheren verbindend, sie zur Darstellung eines stets eigen- 
tümlichen Urbildes emporzieht.« Dafs der Verf. nicht blos bei 
den ästhetischen Reflexionen stehen bleibt , die nur zu oft zur 
Einseitigkeit und Überschätzung jenes Einflusses führen, sondern 
praktische Anleitung, um das Zeichnen u. 8. w. zweckmäfsig zu 



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Schulschriften 



im 



üben, eitheilt, ist sehr zu billigen, und gibt dem Grundsatze, 
den er ausdrücklich ausspricht : » Die Menschenbildung durch das 
Schone bezieht alle einzelnen Bestrebungen auf ein Höchstes und 
Gottliches«, seinen Werth auch für die Gymnasien. — Die Abh. 
V. u. VI. ÜberZweck, Inhalt und Form der öffentlichen 
Prüfungen in Mittelschulen (i8s5 u. 26) sagen ebenfalls 
Vieles, und das mit Vernehmung pädagogischer Stimmen aus alter 
und neuer Zeit, das Beberzigung verdient; indessen wäre hier 
noch Manches zu erinnern, und die Hauptpuncte, an welche der 
Verf. aus seiner Gedankenfülle und Belesenheit Mehreres anknüpft, 
konnten kurzer gefafst werden. Im Ganzen gibt der erfahrne 
Schulmann auch hier viel guten und anwendbaren Rath. — VII. 
Das Gymnasium, eine natürliche Vorschnle der Phi- 
losophie ( IÖ3-2). Wir hören gerne, dsfs der Verf. die allge- 
meine Bildung durch Sprachen , Geschichte und Mathematik auf 
classischem Wege begründet, und hierin »eine naturgemäße Vor- 
bereitung zur vernünftigen Beurtheilung der verschiedenen philo, 
sophischen Systeme der neueren Zeit« findet, nur halten wir es 
weder für naturgeraäfs, noch für vorbereitend, wenn die Schüler 
schon kritisiren lernen. Vor der Mannesreife und der reinen Auf- 
fassung ist die Kritik nur die Mutter des Dünkels und Vorurtheils; 
sie kommt keinem Schüler, sie kommt nur dem Meister zu. Ein 
Lessing wurde ein solcher Meister, weil er auf der Schule kei- 
nen philosophischen Cursus gemacht , sondern sich mit reichen 
Scbulkenntnissen genährt hatte. Wenn der Jüngling auf seinem 
Gymnasium und Lyceum schon ein Philosoph zu seyn wähnt, so 
wird er es nie werden. Der Vf. geht zwar von derselben Über- 
zeugung aus, und sagt ausdrücklich, dafs der Widerstreit der 
allgemeinen wissenschaftlichen Grundansichten, welcher sich durch 
alle Wissenschaften und Lehrbücher derselben durchzieht, der 
Jugend, welcher der friedlichere Boden der historisch - wissen- 
schaftlichen Bildung angewiesen ist, am besten noch völlig un- 
bekannt bleibe«; allein wir glauben, er hätte noch weitergehen 
und z. B. » eine kurze Darstellung des wissenschaftlichen Lebens 
der Griechen« nicht so, wie es o. 245 geschieht, mehr auf die 
Empfehlung von Andern hin , den Gelehrtenschulen empfehlen 
sollen. Er selbst spricht auch in dieser Abh. trcfllich von der 
Schulbildung zur Philosophie durch Mathematik und Sprache, 
und von den Nachtheilen des Unterrichts in der Philosophie auf 
Schulen, aus einer umsichtigen, reichen Erfahrung. Das, was er 
aus seinen Schülerjahren seiner eignen Erfahrung hierin mittheilt, 
verdient in die Geschichte des Schulwesens aufgenommen zu wer- 
den. — VIH. Aphorismen über allgemeine Schulrefor- 
men, welche manchen guten Rath für die verschiedenen Arten 
der Schulen ertheilen. 

Die drei letzten Aufsätze dieses Bandes: Erinnerungen 
an F. A. Wolf, als Lehrer und Pädagogen; dessen Abh. 
De doctrinae a/que institutionis discrimine commentatio ; Erinne- 
rungen an Dr. A. H. Niemeyer, vormal. Kanzler der Uni- 



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808 SchoUchriften. 

versität zu Halle als Päd agogen ; ein Beitrag zur neue- 
ren Geschichte der Pädagogik u. der gel. Schulen; — 
sind von uns schon damals, wie sie als einzelne Programme er- 
schienen, in diesen Jahrbb. angezeigt worden (i834* N. 76. und 
im folgenden Jahrg.); in diesem Abdruck sind sie durch Anmer- 
kungen bezeichnet. Oberhaupt theilt der Verf. aus einem grofsen 
Schatz von Literatur und gelehrter Belesenheit in Text und Noten 
dem Leser so freigebig mit, dafs schon hierdurch sein Buch vor- 
zuglich belehrend geworden, aber auch durch die eignen Gedan- 
ken, welche sich oft nur zu weit in ihrer blühenden Sprache er- 
weisen, wird der Geist des gemüth vollen Verfs. sieb den Dank 
der Schulmänner erwerben, welche sein Buch lesen. 



Schätzbare Beiträge liefert ein anderer würdiger Lehrer an 
einer Gelehrtenschule, Herr Professor G. W. Muller, Bector 
des Gymnasiums zu Torgau, durch einige Einladungsschrif- 
ten zu dortigen Schulfeierlichkeiten i835 und i836, welche ge- 
schichtliche Nachrichten über dieses Gymnasium ertheilen. Die 
Schulgesetze desselben vom J. 1828 stimmen zu dem aus Tacit. 
Germania vorgesetzten Motto : Plus boni mores valeant , quam 
bonae leges; die neueste Einrichtung v. J. i835 ist in dem Pro- 
gramm von i836 ausfuhrlich angegeben. Sie verdient auch aus- 
wärts gekannt zu werden, da sie Treflliches enthält, das sich 
auch für andere Gymnasien empfiehlt, namentlich was die Privat- 
arbeiten , den gegenseitigen Unterricht und die Beschäftigung der 
unteren Schuler durch obere betrifft. 



2. Polytechnische Schulen. Wir geben hier nur eine 
historische Notiz von diesen in unserer Zeit so wichtig geworde- 
nen Bildungsanstalten, welche wir der Schrift verdanken: 

Die höhere technische Lehramtalt, oder die technische Abtheilung de* her- 
zogt. Collegii Carolini zu Braunschweig, nach Zweck, Plan und Ein- 
richtung, unter Mitwirkung ihrer Lehrer dargestellt von dem Vorsteher 
derselben A. Uhde, Dr.phü., Prof . d. Mathem. u. Astronomie. Braun- 
schweig bei Vieweg u. Sohn 1836. IV u 90 & 8. 

Wir theilen unsern Lesern aus der Nachricht von der Stif- 
tung des Collegium Carolin um im J. 1745 eine Hunde mit, wel- 
che wenig bekannt seyn durfte , dafs nämfich der berühmte Abt 
Jerusalem den Plan zu dieser Anstalt gemacht, und sie mehrere 
Jahre geleitet. Er schreibt 1743 in dem Entwürfe zu diesem Plane: 
» Diejenigen, welche in den gröfsten Welthändeln der Welt nützen, 
die mit Einrichtung gemeinnütziger Anstalten, der Handlung, der 
Verbesserung der Naturalien , Vermehrung des Gewerbes und der 
Landwirtschaft umgehen , die sich auf mechanische Künste le- 
gen, die zu Wasser und zu Lande, über und unter der Erde das 
gemeine Beste suchen , machen einen eben so wichtigen Theil des 



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SchuUchriffen. 



309 



gemeinen Wesens als die Gelehrten aus. Und dennoch hat man 
bei allen Unkosten, die man auf die Einrichtung der Schalen und 
Akademieen verwandt hat , für diese bisher so wenig und oft gar 
nicht gesorgt.« Wir erfahren hieraus i) dafs die Idee von tech- 
nischen Bildungsanstalten für die Jugend neben den gelehrten von 
jenem berühmten Kanzelredner ausgegangen ; 2) dafs derselbe sie 
schon damals in einer Bestimmtheit vorgezeichnet , wie sie sich 
erst nach nunmehr beinahe hundert Jahren entfaltet hat, (welches 
an ein Wort von J. P. Richter erinnert , dafs die Deutschen zwei 
Jahrhunderte brauchen, um etwas Gutes ins Leben zu setzen, 
das eine um die Mißbrauche wegzuschaffen , das andere um das 
Bessere zu bewirken; — ob das nun ein Tadel oder ein Lob sey? 
denn wir denken: »gut Ding will Weile haben«); dafs also in 
jener Zeit, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wo sich 
Mehrere > zum Umschwung der Geistescultur vorbereitete, auch 
dieses wichtige Moment in der Cultur hervorkeimte. Diese Wich- 
tigkeit liegt nunmehr vor Augen in mehreren blühenden Anstalten 
der Art., und so auch in dem vorliegenden Plane. Wir stimmen 
dem bei, was der in seinem Fache bereits dem Publicum rühm- 
lich bekannte Vorsteher Dr. Uhde S. 5 sagt: »Die raschen Fort- 
schritte der Industrie, die Vervollkommnung und Ausbreitung, ja 
das Entstehen solcher Wissenschaften, welche die Erzielung von 
Natur- und Kunstprodukten betreffen , meistens in Folge des kraf- 
tigen Aufschwungs der Naturwissenschaften in neueren Zeiten, die 
ausgedehnteren Beziehungen und die grofartigen Verhältnisse und 
Institute des Handels — das Alles hat eine Steigerung der For- 
derungen bewirkt, welche gegenwärtig an den jungen Mann ge- 
macht werden, der sich einem der genannten Fächer widmen 
will , dafs die bisherigen Mittel seiner Ausbildung keineswegs mehr 
für zureichend gehalten werden konnten.« — Von dem Plane 
selbst haben wir nicht weiter zu reden, als dafs die Gesammt- 
anstalt, das Collegium Carolinum , nunmehr in drei Abtheilungen 
zerfällt: die humanistische, die merkantil ische und die technische. 
Diese letztere ist es , deren Einrichtung hier ausführlich angege- 
ben wird; sie hat ihre Aufgabe so hoch gestellt, dafs die Jüng- 
linge in diesen Fächern es sehr weit bringen mögen. 



3. Und nun noch die Anzeige eines Werkes für die Volks- 
schulen , das unmittelbar für die Praxis bearbeitet ist, wie es denn 
auch aus derselben hervorgegangen. Es besteht aus mehreren 
Abtheilungen; die Titel sind: 

a. Lehrplan für die Elementar - Clane der Knaben - Zahl schule Sebalder 
Sprengel» in Nürnberg. Herausgegeben von W. K Schultheifi , 
Lehrer an der Bildungsanstalt. Zweite verm. u. verb. Aufl. Nürnberg, 
im Selbstverläge de» Verfasser». 183S. (Die erste Aufl erschien 1829.; 
AT/u Ol) & mit mehreren Tab. 8. 

b. Lehrbuch für den Anfangsunterricht in Volksschulen und Privatlehr- 
anstalteu vom W. K. Schultheifs etc. Im Selbstverl, de» Verf. MM 



SchuUchriften 



Erster Abschn. Per Leseschvier etc. 140 Ä. Zweiter Abschn. Sittenlehre 

in Beispielen ete Ite Abth. 192 S. 'ite Abth. Biblische Geschichten elo 
181 S. Dritter Abschn. Per elementirende Schön- und Hecht schreibe- 
Schüler etc. 32 S. mit Tab. Vierter Abschn. Per elementirende Rech- 
ner ete. Ir Th. 1835. (Ite Aufl ) 68 & Fünfter Abschn. Anderweitig 
Gemeinnützliches etc. 1SJ(>. 104 S. '6te Abth. Leitfaden beim ersten Un- 
terricht im Singen, u. eine Samml. leichter Singstücke etc. 1836. 40 S, 

c. Pas Schulhalten im neunzehnten Jahrhundert , odtr vom Element an 
lückenlos fortschreitender , ineinandergreifender Unterricht für 2080 
Lchrstunden in der Volksschule , von etc. D ürnberg , im Selbstverlage 
des Verfs. 1835. (XXXIV S. Vorr.) Methodenbuch zu dem Anfangs- 
unterricht in l'olkssch. u. Privatlehranst. etc. Erster Abschn. Penk-, 
Sprech-, Lese- u. Sprachübungen etc. Ite verb. Aufl. XVI u. 72 A>. — 
Zweiter Abschn. Vorbereitung zum Unterricht in d. Religion f. Volk»- 
schulen etc. Ite Abth. 183«. (XXIV u. 120 S ) — Dritter Abschn. Per 
elementirende Schön- u Rechtschreibe- Lehrer etc. (Ute Aufl. 1836. XIV 
u. 50 & mit Vorschriften) — Vierter Abschn. Per Rechnenlehrer in 
Volksschulen; eine Anweisung, wie Kinder ete. (Ite verb. Aufl. 1835. 
84 S.) — Fünfter Abschn. Anderweitig Gemcinnützlivhes für Polksseh' 
tte. (1836. 42 S.) Ite Abth. Gesanglehre etc. (1836. VIII u. 19 S.) 

Der Verf. erzählt in der Vorrede von seiner Reise, die er 
im J. 1 034 gemacht, auf welcher er auch den Unterzeichneten 
mit seinem Besuche erfreute, und theilt etwas aus dem Gespräche 
mit, worin ihm Ref. diese literarische Unternehmung wohlmeinend 
widerrattien , weil er pecuniäre Nachtheile für ihn besorgte, in- 
dem ein solches ausfuhrliches Werl; wohl nicht im Publikum hin- 
reichend Unterstützung finden mochte, und weil dergleichen Be- 
arbeitungen bereits mehrfach vorhanden wären. Die Entgegnun- 
gen des Verfs. bewiesen aber dem Ree. in Herrn Schultheis ei- 
nen von dem wichtigen Zwecke seines Schulamts begeisterten und 
für denselben durchgebildeten Lehrer, wefshalb Ref. auch dem- 
selben unumwunden sagte, er halte ihn zum Lehrer geboren, und 
so möge er denn seine Arbeiten dem Druck ubergeben. Herr 
Sch. erzählt das selbst in der Vorr. mit mehreren) Andern von 
seiner damaligen Reise. Ohne nun dieses Werk genau mit Be- 
merkungen zu durchgehen, welches weder dem Ref. möglich, 
noch unsern Lesern genehm seyn wurde, glaubt Ref. dafs es sein 
Urtheil über den troll liehen Schulmann rechtfertigen wird, und 
wünscht es defsfalls in die Hände recht vieler Lehrer an den 
Volksschulen. Der Grundsatz , der den Verf. zu dieser seiner 
Arbeit und in derselben geleitet , ist , dafs der Lehrgang in einer 
solchen Schule völlig lückenlos und wohlgeordnet für alles sey, 
was in jenen Schulen gelehrt werden soll. Allerdings gibt es 
allgemeine Gesetze solcher Anordnung, auch ist es belehrend für 
jeden Lehrer, wenn sie bis aufs Kleinste angewandt erscheinen: 
das aber kann nur als Beispiel, nicht als objectiv feststehende 
Norm gelten, ohne in einen Pedanlismas und Mechanismus zu 
gerathen, welcher dem Verf. selbst zuwider ist. Denn es hängt 
dabei nicht nur Vieles von Umständen ab , sondern man raufs 
auch der persönlichen Ansicht des Lehrers so vieles in der Aus- 
führung überlassen , dafs wir nie die des einzelnen noch so treff- 
lichen Lehrers zur Norm machen dürfen. Jeder Lehrer mag seine 



uigitizeo Dy 



SchuUchriften. 



SU 



Manier haben, wodurch gerade er aufs beste wirkt, aber die Ma- 
nier ist nicht Gesetz, and was dieses als objectiv geltend macht, 
•oll sich zugleich subjectiv frei gestalten. 

Schwarz. 



Handbuch der Geographie von Dr. W. K. Folger, Rector am Jo- 
hanneum zu Lüneburg. Vierte stark venu. Aufl. Hannover 1830. im 
Verlage der Hahn'achen Hofbuchhandlung. Enter Theil 11 u. 711 & 
Zweiter Theil 630 & in gr. 8. 

Die früheren Ausgaben dieses umfassenden Werkes haben wir 
bereits in diesen Blättern ausführlich angezeigt (vgl. Jahrg. 1828 
8. isa5 ff., Jahrg. i83o S. n5o ff., Jahrg. i832 S. 1128 11., 
Jahrg. i836 S. 82S.). Indem wir nun auf jene früheren Anzeigen 
verweisen , haben wir in Beziehung auf die vor uns liegende neue 
Auflage besonders anzuführen, dafs der Herr Verf. derselben den 
grofsten Fleifs zugewendet. Die Bogenzahl ist nicht nur stärker 
als in den früheren Auflagen, sondern das Buch hat vorzuglich 
durch zweckmäßige Einrichtung des reichhaltigen Formates und 
Druckes auch einen bedeutenden Zuwachs gewonnen. 

Ein Handbuch der Geographie veraltet , wie der Herr Verf. 
selbst mit Recht in der Vorrede (S. I.) bemerkt , dem Bearbeiter 
desselben schon unter den Händen bei den täglich sich ereignen- 
den Veränderungen und bekannt werdenden neuen Nachrichten. 
Doch hat Herr Volger bis zum letzten Termine, den der Drucker 
ihm zugestand, Alles benutzt, um jede bis dahin vorgefallene 
Veränderung einzutragen, oder mangelhafte Angaben von Dar- 
stellungen nach den ihm zur Kenntnils gekommenen Nachrichten 
zu verbessern. Es stellt sich somit diese neue Auflage in der 
That als eine verbesserte dar. 

H a u t %. 

Die Redaction bemerkt, dafs inzwischen auch von desselben 
Herrn Verfs. Lehrbuch der Geographie Dritter Curaus, 
die zweite, verbesserte und stark vermehrte Auflage (auch mit 
dem besondern Titel: Vergleichende Darstellung der al- 
ten, mittleren und neuen Geographie, ein Lehrbuch 
für die obersten Gymnasialclassen), Hannover 1837, * m 
Verlage der Hahn 'sehen Hofbuchhandl. X u. 45 1 S. in gr. 8. er- 
schienen ist. Wir verweisen auf die früheren Anzeigen i832 p. 
1123 ff. i836 p. 824; die neue Auflage zeichnet sich durch gro- 
fsere Vollständigkeit, Genauigkeit und Sorgfalt in allen einzelnen 
Angaben vorteilhaft aus und läTst die bessernde Hand des uner- 
müdet thätigen Verfassers überall erkennen. Der correcte Druck 
und die würdige äussere Ausstattung gereicht der Verlagshandlung 
sehr zur Ehre. 



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512 



i 



GRIECHISCHE LITERATUR. 

■ 

S. Gregorii, Nation zeni Theologi, in Caeearium Jratrem Ora- 
tio funcbria. Graece. Sccundum cditiuncm D. Clcmcnccti ad upti- 
morum Codicum MSS. fidem denuo reeensuit, Annotaiione illustravit , 
Scholiaque gracca iia$ilii minori» Cae*areen$is kactenu» incdita adjecit 
L. de Sinn er. Parhiis , apud Caume fratrce , bibliopotas, etc. 1836. 
XII und 59 Seiten in 8. 

Eine desto verdienstlichere Schrift, je kleiner die Zahl der 
Arbeiter in diesem Fache und je ungebahnter der Weg ist, den 
ein Herausgeber zu nehmen bat. Denn ausser Matthäi's Chry- 
sostomus und Boisso n a d e 's, Krabinger's, Segaar's Gum- 
men taren zu Eunapius, Synesius, Gregor von Nyssa und Clemens 
von Alexandria fand Herr v. Sinner fast nichts, was ihm als 
Vorbild dienen konnte, als er einige Jahre hauptsächlich der Le- 
sung berühmter Kirchenväter widmete, und mit der Herausgabe 
ihrer vorzuglichsten Werke umging. Das konigl. Schulcollegium 
zu Paris kam ihm hier entgegen durch seinen Beschluis *) , aus* 
erlesene Reden der griechischen Kirchenväter in den Unterrichts* 

ßn der dritten Gymnasialclassen Frankreichs aufzunehmen. Es 
lte an Schulausgaben : Herr v. S. besorgte daher einen Abdruck 
von Chrysostomus' schätzbarer Oratio in Eutropium eunuchum, 
-wobei zwar Montfaucon's sehr lückenhafter Text zum Grunde 
liegt, aber mit Hinzufügung einer Auswahl von Lesarten der Pa- 
riser Handschriften, die dem Buche sehr gute Dienste leisteten. 
Auch erhielt es den Beifall des konigl. Senats für den öffentlichen 
Unterricht, und der gelehrte Herausgeber fand sich dadurch ver- 
anlafst, jenem Probestuck diese, unserm Jacobs dedicirte, Trauer- 
rede Gregors von Nazianz folgen zu lassen. Ja er ist Willens f 
in gleicher Art eine Anzahl ähnlicher Beden zu bearbeiten. 

»Si libellus iste meus«, sagt er, » non displicet viris eru- 
ditis, si Senatus Begius scholis regendis praeposilus iaborem meum 
approbat, vires mihi crescent eundo. Sunt enim Orationes fune- 
bres SS. Patrum graecorum complures eaeque pulcherriroae, quae 
scholarum in usum denuo ut edantur impnmis sunt dignae. Quo 
in delectu judicium sequar acumenaue viri illustrissimi A. Villemain 
(Essai sur COraison fiinebre, in Melange* historiques et littcraires, 
tom. 4.) , in Senatu Begio instruetionis publicae praesidis vices 
gerentis, Poris Franciae. Tres autem statuo Imxdyiav Horum 
classes ; laudationes sunt sive parentum et fratrum sororumque ; 
sive cu jusdam e familia Imneratoria ; sive magni Doctoris seu mar. 
tyris. Ex prima classe edam, si Deo placet, S. Gregorii Naz. 
Orationes funebres in Gorgoniam sotorem, et in patrem. In se- 
cunda classe comprehendentur S. Gregorii Nysseni iiuxdtcpioi in 
Pulcheriam Theodosii Imp. filiam , et in Flaccillam Imperatricem , 



Arröttf du Conseil Royal de l'inctruction publique cn dato du 20. 
seutembre 1836. 



Griechische Literatur. 818 

acribus ob parellelismi gratiam addi possunt Gemistt Plethonis lau- 
dationes Cleopes et Hypomones Imperatricum , editae hactenus, at 
pessime, paucissimisque notae. In tertia classe edi poterunt S. 
Gregorii Naz. Oratt. Inn. in S. Atbanasium, et in S. Bastlium 
Magnum , et in eundem Oratio fun. S. Gregorii Nysseni fratris. 
His adjungantur, e martyrum aliorumque Sanctoram lmxa<pioi$ 9 
8. Gregorii Nyss. et S. Job. Chrysostomi laudationes Meletii, S. 
Basilii M. et Joa. Chrysostomi panegyrici S. Barlaam niartyris. 
Ex S. S. Patribus Latin ig vir illustriss. A. Villemain nobis indicat 
1. 1. S. Ambrosii Mediolanensis Elogiam funebre Satyri fratris, et 
ejuidem Consolationem de motte Valentiniani , itemque S. Hiero« 
nymi de morte Nepotiani ad Heliodorum Epistolam. Ouominus 
autem quam citissime hanc, quam promittimus, collectionem Ora- 
tionum fun. SS. Pah um absolvamus, multa sunt iropedimenta. Ad 
S. Gregoriura Naz. describenda sunt scholia graeca inedita Basilii, 
quem cum Fabricio Minorem nomino *) ; S. Gregorii Nyss. oratio 
gr., post Krabingeri egregium hac in re specimen , ad codd. MSS. 
denuo est refingenda ; tommentarius omnino est scribendus talis qua- 
lern in SS. Patres gr. philologi concitmare nondum sunt aggressi.« 

Man ersieht hieraus die Bedeutsamkeit dieses Unternehmens, 
das, wiewohl zunächst auf Frankreich berechnet, auch im Ans« 
lande dazu dienen kann, sowohl griechische Sprachkunde zu ver- 
vollständigen , als besonders den Sinn der Studierenden auch auf 
christlich - religiöse Gegenstände zu richten, und die Bedenklich« 
keiten mancher Wohlmeinenden, als sey alte Literatur nichts als 
ein Tempel des Heidenthums, zu beben. 

Was nun das vorliegende Buch selbst anlangt, so konnte 
Herr v. S. hierbei nicht einmal des sonst um griechische Litera- 
tur verdienten Auger Text benutzen, weil er zu fehlerhaft ist, 
sondern basiite seine Ausgabe auf den prachtvollen, wenn gleich 
ebenfalls nicht ganz korrekten, Abdruck des Benedic tiners D. 
Clemencetus, wobei er den Codex Regius No. 524, aus dem 
Ii. Jahrhundert, den Wansleben 1671 zu Nikosia in Cypern 
kaufte, von neuem verglich, und an einigen Stellen No 5io, die 
allerälteste Handschrift des Gregorius, zu Rathe zog. Über die 
hinzugefugten Noten , Beweise grofser Belesenheit und gesunden 
Urtheils, erklärt er sich so S. VI: » Commentariura perpetuum 
eumque plenum dare nec volui , nec potui. Unum est quod spec» 
tavi; demonstrare volui, S. Doctorem Theologum non solum bene 
graecc , sed etiam antique elegant er qut scripsisse. « 

Aus diesen Worten spricht der geschmackvolle Philolog, der 
von den Klassikern herkommt, und sie überall wiederfindet. Eine 
sehr verzeihliche Parteilichkeit. Denn eigentlich ist Alles, was 
unser Herausgeber hier an seinem gefeierten Autor rühmt , eine 
Unmöglichkeit im 4ten Jahrhundert nach Christus, zu welcher 



*) Er war im 10. Jahrhundert Bischof su Casaren in Kappadocien , und 
nannte sich selbst aus Bescheidenheit i/^/i-o;, um nicht mit Ba- 
silius Magnus verwechselt zu werden. 



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314 



Griechische Literatur. 



Zeit Gregorius von Nazianz lebte. Auch wurde der fromme Bi- 
schof selbst, wenn er von den Todten auferstände, dieses Lob 
antiker Eleganz von sich ablehnen. Nicht lange zierliche Prunh- 
reden, wie er wohl in der Rhetorenschule gehalten und sonst 
geliebt habe, heifst er zu Anfang des *En4*u<jp(0{ seine Zuhörer 
von ihm erwarten. »Das war,« sagt er, »bevor ich zur höch- 
sten Wahrheit aufblickte und Alles Gott gab, bei dem über Al- 
les gilt: »»Gott für Alles zu achten.«« Niemals vermutbet Sol- 
ches von mir, wenn ihr vernünftig urtheilen wollt!« Und seine 
Grabschrift, die er selbst verfafste , lautet so (Anthol. Palat. vol. 
2 , pag. 56o) : 

Tpriyoqiov Novize xs (piXov xixoq h$d9t x tlx ai f 
T^tddoq I>i?yopio$ Sipajicov, 

Kai aoqWij aotpiris 3s dpay pivof , fi&eo? re, 
olov nXovxov ex®" iXnid* Inovgav iijv. 

* 

(Nonne's Sohn und des frommen Gregorius ruhet im Grab hier, 
Auch Gregor er genannt, Diener der heiligen Drei, 

Welcher weise die Weisheit erhör, unsträflicher Jungling, 
Und sein Reichthum hier himmlische Hoffnung allein.) 

Denn Gregor war auch Dichter. Ausser den a54 Epigrammen', 
welche die Anthologie unter seinem Namen aufbewahrt hat, wird 
ihm mit der größten Wahrscheinlichheit das bekannte, dem Eu- 
ripides nachgebildete, Drama vom Leiden Chtisti zugeschrieben; 
und die überströmende Beredsamkeit seiner Reden selber ist halbe 
Poesie. »Ses eloges funebres sont des hymnes • , sogt Ville- 
main (Melanges, t. 3. p. 35o). Kurz, er war einer der begab, 
testen Theologen seiner Zeit , aber doch ein Geschöpf dieser Zeit, 
in welcher sich schon der Verfall des Geschmacks in Hunst und 
Wissenschaft sehr deutlich zeigte. Daher Mangel des schonen 
Maafses reicher Mannichfalti&keit , die wir in antiken Meister wer- 
ken bewundern , und Einförmigkeit der Gedanken bei Überbau, 
iung rhetorischen Bilderreichthums. Man höre nur §. 3 : fla* 
uty ix xijq dy^itXaiov xaXüc iyxev tpta&cic $lq xr t v xaXXiiXatov 9 
xut xooovxov xoivavqaac xi}$ ntöxr t xoq 9 maxt xal dXXovq iyxtv~ 

Xbq v-^rjXaaq xov Xaov xovSe 7CQoxa%e£6p*vo<i , ' Aorpwv xiq dtv- 
xtfOQ ?} M&i'oriq, 0cw nXr\oid$tiv r^ivßtro; , xui StLav (p&vr\w 
Xopnyiiv xolq dXXotq ioxapivou; noppwStv , npdoq , d6^yr\xoq , 
yaXnvbq xb ildoq, Sepuds nvti^a , noXvq xb <f>cuyd>eyov, 
nXovoi&xtfos xb x^vnxo^evov. (»Mein Vater ward schon vom 
wilden Ölbaum auf den ächten gepfropft, und tbeilte der Fettig- 
keit soviel mit, dafs er auch Andern den Glauben und Sorge für 
die Seele einimpfte, hoch auf hohem Stuhl diesem Volke vor- 
sitzend*), ein zweiter Aaron oder Moses, Gott zu nahen gewür- 
digt , und die göttliche Stimme den Fernstehenden voranzutönen, 
sanft, fern von Zornrauthigkeit, ruhiger Gestalt, der Geist feu- 



*) Gregors Vater war cbcnlail* Bischof von Nazianzus. 



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Griechische Literatur. 315 

i 

rig, bedeutend in der äussern Erscheinung, reicher im Unsicht- 
baren.«) Und von Cäsarius selbst §. 7: II o iov ulv $ldo$ ovh 
£3t>;X^£ natdivotasi uöcXXov dk nolov , aq ovdk povov txtpoq; 
%'ivi (tk ytn^ijxtv lyyvq aitov jeveaSai, xat xard uixybv 9 m; 
oti t<dv xa^' tat-Tov x t >~> avi^ qXiXtat, dtXXa x. tg)V npfoßo- 
nrc'pov x. nuXaioxc'pav er toi$ poi^i-un ut , x. notyra tr i%a<j- 
ttr t aaq 9 x ävii nuvi&v Ixaoxov , tor^ ntv nirroi, in 1 cßvoiv 
(f>tXon oviot. viX)joa( , xovq <)'t ytwaiovq tj^ a<;xr;aiv dtuvoiu; 
ö^vxrixt, päWov ili i<*X*i pkv xovq xu%ti$ t onovüri fil xovq (f>i- 
Xonovovq vnepfirx\o)v y x. Tor? *ax* d(A(pM fit^iovi du<puT£po<£. 
(»Welche Art von Kenntnissen ergriff er nicht?*) oder viel- 
mehr: welche ergriff er nicht, wie ein Anderer kaum eine ein- 
zige? Wen liefs er sich nahe kommen, auch nur ein wenig, 
und «war nicht allein die von gleichem Alter, sondern auch 
Ältere und in den Wissenschaften ergraute, Alles wie Eins übend, 
und Eins wie Alles, die Feuerkopfe überflügelnd durch Arbeit- 
samkeit, die Unermüdlichen durch Scharfsinn, oder vielmehr die 
Baschen an Raschheit, die Arbeitslustigen an Eifer übertreffend, 
und die in Beidem Ausgezeichneten in Beidem?«) Welch ängst- 
liches Wenden und Ausmalen des Gedankens, das auch dem klei- 
nen Basilius aufgefallen seyn mufs, da er hierbei anmerkt: -w- 
ifdiy xavxa tu nuxgi xb axpicpctv xt xal avvdynv pLtxd xctX- 
Xorq f (xat) xa tj; (tqdait ovi taxoa^i^ii va x. xaT^apaafi^ya 
ajipöxipov dixayyiX'ktiv. Zuweilen scheint unser Schonredner 
(denn da» ist er, mag er wollen oder nicht, und schwerlich ohne 
geheimen Kunstlerneid nennt er im 12. §. Julian ^iyav iv Xoyta» 
AfivoTrTi), gar mit der Heidenschaft zu kokettiren, indem er 
biblische Bilder, die den Christen geläufig sind, in ein gewisses 
milderndes Halblicht stellt, z. B. im 17. wo er den Verstor- 
benenen so anredet: 2i> tik npiv ovLfavov<; lp[iaxtvot<; 9 ed Stta 
k. itpä xt(ptM\r t9 x. iv HoXnoiq Affyadfi, o'uivtq dij ovxoi eioiv, 
dvunavuaio ! (»Du aber geh* ein in die Himmel, o göttlicher 
heiliger Mann, und ruhe in Abrahams Schoofs, welcher Art 
er seyn mag!) Ein Beisatz, der fast ins Lächerliche schattirt. 

Doch genug von solchen Muttermalen der Zeit! Dagegen 
Stöfs t man uberall auf eigentümlich Schönes und aus der Natur 
Geschöpftes, das von Herzen zu Herzen geht. So beifst es §. 18,: 
»Wie weit kam uns denn Casarius zuvor? wie lange werden wir 
noch den Abgeschiedenen beweinen ? Streben wir nicht zu der- 
selben Heimat ? wird uns nicht bald ein gleicher Stein decken ? 
werden wir nicht über ein Kleines derselbe Staub seyn? und un- 
ser Gewinn in dieser kurzen Lebenszeit, was wird er seyn als 
mehr noch der Übel, die wir theils sehen, theils leiden, theils 
vielleicht thun werden?« Und §. 23: »Was ist der Mensch, 



*) Eigentlich war Cäsarius, Gregors jüngerer Bruder, ein geschickter 
Arst, beliebt bei den Kaisern Constantias, Julian, Valentinian und 
Valens. Er starb frühxeitig zu Ende des Jahrs 368, oder im An- 
fange des folgenden. 



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Prip/hio,.lin I i iawain m 
UrrlcniiBintJ Liiicrtiiur. 



dafs du sein gedenkst? Welch wunderbares Geheimnifs, das 
mich umschwebt? Klein bin ich und grofs, niedrig und erhaben, 
sterblich und unsterblich, ein Geschöpf der Erd' und des Him- 
mels. Jenes hienieden, Dies mit Gott; Jenes im Fleisch, Dies 
im Geist. Mit Christus mufs ich begraben sevn , mit Christus auf- 
erstehen , mit Christus erben, Gottes Sohn, Gott selbst.« — 

Wie man hier unter Bednerilitttern achtes Gold findet, und 
zugleich sieht, was nachzuahmen und was zu vermeiden ist, so 
ist es auch auf der andern Seite interessant, Gregors wahrem 
Charakter nachzuforschen, der durch Beschränkung und Vorur- 
theil, wie durch einen Nebel hindurchschimmert. Damals war 
keineswegs eine Zeit ruhiger Forschung und gegenseitiger Duld- 
samkeit. Zwar hatte, nach langen und grausamen Kämpfen, end- 
lich unter Constantin die neue Religion gesiegt ; aber die Gegen- 
partei war keineswegs vernichtet oder hoffnungslos. Kaiser Julian 
selbst, ausgezeichnet durch Geist und Muth, erhob sich öflent- 
lich als ihr Vorkämpfer, nachdem er lange Zeit, an dem ver- 
ächtlichen Hofe des Constantius, seinen Hafs gegen das Christen- 
thum mit seinem abschreckenden Äussern, seinen Mönchen, sei- 
nen Asceten, seinen unter sich selbst hadernden Theologen, im 
Stillen genährt, und dagegen an dem heitern Anblick der alten 
Gotter, wie Sänger und Bildner sie dargestellt , sowie an den 
Meisterwerken grieebischrömischer Geschichtschreibung und Phi- 
losophie, sich erquickt hatte. Einsichtsvoll und scharfsichtig, wie 
er war, nahm er gute Einrichtungen der Christen willig an, aber 
im Ganzen betrachtete er sie als Schwärmer, deren Unwissenheit 
und Intoleranz er durch Nichtachtung beschämen müsse. Er ver- 
schlofs ihre Kirchen nicht, eröffnete aber die Tempel wieder; 
Viele strebten nach Miirtyrerkronen , aber er belächelte diese Thor- 
heit, wie er sie schalt, und bestrafte nur wirkliche Ruhestörer. 
(M. s. Joh. v. Mullers Allgem. Gesch. I. Bd. S. 490 — 49&) So 
hoffte er den GährungsstofT zu neutralisiren, die Streitpunkte 
friedlich auszugleichen , und nach und nach den Glanz alter thüm- 
Hcher Bildung wiederherzustellen. Ein chimärischer Plan , dessen 
Scheitern vorauszusehen war , und der die Erbitterung der Chri- 
sten nicht so sehr hätte erregen sollen, als es wirklich geschah. 
Namentlich unser Bischof nennt Julians, von aller Gewaltsamkeit 
entferntes, Verfahren Wuth und satanische Hinterlist. (§. 11.) 
W T er mochte hier nicht an ihm irre werden ? Wer nicht eben- 
sosehr seinen Verstand als die Reinheit seiner Gesinnung in Zwei- 
fel ziehen? Und doch war Gregor unstreitig bei vielem Geiste 
auch, wie seine ganze Familie, ein Vorbild christlicher Frömmig- 
keit, die nicht mit schönen Worten zufrieden ist, sondern sich 
am liebsten in edler That zeigt. Wenigstens bestimmten sowohl 
Casariiis, als seine Eltern, ihr sämmtliches Vermögen den Armen; 
jener im Testament , diese durch Schenkung bei Lebzeiten. — 

W r erfen wir jetzt noch einen kritischen Blick auf diese Trauer- 
rede ! Im Ganzen ist sie so beschaffen , wie man es von der Ein- 
sicht und Sorgfalt des Herrn v. Sinner erwarten konnte. Nur 



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Griechische Literatur 



317 



einigemal stiefsen wir an; z. R im i3ten $. an den Worten 0$ 
naxobq 1 vtvxovs , vo man eher &iv%ovq erwartet, da von Gre- 
gorius dem Vater die Rede ist, nnd © naidav Svarv^äv folgt; 
wenn anders nicht Julian , dessen Worte es sind , den Greis we- 
gen des Besitzes solcher Sohne glucklich preist, was etwas hart 
scheint. §. 6, wo es so heifst: xt$ {ikv dpyovoiv Ixtlvov -ripio- 
TfMK j ti£ ^ T >i ^oXei nda7j , xaixoi yt dia rb uty&oq ndvi&v 
IfXQvrtTopivav 9 r\ OGJ<p$oavvri yv^qi^L&xtqoc, 9 r { inl avviatk 
ntoi<f>aviaxtgoq ; ist in den Worten xaLtoi — ivxovnT. der 
Sinn unbeholfen ausgedruckt, wenn nicht gar a^tobv oder ein 
ähnliches Wort fehlt. Wenigstens erklärt Basilius, kein unge- 
schickter Scholiast, die Stelle so: xatrot — f* £ 7- T *7$ no\t&$ 
'AXt^oivilptiaq 8n\a1fii f mq ueyinxr^ avxr t c, vn ap%ovotn , k. r>i tx 

TO fW/fSoC nOLVXGlV O'/jtinV X ?V OUEV&V > X. fUgd! / VG?£ i £o p £ VG> V 

etc. Im i3. §. mochte man fast r Ap' orx MtloaTt anstatt ednerac 
vermuthen, weil 'AUa SapaiiTt folgt. Bekanntlich sind die 
Buchstaben a und t öfters verwechselt worden. §. 17 ist die 
Stellung der Worte M«s ©ecp ^t'Xov xaio ävvauiv poetisch, und 
wahrscheinlich zu setzen: Sud (p. ual tö x. 9, 

Und so nehmen wir denn Abschied von dem verdienten Her- 
ausgeber, und wünschen ihm Zeit, Lust und Kräfte, um so nutz- 
liche Arbeiten, zu welchen er vor vielen Andern Beruf und Ge- 
legenheit hat, fortzusetzen. Auch den Verlegern danken wir für 
die schone Ausstattung des Buchs, dessen Papier, Druck und 
Correctheit nichts zu wünschen übrig lafst, und ihre, sehr an- 
zuerkennende, Vorliebe für diesen Zweig der Literatur von neuem 
bewährt. Bekanntlich drucken die Herren Gaume schon seit län- 
gerer Zeit die sämmtlichen Werke des Chrysostomus und des 
Augustinus , jene griechisch und lateinisch , in 26 Lieferungen zu 
14 Franken; diese in 22 Lieferungen zu 7 Franken. Von jenen 
sind bereits 14 Lieferungen heraus, jede von ungefähr 5oo Sei- 
ten in Grofsoctav, von diesen 7. Desgleichen veranstalteten sie, 
mit Benutzung der besten Hiilfsmittel , wie sie Paris gewähren 
kann, schone Ausgaben von Augustins Schrift über die Musik, 
und von seinen Confessiones. Ehre, dem Ehre gebührt! 



Zo$o*\tovi 'Avnyovtjy Sophocli» Antigona etc. Parietalem lectio- 
nü et Adnotationem adjecit L. de Sinner, Acadetniae Regiae Rotho- 
ma gen sis Sociu*. Pari: 1835 112 & 8.* 

Herr v Sinn er ruckt in seiner Ausgabe des Sophokles im- 
mer weiter fort, und wird, wie wir boren, in Kurzem auf hö- 
here Veranlassung auch die bisher von ihm noch nicht bearbeite- 
ten Stucke des Euripides (wir wünschen, auch Aschylus und Ari- 
stophanes) in gleicher Art ausstatten. Da wir früher unser Ur- 
theil über dieses Werk in den Heidelb. Jhrbb. d. L. niedergelegt 
haben, so beziehen wir uns darauf, indem wir nur bemerken, 
dafs der Fleifs des gelehrten Herausgebers bei der Auswahl der 



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318 



Griechische Literatur. 



wichtigsten Varianten aus Handschriften und Drucken der Pariser 
Sammlungen und sein Geschmack im Zusammenstellen der pas- 
sendsten Erklärungen sich gleich blieben; sonach diese bequemen 
Ausgaben nicht allein den zahlreichen Liebhabern griechischer 
Literatur und Dichtkunst willkommen seyn werden , sondern be- 
reitwillige Aufnahme, wie in Frankreichs Normalschule, so auch 
in die Lyceen und Gymnasien Deutschlands und der Nachbarlän- 
der, gar wohl verdienen. Dafs der Zweck solcher Bearbeitungen 
nur das Nothwendige erlaubt , ist klar, und kein billiger Be- 
ortheiler wird daher Diatriben hier erwarten, oder Verweisun- 
gen aus einer Grammatik in die andere und überflüssigen Gitaten- 
prunk. Sogar, was neulich Jemand wünscht, ein ganz neu ge- 
arbeiteter Commentar aus Einem Gufs ist unnöthig , und es stört 
keineswegs, verschiedene Herausgeber und Gelehrte mit ihren 
eigenen Worten zu hören; vielmehr dient diese Manier zur Un- 
terhaltung und verhindert mancherlei Mifsversta'ndnisse , die beim 
Excerpiren und Verarbeiten ( Umstylisiren mochten wir es nen- 
nen, eine sehr bedenkliche Sache) fast unvermeidlich sind. 



Wir verbinden hiermit die Anzeige des folgenden W 7 erkes, 
ebenfalls von Herrn v. Sinner für die wackern Bruder Gaume 
in Paris besorgt, und von ihnen elegant ausgestattet: 

S. Joannit Chrysostomi in Entropium eunuchum, Patricium 
ae Consulem, Homilia , seeundum edit. D. Bemhardi de Montfau- 
con. J'arictatcm tectionis sehet am e tribus Codd. MSS. Paritiui» regiit 
adjecit L. de Sinner, Pari». 1836. Vlll u. 24 & 8. 

Die Veranlassung dieser berühmten Kirchenrede ist bekannt. 
Ghrysostomus entfaltet hier die ganze Kraft und Anmuth seines 
blühenden Styls. Herr v. S. benutzt ausser den auf dem Titel 
erwähnten drei Handschriften aus dem 10. und 12. Jahrhundert 
noch eine vierte, wiewohl selten und mit grofser Vorsicht, weil 
sie einen sehr abweichenden und interpolirten Text enthält ; dann 
besonders die Ausgabe von Saville. Den Varianten ist meist 
das Urtheil des Herausgebers beigefugt. 

Dafs auch spätere Schriften von solchem Werth mit Nutzen 
in den Schulen erklärt werden, und zur Abwechslung dienen 
konnten, ist keine Frage. 

Konstanz. F.H.Bothe. 



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Griethische Litcralar. 319 

P hilosophorum Graeeorum Veterum pracsertim qui ante Platonem 
ßorucrunt, Oper um Reliquiae. Ileccnsuit et illustravit Simon Kar* 
sten. Volumen primum. Part altera. Parmenides. Am*telodami t 
sumtibus J. Müller et soc. 1835. (Mit dem Motto: Antiquität, quo 
propiue aberat ab ortu et divina progenie, hoc melius ea fortutsc, quae 
tränt vera, eernebat.) 211 Ä. in gr. 8. 

Aach mit dem besonderen Titel : 

Parmenidis Rleatae Carminit Reliquiae. De vita ejus et studiis 
disseruit, fragmenta explieuit , pkilosophiam illustravit Simon har- 
nten, phil. theor. Mag. Litt, doett. instituti, regii belg. sodal. corresp. 
gymnas. Amitfurt. licet. (Mit dem Motto de« Parmenidet : M^j r 
tSo; voXmtpv l&ov xara tij'v3s ßtue&w , No^iv avno-KVv gpfJLa Kai ^YX*** 
eav dnovijv neu yhbaw HfTvai Ii Xeyai — ) 

Der Herr Vf., fortschreitend auf der Bahn, die er schon vor raeh- 
rern Jahren durch die Herausgabe der Reste des Xenophanes, als 
ersten Theils dieser Sammlung der Fragmente vorplatonischer Phi- 
losophie *), so ehrenvoll betreten, la'fst in diesem zweiten Theile eine 
ähnliche Monographie über Parmenides folgen, die schon früher 
vorbereitet, in ihrem Erscheinen durch den Ausbruch der belgischen 
Unruhen verzögert wurde. Auch hier geht eine Untersuchung: 
De Parmemidis vita et studiis voraus, in welcher der Verf. die 
wenigen Nachrichten, die wir über das Leben dieses berühmten 
Philosophen erhalten haben , mit dem , was über seine Lehrweise 
und über die Art und Weise, die Philosophie zu behandeln, über 
deren Einflufs und Bedeutung im Allgemeinen zu bemerken war, 
geschickt zu einem Ganzen zu vereinigen sucht. Daran schlicfsen 
sich von 8. 26 — 48 die einzelnen auf uns gekommenen Bruch, 
stucke , zu deren Zusammenstellung und Ordnung zwar auch 
schon von Andern, namentlich von Fullebern und Brandis, deren 
Verdienste auch dankbare Anerkennung bei dem Verf. linden, 
"Rühmliches geleistet worden, die aber hier von neuem revidirt, 
in einem auch mehrfach berichtigten Texte, bei conserjuenter 
Durchführung der Jonischen Formen , vorliegen. Auch ist gegen- 
überstehend die lateinische Übersetzung beigefugt. Daran reiht 
sich von S. 49 an ein sehr genauer und ausführlicher Commentar, 
bestimmt alle einzelnen, einer Erklärung in sprachlicher wie sach- 
licher Hinsicht bedürftigen Stellen und Worte, welche in den 
Fragmenten Vers für Vers vorkommen, auf eine befriedigende 
Weise zu erklären. Um aber das Ganze zu vervollständigen, ist 
am Schlüsse des Commentars, der einen grofsen Theil des Bnches 
einnimmt, eine eigene Untersuchung De Parmenidis philosophia 



*) Aach- mit dem betondern Titel : Xenophanit Colophonii Carminum 
Heliquiae. De vita ejus et studiis disscruit, fragmenla exnlicait, 
placita illustravit Simon Karsten etc. Bruxellis, sumtibus J. 
Frank , bibliopolac 1830. XXI and 208 8. in ähnlichem Druck und 
Format and ähnlicher Einrichtung. (Mit dem Motto au« Xenophanea: 
«J; nai iywv J$«Aev wux/vcv v&u d^ßo^cat Ylpcßvyivifr »r Mv.) 



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Griechische Literatur. 



et placitis 6. i3i ff. beigefugt, welche alle einzelnen Punkte in 
der Lehre des Parmenides, soweit sie uns bekannt ist, durch- 
gehend, sie zu dem Ganzen Eines Systems zu verbinden sucht . 
um so eine möglichst vollständige Einsicht in die Philosophie des 
Parmenides, und in die Beziehungen derselben zu der Sokratisch* 
Platonischen Philosophie zu gewinnen , wobei ebensowohl alle 
Stellen der Alten, als die Untersuchungen der Neueren, nament- 
lich der deutschen Gelehrsamkeit, die dem hollandischen Verfasser 
durchaus nicht fremd geblieben , die gebührende Berücksichtigung, 
manche Stellen der Alten aber auch ein neues Licht erhalten , wie 
z. B. die allerdings schwierige und dunkle, vielfach mifs verstan- 
dene Stelle bei Cicero De Nat. Deor. (I, u.) p. 244 seq. Wir 
können hier in dieser Anzeige nur im Allgemeinen auf die Schrill, 
die gewifs als eine wahre Bereicherung unserer Literatur anzu- 
sehen ist , aufmerksam machen und ihren reichen Inhalt nur im 
Allgemeinen andeuten; für den Freund der alten Philosophie wird 
es ohnehin keiner besondern Aufforderung bedürfen, durch ein 
specielleres Studium sich naher mit den in dieser Schrift enthal- 
tenen Forschungen und den dadurch gewonnenen Resultaten be- 
kannt zu machen, selbst wenn ihm auch über manche Punkte 
Zweifel oder Bedenken entstehen sollten , die bei so schwierigen 
and dunkeln Gegenständen nie ausbleiben Können. — Am Schlüsse 
sind die nöthiffen Sach- und Wortregister beigefügt Druck und 
Papier, wie überhaupt die äussere Ausstattung, ist vorzuglich. 



Gymnasxi Herncnsis annuas lectiones inde a die XIII mensis ApriK» haben- 
des — indicit Dr. Georg. Ferd. Rettig, litt, antiqq. Profeee., gyn- 
naeii h. t. Direetor. In sunt I. De Tim a ei Platoniei initio Com- 
mentatio. II. Annalee Scholaeticu — Bemae, typie Caroli Stacmpfli. 
MDCCCXXXri. ZU S in 4 

Dieses Programm schliefst sich gewissermafsen als Fortsetzung 
den schon früher begonnenen Untersuchungen des Hrn. Vfs. über 
Plato, deren wir auch in diesen Jhrbb. i835 p. 1124 gedacht ha- 
ben, rühmlichst an. Inhalt und Tendenz bezeichnen hinlänglich 
die als Überschrift vorangestellten Worte: v Veram in Timaeo de 
Reipublicae fine sententiam Platonem pronunciasse docetur.* Der 
Widerspruch nemlicb, der über Zweck und Anlage der Politie in 
Piatons eigenen Äusserungen am Schlufs dieses Werkes und am 
Anfang des Timäus zu liegen scheint, wird hier einer näheren 
Untersuchung durch genaue Behandlung und Erörterung der Pla- 
tonischen Stelle selber unterworfen, und so das in der Überschrift 
ausgesprochene Resultat erzielt. Daran knüpfen sich dann auch 
weitere Erörterungen, namentlich über den innigen Zusammenhang 
der drei Dialogen, der Politie, des Timäus und Krilias, die so 
gewissermafsen ein grofses Ganze bilden. Angehängt sind inter- 
essante Nachrichten über den Zustand und die erneuerte Einrich- 
tung des Gymnasiums zu Bern, und dessen Verhaltnifs zu der 
neu gegründeten Hochschule. Chr. Bahr. 



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N°. 21. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Getchichtliche Darstellung des Calviniumus im Verhältnift zum Staat in 
Genf und Frankreich bis nur Aufhebung des Edikts von Kantet. Fem 
Dr. Georg Weber, Voreteher der lateinischen Schule xu Bcrgeabcrn 
in Hheinbaicm. Heidelberg 1836, bei Mohr. 312 5. 8. 

Der Verfasser dieser Anzeige hat von Herrn Weber, wie die 
Leser dieser Jahrbücher aus einigen dem Buche vorausgeschick- 
ten Zeilen sehen werden, so gutige Beweise einer wohlwollen- 
den Gesinnung und freundlichen Aufmerksamkeit erhalten, dafs 
ein allgemeines Lob von seiner Seite her sehr verdächtig seyn 
wurde ; er hat daher doppelten Grund seiner Sitte getreu zu blei- 
ben. Diese Sitte besteht darin, dafs er anfuhrt, was die Verff. 
der angezeigten Bucher berichten oder urtheilen, und sein Lob 
oder seinen Tadel über das Angeführte ausspricht, wo es dann 
gar oft der Fall seyn kann, dafs ein Anderer, nach andern Grund- 
sätzen, lobt, was er tadelt, und tadelt, was er lobt. Er wird 
sich übrigens dieses Mal darauf beschränken, den Inhalt anzuge- 
ben und Proben der Ausfuhrung mitzutheilen. 

Was das ganze Buch und den Inhalt angeht, so gehört et 
zu den nützlichen Werken , an denen die deutsche Literatur lange 
Zeit hindurch grofsen Mangel hatte, in welchen eine Materie zu- 
gleich gründlich und aus den Quellen und dennoch so behandelt 
wird , dafs jeder einigermafsen Gebildete das Buch mit Vergnügen 
lesen kann. Viele Gelehrte, die sich einen Buhm oder eine Pro- 
fessur einschreiben wollen oder müssen, achten, wenn sie in un- 
gern Tagen dergleichen Geschichten schreiben , worin von Reli- 
gion und Disciplin , von Glauben und Kirche die Rede ist, nur 
allein auf eigentliche Gelehrte und auf Leute, die mit der Mode- 
theorie des Tags bekannt sind. Sie wärmen den Quark alter theo- 
logischen Grübeleien wieder auf, oder faseln auch süTslich und 
frömmeln in weibischer Manier. Der Verf. hat diese Klippen 
glücklich vermieden, er schreibt ruhig und klar, und mit der 
Theologie bat er, wie schon der Titel zeigt, durchaus nichts 
zu thun. 

Übrigens mufs Bef. einen Tadel gleich Anfangs aussprechen. 
Dieser betrifft den Titel. Der Verf. hätte sein gut geschriebenes 
und nützliches Buch Kurze Geschichte der Reformirten 
XXX. Jahrg. 4. Heft. 21 



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in Genf und Frankreich nennen sollen; denn ei leistet mehr 
als es verspricht Die Leser haben dabei unstreitig gewonnen, 
und das Buch eignet sich, wie es ist, für ein gröTseres Publikum 
als der Titel in Anspruch nimmt; dies macht es indessen doch 
Refn. zur Pflicht, hie und da anzudeuten, wo es dem Titel niebt 
entspricht. Das erste Capitel hat es indessen in der That nur 
mit Genf und mit Calvin zu thun , und die Darstellung des Zu- 
Standes der Partheien kurz vor Calvins Ankunft hat Refn. beson- 
ders Wohlgefallen. Herr Weber beweiset, dafs er besitzt, was 
den mehrsten Schriftstellern dieser Gattung fehlt — die erforder- 
lichen Eigenschaften eines Lehrers der Geschichte. Er 
sagt S. 10— 12 : 

In den bewegten Zeiten der letzten dreifsig Jahre lassen sich 
in Genf dreierlei Classen von Einwohnern erkennen, die an An- 
sichten und Sitten sehr verschieden waren. Erstens die Anhänger 
des herzoglichen Hauses, grofstentheils savoyischen Ursprungs , 
die im Gefolge dieser Fürsten nach Savoyen gekommen waren 
und sich dort, wahrscheinlich vom Herzog ermuntert, angesiedelt 
hatten; zweitens, die patriotische Ciasse der ächten Bürger, zu 
denen die Parthei der Eidgenossen gehörte, und drittens die 
niedrige Volksklasse, wie uberall, Werkzeug der Schlauen. Die 
Ersten, mehrentheils vornehme und reiche Leute, hegten aristo- 
kratische und monarchische Grundsätze und waren daher dem 
Burgerthum eben so feind, wie der neuen Lehre , die auf gleiche 
Rechte Aller hinarbeitete ; sie hatten grofstentheils freiwillig oder 
gezwungen die Stadt verlassen und ihre Stelle nahmen nach und 
nach vertriebene Protestanten aus Frankreich ein. Die letzte 
Classe, bigott und unwissend, stand gänzlich unter dem Einflüsse 
der Mönche, namentlich der Franziskaner, die zwei Klöster in 
der Stadt hatten, auch von diesen wurden die Zügellosesten, die 
hartnäckig bei der alten Lehre beharrten, verjagt und die Stadt 
auf diese Weise sehr entvölkert. Es war daher besonders die 
Mittelclasse der Einwohner, auf welche Calvin einzuwirken such- 
te, die patriotischen, republikanisch gesinnten Burger, voll mu- 
thigen jugendlichen Sinnes als Folge der neu errungenen Unab- 
hängigkeit, aber auch voll jugendlichen Leichtsinns, der ihnen 
das schätzbare Gut der Freiheit als in Rohheit und Frechheit 
bestehend, vormalte. — — — — — — — 

Daher fanden Calvin und seine Freunde einen so harten Wider- 
stand , als sie nach der Reform der Kirche auf die Reform der 
Lebensweise drangen; vorher hatte es sich nur darum gehandelt, 



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den Katholizismus zu stürzen, aahcr begnügte man sich, die neue 
Lehre immer nnr im Gegensatze der alten zu predigen , wobei 
man es denn an derben Ausfallen und Schmäh Worten nach dem 
Geiste jener Zeit nicht fehlen liefs, dies mufste jetzt aufhören, 
und die Leere , die im Gemuthe des Menschen entstanden war, 
seitdem man ihn genotbigt hatte , die Eindrücke der Jugend ab- 
zulegen and dasjenige zu verachten , was ihm bisher heilig schien, 
mufste durch eine gesunde Moral ausgefüllt werden, wenn nicht 
alle Religiosität verschwinden sollte. Diesen Kampf hatte Bonni- 
vard als unvermeidlich vorhergesagt , als man ihn wegen Einfüh- 
rung der neuen Lehre um Rath fragte, und Calvins Strenge war 
dem leichten Volk bald unerträglich. Hier ist nach Ref. Met« 
nung die Aufgabe, die Calvin zu lösen hatte, ganz vortrefflich 
und klar entwickelt, und der Knoten für alles Folgende geschürzt, 
sogleich aber die Vertreibung Calvins, die unmittelbar folgt, sehr 
gut vorbereitet« 

Das zweite Capitel, Genf während Calvins Leben, ent- 
hält die Dinge, die dem gelehrten Leser freilich wohl bekannt 
seyn mögen , die aber in nnsern Tagen , wo man weit mehr be- 
dacht ist, Dogmatik, Pfründen, Besoldungen, Hoffarth der Theo« 
logen als Moral, Demotb nnd Einfalt der Sitten wiederberzu« 
stellen, sehr nützlich zu lesen sind, da sie hier ohne alle Schwe- 
belei und Nebelei vorgetragen werden. Wenn der Verf. gegen 
das Ende dieses Capitels auf Calvins Verfahren gegen Servet 
kommt, so geräth er, ein noch junger Mann, in einige Verlegen- 
heit, wie er sich und seinem Leser helfen soll, und es macht 
seinem Herzen Ehre, dafs er sichtbar stecken bleibt und auch 
seinen Leser sitzen läfst. Wäre er ein gemachter Theolog unse- 
rer Zeit, oder der Candidat einer Professur, wie man jetzt diese 
Candidaten verlangt , oder ein abstracter loyaler Philosoph , er 
hätte seinem Vorbilde gewifs einen Taschenspielerkniff abgelernt 
gehabt, um den Stein hinunterzuschlucken und zu verdauen, und 
dem Publikum glauben zu machen dafs es Brod gewesen ! Übri- 
gens war das für Herrn Weber Nebensache, da er weder Calvins 
Leben noch die Geschichte der Reformation schreibt Ref. war 
1807, als er das Leben des Theodor Beza schrieb, noch etwas 
junger als Herr Weber, und erinnert sich recht gut, dafs er bei 
mancher Thatsache in Verlegenheit gerieth, sich und zugleich 
seinen Helden aus der Sache zu ziehen. In einem zweiten Ab- 
schnitt geht dann Herr Weber S. 33 zu Frankreich über, und 
bebandelt zuerst die Geschichte und Verfassung der calvinischen 



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A2J Weber: Geichichte dei Calviniimtig 

Kirche in Frankreich bis zu Heinrich IV. Tod. Wenn Herr 
Weber blos eine gelehrte Abhandlung über Calvins Thätigkeit 
hatte schreiben wollen, so wurde man ihm vorwerfen können, er 
hätte etwas zu weit ausgeholt und nicht immer Calvin im Auge 
behalten ; aber man darf nicht vergessen , dafs er nicht ein über- 
flussiges Buch für Gelehrte, sondern ein nutzliches und brauch- 
bares für das grofse Publikum schreiben wollte , dem man gerade 
das sagen mufs, was in gelehrten und ausführlichen Werken ihm 
unzugänglich ist. 

Das Mehrste in den beiden ersten Capiteln d. h. bis S. 57 
geht die allgemeine Geschichte der Entstehung der franzosischen 
Gemeinden an, wo wir indessen gewünscht hätten, dafs der Vf., 
der , auf das Belehren der Laien bedacht , oft seinen Hauptgegen- 
stand zu sehr aus den Augen verloren hat, den Zusammenhang 
und die Einwirkung Beza's und Calvins auf die einzelnen Ge- 
meinden, auf die Grofsen, auf die ganze Sache immer im Einzelnen 
nachgewiesen hätte. Dazu ist der reichste Stoff in Calvins und 
Beza s Briefen, Bef. mag sich irren, er glaubt aber in den beiden 
Capiteln nur eine Stelle darüber gefunden zu haben, und dies ist 
blos eine allgemeine Bemerkung, welche er indessen doch hier 
mittbeilen will. S. 54 : Alle diese Kirchen standen mit Calvin 
und seinen Freunden in Verbindung, waren nach seinen Vor- 
schriften eingerichtet, und erhielten fortwährend Bath und Be- 
lehrung von ihm ; sie wurden meistens von Geistlichen gegrün- 
det , die ihre Bildung in Genf schöpften , eine enthusiastische 
Liebe für ihre Sache und eine Thätigkeit zeigten, die sich nicht 
auf ihre Pfarrgemeinden beschränkte, sondern sie zur weitern 
Verbreitung ihres Glaubens antrieb, theils unmittelbar in ihrer 
Umgebung theils durch Bildung von Schülern. Im dritten Capi- 
tel kommt der Verf. auf die Zeit der Verfolgung und der bür- 
gerlichen Kriege in Frankreich, und giebt einen sehr guten, kur- 
zen und passenden Bericht von der Verfassung der Kirche und 
der Gemeinden und eine Übersicht des Verfahrens der Regie- 
rung, welche uns besonders darum sehr wohl gefallen hat, weil 
Herr Weber durchaus nichts Überflüssiges aus der politischen 
Geschichte einmischt, sondern nur was gerade nothig ist Das 
vierte Capitel führt die Geschichte bis auf den ersten Beligions- 
frieden, und Bef. hat die ihm übrigens ganz bekannte Geschichte 
mit grofsem Vergnügen hier gelesen, und ist überzeugt, dafs sie 
auch andere Leser mit eben dem Vergnügen lesen werden, nur 
hat oft der Verf. zu sehr vergessen , dafs sein Titelblatt den Cal- 



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in Genf und Frankreich. 



325 



Ttnismus hervorhebt, dafs er also öfter als geschehen ist, einmal 
gelegentlich sich wieder nach Calvin und nach Genf hätte um- 
sehen sollen. Das fünfte und das sechste Capitel hätten wohl 
etwas ausfuhrlicher seyn dürfen. Das sechste Capitel endigt mit 
der Geschichte der Bartholomäusnacht , wo der Vf. seinem Zweck 
gemäfs in das Einzelne oder in besondere Untersuchung nicht 
eingeht, was hie und da wohl hätte geschehen können. Das sie- 
bente Capitel behandelt die folgenden Geschichten , besonders die 
Belagerung von Sancerre und von la Rochelle bis auf die Waf- 
fenruhe nach der Erwählung des künftigen Thronfolgers von Frank- 
reich zum Konig von Polen. Das achte Capitel fuhrt die Ge- 
schichte bis auf die Entstehung der Ligue, und mit dem Bericht 
über diese Entstehung beginnt das neunte Capitel. Dies ist ein 
sehr schwieriger Punkt, und man konnte dem Vf. vielleicht vor- 
werfen, dafs er die Sache etwas gor fluchtig abgethan habe, 
wenn man nicht immer vor Augen haben müfste, dafs er ein 
gröfseres Publikum von dem Zusammenhang der Hauptumstände 
auf eine angenehme und klare Weise belehren , nicht historische 
Forschungen anstellen oder Angaben kritisch prüfen wollte. Eins 
mochten wir des Titels wegen auch hier wieder tadeln , dafs nicht 
der Verf. , statt in die Labyrinthe der Kabalen jener Zeit z. B. 
die guerre des amoureux einzugehen , sich der zahlreichen Brief- 
sammlungen jener Zeit bedient hat, um den Zusammenbang der 
Genfer und deutschen Calvinisten und ihrer Organisation, ja auch 
der niederländischen und ihres Helden Wilhelm mit den Franzo- 
sen und ihren organisirten Gemeinden nachzuweisen. Dies würde 
dem Titel besser entsprechen und seine Leser von trostlosen Ka- 
balen protestantischer und katholischer Hofleute und reformirter, 
halbreformirter und katholischer grofser Herren zur Wahrheit 
und Überzeugung bürgerlicher Herzen geführt haben. Das eilfte 
Capitel erzählt den Krieg mit den Protestanten bis auf den Tod 
des Prinzen von Conde, wo wir nur bedauern, dafs der Verf. 
auf der einen Seite Davila und auf der andern de Thou, von 
dem er sonderbarer Weise immer die französische Übersetzung, 
nicht das lateinische Original citirt , zu unbedingt gefolgt ist. 
Wie z. B. wenn er S. 120 de Thou nachschreibt, dafs alle 
Verschworungen gegen das Leben der Königin Elisa- 
beth von England von den Guisen ausgegangen. Im 
zwölften Capitel ist der Verf., da er sich einmal soweit in die 
Geschichte der Religionskriege eingelassen hatte, über die Orga- 
nisation der Bürgerschaft von Paris, über das Verhältnis der 



Sechzehner zu den Mönchen, über den Zusammenhang der Pa- 
riser Bürgerschaft mit der Ligue, über die Anstalten zu Barri- 
kaden, Ketten, Fässer, enge Strafsen , etwas zu kurz, gerade für 
das Publikum, für welches sein Buch berechnet ist. Dies wird 
man am besten erkennen, wenn wir die kurze Stelle anführen, 
worin die Dauer der Fahrt der Konigin Mutter in den Palast des 
Herzogs von Guise beschrieben wird. Selbst ein Pariser unserer 
Zeit würde den Sinn nicht fassen , wenn man ihm nicht erst 
sagte, welche Strafsen zu passiren gewesen und in welchem Zu« 
Stande sich diese damals befunden hätten. Dies war um so leich- 
ter deutlich zu machen, da sich die lange Strecke der la Ferro- 
uerie und Verrerie fast noch in dem alten Zustande befindet Die 
erwähnte Stelle lautet S. 129: Nach langer Berathung bescblofs der 
Hof gegen Abend , die Konigin Mutter an den Herzog abzuschicken 
und dessen Vorschläge zu vernehmen ; zwei rolle Stunden mufste 
sie zubringen, ehe sie zu dem Palaste desselben gelangte , indem 
man die Barrikaden überall öffnete und hinter ihr wieder zu- 
schlofs. Der Verf. würde sagen können, er habe ja ausdrucklich 
& 128 gesagt, dafs unter dem Geläute der Sturmglocke die Stra- 
fsen vorher überall mit Ketten, Fässern, Balken so gesperrt wer* 
den, dafs in wenigen Augenblicken die grofse Stadt von dreifsig 
zu dreifsig Schritten abgeschlossen gewesen« Es kam aber ge- 
rade darauf an, nachzuweisen, wie das möglich war, welche 
feste Einrichtungen damals zu diesem Zweck in Paris bestanden, 
und wie die Bürgerschaft und das Innere der Stadt gerade durch 
diese Einrichtungen ein furchtbares Instrument der Mönche, der 
vornehmen unzufriedenen Herren oder des Parlaments wurde, 
je nachdem eine der genannten Partheien mit dem Hofe im Streit 
war. Diese Lücke auszufüllen gehört nicht hieber, doch wollen 
wir gelegentlich bemerken , dafs über das Barrikadenwesen in den 
Memoire* de Betz , die bekanntlich zu dem Besten in ihrer Gat- 
tung gehören, recht anziehende Nachrichten vorkommen. Auf 
dieselbe Weise hat Herr Weber die Scene in Blois (den Mord 
des Herzogs von Guise, die Verhaftung des Cardinais und des 
Erzbisch offs von Lyon) S. 1 3 3 offenbar zu flüchtig erzählt und 
das Schauderhafte der That und der Anstalten dazu theils gar 
nicht erwähnt, theils nicht genug mit der Geschiebte des Kriegt 
gegen die Reformirten in Verbindung gebracht. Die Umstände 
der Ermordung des Herzogs und die berüchtigten vierzig Mor- 
der werden nicht erwähnt, der Ermordung des Cardinais wird 
nur im Vorbeigehen gedacht , und wenn nicht etwa Ref. im ttüch* 



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in Genf und Frankreich. 



iigen Lesen etwas ubersehen bat, so ist die Geschichte des Erz- 
bischoffs ganz übergangen. Das dreizehnte Capitel endigt mit 
der Ermordung Heinrichs III. , und die drei folgenden erzählen 
die bekannten Geschichten der Unternehmungen Heinrichs IV. 
bis zur Einnahme von Paris. Im siebzehnten kommt endlich der 
Vf. auf den Gegenstand zurück , den sein Titel verspricht , näm- 
lich auf das Verhältnifs des Calvinismus zum Staat. Wir hätten 
gewünscht, der Verf. hätte die beiden Fortsetzungen des sieben- 
zehnten Capitels etwas ausführlicher gefafst und durch einzeln« 
Beispiele aus der folgenden Geschichte erläutert, statt dafs er 
nur ganz im Allgemeinen die Hauptpunkte der Einrichtungen 
andeutet Er giebt aus dem Edict von Nantes unter der Rubrik 
A die bircbliche Stellung der Huguenotten summarisch an, dann 
unter B ihre bürgerliche Stellung, wo er unstreitig im Letzteren 
etwas ausführlicher hätte seyn müssen, wenn er seinen Lesern 
eine Einsicht in die inneren Verbältnisse der folgenden Geschieb- 
ten, die ohnebin ohne ausführliche Behandlung der ganzen poli- 
tischen Geschichte schwer zu verstehen sind, hätte geben wollen. 
Das achtzehnte Capitel führt die Geschichte bis auf Heinrichs IV. 
Tod, wo wir wieder gewünscht hätten, dafs der Verf. nicht das 
allgemein Bekannte erzählt hätte, sondern seinem Titel getreu 
immer nach dem Genfer Pabstthum, nach den Synoden und Ver- 
sammlungen und den Geistlichen schauend, seine Geschichte im- 
mer an den Calvinismus , nicht an den Hof und seine Creaturen 
geknüpft hätte. Endlich in der zweiten Abtbeilung, überschrie- 
ben: Der Hugenotische Bund in Frankreich unter Lud- 
wig XIII., kommt der Verf. S. 179 wirklich auf den Calvinis- 
mus zurück. Nach einer einleitenden Bemerkung über die Ent- 
stehung der Jesuiten, über Beschaffenheit und Zweck des Or- 
dens, kommt er S. 187 auf die franzosish - reformirte Gemeinde, 
die sonderbar genug eine formliche Bepublik im Schoofse eines 
monarchischen Staats bildete. Das wird man schon aus dem 
Wenigen sehen, was der Verf. S. 187—188 von der kirchlichen 
Verfassung sagt. Er hat übrigens offenbar zu wenig davon ge- 
sagt, und hätte nicht allein ausführlicher seyn, sondern auch die 
bedeutende Verschiedenheit bemerken sollen, die in den verschie- 
denen Theilen des Beichs statt fand. Wir sehen aber aus der 
Note- zu der ausführlicher angegebenen politischen Einrichtung 
des Bundes, dafs der Verf. wegen der Quellen und Hülfsroittel 
in Verlegenheit war. Nacbweisungen darüber zu geben scheint 
uns um so weniger nothig , als die von Herrn Weber zusammen- 



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828 



Weber: Geschichte dea Calviniimn« 



gestellten Nachrichten für den Zweck seines Buchs , eine klare 
und lesbare Übersicht der Geschichte der franzosisch. reformirten 
Gemeinde in Frankreich zu geben , völlig hinreichen. Wenn der 
Verf. hernach auf die Streitigkeiten in den ersten vier Jahren 
nach dem Tode Heinrichs IV., oder auf die Händel der Maria 
?on Medicis mit den Grofsen in den Jahren 1610 — 1614 kommt, 
so fafst er sich, was wir sehr loben, kurz, und geht schon S. 
106 auf die Protestanten über, worauf es dem Titel nach ganz 
allein ankommt. Dieses Stück bis an das Ende des Capitels ist 
eins der besten und belehrendsten in dem Buche. Im zweiten 
Capitel behandelt der Verf. das Labyrinth der politischen Handel 
seit 1614, also sehr bebannte Sachen. Offenbar konnte er nur 
darauf bedacht seyn , dem Publikum , dem er sein Buch bestimmt, 
eine klare und fafsliche Erzählung zu geben. Er bat sich be- 
strebt, aus der ungeheuren Masse von Nachrichten, die wir ge- 
rade über diese Zeiten besitzen, solche Punkte auszuheben, die 
diesem Publikum nutzlich wären; er scheint seinen Zweck er- 
reicht zu haben, nur hätten wir gewünscht, er hätte weniger 
von den Andern und mehr von den Protestanten gesagt. Dies 
hätte am so leichter geschehen können, als die Protestanten mit- 
telbar oder unmittelbar nicht aus eignem Antriebe Tbeil nahmen, 
sondern von vielen grofsen Herren , die aus Politik protestantisch 
waren, eingemischt wurden. Im dritten Cspitel S. 314 fuhrt der 
Zusammenhang der allgemeinen Geschichte selbst den Verf. auf 
die Protestanten zurück. Dieses dritte Capitel ist das anziehend- 
ste, theils weil es die Spezialitäten, die man in den allgemeinen 
Geschichten leicht übersieht, besonders hervorhebt, was eigent- 
lich in dem ganzen Buche hätte geschehen sollen , theils weil um 
dieselben Zeiten die Jesuiten auf dieselbe Weise in Frankreich 
und in Deutschland verfuhren. Diese religiösen Sophisten ge- 
brauchten damals gegen die Reformirten dieselben Mittel, welche 
die politischen Sophisten unserer Tage gegen die Feinde des Ab- 
solutismus anwenden. Im zehnten Capitel wird diese Materie fort- 
gesetzt und der Krieg erzählt, den die Protestanten fast mutb- 
williger Weise angefangen hatten, und welcher durch den Frie- 
den von Montpellier beendigt ward. Dieser Krieg war es be- 
kanntlich, der die beiden folgenden herbeiführte und dem Car- 
dinal Richelieu Gelegenheit verschaffte, la Rochelle zu erobern 
ond das Gnadenedict von Nismes an die Stelle des Dankbarkeit*» 
edicts von Nantes zu setzen. Auch dieses Capitel ist besonders 
anziehend , da der Vf. aus vielen Büchern f die man gewöhnlich 
• 




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in Genf und Frankreich. 



nicht zur Hand zu nehmen pflegt, sehr gute Nachrichten gezo- 
gen , gut geordnet und gut vorgetragen hat. Man erhalt auf diese 
Weise eine viel bessere Vorstellung rom Leben der Zeit, von 
von den Verhältnissen der protestantischen und katholischen Be- 
völkerung der sudlichen Gegenden, als man sie aus der besten 
allgemeinen Geschichte schöpfen kann. Wir bedauern daher um 
so mehr, data der Verf. so viel Raum an die allgemeinen Ge- 
schichten verschwendet hat, die er mit wenigen Worten hätte 
andeuten können. Das folgende Capitel enthält die Geschichte 
des zweiten Kriegs, und erst das sechste die Geschichte der be- 
rühmten Belagerung von la Rochelle. Die Letztere ist für das 
Publikum, welches sich der Verf. wünscht, sehr gut und anzie- 
hend behandelt, sonst wäre es wohl nothig gewesen, hier auf 
die Geschichte der protestantischen Herren, die an der Spitze 
standen, Rucksicht zu nehmen, und noch mehr auf die Geschichte 
von England und auf die Art, wie Buckingham und sein König, 
ganz absolute Gemuther, die Protestanten und ihren Krieg be. 
trachteten. Es ist indessen sehr gut, dafs der Verf. nicht nach 
dieser Bemerkung, die Ref. nur gelegentlich und im Vorbeigehen 
hat machen wollen, auf die allgemeine Geschichte sich eingelas- 
sen hat, da diese niemand in diesem Buche suchen wird. Übri- 
gens würden wir 8. 254 nicht gerade eine Stelle aus Guizot't 
Geschichte angeführt haben , da diese weder durch innere Wahr- 
heit noch durch gedrängte Darstellung der Thatsachen vor der 
ersten besten englischen einen Vorzog hat. Gerade über diese 
Sachen hätte sich Herr Weber aus Ursachen, die jedem von 
selbst einfallen werden, unbedingt an Rapin Thoyras halten dür- 
fen, wenn er keins der englischen Bücher, welche Buckingham 
und diese Geschichte speziell angehen , hätte benutzen können 
oder wollen. Man findet hier über Belagerung und Einnahme 
von la Rochelle die interessantesten Nachrichten zusammengestellt 
und die franzosische Sammlung der Memoires recht gut benutzt. 

Von S. 266 an beginnt die dritte Abtheilung: Zustand der 
Huguenotten seit dem Verluste der Selbstständigkeit 
ihres Bundes. Ref. will den Anfang des ersten Capitels mit- 
theilen, weil er ganz mit Herrn Weber übereinstimmt und man 
schon aas den wenigen Worten sehen wird, wie ruhig, besonnen 
und verständig dieser die Geschichte behandelt hat. Richelieu, 
heifst es , gab durch nichts mehr seine tiefe Weisheit zu erken- 
nen, als durch das Gnadenedict von Nismes. Er sah wohl ein, 
daft er den Staat seiner fleißigsten und tbätigsten Untertbanen 



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SSO Weber : Geschichte des Calvinistuas 

berauben wurde, wenn er den Glauben des Burgers antastete, 
worin dieser die Beruhigung seines Gewissens und den Trost sei- 
nes Lebens fand. Die Lehre der Huguenotten war in seinen Au- 
gen kein Verbrechen; obwohl Cardinal und früher nicht ohne 
Meinungseifer, hegte er jetzt duldsamen Sinn, einzig auf die 
Grufse des Staats und der königlichen Allmacht bedacht ; blos die 
selbstständige Verfassung des Bundes war ihm ein Dorn im Auge; 
sie mufste vernichtet werden. Sobald daher die Protestanten auf 
gleicher Stufe standen mit der Masse des Volks, waren sie seine 
Feinde nicht mehr. Übrigens führt das erste Capitel dieser drit- 
ten Abtheilung der Geschiebte der Reformirten in Frankreich die * 
Geschichte duich die Zeiten der Fronde hindurch und das Re- 
sultat der Erzählung wird S. 276 ganz vortrefflich auf folgende 
Weise kurz zusammengefafst : Der Hof verkannte die Verdienste 
der Huguenotten in jenem drohenden Zeitpunkte nicht, und Ma- 
zarin selbst gestand ein , dafs der Thron gewankt habe und dafs 
die Protestanten ihn festgehalten hätten; und nach Beendigung 
der Unruhen gab man ihnen manchen Beweis der Zufriedenheit. 
Die unglücklieben Calvinisten aus Pamiers, die in den Religions- 
kriegen von ihrem Eigenthum vertrieben worden waren und seit- 
dem hülflos und zerstreut an andern Orten lebten, durften in 
Folge eines Erlasses vom Jahre i652 in ihre Heimath zurück- 
kehren und Besitz von ihrem Vermögen nehmen, und es war 
nicht Schuld des Hofes, wenn die Ränke des Bischoffs von Pa- 
miers und die Ungerechtigkeit des Gerichtshofs von Toulouse die 
Wirkung dieser billigen Verfügung vereitelten. In Alais, Nismes 
und andern Orten erhielten die Protestanten Berechtigungen, die 
Sie in Bezug auf die Theilnahme städtischer Ämter in ein glei- 
cheres Verhol tnifs zu den Katholiken setzten, und am si. Mai 
i65a wurden alle bisherigen Edicte zu Gunsten der Reformirten 
feierlich erneuert. An mehrern Orten, wo seit einigen Jahren 
der Calvinische Gottesdienst verhindert worden war, sang man 
aufs neue die Psalmen, und die ersten Regierungs jähre des jun- 
gen Honigs versprachen den Huguenotten ein goldnes Zeitalter. 
Das ganze zweite Capitel ist der Geschichte der Verhältnisse ge- 
widmet, die der Verf. nach dem Titel seines Buchs ganz beson- 
ders behandeln wollte, dies wird man schon aus folgender Über- 
schrift des Capitels sehen können. Die Calvinisten werden 
von Mazarin begünstigt — Sie unterstützen die Wal- 
denser in den Thälern von Piemont. Die katholische 
Geistlichkeit macht die Huguenotten am Hofe vor- 



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dächtig, daher einige strengere Maasregeln. In allen 
Provinzen werden Contmissäre ernannt, zu untersu- 
chen, ob das Ediet von Nantes überall gehalten wird. 
Letzte Nationalsynode der Hugnenotten zu Loudün. 
In diesem Capitel hat Ref. viele anziehende, ihm, da er sich mit 
der speziellen Untersuchung dieser Sache nie beschäftigt halte, 
ganz neue einzelne Umstände gefunden, die sieb auch für die 
allgemeine Geschichte recht gut gebrauchen lassen. Im dritten 
Capitel wird sehr klar und zugleich sehr gemäfsigt und ruhig, 
vortrefflich nachgewiesen, auf welche Weise man gleich nach 
Mazarins Tode langsam und schlau den Plan der Vertilgung des 
Protestantismus auszufuhren anfing. Herr Weber hat zu dem 
Ende mit der Erzählung der Unterdrückung der höheren pro* 
testantischen Lehranstalt in Montauban begonnen und geht alsdann 
zu den Conversionen über. Der Verf. hat S. 390 sehr gut be- 
merkt: Der Hof durfte nur ein einziges Mal kund geben, dafs er 
eine Kränkung der Huguenotten nicht mit demselben Auge be- 
trachte, wie eine Verletzung seiner übrigen Untertbanen, um je- 
nen ein schreckliches Loos zu bereiten , indem von dem Urtheils- 
•pruche des Untersuchungsgerichts keine Berufung an die ge- 
mischten Hammern Statt fand, sondern nur an den Staatsrath. 
Jedem Freunde der Geschichte, der sich über diese wichtige 
Geschichte auf dem kürzesten Wege gründlich belehren will, 
müssen wir dieses Capitel dringend empfehlen, wo man nur ThaU 
sachen mit Nachweisung der Quellen findet. Tantumne relligio 
potuit suadere malorum? Derselbe Gegenstand wird im folgen- 
den vierten Capitel von dem Jahre i663 bis 1679 durchgeführt, 
und Ref. gesteht, dafs diese letzten Capitel ihm im ganzen Buche 
am besten gefallen haben; denn der Verf. hat mit Weglassung 
alles Unwesentlichen die Hauptumstando und das Einzelne, wor- 
auf es ankommt, vortrefflich hervorgehoben, und Ref. bedauert 
sehr, dafs der Baum dieser Blätter ihm nicht erlaubt, dieses durch 
Anführung ganzer Stellen zu beweisen. Der Verf. hat sehr gut 
verstanden, seinen Lesern anschaulich zu machen, wie man ganz 
consequent Schritt vor Schritt dem Ziele näher rückte und den 
Letzten Gewaltstreich vorbereitete. Das fünfte Capitel enthält die 
bekannten Geschichten Ludwigs und der Maintenon und den An- 
fang der gewaltsamen Maasregeln. Das sechste Capitel ist wieder 
mehr speciell und enthält die Geschichte der Verfolgungen von 
&68i—i685, ohne dafs der Verf. dabei, wie das zuweilen im 
forher flehenden Cauitel geschehen war . die Protestanten aus dem 



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332 P. Li mi t Prlnc. di Scordia 

Auge verliert. Dieses Capitel ist ebenso anziehend als das dritte 
und vierte, weil es uns Geschichten erzählt, die man aus den 
angeführten Werken nur mit greisem Zeitaufwande herausfinden 
wurde, wenn man auch Lust und Zeit hatte, sie zn lesen. Wir 
bewundern übrigens die Ruhe und Leidenschaftlosigkeit des Vfs. 
in einer Sache, wo man, besonders in seinem Alter, so geneigt 
ist, heftig zu werden und Parthei zu nehmen. 

Schlosser. 



Coneidcrazioni sulla itoria di Sieüia dal 1531 al 1789 da servirc d'aggiunte 
« di ehion al Botta, di Pietro Lomo, principe di Scordia. Pa- 
lermo $tamperia di Antonio Sduratori. 1836. 591 & 8. 

Ref. glaubt dem deutschen Publicum , welches selten die 
Producte sicilianischer Pressen zu Gesichte bekommt, und dem 
erlauchten Verf., der so gutig war, ihm das Buch zu schenken, 
einen Dienst zu thun, wenn er den Inhalt desselben kurz anzeigt, 
weil es eine Lücke füllt, welche alle neapolitanischen Geschieht- 
Schreiber, auch der neueste und gröTste unter ihnen, gelassen 
haben. Collelta hat Sicilien nur gelegentlich berührt; der Verf. 
des angeführten Buchs erwähnt seiner gar nicht, wir zweifeln 
auch , dafs in unsern doctrinären Tagen ein wahrhaft großartiger 
Geschichtschreiber wie Coli et ta die Anerkennung finden werde, 
die ein Botta gefunden hat. Übrigens urtheilt der Prinz von 
Scordia ganz richtig über Guicciardini , dafs er seine Geschichte 
auf einem trostlosen Grundsatz der Selbstsucht , oder mit andern 
Worten, auf dem Grundsatz der Diplomaten und Politiker grün- 
de; er hat aber Unrecht, wenn er dabei den Helvetius nennt, 
er hätte den Macchiavelli und die grofsten Männer seiner Nation 
nennen sollen , die im sechzehnten Jahrhundert erfunden , classisch 
vortrefflich entwickelt und meisterhaft befolgt haben, was die 
Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts nur unvollkommen nach- 
lallen. Die an sich und im Munde eines sicilianiachen Prinzen 
merkwürdige Stelle lautet : Jo ben anco ammiro e venero Guic- 
ciardini, roa assai mi duole come Botta dice, che fondamento alle 
soa storia c la brutta e dolorosa dottrina di Elvezio. Diese Er- 
wähnung des Helvetius ist doppelt ungerecht« Was Botta an. 
geht , so sagt der Vf. in seinem discorso proemiale , er verdiene 
allerdings Dank, dafs er die Fortsetzung des Guicciardini unter- 
nommen habe; dadurch hätte Italien wenigstens endlich einmal 



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einen allgemeinen Geschichtschreiber erhalten . allein er habe theilt 
so schnell gearbeitet, da seine allgemeine Geschichte in fünfte- 
halb Jahren fertig gewesen sey , theils habe er einzelne Geschich- 
ten, welche besonders angeführt werden, gar zu Kurz abgefer- 
tigt. Unter diese Geschichten wird denn auch die von Sicilien 
gerechnet, welche Lücke der Prinz durch sein Buch ausfüllen 
will. Man wird sich verwundern , in einem italienischen Schrift- 
steller unserer Zeit die Genauigkeit und besonders die kritische 
Schärfe zu entdecken, die der Verf. uberall bewiesen hat Wir 
dürfen, so sehr uns die Art der Behandlung angezogen hat, dem 
Vf. durch das Einzelne nicht folgen, wir wollen aber den Inhalt 
kurz andeuten, um zu zeigen, was man hier findet, und wie 
glücklich der Vf. den leeren Wortschwall und das eitle Phrasen- 
drechseln der beutigen Italiener vermieden hat. Wir wollen zu« 
erst die Stelle anfuhren, worin er sich über seine Quellen und 
seinen Zweck ausspricht; man wird aus seinen eignen Worten 
erkennen, dafs er weifs, worauf es ankommt, und dafs er nicht 
zu den vornehmen Schriftstellern gehört, denen ihr Rang ohne 
Muhe den Ruhm schafft, sondern dafs sein Buch eine in unser □ 
Tagen in der italienischen Literatur sehr seltene Erscheinung ist. 
I nostri storici, sagt er, le constituzioni e i capitoli del siciliano 
reame e i varii manuscritti patrii di cui abbonda questa libreria 
del Senato mi sono serviti di norma nel mio scabroso Camino, 
apprestandomi tutta quella luce che ra'era d'uopo. Non posso 
pero negare che in questa medesima scelta ho dovuto impiegare 
una diligente critica a fin di separare le cose genuinamente nar- 
rate dalle tante futili , di cui spesse volte sono imbrattate le carte 
dt nostri avL Das erste Buch, oder die ersten 69 Seiten ent- 
halten die Geschichte der Jahre i53o — 1646, die wir ganz über- 
gehen. Wir wollen nur bemerken, dafs der Verf. auch hier bei 
aller Kurze, die wir ihm zum grofsen und besondern Verdienst 
anrechnen , Nachrichten aus Buchern beibringt , die in unsern 
Gegenden selten oder auch völlig unbekannt sind. Im zweiten 
Buche sucht er bei der Geschichte sicilianischer Unruhen und 
Umstände mehr Botta zu ergänzen, als zu berichtigen, er lobt 
vielmehr dessen Darstellung der Bewegungen in den Jahren 1646 
— 1649. Wir dürfen auch auf die in diesem Buche enthaltenen 
Geschichten nicht näher eingehen, müssen aber zur Ehre des 
Vfs. bemerken, dafs er sehr weit von den Vorurtheilen entfernt 
ist , die wir Deutsche , und besonders die Protestanten unter uns, 
sonst seinen Landsleuten vorzuwerfen pflegen. Er spricht sich 



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über Ketzergerichte mit demselben Abscheu aus , als Colletta. Er 
berichtet nämlich unter dem Jahre i658, S. 106, wo er der Fe- 
ste in Sicilien wegen der Schwangerschaft der Honigin Ton Spa- 
nien erwähnt, S. 107. Aber auf die andern Festlich beiten folgte 
eine grausige und barbarische. Die bestand in einem Auto da fe. 
Dies war (die Nachricht verdient bemerkt zu werden) das zweite 
tragische Schauspiel dieser Art, welches unter uns aufgeführt 
ward, woran man nicht ohne Schauer und Grausen denken bann 
(del quäle lumanita non puö non sentire ribrezzo ed orrore). 
Etwas weiter unten folgt eine dahio gehörige Notiz, die wir un- 
gern Lesern mittheilen wollen. Er sagt nämlich : Achtzehn Jahre 
nachher ward diese hollische Handlung gegen einen Diaconus 
aus dem Augustiner-Orden, gegen den Bruder Diego la Matira 
erneut (Diciotto anni conseguitaronsi , dopo i quali videsi rinno- 
vato quel infernale operamento in persona di un diacono agosti- 
niano per nome frä Diego la Matira). Mit derselben Freimuthi'g- 
keit, wie über die geistlichen Angelegenheiten, redet der Verf. 
über die weltlichen. Man wird nicht allein sehr Yiele unterhal- 
tende Geschichten aus seinem Buche ziehen können, sondern Sit- 
ten und Gebräuche und Formen des Lebens wird man hier weit 
besser kennen lernen als aus Reisebeschreibungen. Um an einem 
Beispiele zu zeigen , wie der Verf. erzählt , urtheilt und eine 
Spezialgeschichte unterhaltend macht, wollen wir eine Stelle auf 
den Zufall hin ausheben. Wir wurden die ganze Geschichte der 
Verwaltung des Vicekonigs Ayala hier übersetzen , wenn wir der 
Erzählung einen gröfseren Raum widmen könnten, wir werden 
daher nur den Anfang mittheilen. Wer die ganze Geschichte im 
Zusammenhange lieset, wird sehen, wie wichtig der Streit des 
Vicekonigs mit den Burgern von Messina als Schritt einer monar- 
chisch-militärischen Regierung ist. Nicht blos aus dem Grunde, 
weil dieser Streit einen formlichen Aufstand veranlagte, sondern 
weil fast in demselben Jahre, als man die Vorrechte der 
Burgerschaft von Messina antastete, unmittelbar nach dem west- 
philiscben Frieden , mit den Rechten vieler deutschen Städte fast 
ebenso verfahren wurde. Es heifst: Der Vicekönig erliefs eine 
Verordnung an die Messinenser, dafs bei der Wahl ihrer Raths* 
herren die Geschwornen der vorigen Verwaltung oder des vori- 
gen Jahrs nicht Theil nehmen sollten. Dies war den bürgerlichen 
Freiheiten von Messina geradezu entgegen und verdrofs die Ein- 
wohner so sehr, dafs sie zwei Abgeordnete sandten u. s. w. 
Charakteristisch ist es, dafs diese Deputate in städtischnn An- 



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Contiderazioni »Ha storia dl Sicilia 



33» 



gelegenheiten Mönche sind. Diesen Streit mögen die Leser im 
Bache selbst aufsuchen, wir wollten eigentlich nur den Anfang 
einer andern Geschichte mittheilen. Dieser lautet S. 107 — 108 
folgendermafsen : Im Jahre 1660 kam der neue Vicekönig Graf 
Ayala, und er trat gleich mit spanischem Stolze auf. Nicht zu- 
frieden mit dem Vielen Spanischen (di tutto quello che qui erast 
introdotto d'iberico), was bei uns schon eingeführt war, wollte 
er auch noch die äussern Gebräuche und Gewohnheiten seines 
Vaterlandes einfuhren. Jn dem Anzüge der Gerichtsbeamten 
(mkiistri togati) änderte er Manches, und verordnete, dafs sie 
ein Doctor-Barret , Gorra genannt, statt des Hots tragen sollten , 
and hätte er sich mit dergleichen Neuerungen begnügt, so wäre 
wenigstens nichts daran verloren gewesen , und man wurde seines 
Namens nicht mit Verachtung gedenken müssen ; aber er war eitel 
(borioso) und hochmüthig wie kein Anderer, und reizte Alles 
zum heftigen Zorn. Erst fing er mit dem Erzbischoff von Pa- 
lermo, dann mit dem Adel, endlich mit der Stadt Messina Streit 
an. Mit dem Ersten hatte er allerlei Händel (varii disgusti) , and 
dieser bediente sich seiner priesterlichen , der Vicekönig der 
weltlichen Waffen ; der Letztere der Soldaten , der Erstere geist- 
licher Vermahnungen ; als aber (wie das ganz naturlich ist) die 
Waffen des Vicekönigs kräftiger wirkten (agivano con piu forza) 
and des Prälaten Sache nicht mehr fort wollte (andava a ritroso), 
so zog dieser sich in der besten Ordnung vom Schlachtfelde. 
Er entfernte sich unter dem scheinbaren Vorwande (col orpello), 
Visitation in seinem Sprengel zu halten , auf einige Zeit aus Pa- 
lermo, und kam erst dahin zurück, als ein besserer Wind für 
ihn wehte. Der Adel war damals heftig unter sich selbst ent- 
zweit, denn es war Zwist zwischen dem alten und dem neuen 
Adel. Der erste wollte allein Anspruch auf die grofsen Adels- 
vorrechte der Sicilianer haben, und wollte nicht zugeben, dafs 
irgend ein Neugeadelter daran Theil hätte. In der That waren 
die siebenzehn Fürstentümer der letzten Zeit durch neue Di- 
plome und Belehnungen bis zu Sechsundsechzig vermehrt worden, 
es waren daher der neuen viel mehr als der alten. Die neuen 
machten mehr Lärm, und weil die Zahl ihrer Anhänger viel 
gröfser als die ihrer Gegner war, so setzten sie den Vicekonig 
sehr in Schrecken ; denn dieser wufste nicht recht, wohin er sich 
wenden sollte. Er kannte die Kräfte und die Macht des alten 
Adels und die Zahl und Entschlossenheit des neuen; er sah also 
liein anderes Mittel, dem Streit ein Ende zu machen, als dafs er 



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336 P. Lama, CoaaMeraiioni »all« itorit di SIcilia. 

beide gutlich zu befriedigen suchte. Man liefe den Fürsten alte- 
ren Ursprungs daher einige besondere Vorrechte und gab den 
Andern einige neue. Wenn wir die traurige Geschichte der 
Fehde Messinas mit dem Vicekonig hinzufügten, so würde man 
ein vollständiges Bild spanischer Verwaltung haben und sich leicht 
erklären , warum diese grofse und reiche Monarchie und alle ihre 
Theile und Provinzen im 'Laufe des siebenzehnten Jahrhunderts 
so ganz unbegreiflich tief herabsank. Bei dieser Gelegenheit wol- 
len wir bemerken, dafs das Bild spanischer Verwaltung in der 
Lombardei, welches Manzoni in den promessi sposi entwirft, ganz 
getreu und historisch ist Wie weit die absichtliche Verwirrung 
und Unordnung ging, sieht man auch daraus, dafs, nachdem 
Ayala die Stadt Messina, zur grofsen Freude der Einwohner von 
Palermo, aufs härteste und strengste bebandelt hatte, und dafür 
in Palermo allerlei Beweise der Zuneigung erhalten , sein Nach- 
folger, der Duca di Sermoneta, welcher vorher Statthalter von 
Mailand gewesen war, ein ganz entgegengesetztes System be- 
folgte. Er zeigte sich ohne Gruod den Palermitanern ganz ab- 
geneigt und wollte sogar Anfangs sein Amt nicht einmal , wie das 
hergebracht war, in Palermo antreten. Dies that er freilich zu- 
letzt, doch bewies er schon im ersten Monat seiner Verwaltung 
seine Abneigung gegen Palermo. Wir wollen hier wieder eine 
Stelle übersetzen, damit unsere Leser selbst über den Ton und 
die Manier des Prinzen urtheilen können. Diese Parteilichkeit, 
sagt er, welche die Statthalter bald für die eine bald für die an- 
dere Stadt zeigten, war für ganz Sicilien höchst verderblich, 
denn sie vermehrten dadurch die erbliche Mifsgunst (aschio) der 
beiden Städte und nährten jene Zwietracht, welche ein Haupt- 
unglück der armen Insel war. Sermoneta verliefs Palermo schon 
im Laufe des zweiten Monats seiner Verwaltung und reiste nach 
Messina, wo er, sey es nun aus Furcht, sey es im geheimen und 
ganz besondern Auftrage, sey es aus eigner besonderer Vorliebe, 
•ich bestrebte , diese Stadt auf jede Weise zu begünstigen , ohne 
•ich um das übrige Reich zu bekümmern. 

(Der Bcschlufs folgt.) 



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N°. 22. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



P. Lanza, Princ. di Scordia, Considerazioni sulla storia 
di Sicilia. 

(Dc$cl U/9.) 

Diesen Satz beweiset der Vf. sehr gut durch das angeführte 
Gesetz, dafs die Ausfuhr der Seide nur von Messina aus gesche- 
hen dürfe. (Er fuhrt an die Pragmatica Prohibitiva di non po- 
tersi extrahere sete per fuori regno se non che solamente dal 
porto di cpiesta nobile ed exemplare cittä di Messina etc. etc. 
stamp. del Senato 1664.) Nach langem Lärmen und Streit senden 
die Palerraitaner ihren Hauptpfarrer nach Madrid, der alsdann 
eine Aulbebung des Verbots bewirkt. Diese und alle bis S. i3o 
erzählten Dinge hatte Botta ubergangen und hatte blos die Un- 
ruhen und den Aufstand von Messina erzählt, so genau dieser 
auch mit der Eifersucht zwischen Palermo und Messina zusam- 
menhängt. Die Geschichte dieser Unruhen giebt dem Verf. Ge- 
legenheit, sein kritisches Talent und seine Kenntnifs der Geschichte 
seines Vaterlandes auf eine recht glänzende Weise zu zeigen, in- 
dem er zugleich von Botta, den er oft kritisirt, oft auf Irrthü- 
mern und Übereilungen ertappt, mit Aufmerksamkeit und grofser 
Achtung redet. Er sieht sehr wohl ein, dafs ein allgemeiner 
Geschichtschreiber um desto eher Fehler begehen kann, je um- 
fassender seine Arbeit, je leichter sein Vortrag ist. Der Verf. 
giebt nämlich zuerst einen ganz kurzen Abrifs von dem , was 
Botta in seiner Geschichte auf vierzig Seiten von dem Aulstande 
in Messina erzählt hat, dann leitet er seine kritische Prüfung die- 
ser Erzählung mit folgenden Worten ein : Narrate in succinto Je 
cose dette dal egregio storico Piemontese in buona parte del suo 
Jibro vigesimo nono, credo esser delK obbligo indossato far os- 
servare, o almeno indagare in pria ii luogo da dove egli abbia 
potuto ritrarre questo suo vivo raconto, ed indi inditare un qualche 
lieve peccato che io col mio limitato intelletto ho potuto nel suo 
lavoro notare. Übrigens wurde sich zeigen, wenn wir die lange 
Stelle übersetzen dürften, dafs er nach und nach die ganze Er- 
zählung des Piemontesers auseinanderlegt und dafs am Ende nichts 
als Stellen aus Brusoni, verbrämt mit Rhetorik und was die Leute 
XXX. Jahrg. 4. Hüft. 22 



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338 P. Lama, Princ. di Scordia, 

Philosophie zu nennen pflegen, übrig bleibt. Der Aufstand von 
Messina, ebensosehr aus Hafs gegen Palermo als gegen die Spa- 
nier, fiel in die Zeit, als Ludwig XIV. nach seinem Einfall (1672) 
in Holland mit Spaniern und Holländern in Krieg war. Die Ein- 
wohner von Messina nahmen die Franzosen in ihre Stadt auf, 
die Spanier und Palermitaner wurden von den Holländern, die 
damals um ihre eigne Existenz mit den Franzosen zu kämpfen 
hatten, unterstutzt; dieser Theil des Buchs gehört daher der all- 
gemeinen Geschichte an. Wir wollen bei der Gelegenheit eine 
Nachricht einrücken, die vielleicht denen nutzlich seyn kann, die 
in unsern Tagen griechische Handschriften in Spanien einzukau- 
fen suchen. Ms ist nämlich S. 157 die Hede von der harten Be- 
strafung der von den Franzosen aufgegebenen Stadt Messina (um 
1679). Die Stadt, heifst es, ward des Ordens della Stella, wor- 
auf die Burger so ungemein stolz waren , beraubt ; sie verlor 
Universität und Archiv, obgleich es falsch ist, dafs die erstere 
nach Catana versetzt ward , wo vorher schon eine war. Was das 
Archiv angeht, so sagt der Verf.: Das Archiv ward unter dem 
Glockenthurm der Domkirche aufbewahrt, und es ist nicht rich- 
tig, dafs man es vorzuglich wegen ganz besonderer Privilegien 
und wegen eines vorgeblichen Briefs der heiligen Jungfrau in 
hohem Werth hielt, denn schon Francesco Aprile hat gut und 
sehr gelehrt bewiesen (Cronologia universale della Sicilia. Paler- 
mo 1725), dafs die Erzählung von diesem Briefe eine fromme 
Erdichtung gewesen. Man legte im Gegenthei! grofse Be- 
deutung auf das Archiv wegen der griechischen Hand- 
schriften, welche Constantin Lascaris dort niederge- 
legt hatte. Übrigens, fahrt er fort, waren freilich alle Doch* 
mente, welche für authentisch galten und Privilegien und Vor- 
rechte von Messina enthielten , mit alter Schrift und auf altera 
Pergament geschrieben ; ausserdem waren die Privilegien der \ er- 
schiedenen K5nige in besonderen Hasten verwahrt, auf deren 
Deckel der Name des Honigs stand , der sie ertbeilt hatte. Die 
Copien, in fünf Bänden enthalten, kannte jeder, weil man nie 
die Originalien gebrauchte, um sie nicht abzunutzen (per non 
logorarsi). Als das Archiv ausgeräumt ward (dies ist es, was 
wir bemerken wollten), so finde ich nirgends geschrieben, dafs 
mao jenen apokryphischen Brief der Jungfrau Maria gefunden 
habe, oder auch nur eine Abschrift davon; dagegen wird Je- 
der, der Sinn für allgemeine Bildung und für Gelehr- 
samkeit hat (che ha hör di senno e che e vago di dottrina), 



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Conaidcrazioni sulla storla di Sicilia. 



innig bedauern, d a f s die Sammlung der griechischen 
Manuscripte des Lascaris, die der Senat von Messina 
gekauft hatte und die dort aufbewahrt ward, verlo- 
ren wurde. Diese Sammlung ward nämlich von dort 
gewaltsam weggenommen und zuerst nach Palermo 
gebracht, dann liefs sie der Vicekonig, Herzog von 
Uzeda, nach Spanien bringen. So verloren Sicilien 
und Messina diesen kostlichen Schatz. Messina hatte bis 
dabin gewissermaßen eine Republik gebildet; das war jetzt vor- 
bei. Es erging der Stadt, doch einigermafsen verdienter Weise, 
wie in Deutschland fast am dieselbe Zeit den Städten Mainz, 
Magdeburg, Erfurt, Königsberg und sehr vielen andern. Auch 
diese Städte, wie die Gegenden des alten Landes, des Landes 
Hadeln, behielten einen TheU ihrer alten Rechte, da bekanntlich 
die Städte und die freien Leute der Leutkircher Heide erst in 
diesem Jahrhundert den Schatten der Freiheit, welche überall der 
allgemeinen Centralisalion , Bureaukratie und staatswissenschaft- 
lichen Weisheit studirter Beamten weichen mufste, verloren. Son- 
derbar genug schwemmte die Fluth monarchischer Heere nach 
dem Frieden von Nimwegen die bürgerliche Freiheit zugleich 
in Preufsen und Poromern, in Thüringen und Schwaben und im 
EJsafs und in Sicilien hinweg. Messina wurde indessen doch von 
dem bärtesten Schicksal betroffen. Der Prinz berichtet S. 159: 
Tierhundert Familien, welche nach Caruso (Mongitori storia de' 
Parlament! III. p. 71) auf sechszehntausend Kopfe jedes Alters, 
jedes Geschlechts, jedes Standes betragen mochten, verließen ihr 
Vaterland und folgten ihren Unterdrückern (den Franzosen) durch 
Noth gezwungen , um nicht die Wirkung des gereizten Zorns der 
Spanier zu erfahren. Sie waren theils verbannt, theils wanderten 
sie freiwillig aus und begaben sich theils nach Italien theils nach 
Frankreich; sie wurden von den Franzosen mit der Hoffnung 
getäuscht, dafs man für sie eine Generalamnestie erhalten würde. 
Als Frankreich hernach Gelegenheit hatte, einen vorteilhaften 
Frieden zu schliefsen , überliefs es alle diese Leute ihrem un- 
glücklichen Schicksal. Im dritten Buch, welches die Zeiten von 
1680 — 1716 begreift, wird besonders von den Streitigkeiten mit 
dem päbstlicben Stuhl gehandelt, welche während der kurzen Zeit 
fortdauerten, während deren Victor Amadeus König von Sicilien 
war, und bei dieser Gelegenheit wird die sogenannte Monarchie* 
Siciliae sehr grundlich erörtert. Der Vicekonig, der Graf Anni- 
bale Maffei, war mit dem Streit mit dem Pabste gar nicht zu- 



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040 r. Lanza, Princ. di Scordia, 

frieden, denn er war. sehr stolz auf Vorzüge eines Geistlichen, 
die ihm als Repräsentanten des weltlichen Herrschers der Insel 
zukamen. Wir wollen die Worte mittheilen : E non gia che vago 
non fosse della singolar prerogativa Siciliana, conciosiache non 
poche volte tenne Cappella Reale, che appunto e quella cere- 
roonia in cui il nostro sobrano , o chi lo rappresenta, spiega cd 
forma publica laugusto carattere di legato a latere coprendosi il 
capo nel ricever l'incenso dal diacono durante la celebrazione 
della gran messa. Über Alberonis Expedition gegen Sicilien fin- 
det man hier S. 292 u. f. sehr genaue Nachrichten, nur über die 
Rolle des Honigs Amadäus, des Vicekönigs und des Generalcapi- 
täns erhalten wir nicht den wahren Bericht. Bei Gelegenheit der 
ausfuhrlichen Geschichte der Einnahme von Palermo durch die 
Spanier finden wir eine literarische Notiz, die in den italienischen 
Lilerargeschiehten und auch in den politischen Geschichten fehlt, 
dafs nämlich die unter Mongitore's Namen bekannte Geschichte 
der Parlamente eigentlich dem Andreas Marchese angehört, der 
sie auf Maffei's Geheifs gesammelt hatte. Wenn man sehen will, 
wie wenig ein Italiener die Herrschaft eines Andern dulden kann, 
und wie er immer fremde Herrschaft vorzieht , so mufs man hier 
die ausfuhrliche Geschichte und die einzelnen Umstände der Ver- 
treibung der Piemonteser lesen , die absichtlich immer Savoyarden 
genannt werden. Der Verf. benutzt übrigens bei der Geschichte 
der schnellen Besetzung von Sicilien durch Alberoni's Heer and 
auch im Folgenden das handschriftliche Tagebuch Mongitore's. 
Nur die festen Plätze, Messina, Syracus, Melazzo , Termini, wa- 
ren noch zu erobern , als die Engländer dazwischen kamen. Über 
den spanischen Zug gegen Messina und über die näheren Um- 
stände der Belagerung von Messina findet man hier einen sehr 
anziehenden Bericht, den der Verf. aus einer kleinen von ihm 
angeführten Schrift gezogen : Vera e distinta relazione delle armi 
Spagnole in Messina etc. etc. da un curioso e veridico Palermitano 
(das sey, meint der Verf., nur ein angenommener Name) In Mes- 
sina per d'Amico. 1718. Der Verf. ubergeht Alles oder setzt et, 
als aus Botta bekannt , voraus , was die allgemeine Geschichte 
von Europa angeht , und nimmt den Faden seiner Ergänzung erst 
da wieder auf , wo die englische Flotte der spanischen gegenüber 
bei Messina erscheint. Wir dürfen freilich unser Publicum von 
den Kriegsereignissen zwischen den Spaniern und Kaiserlichen 
und von den Berichtigungen der irrigen, oft ganz allein aus Bu- 
rignv geschöpften, Erzählung Botta s nicht unterhalten; doch 



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Contidcrnzioni sulla storia di SUilia 



341 



können wir versichern, dafs alle Trockenheit und Langweiligkeit 
lehr glücklich vermieden ist , und dafs man diese Geschichten hier 
mit Vergnügen Hesel, so wenig sie für das Game entscheidend 
sind. Der Prinz von Scordiano kommt hernach , nachdem er die 
Ereignisse erzählt hat, welche die Vereinigung Siciliens mit Nea- 
pel unter kaiserlicher Regierung um 1721 herbeiführten, auf die 
schreckliche Geschichte des Autodafe in Palermo 1724, welche 
Colletta lib. 1. §. 9. p. 28 so ungemein schon erzählt hat. Wir 
linden hier freilich p. 367 die Scene , die Colletta ausführlich 
beschrieb, nur mit wenigen Worten angedeutet, wir wollen aber, 
zur Ehre unserer Zeit, den Schlufs ubersetzen, damit man sehe, 
dafs sicilianische katholische Gelehrte verständiger sind , als viele 
unserer gelehrten protestantischen Theologen , die, wenn sie ver- 
geblich versucht haben, gewisse Bücher zu widerlegen, sie gern 
verbieten lassen mochten. Es heifst hier: Wie dem nun auch 
seyn mag, die Thatsache ist, dafs beide unter schwarzer und be- 
trübender Feier lebendig verbrannt wurden. Man sagt, dafs sich 
unter der unermefslichen Zahl von Zuschauern anch der Vice- 
bönig befunden habe; Barbarei über Barbarei! Was mich an- 
geht, so kann ich mich nicht enthalten, wenn ich auf dergleichen 
Erzählungen stofse, die unglückselige Beschaffenheit jener Zei- 
ten zu beklagen, und die ehrenvolle StandhaftigUeit von Neapel 
zu loben, mit welcher sich diese Stadt der furchtbaren Inquisition 
stets zu entziehen gewufst hat. In dieser Rucksicht verdient 
Caracciolo den höchsten Preis. Ober Mongitore urtheilt daher 
der Prinz von Scordiano, der übrigens dessen Bucher alle kennt 
und gebraucht, viel härter als der General Colletta. Der Letz- 
tere sagt: Dieses Auto- da- fe hat Antonio Mongitore in einem 
dicken Bande beschrieben, und seine ganze Erzählung wie seine 
Sentenzen beweisen, dafs er ein warmer Vertheidiger des Inqui- 
sitionsgerichts war. Dieser Mann, der als Schriftsteller, anderer 
Werke wegen, besonders aber wegen der sicilianischen Biblio- 
thek , viel Lob verdient, zeigt, dafs der wohlthätige Einflufs 
menschlicher Wissenschaft in seiner Seele den Vorurtheilen seiner 
Zeit und der Unduldsamkeit seines Standes weichen mufste. Er 
war Canonicus an der Domkirche. Der Prinz von Scordiano ur- 
theilt viel schärfer und richtiger S. 368 von ihm : Es sind von 
diesem betrübten Ereignifs zwei Beschreibungen vorhanden, die 
eine ist von Antonio Mongitore, der mit seiner Unge- 
heuern Gelehrsamkeit sehr viel Aberglauben und ei- 
nen völligen Mangel an Beurthci lungs kraf t verbindet 



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843 



P. Lansa, Princ. di Scordia, 



(che al vastissimo suo intelletto accoppia moltitsima superstizione 

e nessuna critica). Bef. bedauert , dafs er die Darstellung der 
inner» Verhältnisse nicht im Auszuge mittheilen kann, die Leser 
wurden mit ihm erkennen, dafs wir über die innere Geschichte 
•ehr weniger europäischen Staaten während des achtzehnten Jahr- 
hunderts so vollständige Nachrichten haben, als über Neapel , 
wenn man Colletta und Lanza zusammen vergleicht ; und wir 
möchten nicht entscheiden , wer von Beiden freimüthiger ist. 
Das fünfte Buch beginnt da, wo Colletta sein ganzes Werk be- 
gonnen bat, bei den Bourbons und Carls III. Regierung. Hier 
scheint uns, wenn wir Colletta vergleichen, die Freimuthigkeit 
des Prinzen nicht mehr so grofs wie vorher; er ergiefst sich in 
ein unbedingtes und unbestimmtes Lob. Er kann Carl III. nicht 
genug rühmen, dafs er nicht allein einen inalterabil rispetlo ge- 
habt habe, perle leggi fondamentali del Siciliano regno, das 
möchte hingehen , sondern auch per tutti i diritli e franchigie 
dei domini suoi; besonders kann er nicht Worte genug finden, 
lobend anzuerkennen , wie der König den Vorrang von Palermo 
vor allen Städten des Reichs bestätigt und anerkannt habe. Auf 
dieses Mongitore'scbe Lob können wir, um unsern Lesern zu zei- 
gen, wie sie den neapolitanischen Tacitus (den wir jedem, dem 
es mit der Geschichte Ernst ist, rathen, nocturna versare manu, 
versare diurna) als Correctiv jeder allgemeinen Declamation ge- 
brauchen sollen, am besten durch die Worte antworten, mit weU 
eben Colletta angiebt, an welchen Klippen Carls und seiner Mi- 
nister bester Wille nothwendig scheitern mufste. Es heifst lib. I, 
c. III. §. 3o; Non osö abattere i trovati errori, la feudalita, la 
nobilta, le pretensioni del clero, i privilegi delle cittä , erano 
intoppi altorno a quali si aggiravano i provedimenti per res Irin- 
gere o confinare i mali pubblici, che maggior sapienza o ardire 
avrebbe distrutti. Die Freude über die Krönung in Palermo, 
über die Heise des Königs in Sicilien , Ober die Feste und Ehren 
scheint den Verf. ganz aus seinem Gleise zu bringen, denn er 
verweilt bei diesen Dingen von S. 400 bis S. 424. Man mufs 
aber bedenken , dafs er für seine Landsleute schreibt und einen 
Botta, nicht einen Colletta ergänzt; das letztere möchte aller- 
dings schwer halten. So wenig übrigens hier an eine Manier 
und an eine classische Historiographie , wie sie sich bei Colletta 
zeigt, zu denken ist, so nötzlich wird das Buch denen seyn, die 
Material, nicht aber Lehre und Wissenschaft bei dem Historiker 
suchen, Übrigens wird ein denkender Forscher auch aus dem, 




aalla ttoria di Sicilia. 

s v» 

was der Verf. lobend von Carl III. erzählt, im Einzelnen bemer- 
ken können, auf welche Weise das sicilianische Parlament die 
Absichten des Königs, den geistlichen Mifsbrä'uchen zu steuern, 
schon seit 1738 forderte, und wie der Konig und seine Minister 
den ganz gesunkenen Handel wieder zu beleben suchten und des- 
wegen eine eigene Behörde schufen. S. 434 : Stabiii un supremo 
roagistrato di commercio indipendente al qual riferir dovevansi 
tutti i litigi che insorger pntevano da ogni maniera di economia. 
Der Prinz rühmt bei dieser Gelegenheit zum zweiten Mal, 
ich den Beifall irgend eines Verständigen haben 
dafs der König die Juden ausdrücklich in sein Reich rief. 
Es ist etwas ganz anderes, die Juden, die in einem Lande ge- 
boren sind, dulden und ihnen alle bürgerlichen Rechte geben, 
was billig und recht scheint, und wieder etwas anderes, aus- 
drücklich zum Schachern Juden ins Land rufen. Der Verf. 
dagegen, als er S. 436 angeführt hat, seine Landsleute hätten 
lieh beklagt, del facile accesso agli Ebrei aperto dalla providenza 
de) principe, ruft betrübt und unwillig aus; Vedi umana stol- 
tezza ! Uns scheint es , als wäre bei der Geschichte des lächer- 
lichen Rangstreits der Städte Messina und Palermo, bei der Wuth 
der Palermitaner , als in dem Tractat mit der Pforte Messina Ca- 
pitale genannt war, bei den Memorialen und gedruckten Schrif- 
ten darüber, kurz bei allen den Geschichten, die hier viele Sei- 
ten füllen, der Ausruf: Vedi umana stoltezza ! viel besser ange- 
bracht. Man kann in der That kaum etwas Lächerlicheres den- 
ken, als wenn der Verf. hier, nachdem er den Rangstreit be- 
richtet und die Schriften darüber angeführt hat , endlich noch 
hinzusetzen mufs : Dabei blieb es nicht bewenden , denn der Rath 
von Palermo machte noch 1749 eine sogenannte Consulta bekannt, 
worin er alle Usurpationen aufzählt, welche Messina bis dabin 
begangen habe, und endlich feierlich betheuert , der Anstand, die 
Ruhe, der Frieden des Landes fordere, dafs diesen Mifsbrä'uchen 
ein Ziel und ein Zügel gegeben würde. Der Verf. erklärt sich 
hernach sehr ernst und sehr würdig und ausführlich gegen diese 
Erbärmlichkeiten, die seinem Vaterlande so wesentlich geschadet 
hätten. Er sagt ausdrücklich; del cjuale malgrado la mia avver- 
sione mi e stato gioco forza riparlare. Dann fügt er hinzu, er 
wünsche wenigstens , dafs endlich die Eifersucht verschwinden 
ro5ge, welche jetzt schon seit vielen Jahrhunderten entbrannt, 
sich in tausend giftigen Formen gezeigt und alles das Gute zer- 
stört habe, welches das fruchtbare Sicilien hervorgebracht. Möch- 



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144 P. Laiisa, Prioc. di Scordia, 

ton, ruft er aas, die Zeitgenossen wenigstem lernen, diesen'un- 
seeligen Hafs zu verabscheuen, mochten sie aus dem Verderben, 
welches dieser angerichtet hat, das grofse Versehen unserer Vor- 
fahren erkennen, und einsehen lernen, wie weit sie von der wah- 
ren Liebe des Vaterlandes entfernt waren. Was von den Parla- 
menten, ordentlichen und ausserordentlichen, berichtet wird, ist 
nicht erfreulicher, als was wir aus jenen Zeiten von den soge- 
nannten Ständeversammlungen Deutschlands etwa berichten konn- 
ten. S. 449 honirot der Verf. auf die Geschichte der Pest in 
Messina um 1743, und verweilt mit Recht etwas länger dabei, 
weil er an der relazione storica des Francesco Testa eine ganz 
vortreffliche Quelle hatte. Der Verf. nämlich, nachdem er die 
berühmten Beschreibungen seiner italienischen Classiber , des 
Boccaccio von der Pest um i34&, des Macchiavelli von der Pest 
um 1527, und des Manzoni von der Pest in Mailand im Jahre 
i63o angeführt hat, setzt er hinzu: ebbero questc chiari ed elo- 
quenti sei ittori , certo , io diceva, narrator piu pulito e piü terso 
aver non potea questa di Messina del 1743 nella persona di Fran- 
cesco Testa uno di que' chiari ingegni che nel decorso secolo 
rallegrarono delle Inro dottrine questo beato suolo e divenire il 
fecero lumiera splendidissima di ogni maniera di letlere. Wir 
wollen eine Stelle mittheilen, welche uns den Zustand von Mes- 
sina zu der Zeit beschreibt, als die Pest einen hohen Grad er- 
reicht hatte. Das liebliche Messina, heifst es S. 4^7 , ward nun 
eine Schaubühne jedes betrübenden Aufzugs, und zwar besonders 
aus dem Grunde, weil man nicht sogleich die Verordnungen des 
Palermitanischcn Gesundheitsraths befolgt hatte, als dieser die 
Verbrennung der verdächtigen Waaten und die Aufhebung alles 
wechselseiligen Verkehrs verordnet hatte. Wir müssen hier näm- 
lich bemerken, was der Vf. erst S. 4^9 erzählt, dafs auch jetzt, 
und seihst während der Dauer der Pest die Eifersucht der beiden 
Hauptstädte und die Privilegien der Stadt Messina Ursache gro- 
fscr Übel wurden. Die Sanitätscommission (deputazione di 
sanitä) von Palermo war nicht für die ganze Insel gel» 
tende Behörde, sondern ihre Beschlüsse hatten in 
Messina nur die Kraft guter Rathschläge, nicht von Be- 
fehlen. Wir fahren fort die Beschreibung zu übersetzen : Da 
alle Thore von Messina geschlossen waren , so hüi te jeder Ver- 
kehr mit der Gegend umher auf , die Slrafsen waren mit Schlag- 
bäumen gespeirt, und selbst der Handel war ausdrücklich ver- 
boten. Alle Zusammenkünfte, von welcher Art sie auch immer 



«45 



mochten, waren untersagt; alle geistlichen and bürgerlichen 
Geschäfte and Übangen horten aaf; alle Kirchen, öffentlichen 
Gebäude, Bureaus waren geschlossen; die Straften lagen voller 
Todlen oder Personen, die ohne allen Trost den Geist aufgaben. 
Man sab oft die jugendliche Mutter, die durch die Krankheit schon 
Gatten, Eltern, Verwandte verloren hatte, ihren unmündigen 
Säugling mit giltiger Milch nähren und unter Zuckungen und 
Schluchzen und Schmerzen die Seele der Gottheit zurückgeben. 
Greise und abgelebte Alte starben verlassen, gleich dem Vieh des 
Feldes, nicht sowohl weil die Krankheit sie hinraffte, als aus 
Mangel an gehöriger Nahrung und Pflege; denn wir müssen he- 
merken, dafs niemand da war, der ihnen Nahrung hatte holen 
oder bereiten können. Schaaren von Pestkranken gingen gedrängt 
durch die Strafsen, so lange nur noch ein Hauch in ihnen war; 
sie zeigten dort ihre abgemagerten blafsgelben Gesichter, betäub, 
ten die Ohren mit ihrem Schreien und flehten doch vergeblich 



% um Hülfe und Nahrung. Wohin man auch immer gehen mochte, 
hörte man nur Heulen und Jammern und Klagen, selbst aus dem 
Innern der Häuser; eine Todtenblässe sah man auf allen Gesich- 
tern. Verwandte suchten einer den andern, aber das blühende 
Mädchen, die frische Kraut, der kräftige Jungling waren, wenn 
man sie wiederfand , zu faulenden , verpestenden und Tod ver- 
breitenden Leichen geworden, oder wenn sie noch athmeten, so 
waren sie von Zuckungen, von Fieberhitze und Wahnsinn und 
von heftigen Schmerzen so gequält, dafs sie, der Sprache be- 
raubt , nur auf die kranken Theile des Körpers , die blauen Mäler, 
die Pestbeulen, die geschwollenen Achselgruben und den ge- 
schwollenen Unterleib deuteten , welche weder die Kunst des Arz- 
tes noch die Kraft der Arzneimittel zu heilen vermochte. Jeden, 
der, ich will nicht sagen ein fühlendes, sondern nur ein mensch- 
liches Herz im ßusen hat, mufs eine so traurige und jammervolle 
Erzählung mit kaltem Schauer erfüllen (rabbrividire), und doch 
waren diese Übel bei weitem nicht Alles. Zum Mangel an die- 
nenden Personen , an Arbeitern und an Leuten zu den geringeren 
Geschäften, an welchen es fast ganz fehlte, weil sie entweder 
schon gestorben oder sterbend waren , kam der Mangel an Ärzten 
und an Dienern des Altars, weil die christliche Barmherzigkeit, 
mit welcher viele auf eine lobenswfirdige Weise Sterbenden den 
letzten Trost unserer Religion reichten , von ihnen selbst mit dem 
eignen Leben bezahlt ward. Endlich fehlten sogar die Todten- 
gräber, und die auf den Plätzen und Strafsen aufgetürmten Lei- 



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P. Lanta, Cootideraiioni sulla •toria dt SiciUa. 



chen , von Würmern zerfressen und von Hunden zerrissen, ver- 
pesteten die Luit noch viel ärger durch ihren unerträglichen Ge- 
stank. In diesem Zustande eines fortdauernden Sterbens und un- 
aufhörlicher Angst verflnfs der ganze Monat Juni, dann begann 
die grausige und todtliche Heftigheit der Krankheit nachzulassen.« 
Wir müssen es unsern Lesern überlassen, die Fortsetzung dieser 
Beschreibung bei dem Verf. selbst nachzulesen, nur wollen wir 
die Stelle anführen, wo sich das schreckliche Resultat findet. Es 
heilst S. 462: »Auf diese Weise nahm die Heftigkeit der Krank, 
heit, sowohl in Messina selbst als in den umliegenden kleinen 
Dorfern ab , und sie horte nach und nach ganz auf. Man fand 
nach einer Zählung, die Turriani machen liefs und Testa aufge- 
zeichnet hat, dafs in der Stadt und den erwähnten Dörfern 42663 
Personen das Leben verloren hatten. Am Schlüsse der Regie- 
rung Carls III. macht der Verf. dieser sicilianischen Geschichte 
vortreffliche Bemerkungen über die ganze Regierungsgeschichte 
dieses Königs. Er urt heilt über die grofsen Bauwerke zu Caserta 
und Maddaloni ungemein richtig und billig; ebenso über die Mi- 
nister Monteallegro, Fogliani; Tanucci, und man wird Vieles bei 
Colletta aus ihm ergänzen können. Sehr wohl gefallt uns der 
Ausdruck , dafs das Wort libertä eine enigmatica e misteriosa 
parola sey. Übrigens bedauern wir, dafs der Verf. Colletta nicht 
hat benutzen können. Man wird im Ganzen die Freimütbigkeit 
bewundern , mit welcher dieser sicilianische Prinz die innere Ge- 
schichte der Jahre 1760 — 1783 in einem in Palermo gedruckten 
Buche beschreibt; wir glauben schwerlich, dafs einer unter un- 
sern deutschen Grofsen die Geschichte des Staats, worin er lebt, 
auf diese Weise behandeln würde. Wir meinen, in Beziehung 
auf die Hauptsache, denn die von den Franzosen entlehnten Re- 
densaiten kommen hier freilich nicht vor. Um 1783 sagt er ganz 
richtig, Konig Ferdinand und dessen Gemahlin, die berühmte und 
berüchtigte Konigin Carolina (donna di animo grande, e che insin 
dal giorno del suo matrimonio non poco prevalse nelie regie con- 
sulte) hätten für ihre damaligen (wie wir uns ausdrücken würden) 
Josephiuischen Absichten , Caracciolo dem Samboca vorgezogen. 
Über Caracciolo urtheilt er sehr richtig : Caracciolo ministro non 
fu perö ne Caracciolo ministro nelle es/ranee corti , nc Caracciolo 
vicere di Sicdia , forse l'etä giä fatta avanzata in seguito di sua 
vita travagliata molto, in parte il suo spirito abbatuto avea. Er 
erklärt sich hernach noch naher über seine Ansichten von Feu- 
dalität und Aufklärung, bricht aber plötzlich ab, wo der Boden 



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unter ihm glatt und schlüpfrig zu werden anfängt Ref. hofft, 
dafs die Leser ans seiner Anzeige sehen werden, dafs dieses si- 
cilianische historische Werk weder eine Compilation noch eine 
breite and zierlich seyn sollende Rede über Geschichte, wie fast 
alle italienischen Geschichten seit Muratori, sondern ein britisches, 
nützliches, brauchbares Buch ohne Weitschweifigkeit ist. *) 

Schlosser. 



Die allgemeinsten Gesetze der sphärischen Polygonomctrie , und die allge- 
meinsten Gleichungen der gauchen Polygone. Entdeckt und dargeutellt 
von Dr. Anton Müller. Heidelberg, Druck und Verlag von Karl 
Grooe, 1830. 4. U und 137 & 

Der Zweck der Mathematik verlangt , dafs jede ihrer Partien 
in möglich gröfster Vollständigkeit entwickelt sey; nur so gewährt 
sie dem mit ihr Vertrauten die hinlänglichen Mittel, um uberall, 
wo in der Natur oder im Leben sich Fragen darbieten mögen, 
leicht und logisch sicher die 'passenden Antworten zu cruiren. 
Zwar konnte es scheinen, als ob für die Bedürfnisse der Praxis 
schon Einzelnheiten aus einzelnen Partien genügten; allein es ist 
doch wohl nicht zu läugnen , dafs dieser oder jener Zweig der 
Praxis seine Bedurfnisse als Maasstab der Forderungen, welche 
an die speculative Mathematik gestellt werden können, nicht gel- 
tend machen kann, indem der Erkenntnifs- Erwerb sich in gar 
mannichfachen , und auch in solchen Regionen bewegt , welche 
über dem Gesichtskreis sehr vieler Menseben liegen ; und dann 
wird wohl nicht in Abrede zu stellen seyn, dafs man just nur so 
viel gebraucht oder anwendet, als zur Verfügung steht, selbst 
wenn man sich behellen müTste. Wie gut aber die Menschheit 
sich aufs Behelfen versteht , zeigt die Geschichte , wie jeder an. 
deren Wissenschaft, so auch der Mathematik und ihrer Anwen- 
dung. Man sehe z. B. nur die Astronomie an. Lange befriedigte 
die Ptolomniscbe Epicykel- Voraussetzung; Copernicus verbreitete 



•) Ref. .beeilt »ich, nachträglich einen Irrthani zu berichtigen, auf 
welohen ihn Herr van Kampln aufmerksam gemacht hat. S. 6 un- 
ten , im Janoarhf ft die«. Jahrbb. , wo die Markisate Breda und Dicat 
als eingebracht dem Prinzen tou Oranien durch seine erste Gemah- 
lin beseichnet werden , indem Breda schon 1404 durch die Hrirath 
Engelberte L, Grafen von Nassau, mit Johanna, der Erbtochter 
Johanns von Polanen, an das Nassauische Haus kam, Dlest aber 
nicht später ols 145^0» 



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848 Malier;: die Gesetze der sphärischen PolyRonomctrie. 

durch seine immerhin beschrankte Annahme für die Menschen 
ein Licht, das gewissen Leuten sogar gefahrlich schien ; Keppler't 
Entdeckung endlich, dafs die Bewegung der Planeten in Ellipsen 
stattfinde, steht bekanntlich bis auf den heutigen Tag fest, ob* 
gleich der Satz, bei der Anwendung des Newton'schen Gravita- 
tionsgesetzes auf das Planetensystem, sich als unwahr erweist; 
man benutzt die Keppler'sche Entdeckung als Anlehnpunkt, gleich- 
sam als Normalzustand, nimmt sodann seine Zuflucht zu Abwei- 
chungen oder Störungen , und verwendet schon seit einem Jahr- 
hundert das Ungeheuerste an Talent , Fleifs und Zeit , um diese 
Abweichungen zu bestimmen. Nun dürften die Intelligenteren 
zwar wohl wissen, dafs es, scientivisch , schlechthin absurd ist, 
Ausnahmen von Regeln, Abweichungen von Normalzuständen zu 
statuiren — in der Natur sind nur giofse fort- und ineinander- 
laufende Gesetze — ; man nimmt aber dennoch zu dergleichen 
Dingen seine Zuflucht, weil der Vorrath an Hülfsmitteln nicht 
mehr darbietet. Es .fehlt, für die Astronomie, an Partien der 
höheren Analysis und der Geometrie , freilich aber auch zu deren 
Fort- und Durchbildung an gar mancherlei Mitteln. 

Wie in der Astronomie, so sieht es mehr oder weniger auch 
in anderen Theilen aus. 

Sieht man die Sachen so an, so dürfte es nicht blos nicht 
überflüssig, sondern sogar sehr nothig erscheinen, dafs die ein- 
zelnen Partien nach allen Seiten und Richtungen hin aufs voll- 
ständigste entwickelt und durchgeführt werden. 

Diese Bemerkungen auszusprechen , halte ich für zweck- 
mässig, weil sie den allgemeinen Standpunkt, von welchem aus 
ich meine Arbeiten angesehen wünsche, und zugleich den Maas- 
stab anzugeben geeignet sind , nach welchem die Forderungen 
hinsichtlich der Vollständigkeit zu reguliren seyn durften. 

Bei der vorliegenden Arbeit kam es auf zweierlei an : die 
Gleichungen zwischen den Elementen sphärischer und gaucher 
Polygone zu entwickeln, zugleich aber auch die Mittel herbeizu- 
schaffen , durch deren Zuziehung es muglich wird , jene Glei- 
chungen so , wie es die Zwecke der Wissenschaft erfordern , zu 
fixiren. Es ist nicht schwer, sich, zu uberzeugen, dafs es rein 
unmöglich ist, den Zusammenhang zwischen den Elementen eines 
sphärischen Polygons von n Ebenen, oder eines gauchen Poly- 
gons Von n Seiten, auszudrucken, wenn man keine anderweitige 
Hülfe hat, als die vorhandene Mathematik gewährt: die Aus- 
drücke wachsen beim Fortgange ins Unübersehbare, und beste- 



Müller : die Gesetze der sphärischen Folygonoraetrie. 34!) 



hen dabei aus solchen Producten und vielfach ineinander ver- 
schlungenen Produclenreihen, dafs es vergebliche Muhe ist, diese 
prolixen Dinge durch die bekannten Hülfsmittcl der Analysis in 
kurzen Ausdrucken festhalten zu wollen. 

Deshalb mufste vor allen Dingen auf die Einfuhrung zweck, 
mäfsiger Functionen , als die conditio sine qua non , Bedacht ge- 
nommen werden. Bei näherer Überlegung bieten sich in dieser 
Beziehung zunächst folgende Bemerkungen dar. 

Wenn 

a, a a a s . . . . a„ (a) 
die Ebenen - Winkel , und 

(ai , a a ) (a,, a 3 ) (a n , a,) (ß) 

die Neigungswinkel eines sphärischen Polygons bezeichnen , und 
wenn aus diesen zwei Reihen folgende dritte 

ai (a h a s ) a s (a t , a s ) (7) - 

gebildet wird, so kann eine Function sich beziehen entweder 
auf nach einander folgende Glieder der Reihe (a) oder ((3), oder 
auf Glieder der Reihe (7). 

Im Falle eine Function auf Glieder der Reihe (7) sich be- 
zieht, so ist wieder zweierlei möglich: die Anzahl der Glie- 
der , auf welche die Functionsweise sich erstreckt , ist entweder 
gerade oder ungerade. 

Diese Bemerkungen sind festgehalten, und darnach drei 
Fonctionsweisen unterschieden worden : 

eine Functionsweise, welche auf Glieder der Reihe (a) oder 

4 (ß) sich bezieht, 
eine Functions« eise, welche eine ungerade Anzahl Glieder der 
Reihe (7) , und 

eine Functionsweise , welche eine gerade Anzahl Glieder der 
Reihe (7) umfafst. 

9 Die für diese Functionsweisen gewählten Zeichen [ und Aus- 
drucksweisen sind: 

5 [ai a, a s a m ] 

9> [ai (ai , a a ) a m (a m , a«, t ,) a m t , ] 

g [a! (a! , ai) a DI (a n , a,,, t , ) ] 

Die Function £ bezieht sich auf die Glieder der Reihe (a) oder 
(0); die Function *p auf eine ungerade, und g auf eine gerade 
Anzahl Glieder der Reihe (7). 

Zur Fixirung der Eigenschaften, welche den Functionen 2 
zukommen sollen , ist der allgemeine Satz 



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SSO Müller: die Gesetze der «pliärischen Polviroaoinetrie. 



8 |>i a, a, a„, t J e= 

sb g[i x aa • • • a«-, 90° + a.] . t[a*tt}i 
and als Ausgangspunct im Besonderen der Satz 

§ [a,] = sin. ai 

aufgestellt. Der letztere Satz ist zur Abkürzung gewählt) eigent- 
lich sollte statt seiner festgesetzt seyn 

S [o] aa o 

e [a.]* + « [90° + *]■ =^ 1 ; 

es schien aber solchen Lesern gegenüber, für welche die Schrift 
bestimmt ist, passender, durch den einen Satz die ganze Reihe 
von Eigenschaften anzudeuten, welche, den letzten zwei Sätzen 
gemäfs, der Function £, im Falle sie nur auf einen Winkel sich 
bezieht, zukommen, als diese Eigenschaften noch besonders ab- 
zuleiten. 

Diesen Feststellungen gemaTs hat die Function V, wenn sie 
nur auf einen Winkel sich bezieht, alle Eigenschaften von sinus 
und cosinus, und wenn sie auf mehrere Winkel sich erstreckt, 
so bezeichnet sie ein Product von so vielen Factoren, als Winkel 
da sind, und jeder der Factoren ist wieder eine Function $. 

Damit der Umfang und die Zweckmäßigkeit des für die 
Function S aufgestellten Begriffs bestimmter hervortrete, werde 
angenommen, es seyen b, b 2 b s . . . . irgend welche Winkel, 
und es sey das Gemeinsame folgender Producte zu fniren : 
sin. b] , 

cos. bj . sin. b s , 

cos. b, . cos. ba . sin. bs , 

cos. b, . cos. b s . cos. bj . sin. b« , 



Dieser Forderung genügt vollständig die Aufstellung des Ausdrucks 

^ [bi b 2 . . . . b, t , ] , 
indem die vorstehenden Producte der Reihe nach sich ergeben, 
wenn in diesem Ausdrucke s = o, 1,2,... gesetzt wird. 

Soll gleicher Weise durch einen einzigen Ausdruck das Bil- 
dungsgesetz der Producte 
— cos. b, , 
sin. bi . sin. bi , 
sin. bi . cos. b% . sin. bs , 

festgehalten werden, so wird der Zweck durch den Gebrauch 
des Ausdrucks 

S[>70 0 + b, b, b, . . . b ifl ] 



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Maller: die Gesetze der sphärischen Poljgonometrie. 851 

erreicht , indem die genannten Producte anmittelbar entstehen , 
wenn in diesem Ausdrucke s = o, 1, 2, . . . gesetzt wird. 

Es ist wohl nicht in Abrede zu stellen, dafs die Einfuhrung 
der Function £ deshalb, weil mittels ihrer eine grofse Mannig. 
faltigkeit von Producten nicht aliein fixirt, sondern auch einem 
einzigen Bildungsgesetze unterworfen werden können, ein Ge- 
winn ist Der Gewinn wird aber noch bedeutend grofser, wenn 
man sich dazu entschliefst , die Functionen sinus und cosinus völ- 
lig zu verabschieden, und lediglich die Function £ zu gebrau- 
chen; man hat alsdann bei Deductionen , welche auf Producte 
fuhren, wie die vorhin angemerkten sind, sogleich das ganz ein- 
fache Gesetz, und man ist nicht genothigt, dem Gedä'chtmTs eine 
Mannigfaltigkeit aufzuladen, welche lediglich dadurch Bestand hat, 
dafs man den zu engen und deshalb unzweckmafsigen Begriff von 
sinus oder cosinus aufnimmt. 

mg 

Möge diese Bemerkung einer weiteren Überlegung wertb ge- 
achtet werden ! 

Cm das Eigentümliche der Functionen s ]) und g festzustel- 
len, sind die allgemeinen Satze 

*P Oi (ai , ai) . . . a, (a,, a, tl ) a 1+ ,] = 

= 9> [ai (a, , a,) a,., (a._, , a.) 90 0 + a;] 

.9>[a.t.] 

+ 8 t a > ( a i 1 a >) «• ( a « 1 a »t«)l 

. 9>0 7 o° + a <tl ] 

8 [ a i («ii «1) «it. («itn a «t»)] = 

= 8 f a i («ii «s) «. 2 7°° + ( a .i Mi)] 

.» [i8o°— (i itM a. t ,)] 

+ V [ a i ( a i 1 «i) «. («11 «»t») «»!■] 

. <P [45o°— (a. t( , a, t ,)] 
und ausser diesen noch die besonderen Sätze 
<P [a,] = Sin. a, 

% [•• (•. , a,)] = »[t,] . $[450" — (a, , .,)] 
angenommen. 

Hier ist ebenfalls nur der Kürze wegen der Satz <p[a,] = sin. a, 
statt der zwei 

V [o] = o 
V [«.?+?> [90°+««? = 1 

gewählt 

Aus diesen Annahmen ist nun eine bedeutende Reihe von 
Eigenschaften abgeleitet, die den Functionen ^> und g zukom- 
men j es sind vorerst die bemerkenswerthesten , und für den wei- 



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Müller: die Geaetse der suhärischen Polvtronomctrio. 



teren Fortgang unmittelbar noth wendige» aufgenommen, und an- 
dere ubergangen, viele vielleicht auch übersehen. Unter den ab- 
geleiteten Sätzen sind, mit andern, besonders jene merkwürdig, 
in welchen die Darstellung der Functionen $ und g durch die 
Elementar- Function £ ausgedruckt ist. 

Um bemerkbar zu machen, wie der obige allgemeine Satz, 
worin eine Eigentümlichkeit der Function »p ausgedruckt ist, 
zu Bekanntem steht, werde der besondere Fall s=i gewählt, 
für welchen ist: 

f [ ai (a, , ai) aj = [900 + a,] . [a,] 

+ g[ ai (a x ,a,] *9l*JO*+**l 
oder, wenn die Function g[ ai (a 2 , a t )] nach dem Obigen ersetzt 
wird : 

9>[ai («i , a») at] = <P[9<>°+ a,l . ty[a*] 

+ V[ai] • M45o°-(a, , a,)] . W^+a,] 
Nun ist bekanntlich wahr, dal*, wenn in einem sphärischen 
Polygone der Neigungswinkel zweier auf einander folgender Flä- 
chen = 180 0 wird, die zwei anliegenden Ebenenwinkel einen ein- 
zigen bilden, welcher durch die Summe derselben ausgedrückt 
wird. Wenn also in dem vorstehenden Satze (ai , a t ) = 180 0 ge- 
setzt wird , so geht die Winkelreihe a, (a t , a 2 ) a 2 in den einzi- 
gen W 7 inkel ai -f a*, und der Satz (X), nachdem ^[270°] = — 1 
gesetzt ist, in folgenden über 

y [ fll + a,] = 9) [90- + a,] . $ [a,] 

welcher in anderer Gestalt der bekannte Satz 

sin. (a, -f Bt) = COS. n, . sin. a, + sin. a t . COS. a 2 
ist. Wird in (X) (ai , a 2 ) = 180 0 , und zugleich 90° + a t statt 
01 gesetzt, so ergiebt sich der bekannte Satz 

cos. (ai -f* a i) — cos. a, . cos. a 3 — sin. ai . sin. a* 
Diese Andeutung bekannter Sätze, welche in dem erwähn- 
ten allgemeinen Satze als specielle Fälle enthalten sind, mag we- 
nigstens zu einiger Erläuterung dienen. 

(Der Beuchlufs folgt.) 



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N°. 23. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Müller: die Gesetze der sphärischen Polygonvmetrie. 

(Beschluft.) 

Die Aasdrücke anlangend, welche durch die Functionen 9> 
and g vertreten werden, so läfst sich ein Überblick nicht wohl 
geben. Jedoch mögen einige Beispiele hier eine Stelle finden. 

Wenn in dem Satze (X), auf der rechten Seite, sin, statt <P 
gesetzt wird , so entsteht : 

9>[ai (a, , a a ) a a ] = cos. a t . sin. a* 

— sin. a t . cos. (ai , a 2 ) . COS. a* 
Ebenso ergiebt sich aus (X), dafs 

9>[ a i (a, , a 2 ) 90°+ a a ] = cos. aa . cos. a» 

+ sin. a, . cos. (a, , a 2 ) • sin. a a 

and 

9[ 2 7°°+ a i ( fl i 9 & >) a i] = sin - a i * si [1 - a * 

-f. COS. a ] . COS. (ai , a a ) . COS. 8i 

Die Ausdrucke auf der rechten Seite in den letzten drei 
Sätzen wird man als alte Bekannte begrufseo. Ihrer grofsen Ver- 
schiedenheit ungeachtet sind sie einem Bildungsgesetze unter- 
worfen, und was noch mehr ist, mittels der Function s ]> kann 
jeder derselben als ein Glied einer ins Unendliche fortgehenden 
Reihe aufgefafst werden, deren Bildungsgesetz das der Function 
9> ist. 

Nach den obigen Feststellungen ist ferner, wie man leicht 
finden kann : 

g [a, (ai , a 2 )] es sin. ai . cos. (a s , a a ) 
% [a x 270°+ (ai , a a )] = sin. a 2 . sin. (a! , a a ) 
% 1^70°+ ai (a! , a a )j = — cos. a, . cos. (a, , a a ) 
und 

g [ai (a, , a,) a 3 (a* , a 8 )] = cos. ai . cos. a t . cos. (a a , a s ) 

-f sin. a t . sin. (a x , a 2 ) . Sin. (a 2 , a$) 

— sin. a ! . cos. (a ! , a 2 ) . cos. a a . cos.(a 2 , as) 

SI a 1 ( a ii a ») a a 2 7°° + ( a >t a s)] = cos. a 1 . cos. a 2 . sin. (a a , as) 

— sin. a i . si n.(a 1 , a 2 ) . C0S.(a 2 , as) 

— sin a! . cos(a! , a a ) . cos. a a . sin(a 2 , a s ) 
g[270 0 +a 1 (a, , a a ) a a (a a , a s )] = sin. a, . cos. a a . cos. (a a , a 3 ) 

— cos.ai .8in.(ai,a a .sin.(a a ,as) 

4. cos. a A . cos.(a lf a a ) . cos. a a . cos.(a 2 , a s ) 
XXX. Jahrg. 4. Heft. 23 



854 Möller : die 

Pia Ausdrucke auf der rechten Seite in den ersten drei die- 
ser Sätze sind dem Leser ans der sphärischen Trigonometrie be- 
kannt; desto interessanter durfte es seyn, ihre Verwandtschaft 
unter einander sowohl , als mit unzählig vielen anderen Ausdrucken 
hier durch ein einfaches Mittel festgehalten zu sehen. 

Ausser den bisher betrachteten Functionen £ <P g sind noch 
Tier andere % M eingeführt, über deren Beschaffenheit in 
Kürze etwas anzugeben jedoch unthunlicb ist 

Nachdem durch die Theorie der eingeführten Functionen die 
Mittel gewonnen waren, die Gleichungen zwischen den Winkeln 
eines sphärischen Polygons von n Flächen auszudrücken, so ist 
die Ableitung dieser Gleichungen als Gegenstand der Aufgabe 
vorgenommen worden. Hierbei kam es wesentlich darauf an, 
nicht allein Gleichungen überhaupt, sondern sogleich alle mög- 
lichen Grundgleichungen aus einer gemeinschaftlichen Quelle her- 
zuholen. Und der Leser dürfte leicht die Überzeugung erhalten, 
dafs keine Täuschung unterläuft, wenn behauptet wird, dafs die 
Auffindung aller Grundgleichungen gelungen sey. Das Resultat 
der Untersuchung ist kürzlich folgendes. 

Die verschiedenen Grundgleichungen, welche möglicherweise 
zwischen den Winkeln eines sphärischen Polygons statthaben kön- 
nen, zerfallen nach geraeinsamen Prädicaten der Bildung ihrer 
Bestandt hole in sieben Systeme, und das Bildungsgesetz für alle 
Gleichungen eines jeden Systemes ist in einem Norm- Satze 
fizirbar. Die sieben Norm-Gleichungen , welche hiernach 
Stattfinden müssen, sind folgende: 

% [170° + a! (a x , a a ) . . . . a, (a, , a. t ,)] == ) , * 

= g[270°+a, t , (M-, «.tO • • • a - ( a - a *)l ) 
q>[Q70°+a 1 (a 1 ,a 1 )...a l (a„ a, t ,)a. t ,]=: ) , v 

=9>[45oo-(a. t , , a. t ,) i8o°-a. t , ... i8o°-(a„ a^] J w 

|> [270°+a, (a A , a*)... a,., (a,_ a , a.) Q0 o +aJ ss ) 

= Sf a «t« ( a »t>» a *t») • • • a « ( a »> a *)] » 
g[27P°+a J (a 4 ,Bi)...#.a70 e 4.(a. 1 a, t ,)] ) /..n 

= 9>[«8o°-(a itl , M 0...i8o°-(a B ,a 1 )] ] 1 " 

$ [*i (ai y es) . . . a_, (a.. t , aj 90°+ a,] =a > ( * 

^9>Kti(MMa.t.)...9 0O + an ] ) 
»[i8o # — (aMaiXiSu 0 — e*...«70 Ä — (s < ,a. tl )]= ) ( * 

m W^8o°^(a. t ,, a, + ,)i8o <, -.a Ät ,..» 7 e 0 -( a -t a i)] $ 
g[a 1 t>,,a,)...a.a7O 0 +(a, f a. tl )]s= ; ) { v 

«=8[»Bo^(a. tl1 a. t ,)...45o--a.] $ v f| 



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Müller : die Geselle der Sphärischen PolygoDoroetrie. 366 

Die einzelnen verschiedenen Grundgleichungen ergeben sich 
dadurch, dafs in diesen Normgleichungen sso,i,i,,|,, ge- 
setzt wird. 

Einer näheren Ansicht bietet sich dar, dafs die Gleichungen 
(«i) und (coj), jede, alte sn Winke), die Gleichungen («») und 
(*<) jede nur an — i Winkel, nnd von den Gleichungen (©,) 
(*•) (**t) jede nur an — a Winkel des Polygons enthält 

In (a>i) und (a>,) sind die in Winket so vertheilt, dafs in 
der einen Gleichung auf jeder Seite eine gerade Anzahl Winket, 
in der anderen aber auf jeder Seite eine ungerade Anzahl Win» 
he! vorkommt; eine weitere Yertheilungsweise ist nicht möglich. 

Desgleichen sind in (o s ) und (o 4 ) für an — 1 Winkel, und 
in («*) (o 0 ) K) für an- 3 Winkel die möglichen Weisen del 
Vorkommens enthalten. 

Wird zu diesem Allgemeinen noch das gefugt, was die ein- 
zelnen Gleichungen der sieben Systeme darbieten , so ergiebt sich, 
dafs kein weiterer Fall denkbar ist, der nicht in den aufgestellten 
Sätzen enthalten wäre. 

Die Zahl der einzelnen verschiedenen Grundgleichungen ist 
bei jedem Polygone grofs. Wenn n=2m+i ist, so ist die ge- 
nannte Anzahl = 10. (m-p-i) — 1, und wenn n = ara-}-2 ist, so 
ist diese Anzahl =3 10. (m+ i) + 5. Darnach finden statt 
für ein sphärisches Dreieck 19 Grundgleichungen 
» » » Viereck a5 » 

9 » » Fünfeck 39 » 

U. 8. W. 

Die u) Gleichungen für das sphärische Dreieck sind in der 
Schrift besonders aufgeführt. Dabei bot sich eine Gelegenheit 
dar, eine neue Ableitungsart der Gaustischen Gleichungen anzu- 
zeigen. Wenn nämlich in der gewöhnlichen Bezeichnung a b c 
die Seiten, und ABC die gegenüberstehenden Winkel eines sphä- 
rischen Dreiecks bedeuten, so finden folgende drei Gleichungen 
statt* 

cos. a cos. b + sin. a cos. C sin. b = cos. c 

sin« a sin. b + Cos. a cos. C cos. b = sin. A sin. B 

— cos. A cos. c cos. B 
— cos. C es cos. A cos. B — sin. A cos. c sin. B 

Werden diese Gleichungen durch Addition verbunden, und 
wird jedes Resultat yon 1 subtrahirt, so ergiebt sich zunächst: 

(1— cos.(a— b)) . (i+cosX) = (i — cos.(A — B)) . (1— cos.c) 



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*$6 Müller : die Gesetze der sphärischen Polygone raetric. 

and hieraas folgt: 

a— b C . A — B . c 
sin. . cos. — = sin. . sin. - 

2 2 2 2 

Wie diese eine, so können auch die drei übrigen GaussU 
sehen Gleichungen aas den obigen drei Sätzen abgeleitet werden. 

Wenn dies für Freunde neuer ona einfacher Beweise inter- 
essant ist, so ist auch bemerkenswert!! , dafs neben den erwähnten 
Gaussischen Gleichungen noch eine ganze Schaar anderer bildbar 
ist, mit denen jene theilweise in Systeme gebracht, und auf diese 
Weise einem allgemeinen Bildungsgesetze unterworfen werden. 
Das Interesse an dem Besonderen dürfte freilich durch den Um- 
stand gemindert werden, dafs das eben Ausgesprochene eine spe- 
ciale Folge aus den allgemeinen Sätzen ist, welche im weiteren 
Fortgange der Schrift für Polygone von n Flächen entwickelt 
werden. 

Hinsichtlich der gauchen Polygone ist gefunden: die an 
Winkel eines gauchen Polygons von n Seiten können als die Win- 
kel eines sphärischen Polygons betrachtet werden, deshalb finden 
zwischen denselben die sieben Sätze (©i) — (w 7 ) statt. 

Für den Zusammenhang zwischen den Seiten und Winkeln 
eines gauchen Polygons ergeben sich vier Grundgleichungeo. 
Sind Bj Bs, B s B» , . . . ., B„ iBi die Seiten, ferner b, b 2 b, ... 
b D die äusseren Winkel , und (i , b 2 ) (b 2 , b s ) .... die Neigungs- 
winkel eines gauchen Polygons, so sind die Grundgleichungeo: 
o = B n Bx + 2, B r B rt ..$[b 1 (b 1 ,b a )...oo° + b r ] 
o ob 2 r B r B r+f . 9>[*70*+bi(bi f l>s) . .. oo°+b r ] 
o sa Z, B r B rt , . g[i8o°— (b a , bi) 180°—^ . . . 45o°— b r ] 
o ss 2, B r B rt , . g[45o°— (b°, bO i8o°— b! . . . 45o°— b r ] 

r = i,2,3,.... n — i 
Mit der Angabe dieser Gleichungen, and der Ableitung der 
zwei speciellen Sätze, welche hieraus für ebene Polygone folgen, 
schliefse ich die Schrift, die weitere Verfolgung des Gegenstan- 
des künftigen Zeiten überlassend , und der Theilnahme des ma- 
thematischen Publikums, welchem die Schrift hiermit empfohlen 
sey ! 

A. Müller. 



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Schlüter : die Lehre des Spinoza. 857 

* 

Die Lehre des Spinoza in ihren Hauptmomenten geprüft und dargestellt 
von L. B. Schlüter, Privatdocenten der Philosophie tu Münster. 
Münster, bei TheUsing. 1836. 

£3 ist bekannt, dafs eine Reibe der ausgezeichnetsten Man. 
ner in Deutschland, Philosophen und Dichter, das System Spi. 
noza's bewunderten, bald dessen Einheit und strenge Consequenz, 
bald die Kühnheit der intellectuellen Anschauung, bald die innig* 
ste Seelenruhe und Klarheit , bald die Hoheit und Reinheit seiner 
Moral hervorhoben. Wir dürfen nur an die Namen Herder, 
Lessing , Hegel und Göthe erinnern. Unser grofser deutscher Dich- 
ter, Göthe, sagt*): »ich erinnere mich noch gar wohl, welche 
Beruhigung über mich gekommen, als ich einst die nachgelasse- 
nen Werke jenes merkwürdigen Mannes dnrchblatterL Ich ergab 
mich dieser Leetüre und glaubte die Welt niemals so deutlich 
erblickt zu haben.« Göthe giebt nun Rechenschaft über diese 
Wirkung und eine eben so tiefe als interessante Erklärung über 
seinen innern Vorgang und den Zusammenbang seiner Weltbe- 
trachtung mit der Spinozas. 

Der geistvolle Verfasser vorliegender, sehr interessanten 
Schrift gesteht ebenfalls die grofse und mächtige Anregung, die 
ihm durch Spinoza geworden sey, ja er sieht in dem System die-, 
ses Mannes ein Analogon oder eine obwohl umnebelte Anticipa- 
tion der wahren und allein befriedigenden Wissenschaft, wiewohl 
ihn aber auch der Gedanke anwandelte, ein guter und ein böser 
Genius müfsten einen unbegreiflichen Bund beschworen haben , 
gemeinsam diesen Philosophen zu begeistern, dafs in ihm sich 
Tod und Leben fast onuntersebeidbar menge, und durch einen 
Apfel der Erkenntnifs des Guten und Bösen noch einmal die 
Menschheit zu locken mit der Verheifsung : » ihr werdet seyn wie 
die Götter.« 

Diese Schrift wünscht den Briefen über die Lehre des Spi- 
noza von Jacobi ergänzend und rectificirend an die Seite zu tre- 
ten. Die Ergänzung soll in der Genesis und Begründung des 
Systems, dessen Darstellung Jacobi im Wesentlichen richtig ge- 
geben habe , bestehen. Die Rectification zielt auf die Vernich- 
tung vornehmlich dreier in jener Darstellung Jacobi's mehr oder 
minder sich zeigender und durch dasselbe verbreiteter Vorurtheile, 
and zwar erstens, dafs die Gottesidee Spinozas etwas Erhabenes 
und Grofses und zugleich mindestens den Verstand tief befriedi- 
gendes, zweitens, dafs das System seine Azionen und DeGnitionen 

•) Gothc'e Werke , 48a tcr Band , S. 9 ff. 



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Schlüter: die Lehre det Spinoza. 



einmal zugestanden, ein Mutter vor Consequenz und Alles er«. 

schöpfender Beweisführung sey, und endlich dafs et ohne will« 
kuhrliche Voraussetzung sey. 

Der Verf. macht vor Allem darauf aufmerksam , dafs Spinoza 
die Realität aut der Idee in der Weise herleite, dafs er, wie 
Sendling, die Wahrheit selbst alt etwas Secundäret und aut je« 
ner primären Quelle der Gewifsbeit hervorgehend betrachte, daft 
aber in dieter Methode noch nie ein Philosoph bit zum Ende 
fortgeschritten sey , selbst Hegel nicht. 

Diese Bemerkung ist wichtig, und et wäre zu wünschen, 
daft sie weiter entwickelt worden wäre. Denn auf diesem Prin- 
cip ruht die ganze neuere Philosophie , welche sich im Gegensatz 
eu der togenannten Reflexionsphilosophie die speculati ve nennt. 
Wenn dieses Princip wirklich ganz erkannt ist, wird tich ein 
Wendepunkt in der ganzen neueren Philosophie ergeben, wel- 
cher aus dem Pantheismus in all seinen Formen hinausfuhrt. 

S. 4. 5. 86 heifst es: »es unterliegt keinem Zweifel, daft 
Spinoza die Idee der Quantität als eine und dieselbe mit der too 
der absoluten Substanz betrachtet, so daft er die sogenannte un- 
endliche Quantität telbtt, wiefern tie unter der Gestalt der kör- 
perlichen Autdehnung aufgefafst wird , als die unendliche Ausdell* 
nung, in wiefern aber unter dem Attribut det Denkens, als das 
unendliche Denken, ansah, welche vereint das Wesen der un- 
endlichen Substanz oder das Wesen Gottes gleichsam constituiren. 
Diese Vorstellung der unendlichen Quantität ist aber nichts an« 
dert , alt jene apriorische Form der Sinnesanschauung det Raums, 
wie tie Kant nennt, und die schon Cartesius sich als substantiell 
vorstellte und hypostasirte. In diesem Raum, nemlich in der 
Anschauung der endlosen Quantität, baut unser Philosoph seine 
ganze intuitive Philosophie auf, wie ein Mathematiker, und scheint 
Alles aus dieser Anschauung abgeleitete als tbeünehmend an der 
ewigen Wesenheit Gottes zu erfassen , und ebenso die Dinge nur 
unter einem gewissen Schein von Ewigkeit zu betrachten , inwie- 
fern sie nemlich in der unendlichen Ausdehnung oder dem Räume, 
enthalten und zugleich mit der ewigen und unendlichen Idee yoo 
jenem dem Denken vergegenwärtigt sich vorstellt. Das tichertte 
Mittel, das Leben zu tödten, den Tod auf den Thron zu setzen, 
ist, alles Qualitative auf Quantitatives zurückzuführen. Alle 
atheistische Physik , Ethik , Ästhetik und Politik , aller Leben läng, 
nender Materialismus und Mechanismus oder Nihilismus setzt jenet 
Verfahren durch einen Verstand , der tich künstlich wahrhaft von 



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Schlüter : die Lehre des SpieoM. U» 

i 

Sinnen bringt, zum Voraas. Aach Jacobi sah dieses wohl ein 
und hat in seinen Briefen über die Lehre Spinoza 's jene unver- 
äusserliche Bedeutsamkeit des Qualitativen bereits hervorgehoben, 
ohne deren Vernachlässigung kein französischer Materialismus und 
Albeismus, kein pantheistischer Irrthum eines Spinoza im Realis- 
mus, noch eines Fichte im Idealismus möglich gewesen wäre, 
welche sämmtlich wenigstens drei Gebiete durchaus verschiedener 
Qualitätsgattungen auf eins reduciren , und ohne innern , äus- 
sern und höhern Sinn zugleich nur denkend die Welt construi- 
ren und machen , nichts aber Gegebenes von oben , von aussen 
und von innen annehmen, empfindend, schauend, anerkennend 
und verstehend begreifen wollen.« 

Ich habe diese ganze Stelle hier angeführt, weil sie einen 
so wichtigen Gegenstand bespricht, und mit dem zunächst vor- 
her aus dem Verf. Angeführten in dem engsten Zusammenhange 
steht. In der That berührt Schlüter in den zwei Stellen den 
Grundirrthum der neuern Philosophie in seinem tiefsten Herz- 
punkte. Die Schonungslosigkeit, mit der er ihr ins Herz greift, 
wird ihn freilich bei den Anhängern dieser Irrthumer übel em- 
pfehlen. Die Wahrheit, welche hier vom Verf. ausgesprochen 
ist, besteht darin, dafs die neuere Philosophie den subjectivea 
und objeotiven menschlichen Geist verabsolutirt hat. Sie ging 
mit Cartesius von dem sich selbst gewissen Geist als die sub- 
jektive Voraussetzung alles Denkens und Erkennens ans, und 
machte in Fichte die subjective Selbstgewifsheit zum Princip der 
Wahrheit, ging dann aber zum objectiven Wesen des Geistes 
über, und machte dieses abermals zur absoluten Wahrheit selbst 
Wie dort die subjective Selbstgewifsheit, so wurde hier die ob- 
jecti ve Selbstgewifsheit als die absolute Wahrheit genommen. Als 
Anfangspunkt dieser zweiten Verabsolutirung des menschlichen 
Geistes ist Spinoza zu bezeichnen. Diese Verwechslung des Ge- 
schöpfs mit dem Schöpfer, der relativen oder secundären Wahr- 
heit mit der absoluten oder primären Wahrheit, des Ebenbildes 
mit dem Urbild, brachte den Pantheismus hervor, der nach der 
verschiedenen Weise, in welcher das Wesen des menschlichen 
Geistes aufgefafst wurde, in den verschiedensten Formen hervor- 
trat nnd so alle Möglichkeiten erschöpfte. An diesem Zeitpunkt 
sind wir bereits in der gegenwärtigen Zeit angelangt, und hier 
ist offenbar auch der bedeutendste Wendepunkt in der Geschiebte 
der nenern Philosophie eingetreten. Die Folge von der Verab- 
solutirung des objectiven Geistes ist, dafs sie, wie es der Verf. 



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Schlüter: die Lehre de« Spinoza. 



richtig bezeichnet, die Wahrheit als etwas Secundäres und als 
hervorgehend aus jener primären Quelle , nemlich der Idee des 
menschlichen Geistes betrachtet. Die Idee des Geistes als der 
Inbegriff der Wahrheit bringt sich durch eigne Thätigkeit selbst 
hervor, als alle Wahrheit, und zwar in der wahren Form der 
Selbstgewifsheit. Die Wahrheit ist so das Selbstbewufstseyn des 
menschlichen Geistes. Sonach ist die Substanz Gottes nur die 
Totalitat des Weltinhaltes, und zwar, wie es der Verf. bei Spi- 
noza nachzuweisen sucht , nur unter der Form der Quantität oder 
der räumlichen Unendlichkeit. Somit wäre der Spinozismus nicht 
Akosmismus, wie Hegel meint, sondern Atheismus*). 

Unser scharfsinniger und geistreicher Verf. sucht die lncon- 
Sequenzen und Widerspruche des für ein Muster der stren- 
gen Consequenz und Einheit gehaltenen Systems Spinoza's nach- 
zuweisen. Vor Allen fafst er den Ubergang von den absolut ge- 
bildeten Ideen zu den Einzeldingen ins Aage. Hier zeigt er, 
dafs nach Spinoza der Mensch nicht aus Gott begriffen werden 
könne; denn Spinoza behaupte, dafs die Substanz nicht die Form 
des Menschen ausmache, und was nichts mit einander gemein 
habe, hoone auch nicht durch einander begriffen werden; denn 
der Begriff des einen schliefse nicht den Begriff des andern in 
sich. Es ergiebt sich dem Verf. , dafs nach Spinoza Gott nicht 
die adäquate Ursache des Menschen ist, während dieser doch be- 
haupte, dafs Gott die Ursache aller Dinge sey , sowohl des We- 
sens, als der Existenz derselben, und dieses in derselben Weise, 
wie er die Ursache seiner selbst sey, d. h. adäquat. Dieser Wi- 
derspruch inGcire die ganze Reihe der Beweise in der Ethik, in 
der überhaupt heine Gewifsheit , namentlich in Ansehung der von 
der natura naturata befafsten Dinge enthalten sey. 

Zunächst wird nun der Begriff der absoluten Substanz be- 
trachtet, und ausser der schon früher erwähnten Verwechslung 
der unendlichen Quantität mit derselben, die Unmöglichkeit des 
Überganges von derselben aus dem Seyn in ein Nichtseyendes 
gezeigt, denn sie hat kein Negatives oder keine Bestimmung. In 
Betreff der Attribute der Substanz, Denken und Ausdehnung, 
wird bemerkbar gemacht, dafs kein Denken ohne Veränderung 
oder innere Bewegung begriffen werden könne, dafs aber diese 



•) Näher kann hier auf dieaes Moment nicht eingegangen werden. 
Ref. wird die nuftgeRnrocheno Wahrheit in einer eben unter der 
Presse befindlichen Schrift durch die Darstellung der neueren Phi- 
losophie zu begründen suchen. 



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Schlüter: die Lehre des Spinoza. 



861 



von 8p. nur als Modus der Ausdehnung genannt werde , und eben 
deshalb nach ihm die denkende Substanz auf keine Weise be- 
stimmen dürfe. Ebenso sey ein Denken ohne Vorstellung und 
Verstand schlechthin undenkbar. Solches Denken komme aber 
bei Sp. Gott zu, wenn er an sich betrachtet werde. Auch die 
Modi der Ausdehnung, Bewegung und Ruhe, beziehen sich 
nicht auf Gott an sich. Daraus folgt, dafs die Substanz als un- 
veränderlich nothwendig ruhen mufs. Überhaupt fehlt der Be- 
weis, dafs selbst die Attribute, wie Modi, nicht universell und 
abstrakt, sondern real seyen. Die vier Modi : Verstand und Wille, 
Ruhe und Bewegung, sind, wie die Substanz, als unendlich und 
ewig und doch zugleich endlich und nur zeitlich daurend gleich* 
sam als mittlere Proportianalen zwischen Seyendcn und Nicht- 
seyenden, oder zwischen Gott und den Einzeldingen von Sp. auf- 
genommen. Unter dieser Hülle liegt der Übergang vom Unend- 
lichen zum Endlichen verborgen. Aber dieser Übergang ist auf 
diese Weise nicht möglich ; denn Sp. behauptet , dafs der Ver- 
stand, sey dersebe ein endlicher oder unendlicher, als 
eine bestimmte Weise des Denkens, nicht minder als der Wille, 
durchaus nicht auf Gott als ein Wesen, welchem nur das abso- 
lut-unendliche Denken -zukomme , anwendbar sey, und zur ge- 
schaffenen, nicht schallenden Natur gehüre, ja dafs der Verstand 
des Menschen mit dem Verstände Gottes nichts mehr gemein habe, 
als der Hund, das bellende Thier, mit dem Hunde, dem Stern- 
bilde am Himmel, d. h. nur den Namen. Spinoza zählt diese 
vier Modi in seiner Abhandlung ausdrucklich den Einzeldingen 
zu. Hiermit im Widerspruch wird auch noch in den folgenden 
Buchern der Ethik des Verstandes Gottes , und von dessen Ideen 
wiederholt Erwähnung gethan , ja alle Beweise und Entscheidun- 
gen über die menschliche Natur, in wiefern diese von der dop- 
pelten Seite betrachtet wird , riemlich noch Denken und Ausdeh- 
nung werden von jenem göttlichen Verstand aus vorgenommen, 
und doch sagt Sp., was nichts mit einander gemein hat, kann 
auch eins aus dem andern nicht begriffen werden. Hierin liegt 
denn ein offenbarer, jeden Zusammenhang der Deduction zer- 
reifsender und jedes Begreifen unmöglich machender Wider- 
spruch. S. 66 f. 

Fragen wir nun : wie la'fst sich der grofse Widerspruch im 
System Spinoza's erklären, der auf der einen Seite behauptet, der 
Mensch hat eine adäquate Erkenntnifs Gottes , eine Natur, welche 
mit der allgemeinen Natur Eins ist ; die ihm angeborne Idee ist 



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862 Schloter: die Lehre de« Spinots. 

der Inbegriff aller Erkenntnifs, die Einheit aller Ideen, so dafs 
er die ganze Natur, d. h. alle« wirklich Seyen Je in sich begreift. 
Diese Idee ist die Einheit der Selbstgewifsheit and der Wahrheit, 
so dafs sich dieselbe nur zu verwirklichen braucht, um in und 
aus ihr die Wahrheit und zwar in der ihr entsprechenden Form 
oder Metbode zu erkennen ; und auf der andern Seite den mensch- 
lichen Geist nur als einen an der absoluten Substanz verschwin- 
denden Modus dargestellt, der mit Gott nichts Wesentliches ge- 
mein hat, der daher nicht in und aus Gott begriffen werden 
bann; der nur eine inadäquate Erbenntnifs bat, weil er einzelner 
ist, und nur sieb selbst durch seinen Korper, der sein Object 
ist, erkennt. 

Der Verf. deutet die Erklärung dieses Widerspruchs vielfach 
an. Unterscheidet man das Wesen des menschlichen Geistes 
Ton dem einzelnen empirischen Geiste, und wendet diesen 
Unterschied hier in der Weise an , dafs man unter jenem Geiste, 
welcher eine adäquate Erkenntnifs hat, und die Einheit oder der 
Inbegriff der ganzen Wirklichkeit ist, der sich als die Wahrheit 
erkennt, — das Wesen des menschlichen Geistes, unter dem 
aber, welcher eine inadäquate Erkenntnifs hat, und nur ein ver- 
schwindender Modus der absoluten Substanz ist, — den einzel- 
nen empirischen menschlichen Geist versteht, dann ist der 
Widerspruch erklärt Alsdann ist aber das Wesen des mensch- 
liehen Geistes mit Gott confundirt, und was Sp. die wesentlichen 
Bestimmungen Gottes nennt, sind nur die des menschlichen Gei- 
stes , und zwar unter der Form der Naturverhältnisse betrachtet. 
Darin liegt dann auch der Grund , dafs er das Wesen und die 
Erscheinung des Geistes nicht zusammenbringt, sondern ganz ab- 
stract auffafst. Denn die Natur kann ihr Wesen in keinem ibrer 
Individuen zur vollkommnen Wirklichkeit bringen, das Wesen 
der Natur als Allgemeines kann in ibrer Besonderung und Indt* 
vidualisirung sieb in keinem Einzelwesen realisiren. Daher gibt 
es auch nur ein Entstehen und Vergehen, kein Werden, 
in welchem das Werdende sein Wesen verwirklicht. 

Diese Erklärung des Widerspruchs im System Spinoza s deu- 
tet, wie oben bemerkt, unser Verf. an mehreren Orten bald auf 
directere, beld auf indirectere Weise an. Er sagt öfter mit Be- 
ziehung auf Sp. mit Franz Baader, dafs eine jede Confundirung 
Trennung sey , denn wo keine wahre Vereinigung Statt findet, 
bleiben sich die zu Einigenden äusserlich, d« b. ausser der Ein- 
heit. Ferner S. 5o: »Frotagoras und Spinoza meinen nicht den 



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Schlüter : die Lehre det Spinoza 



Menseben, sondern jeden Menschen abstroct und so in setner 
Unwahrheit«, wiewohl diese Stelle den oben von mir angegebe- 
nen Unterschied des Wesens des menschlichen Geistes und des 
einzelnen, empirischen menschlichen Geistes in Spinoza selbst 
nicht statuirt, womit der Widerspruch mir nur allein erklärbar 
Wird. Am bestimmtesten aber am Ende der Darstellung S. 59, 
wo es heifst: t Setzt man für Gott, so oft dieser Name in diesem 
System gemifsbraucht wird, Materie, denkende und ausgedehnte, 
je nachdem die Stellung es fordert, so wird man Alles viel rich- 
tiger und wahrer einsehen, und es wird sich zeigen, dafs dieses 
System vielmehr ein panhjlistiscbes als pantheistisches zu nennen 
ist, und dafs der Urbeber einen Tollenden Materialismus gelehrt 
habe, und nichts weiter.« 

Aus dem Bisherigen erhellt, dafs diese kleine Schrift sehr 
Graftes und Wichtiges auf eine geistvolle Weise behandelt, und 
daher die vollste Beachtung und Anerkennung verdient. Man 
darf wohl behaupten, dafs diese Schrift viele Hauptgebrechen des 
Spinozismus am tiefsten von allen bisherigen Kritikern dieses Sy- 
stems erkannt hat. Dieses wird ihr einen bleibenden Werth in 
der philosophischen und theologischen Literatur sichern. Die 
ganze Schrift ist voll von den interessantesten, geistreichen Ge- 
danken und Betrachtungen, besonders auch in den Beilagen, wo 
der Verf. sich auf tiefsinnige Weise über die speculativen Pro- 
bleme verbreitet Wenn man den Gedankengang des Verfs. so 
oft durch Nebenbetracbtungen unterbrochen, und oft abspringen 
und wieder anknüpfen sieht, so dafs durch diese desultorische 
Darstellung die Übersicht des Hauptgedankens erschwert wird, 
so entschuldigt sich der Verf. hierüber, so wie über die Form 
seiner Darstellung überhaupt, damit, dafs er gezwungen sey, zum 
Lesen wie zum Schreiben sich fremder Augen und Hände zu 
bedienen. Die sachverständigen Leser dieser Schrift werden dem 
verehrtesten Verf. mit dem Bef. die Form gerne wegen des tie- 
fen und reichen Inhaltes seiner Schrift nachsehen, und werden 
sie gerne auch bei seinen folgenden Schriften unter dieser Be- 
dingung nachsehen. Möge sich daher derselbe nicht durch diese 
Pedenklichkeit abhalten lassen , uns recht bald wieder mit einer 
neuen zu erfreuen. Bewunderung verdient das Talent Schlüter s, 
der mit fremden Augen und Händen solche Leistungen bieten 
kann, und derselbe den vollsten Dank, dafs er sich durch dies« 
Beschwerden nicht hat abhalten lassen , die Literatur mit dieser 
Schrift zu bereichern« Seng l er. 



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364 Heincken: Bremen in topogr. medicin. u. u. Hinsicht. I 



Ph. Heineken, die freie Hansestadt Bremen und ihr Gebiet in topogra- 
phischer, medicinischer und naturhistorischer Hinsicht. Erster Band, 
Bremen, Verlag von Geister. 1836. 

Dafs in unsrer schreibseligen Zeit und bei dem Werthe, den 
man allgemein auf medicinische Topographieen legt , so viele and 
so bedeutende Städte ihrer noch entbehren , ist nur aus der 
Schwierigkeit eines solchen Unternehmens erklärlich. Leicht fer- 
tig sind die Tagesliteratoren , die Journale mit nicht, zu contro- 
lirenden KranUheitsgeschichten und allerlei Curiositäten zu füllen 
und ihre ephemere Weisheit in allen Zweigen ihres Faches zur 
Schau zu tragen; sie hüten sich aber vor einer Arbeit, die ohne 
manches Wissen, ohne vielseitige Erfahrung nicht begonnen, 
ohne Muth und Ausdauer nicht vollendet werden kann. Von Bre- 
men existirte bisher noch keine , am wenigsten eine medicinische 
Topographie. Der Vf. hat daher in Beziehung auf seine Vater- 
Stadt eine bedeutende Lücke ausgefüllt, zugleich aber auch durch 
die Art und Weise, wie er es gethan, ein nachahmungswerthes 
Muster aufgestellt. Liebe zu dem behandelten Gegenstande, ein 
reifes Urtheil und die ernste Absicht, zu nützen, sind die her- 
vorleuchtendsten Züge dieser Schrift. Über die Genauigkeit der 
zahlreichen und interessanten einzelnen Angaben vermag Ref. , 
welchem Bremen und sein würdiger Topograph fremd sind, keine 
vergleichende Untersuchung anzustellen , aber er mochte jene 
auch ohne diese behaupten. Ein Verf., der seiner Sache nicht 
gewifs ist, könnte an solcher Stelle nicht so entschieden auftre- 
ten. Muth ist überall, zumal hier, ein Zeichen guten Wissens 
Und Gewissens, und Muth zeigt der Verf., wo er Gebrechen und 
Vorui theile bekämpft. Ohne ängstliche Rücksichten deckt er die 
■vorhandenen Mängel auf und weiset auf die Mittel der Abhülfe 
hin, nie aber fehlt dem Ernst die nothige Würde, nie ist eine 
verletzende Bitterkeit beigemischt. Wir begnügen uns, da auch 
ein gedrängter Auszug hier nicht wohl ausführbar ist, nur Ein- 
zelnes hervorzuheben, und verweisen jeden, der Interesse an 
medicinischen Ortsbeschreibungen hat, auf die Schrift selbst. 

Bremen, schon von Ptolomäus dem Geographen als Phabira- 
num erwähnt und von Karl dem Grofscn 788 zu einem Bisthum 
erhoben, liegt 54 Fufs über der Ebbe der Nordsee und 8 bis 10 
Meilen von ihr entfernt. Die Altstadt , mit engen Strafsen und 
den Ausluchten an den schmalen Giebelhäusern, liegt am rech- 
ten, die erst im 17. Jahrhundert angelegte Neustadt am linken 
Weserufer. Beide zusammen zählen ungefähr 5798 Häuser. Von 



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Heineken: Bremen in topogr. medic. u. a. Hinlicht. I. 



freien Platzen werden vorzugsweise der Domshof mit schonen 
Gebäuden, 5oo Fufs lang und halb so breit, und der Marktplatz 
mit dem Rathbaus und dem Schütting und der steinernen Bild, 
säule Rolands näher beschrieben. Das schlechte Pflaster der 
Strafsen soll verbessert werden. Trotz der ernstlich gerügten 
Strafsen-Unreinlichkeit und des stinkenden Baljes (des alten Stadt- 
grabens, der neue enthält reines Wasser), ist im Ganzen die Luft 
doch rein, weil Bremen in der unübersehbaren Ebene etwas er- 
haben liegt , der Wind fast nie fehlt und beim Eintritt der Fluth 
immer eine sanfte Bewegung der Luft bemerklich ist. Die frü- 
hern Festungswerke haben freundlichen Anlagen und bequemen 
Wohnhäusern Platz gemacht, und der Wall, zumal der Altstadt, 
ist zu einem lieblichen und gesunden Spaziergange umgeschaffen. 
Die alten Kaufmannshäuser sind unbequem gebaut, waren haupt- 
sächlich zum Aufbewahren der Waaren bestimmt. In den mei- 
sten Häusern , auch der ärmeren Klasse , herrscht grofse Reinlich« 
' keit. Es giebt aber auch elende Hutten, zumal in den Gängen 
und sog. Hofen der Neustadt , die als wahre Jammerböhlen be- 
schrieben werden, weniger in den Wohnkellern, deren Zahl sich 
immer mehr vermindert. Die Vorstädte befinden sich sämmtlicb, 
mit Ausnahme des bunten Thorsteinwegs, auf dem rechten Weser- 
ufer. Ausser 12 Kirch- und 43 andern Dorfern gehören noch 
zum Bremer Gebiet die nicht in unmittelbarer Verbindung mit 
ihm stehenden Amter Vegesack und das am Ausflufs der Weser 
gelegene Bremerhafen. Der Wiesenbau ist vorherrschend, der 
Landbau steht auf einer niedrigeren Stufe. Die Weser versandet 
immer mehr und der Wasserstand wird immer hoher, so dafs die 
Zeit nahe zu seyn scheint, in welcher es unmöglich werden möch- 
te, das Land und die Stadt auf die bisherige Weise zu schützen. 
Die Schnelligkeit der Weser und die Analyse des Bremer Trink« 
wassers sind angegeben. 

Der bedeutendste Nahrungszweig ist der des Fleisches. In 
vielen Haushaltungen wird ein Ochse geschlachtet und das Fleisch 
eingepökelt. Die Flufsfische sind dermalen kostbar. Über die 
Lachse, welche sich jetzt nur auf der Tafel der Reichen finden, 
existirt aus früherer Zeit eine gesetzliche Bestimmung, dafs sie 
nicht mehr als zweimal in der Woche aufgetragen werden durf- 
ten. Im Herbst und Frühling giebt es Seefische in Menge. Die 
Zubereitungsart der Speisen ist sehr fett. Jedes Individuum ver- 
braucht durchschnittlich a5 bis 3o & Butter im Jahre. Der Ge- 
nufs des Bieres hat ab-, der des Branntweins und mit ihm deli- 



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866 Heineltcn: Bremen In töpogr. medic. u. a. Hirnicht. L 



rium tremens und Wassersucht zugenommen. Von Weinen wer- 
den vorzugsweise die rothen Bordeaux getrunken. Ein bis in die 
untersten Stände verbreitetes Lieblingsgetränk ist der Kare. Im 
Ganzen wird die Mäfsigkeit der gebildeteren Bremer im Essen 
tind Trinken gerühmt, doch herrscht bei gr5fseren Tafeln auch 
grofser Luxus. Im J. i834 wurden in Bremen allein an Fleisch 
2261 Stuck Ochsen, 47« St. Kuhe, 12000 Kälber, i3ooo Schaf« 
und Schweine, 129,000 gesalzenes und geräuchertes Fleisch 
und ausserdem Geflügel , Hasen und Wüdpret verzehrt. Das Ta> 
bakraueben ist allgemein , zumal das schädlichere Cigarrenrauchen. 

Wie in den Wohnungen, so herrscht auch in Geschirren, 
dem Leib- und Bettweifszeug grofse Reinlichkeit, dagegen wird 
die Hautkultur vernachlässigt. Bäder werden selten gebraucht. 
Die Kleidung ist im Ganzen einfach und ihr Schnitt ist anständig. 
Die Betten besteben aus schweren Federbetten ; Matratzen finden: 
sich nur bei hohem Ständen. 

Die Säuglinge werden in der Regel von ihren Muttern ge- 
stillt. Die physische Erziehung soll im Allgemeinen gut seyn, 
aber nur die körperliche Bewegung vernachlässigt werden , daher 
dem Bremer durch sein ganzes Leben eine gewisse Unbeholfen- 
heit und Steifheit anklebe. Geturnt und geschwommen wird we- 
nig, nur das Schlittschuhlaufen huitivirt. Die KSrpercoirstitutton 
ist von mittlerem Schlag und bietet nichts Auffallendes dar. Be- 
sonders häufig sollen schlechte Zähne seyn. Den Charakter der 
Bremer schildert der Verf. im Allgemeinen als gutmütbig und 
wohlthätig , daher viele treffliche Armenanstalten; sodann ah recht- 
lich und ehrlich ; die Steuern werden nur auf Burgereid und Ge- 
wissen erhoben. Eine gewisse Spiefsburgerlichkeit offenbart sich 
in starrer Anhänglichkeit am Alten, in Schroffheit gegen die 
Fremden, aber auch in der Liebe für die Vaterstadt und ihre 
Einrichtungen, nur wird an der Beförderung des allgemeinen 
Staatswohles wenig thätiger Antheil genommen. Auf den Con- 
venten erschienen von 600 Geladenen kaum mehr als 5o , während 
der Bremer Burger den einzelnen Verwaltungszweigen willig Zeit 
und Kraft opfert. Ein hoher Grad von Religiosität artet oft in 
Intoleranz aus, früher zwischen Reformirten und Lutherischen, 
jetzt zwischen Rationalisten und Pietisten. Zu den Schattenseiten 
des Bremer Charakters zählt der Vf. eine gewisse Indolenz , » die 
freilich von der einen Seite in Genügsamkeit, Beständigkeit, Ober- 
iegsamkeit und Beharrlichkeit zur Erreichung des vorgesetzten 
Zieles übergeht, von der andern aber auch als festes Beharren 



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in topogr. medic. u. a. Hinsicht, f. 367 

keim Alten , Schwerfälligkeit in der Wahl der Mittel , als geringe 
Lebhaftigkeit des Gefühls, Schwäche der Phantasie, Mangel an 
Genialttat hervortritt und die sich schon in der matten Physiogno- 
mie, der geringeren Gewandtheit des Körpers ond der schleppen» 
den gedehnten Sprache, namentlich des plattdeutschen Dialekts 
derselben , ausdrückt Jene Indolenz tritt freilich beim Raufmann 
in den Hintergrund, wenn es gilt, die Zeitumstände zu bem 
«äs sein Gluck zu machen , allein auch nur dann und zu di« 
Zweck ; für ein reges höheres geistiges Leben mangelt oft 
der Sinn.« Die Geschlecbtsaussch weifungen sind im Verhältnis 
zn andern Städten gering. Im dortigen Krankenhause giebt es 
nur 7% pCt. Syphilitische. Die unehlichen Geburten verhalten 
sich in der Stadt wie II, auf dem Land wie 7 zu 100. Die Ehe 
wird heilig gehalten. An den sog. Kindertagen vereinigen sich 
alle Glieder einer Familie. Der Vf. beklagt es, dafs diese scho- 
nen Kreise seltener werden. Wahre Geselligkeit ist eben nicht 
häu6g. Die Stände sind streng gesondert. Statt des Erb- besteht 
der Geldadel. Volksfeste, an denen die ganze Bevölkerung Theil 
nimmt, gibt es nicht, ausser etwa am 18. Öctober. Getanzt wird 
nicht leidenschaftlich; Schauspiele und Concerte sind wenig be- 
sucht, desto häufiger die Theezirkel der Frauen und die Klubbs 
der Männer, in welchen letzteren die Zeit durch Karten- 
Billardspiel und durch Zeitungslektüre ausgefüllt ist. Erst in 
rer Zeit ist mehr Sinn für die Musik erwacht. Unter den übrigen 
Künsten hat sich noch die Malerei die meisten Freunde zu er- 
werben gewufst Es gibt einzelne Bildersammlungen. Vaterlan- 
dische Kunstler, wie die beiden Menken, finden ihre volle An- 
erkennung. Mit den ersten Frühlingstagen zieht Jeder, der es 
vermag, auf das Land. Eine grofse Reiselust führt den Bremer 
häufig auswärts. 

Zu den öffentlichen Bildungsanstalten gehört 1) das Gymna- 
sium illustre, an dem sonst alle Fächer besetzt waren, sich aber 
jetzt nur noch zwei Professoren der Medicin und einer der Juri», 
pmdenz befinden. 2) Die Hauptschule. Sie trennt sich in die 
Gelehrten-, die Handels- und die Vorschule. An ihr ertheilten 
i834 >4 ordentliche und i3 zeitige Hulfslehrer den Unterricht. 
Die Frequenz betrug in der ersten 6a, in der zweiten 96 und in 
der dritten 249 Schuler. Die Neben- und niederen Schulen sind 
in 5 Distrikte abget heilt Freischulen gibt es 8 , im J. 1834 von 
970 Schülern besucht. Ausserdem besteht eine Navigations- und 
eine Zeichncnschule. Ein Seminar für Schullehrer wurde 182a 




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368 Heineken : Bremen in topogr. medic. o. a. Hineicht I. 



errichtet. Die weiblichen Unterrichtsanstalten sind sämmtlich Pri- 
vatunternehmungen , die Mädchen aus den höhern Ständen so ge- 
bildet als irgendwo. In den untern und mittlem Ständen hat die 
Bomanenlehtüre die schädlichsten Folgen gehabt. 

Bremen hat mehrere bedeutende Privatbibliotheken, aber ei- 
gentlich nur eine einzige öffentliche aufzuweisen , zu deren Ver* 
grofserung 100 Thlr. jährlich bestimmt sind!! Zweimal wöchent- 
lich ist sie geöffnet. Sie besteht gröfstentheils aus Werken über 
Geschichte, besonders deutsche Literatur, Alterthümer, Numis- 
matik, Jurisprudenz und Theologie. Ihre erste Entstehung fallt 
in das Jahr i534; im J. 1628 erhielt sie einen bedeutenden Zu- 
wachs durch die Bibliothek des Syndikus Buxtorf, i635 durch 
den Ankauf der des Goldast von Haimensfeld , durch die Opera 
omnia mscripta des Joh. Coccejus etc. Die Bibliothek des Ge- 
sundheitsrathes oder die Physikatsbibliothek enthält nur medicini- 
sche, meist anatomische und staatsarznei Wissenschaft liehe Werke. 
Einem gröfsern Publikum zugänglich sind die Bibl. der Gesell- 
schaften Union und Museum, die erste mit historischen, statisti- 
schen, ethnographischen und die Handlungswissenschaft betreff. 
Werken, die letzte mit Schriften über Naturwissenschaften, Sta- 
tistik, Iiiteratur, Geschichte, Heisebeschreib. Das Museum, eine 
der schönsten Zierden Bremens, wurde 1776 von 18 Mitgliedern 
gestiftet, die sich mit Naturgeschichte und Physik beschäftigten 
und die Anlegung eines physikalischen und Naturalienkabinets und 
einer Bibliothek beschlossen. Es wurden wissenschaftliche Vor- 
träge gehalten, die Gesellschaft erweiterte sich, aber die gesellige 
Tendenz verdrängte allmählig die wissenschaftliche. Nicht unbe- 
deutend sind die Sammlungen der Vögel und Mineralien. 

Die erste aber ganz unvollständige Volkszählung ist vom J. 
i744i die zweite von 1807, die dritte von 1818, die letzte, al- 
lein vollständige, von 1823. Damals zählte Bremen in runder 
Zahl 40,000 Einwohner; im J. i834 wahrscheinlich p,non. Bis 
zum J. 1811 wurden keine ordentlichen Geburts- und Sterberegi- 
ster geführt. Interessant sind des Vfs. statistische Berechnungen 
und Zusammenstellungen. Nach einem sechsjährigen Durchschnitt 
fielen die meisten Geburten in die Monate März, September und 
December. Gleichermaßen interessant sind die vom Vf. während 
6 Jahren angestellten genauen Witterungsbeobachtungen. Der 
allgemeine Charakter der Bremer Witterung wird als unbeständig, 
feucht, kalt und windig geschildert. 

Wunschens werth wäre die Zugabe einer Karte über das Ge- 
biet Bremens und eines Stadtplanes gewesen, und billig hätte der 
Verleger für einen weitern Druck sorgen dürfen. Mit grofsem 
Interesse sieht Ref. der Fortsetzung dieses Werkes entgegen. 

Roller. 



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N°. 24. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



K. v. Spruner' s historisch - geographischer Handatlas. Erste Lieferung 
von 8 Uluminirtcn Karten. Gotha, bei Justus Perthes. 1837. fol. 

Im Decerober des Jahres i834 erliefe Herr v. Spruner die 
Ankündigung eines historischen Atlas , der auf 52 il luminirte Kar- 
ten in Form des Stieler'schen Handatlas berechnet war, und des- 
sen Verlag der durch seine literarischen und geographischen Un- 
ternehmungen ruhmlichst bekannte Herr Justus Perthes in Gotha 
übernahm. Das Unternehmen sollte eigentlich einen ergänzenden 
Theil des mit so grofsem Beifall aufgenommenen Stieler'schen 
Handatlas bilden , aber auch eine bedeutende Lücke in onsrer hi- 
storischen Literatur in der Art ausfüllen , dafs für die Geographie 
des Mittelalters eine Reihe von Karten , die vorzüglichsten Staa- 
ten Europas und der übrigen Theile der alten Welt darstellend, 
zu liefern versprochen wurde. Das von v. Spruner schon in der 
Ankündigung dargelegte System, nach welchem die Karten er- 
scheinen sollten, unterschied sich von allen bisher in diesem Fa- 
che erschienenen Arbeiten durch gröfsere Consequenz und durch 
das Eingehen auf die specielle Geographie der einzelnen Staaten, 
während Kruse s verdienstliche Arbeit blos mit Europa im Allge- 
meinen sich beschäftigt, und zwar vom 5ten Jahrhundert ange- 
fangen, von Säculum zu Säculum fortschreitend, bis auf die neue- 
sten Zeiten, ohne irgendwo das eigentliche Detail historisch merk- 
würdiger Staaten, wie Italien, Deutschland, Frankreich u. s. w. 
zu berühren. Hierdurch blieb denn für die Specialgeschichte 
dieser und anderer Länder im Mittelalter gar Vieles noch zu wün- 
schen übrig, und in Beziehung auf die verschiedenen Provinzen 
Deutschlands war im Kruseschen Werke bei dem nach der ur- 
sprünglichen Projection nicht wohl zu vermeidenden Mangel an 
Baum eine solche Unbestimmtheit. ihrer geographischen Umgren- 
zung und politischen Eintheilung gegeben, dafs man hier sich ver- 
geblich nach Aufschlüssen umsah. Wie der Plan des von v. Spr. 
angekündigten Werkes angelegt war, eignete sich das zu erschei- 
nende Werk allerdings für die unter Heerens und Ukert's Au- 
spicien herausgegebene Geschichte der europäischen Staaten , und 
von solchen Karten, wie sie v. Spr. zu liefern beabsichtigte t 
mochte man wohl behaupten, dafs man mit ihrer Hülfe jene 
XXX. JsArg. 4. Heft. 24 



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370 Spruner'a histor. geogr. Handatlas. 

Staatengeschichten mit Nutzen und zur Beiehrang durchlesen 
tonne. — Im Laufe des Jahres i835 sollte bereit* die erste Lie- 
ferung , aus 5 Karten bestehend, erscheinen ; allein erst zu Anfang 
dieses Jahres (1837) trat das freilich 8 Karten starke erste lieft 
an das Licht , und zwar topographisch so vortrefflich ausgestat- 
tet, dafs nicht leicht eine andere Arbeit in diesem Zweige sich 
mit derselben wird messen können , und den alten wohlbegrun- 
deten und wohlverdienten Ruf der Firma Justus Perthes voll* 
kommen rechtfertigend und wenn es möglich steigernd. — - Ein 
Vorwort , welches den Leser und Beschauer auf den Standpunkt 
stellt, den der Herr Vf. bei Fertigung seines Atlas eingenommen, 
und von welchem aus er sich beurtheilt wünscht, gibt uns man- 
che Änderung kund , die zwischen der Ankündigung und dem 
wirklichen Erscheinen mit dem Atlas vorgenommen wurde. Die 
gedruckten Commentare , welche jedem einzelnen Blatte beige- 
geben werden sollten (siehe Ankündigung §. 3.), fehlen zwar, 
mit Ausnahme einer leitenden Übersicht der 8 Karten, die dem 1 
Vorworte unmittelbar folgt; dafür jedoch verspricht der Hr. Vf. 
— was er bei seinen umfassenden Arbeiten in diesem Zweige des 
historischen Wissens allerdings vermag — ein Werk zu liefern, 
welches in dieser Ausdehnung gleichfalls noch nicht existirt, näm- 
lich ein »Handbuch der Geographie des Mittelalters«. Auch in 
Bezug auf die Folge der Karten ist eine kleine, nur zum Vor- 
theil gereichende Änderung eingetreten, indem Italien eine Karte 
mehr erhielt, als in der Ankündigung für dies Land bestimmt 
gewesen. — Der Herr Vf. stellt gleich Eingangs des Vorwortes 
seine Ansicht von geschichtlichen Karten hin, die wir nur als 
die wahre und richtige lobend anerkennen müssen, und welche 
wir unsern Lesern mit des Auetors eigenen Worten hier mitthei- 
len. »Jene (die gewöhnlichen historischen Atlanten) bilden ge- 
»meiniglich den äussern Umfang des Landes ab , geben die Namen 
» der vorzüglichsten historisch merkwürdigen Orte , dem nächsten 
»besten Handbuch der allgemeinen Geschichte entlehnt, schrei» 
» ben auch wohl Daten und Jahrzahlen mit auf die Karte , wie 
»man solche im Buche selbst als dabin gehörend findet, — und 
» die historische Barte ist fertig. Solche Blätter mögen allerdings 
»einen, wenn auch beschränkten, Nutzen für den ersten Unter- 
»rieht haben , und es sey ferne von mir, ihnen diesen absprechen 
»zu wollen; aber das, was mir eigentlich als Ideal eines histo- 
rischen Atlas vorschwebt, gewähren sie bei weitem nicht, und 
»dem Kenner und genanen Forscher werden sie ebensowenig ge- 



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Spraner's histor. geogr. Handatlas. 



871 



»nugen. Ein historischer Atlas, wie er seyn soll, kann und mufa 
«wie eine gute Geschichte nur ans den Quellen selbst bearbeitet 
»werden, er mufa diese so viel als möglich gleichsam wieder* 
»spiegeln, mufs bildlich das darstellen, was jene erzählend be- 
» richten , mufs nicht allein die Lage der merkwürdigen Orte 
»jeder treffenden Periode bezeichnen, sondern auch, aus rein 
»historischen Quellen wie aus Urkunden geschöpft, die jedesma- 
lige äussere Gestaltung des Landes, seine Einteilung , die Sitze 
»der merkwürdigen Geschlechter u. s. w. angeben, kurz, wie 
»schon gesagt, für die treffende Periode den Anforderungen 
»entsprechen, die wir an eine gute geographische Karte für un- 
»tere Tage stellen. Ohne mich dem Wahne uberlassen zu wol« 
»len, als entspräche die vorliegende Arbeit diesem Ideale, glaube 
»ich doch, dafs jeder billige und unbefangene Beurtbeiler, wenn 
»er erwägt, wie schwierig, zeitraubend und selbst kostspielig 
»ein solches Unternehmen ist, mir wenigstens zugestehen müsse, 
»dafs ich mit allem Ernst und aller Liebe zur Sache nach Er- 
» reichung desselben gestrebt habe. Wie viele Quellenangaben 
»müssen nicht oft durchgangen und verglichen werden, um ein 
»Factum genau zu begründen, um eine Gränzstrecke von wenig 
»Linien auf dem Papier festzustellen? Wo der Historiker das 
»Schwankende durch Worte bezeichnen kann, verlangt man hier 
»eine festgehaltene Darstellung, deren doch nur eine möglich ist, 
»and hier, wie nicht leicht irgendwo, heifst es: „hic Hhodus, 
»hic salta! u Und bei alledem ist für dieses Fach der Geschieh* 
»te, für die Geographie des Mittelalters, noch so wenig vorge- 
arbeitet und dies Wenige noch überdies oft so in Ansichten 
»abweichend in einzelnen Dissertationen, Monographien, Vereins- 
y und Provinzialschriften zerstreut, dafs es die gröfste Mühe ko- 
»atet, es nur kennen zu lernen, geschweige denn zu sammeln 
»und zu benutzen. Für Deutschland ist freilich seit dem Werke 
»Junkers nnendlich viel geschehen, und die Arbeiten von Bessel, 
»Lamev, Kremer und Crollius in den rheinpfälzisch- akademischen 
»Schriften, non Apell , Tirngibl, Lang, Pallhausen, Leutsch, 
»Wedekind, Wersebe, Leo, Bylandt, v. Hormayr, dann die vie- 
» len in dem Wiener Archive und den Jahrbüchern der Literatur, 
»im Hermes u. s. w. zerstreuten Aufsätze liefern hiefür die glh'n- 
» zendsten Belege. Italien aber hatte bisher solcher zusammen- 
stellender Vorarbeiten beinahe gänzlich entbehrt, und gerade 
» dies bestimmte mich , mit jenem Lande , nachdem die nüthigen 
»einleitenden Blätter gegeben waren, den Anfang zu machen.* 



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an 



Spinner 1 * hUtor. geogr. Handatlai. 



Nebst der, wie gesagt, sehr richtigen Ansicht des Hrn. Vfs. 
entnehmen wir aus der eben angezogenen Stelle auch den Grund, 
welcher ihn bestimmte, gerade Italien zuerst zu behandeln. Wir 
glauben , diesem angegebenen Grunde noch einen hinzufugen zu 
dürfen, der bei dem Herrn Vf. jeden andern überwog, nämlich: 
an diesem Lande , bekanntlich dem politisch zertheiltesten von 
ganz Europa, zu zeigen, was er zu leisten im Stande sey; denn 
ohne Frage ist Italiens Geographie von der Langobarden-Herrschaft 
bis auf die neuesten Zeiten (i8i5) der schwierigste Theil der 
Aufgabe , welche sich Hr. v. Spr. gestellt , und nach gründlicher, 
durchgehends quellenmäfsiger Darstellung dieses Landes, welche 
alle wesentlichen Umänderungen desselben vom bezeichneten 
Punkte (Langobarden-Herrschaft) bis auf den Wiener Congrefs 
herab genau beachtet und ebenso sinnreich als Mar und dem Auge 
wohlgefällig durchführt, mochte er muthig an die fernere Arbeit 
gehen, da keine mehr solche Hindernisse, wie die eben besieg- 
ten, ihm entgegenstellen wird. — Herr v. Spr. arbeitet bereits 
seit vielen Jahren im Fache der mittelalterlichen Geographie , und 
die Bibliotheken von Gotha, Bamberg und Erlangen, sowie die 
Privatbibliotheken seiner Freunde haben ihn bei seinem rastlosen 
Fleifs, der mit entschiedenem Talent für diesen Zweig des hi- 
storischen Wissens gepaart ist, in den Stand gesetzt (und wer- 
den es ferner noch thun) , sein in der Ankündigung vom Decem- 
ber 1 83/* gegebenes Versprechen auf eine ehrenvolle und die 
Wissenschaft fordernde Weise zu halten. Der Beginn des Wer- 
kes , diese erste Lieferung schon zeigt auch dem fluchtigen Über- 
blicke, dafs hier nur Grundliches, aus den Quellen Geschöpftes 
geboten werde , und dafs der Leser und Beschauer nicht etwa 
eine von den gewöhnlichen Buchhändler-Speeulationen vor sich 
habe. — Mit der »Welt der Alten« beginnt ganz mit Recht 
die Reihe dei* Karten der ersten Lieferung. Das Römer-Reich, 
auf dessen Trümmern die Barbaren ihre Sitze errichteten, ist zur 
Bezeichnung des Urofangs colorirL Zwei Unterabtheilungen des- 
selben Blattes geben i) die Erdansicht nach Eratosthenes und 
Strabon , 2) den Erdkreis nach Ptolemäus. Wieviel es zur rich- 
tigen Verständnifs der Klassiker beitrage, mit den Vorstellungen 
der Alten, welche sie sich von der Form der Lander machten, 
bekannt zu seyn, dies liefse sich, wenn es der Raum gestattete, 
durch zahlreiche Beispiele zeigen. Ich erinnere, um nur Eines 
anzuführen, an des Tacitus Ansicht, wie der Insel Britanien ihre 
Bevölkerung geworden (Tacit. Agricol. cap. 11. Siehe meine Ab- 



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Spruncr » hiitor. geopr. Handatlas. 373 

Handlung über den Unterschied zwischen Kelten und Germanen. 
Erlangen 1826. 8. p. 20—24, not. 2.). Auch das Mittelalter, das 
freilich auf eine vom Alterthume verschiedene Weise zu einer 
Art von fabelhafter Geographie gelangte , hatte seine besondern 
Vorstellungen von der Gestalt der Erde, und es fallt mir im Au- 
genblicke jene Stelle aus der Bede des Pabstes Urban II. bei, 
(welcher Bede, nebenbei sey es gesagt, in der Grüfte ihrer Wir- 
kungen lieine des ganzen Alterthums verglichen werden bann), 
die die königliche Stadt Jerusalem »in der Mitte des Erdkreises« 
gelegen seyn läfst. »Haec eifitas regalis, in Orbis medio posita s , 
und früher: »Hierusalem umbilicus est terrarum.« Es wäre wobl 
zu wünschen, dafs zu Nr. 5o der folgenden Hefte auf diese zu 
den Zeiten der Kreuzzuge allgemein verbreitete Ansicht 
in der Art Rucksicht genommen würde, wie hier bei der Karte 
Nr. 1 auf die Ansicht des Eratosthenes und Strabon, also in einer 
Abtheilung jenes Blattes Nr. 5o ein Kärtchen , diese mittelalter- 
liche Ansicht wiedergebend, was um so leichter geschehen kann, 
da sich eine solche Karte im bekannten Quellen- Werke Gesta 
Dei per Francos in der That befindet (hinter dem Liber secre- 
torum fidelium crucis von Marino Sanuto. Hanoviae 1611. fol. in 
den Beilagen.). — Nr. 2. »Das romische Beich und die 
nördlichen Barbaren im 4* Jahrhundert.« Es ist nicht 
meine Absicht, Alles durchzugehen, was diese ungemein reich 
mit Orten und Völkernamen ausgestattete Karte enthält, sondern 
ich erlaube mir , da ich auf das interessante Werk des Hrn. Vfs. 
LI us aufmerksam zu machen beabsichtige, nur Einiges zu berüh- 
ren, was mir, eben mit einer speciellen Arbeit beschäftigt, beim 
Beschauen dieser Karten in die Augen fiel. Der Strich zwischen 
Main, Bhein und Donau ist bereits näher dem Bheine von Ala- 
mannen besetzt, die zuerst den Limes durchbrochen, und in 
der Richtung gegen Westen und Süden hin die römischen Pro- 
vinzen gefährdeten. Im Norden des Bodensees sitzen ganz rich- 
tig die kühnen Lentienses des Ammianus Marcellinus; aber nörd- 
lich des Mainstromes haben sich wohl Alamannen nie lange und 
auf die Dauer gehalten : es waren fränkische Stämme, die sie aus 
dieser Eroberung heraustrieben. — Nr. 3 zeigt uns »Europa 
im Anfang des 6. Jahrhunderts.« Die Alamannen sitzen 
diesmal vom Sudufer des Mains, Mainz gegenüber, längs des 
Oberrheines zum Bodenseo bis tief in die Gebirge zum St. Gott- 
hard , in 3 Abtheilungen: 1) jene Alamannen, die in Folge der 
Schlacht von Tolbiacum den Franken gehorchten; 2) diejenigen, 



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Spruncr'a histor. geogr. Handatlas. 



welche vor fränkischer Herrschaft in die Schluchten des Schwärs- 
waldes und der rauben Alp flohen und dort bis auf den kriege- 
rischen Theudebert selbstständig lebten, und 3) endlich jene Ala- 
mannen, welche, sich hier noch nicht sicher wähnend, in die 
Grenzen des ostgothischen Reiches unter den Schutz Theuderichs, 
des grofsen Ostgothen-Königes, sich begaben. Es dürfte nicht 
schwer fallen, diese Eintheilung zu rechtfertigen. Geht nämlich 
Chlodwigs Eroberung des alamannischen Landes nach dem Siege 
bei Tolbiacum nur bis an die Murg und Rems ( Masco u II. p. i5 
§. VIII.), und läuft die Grenze des ostgothischen Reiches unter 
Theodorich nicht fern von den Donauquellen nach dem Süd- 
westen bis zu den Burgundern und an die cottischen Alpen etc. 
hin, so ist klar, dafs jene alamannischen, zwischen der neuen 
fränkischen Eroberung und der eben bezeichneten Grenze des 
Ostgothen -Reiches bis zur burgundischen Grenze befindlich eo, 
Striche weder den Franken noch den Ostgothen zugehorten. — 
Auf diese einleitenden und übersichtlichen Harten folgt nun die 
Reihe derjenigen, welche die Geschichte Italiens bis zur 
neuesten Zeit darstellen, 5 an der Zahl. Nr. 4 stellt uns »Ita- 
lien unter, den Langobarden, nebst den Besitzungen 
der griechischen Kaiser« dar. Kein Fleck dieser schonen 
Karte, der nicht benutzt wäre, um ganz Specielles, wie z. B. 
das Tridentiner Herzogthum, die Umgegend von Rom, von Ca» 
pua , von Monte Cassino u. s. w. mitzutheilen. Die Abwechslung 
der Schriften, die Art und Weise der in ein verständiges System 
gebrachten Colorirung , heben die verschiedenen Gebiete sehr 
zweckmäßig heraus und erleichtern ungemein die Beschauung 
und das Aufsuchen der Orte und Länder. Das bei einzelnen 
Kärtchen trefflich ausgeführte Terrain (z. B. Umgegend von Rom, 
Herzogthum Trident) verdient alles Lob. Auch die langobardi- 
sehe Eroberung der bajuvarischen Etschlande im J. 7«5 durch 
Liutprand (Paul Diac. L. VI. cap. 58. p. 0,3a ed. H. GroU) ist 
auf dieser Karte getreu angegeben. — Nr. 5. »Italien unter 
den sächsischen und frankischen Kaisern bis zu den 
Hohenstaufen.« Eine ebenso angenehme als zweckmäfsige 
Zugabe dieses Blattes ist der Plan der Stadt Rom im Mittelalter, 
— Das 6te Blatt, »Ober- und Mittel-Italien unter den 
Hohenstaufen«, war, wie man auf den ersten Blick erkennt, 
gewifs dasjenige, welches in der Ausführung die meisten Schwie- 
rigkeiten darbot. Welch eine Menge von Markgrafschaften , Her« 
zogthümern f Grafschaften , Stadtgebieten u. 1, w. , die alle abg* 



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Sprnner « hittor. gcogr. Handatlas. 



315 



grenzt werden mufsten! — Zum Verstehen der Kriege K. Frie- 
drichs I. in Oberitalien mit dem an der Spitze des Stadtebundea 
stehenden Milano ist die beigegebene Harte vom Gebiet von Mai. 
land von dem grofsten Nutzen. Vielleicht zog sich die Grenze 
Italiens nordlich von Trient doch ganz nahe an Bötzen hin , wäh- 
rend auf dieser Karte hier die Grenzbezeichnung etwas ferne da- 
von gehalten ist. Ich berufe mich deshalb auf Otto Frising. gest. 
Friderici Imp. L. II. c 27. p. 370 apud Muratori scpt. rer. Ital. 
Yh »Dehinc per Tridentum, vallemque Trtdentinam transiens, ad 
Bauianum usque pervenit. Haec vüla in termino Italiae Bajoa- 
riaeque posita, dulce vinum ... mittit etc.« — Nr. 7. » Italien 
von 1270 — 145 o.« In Ober- und Unteritalien haben sich 
gröfsere Massen gebildet Venedig hat sich vorzuglich machtig 
gegen Westen und Norden hin erstreckt, und ist zum unmittel- 
baren Nachbarn Tyrols und des Herzogthums Mailand geworden, 
westlich von Mailand das savoyische Gebiet« Die Besitzungen 
Venedigs an der Huste von Dalmatien , in den verschiedenen Thei- 
len Griechenlands, an der h leinasiatischen Küste, bis Cypern hin, 
sind in einem einzigen Härtchen dargestellt. In Linter-Italien er- 
scheint bei allem Wechsel der Regenten das Königreich Neapel 
als eine compacte, nach dem Kirchenstaat hin bestimmt abge- 
grenzte Masse. Der Werth dieser (und der folgenden) Karte 
wird noch ganz besonders dadurch erhöht, dafs die Plane der 
Städte Mailand, Florenz und Neapel sich auf derselben befinden, 
desgleichen die Schlachtgefilde von Scurcola und Benevento bei 
einem andern Karteben , welches Apulien und Sicilien unter den 
Normannischen und Hohenstaufenschen Königen zum Objecte hat. 

— Nr. 8. Den Schlufs dieser ersten Lieferung macht »Italien 
von i45o — 179s.S Beigegeben ist 1) eine Karte von O ber- 
und Mittel-Italien in den Jahren 1793 — 181 5, mit seinen ephe- 
meren trans- und cis-padanischen, ligurischen Bepubliken ; 2) die 
Lagunen von Torcello bis Chioggia , vorzüglich gelungen in der 
topographischen Ausführung, dabei der Stadtplan von Venedig. 
3) Genua und seine Umgebungen; 4) La Valetta auf Malta, we- 
gen der Belagerung von i568 merkwürdig; 5) das Schlachtfeld 
▼on Pavia, in welchem Treffen der ritterliche Franz 1. den a5. 
Febr. i5*5 gefangen wurde; 6) die Fürstentümer am untern Po. 

— Ich schliefst* diese Anzeige der ersten Lieferung des vortreff- 
lichen und durch seine Gründlichkeit vor so manchem seichten 
Machwerk sich vorteilhaft unterscheidenden Werkes mit dem 
Wunsche und mit der Erwartung , dafs dasselbe bei dem sach- 



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376 



Rhctorcs Graeei ed Walz. 



verständigen Publikum wohlverdiente Aufnahme and Anerkennung 
finden , und die folgenden Lieferungen in kurzer Zeit an das Licht 
treten mögen , wozu , wie ich höre , Alles von Seite des Herrn 
Vfs. wie des Herrn Verlegers vorbereitet und eingeleitet ist Die 
zweite Lieferung soll sich in 9 Karten vorzuglich mit der Profan« 
und Kirch engeschichte Deutschlands bis auf das i6te Jahrhundert 
befassen. 

Dr. G. Th. Rudhart. 



Hhclores Graeei ex eodieibus Florentini» , Mcdiolancnsibus , Monaeensibus , 
Neapolitanis, Parisiensibus , Romanis, Venetie, Taurinensibus et V'in- 
dobonensibus emendatiores et auctlores edidit , suis aliorumqne annota- 
tionibus instruxit, indices locupletissimos adjecit Christianut Wals, 
Professor Tubingensis. Stuttgartiae et Tubingae stantibus J. G Cot- 
tae t Londini apud Black, Young et Young, Taristock- Street , Lutetiae 
apud Firmin Didot. 8 maj. Fol. I. MDCCCXXXII. S. XU. 658. Fol. 
II. MDCCCXXXF. S. XX 684. Vol. III. MDCCCXXXIF. S. X. 750. 
Fol. IV. und V. MDCCCXXXIII. S. X. 846 und IF 620. Fol. Fl. 
MDCCCXXXIF. S. XFl. 644. Fol. Fll. Pars I. u. II. MDCCCXXXIU. 
und MDCCCXXXIF. S. Fl 1852. Fol. FIll. MDCCCXXXF. S. IF 
820. Fol. IX. Jffixa est E. Finekhii epistola critica. MDCCCXXXFh 
S. XXFII 782. 

Diese neue Ausgabe der Bhetores Graeei liegt nun schon 
seit einem Jahre dem Publikum vor. Sie ist einerseits von be- 
schränkterem Umfange, als die selten gewordene Aldina vom J. 
i5o8 und 1509, sofern darin fehlen Aristotelis rhetoricorum ad 
Theodecten libri tres, rhetorice ad Alexandrum, ars poetica, 
Dionysii Halicarnassei ars rbetorica und de nominum compositione. 
Andererseits ist sie bei weitem reichhaltiger; denn es sind hinzu- 
gekommen die Progymnasmata des Hermogenes und Theon, die 
Paradigmen dazu von Nicolaus, Nicephorus Basilaca , Severus, 
Georgius Pachyraeres u. s. w.; die Homilien des Johannes üoxo- 
patri zum Aphthonius und eine fernere Scholiensammlung dazu 
aus einer Münchner Handschrift; ferner die Epitomatoren des 
Hermogenes, wie Psellus, Tzetzes, Georgius Pletho, Matthaeug 
Camariota, Josephus Rhacendyta, welche theils vollständig, theils 
nur theilweise abgedruckt sind; die alte, ausfuhrliche und gehalt- 
volle Scholiensamralong von ungenannten Verfassern zu den drei 
Schriften des Hermogenes ntoi otolocov, ntoi tvpiotnv und n$ol 
idt&v im siebenten Bande; die Varianten der in einer Venetia- 
nischen Handschrift im Zusammenhang enthaltenen vollständigen 



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Rhetores Graeci cd. Wal«. 



an 



Scholien des Syrianus, und die besonders abgedruckten in dersel- 
ben Hdschr. enthaltenen Scholien des Sopater zu der Schrill des 
Hermogenes nepl atdat&v, die des Maximus Planudes zu dersel- 
ben Schrift, die des Johannes Siceliota (Doxopatri) zur Schrift 
?tepi idi&v und des Gregorius von Korinth zur Schrift mql ue- 
SoJov dttvojiTTo; , wozu noch des Bufus ars rhetorica , Maximus 
*spl rav dXvxcüv dvTibtufuv , Tiberius, Herodianus, Polvbius 
Sardianus, Zonaeus und Andere ntpl a^n^dxov, Tryphon, Gre* 
gorius Ton Korinth , Choeroboscus und andere ntpl xponfav kom- 
men, um andere kleinere Aufsätze zu übergehen, welche mehr 
mühsam aufzuzählen als interessant zu lesen sind. 

Es ist aber nicht blos Neues hinzugekommen, sondern auch 
das Alte oder sonst schon Bekannte erscheint hier zum Theil in 
wesentlich verbesserter Gestalt, die wir theils den zahlreichen 
Tom Herausgeber verglichenen Handschriften , theils auch seinem 
kritischen Scharfsinn verdanken. In dieser Hinsicht verdienen die 
Progymnasmen des Theon, die Schriften des Hermogenes Deme- 
trius de elocutione, Menander und Apsines vorzugsweise genannt 
zu werden, wenn auch im Einzelnen noch Manches selbst an 
dieser zu berichtigen bleibt. 

Das Ganze zerfällt in drei Th eile: i) Progymnasmata , Lehr- 
bucher nebst Paradigmen und Scholien im ersten und zweiten 
Bande , 2) Hermogenes Bhetorik nebst seinen Epitomatoren und 
Scholiasten, vom dritten bis zum siebenten Bande; 3) selbststän- 
dige Schriftsteller über rhetorische Materien im achten und neun- 
ten Bande. Der Herausgeber hat sich jedoch nicht streng an 
diese Eintheilung gehalten. So findet man im ersten Bande die 
fifJUTcu des Adrianus, im dritten Bande die Schrift eines Ano- 
nymus wtpl a^pctTtov , deren Schwestern im achten Bande ste- 
hen; im fünften die des Maximus wepl tojv &Xvtqv vnoSeotav , 
welche mit Hermogenes durchaus in beiner näheren Verwandt« 
schaft steht Die Bücksicht auf den Inhalt der Aufsätze mufste 
sich dem Streben unterordnen , den einzelnen Bänden eine gleich* 
mäfsige Grüfse zu geben. Die hier folgende Becension wird sich 
daher auch nicht strenger an jene Eintheilung halten, sondern 
die einzelnen Schriften des Werkes in der gleichen Beihenfolge 
durchgehen, in welcher sie in der Sammlung abgedruckt sind. 

Erster Theil. 

Der erste Band ist in diesen Jahrbüchern bereits von anderer 
Hand angezeigt worden; auch der Bec. hat ihn früher anderswo 
beurtheilt, und die dabei gemachten Bemerkungen sind schon 



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378 Rhctorea Graeci ed. Wal«. 

Tom Heraasgeber im Anhange zum neunten Bande zusammenge- 
stellt. Daher hier nur noch Folgendes. 

Die Reihe der Progymnasraata hätten die des Theon als die 
ältesten eröffnen sollen; an sie hätten sich der Blutsverwandtschaft 
wegen die des Hermogenes anschließen müssen ; zuletzt wären die 
des Aphthonius gekommen, an welche sich dann die Scholien an- 
mittelbar angeschlossen hatten. 

Die Paradigmen hätten ohne grofsen Verlust für den Leser 
and sogar zur Erleichterung des Käufers wegbleiben können , da 
sie zum mindesten keine Theorie enthalten, in diese Sammlung 
aber nur die Theoretiker gehören. Wären dann noch die zwei 
Auszuge aus den Progymnasmen des Aphthonius p. 131 — 136, statt 
besonders abgedruckt zu werden , nur gehörigen Orts benutzt und 
nebst den Scholien zum Theon p. a57 — 262 und den Prolegome- 
nen Vol. II. p. 69 — 80 weggelassen; ebenso im Abdrucke der 
sich häufig wiederholenden Scholien die sonst vom Herausgeber 
geübte Sparsamkeit durch Verweisung auf das bereits Gedruckte 
angewendet worden, so hätten wir den ganzen ersten Theil, der 
die Paradigmen nebst den Scholien enthalten wurde, in einem 
einzigen Bande, der etwa an Stärke dem vierten gleich käme. 
Solche Ausstellungen sind freilich leichter hintennach zu machen, 
wenn ein Werk gedruckt ist , als bei der Herausgabe selbst die 
Fehler, welche ausgestellt werden, zu vermeiden. Sie mögen 
daher auch nur als frommer Wunsch, nicht als Vorwurf für den 
Herausgeber, hier stehen. 

Um auf das Einzelne zu kommen , so sind zum Hermogenes 
ausser dem , was im neunten Bande aus den Becensionen nach- 
getragen ist, neuerlich noch Emendationen von Göller zu Deme- 
trius de elocut, p. 140 sq. erschienen. Sie bezieben sich jedoch 
noch auf den alten Text; in dem neuen findet sich entweder be- 
reits das Nemliche oder Besseres. Das Andere ist theils bereits 
in den Becensionen berichtigt, theils unbedeutend. Beachtens- 
werther ist der in der Haller Literaturzeitung i835, Mai Nr. $3 
ausgesprochene Zweifel an der Achtheit dieser Progymnasmen, 
Wenn wir auch auf das Stillschweigen des Syrianos Vol. IV. p. 3o 

mm % 

des Suidas und anderer Alteren kein Gewicht legen wollten, so 
mufs doch die ausdrückliche Angabe des alten Scholiasten Vol. 
VII. p. 5n Verdacht erregen, dafs Einige diese Progymnasmen 
dem Libanius beilegen. Dafs in den Paradigmen des Libanius die 
Methode der dem Hermogenes zugeschriebenen Progymnasmen 
befolgt ist , ist auf jeden Fall ge wils. Man vergleiche seine Part« 



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Rhetorea Graeci cd. Wala. 



819 



digmen p. 8^3 ff. R. mit den Vorschriften über den xowbq tö- 
asos bei Hermogenes c. 6 p. 29 f. Aus dem Inhalte der Schrift 
läfst sich die weit gehende Verwandtschaft mit der des Thenn, 
besonders im eilften Capitel, gegen die Annahme der Abfassung 
von Uermogenes anfuhren , da dieser sich sonst als originalen 
Schriftsteller geltend zu machen sucht; ferner die fast gänzliche 
Abhängigkeit des Verfassers von fremder Auetoritat, besonders 
bei der Frage, was unter die Progymnasmen gehöre oder nicht; 
daher er auch so Vieles, was als fest und sicher hingestellt sejn 
sollte, blos als fremde Meinung vorträgt, selbst Definitionen c. 1. 
p. 11. c a. 10 und 11. und Unterschiedsangaben c. 7. p. 36. c. 
ia. p. 54. 

Zu Aphthonius hat seit dem Erscheinen des ersten Bandes 
Reinhold Motz die Abweichungen der Leipziger Handschrift im 
ersten Supplementbande zu Jahns N. Jahrbüchern i832 p. 585 ff. 
mitgetheilt. Sie sind vom Herausgeber in die Nachträge am 
Schlüsse des neunten Bandes aufgenommen. Veesenmayer besafs 
ausserdem die Collation einer Pariser Handschrift, aus welcher es 
nicht uninteressant seyn dürfte, die Variante zu p. 91, i. her- 
zusetzen. Der gewöhnliche Text hat hier: xai ii ti« dfXXo; iv 
%olq 7ipoVroK ooGfxoTavoq ädtrai. Die Handschrift bietet dafür 
die richtigere Lesart: iv rolq tiq&tiv. Auch p. 99, 4* hat Aph- 
thonius to 7tQbir t v , wo sich in Hdschr. ebenfalls die Variante x6 
npürov findet. Zu p. io3, 8. (xal vvv exari^av xetrat uot 
ttcudov ydoO ist die Variante yevoq aus Johannes Doxopatri be- 
merkenswerth , welche schon wegen xürat, passender erscheint , 
als die Vulgata, und noch durch das Folgende (Jifds oXav nau 
dav *$mivav 6\tfyov) empfohlen wird. Mit Recht ist Ton an. 
derer Seite auf den Unterschied der Sprache in der Methode und 
in den Paradigmen aufmerksam gemacht worden. Dieser läfst 
•ich schon daraus erklären, dafs der Verf. an dem einen Orte 
blofse Kunstregeln, am andern Musterstücke für Schüler geben 
wollte. Jene fordern eine schlichte und einfache Sprache; bei 
diesen hat er die Freiheit, seine Kunst zu zeigen. Daher ist hier 
seine Sprache sowohl in einzelnen Ausdrücken ( oI$ für quia, 
auch bei Himerius ecl. 3, 8. 4, 1. und in den Paradigmen des 
Nicolaus) als in ganzen Wendungen gesucht und gekünstelt. 
Zweitens hat er in den Paradigmen ältere Werke vor sich, die 
er wörtlich wiedergeben kann ; in den Paradigmen steht er auf 
lieh selbst. 



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380 



Rhetorcs Graeci ed. Walz. 



Über Tbeon hat der Herausgeber sowohl aas den Hecensio- 
nen, als aus der i834 bei Loftlund in Stuttgart erschienenen ab- 
gesonderten Ausgabe des Recensenten am Schlüsse des neunten 
Bandes ausfuhrliche Nachträge gegeben. Ein Fehler, der bisher 
noch Aller Augen entgangen zu seyn scheint, ist ndvxa %ä dpa?« 
T^uaia nepiatpovaa c. 2. p. 171 , 3. Statt ■nepiaipovoa. Auf« 
fallend ist im fünften Capitel die Stelle: X? £ "* 4avi ovrxopoq 
omö(paatq r, n^ä^tq 9 ptr tvoxo%laq &va(ptpopivn ilq t» cbptff- 
pivov Txpömonov ij dvakoyovv npoa4ni(p. Da gleich darauf folgt: 
näoa yoj» yva^ avrxopos ci« itQÖonnov dvatyi^opivri xp«'<*v 
noul , so sieht man nicht ein , was der Beisatz jist* cva-ro^tcic 
bei avaftQopfoii in der Definition bedeuten soll. Die gleiche 
Schwierigheit entsteht bei Aphthonius c. 3. Xpfta iaxlv änopvri- 
povtvua ovvtouov , t^axd^&q ini xi n^öaanov ava<f>ipovoa, 
zu welcher Stelle wirklich von Johannes Doxopatri zweierlei Ver- 
suche früherer Ausleger aufgeführt werden, tiaxo^oq dvaupi- 
^Ed^at in Verbindung mit einander zu erklären. Von demselben 
erfahren wir aber zugleich, dafs Geometres die Worte des Aph- 
thonius erklärte durch Xöyo$ , oaxiq iv ß?<*Xti V fyyo n p^pan 
itoXkllv xr t v didvotav reepi^ct. Noch deutlicher ist die Defini- 
tion, welche sich in der neuen Scholiensammlung zu Aphthonius 
p. 586, 5. findet: x<? ££Ct ^ aT * ^°Y U $ r * ytgd^iq evoxo%o<, xal an 1 - 
touo;, tle Tt 7Tp6<j&7iov t%ovoa x^v avaupofdv. Nach diesem 
ist kein Zweifel , dafs sowohl bei Aphthonius als bei Theon die 
herkömmliche Interpunction falsch , und bei Theon erst nach 
itQä$i<; pex* tvaxo^iaq^ bei Aphthonius erst nach avvxopov 
aro^o« ein Komma zu setzen ist. Die neue Scholiensammlung 
zum Aphthonius p. 669, 8. bestätigt auch die von dem Recen- 
senten zu C. i3. (vopoq i<rxl iTo^m« — dvSpbq iv86%ov noXiTixov) 
gemachte Emendation noXixixöv. Wichtig ist noch das Frag- 
ment des Theon, auf welches Spenge! in den Münchner Anzeigen 
i835. Mai Nr. 3i. aufmerksam gemacht hat Es steht bei dem 
Scholiasten des Aristides T. 3. p. 437. Dindf. tovto dtdriXtaxtv 
s}|tlsp iv xolq TiQoyvpvdoiJLOtQiv iv tw Vf*Xft xtiq rix**lS ®i<ov 6 
ttXVOYQBf °S » sln<&j» • laxt xal extpov tldoq dvxipfmatq (dy- 

dk tldoq pijroptx^, ojiep xöv u£v yevix&xdxav eidüv oäx lax*, 
xtletöv yi f.a;v tldoq'xal ft£po<; xaSiaT^xe. Auf diese Stelle be- 
. zieht sich Jobannes Doxopatri in den Scholien tlq id$<5v p. 4^5. 
01 ydp ntp\ xov viov dvxippr k xixoi Xtf6uevot — n^oy v^vdo paxcA 
(j.(x\\öv zioiv n vjxoStotii; , avaQxwäq t%ovoi xai xava- 



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I 



Rhetorcs Graeci ed. Wale. ZSl 

dxiva^, xal ov npootxxiov 0£a>vt xa\ 2a>itdxoq, itaqa x^v xot- 
9iiv <56$av — xexaoxov tldoq xijq pqxooiurii; ti%euevol$. Durch 
dieses Fragment ist ausser Zweifel gesetzt, dafs bei Thenn nicht 
blos , wie Scheffcr vermuthete , der Schlufs des letzten Capitels 
verloren gegangen ist, sondern auch noch nach demselben seiner 
Ankündigung gemä'fs von der dvdyvQoiq, dxQoaaiq, naod<poa~ 
a*$, l%toyaot* und dvxippriaiq die Rede war. Die ävxipfraiq, 
als Progymnasma behandelt, sey es nun von Theon selbst oder 
▼on einem Nachahmer desselben, wiewohl von einem solchen 
nichts bekannt geworden ist (einen Vorgänger hatte er nach sei- 
ner eignen Angabe hierin nicht), findet sich bei Gregorius von 
Korinth Vol. VII. p. 1206, 12 — 28. 'Avxipfaaiq laxi 1.6) og — 
oXcp Xoycp dvxiyod^ai. Vgl. Theon c 1. p. 1Ö7, 2. n 3h dvxlp- 
pijaiS Iv xalq dvxiyooxpaiq. 

Die sogenannten Scholien zum Theon sind gewifs ursprüng- 
lich nicht für Theon geschrieben ; denn sie erläutern auch nicht 
einen einzigen Satz, der dem Theon eigen wäre, sondern sind 
Erklärungen allgemeiner rhetorischen Termini, wie vnoxototq, 
pv&ot, tniuv^tov , ooxpr t vtia u. dgl., theils aus Johannes Doxo- 
patri , theils aus Vol. VI. p. 36 sq. genommen, und an die Stellen 
geschrieben, wo sich Theon dieser Termini bedient. Es wurde 
sie daher Niemand sehr vermissen, wenn sie auch fehlten. In 
der Gestalt, wie sie hier abgedruckt sind, sind sie ohnehin gro- 
fsentheils unverständlich. 

Die Verfasser der Paradigmen mag genügen dem Namen nach 
aufzufuhren. Dieselben sind Nicolaus, der unter den Kaisern Leo, 
Zeno und Anastasius 4$7 — 5 1 8 lebte; Nicephorus Basilaca, unter 
Alexius Comnenus, der 1180 starb; Severus um 470, schrieb 
diiiyripaxa und föonoiiaq; Georgius Pachymeres, 1242 — i3io; 
ein Anonymus, der den Nicephorus vor sich hatte. Ein Tbeil 
der Paradigmen des Nicolaus war ohne Zweifel bereits gedruckt 
in dem Werke: Polemonis et Himerii declamationes et eclogae , 
Graece. Excudebat H. Stcphanus. 1567. 4. In diesem Buche fin- 
den sich auch prixooixäv nqoyvpLvaa^dxtiiv itaQudgtypuxa in 
diaeßdpav aotptoxüv avXXeyivxa. Die Paradigmen, welche aus 
Nicolaus gezogen seyn konnten , deren Identität mit denen des 
Nicolaus aber erst durch Einsicht des dem Ree. nicht zu Gesicht 
gekommenen Buches bestätigt werden müfste, sind: 1) xoivbq 
xonoq *axä aqyov p. 76. vgl. Nicol. p. 32 1 ; 2) lyx&piov ^eipo« 
voq p. 77. vgl. Nicol. p. 335; 3) y\>6yoq Sioovq p. 78. vgl. Nicol. 
p. 341. Überdies finden sich noch unter Nr. 5. $6yoq dpitiXov 



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382 Rhetorci Gracci cd. Wal«. 



p. 82 und Nr. 7. avyxg^aiQ &r i uoo$hovq xal Ai(r%ivov p. 86. 
Aber diese beiden Themen sind nicht Mos von Nicolaus p. 343 
u. 350 1 sondern auch von Libanius behandelt worden, und Konn- 
ten daher auch aus diesem entnommen seyn. Nicht unwillkommen 
mag die Notiz von Nicolaus über die Priesterin Ninus seyn p. 275, 9. 
Nivov, t^v 'Aöiivouov ifpeiat», 3? t&s ndovä<i &vapi$*o* Svpaoi 
diSnxe Ji'xjjv ov oynxgav itaqoivnaaaa. vgl. Lobeck. Aglaopb. 
p. 664 — 667. Ausserdem stehen noch im ersten Bande die peX*- 
1 dt des Adrianus von Tyrus , der unter Antonin und Commodas 
lebte. Dafs dieselben nach Leo AUatius auch von Orelli am Philo 
von Byzanz herausgegeben waren , und die vierte psXcTq ausser- 
dem noch von Passow am Parthenius , war, wie schon von an- 
derer Seite bemerkt worden ist , dem Herausgeber unbekannt. 

Der zweite Band enthält die Scholien zu Aphthonius. Es 
sind deren drei Sammlungen. Die älteste ist diejenige, welche 
unter Nr. 4. p. 565 — 684 sich findet. Sie ist zwar so, wie wir 
sie haben, nicht auf einmal entstanden; doch waren ihre Haupt- 
bestandteile schon vor Johannes Doxopatri vorhanden, und wer- 
den von diesem erwähnt, wahrend von dem, was Doxopatri ent- 
schieden Späteres hat, sich hier nirgends eine Spur findet. Bei 
jedem Progymnasma stellt sich Ein Stuck heraus, das im Zusam- 
menhange die peSoSos desselben abhandelt, so dafs meistens die 
Stelle des Stucks in der Reihe der Progymnasmen , der Begriff 
desselben, sein Unterschied von anderen, die Arten desselben, 
die Behandlung, der Nutzen für die drei Gattungen der Bered- 
samkeit und für die fünf Theile der politischen Rede, endlich 
die Klasse der Progymnasmen , in welche das in Rede stehende 
gehört, besprochen wird. Man sieht, dafs der Vf. dieses Stuckes 
weit mehrere Schriften über die Progymnasmen vor sich hat , als 
wir nur dem Namen nach kennen. Mit Namen erwähnt er davon 
den Siricius, dessen Lehrer nach Suidas Andromachus war und 
unter Diocletian in Ansehen stand. Den Plato nennt er p. 620, 5 
6 SetÖTaro^ IIXaTov, den Aristoteles alSiot^ioq p. 73o , 29. 
Von Schriftstellern nach Christus erwähnt er noch den Cornutus, 
Aristides und Porphyrius ; von Christenthum und Kirchenvätern 
findet sich auch nicht die entfernteste Spur. Wir haben nach 
diesem Allem noch einen Schriftsteller aus der Zeit der heidni- 
schen Sophistik vor uns. Es ist der Sophist Nicolaus, Schuler 
des Proclus und Plutarchus , derselbe, dem die Paradigmen im 
ersten Bande p. a63 sqq. beigelegt werden. Denn was Doxopatri 
p. 198, 22 ff. mit dem Beisatze citirt: 6$ nal NtxdXaoq lv t>; 



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Rhetorea Graeci cd. \S all. 383 

mol x4* wpoyvu* aapaxmv avxov itpaypaxila fttigstart j ferner 
p. 539, 16. unter Voranstellang der Worte: 6 dk oofiaxfa N»- 
xöXao<; I* TO TfflV Tipoyrp vtxa^arrov ßifJXtt? aäror vgl. p. 60 , 29. 
and endlich p. 548, i3. vgl. p. 62, 29. mit bioser Nennung des 
Namens NtxoXaoc, das findet sich alles in den genannten Stucken 
unserer Sammlung p. 578, 10. 657, 20. 659, 10. im Zusammen- 
hange mit Anderem. Wir haben also bereits im zweiten Bande 
der Rhetores graeci das Werk gedruckt , nach welchem der Her- 
ausgeber Vol. I. p. 264 dereinst in den englischen Bibliotheken 
fahnden will. Die Stücke, welche diesem Nicolaus angehören, 
sind bei dem pvSoq zersprengt; ein Tbeil derselben findet sich 
sogar bei den Prolegomenen zu den Aldinischen Scholien. Auch 
bei dem dniyr^a gehört wohl noch ein Theil , der von dem 
Übrigen getrennt ist, nemlich p. 583, 1 — 584, 5. ihm an. Man 
mufs übrigens , wenn man dieses Stück ganz dem Nicolaus bei- 
legen will, annehmen, dafs ein Stück verloren gegangen sey , 
, welche Annahme in dem Auszuge eine Stütze findet, welcher bei 
c. 1 und 2 dem ächten Werke des Nicolaus beigegeben ist. Die- 
ser behandelt dieselben Fragen wie Nicolaus, nur in katecheti- 
scher Form. Da nun dieser die a^iiax« der difyiiotq behan- 
delt, auf welche das Stück p. 584, 5. sich beruft, so ist anzu- 
nehmen, dafs sie auch von Nicolaus behandelt waren. Von der 
Xpeta an ist dann das Eigentbura des Nicolaus ungetrennt geblie- 
ben, und die katechetischen Auszüge haben ein Ende. Dem Ni- 
colaus gehört demnach Folgendes an: 1) ur$o$ p. 568, 4 — 569, 
3. 572, 12 — 573, 28., wo nach l^aXXdxrovxa ein Punkt zu 
setzen. 577, 22 — 3o. 2) <Myi?ua p. 578, 4 — 58o, 3. 583, 1 
— 584 , 5. 3) x? £t ' a P* 585, 11 — 590, 21. In diesem Stücke 
sind die W 7 orte p. 586, 8 — 10. (n n^d^iq £v(7xo%o$ — wpd^xei- 
-rcu XdyoO blofse Wiederholung derselben Worte 1. 5 — 7. und 
also zu streichen. Ebendaselbst ist 1. 14. nach (knouvtipovtvpa 
eine kleine Lücke, welche sich leicht aus dem Zusammenhang 
erganzen laTst. Was nach p. 590,21. folgt, ist schon im Voran- 
gehenden behandelt. 4) fv6pn p. 592, 21 — 595, 5. 5) &va- 
antvri p. 596, 22 — 600, 2. 6) xaxaoxtvh p. 602, 9 — 21, 
ganz kurz, weil das Notbige in der dvaa xtvi; gesagt ist. 7) xot- 
vbq x6noq p. 607, 16 — 614, 19« 8) lyxaptov p. 618, 10 — 
622, 27. 9) -työyos p. 629, 22 — 633, 5. Man siebt, dafs Ni- 
colaus zwischen tyoyoq und iyx&piov nicht streng scheidet, son- 
dern sie als zusammengehörig behandelt, und daher vom ^öyog 
wieder auf das iyx a>p 10 v übergeht , so dafs er am Schlüsse sagen 



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384 , Rhetorcs Graeci cd. Wate. 

kann: ftcpl eyxoyplov apxovVTtnq ei^xai. in) avyxpiai$ p. 637, 
17 — 640, i3. 11) ri§07toäa p. 643, 23 — 646, 14. 12) 2x- 
cppaoic; p. 649, 9 — 65i, 12. l3) Öia»? p. 657, *9 — 661, 2. 
14) v6pov tiocpopdt p. 669, 7 — 670, 24. Der Text bedarf an 
mehrern Stellen einer Berichtigung. Diese ergibt sich aber theils 
aus dem Zusammenhange leicht, theils aus den Excerpten bei 
Doxopatri und in den Aldinischen Scholien. Tbeon wird oft be- 
rücksichtigt. Mit den sogenannten Progymnasmen des Heimoge- 
nes findet sich wenigstens eine Verwandtschaft in der Behandlung 
der xaxaoxev^ und des t^oyoc ; des lyx&piov p. 620 und 621, 
wo sogar das Beispiel zusammentrifft p. 621, 3. Tgl. Hermog. 
p. 37; ferner des xotvbq töko;, wo die vnoxi>n(Doi$ den teXi- 
xol? nttpaXaioiq bei der IxßoXii iXiovq beigefugt wird p. 6i3, i3. 
Tgl. Hermog. p. 3o. Eine weitere Verwandtschaft böte sieb, 
wenn die oben geäusserte Vermuthung richtig wäre, in der An- 
nahme der fünf a^uara tov Sir^ ruuxo, dar. Mit Namen ist 
weder Theoo noch Hermogenes genannt. In Beziehung auf die 
Form ist noch zu bemerken, dafs diese npay^iareia als ein an 
Knaben gerichteter Vortrag angesehen seyn will p. 633, u ovxo 
atai ixtfv Jjud; (1. vpäq) uaSf Iv , c5 fiXxaxot nallttq. 

Ein weiterer Bestandtheil dieser sogenannten Scholien ist eine 
Epitome der fUSo£o{ bei Aphtbonius. Diese Epitome steht bei 
dem fiv&os p. 575, 17 — 25, bei dem di^yn^a p. 58o, 3 — 17, 
wo übrigens eine Abweichung sich findet, indem die Zahl der 
naotnö^tva auf sieben angegeben und den sechs von Aphtbo- 
nius aufgeführten noch die vXn beigefugt ist. Bei den übrigen 
Progymnasmen steht die Epitome stets entweder ganz zu Anfang 
des Stuckes, oder gleich nach demselben. Es ist nur zu bemer- 
ken, dafs bei der yv&pn die iqyaota übergangen ist, wahrschein- 
lich weil sie dieselbe ist, wie bei der x?ei<>. Bei dem xoivhq 
Tctaoc ist in den Worten iXiov IxßoXii 8io\ rtSv TtXixäv xe- 
(paXaiav eine Annäherung an den Ausdruck des Hermogenes. Bei 
der ifionoiia ist ist der Text entstellt, aber leicht zu verbessern. 
Bei der intp^aaiq ist auffallend, dafs nur zwei naqtitoyLtva ge- 
nannt sind , während doch Apbthonius noch ausserdem %onoi f 
sföq und x aoa%x ^9 °* er " x , • näher bezeichnet. Bei der 
SsVif und vopov «io(f>opa ist geradezu eine Epitome ans Hermo- 
genes gegeben statt aus Apbthonius. Ob damit im Zusammen- 
bange steht, dafs die Scholien in der Ambrosianischen Handschrift 
mit der l*(poaai$ ganz aufhören, ist ungewifs. 

(Der Bctchlufs folgt.) 



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N°. 25. HEIDELBERGER 1837 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Rhclove* Graeci ed. Walz. 

(Beacklufs.) 

Ein dritter Bestandteil unserer Sammlung sind die Scholien 
selbst, sowohl zur pe'Sorto; , als zur piXirn Sie sind im Ganzen 
Älter als Doxopatri; denn dieser citirt sie bereits, während von 
dem, was er Eigenes hat, namentlich von den Ansichten des (Me- 
tropoliten) von Sardes und des Geometres sich hier nichts findet. 
Bei einem dieser Scholien bedient sich Doxopalri des Ausdrucks 

p. 556, 12. tv XlVl ftk TMP ßtfiXicDV o^iftUTl cU'^SXflU 7tpÖ- 

o oj n o v erpov • r t v de iv Ixiiioi xul o%6\iov napans'mtvov tw 
pr t xio xoiovxov etc. vgl. p. 670, 29. Ebenso p. 564, 3. iv xivi 
ßiß\itp oy^okiov tvpov staptiutfifftl vov tü .t / , in pnxcp xoiovvov 
vgl. p. 681, 17. Anderswo hat er den Ausdruck: xtve$ xtüv x& 
itnquv ßißXicuv i*r t y ovpevuav (pixoi p. 173, 27. Vgl. p. 576, 10. 
oder auch p. 529, 7. xovxo Tirtf plv ovx&q l\r t yr t oavxo. vgl. 
p. 653, 16. An einer ferneren Stelle nennt er ausdrucklich den 
Namen des Verfassers p. 3oi, 3o. *Avr&vto$ de xt$ t<pr t xb 
napbv nape/Otiju'/, on tö f^exai npoq r&k v , oJ 'A<pSo»>ie, ov 
mbar&v iii'ori tö pijxdr ia. vgl. Schol. Aid. p. 23. Dieses Seho- 
lion findet sich in unserer Sammlung p. 595, 17, deren Scholien 
demnach entweder von Antonias verfafst seyn, oder doch seine 
Scholien in sich aufgenommen haben tnüTsten. 

Der Verfasser der Scholien selbst gibt sich zugleich als den 
Verf. der Scholien zum Hermogenes neyi idtäv zu erkennen, 
welche im siebenten Bande abgedruckt sind, p. 647, 26. &<; iv 
*r<j> wf(>i idtav Seov owatpopepov ipovutv , wo der Herausgeber 
richtig auf Vol. VII. p. 1075 verweist. Hiemit stimmt überein, 
dafs die Sammlung unserer Scholien sich regelmäßig in der glei- 
chen Familie von Handschriften findet , wie die Scholien des sie- 
benten Bandes, und dafs die sogenannten Scholia minora zu Vol. 
VII. p. 828 sich auf unsere Scholien p. 577, 26 ff. berufen. Der 
Verfasser wurde demnach über das zehnte Jahrhundert hinauf zu 
setzen seyn , da jene Scholien sich in Handschriften des zehnten 
Jahrhunderts finden. Zu näherer Bezeichnung seiner Zeit mag 
noch dienen die Stelle p. 653, 6. n di xi-q 'AXfijayfyetas in 
rfxpov xov äaxtoq tJiaTOj, äonty xai vvv 1} x^<, JVh)aXo*6- 
Xf«<; Wem eine grofsere Bibliothek zu Gebote steht, der wird 
vielleicht das Zeitalter des Verfs. aus dieser Andeutung ausmit- 
teln können. In diesen Scholien fällt auf, dafs nach dem Ab. 
schlufs derselben noch neue Scholien zur ueXcxij bei der dya- 
oxixii und xaxaoxft^ p. 601, 20 — 3i. und p. 6o3, 3o — 606, 
3i. folgen. Das letzte Sück ist im Anfang besonders verderbt, 

XXX. Jahr*. 4. Heft. 25 



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386 Khetores Gracci «d. Wals. 



und durch die Art und Webe des Abdrucks, sowie durch die 
Stellung des Titels (naxaaxtvii 9 ort ilxöxa ra xaxä bdtppitv) 
ganz unverständlich geworden. Auch mitten in dasselbe ist eine 
xaxaaxtvh ^mjthimxj';, xalc, <xXX);yoptat{ kvvxri dxö\ov$o$ , 
eingeschoben , die an diesen Ort auf keinen Fall gehört , übrigens 
nichts eigenthürolich Christliches, am wenigsten Mönchisches an 
sich trägt. 

Als Einleitung zu der bisher besprochenen Sammlung stehen 
in den Handschriften die Prolegomena , welche an der Spitze der 
Aldinischen Scholien gedruckt sind p. i — 4* Sie haben ungefähr 
denselben Inhalt , wie die Prolegomena des Maximus Planudes 
Vol. V. p. 2i3 flf., nähern sich jedoch dem Ausdrucke nach oft 
mehr den Piolegomenen, welche Vol. VI. p. 4— 3o abgedruckt 
sind. Mit diesen ganz dieselben Fragen und in derselben Ord- 
nung sind in einem Bruchstücke am Schlüsse unserer Sammlung 
p. 682, 3i AT. zu behandeln angefangen. Die Ausfuhrung jedoch 
ist wenigstens p. 683, 18 ff. geradezu aus Sopater Vol. V. p. 6, 
18 ff., aus welchem der lückenhafte Text zu berichtigen ist. 

Wichtiger sind die Prolegomenen , welche nach den oben 
genannten vor den Aldinischen Scholien stehen , und mit den 
Worten ö^irj^ö; -rot? xaSölov ^V(iyäi7fiaTO( beginnen. Für den 
Verfasser derselben ist ohne Zweifel der Sophist Nicolaus zu hal- 
ten. Denn erstens gibt der Verf. selbst zu erkennen, dafs er zu* 
gleich Verfasser von Progymnasmen ist, p. 6, 16. Zweitens ent- 
halten sie den vollständigen StofT der Fragen, welche theils in 
dem katechetischen Auszuge zu c. 1. der Scnoliensammlung, theilf 
in den vor ihr abgedruckten Piolegomenen zur Rhetorik stehen« 
Dieser katechetische Auszug aber ist eben aus Nicolaus gemacht, 
wie die Vergleichung desselben mit dem Texte des Nicolaus bei 
c. 1 u. 2. zur Genüge zeigt. Drittens ist gerade dasjenige darin 
besprochen , was man nach der Beschaffenheit der Progymnasmen 
des Nicolaus selbst in einer Einleitung dazu erwartet. Zu be- 
merken ist darin die Definition der Rhetorik von Diodorus p. 7,' 
21, welche sonst in keiner der vielen Einleitungen zu den Pro- 
gymnasmen sich findet, wohl aber bei Quintilian 2, i5, 16., wo 
statt Diodorus der Name Theodorus steht. An Valerias Diodorus, 
den Saidas erwähnt und in die Zeit des Kaisers Hadrianus setzt, 
ist unter solchen Umständen nicht zu denken« Ob übrigens diese 
Prolegomenen gerade so aus der Hand des Nicolaus gekommen 
sind, wie wir sie jetzt haben, mag immerhin bezweifelt werden. 
Der Anfang wenigstens durfte besser eingeleitet worden seyn , 
und was am Rode steht, scheint am unrechten Platze zu stehen, 
da bereits p. 8, 12. das erste Capitel ntql pr$ov begonnen hat. 

Die zweite Stelle im zweiten Bande gebührt dem Alter nach 
dem Johannes Doxopatri , dessen Horailien p. 81 —564 zum er- 
sten Male abgedruckt sind. Doxopatri lebte dem Herausgeber 
zufolge nach dem Jahre 1041, indem er p. 5o8, 18. den Kaiser 
Michael Calaphates erwähnt, und wurde zuletzt Patriarch von 
donstanrinopel. bt dies letzte wirklich der Fall, so mufste er 



Khetoret Graeci ed. WaU 



wohl, wie auch der Herausgeber annimmt, mit Johannes Caraa- 
terus identisch seyn, der 1198—1206 Patriarch war und in die 
Zeiten des lateinischen Kaiser! hums Hei. Seine Homilien sind ein 
Meisterstuck von Weitschweifigkeit, welche zu erzielen oft grofse 
Stellen, ja ganze Seiten aus Plato, Thucvdides, Platarch, Diodo- 
rus von Sicilien (B. 16, 22 — 24. p. 474.475.), Lucianus (Catapl. 
c. 27. p. 497 ) (,n d den Kirchenvätern abgeschrieben sind. Unter 
die Quellen, aus welchen er schupfte, gehurt die vor ihro^ ge- 
nannte Scholiensammlung, aus welcher sein Text vielfach zu be- 
richtigen ist, wie namentlich p. 468, i3 — 469, 8. aus p. 633, 7 
— 634, 3. Hiezu kommen noch christliche Ausleger des Aph- 
thonius, wie 6 Sdpittiov (3. u r,x j>o tioAitj^, nicht ~a^ t <ov 9 wie 
der Herausgeber schreibt) und sein Gegner Johannes Geometres, 
dem Doxopatri den Vorzug gibt. Mehrere Male ßnden sich auch 
Definitionen von Sopater und Stucke aus Nicolaus, noch öfter 
aas den Progymnasmen des Theon und Hermogenes, woraus man 
sieht , dafs ihr Text zu seiner Zeit zum Theil schon so verderbt 
war, als wir ihn noch jetzt in den Handschriften treffen, sowie 
dafs man damals in Beziehung auf Authentie so schlimm schon 
daran war, als später, indem er nicht nur die Poogymnasmen des 
Hermogenes, sondern auch die Schrift ntol im^$txxix<äv unbe- 
denklich als Werk des Menander citirt. Der Schlufs des Doxo- 
patri ist aus den Scholien p. 681, 32 sqq. zu ergänzen. 

Die den Homilien des Doxopatri vorangeschickten -npoleyö- 
fieva m\ tr;v 'pTfTofux^y p. 69 — 80 (bisher ebenfalls ungedruckt) 
sind ein blofser Auszug aus dem Anfange seiner Homilien, und 
tragen daher seinen Namen mit Unrecht. Sie sind vollkommen 
entbehrlich. 

Die letzte Stelle nehmen die Aldinischen Scholien ein p. 9— - 
68. Sie bilden die jüngste Sammlung; denn sie sind nicht blos 
aus der zuerst genannten Sammlung, sondern auch aus den Ho- 
milien des Doxopatri geschöpft, wie sich aus der Citation des 
Antonius, Nicolaus, des (Metropoliten) von Sardes und des Geo- 
metres ergibt. Der Herausgeber hält sie für ein Werk des Ma- 
ximus Planudes, vor dessen Commentare zum Hermogenes sie 
gewöhnlich in den Handschriften stehen. Von den Prolegomenen, 
welche vor diesen Scholien stehen, war schon oben die Rede. 

Reutlingen. F i n c k h. 

» 



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388 



ÜBERSICHTEN und KURZE ANZEIGEN. 



ORIENTALISCHE LITERATUR. 

1. Samachscharis goldne Halsbänder , als Neujakrsgeschcnk arabisch und 
deutsch von Joseph v. Hammer. Wien 1835. 108 S. 8. 

2. Samachscharis goldne Halsbänder , nach dem zuvor berichtigten Texte 
der v. Hommerschen Ausgabe von neuem übersetzt und mit kritischen 
und exegetischen Anmerkungen begleitet von M. Heinr. Lehr. Flei- 
scher, designirtem ordentl. Prof. d. morgenländ. Sprachen a. d. Uni- 
versität Leipzig und Mitglied der asiatischen Gesellschaft in Paris). 
Leipzig 1835. 87 5. 8. 

8. Samachscharis goldne Halsbänder , von neuem übersetzt mit kritischen 
und exegetischen A'oten zur Erklärung der von Herrn v. Hammer mifs- 
verstandenen Stellen , nebst Perbesserung des Textes nach einem in Ka- 
hira aufgefundenen Manuseripte, von Gustav IV eil, ehemuligem Pro- 
fessor an der polytechn. Schule in Kahira. Stuttgart 1836. 158 S. 8. 

Ref. wurde , da er doch über sein eignes Werk kein Urlbeü» 
aussprechen kann, sich mit der einfachen Anzeige der drei ge- 
nannten Weihe begnügt und allenfalls nur angedeutet haben, was 
ihn zur Herausgabe seiner Übersetzung veranlagst und in welchem 
Verhältnisse sie namentlich zu der des Hrn. Prof. Fleischer steht, 
wenn nicht eine Kritik des H. v. Hammer in den Wiener Jahr* 
büchern ihn gewissermaßen nölhigte , noch Einiges hinzuzufü- 
gen, theils um sich selbst gegen die bittern Angriffe des H* v. 
Hammer zu rechtfertigen , theils aber auch um einmal dem ge- 
lehrten Publikum über den W 7 erth der hochtrabenden Worte sei* 
ncs stolzen Gegners die Augen zu öffnen. Zwar scheint H. v. 
Hammer seine Recension mehr auf possenliebende als gelehrte 
Leser berechnet zu haben, sonst- würde er nicht nur im Ganzen 
einen etwas zarteren Ton angenommen und sich mehr mit der 
Sache als mit Persönlichkeiten beschäftigt haben, sondern er wurde 
auch gewifs, wenn seine Absicht gewesen wäre an Orientalisten 
zu appelliren , es nicht gewagt haben , Refn. unbescheiden zu 
nennen, weil er erklärt, dafs nur irgend ein unwissender Türke 
einen Unterschied zwischen Adab und Edeb raachen k5nne, und 
zu behaupten , dafs der Kamus zutschen Adab und Edeb unter- 
scheide , da im ganzen Kamus keine Spur davon zu finden ist. 
Es steht Gottlob mit dem Kamus nicht wie mit vielen andern 
orientalischen Werken, aus denen man leicht, weil sie nicht Je- 
dem zu Gebote stehen, der Welt einen Bären aufbinden kann. 
Es gibt viele Exemplare des Kamus in Deutschland, und doch 
erklärt sich Ref. bereit , auf immer seine Feder niederzulegen , 
wenn Jemand durch eine Citation aus dem Kamus ihn statt des 
II. v. Hammer Lüge straft. Hätte forner H. v. Hammer bei sei- 
ner Recension Orientalisten im Auge gehabt, so würde er nicht 



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OrirnUlUchr Literatur. 



Hrn. Fleischer rorgewoi fen — und dieser Vorwurf trifft auch 
Refn. — dafs er statt »er spielt die Trommel nur sich selber 
ror, der seine Zitter nur in Gottes Tonart spielt«, und mit 
einer alle Grenzen uberschreitenden Schamlosigkeit hinzugefügt 
haben, dafs von Gott gar keine Rede sey , während kurz zuvor 
Allah genannt ist, wovon sich Jeder, der nur die arabische Schrift 
kennt, leicht zu uberzeugen im Stande ist. Es kann hier nicht 
des Refn. Absicht seyn, Hrn. v. Hammers Fehler philologisch zu 
widerlegen, weil dafür kein andres Mittel war und noch wäre, 
als eine neue Übersetzung mit Anmerkungen herauszugeben. Letz- 
teres hat Ref. so ausführlich gethan, dafs Herr v. Hammer sich 
besonders darüber ärgert, dafs die zehn Bogen seines Werks mehr 
als zwei Drittheile Noten enthalten. Wahrlich ein grofser Fehler 
in den Augen eines Mannes, der für seine wie aus einer Dampf- 
maschine hervorgehenden Arbeiten nie Rechenschaft ablegt und 
seine Gegner nur mit Schimpf und Schmähungen abzuspeisen 
gewöhnt ist. Jeder Orientalist, der Hrn. v. Hammers Werk mit 
dem des Hrn. Fleischer oder des Refn. vergleicht, bedarf keines 
besondern Winks, um auf die Wahrheit zu kommen. Übrigens 
kann auch der, der sich kein eignes Uitheil in diesem Gebiete 
zutraut, das des beruhraten Herrn Silvestre de Sacy, den Herr 
v. Hammer selbst den Meister aller Meisterer nennt, zu Rathe 
ziehen. Dieser competenteste Richter in arabischen Streitfragen, 
obschon ein Freund des Hrn. v. Hammer , glaubte es doch der 
Wahrheit schuldig zu seyn , sich im Journal des savants des Mo- 
nats December i836 gegen den Mächtigen und zu Gunsten der 
bei Manchen als vorwitzig geltenden Ankömmlinge auf dem wis- 
senschaftlichen Kampfplätze auszusprechen. De Sacy erklärt un- 
umwunden, dafs er schon lange mit Bedauern bemerkt, dafs Hr. 
v. Hammer sich oft, ohne Rücksicht auf Grammatik, mit dem 
ersten ä peu pres begnügt, weshalb er auch manche seiner Werke 
nicht recensiren (rendre compte) konnte. Nachdem nun Ref. ge- 
zeigt, wie H. v. Hammer zweimal, wo es ernste wissenschaftliche 
Behauptungen galt, Erdichtetes für Wahrheit auftischt, ist es 
kaum der Muhe werth, zu erwähnen, dafs der Refn. zugetheilte 
Vorname Abraham — wahrscheinlich aus den allerfeigsten , er- 
bärmlichsten Gründen , die Ref. mit Schweigen übergeht — eben- 
falls erlogen ist. Da Ref. in seiner Heimatb schreibt, würde er, 
wenn es nicht wahr wäre, ebensowenig behaupten können, dafs 
er nie Ahraham geheifsen , als in einem Lande, wo es viele Ra- 
mus gibt, {?egen Herrn ?. Hammers bestimmteste Versicherung 
erklären, dafs derselbe keinen Unterschied zwischen Adab und 
Edeb macht , oder wo für einen Gulden Jedermann Hrn. v. Ham- 
mers Text kaufen kann, ebenfalls gegen seine Angabe sagen, dafs 
im Anfange des 35sten Spruchs Allah erwähnt ist, worauf sich 
babihi bezieht. Nur ein Mann wie H. v. Hammer Purgstall kann 
hinter den Wällen und auf den Zinnen seiner Schlosser sich hoch 
und sicher genug gestellt glauben, um auch mit evidenten Un» 
Wahrheiten, selbst auf Gefahr öffentlich Lügen gestraft zu wer- 



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390 Orientalische Literatur. 

den, seine Gegner zu verfolgen. Um nun noch einen Beweis 
von der Wahrheitsliebe des Hrn. ?. Hammer zu geben, nach des- 
sen Recension man glauben sollte, es seyen ihm nur Druckfehler, 
vergessene und versetzte Punkte, höchstens ein paar poetische 
Licenzen, die er in seiner gereimten Prosa sich erlauben zu dür- 
fen glaubte, von den spätem Übersetzern als Unwissenheit auf- 
gelegt worden , um zugleich auch zu zeigen , dafs II. v. Hammer 
keine freie Bearbeitung beabsichtigte, — was übrigens schon aus 
seiner eignen Vorrede, wo er seine Übersetzung sinn- und reim- 
getreu nennt, sowie aus der wirklichen sclavisch treuen Überein- 
stimmung mit dem Texte in den leichtern Stellen hervorgeht , — 
mögen hier noch einige Betspiele aus dem Werke des Herrn v. 
Hammer, mit dem des Ref. verglichen, folgen, woraus Jeder- 
mann einleuchten wird, dafs, wer sein Leben dem Studium der 
arabischen Sprache gewidmet, solche Ungereimtheiten von einem 
Manne, der bei Manchen als unfehlbar gilt, nicht ungerugt lassen 
konnte. 

Ende des 4ten Spruchs. 

H. v. H. Ref. 
Sag mir, wehe dir ! wie lange Sage mir, wehe dir! warum 
schleppst du der Schleppe Unge- bedeckt deine Schleppe die Er- 
mach auf sandigem Boden nach? de, während in Kurzem ihr Kies 
wenig fehlt, dafs du nicht nach dich bedeckt? sie wirft dann ihre 
dir ziehest den Kies und Sand Last über dich, und beladet dich 
und dafs dir nicht die Kiesel schwerer als du sie, ond gibt 
nachfliegen (von dem Fufs auf dir noch einmal so viel zu tra- 
die Hand); du bist schwerer zu gen als du ihr gegeben, 
ertragen, als was du an der 
Schleppe schwer hast zu tragen, 
und doppelt ruhen auf dir die 
Lasten, die dich belasten. 

Anfang des i2ten Spruchs. 
Du hörst nicht auf dir Haus- Versage Niemandem deinen 
rath anzuschaffen bis dich die Beistand und deine Hülfe bis die 
Botben des Todes werden hin- Todesverkünder deinen Tod ver- 
wegraffen, künden. 

In der Mitte des i6ten Spruchs. 
Er ist eine Feder, die von Selten erkennt man Ehrgefühl 
Anfang her bekannt, und ein und Selbstachtung in dem, des- 
Scbilfrohr, nachdem die Väter sen Ahnen ehrlos waren, 
erst adelig werden genannt. 

Mitte des aisten Spruchs. 

Wann dich deine Übertrei- W 7 e nn es dir wegen deiner 
bung bewildert im Land und dir Nachlässigkeit [in guten Werken] 
fällt auf deine Hand, wie berei- unheimlich wird und du die Ver- 
chert dich alsdann dein Bau? gangenheit bereuest, was nützen 

dir alsdann deine Bauten? 



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Orientalische Literatur. 

47Ster Spruch. 
H. v. H. Ref. 
Wie Ware der ein Vorsichtiger, Wie kann der Scherzende be- 
der machet immer Spafs ; hei , sonnen seyn ! sieh der Unter- 
hei! Tora Brunnen der Trefflich- schied zwischen beiden ist grofs; 
keit ist erschöpft das Nafs; es es genüge dir dafs Scherz [ma- 
genuge dir, dafs der Spafs spas- schu] das Gegentheil von Ernst 
modisch und dafs der Pierrot [chasmuj sowie Mischung [mas- 
periodisch , vielleicht dafs ein dju] das Gegentheil von Schei- 
VVort mit heimlicher Andeutung dung [djasmuj. Manches deiner 
▼om Schwanz deinen Bruder er- [scherzenden] Worte taucht dich 
regt zum Sundentanz; ist er ein in Vergehen und giefst auch volle 
Freier, so hast du Unfruchtbar- Eimer davon über deinen Näch- 
heit gesäet in das schwarze Horn sten. Ist dieser ein Freier, so 
■einer Lust. säest du dadurch Abneigung in 

sein Herz. 

54ster Spruch. 

Leiste an Gehorsam noch mehr Belade dich mit gottgefälligen 
als an Gehorsam von dir begehrt Arbeiten etwas unter deiner Kraft, 
der Herr; wer sich der Macht un- denn wer ihnen seine ganze Kraft 
terwürfig macht, von dem wirdAU hingibt, mochte ihrer bald genug 
les leicht erreicht ; lafs ab von ver- bekommen. Lade deine Seele nur 
leumdendem Weibergeschwätze, zu kleinen Familienmahlzeiten 
dafs dasselbe dich nicht in dci- ein , nicht zu grofsero Schmaus, 
nem Vorhaben zurücksetze. Eine sie mochte sich sonst übersatt 
Grube, worin zurückgeblieben zurückziehen müssen. Gewifs ist 
ein Best des Wassers, das darin es besser, etwas von seiner See- 
geflossen, ist besser als ein wei- lenhraft aufzusparen als sie dann 
tes Trinkgeschirr, aus dem der [nach einer zu grofsen Anstren- 
Wein ausgegossen. g un g] überdrüssig zu finden. 

6aster Spruch. 

Der ist ein Freier, der seine Nur der ist ein edler Mann, 

Verwandten beschützt und dem wer seine Verwandten beschützt 

sie theuer; sie beschützen sich und ihnen nicht ausweicht wie 

gegenseitig zunächst und nicht der Glatthäutige dem Aussätzi- 

nur in der Weite, wie der Glatte, gen. So sind nur Zweige von 

Weichliche, welcher vor dem dem Baume Maads, nur solche, 

Schäbigen suchet das Weite; und die ein grofsmüthiges Herz und 

so (wenn die Stammverwandten eine erhabene Seele besitzen, 
fest und eng aneinander geschlos- 
sen) sind dieselben ein Ratten- 
könig, begabt mit Seele lei- 
tender, Gabe bereitender. 

66ster Spruch. 

Man sagt, der Anfang der Er sagt: Wer in der Nahe ver- 
Blindheit besteht darin, dafs man botener Güter weidet , der ist 
schielt wie eine alte Mähre. schon auf dem Wege der Blind- 
heit. 



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Orientalische Literatur. 



94ster Spruch. 
H. v. H. Ref. 
Die Nahrung vieler saugenden Wie mancher geniefst hier ein 
Karaehle werden nur Wüsten- zartes saugendes Kaniehl , dem 
disteln seyn , und ein Becher einst ein Mahl von bittern, übel- 
Ton edlem Wein ist Vorboth der riechenden Kräutern zubereitet, 
Feuerpein. und manche kühlen ihren Durst 

an einem Becher roll guten Wei- 
nes, denen einst die brennende 
Pein angekündigt wird. 

• 

9Öster Spruch. 

Wie sollen deine Augen die Wo bleiben die Thränen, die 
Flüssigkeit der Thränen fangen, reichlich fliefsen sollten? Schon 
da die Locken schon grau von sind deine Locken grau, und die 
der Stirne hangen. Du suchst Mutter des Todes baut ihr Nest u 
Gewinn bei der Mutter der und legt ihre Eier da, wo weilse 
Schlechtigkeiten, und wirst aus Haare hervor wachsen. 
Schrecken weifs, wann du siehst 
wie deine Haare weifs. 

Man sieht wohl aus diesen wenigen Beispielen, dafs es sieb 
nicht von Druckfehlern und versetzten Punkten, auch nicht von 
freier Bearbeitung handelt, denn es läfst sich recht gut nachweisen, 
dafs Hr. v. Hammer wirklich Hausratb, Feder, Schilfrohr, 
Übertreibung, Brunnen der Trefflichkeit, Schwanz, 
schwarzes Horn der Lust , Grube, Trinkgeschirr, ja 
sogar eine alte schielende Mähre und einen Rattenkönig — 
und wer wird auch diese erlinden wollen! — im Texte zu sehen 
glaubte. 

Kann man wohl verlangen, dafs gegen einen Mann, der so 
mit der Wissenschaft verfährt, mag er auch noch so viele ander- 
seitige Verdienste haben , noch schonend zu Werke gegangen 
werde ? Ist man unbescheiden , weil man es wagte — nicht in 
einer obei flächlichen Recension , sondern in einem grundlichen 
Werke — bis zur Evidenz darzuthtin , dafs H. v. Hammer nicht 
nur hie und da gefehlt, sondern fast durchweg was ihm gerade 
in die Feder kam, wenn oft auch von einem ganzen Satze nur 
ein Wort mit dem Texte ubereinstimmte, als Produkt eines der 
ausgezeichnetsten arabischen Schriftsteller ausgeben wollte, und 
sich nicht von der Furcht zurückhalten liefs, unter dem eisernen 
Hammer seiner Schmähungen zerschmettert zu werden ? Je ho- 
her ein Mann im öffentlichen Ansehen als Orientalist steht, um 
so mehr ist man es der Wissenschaft, der Wahrheit, dem deut- 
schen Rufe der Gründlichkeit und dem durch ihn entstellten 
Oriente schuldig, ganz rücksichtslos gegen ihn aufzutreten. Was 
andres ist, wo ein Text verschiedene Interpretationen zulä'fst, 
der Eine diese der Andre jene vorzieht, wie dies oft zwischen 
Hrn. Fleischer und Refn. der Fall ist; da bort man auf sich zu 



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Orientalische Literatur. 



befehden , da kann man sich ganz friedlich gegenseitig seine An- 
sicht mittheilen, da ist es Pflicht, selbt von Irrthumern und Miß- 
griffen mit der gröfsten Zartheit zu reden ; auch begreift Ref. 
nicht, wie H. v. Hammer sich freuen bann, dafs auch der Flei- 
scher sein Beil (so nennt er Refn.) gefunden hat, da doch Ref. 
Herrn Fleischer in seiner Vorrede bewunderte, wie er aus einem 
so schlechten Texte eine so gute Übersetzung liefern konnte. 
Wenn dann Ref. sagt, dafs zuweilen die Vermuthungen seines 
gelehrten Vorgängers in Verbesserung des Textes nicht ausreich- 
ten, während er ein Manuscript in Hahira benutzte; ja wenn er 
sogar hinzusetzte: dafs oft, wo auch der Text gleichlautend ist, 
er doch manche Sätze anders erklärte, so hat er deshalb nicht 
im mindesten die Absicht gehabt , den mit der arabischen Sprache 
und Literatur so innig vertrauten Herrn Fleischer anzugreifen, 
sondern er mufste vielmehr dies seiner selbst willen thun, weil, 
als Hrn. Fleischers Werk ihm zukam , das seinige schon ganz bis 
auf die Vorrede gedruckt war, und er daher nicht einmal mehr 
in den Anmerkungen darauf Rucksicht nehmen konnte; dann war 
er diese Erklärung dem Buchhändler schuldig, der doch wün- 
schen mufste, dafs auch die, die Hrn. Fleischers Werk schon 
besitzen, sich doch auch noch das seinige anschaffen. Übrigens 
erklärt Ref. hier ebenso offenherzig, dafs ihm durch Hrn. Flei- 
schers Werk, namentlich durch seine Belege aus Meidaini, den 
Ref. nicht benutzen konnte, über manche Stelle sich ein helleres 
Licht verbreitet hat, als Herr Fleischer über manche andre aus 
des Ref. Noten neuen Aufscblufs gefunden zu haben nicht läugnet. 
(S. Gersdorf Repertorium M. Juli i836 ) 

Nachdem Ref. bis zur Evidenz dargethan, wie wenig Hr. v. 
Hammerden arabischen Text verstanden, wäre es wohl übei flüs- 
sig, mit ihm noch über die richtige Aussprache zu rechten; dafs 
übrigens Ref. das Arabische bei einem der ersten Ulama in Hahira 
ebensogut aussprechen lernen konnte, als H. v. Hammer bei einem 
Dolmetscher oder Dolmetscbermeister in Pera , ist ziemlich ein- 
leuchtend. Man wird endlich noch eben so wenig von Ref. for- 
dern, dafs er hier den Buchhändlerpreis oder die Buchhändler, 
anzeige seines Werks vertheidige, über die sich Hr. v. Hammer 
so bitter ärgert, dafs er sie zum Hatiptgegenstande seiner Kritik 
macht, als man ihm zumuthen kann, dafs er durch legalisirte 
Abschrift seiner Reisepässe beweise, dafs H. v. H. auch in der 
Zeitbestimmung seines Aufenthalts im Oriente es zum vierten 
oder fünften Male mit der Wahrheit nicht sehr genau genommen 
bat. Ref. schliefst mit der Hoffnung, nie mehr genothigt zu 
werden in einem solchen Tone zu schreiben, und bittet die, die 
ihn nicht zart genug finden, Hrn. v. Hammers Recension zu le- 
sen, sie werden dann gewifs diese als Muster der Delicatesse auf- 
stellen und sieb uberzeugen, dafs eine Polemik mit H. v. Ham- 
mer auf keine andere Weise geführt werden konnte. 

Dr. C Weit. 



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m 



GRAMMATIK UN und SCHULSCHRIFTEN. 

Kurzgefaßte deutsche Grammatik nach den neuesten historisch - ver- 
gleichenden Forschungen , für jede Art des höhern Unterrichts und die 
Selbstbclehrung systematisch und vollständig bearbeitet. Von Dr. Fr. 
Aug. Lehmann, Oberlehrer an dem kbnigl. Waisenhause zu Bunzlau. 
Hunzlau 1880. Appun'schc Buchhandlung. I I u. 453 & gr. 8. 

Ein gehaltreiches Buch, in welchem auf engen Raum viel 
zusammengedrängt ist. Namentlich gilt dies von dem ersten Thei- 
le, oder der Wort lehre, die den gröfsern Theil des Ganzen 
(S. i bis c86) ausmacht , und durchaus vergleichend zu Werke 
geht, und nicht nur auf das althochdeutsche und mittelhochdeut- 
sche, sondern auch auf analoge Formen anderer Sprachen Ruck* 
sieht nimmt. Auch in der Satzlehre fehlen nicht vergleichende 
Nachweisungen. Wenn der Verf. die Wortlehre in drei Haupt- 
abschnitte: die Lautlehre, Wortformenlehre und Orthographie, 
abtheilt, so mochte es logisch richtiger scheinen, wenn die Or- 
thographie als ein der Lautlehre untergeordneter Abschnitt er- 
schiene. Ebenso läfst Hr. L. die Wortffigungslehre in zwei Theile, 
in die Einstimmung (Congruenz) und in die Bestimmung (Rection) 
Serfallen. Bekanntlich hat Rudditnann in seiner lat. Grammatik 
auch diese Abtheilung der Syntax gegeben, und daher fallt bei 
ihm die Lehre vom Gebrauch der Zeiten und Modis gewisser- 
mafsen aus, oder wird zum Theile den das Tempus oder den 
Modus regierenden Conjunctionen untergeordnet. Herr L. hat 
•ich dadurch geholfen, dafs er eine subjective Rection auf- 
stellte, und in dieser von den Temporibus und Modis handelt. 
Aber so wenig als der Subjects-Nominativ unter die Lehre von 
der Rect lon gehurt (S. 3 12), so wenig sollte wohl auch die Lehre 
von den Temporibus und Modis der Lehre von der Rection un- 
tergeordnet seyn, da der Ausdruck derselben blos auf der sub- 
jective n Anschauung des Redenden beruht. — Auf Einzelnes 
einzugehen mufs Ref. bei dem engen Raum dieser kurzen Anzeige 
unterlassen. Aber bei aller Anerkennung, die er der Muhe und 
Sorgfalt des Hrn. Vfs. zugesteht, mochte er daran zweifeln, dafs 
die grofse Ausdehnung, die hier dem formellen Theile des Unter- 
richts zugewiesen ist , bei allen Lehrern willkommene Aufnahme 
findet. Ja es konnte wohl seyn, dafs in Zeiten, wo die realen 
Fächer des Unterrichts so manchen Vertheidiger haben , gerade 
durch solche erweiterte Ausdehnungen des Formellen die Gegner 
oer reineren Jusendbildung , welche überall gern nur auf dio 
Milch, die die Kuh trägt, ihr Augenmerk richten, noch mehr 
Veranlassung und Stoff zum Widerspruch gewännen* 



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Cm mniMifiti kcn und Schulschnftcn. 



395 



Grammatik der lateinischen Sprache für die untern Klassen der 
Gymnasien nach dem heutigen Standpunkte der lateinischen Sprach- 
Wissenschaft auf eine leicht faßliche Art bearbeitet von Dr. Fr. li ilh. 
Otto, Coüaborator de» philolog. Seminare an der Universität Giefsen. 
Zweite Auegabe. Preie 12 Gr. Leipzig, bei Carl llerger. 183«. 

Diese zweite Ausgabe ist die unveränderte erste Auflage, die 
mit neuem Titelblatt und einem kurzen Vorwort des Verlegers 
versehen um erniedrigten Preis als neue Ausgabe geboten wird. 
Das Haupt verdienst dieser neuen Ausgabe ist ein vier Seiten lan- 
ges Verzeichnis von Druckfehlern, und einzelnen sachlichen 
Berichtigungen; während in der ersten Ausgabe nur i3 Druckten* 
ler angezeigt sind. Eine nähere Ansicht uberzeugt uns bald, dafs 
der Verleger bei der Fabrikation des Buchs mit dem gröTsten 
Leichtsinn zu Werke ging, indem, abgesehen von der Menge 
der Druckfehler, so grobe Verstöfse vorkommen, dafs der 
Setzer beinahe ohne Controle geblieben zu seyn scheint. So steht 
z. B. p. 86 in dem Paradigma der dritten Conjugation , das dem 
Anfänger zum Auswendiglernen vorgelegt wird, legebar, legebia» 
ris, leget tat ur , legebiamur. Schon diese Incorrectheit ist hin- 
reichend, um das Buch nicht zu empfehlen. 



Apollodor. Griechische» Lesebuch, enthaltend da» Wichtigste au» der 
griechischen Mythologie, mit grammathehen Anmerkungen und einem 
vollständigen Lexicon versehen von Franz Julius Heyne, Lehrer am 
königlichen Pädagogium zu Halle. Für untere und mittlere Cla»»en. 
Leipzig, f'erlag von Otto H ig and. 18S6. 

Dieses Buch hat einen doppelten Zweck. Es soll erstlich ein 
Les- und Übungsbuch für die Anfänger seyn, und zweitens für 
die vorgerücktem Schuler zur cursorischen Leetüre ein mytho- 
logisches Handbuch, so dafs mit dem Lesen des Griechischen 
noch der sachliche Zweck verbunden würde, die Schüler mit den 
Gegenständen der Mythologie bekannt zu machen. Das Ganze 
zerfällt in vier Bücher, und in Beziehung auf den grammatischen 
Curaus werden im ersten Buche nur die regelmäfsigen Verba mit 
Einschlufs der tontracta vorausgesetzt, das nicht Regelmäfsige , 
was etwa vorkommt, in den Anmerkungen erklärt; im zweiten 
Buch setzen die Anmerkungen schon die Verba auf (it voraus, 
und im dritten die andern unregelmäßigen Verben, so dafs im 
vierten nur noch wenige schwierige Formen in die Erklärung 
der Anmerkungen fallen. Die grammatischen Citate sind auf Butt- 
mann und Rost gestützt, und als Lesebuch für Anfänger mag es 
manchem Lehrer willkommen seyn , da die Abwechslung in der- 
gleichen Schulbüchern zweckmäfsig ist. — Was nun den Zweck 
des Buchs zur cursorischen Leetüre betrifft, so hat bekanntlich 
schon Wolf diese Leetüre leichterer griech. Schriften anempfoh- 
len, und namentlich den Apollodor dazu vorgeschlagen. Doch 
eignet sich derselbe nicht ganz für junge Leute , weil die mythi- 



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3% 



Grammalikt n and SchuUchriften. 



sehen Erzählungen manche Obsconitäten mit grofter Rückhalts- 
losigkeit erzählen. Diesem Übelstande ist Herr H. dadurch aus- 
gewichen, dafs er zwar die wichtigsten Mythen zusammenzustel- 
len versuchte, aber nur mit Auswahl den Apollodor dazu be- 
nutzte, und durch Diodnr, Lucian, Tansanias, Kustalhius, und 
selbst durch Scholien, wo dieselben passend schienen, den My- 
thenkreis ergänzte. Diese Einrichtung Können wir nur gutheifsen. 
Die Quellen jedes Stückes wären aber wohl besser wie in dem 
Lesebuch von Jakobs gleich bei jedem Studie unten an der Seite 
angegeben, statt dafs sie vorn beisammen stehen. Und in der 
Aufführung der Heroenmythen wäre es vielleicht nicht unzwech- 
mäfsig gewesen, eine gewisse chronologische Folge zu beobach- 
ten, so dafs z. B. Thcseus nicht nach dem trojanischen Kriege 
käme u. dgl. Was die äussere Ausstattung des Buches betrifft t 
so ist sie so freundlich und splendid, dafs Ref. wünschen mochte, 
alle Schulbücher hätten diesen angenehmen weiten Druck und 
dies helle Papier. 



Lateinische Synonymik für Schüler gelehrter Schulen, »um Gebrauch 
beim Lesen der lateinischen Schriftsteller und Abfassen lateinischer 
Stylübungen , von Dr. Friedrich Schmalfeld , Lehrer am königlichen 
Gymnasium zu Risleben. Eisleben 1836. t erlog von Georg Rtichardt. 

Ein zweckmäfsiges Handbuch für Schüler, obgleich es min- 
der reichhaltig ist, als das Ramshorn*sche , welches 1044 Syno- 
nymen enthält, während das vorliegende nur 627 Nummern hat. 
Wenn es sich auch in Vielem ganz auf das Ramshorn'scbe stützt, 
so ist es doch auch zum Theil unabhängig, und in der Art des 
Vortrags dem minder reifern Schüler verständlicher als der ge- 
drängtere Ramshorn'sche Styl. Auch wird die Üb ersieht und das 
Verständnis dadurch erleichtert, dafs nicht, wie bei Ramsborn, 
nach der Anführung einer jeden Bedeutung immer eine Beweis- 
stelle kommt, sondern, wo es zweckmäfsig schien, zuerst die zu- 
sammengehörigen Wörter in ihrer Verschiedenheit alle erklärt 
und am Ende die Beweisstellen zusammen angeführt werden. — 
Was die Aufeinanderfolge der Artikel im Ganzen bei rillt, so hat 
Ramshorn die alphabetische Ordnung für die vorn stehenden 
Wolter als Richtschnur genommen, und Herr Sch. ist aus nicht 
zureichendem Grunde hiervon abgewichen. Die BegrifTsvcr- 
wandtschaft (z. B. von domus, bellum, emere, ire) , auf die er 
seine Anordnung stützen will, ist so willkürlich, d. h. beruht auf 
so zufälliger Gedankenverbindung , dafs sie nicht mafsgebend seyn 
mochte. Wohl aber scheint nicht unzweckmäßig , dafs gewisse 
Wortgattungen: Pronomina, Präpositionen, Adverbia etc. beson- 
ders zusammengestellt sind , und es hätte sich dies wohl auch 
bei Verben und Nominibus so gestalten lassen. — Was übrigens 
den Ref. on dem Buche beinahe irre gemacht hatte, ist, dafs es 
sich für eine zweite Auflage ausgiebt. Die Vorrede der ersten 



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Grnmmatiken und Schultchrif ten. 



3U7 



Auflage ist vom Juli i836, und drei Monate später wird — nicht 
etwa das Bedürfnifs einer neuen Auflage vom Verleger wahrge- 
nommen, sondern sie ist schon fertig, und die 26 Bogen des 
Buches sind, ich weifs nicht in wieviel Tagen, neu gesetzt 
und gedruckt ! (?) 

Feldbau ich. 



* 

Ausführliches Lehrbuch der deutschen Sprache von Dr. J. C A, 
Heyse. — Fünfte Ausgabe, neu bearbeitet von Dr. K W.C. Heyse, 
ausser ordentl. Professor an der Univcrs. zu Berlin. 1. Bds. 2t e Abth. 
Enthaltend pag 278 bis 560. — Hannover 1836. 8. Im J erläge der 
Hahn'schen Hofbuchhandlung. 

Wir haben im vorigen Jahrgange dieser Jahrbb. (Januarheft 
Nr. 7) die erste Abtheilung dieser neuen Ausgabe, oder vielmehr 
dieser Umarbeitung eines längst rühmlich bekannten Werkes, an- 
gezeigt, und ihr Gerechtigkeit und verdiente Anerkennung wider- 
fahren lassen. Gegenwärtig haben wir zu melden, dafs das Werk 
seinen guten, gleichgehaltenen Fortgang hat Warum aber jetzt 
nur ein Fragment erscheint, das S. 5oo mitten in einer Erörte- 
rung, in der Lehre von der Bildung der Adjective abbricht, wie 
gegenwärtig eine Menge Bucher in Lieferungen erscheinen, das 
raufs in der Convenienz des Verlegers und im gegenwärtigen 
Gange des Buchhandels liegen, wohl auch in der Ungeduld des 
Publicums, wie die Interimsrorrede der Verlagsbuchhandlung er- 
klärt, wo es heifst : » Auf vielfaches Verlangen geben wir hiermit, 
noch vor Beendigung des ersten Bandes, eine zweite Abthei- 
lung dieses Lehrbuches aus, womit nun ein bedeutender Theil 
des ganzen Werkes in die Hände der Interessenten gelangt, wel- 
che — bei näherer Ansicht den Grund der Verzögerung in dem 
Umfang und der Schwierigkeit der grÖTstentheils neuen Arbeit 
leicht selbst entdecken werden.« Der Inhalt der vorliegenden 
Abtheilung ist: Zweites Buch: Wort lehre. Die Lehre von 
den Wortarten und Wortverhältnissen. Die Lehre von 
der Wortbildung (S. 3o8 — 4i3); dann von dem besondern 
Theile der Wortlehre die Abschnitte vom Artikel, vom Sub- 
stantiv und vom Pronomen. Der Rest des Bandes wird die 
übrigen Wortarten nebst der Vorrede enthalten, und sollte mit 
dem Ablaufe des eben verflossenen Jahres wo möglich nachge- 
liefert werden. Da er jetzt noch (im Beginne des Jahrs 1837) 
nicht in unsern Händen ist, so wollen wir die Anzeige des Ge- 
gebenen nicht länger verschieben, ohne uns übrigens auf eine 
ausführliche Becension einzulassen , für die eine Anzeige einer 
fünften Auflage, ob dieselbe gleich so gut wie ein neues Buch 
ist, den Baum in diesen Blättern nicht ansprechen darf, ob wir 
gleich nicht gehindert sind, ein motivirtes Urtheil auszusprechen 
und einzelne Bemerkungen hier niederzulegen. 



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398 



Grammatiken and Schulschriftcn. 



Dafs der Vf. (denn er ist mehr als blofser Herausgeber) auf 

der Hohe der gegenwärtigen Forschungen steht , dafs er die tie- 
fen Untersuchungen der eisten Männer auf diesem Gebiete kennt, 
und für die vorzugsweise praktischen Zwecke seines Lehrbuches 
fruchtbar zu benützen versteht, dafs er Selhstfoi scher und Selbst« 
denker ist, das zeigt er auch in diesem Theile seines WerUcs auf 
jedem Blatte, eben so, dafs er die Abfassung nicht ubereilte und 
seinen Stoff ubersieht und beherscht. Dies ergiebt sich beson- 
ders auch aus der Klarheit seiner Darstellung , wo er BegrifTs- 
entwicktungen giebt und Einteilungen macht. Wir müssen die 
Grunde übergehen, warum er von seinem methodisch -praktischen 
Gesichtspunkte aus die gewöhnliche Anordnung in der Abhand- 
lung der zehen Redelheile beibehalt, oh er gleich auch eine lo- 
gisch richtigere vorausschickt, sowie seine Bemerkungen über die 
Verdeutschungsversuehe der Benennungen der Beriet heile und die 
Verwerflichkeit der schon ziemlich alten Bezeichnungen, Ge- 
schlechtswort für Artikel, Hauptwort für Substanti- 
vum, Zeitwort für Verb um. Ob die von ihm empfohlenen 
Ausdrücke Selbstandswort, Nennwort und Rede wort all- 
gemein befriedigen werden und können , müssen wir noch be- 
zweifeln. Die Casus nennt er (S. 298) Ve r h ä 1 1 n i fs f ä 1 1 e, 
womit allerdings mehr gesagt ist, als mit dem blofsen Worte 
Casus: aber ohne Erklärung giebt jenes so wenig als dieses schon 
durch den Ausdruck selbst den Begriff der auszudrückenden Sache. 
Was die mehr o<ler weniger zahlreichen Casusformen der ver- 
schiedenen Sprachen, sowie den Gebrauch der Präpositionen, wo 
andere Sprachen Casusformen haben, betrifft, so würden wir den 
Gedanken bestimmt ausgedrückt und hervorgehoben haben, dafs, 
je organisirter und vollkommener in ihren Flcxionsformen eine 
Sprache ist, sie desto mehr Bezeichnungen für die Verhältnisse 
und Beziehungen, also mehr Casusformen habe, dafs der Gebrauch 
der Präpositionen ein Nothbehelf für mangelnde Casusformen sejr, 
dafs, so gut z. B. der Genitiv, den wir noch haben, uns die 
Umschreibung, welche die Franzosen brauchen, erspart, und der 
althochdeutsche Instrumentalis, sowie der Localis (oder Locatif) 
der slavischen Sprachen , den Gebrauch von Präpositionen für 
jene Bezeichnungen überflüssig machen , ebenso auch sich ein 
Casus causalis und temporalis, ein Casus für die Richtung irgend- 
woher oder irgendwohin (wofür die griechische Sprache zum TheiJ 
anhängbare Bezeichnungen hat) denken lasse, welche Präpositio- 
nen entbehrlich machen würden. S. 3ia bemerken wir unter 
Nr. 4. (Umstellung von Lauten), dafs neben dem mundartlichen 
Wratze st. Warze sich eine ganz gleiche historisch nachwei* 
sen lälst, nerolieb unser Würz aus Fpi£a , dafs zu N. 3. (Hinzu- 
fugung von Lauten) sich mundartlich in Schwaben k wackelst 
für wackeln (vgl. to quake) zeige, and zu dem thüringischen 
gegehen für gehen im östlichsten Schwaben geschauen 
(g'schauben) für schauen. Bei dem S. 3 14 fg. gegebenen Ver- 
zeichnisse von Veränderungen der Vocale in den chronologisch 



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Grammatiken und Seholschriften. 



399 



auf einander folgenden Umbildungen im Gothischen, Althoch- 
deutschen , Mittelhochdeutschen und Neuhochdeutschen fiel uns 
die Bemerkung ein, dafs die vorliegende Grammatik, welche, 
gerade ihres praktischen Zweckes wegen, in mehrere Hände kom- 
men durfte , denen die Forschungen Grimms, Bopps, u. A. un. 
zugänglich bleiben, dazu beitragen kann, das Vorurtheil zu ver- 
nichten, als seyen die Abweichungen der Dialecte oder Provin« 
cial-.Mundarten von der jetzigen Schriftsprache weiter nichts, als 
Verderbnisse , da sie doch so häufig blofs das nicht veränderte 
(oft das nicht verdorbene) Alte geben. Wir werden davon im 
Verlauf dieser Anzeige einige Beispiele geben. Z. B. bei S. 319 
1. 1. sind organische Längen, die im Neuhochdeutschen zu Kür- 
zen geworden sind , in Schwaben noch in vielen Wörtern ihrer 
ursprunglichen Lange treu, wie Waffen, Jammer, Licht, 
gieng, fieng; eben so ist (zu S. 3ao) das organische ie noch 
nicht in ii verdorben in den Wörtern lugen und trugen, denn 
es lautet dort noch liegen und triegen; und das e noch nicht 
in 5, denn man spricht noch ergetzen, erleschen, Lewe, 
zw elf. Zu den Wortern, wo der k-Laut in h ubergegangen 
ist, zählen wir, ansser den genannten, noch casa Haus, xitop 
Hund, Catti Hessen, cutis Haut. Zu der Lehre von der Laut- 
verschiebung (S. 334) giebt eine nicht unbedeutende Beispiel- 
Sammlung J. C. Schmie! in den Beilagen zu seinem Schwa bi- 
schen Worterbuch (Stuttgart, bei Schweizerbart i83i. 8.) S. 
557 ff., ob wir gleich nicht für alle dort aufgeführten Beispiele 
einstehen mochten. Zu S. 3j3 bemerken wir bei N. 6, dafs das 
mittelhochdeutsche hülzin für holzern sich noch in Schwaben 
findet. S. 353 wird zwar mit Hecht gesagt, manch dürfe nur 
beim Neutrum in dieser apokopirten Form stehen, also sey manch 
Mann nicht erlaubt. Allein Bürger hat sich doch in seinen 
»Weibern vou Weinsberg « das harte manch Hofs ch ranz er- 
laubt; und das manch ein, entsprechend dem englischen many 
fl(n) und dem französischen maint un war in früherer Zeit nicht 
selten, und wird gegenwärtig von einzelnen Alterthümlichkeit 
nachbildenden Schriftstellern gebraucht. S. 354 b. hier bemerken 
wir, dafs das mittelhochdeutsche Stahe! sich noch in einem 
Kriegsliede aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts findet. Ein 
gefangener preufsischer Husar antwortet auf die Frage : wie stark 
ist deines Honigs Macht? »wie St a hei und Eisen.« S. 359 
-würden wir nicht sagen, bei Verlust sey das r des Verbums 
verlieren in s< übergegangen, sondern das alte s sey wieder 
eingetreten, oder vielmehr geblieben. Man vergleiche nur das 
englische lose, lost, das holländische verlieten , und Frisch unter 
dem Worte Iii er. Ebd. zu dem eingeschobenen s (z. ß. in 
Wahrheitsliebe) bemerken wir, dafs wir das Beispiel Hoch« 
zeitstag nicht würden gebraucht haben, sondern Hochzeit- 
tag vorziehen, wie die besten Schriftsteller thun. Übrigens sind 
wir weit entfernt, der Grille Jean Pauls zu huldigen, der einmal 
gegen das Schalt -s einen hartnäckigen Kampf führte, und kaum 



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400 



Grammatiken und Schulichriften. 



mehr die Unterscheidung zwischen einem Landmanne und ei- 
nem Landsmanne dulden wollte. S. 371 , wo die Rede vom 
Umlaut und Ablaut ist, welcher bedeutende Unterschied zu- 
erst Ton J. Grimm in die deutsche Grammatik eingeführt wurde, 
scheint uns der Vf. nicht unglücklich gegen Bopps Einwendun« 
gen zu polemisiren. — Dafs S. 37a Diph-thong statt Di- 
phthong abgesetzt ist, wird wohl dem Setzer zur Last fallen. 
S. 385. Dafs Frosch mit Frost, Schuft mit Schieben ver- 
wandt seyn soll, ist uns mehr als zweifelhaft; ebenso List mit 
Lesen zusammengestellt S. 382 , und Wade mit wüten, oder 
gar S. 386 Wort mit Gewordenes. S. 389 sollte neben 
schmelzen (mit hellem e), schmelzte, auch schmelzen 
(mit tiefem e), schmolz stehen, ebenso S. 390 neben wägen 
wägte auch wägen (wiegen) wog; und bei schwellen 
schwellte auch schwellen schwoll. — Zu S. 432 bemerken 
wir, dafs viele jetzt auf heit und keit gebildete Substantive in 
Schwaben noch die alte Form auf e haben, z. B. Kleine (für 
Kleinheit), Schone, Bittere, Rauhe, Leichte, Dumme 
(Dummheit), Grade (Geradheit) und mehrere. Auch findet sich 
ebendaselbst ein Wort generis communis, dergleichen nach dem 
Vf. der deutschen Sprache fehlen, nemlich ein solches, das bei 
völlig gleicher Form und Flexion zugleich männlich und weiblich 
gebraucht werden kann, nemlich der und die Waise. S. 449 
Sollte bei dem Worte das Mensch nicht blofs bemerkt seyn, 
die Benennung sey verächtlich, sondern auch, sie sey niedrig und 
unedel, und sie bezeichne nie eine verächtliche Person männlichen 
Geschlechts. Wir erwarten nicht den Einwurf, das wisse man 
schon. Gilt derselbe, dann mag noch unendlich viel von dem, 
was dasteht und dastehen mufs, wegbleiben. — Bei S. 460 
mochten wir fragen, welcher Schriftsteller oder richtig sprechende 
Gebildete denn sage der Tuch, das Stahl, dasSpiefs, der 
Quast, der Spann (für die Spanne) ? Warum Bibel ein Fe- 
mininum im Deutschen ist, konnte wohl angegeben werden : nem- 
lich weil man im Mittelalter die Überschrift Biblta sacra als No- 
minativ des Singulars betrachtete. — S. 465. Warum soll denn 
Ahnen keinen Singular haben? Man sagt ja der Ahn oder 
Ahne (PfefYel: v Das war mein Ahne, lieber Alter!«) und 
Urahn. — S. 482. Waruni der Verf. wohl Lorber schreibt? 
Es ist ja die Beere des Lor(us)- (Laurus) Baums. — S. 509 
heifst es: »Einige lateinische Namen, wie Iloratius, Teren- 
tius, Lucretius bat man in Horaz, Terenz, Lucrez ver- 
stümmelt.« Es sollte heifsen: »die französischen Formen Horace, 
Terence, Lucrece nachäffend, abgestutzt. — 

( Der llcschlufs folgt ) 



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N°. 36. HEIDELBERGER 1837 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Grammatiken und Schubchriften. 

(Betchluft.) 

S. 5 ii konnte es scheinen, als habe man statt Dichterin 
Karsch gesagt die Dichterin Harschin. Das wäre irrig. 
Man hat sie nur, weit ihr Gatte der Schneider Karsch war, die 
Karschin genannt, wie man um jene Zeit die Neuberin sagte, 
aber gewifs Niemand die Schauspielerin Neuberin sprach 
und schrieb. Da S. 5s5 die pedantische Anrede man getadelt 
wird, so sollte auch die eben so pedantische wir statt du oder 
ihr bemerkt seyn. S. 53 1 sollte die Vofsische Apostropbirung 
dies', jen' (für diese, jene) vor Vocalen getadelt seyn , zumal 
da sie ganz neuerlich Nachahmer gefunden hat. — S. 35 1 kön- 
nen wir nicht zugeben, dafs defsgleichen Mann, derglei- 
chen Frau gut gesagt sey; und wenn aus Geliert angeführt wird: 
dergleichen grober Mann, so ist es auch an Geliert zu ta- 
deln. S. 552 geben wir zu, dafs darohne und worohne nicht 
üblich und nicht zu empfehlen sey: aber warum worum nicht 
üblich seyn soll ? Wir lesen in mehrern guten Schriftstellern : 
»das ists, worum ich dich bitten wollte« und Ähnliches. Doch 
genug der Beurkundungen unserer genauem Durchsicht des mit 
so grofser Umsicht und mit wirklich allseitiger Erwägung neu 
bearbeiteten Buches, das die grofse Verbreitung, welcher es sich 
erfreut, in hohem Grade verdient, und, wenn es erst ganz er- 
schienen seyn wird , für die angegebenen Zwecke ohne Zweifel 
das vollständigste und brauchbarste seyn durfte. 



Schulgrammatik der griechischen Sprache von Raphael Küh- 
ner, Doetor der Philosophie, Conreetor an dem Lyzeum zu Hannover, 
und ordentl. Mitgliede de» Frankfurter Oelehrtenvereine für deutsche 
Sprache. — Hannover, im Verlage der Hahn' sehen Hofbuchhandlung. 
1886. gr. 8. X und 422 Stift». 

Von der ausführlichen griechischen Grammatik des verdien- 
ten Verfs. bat Ref. in diesen Jahrbüchern (i835. Febr. und i836 
August) ziemlich ausfuhrlich Bericht erstattet und das Werk nach 
Verdienst empfohlen, auch seine Eigentümlichkeit hinlänglich 
auseinandergesetzt, so dafs er sich in Betreff des Allgemeinen 
and des Einzelnen auf jene Anzeigen beziehen, und darum bei 
dieser Schulgram m atik , die ein Auszug (doch nicht ein blo- 
fser) aus dem grofsern Werke, und nach demselben Plane ge- 
arbeitet ist, kurzer fassen kann. Wenn er sich übrigens im Ver- 
lauf der Anzeige auch einige ins Einzelne gehende Bemerkungen 

XXX. Jahrg. 4. Heft. 26 



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erlaubt, so geschiebt dies besonders deswegen, weil er glaubte, 
dafs diese Schulgrammatik bald in einem weitern Kreise einge- 
führt werden und wiederholte Auflagen erleben dürfte, wo dann 
dieses oder jenes berücksichtigt werden konnte, wogegen Ref. 
bei einem Schul buche aus guten Gründen für au (lallende Verän- 
derungen , wo immer die folgende Auflage alle frühern unbrauch- 
bar macht, niemals stimmen würde. 

In der Vorrede erklärt der Verf. , die Bemerkung , dafs oft 
Auszüge aus ausführlichem Werken , die als Schulbücher zum 
praktischen Gebrauche ausgearbeitet werden, dem hohen Werthe 
der gtoTsern Werke wenig entsprechen, habe ihn veranlafst, bei der 
Ausarbeitung seiner Schulgrammatik die Mühe nicht zu scheuen» 
den Stoff der grofsern Grammatik einer neuen gründlichen Durch- 
arbeitung zu unterwerfen, um das auszuscheiden, was lediglich 
der wissenschaftlichen Forschung und tiefern Begründung der 
Sprachgesetze angehört, oder sich auf besondere, nur vereinzelt 
vorkommende, Spracherscheinungen bezieht, alles Übrige aber 
zu einem zusammenhängenden und in sich abgeschlossenen Ganzen 
zu verarbeiten. Vollständigkeit, Kürze und Klarheit, unter der 
Leitung wissenschaftlicher Principien , sey sein Ziel gewesen % 
wobei er zwar die praktische Bichtung allerdings als die über- 
wiegende Seite habe gelten lassen, jedoch so, dals dieselbe über- 
all von dem Geiste der Wissenschaft durchdrungen und beseelt 
bleibe. Abweichungen von der Anordnung der ausführlichen 
Grammatik habe er sich erlaubt, wo der Zweck des Buches es 
erheischte *) : aus wichtigen Gründen aber habe er auch in die- 
ser Grammatik die Conjugation den Declinationen vorangehen 
lassen, welche Gründe er in einem griechischen Elementar- 
buche, das schon seit mebrern Jahren vorbereitet sey, und er 
bald auszuarbeiten gedenke , darlegen wolle. Sehr erwünscht war 
übrigens dem Ref. die nähere Erklärung des Vis. über die Art 
und Weise, wie er die Methode, das Conjugiren vor dem De- 
cliniren zu lehren, verstanden und ausgeübt wissen wolle, weil 
so viele Schulmänner dieses Verfahren für schlechterdings ver- 
kehrt , ja geradezu für unmöglich halten : was nach Lesung sei- 
ner Erklärung wohl Niemand mehr thun wird. Der Schüler wird 
auf diesem Wege sich bald recht einheimisch fühlen, und früher 
ein Bewufstseyn gemachter Fortschritte gewinnen, das ihn für 
den ernsten und schweren Pfad der Grammatik ermuthigt und 
stärkt, ohne ihm, wie eine gewisse viel gepriesene neuere Me- 
tbode, eine Täuschung zu bereiten, bei deren Enthüllung er 
findet, dafs man ihn um taube Nüsse habe spielen lassen. Die 
Auseinandersetzung selbst können wir hier nicht geben, ohne zu 
vielen Raum ansprechen zu müssen. Doch selbst derjenige Leh- 



*) So findet sich s. B. in der Syntaxe die Lehre von dem Gebrauche 
des Pronomen« bedeutend hinaufgerückt und naturlicher dahin ge- 
•tellt, wo in der Einleitung tob den übrigen flezibeln Redetheilen 
gesprochen wird. 



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Grammatiken and SchaUchriften. 



4M 



rer, welcher die alte ihm vertraut und lieb gewordene Methode 
nicht verlassen will, ist durch die Einrichtung dieser Grammatik 
nicht gehindert, das Üecliniren vor dem (partiellen) Conjugiren 
zu lehren« Die Magerkeit, welche sonst Auszüge aus gröTsern 
Grammatiken zu haben pflegen, scheint uns glucklich vermieden, 
obgleich sich im Einzelnen die Stimmen über das Mehr oder 
Weniger nie ganz vereinigen werden, und auch wir bie und da 
Etwas angefügt oder weggelassen haben wurden. So steht z. B. 
gleich im Anfange die erste und zweite Zeile (eine Definition des 
Begriffs Grammatik) etwas seltsam isolirt da. Es ist, alt sollte 
eine Begriffsentwickelung aus der allgemeinen Grammatik voran« 
gehen, in der Art, wie sie in der gröTsern Grammatik am Schlüsse 
der Einleitung, übrigens auch ganz kurz, gegeben ist Aber hier 
in der kleinen finden wir uns gleich auf der dritten Zeile auf 
historischem Boden. Wir denken, der Vf. wird in der nächsten 
Auflage die zwei ersten Zeilen erweitern, oder lieber entbehrlich 
finden und ganz wegstreichen. Sehr zu billigen ist es, und für 
den Lehrer erwünscht, dafs jedem Paragraph der Schulgramma- 
tik der ihm correspondirende des ausführlichem Werkes beige- 
druckt ist; und sehr zu loben, dafs der Verf. nicht nur, wie bei 
dem gröTsern Werke, ein gedoppeltes Register, sondern auch, 
was wir bei der ausfuhrlichen Grammatik sehr ? ermifsten , eine 
Übersicht des Inhalts beigegeben hat Die Reinheit und Schon* 
heit des Druckes , die Weifse des Papiers lassen nichts zu wün- 
schen übrig; auch die Correctheit ist, obgleich die angezeigten 
a4 Druckfehler nicht die einzigen sind (z. B. S. $96 $.700 steht 
delicrirende Bedeutung, 8. 401 $.711 inoul f. iitoiu), 
ausgezeichnet zu nennen. 

Doch damit Ref. nicht ganz aavpßoXoQ scheide, will er über 
•ine Anzahl mehr oder minder wichtiger Punkte hier einige Be- 
merkungen niederlegen. 

Wenn S. 3 steht, das £ laute wie ds , und S. 5 es sey ent- 
standen aus oft, so kann dies dem Schüler als eine Art von Wi« 
derspruch erscheinen. 6. 4 ist es etwas autfallend deutsch ge- 
sagt : »sie seheinen — nachhallen gelassen zu haben«. S. 9 
heifst es: »die Moronis fallt weg, wenn das Wort mit dem Misch- 
laute anhebt, weil sie dann mit dem Zeichen des Spiritus zusam- 
mentreffen wurde, als to ayaSä = tdyo&a , d dv = ar. c 
Wir mochten eher behaupten, bei raya^d falle der Spir. leois, 
als die Moronis, weg« Da das Wort nun nicht mehr mit dem 
Vocal anfängt, so hat der Spir. lenis keinen Zweck mehr, so 
wenig als bei ävnvoq geschrieben wird Av'npo$. Aber die Mo- 
ronis, als Zeichen der Krasis, hat einen Zweck, dafs nicht das 
* als zum Wortstamme gehörig erscheine. Auch können wir 
eben darum die Schreibung av nicht verwerfen , wenn sie schon 
Buttmann in der Ausführlichen griechischen Sprachlehre I. S. 114 
lUifsstand verursachend nennt. S. 10 bei der Lehre von der 
Synizese sollte, da der Schüler mit dieser Grammatik in der Hand 
auch den Homer zu lesen anfangen soll, auch dos prosodisch 



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404 



Grammatiken and Schulschriften. 

* 



merkwürdige ew^ 6 xai>&' upuaivc x. t. X. aus II. a, ig3. an- 
geführt seyn; eben deswegen auch S. 12 §. 20 bei der Elision 
vor Consonanten das Homerische xafxjiopos (Odyss. ß, 35 1. und 
an einigen andern Stellen der Odyssee), besonders da es noch 
streitig ist, ob dieses Wort aus xaxd^o^o^ (s. Bothe a. a. 0.) 
oder xaxöpopu<; (s. Thiersch's grieeb. Gramm, vorz. des Horn. 
Dialekts S. 211 §. i65 Tgl. Passow im Worterbuche) entstanden 
sey ; und gleicherweise würden wir S. 16 §. 36 Anm. 1. das Ho- 
merische r,u^>üxov unter den Wörtern aufgeführt haben, wo die 
dem griechischen Ohr unangenehme Zusammenstofsung von 
durch Einschaltung von gemildert wird , besonders da sich 
diese Erscheinung nur bei wenigen Wortern zeigt ; und ebenso 
würden wir aus demselben Grunde S. 17 §. 3j neben 'Oft v o evq 
auch 'A'/ i\ev<; gestellt haben. Übrigens ist der Fall, dafs ge- 
wöhnlich verdoppelte Consonanten nach Bedarf des Verses in 
seltenen Fällen einfach geschrieben wurden , sehr verschieden 
von dem umgekehrten : worauf mit einigen Worten gedeutet wer- 
den konnte. Vgl. Buttmann a. a. O. S. 85 fg. — Wenn S. 21 
§.42. 2. der Ausdruck Position durch Stellung des Vocals 
erklärt wird, wie kann §. 44. 1. ebd. von der Position einer 
muta cum liquida die Rede seyn? Müfste es nicht heifsen: die 
durch Stellung eines Vocals vor einer muta cum liquida veran- 
lagte Position desselben, oder: Position durch muta cum liqui- 
da — ? Wenn es ebd. S. 22 heilst: die Vocale a, i, v können 
in einem und demselben Worte nicht bald kurz bald 
lang ausgesprochen werden, so ist doch in der Stelle des Theog- 
ois 936 sq. Welk., ohne Rucksicht auf diese Regel, schnell hin- 
ter einander das einemal in xaX6<; die erste Sylbe lang , das an- 
deremai kurz: xüXöp atiaax* Inoq- 6,tti cpLXov xaXov ton , 
t6 ü' ov xaXbv ov <pikov iaxL. — S. 22 §. 45 d. unter die Bei- 
spiele, in welchen in der Mitte der Wörter der lange Vocal 
oder Diphthong, bei folgendem Vocale, verkürzt wird, ist das 
Homerische inür\ nicht mit Sicherheit vu rechnen, da es wahr- 
scheinlich componirt ist, und eigentlich aus intl % entsteht, wo 
dann die Verkürzung des ei unter die Bemerkung oder Regel c, 
unmittelbar vorher, gehört, nemlich von Verkürzung eines lan- 
gen Vocals oder Diphthongs am Ende des Wortes vor einem 
mit einem Vocale beginnenden Worte. S. Thierse h a. a. O. S. 
499 §• 3^4* 2. vgl. Bothe zur Ilias ff, i56, — S. 23. §. 46. 6. 
ist eine Verwechslung. Es wird hier angegeben, 'los, Veil- 
chen, habe ein langes i. Allein erstlich heifst 16<; nicht Veil- 
chen, sondern Pfeil, Rost, Gift, zweitens heifst Veilchen 
und ist durchaus kurz, und der Unterschied der Quantität 
zwischen beiden Wortern ist auch in der Zusammensetzung durch- 
greifend : z. B. 'ioxoxo$, Gilt erzeugend, dagegen f Xoaxi(pavoq 9 
veilchenbekränzt. — S. 28 §. 58 sollte die üeberschrift nicht 
blofs lauten: Pr ocliticae oder Atona , sondern: Procliti- 
cae, oder gewöhnlicher, wiewohl weniger richtig, 
Atona. — S. 196 §. 32i. hätten wir mit einem Worte ange- 



Grammatiken und Scliulschriften. 



deutet, warum die meisten Adverbien sich auf <*><; endigen, nem- 
lich dafs dieses — eben auf die Frage wie antworte, was der 
Charakter der meisten Adverbien sey («$, wie; oi; , so). — S. 199 
§. 125. 1. c. hätten wir bei den verbis desiderativis auf — oeia 
zu dem Satze: »Diese Verben haben sich aus der Futurform der 
Stammverben entwickelt « , noch den Beisatz gemacht : » weil sie 
sich auf Künftiges beziehen.» Der Verf. wird denken, das ver- 
stehe sich ja von selbst: allerdings versteht es sich von selbst: 
aber er wird auch einem Manne glauben, welcher aus viel jähri- 
ger Erfahrung Tausende von Schülern und Hundertc von Leh- 
rern kennen gelernt hat, wenn er sagt, dafs auf dergleichen kleine 
Dinge, die das Fassen und Behalten so sehr erleichtern und das 
Lernen rationeller machen, eine grofse Menge von Schülern, ohne 
darauf aufmerksam gemacht zu werden, dennoch nicht kommt, 
und dafs eine Menge von Lehrern dergleichen Sachen übersieht, 
und erst darauf aufmerksam gemacht werden mufs. — Unter 2. a. 
ebd. konnte zwischen 10 und iihd durch ein eingeklammertes eFw 
ein Wink gegeben werden , der dem Lehrer zu einer Belehrung 
Veranlassung geben konnte. Ebd.: da <?rapia£ti) angeführt ist, 
und dann eXX>?it^o>, so wäre hier schon in der Wortbildungslehre 
auf die Sorgfalt und Genauigkeit des Sprachgebrauchs nicht mit 
Unrecht aufmerksam gemacht worden , wonach d\»pia£o mehr 
von dorischer Tracht, tfcop»^ (Theoer. Adoniaz. (i5.) 93.) mehr 
von dorischer Sprache gebraucht wird. — S. 200 §. 326. 1. b 
sind, sowie auch in der ausführlichen Grammatik, die Substantiv- 
formen auf TTjc, TtjToq übergangen. S. Buttmann a. a. O. II. 2. 
S. 324 und die daselbst angeführten Grammatiker. — S. 2o3 
§. 232. würden wir in diesem Einleitungsparagraph zu der Lehre 
von der Zusammensetzung ausdrücklich bemerkt haben, dafs es 
nicht nur eine grofse Menge Composita gebe, die als Simplicia 
nicht existiren (was sich allenfalls aus diesem und den folgenden 
Paragraphen herausfinden läfst), sondern dafs bei einer Menge 
von Compositis erst die Zusammensetzung die Bedeutung giebt, 
welche weder einzeln noch neben einander gestellt ihre Theile 
haben oder geben. Solcher Wörter giebt es nicht wenige z. B. 
m'/.tovtxTr;; Der Lehrer wird dann aufmerksam machen auf Zu- 
sammensetzungen in andern Sprachen, z. B. niederträchtig, 
wo die beiden Theile des Wortes weder einzeln noch neben- 
einander gestellt die Bedeutung geben , die das Compositum hat. 
Sodann würden wir auch auf die Umkehrung der Composition in 
vielen Wortern aufmerksam gemacht haben, z. B. in AopoSeo« 
und 0eö(*6)po; , Aco^a^s und XorpcXfo^ , ÄgfMfyt&Of und *I>iXo- 
dr^oq , A^o^ap»^ und Xapt^uos j ferner in W ürtern wie <p ep£- 
xapTiot und xa^no(p6^oq , fßipevixu« und r»xi;(j)opo<; , und daran 
die nothigen Bemerkungen knüpfen. — In dem Paragraph über 
das Anakoluth §. 713. S. 401. 402. würden wir die Gedanken et- 
was anders gestellt haben. Der Vf. sagt , nachdem er eine De- 
finition des Anakoluths gegeben: »Die Quelle, aus der das Ana- 
koluth (liefst , ist die Lebhaftigkeit der Vorstellung, oder das 



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406 



Grammatiken und Schulichriften. 



Streben, entweder die Deutlichkeit oder die Kurze, oder die 
Kraft oder die Konzinnität [wir haben schon bei der Recen- 
»ion der grofsern Gramm bemerkt, dafs wir uns mit dieser ent- 
stellenden Orthographie nicht befreunden können] der Rede zu 
unterstutzen. Die Anakoluthieen lassen sich in drei Arten thei- 
len : a) in grammatische, b) in rhetorische, und c) in sol- 
che, die offenbar aus Nachlässigkeit und Unachtsamkeit 
entsprungen sind.« Weder die Erklärung, noch die EintheiJung 
erscheint uns klar und befriedigend. Wir denkeo so: Die erste 
Veranlassung der Anakoluthie ist das Vergessen des Anfangs der 
Construction , so dafs man in Gedanken nur noch die Saohe, aber 
nicht die Form der Rede hat, die nach dem Anfange andersaus« 
zulaufen versprach. Die zweite ist absichtliche Vermeidung der 
Steilheit des Fortconstruirens in einem durch viele und lange 
Zwischenreden unterbrochenen Satze , welches ein lästiges Zu. 
ruckkehren zum Anfange nö*thig machen wurde. Eine dritte, be- 
sonders häufige Veranlassung absichtlicher Anakoluthieen ist das 
Bestreben, die geschriebene Rede der Lebhaftigkeit der gespro- 
chenen (in welcher Anakoluthieen der Natur der Sache nach hau* 
figer sind) ähnlich zu machen. Dies ist bei den Alten um so mehr 
der Fall, als sie überhaupt ihre darstellenden Werke nicht mit 
dem Gedanken, dafs sie blos stumm gelesen werden, schrieben, 
sondern sieb immer die viva vox des Sprechens oder Vorlesens 
hinzudachten, wodurch die Sorge für die Concinnität, den rhe- 
torischen Numerus, den Wohlklang, die Entfernung alles Stei- 
fen, Unklaren und eines über den Athem der Menschenbrust hin* 
ausgehenden Ausspinnens der Perioden sich von selbst ergab. 

Doch es ist Zeit diese gelegentlichen Bemerkungen abzubre- 
chen, die ohnehin dem Werke nichts Wesentliches bieten, aber 
eben deswegen auch nicht die Absiebt haben können, den Werth 
desselben irgend herabzusetzen. Freuen werden wir uns, wenn 
ein recht ausgebreiteter Gebrauch des Buches, so wie des grofsern 
Werkes, es dem Verf. möglich machen wird, beide dem Ideale 
näher zu bringen, das ihm gewifs lebhafter und hoher gesteckt 
Torschwebt, als ihm ein lesender und urtheilender Recensent es 
Torhalten mag. 

Ulm. G. H. Moser. 



Die Redaction der Jahrbucher fugt noch die folgenden, ihr 
zu diesem Zweck zugegangenen Werke bei: 

Lehrbuch der englischen Sprache nach Hamilton'schcn Grundsätzen, von 
J. Chr. Doli, Lehrer am Grofsherzogl. Lyceum in Mannheim. Mit 
einer Sammlung von Musteretücken der englischen Literatur und einem 
dazu gehörigen H'orterbuche. Mannheim, Verlag von Heinrich Hoff. 
( Auch mit dem engl. Seitentitel : Manual of the Engtish Languagej 
and Literature. By J. Chr. Doli etc.) - 1866. XU u. 442 S. grTk 

Diese Grammatik , von der die Gesetze des Instituts nur eine 
kurze Anzeige verstatten, ist zunächst bestimmt für die Schüler 



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Grammatiken und Schulschriftcn 



407 



der Anstalt, an welcher der Verf. wirbt, und zwar ebensowohl 
für das zartere Alter wie für das reifere, um den Schuler mög- 
lichst scboell in die Kenntnifs der englischen Sprache und in die 
Leetüre englischer Schriften (gewifs der Hauptzweck des Erler- 
nen» dieser Sprache auf den Bildungsanstalten , die eine höhere 
wissenschaftliche Tendenz verfolgen) einzuführen, und überhaupt 
ihm mit geringem Kostenaufwand ein Buch in die Hände zu ge- 
ben, welches ebensowohl die eigentliche Grammatik in möglich- 
ster Gedrängtheit und Bestimmtheit enthalte, als auch damit ein 
Lesebuch nebst dem dazu notwendigen Worterbuch Tereinige. 
In diesem Sinne beginnt die Schrift mit der Auseinandersetzung 
der Grammatik (S. 1 — 17), dann folgt eine Grammatik in Bei- 
spielen (S. 17 — 75), und daran reiht sich eine Sammlung von 
Musterstücken der englischen Literatur (S. 75 — 372), welche den 
gröfsesttn Theil des Buchs einnimmt und aus den classischen 
Werken der englischen Literatur eine zweckmäßige, durch die 
Tendenz und den Plan des Buchs bestimmte Auswahl giebt und 
demnach Stucke aus der erzählenden und beschreibenden Rede, 
Briefe, Andres aus dem Lehrstyl und aus dem rednerischen Styl 
enthält ; den ersten Stucken ist eine Collateralübersetzung beige- 
fügt , die naturlich bei der grofseren Mehrzahl der für die Ge- 
übteren bestimmten Stücke weggefallen ist. Ein Worterbuch nebst 
einem Verzeichnifs der unregelmäfsigen Worter bildet den Schlufs 
des Buchs, das, auch ohne in eine nähere Detailkritik einzu- 
gehen, die hier nicht möglich ist, der freundlichen Aufnahme 
aller Schulmänner empfohlen werden kann, indem der Verf. sein 
möglichstes gethan, um seinem Werke die Brauchbarkeit und 
Vollständigkeit zu geben, welche das Bedürfnifs des Unterrichts 
zu erheischen schien. — Druck und Papier sind sehr befriedi- 
gend ausgefallen. 

Grammatik der spanischen Sprache zum Schul- und Privatgebrauche, von 
Prof. Fedor Po&eart. Prcie 48 Kr. oder 12 Gr. Stuttgart , Druck 
und Vertag von lmle und Kraufs. 1836. XIII u. 113 S. in gr. 12. 

In der gegenwärtigen Zeit, wo Aller Blicke sieb Spanien 
zugewendet haben, wird eine spanische Grammatik nicht unwill- 
kommen seyn, zumal wenn sie, wie die vorliegende, durch ge- 
drängte Kürze, wobei doch nichts Wesentliches übergangen ist, 
sowie durch klare Auffassung und Darstellung sich empfiehlt. 
Wohl wäre dann auch zu wünschen, dafs das mit Anmerkungen 
und einem Wörterbuch versehene Lesebuch, dessen Erscheinen, 
Dach dem, was am Schlüsse der Vorrede bemerkt ist, von der 
günstigen Aufnahme dieser Grammatik abhängen soll, recht bald 
nachfolgen könnte , weil die Werke spanischer Literatur doch im 
Ganzen noch sehr wenig verbreitet sind und eine Auswahl der 
Art darum doppelt nothwendig ist. Obwohl das Ganze sehr cor- 
rect gedruckt ist, so sind doch folgende der Redaction zu die- 
sem Zweck der öffentlichen Bekanntmachung mitgetheilte Druck- 
fehler, die »ich eingeschlichen haben, zu berichtigen: S. 5q §• 



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408 



Belletristik. 



soll es hei Isen relatives Pronomen statt anzeigendes; 8. 55 
An merk. Interjectionen statt Con junetionen ; S. 85 §. 276 
gehören die dort angeführten Beispiele zu den Ausnahmen, sie 
finden sich in den leyes de las pattidas Lih. I., das Beispiel, 
welches fehlt , ist ; he comprado un libro. 



BELLETRISTIK. 

Zur Erklärung und Beurt Heilung von Bürgert Lenore. Einladung »schrift 
zur Promotionsfeier de* Pädagogium* und zur Eröffnung de* Jahre*- 
eurte* 1835, von Wilhelm H ackcrnagel. Ba*el, bei Ä. Wieland, 
Univertitätsbuchdrucker. 4. 22 S. 

Da diese gelehrte und mit feinem Takte für Volkspoesie ge- 
arbeitete Schrift wohl schwerlich auf dem Wege des Buchhan- 
dels verbreitet wird, so durfte eine kurze, jedoch genaue Ana- 
lyse des Inhalts den Lesern dieser Blätter willkommen seyn. Die 
Lenore ist von jeher unter Burgers Bai laden obenan gestellt wor- 
den. Bürger selbst nennt diese Bomanze in einem vertraulichen 
Briefe an Boie eine »unsterbliche«; A. W. Schlegel that den 
gleichen Ausspruch (Char. u. Ur. II, 44). Der Vf. hält es daher 
für keine mufsige Aufgabe, zusammenzustellen, was die Poesie 
der Deutschen und anderer Völker Ähnliches aufzuweisen hat. 

Zu 8llen Zeiten haben Sagen und Mährchen davon erzählt, 
wie übermäßiger Schmerz der hinterlassenen Lieben die Todten 
in ihrer Buhe störe; die Wehklage weckt sie auf, jede Thräne, 
die über ihrem Grabe vergossen wird , fällt ihnen schwer und 
klingend auf die kalte Brust, da Ts sie aus dem Schlafe auffahren, 
und ihre Leichenhemden werden nafs vom vielen Weinen. Sie 
mochten gern das alte Leben verschlafen und vergessen ; aber die 
Liebe mahnt sie wider ihren Willen. Vollständig ist dieser Ge- 
danke in einem schönen deutschen Märchen (Kinder- u. Hausm. 
d. Br. Grimm II, 118. poet. von Chamisso , Ged. Ausz. II. S. 147 
— 1 49) ausgedruckt, wo das Kind im thränennassen Todtenhemd- 
chen vor das Bett der Mutter kommt. In einem Volksliede des 
Kuhländchcns (Meinert I, 89. 90.) fluchtet ein von der Stiefmut- 
ter gepeinigte* Kind ins Grab der rechten Mutter, die es abmahnt 
Die littauische Klageliederpoesie bietet (Rhesa, Litt. Volksl. S. 
22 — 24. vergl. Chamisso S. 154. i55.) nur Eines dar, wo die 
Todte (eine Mutter) vom Weinen des zurückgebliebenen (Kindes) 
erwacht, und hier wird die Klage sogar durch tröstliche Ver- 
beifsungen beschwichtigt. In einem serbischen Liede (Talvj, 
Volksl. d. Serben I. 67.) beunruhigt die Verzweiflung einer Jung- 
frau ihren gestorbenen Geliebten: 

„Nicht die Eni' lata die mich drückt, 0 Mutter, 
Nicht die Ahornbretter meiner Wohnung: 
Waa mich quält, d«r Schmerz Uta der Geliebten. 
Wenn sie teufa, ho bangt der Seel' im Himmel; 
Aber wenn nie «ich vernchwört verzweifelnd, 
Bebt die Erde und der Leib erzittert " 



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Belletristik. 409 

Ähnlich einer Sage bei Boccaccio (Decamerone, giorn. IV. nov. V.). 
Ein uraltes und grofsartiges Beispiel von gespenstischer Wieder- 
belebung des Gatten durch sein Weib gewährt die Edda im 
zweiten Liede von Helgi dem Hundingstodter (Lieder d. alten Edda 
d. d. Br. Grimm I, 114 — 119). Daneben stellt sich ein [sehr 
poetisches] deutsches Volkslied im Kuhlä'ndchen (Meinen, I, i3. 
14.): das zurückgelassene Weib mufs hier die Unvorsichtigkeit 
ihrer Liebe und ihres Schmerzes mit dem Leben büTsen. Sie 
klopft am Grabe des Gatten an: 

„Thu dich auf. und thu dich, Erdenk lofs, 
Und lala mich hinunter auf seinen Schofs." 

&Wai willst du denn da unten thun ? 
a unten hart du ja keine Ruh. 
Da unten darfst du nichta backen, 
Da unten darfst du nicht waschen; 
Da unten hörst du keinen Glockenklang;, 
Da unten hörst du keinen Yogelgesang; 
Da unten hörst du keinen Wind nicht wehrt , 
Da unten siehst du keinen Regen nicht sprihn." ( = tropfen- 

weis fallen) 
Da krähte die erste Hiramelstaub ; 
Die Gräblein thaten sich alle auf: 
Die Schöne stieg zu ihm hinunter. 
Da krähte das andere Höllenhuhn; 
Die Gräblein thaten sich alle zu ; 
Die Schöne raufst' unten verbleiben. 

So kann selbst der Tod die Bande nicht losen , die den Menschen! 
an das Erdenleben knüpfen, Liebe und Schmerz zwingen ihn 
zum Aufleben. Aber auch das mitten im Streben oder Begehren 
anwillig abgerufene Leben reifst die unheimliche Macht des un- 
befriedigten Verlangens zu kurzer, scheinbarer Fortsetzung her- 
auf. In einem [ob ächten?] Soldaten liede des Wunderhorns (I, 

23. 74«) trommelt ein todter Trommelschläger die Leichen seiner 
esiegten Kameraden zusammen und sie schlagen den Feind. In 
einem HIephtenliede (Fauriel I, 56.) bestellt ein sterbender Ar« 
matolenführer sich ein Fensterlein ins Grab. Todte sind nach 
einer deutschen Sage (Br. Grimm I, 424.) einmal aus den Grä- 
ber aufgestanden , um den Ihrigen gegen den Feind beizuspringen. 
[Hier, als Beitrag des Referenten, die Sage von den Rittern in 
der Gruft der Burg 'Bucheck im Kanton Solothurn , die er aber 
nur aus seiner schon 1829 gedichteten , ungedruckten Romanzo 
anzugeben weifs: 

In Gewölben eng und schwarz 
Liegen jetzt die Braven, 
Können in dein dunkeln Haus 
Ohne That nicht schlafen; 

Lauschen in dem Millen Grab 
In den schweren Waffen; 
Wie es droben geh, das macht 
Ihnen stets zu schaffen. 



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410 Belletristik. 

Und wenn'* übel will crgehn, 
Rührt Bichs in dem Berge, 
Leise tönen , lnuter dann 
Die metallnen Särge. 

Wie wenn einer ans dem Bett 
Springet, hallen Tritte, 
Wie wenn wer in Waffen geht. 
Schallen dumpfe Schritte. 

Dann rathschlagt das Volk. Im Revolutionskriege sollen sie sich 
zum letztenmal haben hören lassen. Da tonte es wie ein anter. 
irdisch Heer in den Grüften. 

Und als Alles unterlag, 

Als der Fremdling siegte: 

Wie sich s drunten dumpfen Halls 

In die Gräber schmiegte ! 

Wie man Waffen von sich legt, 
Schweres En und Eisen, 
Hört man unter brochnen Klang, 
Lauten Fall und leisen. 

Droben im betrübten Land 
Waltete der Kummer, 
Drunten im verstummten Grab 
Schlief aufs neu der Schlummer. ] 

Ebenso vermag auch ein auferlegtes nnd nicht befolgtes Ge- 
bot, ein gegebenes and nicht erfülltes Versprechen den Todten, 
damit sie Wort halten können, ein kurzes Scheinleben zn ver- 
leihen. Hier verweist Herr VY. auf das deutsche Kindermährchen 
von den veruntreuten Hellem (Br. Grimm II, «77. 378.). Von 
einem Bruder, den die Trauer der Schwester, einem Sohne, den 
das verzweifelte Mahnen der Mutter nothigt , schon gestorben, 
ein im Leben gethanes Gelübde zu erfüllen, erzählen zwei merk- 
würdig miteinander übereinstimmende, vollständig mitgetheilte and 
analvsirte Lieder, ein serbisches (Tal vj I, 160—164) und ein neu- 
griechisches (Fauriel II, 406 — 408. W. Müller neugr. Volke). II, 
64—67.). Auch todte Mutter kommen zu ihren Waisen heim, lieb- 
kosen and säugen sie (Br. Grimm, Märchen I, 64. 76. III, 406. 
[hierzu fuge das Volksbach Melusine, in G. Schwabs Buch der 
schönsten Sagen u. Gesch. II, 378.]. Dann wird an eine magya- 
rische Sage erinnert (Maylath, 10. it.) and die altgriechische 
Sage von Protesilaus and Laodaroia (Iliad. II, 701. 703. Hygin. 
Fab. CHI. Aoson. Epitaph, her. XII. Edyll. VI, 35. 36. Ovid. Me- 
tam. XII, 67. Heroid. XIII, 5i sqq. Catall. 64, 2. Pro per t. I; 19, 
7 ff. Stat. Silv. II; 7, 131. Lucian. Dial. Mort. XXIII. Minuc. Fe- 
lix cap. XL Dictys Cret. II, 11. Tzetz. Cbiliad. II, 760. bist LH.) 
genau beleuchtet [Hätte die Älcestis-Fabel hier nicht auch eine 
Erwähnung verdient?] 

Das dänische Lied von Aage und Else (Wilh. Grimm, alt- 
dän. Helden!. S. 73. 74) enthält (nur lückenhaft) beides , die Un- 



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Belletristik. III 

rohe des Todren über den Schmerz der verlassenen Geliebten, 
und die Erfüllung des Wechsclgelubdes. In der altschottischen 
Ballade (Percy, ed. Lond. a. Francf. 1791. p. 1 Ii — 114, von 
Herder frei ubers.) folgt Margaretha dem Geist ihres Wilhelm 
durch die Winternacht, bis er beim Hahnenschrei in Nebel schwin- 
det nnd sie stirbt. Entsetzlicher gestaltet sichs, wenn der dem 
Andern onbewufst Gestorbene vor ihm Leben lügt; einfach und 
einigermafsen noch trostlich in einem kuhländiseben Liede ( Mei- 
nert 1,3). Gothes Braut von Korinth , deren Quelle ein frag- 
mentarischer Brief in Phlegons von Tralles Buch von -wunderba- 
ren Dingen Cap. L (Meura. Opp. ed. Job. Lamii vol. VII. col. 8 
— 84*) ist, wo die Liebenden Machates und Philinnion heifseo, 
gehurt nur halb hierher, denn der Grund der Todtenerscheinung 
ist zugleich Vampyrismus. 

Aber in ganzlichem Widerspruch mit allen bisher aufgeführ- 
ten Dichtungen steht das deutsche Lied vom Reitersmann, der 
sein Grab in weiter Ferne verläfst, zur Geliebten reitet und sie 
heimfuhren will t — im Wunderhorn II, 10. 20. Das Lied ist 
aber der Unächtheit sehr verdachtig und kann daher nicht als 
Quelle von Burgers Lenore angesehen werden. 

Von dieser Quelle kennt man nur Fragmente. In einem nie- 
derländischen Blaubartsmärchen (Märchen der Br. Grimm III, 77) 
singt der Herr, der die Jungfrau nach seinem Schlofs, d. h. dem 
Tod entgegen fuhrt: 

„ Der Mond scheint to hell , 
Meine Pferde laufen so schnell: 
Sur« Lieb reut dichs auch nicht? 

Hinsel (Lebensläufe, Ausg. v. 1838, ai5) legt einem Bauermäd- 
chen aus einem v bekannten Volkslied « die Worte in den Mund : 

„Der Mond scheint hell. 
Der Tod [Todt*??] reist schnell: 
Fein's Liebchen, graut dir nuch V" 

Und in Dänemark und Norwegen wird gesungen (Gräters Idue. 
und Herrn. 181a. 8. 60) : 

• 

„Der Mond scheint ■ 
Der todte Mann greint: 
Wird dir nicht bange?" 

Aus Burgers Munde nun wird (Burgers Leben von AlthofY. 
Werke, Gott. 1829. V, 304) erzählt, dafs er im Sommer 1773 
Abends bei Mondschein ein Bauermädchen singen horte: 

„Der Mond der scheint so helle, 
Die Todten reiten so schnelle: 
Feins Liebchen , graut dir nichtf 44 

was bekanntlich in die Lenore fast wortlich übergegangen ist. In 
zwei Briefen Burgers an Boie (18. u. ao. Sept. 1773 wird noch 



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412 



Belletristik. 



eine vereinzelte Stelle daraus angeführt: »Graut Liebchen?« 
»Nein: ich bin ja bei dir!« Nacii dem Zeugnisse J. H. Vofs's 
(Mrgnbl. 1809. Nr. 241 u. 245) verdankte Bürger den Stoff sei- 
ner Dienstmagd, Christine, wonach Althoffs Erzählung zu mo- 
dificiren ist; und nach A. W. Schlegel (Neuer deutscher Merkur 
1797 S. 394) war ein [andres?] Volkslied, aus dem Bürger Win- 
ke erhielt, plattdeutsch. Eine Freundin habe ihm nach dunkeln 
Erinnerungen erzählt, namentlich die Zeilen angeführt: VVo lise, 
wo lose Rege hei den Bing! (wie leise, wie lose regte er den 
Bing), was Bürger in den Worten wiedergegeben hat: 

„Und horch, und horch den Pfortenring 
Gau loae leise klinglingling !" 

Diesen Zeugnissen gegenüber erscheint die Behauptung der 
Herausgeber des W 7 underhorns, Bürger habe ihr obenerwähntes 
Lied bei Nacht aus einem Nebenzimmer gehört, doppelt verdäch- 
tig. Verglichen mit den bisher aufgeführten Sagen hat die Lenore 
einen durchaus andern, grausenhaftern und trostlosem Sinn; denn 
das Gespenst tritt als himmlischer Späher auf, um für Lenorens 
verzweifeltes Hadern mit Gott ihr junges Leben hinzuopfern. 
Dafs dasselbe zuletzt der Tod selbst ist, bezeichnet Herr Prof. 
Wackernagel mit Becht als eine geschmacklose Wendung, und 
macht schließlich auf Holtei's Versuch in seinem Singspiel auf- 
merksam , die Lenore zu einer yolks- und sagenmäfsigeren Gestalt 
zurückzuführen. 



Die Freuden de» Gedächtnisses. Ein Gedicht von Samuel Hoger», 
Aus dem Engluchen übersetzt von Anton Günther Bru»chiu» f DocU 
d Philosophie. Leipzig, in Commission bei C F. Steinacker. 1836. 8. 
Vlll u. 48 & 

Das Gedicht von Sam. Bogers » The Pleasures of Memory « 
schien dem Herrn Übersetzer zu verdienen, wohl eher als man- 
ches andere in unsere Literatur übertragen zu werden. Da nun 
bis jetzt seines Wissens keine Übersetzung davon erschienen, 
machte er sich an diese Arbeit, die er mit sehr bescheidenen 
Worten dem Publikum vorlegt. Das Vorwort des englischen 
Herausgebers lautet in Beziehung auf den Dichter sehr volltönend. 
Die »Freuden des Gedächtnisses« sind ihm ein bewundernswür- 
diges Gedicht, man mag nun den weiten Umfang des Plans be- 
trachten , oder die Bichtigkeit der Zeichnungen , oder die Ge- 
schicklichkeit der Ausführung. Nicht den geringsten Vortheil fin- 
det er vergessen, und ihm ist als ob der Dichter seinen Stoff 
aus dem Innersten des Herzens geschöpft hätte. (S. VI.) 

An die kühnen Schöpfungen des jungem englischen Genius 
gewöhnt, kann die jetzige Zeit nicht in dieses hohe Lob über- 



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ßetletriittk. 418 

einstimmen, ohne darum die gemülhliche Grandlage dieses Ge- 
dichts, oder den FJeifs und die Begelgerecbtigheit der Ausfuh- 
rung zu verkennen. Auch wir finden es schon , dafs Rogers jene 
kleinen interessanten Punkte aufzufinden weifs , die sich an das 
Gedüchtnifs knüpfen , dafs er aus an sich unbedeutenden Dingen 
eine lange Gedanbenreihe zu erwecken und eine Menge zärtlicher 
Erinnerungen in uns hervorzuzaubern weifs ; auch dafs seine 
Honst der Wahrheit und Einfachheit keinen Eintrag thut , und 
der gute Geschmack des Dichters sieb sowohl in der Wahl sei- - 
nes Stoffes als in der Behandlung offenbart. Nur können wir an 
jener steifen Einkleidung unmöglich Gefallen finden, die, statt 
uns mitten in ein Bild hineinzufuhren, das uns die Kraft oder 
den Segen der Erinnerung veranschaulichte , mit dem gut ge- 
raeinten , aber gewifs keinen dichterischen Inhalt offenbarenden 
Wunsch beginnt : 

O, könnt 1 in dienen Blättern doch mein Geist 
Auf ganze Länder und Geschlechter wirken, 
Und überall de« Denkens Früchte spenden, 
Gereift im Gluthstrahl edler Schwärmerei, 
Damit für Tugend warm die Herzen achlügen, 
Und Rührung drängte zur Nacheiferung u. s. w. 

Warum beginnt nicht das Gedicht ohne diese steife Einleitung 
sogleich mit seinem » ersten Theile « , mit der anmuthigen Schil- 
derung des dörflichen Abends ? Hier können wir allerdings dem 
Vf. nachempfinden, wenn er uns, ernst durch die Bäume blickend, 
den alten Bau zeigt, mit dessen hohlem Thurm die Winde kosen, 
und in dessen Buinen alle seine Jugenderinnerungen wohnen. (S. 
3. 7.) Aber die Nutzanwendung ist wieder von der trockensten 
Lehrpoesie. »Gedächtnifs unsre beste Himmelsfreundin!« u. 
s. w. Sie ist um so wirkungsloser als das Gedicht nicht unmit- 
telbar darauf den Aufschwung zu neuen Gedanken nimmt, son- 
dern S. 8 — 11 in lauter Jugenderinnerungen fortfährt, und die 
nicht eben neuen Scenen einer wahrsagenden Zigeunerin, eines 
durch edelmuthige Junkersfreigebigkeit beglückten alten Bettlers, 
eines didaktischen Todtengräbers u. s. w. in gewählten doch ge- 
wöhnlichen Ausdrücken unsrer Phantasie vorüberfuhrt. Dann 
folgt wieder eine nüchterne Apostrophe an die Himmelsmacht 
des Gedächtnisses. Erst jetzt wird die Betrachtung poetischer: 

In des Gehirne zahllosen Kammern schlafen, 
Geheimnisvoll verkettet, die Gedanken. 
Weck' Einen auf, und tätigende ttehn auf! 
Wie Einer flieht, erscheint des andern Bild. 
Hell oder bleich wird jeder, wie die Sinne 
Freud* oder Kummer in die Seele Hülsen .... 

Ein jeder dringt bis an den Quell, von wo 
Die Nerven ihren wirren Lauf beginnen, 
Und durch den Leib mit unsichtbarem Spiel 
Die feinen, schnellen Schwingungen verbreiten. 



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414 



Belletristik. 



Bis hierher war von jener Kunst, welche z. D. in den Satiren 
und Episteln des Horaz die Verstandesanlage verbirst, und wie 
in einem englischen Garten den Schein wiükührlich hausender 
poetischer Naturkraft hervorbringt, nichts zu verspüren. Erst 
mit S. ia verbirgt sich der Plan des Dichters dem Auge, und 
es erquiekt ordentlich den Leser von den Worten an: 

Blick' auf die Welt, durchforsche jedes Land! 

den Gedankenzusammenhang ein wenig zu verlieren 9 und sich bei 
der Erwähnung des armen Knaben, der in die weite Welt geht, 
und Tuhia's, des Häuptlings von Otabeiti, der ans Freundschaft 
dem Capitan Cook auf seiner Ruckreise nach England folgte aber 
unterwegs starb, auf die Erinnerung besinnen zu müssen. Maria 
Stuart, der Dogensohn Foscari, Petrarch und Laura, Virgil, 
Cicero, Archimedes, Plato, Pindar und ganz Rom treten nun 
bald als Zeugen für die Wonnen des Gedächtnisses, bald als Ge- 
dächtnifsmäler selbst auf. Dann folgen (S. 17 f.) die Erinnerun- 
gen des Liebenden , der Wittwe , des Greises , des Schweizers in 
der Fremde, der Krieger und Konige, am Ende auch die Erin- 
nerungskraft eines treuen Hundes, einer Brieftaube. Die letztere 
veranlagt die ruhrende Erwähnung des im J. i5?3 hart belager- 
ten Harlems, dem eine Taube die Nachricht nahen Entsatzes 
brachte. Selbst die Biene findet ihre Zelle wieder: 

Wer giebt ihr jene stolze Zuversicht, 

Dafs sie den wirren Faden aller Düfte, 

Die sie im Flog entzückten, wiederfindet? — 

Heil dir, Gedichtnifs , Heil! dein Walten schüfst 

Das kleinste Glied der hehren Wesenkette! (S. 23) 

Der zweite Theil preist das Gedacht nifs , als Bewahrer 
der Wissenschaft und Kunst, als Gottin der Hoffnung und des 
Trostes, selbst in den trostlosen Mauern eines Nonnenklosters 
(S. a 5 ) , in den erstickenden Bäumen eines Sklavenschiffes (S. 
*6 £). Ana wunderbarsten beherrscht es den Schlaf (S. 28), es 
versufst die Reise (S. 39), es wohnt selbst in der Zelle des 
Wahnsinns , 

Dort, wo daa Gitter jedem Lichtstrahl wehrt, 
Im Staube liegt , der einst ein Genius war ! . . . 

Nur seine Kunst, wie schmeichelt sie ihm noch, 
Welch* hehre Phantasieen selbst im Kerker 1 
Noch strebt er nach dem Amaranthenkrans 
In glühenden , in lebeosvolleo Bildern ! (S. 30.) 

Durch das Gedacht nifs ergeht sich die Seele im unermeßlichen 
Felde der Ideen und feiert die Seele ihren Triumph. Sie schwelgt 
in alten Bildern der Lust, der Gefahr, selbst des Todes. Bei- 
spiele (S. 3o—35) 



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Belletristik. 



415 



Wie man des goth'schen Bauet ernste Gröfse 
Nicht so verehrt an seines Daaeyns Morgen, 
Als wenn sich Epheu schlingt um seine Trümmer, 
Die heiter von der Zeit beschattet stehn: 
• So auch gewinnt ein zartes liebes Bild 

Mit jedem Jahre neuen Reis der Wehmuth. 

Ein Beispiel dient hier als Episode (S. 36—45). Ja selbst jen- 
seits, bei den reinen Burgern einer edlern Wert, machen die 
Wonnen des Gedächtnisses einen Theil der Seligkeit aus (S. 45 
— 47). Darum »Heil dir, Gedächtnifs u. s. w. « Scblufsapostrophe. 

Unsre Leser kennen nun den Gang des Gedichtes und wer- 
den aus den ausgehobenen schwächeren und schöneren Stellen 
wohl ermessen können, was sie von dem Ganzen, dessen Über- 
setzung fliefsend und geschmackvoll ist, zu erwarten haben. Da 
der Herr Übersetzer nichts über die Lebensumstände seines Dich« 
ters hinzufugt , so stehe hier , aus bekannten Hülfsmitteln , was 
für Werthbestimmung des kleinen Lehrgedichtes nicht ganz ohne 
Interesse ist, dafs Samuel Rogers ein reicher Londner Ban- 

3uier war, geb. um 1765, dafs er um 1787 als Dichter auftrat, 
afs die gegenwärtige Dichtung 1792 erschien und seinen Ruf 
gründete. In spätem Zeiten soll er den Ton der neuern briti- 
schen Muse, nicht mit Gluck, angestimmt haben. Byron achtete 
ihn , und seine Stellung in der Welt erwarb ihm zahlreiche Ver- 
ehrer. Rogers ist erst seit i83a todt. Sein letztes Hauptgedicht, 
Italy, die Frucht einer italienischen Reise, erschien im J. 182a, 
and ward von ihm 1 83 1 in einer Prachtausgabe wiederholt. In 
England selbst gilt er für den Goldsmith des neunzehnten Jahr- 
hunderts. 

G. Schwab. 



' Opcrc di Giacomo Lcopardi. Vol. 1. 

Conti di G. L. Edizione corretta, aecreiciuta, e tote approvata dalV 
Autor*. JSapoli , etc. 1835. 111 S. 8. 

Des Grafen Leopardi Canti sind theilweise schon seit 1818 
in Rom, Bologna, und am vollständigsten und elegantesten 1 83 1 
in Florenz erschienen , verschiedene Nachdrucke ungerechnet. 
Der edle Dichter, den leider in der Jugend das Unglück- des 
Greises Mi I ton traf, thut wohl, die Hervorbringungen seines 
schwermuthigen Feuergeistes zu sammeln, schätzbare Reflexe 
der Zeit , Erinnerungen , Klagen , Ruckblicke in die Vorwelt. 
Wie rührend schliefst folgende Stelle das, hier zuerst erschei- 
nende , Gedicht Le Ricordanze , dessen Culminationspunkt die 
früh entrissene Geliebte ist, S. 106: 

— Altro temuo. I giorni tuoi 
Furo, mio dolce amor. Passasti. Ad aitri 



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416 



Belletristik. 



II paaaar per la terra oggi e aortttn, 

E l'abitar queati odorati colli. 

Ma rapida paaaaaü ; e coiue un aogno 

Fu la loa vita. Ivi dansando in fronte 

La gioia ti splendea , aplcodea negli occhi 

Qnel coofidente iromaginar, quel lume 

Di giorentü, quando apegneali il fato, 

E giaccvi. Ahi Nerina k in cor mi regna 

Lantieo amor ! Sc a fette anco talvolta, 

Se a radunanie io movo , infra me ateaeo 

Dico : o Nerina, a radunanze, a fette 

Tu non ti acconci piü , tu piü non niovi. 

Se torna maggio, e ramoicelli e auoni 

Van gli amanti recando alle fanciulle, 

Dico: Nerina mia, per te non torna 

Primavera giatnmai, non torna amore. 

Opni, giorno eereno, ogni fiorita 

Piaggia ch' io rairo, ogni goder, ch'io acnto, 

Dico: Nerina or piü non gode ; i campi, 

L'aria non tnira. Ahi tu paaaaati , eterno 

Soapiro min: paaaaati: c fia compagna 

D'ogoi tnio vago immaginar, di tutti 

I roieri tcneri aensi , i triati e cari 

Moti del cor, la rimerabranza acerba. 

Wir machen die Freunde Leopardi's and der bessern Dich- 
ter des heutigen Italiens aufmerksam auf diese schone, cotrecte 
und wohlfeile Sammlung. 

F. H. Bothe. 



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Pf». 87. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

« 



Grund züge zum Systeme der Philosophie von J. iL Fichte. Zweite Ab- 
t heil un fr. Die Ontotogie. Heidelberg, im Verlag der akademischen 
Buchhandlung von J. C. B. Mohr. 1886. 

Die erste Abtheilung des gegenwärtigen Werks: »Das Er Ken- 
nen als Selbsterkennen« , .bildet die wissenschaftliche Ehl- 
and Überleitung in den zweiten, ontologischen. Beiden Abthei- 
lungen liefs der Herr Verf. im Jahre i832 den kritischen Theil 
eines Gesammtwerks vorangehen , dem er den Titel : » Über Ge- 
gensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie« gab. Die- 
ser kritische Theil aber schliefst sich an seine » Charakteristik 
der neuern Philosophie« an, welche im Jahr 1829 erschien, und 
ist als Fortsetzung derselben zu betrachten. Die erste gröfsere 
Schrift, mit welcher der Herr Verf. als philosophischer Schrift- 
steiler auftrat, sind die »Sätze zur Vorschule der speculativen 
Theologie« 1826, die zu einer Zeit erschienen, in welcher das 
«^teresse für speculative Philosophie weniger lebhaft war, als 
etwa 10 Jahre früher oder später. Dennoch fand diese geist- und 
ideenreiche Schrift grofse Theilnahme bei dem philosophischen 
Publikum , und es wird beinahe kein Denker unter der jüngeren 
Generation seyn, der nicht wenigstens vielfach dadurch angeregt 
worden wäre. Hatte schon dieser erste Versuch einen glänzen- 
den Beweis von Fichte's philosophischem Beruf und Talent ge- 
geben, indem er darin die Grundzüge eines — was viel sagen 
will — objektiv oder, wie man gegenwärtig im Gegensatze zu 
einer sogenannten subjektiven oder negativen Dialektik sagt, po- 
sitiv speculativen Systemes entwarf, so sind dagegen seine fol- 
genden Schriften ganz geeignet, die Entwicklung dieses Systems 
kritisch und logisch vorzubereiten. Und in der That erfreut sich 
Fichte mit jeder seiner neuern Schriften einer tiefern und allge- 
meinern Wirkung auf das denkende Publicum , indem jeder nicht 
parteilich Befangene oder von der kleinlichsten Mifsgunst Ver- 
blendete hauptsächlich in seinen Schriften die Forderung und 
Weiterbildung des philosophischen Wissens erblickt, welche von 
nachsprechenden Schülern um so weniger zu erwarten ist, je 
selbstzufriedener sie auf die Imperfektibilität und die Infallibilitä't 
XXX. Jahrg. 5. Heft. 27 



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1 



418 Fichte : Grundzüge a. System d. Philosophie. 

der Philoiophie ihres Meistert pochen *). Dafs aber Fichte den 
grofsen Reformator der Logik so hoch ehrt, wie ihn nur immer 
ein selbstdenkender Geist ehren kann, — nnd Geister können 
nnr von Geistern geehrt werden , — davon giebt eine bestimmte 
Erklärung in seiner Vorrede Zeagnifs. Er erklärt sich daselbst 
S. VII gegen den möglichen Vorwarf: tvDer ganze Inhalt 
seiner Ootologie sey eben der innerste „Geist 44 des Hegeischen 
Sy stemes, es sey in seinem Principe schon enthalten nnd voll- 
kommen gegenwärtig««: »worauf wir, ganz wie Hegel selbst 
in ähnlichem Falle, nur antworten könnten: nicht was darin lie- 
ge, sey das Entscheidende, sondern was wirklich heraus sey, und 
was sie in diesem Falle, wenigstens mit wissenschaftlichem Rechte 
noch nicht herauszubringen vermochten, vielmehr nur persönlich, 
in Glauben und Gesinnung mit hinzugebracht haben.« Ref. ist 
wenigstens der Überzeugung, dafs die Partie der aus Hegels 
Schule hervorgegangenen Denker, on deren Spitze der verehrte 
Göschel steht, und deren wissenschaftliche Versuche die grofste 
Achtung verdienen, dem Herrn Verf. näher steht, als den dur* 
tigen Hüpfen , welche selbst die von jenen mit Recht so genann- 
ten kahlen und monströsen Resultate der Hegeischen Philosophie 
von denen sich alle tiefer Denkenden und Puhlenden mit Unw*.' 
len abwenden , mit grofser Zuversicht nachsprechen. Zu jenen 
selbständigen Forschern, die aus Hegels Schule hervorgegangen 
sind, dürfen wir wohl auch Branifs und YVeifse rechnen, Den- 
ker, von denen der Letztere sich ausdrücklich in formeller Hin- 

•) So gab i. R. dem Ref. ein Benrtheiler seiner Metaphysik (Schmid 
in Erfurt) den Rath, „durch Umgestaltung derjenigen Philosophie, 
in welcher die Elemente des philosophischen Wissens schon in in- 
nerem Zusammenhang und gegenteiliger Durchdringung vorhanden 
seyen , «ich und Andern die Sphäre zu eröffnen, zu welcher die phi- 
losophische Forschung fortgehen solle." Er sieht mithin nicht ein, 
dafs er ebendaroit das Unmögliche fordert, indem ein Fortschritt 
über das Hegeische System nur in dem Falle möglich ist, wenn 
die Elemente des philosophischen Wissens in dem Hegelschea Sy- 
stem nur unvollständig und in einem durch Inconsequenzen u. dgl. 
gestörten Zusammenhange vorhanden sind. Dagegen habe ich mich 
durch seine Recension überzeugt , dafs es anf seinem Standpunkte 
unmöglich ist, auch nur Hegeln selbst wissenschaftlich zu verste- 
hen, indem er über das Princip und das Resultat der Ilegelschen 
Philosophie so ins Blaue hiuein raisonnirt, dafs er sieh sogar so weit 
vergifst, in einer Periode dasselbe „ Ursubjekt " , das er für da« 
Princip meiner Metaphysik hält, für das Princip der Hege Ischen 
Logik auszugeben. 



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% 



2ter Thcil. (Ontologie.) 419 

sieht zu dieser Schule bekennt, der Erstere aber durch sein 
neuestes Werl« den Beweis gegeben hat, dafs er sich so sehr wie 
irgend Jemand durch Hegels Dialektik gebildet hat. Es ist merk- 
würdig, dafs noch kein Schriftsteller von der negativen Partie 
der Hegeischen Schule den Versuch gemacht hat, Hegels ob- 
jektive Logik in einer eigenen Bearbeitung zu erläutern oder 
wenigstens zu popularisiren und zu verflachen, da doch eben 
Hegels spekulative Dialektik ausser der Phänomenologie in kei- 
nem seiner Werke einen größeren Triumph feiert als in seiner 
Logik. Wer ehrt am Ende den Meister mehr: diejenigen, wel- 
che alle seine Behauptungen aufs hartnäckigste glauben und nach- 
sprechen , oder diejenigen , welche sich durch ihn zum Fortschrei- 
ten in der Wissenschaft bilden, und im Sinne seiner Methode 
selbständige philosophische Darstellungen versuchen ? 

Von den Bearbeitungen der objektiven Logik, welche von 
drei geachteten Repräsentanten der speculativen Richtung ver- 
sucht worden sind, empfiehlt sich die von Branifs, welche i834 
unter dem Titel »System der Metaphysik« erschien, durch Schärfe 
der Begriffsbestimmungen und Consequenz des Fortgangs, die 
von Weisse, welche zwei Jahre später unter dem Titel » Grund- 
zuge der Metaphysik« herausgegeben wurde, zeichnet sich durch 
Gewandtheit und Gedankenreichthum aus, und die von Fichte, 
welche dieser Denker unter dem alten eingeführten Namen 
»Ontologie« in diesem Jahre erscheinen liefs, trägt unverkennbar 
das Gepräge wissenschaftlicher Reife und Meisterschaft. 

Dem Verf. ist die Ontologie »in ihrem ganzen Umfange die 
Wissenschaft von den Formen des Wirklichen , von demjenigen, 
welches, ohne an sich selbst zu seyn, dennoch in allem Seyenden 
das schlechthin Not h wendige und Gemeingültige ist; mithin von 
eben so negativem (ungegenständlichem?) wie durchaus gemein- 
gültigem und strengnothwendigem Charakter, Werk und Durch- 
fuhrung des reinen Denkens, und bedarf so überhaupt der Er- 
gänzung durch das realphilosophische Erkennen. Specieller theilt 
sich die Ontologie in die Betrachtung der abstrakten Wirklich- 
keitsmomente und der relativen Totalitäten des Wirklichen in 
Kategorien- und Ideenlehre , deren erstere nur (?) hier dargestellt 
worden aey. Aber auch die Kategorien bilden insofern ein ge- 
schlossenes System, als sie sich insgesammt in der Idee des Gei- 
stes als der absoluten oder allein widerspruchlosen Wirklichkeits- 
form durchdringen und zugleich einen Ruhepunkt und Abschluß 



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420 Fichte: Grundzügc z. System d. Philosophie. 



für sich selbst , wie einen Übergang in die Ideenlehre dadurch 
findet. « So erklärt sich der Verf. S. IV der Vorrede ; S. 26 der 
Einleitung erklärt er ausdrucklich die Ideenlehre als den dritten 
Theil der Ontologie. Der Verf. scheint nach der letztern Erklä- 
rung, obwohl er die Kategorien als formelle Begriffe von den 
Ideen als den wesentlichen Vernunftgegenständen , z. B. den Ideen 
des Lebens, der Freiheit, des Geistes, des Universums, der Gott- 
heit unterscheidet, dennoch in der Hegeischen Manier, welche 
die Metaphysik auf die Logik reducirt, insofern befangen zu seyn, 
als er die Ideenlehre als letzten Theil der Kategorienlehre be- 
trachtet. 

Der Grund, warum der Verf. die Ontologie nicht, wie He- 
gel, im Sinne einer objektiven Logik als Voraussetzung der sub- 
jectiven Logik betrachtet , scheint uns darin zu liegen , weil er 
einsieht, dafs man, wenn man nach Hegel' die Ontologie oder 
die objektive Logik als die Wissenschaft des absoluten Denkens, 
welches als solches » objektivirendes Thun « ist , definirt , ohne 
eine auffallende Inconsequenz nicht zur subjektiven Logik über* 
gehen kann, welche so wenig die Fortsetzung jenes weltschaf- 
fenden v absoluten« Denkens und die » Selbstbsstimmung Gottes 
zum Seyn« darstellt, dafs sie vielmehr dieselben Unheils- und 
Schlufsformen des subjektiven Denkens , wie die ältere Logik nur 
in lebendigerem Zusammenhange und Fortschritte entwickelt 
Allein ist man einmal zu der Einsicht gelangt, dafs die subjektive 
Logik nicht den Fortschritt des »absoluten« Denkens darstellt, 
dann ist der Gedanke nicht mehr ferne, dafs ihre Voraussetzung 
die objektive Logik oder die Ontologie gleichfalls nicht, wie 
Fichte behauptet, die Selbstbestimmung des Absoluten durch die 
nothwendigen Formen seiner Entwicklung im objektiven Fort- 
gange nach ollen Momenten der Weltentwicklung darstelle. Das 
Absolute, welches der Vf. als wesentliches Princip der Dialektik 
seiner Ontologie voraussetzt, resultirt, wie er selbst gesteht, aus 
seiner Erkenntnifslehrc nicht in der absoluten Wahrheit seiner 
Idee , wonach es als absoluter Geist gedacht wird , sondern in 
der Form, io welcher es in der Erkenntnifslehre gefafst und der 
Ontologie vorausgesetzt wird, ist es nur heuristisches, nicht rea- 
les wahrhaftes Princip. Daher kann der Verf. S. 10 selbst nicht 
leugnen, »dafs in dieser Vorstellung eines nothwendig sich me- 
tamorphosirenden und in Gegensätze auswirkenden Absoluten 
noch eine wesentlich deterministische und pantheistische Auffas- 



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2tcr Tbeil. (Onlologie.) 



421 



suDg Gottes liegt « *) Allein wenn es sich ergibt, dafs »jene 
Selbstverwirklicbung (?) Gottes als Welt (?) eine schlechthin 
durch seine Persönlichkeit vermittelte, somit im höchsten Sinne 
freie, dafs sie aber Schöpfung und Selbstoffenbarung sey,« so 
ist sowohl die immanente Selbst Verwirklichung Gottes, in welcher 
er sich ewig zum wollenden und wissenden Geiste bestimmt , wie 
sein transitives Thun, durch welches er die Welt successiv d.h. 
im Verlaufe der Zeit schafft , in der Wissenschaft zu entwickeln, 
welche der Exposition der absoluten Idee gewidmet ist, in der 
speculativen Theologie. 

Halten wir aber den von dem Verf. selbst bestimmten Begriff 
der Ontotogie als Lehre von den Kategorien fest, so ist nicht 
einzusehen , warum er die Entwicklung dieser abstrakten unvoll- 
standigen Formen des Wirklichen nicht bis zu der dialektischen 
Ableitung der Begriffs-, Urtheils- und Schlufsformen fortsetzt, 
in welchen sich jene alles Denken bedingenden ontologischen Ka- 
tegorien zu »relativen Totalitäten« abschliefsen , die zwar noch 
nicht Vernunftgegenstande oder Ideen , wohl aber die nicht mehr 
einseitigen, sondern in sich selbst vollendeten Formen alles ver- 
nunftigen Denkens und Seyns sind. Wenn aber der Vf. auf die 
Entwicklung der Kategorien unmittelbar die Lehre von den Ideen 
folgen läfst , so uberschreitet er nicht nur ohne wissenschaftliche 
Berechtigung den abstrakt formellen oder, wie er sich ausdrückt, 
negativen Charakter der Ontologie , sondern er übersieht, dafs 
Hegel am Schlüsse seiner subjektiven Logik die Ideen des Le- 
bens u. s. w. im Übergange zur Objektivität als reale Vermitt- 
lungen , oder wenn man lieber will, als Beispiele von objektiven 
Schlüssen darstellt **), welche, um als solche erkannt zu werden, 



*) Obwohl Ref. gleich in den ersten §§ seiner Metaphysik den Beweis 
gibt, dars das absolute Princip der Welt als absolute Persönlich- 
keit zu denken ist, die nur successiv erkannt wird, nicht aber 
zeitlich, sondern ewig sich selbst zum wollenden und wissenden 
Geiste bestimmt, so hat dennoch auch seine Darstellung im ersten 
kosmologischen Theil den Schein des Pantheismus gegen sich, ein 
Schein , der aber im vierten theologischen Theil durch die Unter- 
scheidung der freien zeitlichen Weltschüpfung Gottes von seinem 
ewigen d. h. wesentlichen Schaffen oder Wollen der Welt aufge- 
hoben wird. 

**) Hegel hat mit gewohntem Scharfsinne gezeigt, dafs der Schlufs 
nicht nur die Form des subjektiven Denkens, sondern die Form al- 
les Vernünftigen ist, indem dem spctulativ gedachten Begriffe und 
Schlüsse die Einheit und die Vermittlung des Gegenstandes mit 



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» 



422 Fichte : Grundlage z. System d. Philosophie. 

die dialektische Betrachtung der reinen Schlufsformen voraus- 
setzen. Dagegen handelt derselbe die Lehre vom Begriff, ür- 
theil jind Schlufs nur in einem Abschnitte seiner propädeutischen 
Erkenntnifslehre ab, während vielmehr die Logik seit Aristoteles 
als die zwar selbst nach Hegels Geständnisse III. Bd. S. 24 for- 
melle aber in sich geschlofsne selbstständige Grundwissenschaft 
einer besondern ausschliefslichen Darstellung gewürdigt wurde. 

Kants und Hegels Ansichten von der Bedeutung der Logik 
und der Metaphysik d. h. der formellen und materiellen oder ge- 
genständlichen Vernunft Wissenschaft sind Extreme, die sich zur 
wissenschaftlichen Erkenntnifs des Begriffs und des Umfangs die- 
ser Wissenschaften vermitteln lassen. 

Man ist allgemein einverstanden!, dafs die Begriffs-, Urtheils- 
und Schlufsformen die allgemeinen und notwendigen Formen 
alles Denkens sind. Da aber diese Formen des Systems des Den- 
kens in ihrer bestimmten Entwicklung und Vermittlung nicht ohne 
die sie bestimmenden unmittelbaren oder einfachen Gesetze und 
Kategorien des formellen Denkens *) wissenschaftlich erkannt zu 
werden vermögen, so machte Kant mit Recht darauf aufmerk- 
sam, dafs die transcendentale d. h. speculative Logik zuerst die 
einfachen Gesetze und Kategorien a priori abzuleiten habe , bevor 



•ieh leitet entspricht. „Alles", tagt daher Hegel §. 181 der En- 
cyklopädie, „ist Begriff, und sein Daseyn ist der Unterschied der 
Momente desselben, so dafs seine allgemeine Natur durch dio 
Besonderheit sich Realität gibt und sich durch die Reflexion 
(Rückkehr) in sich zum Einzelnen macht 1 * 

*) Jede Logik setzt die Bestimmung der Gesetze der Identität, de« 
Gegensatzes oder Widerspruches u. s. w. der Lehre vom Begriffe, 
Urtheile und Schlüsse voraus, indem sie den Begriffs- und Urtheils- 
besliimnungcn zu Grunde liegen Aber ebensosehr gesteh! seit Kant 
jeder Logiker zu, dafs jeder Urthcilsform «ine bestimmte Kategorie 
zu Grunde liegt, durch welche sie möglich gemacht wird, indem 
z. B. die Kategorie der Position und Negation das bejahende und 
verneinende, die Kategorie des Grundes und der Folge das hypo- 
thetische, und die Kategorie der Wechselwirkung das disjunktive 
i; itheil bedingt. Mit eben dem Rechte, oder vielmehr mit eben 
der wissenschaftlichen Notwendigkeit , mit welcher die Logik die 
Denkgesetze im engeren Sinne a priori ans dem Begriffe de« 
Denkens ableitet, hat sie mithin auch die allgemeinen und noth- 
wendigen Kategorien zu bestimmen, ehe sie zu den durch sie be- 
dingten I i tfi eil 8 formen übergeht, damit in organischer Entwicklung 
von den einfachen, unmittelbaren, zu den complieirten, vermittel- 
ten Formen des Denkens fortgeschritten werde. 



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Ztcr Theil. (Ontotogie.) 



sie die durch sie bedingten Begriffs-, Unheils- und Schlufsfor- 
men entwickle. Kant irrte nur darin, dafs er die Kategorien 
nur empirisch aus den vorhandenen Arten der Urtheile abstrau 
hirte , und dafs er sie nur als Formen des Denkens , nicht aber 
ebensosehr als Formen des Seyns betrachtete. 

Hegel dagegen versuchte die Kategorien mit wissenschaftli- 
cher Notwendigkeit aus dem Begriffe des reinen Selbstbewußt- 
seyns oder des Denkens *) abzuleiten , und betrachtete die Kate- 
gorienlehre d. h. die objektive Logik als die notwendige Vor- 
aussetzung der subjektiven Logik oder der Wissenschaft von dem 
Begriffe, dem Urtheile und Schlüsse. Unerachtet der vielen 
Mängel der Ausfuhrung ist seine Logik dennoch ein unvergleich- 
liches Meisterwerk tpeculativer Dialektik. Aber sein Grundirr- 
thum besteht darin, dafs er das zwar keineswegs unreale und nur 
subjektive aber nichtsdestoweniger wesentlich formelle logische 
Denken schon als solches für ein gegenständliches, weltschaffen- 
des Erkennen, oder für ein objebtivirendes Thun hält, und daher 
im ersten Bande seiner Logik oder in der Lehre vom Seyn eine 
Art von speculativer Physik gibt , die aber doch keine wahrhafte 
Physik ist, indem ihr Fortgang keineswegs ein durchaus objekti- 
ver ist, oder die Selbstbestimmung des Seyns (wenn das Seyn 
als letztes Abstraktum des subjektiven Denkens anders einer 
Selbstbestimmung fähig wäre) durch die allgemeinen Gesetze oder 
Formen der Weltentwicklung und Bildung darstellt. Der zweite 
Band aber oder die Lehre vom Wesen hat so wenig eine gegen- 
ständliche Bedeutung, dafs er vielmehr die Reflexionsbestimmun- 
gen des Denkens und mitbin die Gesetze der Identität, des Wi- 
derspruchs, die Kategorien der Ursache, der Wechselwirkung u. 
s. w. abhandelt, ohne dafs durch die Entwicklung selbst mehr 
erwiesen wurde, als höchstens die Übereinstimmung dieser Denk- 
ibrmen mit den Formen der Wirklichkeit. Mehr kann aber auch 
im Verlaufe der reinen Denkwissenschaft zufolge ihres Begriffs 
nicht erwiesen werden, und es sind weiter nichts als leere Ver- 
sieberungen, wenn Hegel Bd. III. seiner Logik S. 23. 25, oder 
Encykl. $. 164 behauptet, »die Bestimmungen des Inhalts seyen 



V) „Als Wissenschaft", sagt Hegel in der Einleitung sur Logik S. 41, 
„ist die Wahrheit, da« reine sich entwickelnde Selbstbewufstseyn." 
Der Anfang und die Ausführung der Hegeischen Logik gibt sich 
aber den Schein eine« nicht nur formellen , sondern durchaus ge- 
genständlichen Wissens. 



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424 Fichte : Grundzüge z. System d. Philosophie. 



überhaupt nichts anderes als Bestimmungen der absoluttn d. h. 
der logischen Form, und der logische Begriff sey das schlecht- 
hin Concrete und als absolute Form alle Bestimmtheit, aber wie 
sie in ihrer Wahrheit ist.« *) 

Ist man dagegen nicht in diesem logischen Idealismus oder 
Formalismus befangen , so wird man den Fortschritt nicht ver- 
kennen, der durch die wissenschaftliche Ableitung der allgemei- 
nen und notwendigen Kategorien des Denkens, und der durch 
sie bestimmten Begriffs-, Urtheils- und Sehl ufs formen entsteht, 
welche, obwohl Elemente des subjektiven Denkens, dennoch 
eine objektive Bedeutung haben, aber ebensosehr reale Bestim- 
mungen und Vermittlungen sind. 

Dafs aber die Formen des Denkens mit den Formen des 
Seyns übereinstimmen , oder dafs ihnen objektive Wahrheit zu- 
komme , dies läfst sich aus der von Kant verkannten Identität des 
Seyns und Denkens im Selbstbewufstseyn erweisen. Wird 
sich nemlich das philosophirende Subjekt bewufst , dafs die Ge- 
setze, nach welchen es sich selbst denkt, z. B. das Gesetz der 
Identität, des Unterschiedes, der Substanzialitat und der Causa- 
lita't u.s.w. nicht nur Bestimmungen seines Denkens, sondern, 
da es als denkendes und seyendes Wesen dasselbe ist**), 
ebensosehr seines Seyns sind, so wird es sich, sofern die geistige 
Welt die Totalität der denkenden Subjekte darstellt, in der Sphäre 
des ideellen Seyns von der Objectivität oder der Wahrheit der 
Denkformen wissenschaftlich überzeugen. Aber die reale Welt 
oder die Natur, was ist sie anders als die nach besondern Mo- 
menten und Stufen auseinandergesetzte Natur des Menschen, so 
dafs sie sich zu dieser nach einem Schleiermacherschen Ausdruck, 
wie sein äusserer Leib verhält?***) — Da nun das denkende 
Subjekt seinen Leib als sein eignes Seyn, die äussere Natur aber 
als noth wendige Voraussetzung seiner eignen Natur betrachtet, 
so ist nichts seltsamer, als die Formen, in denen wir die Er- 
scheinungen der Natur denkend begreifen, als Gesetze zu betrach- 



•) Wenn Kant sich in dem Irrthum befand, den reinen formellen 
Denkbestimmungen keine Realität zuzugestehen, so redneirte da- 
gegen Hegel alle wahre Realität auf dieselben! 

M ) Cogito ergo sura ! 

*•) Den bestimmteren Beweis gibt die Metaphysik in dein kotniologi- 
schen Theile, der die allgemein wissenschaftliche Grundlage der 
Naturphilosophie enthält. 



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2ter Thcil. (Ontologie.) 



425 



ten , von denen man nicht wissen könne , ob sie Gesetze der 
Natur selbst sind? Man wisse ja nicht, was die Natur ohne un- 
ser Erkennen an und für sich selbst sey? Als ob die Natur wahr- 
haft und nicht blos in der trennenden Abstraktion an und für sich 
existirte, da sie vielmehr in ihrer ganzen Organisation sich als 
die Objektivität des Geistes erweist, durch welchen und für wel- 
chen sie ist, was sie ist. Nur wenn sie als Schöpfung des ab- 
soluten und als Schauplatz des geschaffenen Geistes erkannt wird, 
wird sie mit begreifendem Verstände und nicht in trennender 
Abstraktion betrachtet. Was hieraus folgt, ist die Übereinstim- 
mung nicht aber die Identität des Denkens mit dem objektiven 
Seyn*), welche, wie z. B. von Hegel nur vorausgesetzt, nicht 
aber erwiesen werden kann. 

Fuhrt man daher die Logik auf ihren wahren Begriff und 
Umfang zurück , wonach sie die Wissenschaft der notwendigen 
Formen des ebensosehr mit der Wirklichkeit wie mit sich selbst 
ubereinstimmenden Denkens ist, so wird die speculative Logik 
die dialektische Entwicklung derselben Denkbestimmungen seyn, 
die in der ältern Ontotogie und Logik theils unvollständig, theils 
mehr nur empirisch abgehandelt worden sind. Die Metaphysik 
aber wird nach der zur Vermittlung der wissenschaftlichen Er- 
kenntnifs geroachten Unterscheidung des formellen Denkens von 
dem materiellen als objektive Vernunftwissenschaft oder als Er- 
kenntnifslehre im bestimmteren Sinne **) , im Unterschied von 

•) Aus der Identität des Denkens mit dem Seyn im Selbstbewußt- 
seyn folgt erwiesenerroafsen nur die Übereinstimmung , nicht aber 
die Identität des Denkens mit dem objektiven Seyn. 

••) Wenn man freilich nach Hegel einerseits „die Gegenstände' 4 der 
Vernunft für „immanente Momente des Denkens 44 , andrerseits die 
Denkformen für den „wahrhaften Inhalt und Gegenstand 4 ' 
der Vernunft hält , so übersieht man nach dieser Confundirnng 
van Inhalt und Form den Unterschied des formellen abstrakten 
Denkens und des materiellen, gegenständlichen Erkennen s, 
statt ihn zu begreifen. Wenn man aber zum Zwecke einer nach 
beiden Seiten vermittelten Erkenntnifs der Wahrheit, die formelle 
von der materiellen Vernunftwissenschaft unterscheidet, so wird 
zwar um der wesentlichen Einheit (nicht Identität) von Form und 
Inhalt willen, die erstcre Wissenschaft oder die Logik kein erkennt« 
ni I i I cjhch Denken , und die letztere oder die Metaphysik kein unlo- 
gisches, formloses Erkennen darstellen, aber beide Wissenschaften 
werden sich dadurch unterscheiden, dafs in der erstem die Form, 
ia der letztern der Inhalt die eigentümliche oder wesentliche 
Bestimmtheit des Wissens aasmacht. 



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Fichte t Grandzüge t. Sutern d. Philosophie 



den Denk formen die Ideen oder die notwendigen Gegen- 
stände der Vernunft, welche, z. B. die Idee der Gottheit, der 
Welt, der Seele and des Geistes an sich selbst Totalitäten sind, 
in wesentlicher Allgemeinheit darstellen, and sich durch die Ein- 
heit and Wechselbestimtnung der Ideen , und mithin durch ihren 
encyklopädischen Charakter als objektive Grundwissenschaft von 
den realen philosophischen Wissenschaften unterscheiden, von 
denen jede nur eine bestimmte Idee in ihrer besondern Systema- 
tisirung zu einer eigentümlichen ausschließlichen Wissenschaft 
entwickelt Die Ableitung der bestimmten Begriffe der Logik 
und Metaphysik aus dem allgemeinen Begriffe der Wissenschaft 
bat Ref. in der Einleitung zu seiner Metaphysik mit Rücksicht 
auf die Gliederung der gesammten philosophischen Wissenschaf- 
ten versucht, und es hat ihn befremdet, dafs Keiner von allen, 
dio sich über die Bedeutung seiner Metaphysik öffentlich ausge- 
sprochen haben, seiner Deduction dieser Wissenschaft eine an- 
dere gegenübergestellt oder jene als mangelhaft nachzuweisen 
versucht hat, was doch der einzige Weg einer wissenschaftlichen 
Verständigung gewesen wäre. So sehr übrigens Ref. von der 
Notwendigkeit einer systematischen Aufeinanderfolge der philo- 
sophischen Wissenschaften überzeugt ist, so wenig ist er in der 
Meinung befangen, als ob nicht verschiedene Versuche wissen* 
schaftlicher Erkenntnifs möglich wären, von denen jeder sei- 
nen eigenthümlichen Werth haben kann, ohne die andern zu 
verdrängen. Nur die kurzsichtigste Befangenheit hält die Philo- 
sophie für absolute Wissenschaft , und das System , welches An- 
spruch auf absolute Wissenschaftlichkeit macht, für das einzig 
mögliche; sieht aber nicht ein, dafs sich z. B. dieses System 
selbst weiter nichts als die kleine Inconsequenz erlaubte, in 
seiner ersten Gestalt die Phänomenologie als nothwendige Vor- 
aussetzung der Logik , deren Princip dadurch erwiesen werden 
sollte, in der zweiten aber die Logik allen andern Wissenschaf- 
ten vorauszusetzen. 

Der Charakter der vorliegenden Ontologie ist insofern ein 
propädeutischer, als die Sphären derselben nicht sowohl integri- 
rende Momente eines organischen Ganzen als vielmehr negative 
Übergänge oder Durchgangspunkte einer ihr wahres Princip erst 
suchenden Dialektik bilden. Wenn gleich dadurch der wissen- 
schaftliche Werth des geistvollen Werks nicht vermindert wird, 
so entspricht es doch nicht vollkommen dem Begriffe der Onto- 
logie. Denn hat diese die wesentlichen Formen der denkenden 



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2ter Theil. (Ontotogie.) 42? 

Vernunft zu bestimmen, so wird, da das System des Denkens 
im Allgemeinen dasselbe ist, welches das System des Erken- 
nen*, jeder Kategorie der Logik eine bestimmte metaphysische 
oder realphilosophische Erhenntnifs entsprechen. Daher konnte 
Schelling die Gesetze des dynamischen Prozesses die » allgemeinen 
Kategorien der Physik» im 1. Bande seiner Zeitschrift für spe- 
culati ve Physik deduciren , worauf Hegel zum glänzenden Beweise 
von der Übereinstimmung der subjektiven oder selbstbewußten 
mit der objektiven oder seyenden Vernunft*) die Gesetze der 
»Identität«, der »Differenz« und der »Einheit der Identität und 
der Differenz« in seiner speculativen Logik durchaas im Einklang 
mit den Gesetzen der Polarität bestimmte, Gesetze, vor denen 
die einer mechanischen Betrachtungsweise entsprechende ältere 
Logik, wie Hegel selbst sagt, erschrecken konnte! Wie nun 
jede logische Kategorie im Allgemeinen ihre Realität in bestimm- 
ten Gebieten der Wirklichkeit oder Objektivität bat, so entspre- 
chen den besondern Formen derselben Kategorie bestimmte 
reale Vorgänge oder Verhältnisse, daher es z. B. ein sehr un- 
wissenschaftliches Verfahren ist, wenn Hegel mechanische, che- 
mische, physiologische und geistige Causalitäts Verhältnisse durch 
dieselbe teutologische Dialektik, wonach in der Ursache dasselbe 
was in der Wirkung, und in dieser dasselbe, was in jener ent- 
halten seyn soll, bestimmte. Obwohl in Fichte 's Ontologie, wie 
schon bemerkt, ein Fortschritt über Hegels objektive Logik nicht 
zu verkennen ist, so bleibt dennoch die Kritik, in welcher Ref. 
in der Einleitung zu seiner Metaphysik die Dialektik von Hegels 
objektiver Logik Schritt vor Schritt dialektisch prüfte, in gewis- 
ser Hinsicht auf des Vfs. Ontologie , aber freilich in noch ungleich 
höherem Grade und gröfserem Umfange auf Weisses »Metaphy- 
sik« anwendbar. 

Wollte Ref. dem Gedankengange des Vfs. in seinem ganzen 
Verlaufe folgen, so wurde diese Arbeit zu einem Buche anwach- 



m ) So tagt z. B. Hegel In der Naturphilosophie (Encykl. §. 312) : „Der 
Magnetismus ist eine der Bestimmungen , die sich vornämlich dar- 
bieten mufsten, als der Begriff die Idee einer Naturphilosophie 
fafsle. (!) Denn der Magnet stellt auf einfache Weise die Natur 
des Begriffs und »war in seiner entwickelten Form als Schiurs dar." 
§. 314: „Die Thätigkeit der Form ist keine andre als die des Be- 
griffs überhaupt, das Identische different, und das Differente iden- 
tisch au setzen d.h. in der Sphäre des Magnetismus ansuaiehen 
und abzustofsca. 



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428 Fichte: Grundlage z. System d. Philosophie. 

sen, und er kann sich daher aus Mangel an Raum nur auf das 
Wesentlichste beschränken. So interessant es ihm daher wäre, 
die einzelnen Sphären dieses geistvollen Werkes kritisch zu be- 
leuchten, und zu zeigen, wie der Vf. bei allen durch die Schwie- 
rigkeit der Aufgabe fast unvermeidlichen Mängeln die meisten 
Kategorien mit ausgezeichnetem Tiefsinne durchdacht und ins 
Licht gesetzt hat, so zieht er es doch vor, das Princip und die 
Idee des ganzen Werkes und mithin das im bestimmtesten Sinne 
Charakteristische desselben näher zu betrachten. Ob er gleich , 
wie schon erinnert, die objektive Entwicklung der absoluten Idee 
für die Aufgabe des theologischen Theils der Ideologie oder 
der Metaphysik , nicht aber der Kategorienlehre oder der Cyto- 
logie hält, so mufs er dennoch gestehen, dafs der Verf. in die- 
sem Werke den zwar nur formellen, aber nichtsdestoweniger 
unerläßlichen ontologischen Beweis von der individuellen Be- 
stimmtheit der absoluten Idee gegeben hat. Wenn nämlich schon 
Cartesius aus der Bedingtheit des individuellen Ichs auf die un- 
bedingte Causalitat eines absoluten Urichs schlofs *) , so hat die 
speculative Logik den von ihm aufgenommenen ontologischen Be- 
weis durch eine Begriffsdialektik wissenschaftlich zu rechtferti- 
gen, deren Resultat der Gedanke des in seiner Allgemeinheit in 
sich selbst bestimmtesten, allumfassenden Urindividuums ist**), 



') Wird dieses bestimmte Verhältnifs durch die unbestimmten Vorstel- 
lungen des Verhältnisses des Endlichen cum Unendlichen ausge- 
druckt, so ist um der Unbestimmtheit des Ausdrucks willen eine 
pantheistische Vorstellungsweise unvermeidlich. Vergl. des Befn. 
Metaphysik S. 455. 

••) Wie alle Bestimmtheiten des logischen Denkens, um der Einheit 
d. h. Übereinstimmung des Denkens und Erkennens willen, sich aU 
Formen von bestimmten Gegenständen erweisen lassen , so ist auch 
der höchste Gedanke der objektiven Logik oder der Ontologie nicht 
nur subjektiver Art, sondern er ist die gedachte Urform des abso- 
luten Geistes. Die objektive Logik hat mithin in Beziehung auf 
die Dialektik der Kategorien des Allgemeinen , Besondern und Ein- 
zelnen zu erweisen, dafs der Begriff* des ebensosehr in seiner Innern 
Allgemeinheit bestimmtesten oder vollendetsten , wie in seinem 
transitiven Verhältnisse allumfassenden Urwesens der Idee entspricht, 
welche der unvollkommenen Vorstellung Gottes als Inbegriffs aller 
Realitäten oder Vollkommenheiten zu Grunde lag, während der 
jenem ontologischen Begriffe angemessene objektive Gedanke viel- 
mehr der des „Ideals der Vernunft" ist, sofern unter diesem Ver- 
nunftideal, wie schon Kant nach Leibnitz richtig bemerkte, die 
absolute Idee io individuo zu denken ist. Der Grund , warum Kant 



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2tcr Theil. (Ontologie.) 



429 



ein Begriff, der im Gegensatze zu dem blofsen Inbegriff aller 
Realitäten als das Ideal der Vernunft sich bestimmt und zu den- 
ken ist. Dafs nun derjenige Begriff, welcher sich als die Wahr« 
heit aller besondern Begriffe erweist und , so zu sagen , die Ur- 
form der denkenden Vernunft bildet, ein nicht nur zufällig ein- 
gebildeter , sondern um seiner Notwendigkeit und Wesentlichkeit 
willen ein realer oder wirklicher ist, dies folgt aus der Einheit 
der selbstbewufsten und der erkennenden Vernunft, wornach das 
nothwendig und wahr Begriffene nicht anders denn als seyend 
gedacht werden kann. Dafs die gemeinste Empirie, in welcher 
allerdings aus der blofsen Vorstellung eines Dings sein Da- 
seyn nicht folgt, keine Instanz gegen jene Einheit der denkenden 
und erkennenden Vernunft seyn kann , hat Hegel mit gewohntem 
Scharfsinne erwiesen. Wie wenig aber der nur logische Begriff 
eines personlichen Gottes der Aufgabe der spcculativcn Theologie 
genügt, dies erkennt der Verf. gewissermafsen selbst an, indem 
er das Resultat der Ontologie oder die formell gedachte absolute 
Idee nur als das Princip der speculativen Theologie betrachtet, 
welche er der objektiven Exposition derselben zu widmen geson- 
nen ist. Hatte er sich selbst in seiner Schrift: »die Idee der 
Persönlichkeit« noch keineswegs über die Hegeische Fassung 
der absoluten Idee erhoben, so hat er dagegen in dem vorlie- 
genden Werke die wissenschaftliche Unzulänglichkeit der Hegel- 
schen Denkweise in dieser Hinsicht mit siegreicher Klarheit wi- 
derlegt, und er ist am Schlüsse des Werks zu der kühnen Con- 
sequenz fortgegangen: »das Absolute sey als höchste Persönlich- 
keit zu denken, welche zwar in sich, aber doch sich gegenüber 
andere kreatürlich begränzte Geister habe, (die darum nicht end- 
liche werden , weil sie Person sind , sondern weil ihre Persön- 
lichkeit aus verliehener, nicht aus göttlich selbsterwählter Indi- 
vidualität herauslebt.)« Der Verf. hebt nemlich S. 5 1 3 ebenso« 
sehr die Selbstunterscheidung Gottes von den kreatürlichen Per- 
sönlichkeiten wie das Gesetztseyn der letztem durch sein schq» 



die Realität dieser individuell existirenden absoluten Idee für pro- 
blematisch hielt, lag nur darin, weil er diese Idee an und fnr sich 
nicht ■owohl qualitativ d. h. als wahrhaftes Ideal, als vielmehr 
quantitativ als blohcn Inbegriff aller Realitäten dachte, und sich, 
sofern er für alles Reale die Bewährung der sinnlichen Anschauung 
forderte, von der Einheit des Denkens und Erkennens nicht über- 
seugen konnte, wonach das wahr Gedachte ebensosehr ein Erkann- 
tes ist. 



430 Fichte : Grundzüge z System d. Philosophie. 



pferisches Wollen hervor, und erweist dadurch, was die Pan- 
theisten conseqoenterweise niemals zugeben können *) : die Über- 
weltlichheit Gottes. 

So wenig Ref. dem Gedankengange, den der verehrte Verf. 
in seiner speculativen Theologie nehmen wird, vorgreifen will, 
so glaubt er doch im Ein verstand nifs mit demselben behaupten 
zu dürfen , dafs alles darauf ankommt , die Principien des We- 
sens, des Willens und des Geistes, durch deren Vermittlung die 
Gottheit personlich ezistirt , in der Bestimmtheit der Eigenschaf, 
ten zu erfassen, in denen Gott sich zu sich selbst, und zu 
der Welt alt Vater, Sohn und Geist verhalt. Denn nur durch 
eine speculative Dreieinigkeitslehre kann der Idee eines uberwelt- 
lichen **) , persönlichen Gottes, die wissenschaftliche Bedeutung 
und die praktische Wichtigkeit vindicirt werden , welche Unter* 
suchungen solcher Art ein mehr als scholastisches Interesse ver- 
leihen. Die ethischen Eigenschaften ***) Gottes sind es, vor denen 
der Pantheismus zurückschreckt, und die er zu bestreiten sucht, 
wiewohl schon Lei Unit* gezeigt hat, dafs sich die Idee der Ideen 
nur in dem Gedanken eines göttlichen Schöpfers, Erziehers, Bich- 
ters, Erlösers und Vollenders der Welt abschliefst, und nur im 
Lichte der individuell gedachten absoluten Idee das Bewufstsejn 
der Welt systematisch sich gestaltet. Wie einförmig und roon- 



*) Seibat der für die Vereinigung des Wissens mit dem Glauben so 
eifrig bemühte Güechel machte es dem Ref. zum Vorwurf, dafs er 
S. 21 seiner Metaphysik dos freie Verhältnifs des Geschöpfes iura 
Schöpfer und mitbin seine Willenseinheit mit Gott, nicht aber die 
„Identität des endlichen Geistes mit dem absoluten 4 ' als die Wahr- 
heit des religiösen und speculativen Bewufstseyns bestimmte. 

**) überweltlicltcn , nicht aber nusscrweltlicheo. 

Wenn z. B. der Pantheismus von der Gerechtigkeit Gottes spricht, 
so kann er dies nur im verkehrtesten Sinne, indem er wie s. B. der 
spinosistische das Recht nach der Macht schätzt; and Hegel dage- 
gen gesteht am Schlüsse seiner Philosophie des Rechts offen, „dafs 
sich der Weltgeist** d. h. im Sinne seiner Philosophie Gott „den 
Übergang zu höhern Entwicklungsstufen durch den Untergang der 
Torhergehenden erarbeite , und dafs gegen das Volk , das Träger 
der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes sey , die Gei- 
ster der andern Völker rechtlos seyen", womit er eben das aas- 
spricht, was Baader dem Pantheismus vorwirft, dnfs er nur eine 
„machtlose Liebe 11 und eine „lieblose Macht" kennt. In seiner 
Geschichte der Philosophie verweist Hegel sogar ausdrücklich Male- 
branche's Untersuchungen über die Gerechtigkeit Gottes and die 
davon abhängige sittliche Weltordnnng, — in die Kindertheologie. 



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2tcr Thcil. (Ontologie.) 



431 



sträs erscheint jedes pantheistisebe System , das neueste wie das 
älteste — and mit welcher siegreichen Klarheit uberwand ein 
Leibnitz den Spinozismus durch seine Monadenlehre, in welcher 
das Princip: die Urmonas (das Ursubjckt) an sich selbst Totalität 
ist, das System der Welt aber die freie Schöpfung oder Objek- 
tivirung der absoluten Idee nach ihren besonderen Momenten, 
Stufen und Einheiten darstellt. — Was der Pantheismus Grofses 
und Herrliches enthält, ist nur der entstellte Wiederschein jenes 
Ursystems, welches in den heiligen Urkunden des Christenthums 
geoffenbart , der Entwicklung der ganzen neuern Zeit zu Grunde 
lag, und ebensosehr die Epochen der Weltgeschichte wie die 
Bildung der Kunst und Wissenschaft bestimmte. Es kann durch 
die Entfremdung des Geistes von seiner innern Wahrheit unter* 
druckt und entstellt werden , aber die Nemesis der Idee wirkt 
im Leben und in der Wissenschaft mit so unüberwindlicher Macht, 
dafs sie aus allen Krisen nur desto sieg- und erfolgreicher her- 
Torgeht. Obwohl die Philosophie keineswegs die grofse Bedeutung 
hat , die ihr einige Philosophen zuschreiben , so ist es doch un- 
leugbar, dafs die wissenschaftliche d. h. philosophische Erkennt- 
nifs nur Wahrheit oder auch die sophistische Entstellung dersel- 
ben einen gröTseren Einflufs auf das Leben ausübt , als man ge- 
wöhnlich glaubt. Und wenn unsre Zeit dem unwissenschaftlichen 
Glauben entwachsen ist , und nach der freien Erkenntnifs der 
Wahrheit strebt , oder wenigstens zu streben vorgibt , welche 
Wissenschaft hat eher die Bestimmung, durch Vollendung der 
vernünftigen Forschung die Einheit des wahren Wissens mit der 
göttlichen Offenbarung *) zu erweisen, als eben die Philosophie? 
Jenes objektive System, vor dessen W T ahrheit alle subjektiven 
Systeme zurücktreten, nach dem gegenwärtigen Standpunkt der 
Wissenschaft darzustellen, diese ist die Aufgabe jedes wahrhaft 
Philosophiren den, und die Einheit dieses Zweckes begründet einen 
Geisterbund , der früher oder später die durch die vielfachsten 
Bichtungen vermittelte Wiederherstellung der ihrer Idee nach 
eben so tief begründeten wie ihrer Tendenz nach umfassenden 
Philosophie, deren Anfangspunkt wir in Leibnitz erblicken, zur 
Folge haben wird. Es liefse sich bis ins Einzelne nachweisen, 
dafs die Leibnitzische Philosophie den Grundgehalt der grofsen 



°) In dem Wahne, da Ts man um so Wissenschaft! icher denke, je ir- 
religiöser man denkt, ist im Grunde nur der literarische P6bcl 
befangen. 



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t 



432 Fichte: Grundlage s. Sf«t. d. Philo«. 2r Th. (Ontologie.) 

Wissensbefriedigung eines halben Jahrhunderts ausmachte, und 
dafs namentlich Naturforscher, von seiner Ansicht erleuchtet, in 
der Natur ein im gottlichen Verstände entworfenes und verwirk- 
lichtes System bewunderten , und nicht nur mit empirischem Wis- 
sensinstinkt, sondern mit religiöser Begeisterung und wissenschaft- 
lichem Sinne erforschten. Wenn wir dies erwägen, so können 
wir es nicht anders als eine erfreuliche Erscheinung betrachten, 
dafs ein Forscher, wie unser verehrter Verf., der vor allen an- 
dern den Beruf hatte , sich über Sinn und Zweck der Philosophie 
auszusprechen, mit Beziehung auf einen dem unsterblichen Leib- 
nitz verwandten Geist, den er als » Reformator der neuern Zeit « 
bezeichnete, v der den Heim einer unendlichen Bildung in die 
Gegenwart gelegt, von welcher schon jetzt alle höhere Impulse 
der Wissenschaft ausgegangen sind«, den Zeitpunkt nahe erblickt, 
»welchen einst Schelling selbst in Jünglingsbegeisterung prophe- 
zeite, wo die Geschiedenheit der philosophischen Sekten, wie 
nicht minder der Wissenschaft, immer mehr verschwindet: wo 
das Zeitalter philosophiren wird im gemeinsamen Lichte gott- 
erleuchteter Wissenschaft, und die Eitelkeit und Eigenliebe eige- 
ner Gattung vor der Hohe der geistigen Interessen und dem Be- 
dürfnisse gemeinsamen Wirkens vergessen wird. « 

Um so freudiger begrüfsen wir die gegenwärtige Ontologie 
als einen wichtigen Beitrag zur Begründung einer objektiven 
Philosophie, und wenn wir den Gedankengang des Werkes nicht 
in seinem ganzen Zusammenhange und Fortschritte verfolgen 
könnten , ohne eine wenigstens ebensoviele Bogen einnehmende 
Kritik zu geben , wie von Hegels objektiver Logik , so blieb uns 
doch Raum , um uns mit Rücksicht auf des Vfs. Denkweise über 
die allgemeine Bedeutung der Philosophie und ihren absoluten 
Zweck auf eine für das gröfsere Publikum fafsliche W'eise aus- 
zusprechen. Auf was wir aber noch besonders aufmerksam 
machen müssen, ist die ganz ungemeine Verständlichkeit und die 
grofse Fülle von Gedankenbestimmungen , welche dieses Werk 
auszeichnet, und es nicht nur für reifere Denker oder Freunde 
der Philosophie, sondern selbst für studirende Jünglinge zu einer 
höchst interessanten, empfehlenswerthen Lektüre macht. 

Fischer in Tübingen. 



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N°. 28. HEIDELBERGER 1837 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



GRIECHISCHE ALTERTHUMSKUNDE. 

Geschichte des Trojanischen Kriege». Mit Beilagen über die äl- 
teste Geschichte Griechenland» und Troja'». Ein historischer l ersuch 
von Johann Ute hold , Professor am königl. bair. Gymnagium zu 
Straubing, Stuttgart und Augsburg. Verlag der J. G. Cotta'gchen 
Buchhandlung. 1886. XXX und 352 & in gr. 8. 

Der Gegenstand, den die vorliegende Schrift behandelt, 
schlagt to vielfach in die verwandten Gebiete der griechischen 
Mythologie und Symbolik, sowie insbesondere in die Geschichte 
der älteren griechischen Poesie ein, dafs die Behandlung dessel- 
ben allerdings eben so umfassende Kenntnisse als richtige Auf- 
fassung des hellenischen Lebens erfordert, um ein Unternehmen 
zu wagen, das zu den schwierigsten Aufgaben der gesatnmten 
Alterthumswissenschaft gehört. Schon diese Rücksicht, verbun- 
den mit dem reichen Inhalt der Schrift, mag die grofsere Aus- 
führlichkeit entschuldigen , zu der wir uns hier bei einer Schrift 
veranlafst finden, die nicht blos den auf dem Titel bezeichneten 
Hauptgegenstand behandelt, sondern in den Beilagen, welche die 
grofsere Hälfte des Buchs füllen, eine Reihe von wichtigen, mit 
dem Hauptgegenstande allerdings in näherer oder entfernterer 
Berührung stehenden, grofsentheils mythologischen Erörterungen 
liefert, deren Hauptinhalt und Tendenz wir wenigstens andeuten 
möchten. Eine uberall bemerkbare Gründlichkeit der Forschung, 
eine genaue Kenntnifs der Quellen, eine ausgebreitete Belesen- 
heit, der nicht leicht Etwas entgangen seyn durfte, endlich eine 
klare Darstellung, die zu bestimmten, wenn auch manchmal höchst 
auffallenden und überraschenden Resultaten gelangend , weder in 
dem Dunkel einer abstrusen Mystik sich verliert, noch in hohl- 
klingenden, philosophischen aber nichtssagenden Phrasen sich 
verflüchtigt, alle diese Eigenschaften, welche diese Schrift vor 
so vielen ähnlichen Produkten unserer Tage auszeichnen, werden 
derselben auch allgemeine Beachtung und gerechte Anerkennung 
zuwenden , auch wenn man , wie dies namentlich bei dem Ref. 
der Fall ist, keineswegs die vom Verf. aufgestellten Ansichten 
unbedingt billigen oder die Resultate, zu denen seine Forschung 
gelangt , als wahr und gültig annehmen kann. Dies soll ihn aber 
XXX. Jabrg. I. Heft. 28 



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434 Schriften von U.chold, NiUch, 

nicht bindern, die gebührende Anerkennung dem redlichen Stre- 
ben des Verfs. und seiner gediegenen Forschung zu versagen % 
zumal da er sich gerade in den Punkten , wo wir seiner Ansicht 
nicht beitreten zu können glauben , des Beifalls von anderer Seite 
▼ersichert halten kann. 

Ein solcher Fall z. B. tritt gleich bei der ausführlicheren 
Vorrede ein, in welcher der Verf. offen und klar seine Ansich- 
ten über die älteste Bevölkerung und Cultur Griechenlands, im 
Zusammenhang und in Verbindung mit den in der Schrift selbst 
entwickelten Ansichten, ausspricht. Hiernach sollen, um wenig- 
stens die Hauptpunkte dieses Systems (wenn man es anders mit 
diesem Namen benennen will) hier niederzulegen, Thraker, als 
deren Zweige auch die Phrygier, Mysier , Lydier, Karer, Lele- 
ger , also die Bewohner des gröfseren Theils der vorder* und 
kleinasiatischen Halbinsel erscheinen, mit Karern und Lelegern 
vermischt als die Ureinwohner von Hellas betrachtet werden; 
diese Völker semitischen Stammes haben , der Ansicht des Vfs. 
zufolge, den Hellenen in der Cultur bedeutend vorgearbeitet, und 
ohne ägyptische oder phönicische Colonisten zu seyn, auf die 
Gestaltung der bürgerlichen Verhältnisse einen ebenso mächtigen 
Einflufs ausgeübt, als in religiöser Hinsicht, da sie die Weihen 
von Samothrace u. A. gegründet. Thracien, dies Land und Volk, 
das Herodot das gröfseste nach den Indern nennt , wäre also der 
Ort, wo wir einen Kadmos, einen Cecrops , Danaos und andere 
ähnliche Namen der griechischen Vorzeit, welche die Tradition 
aus dem Orient, aus Phönicien oder Ägypten oder Lybien kom- 
men läfst, zu suchen haben; in den bemerkten Namen eines Kad- 
mos, Dardan os u. A. vermag aber der Vf. nur Beinamen, Prädi- 
cate des Hermes, des höchsten Gottes der Thracier nach Hero- 
dots Zeug nüs, zu erkennen, indem der Cultus dieses Gottes von 
hier aus zu den Hellenen gekommen. 

Diese Ansichten über die frühere Cultur Thraciens, als des 
Mutterlandes hellenischer Cultur, unbedingt zu verwerfen, möch- 
te, zumal wenn man an die Sagen vom Orpheus u. A. denkt, 
gewagt erscheinen, aber andererseits mufs es Ref. bedauern , dafs 
wir über diese angeblich hohe Bedeutung des thracischen Lan- 
des, das auf diese Weise zum Stammland des hellenischen und 
zum Mutterlande hellenischer Cultur erhoben wird, in früher 
Urzeit durchaus nichts Näheres wissen, worauf wir bestimmte 
Folgerungen von solcher Wichtigkeit und von solchem Umfange 
bauen dürften, zumal da Herodots allgemeine und unbestimmte 



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Nachrichten im Anfange des fünften Buchs uns dazu schwerlich 
s berechtigen, indem dieser Forscher wohl die zu seiner Zeit mit 
griechischen Colonien bedeckten Küstenstriche kannte , keineswegs 
aber in das Innere des Landes eindrang, das von rohen, barba- 
rischen Völkerschaften bewohnt, selbst in spatern Zeiten noch 
ganz unbekannt geblieben war. Würde Herodotus , der in so 
unbestimmten und allgemeinen Ausdrücken von Thracien spricht, 
es unterlassen haben, nähere Kunde über dieses Land einzuzie- 
hen, wenn ihm die historische oder mythische Tradition seiner 
Zeit dieses Land als ein so wichtiges, als das Stamm- und Mut- 
terland des Ton ihm verherrlichten Hellas bezeichnet oder auch 
nur dunkel angedeutet hatte ? Ich zweifle kaum daran. Sein 
Schweigen, in Verbindung mit dem Schweigen der andern Au- 
toren und dem Mangel aller näheren Nachrichten über die frühere 
Wichtigkeit und höbe Bedeutung Thraciens in der Geschiebte 
hellenischer Cultur, erscheint daher um so wichtiger und raufs 
uns um so bedenklicher machen, diesem Lande eine so grofse 
Bedeutung in der Urzeit Griechenlands beizulegen und von ihm 
Bevölkerung und Cultur Griechenlands abzuleiten. Dagegen wird 
man keinen entscheidenden Grund haben , die bestimmtet) Nach- 
richten von phonicischen Niederlassungen an der tbracischen Kü- 
ste oder auf den nahen und ferneren Inseln des ägeischen Meeres 
in Zweifel zu ziehen oder gar ihnen alle Geltung und allen Werth 
abzusprechen, da diese doch in der Natur der Sache weit eher 
begründet sind und Niemand die frühen Fahrten und den Han- 
delsverkehr dieser weitschiffenden Natioo mit den griechischen 
und tbracischen Küsten oder mit dem Archipelagus in Zweifel 
ziehen kann ; damit doch aber auch wohl zugegeben werden kann, 
dafs sie durch die von ihnen in diesen Gegenden gestifteten Nie- 
derlassungen , und bei dem Handelsverkehr, den sie dort trieb, 
auch auf die Cultur des Landes einen Einflufs ausgeübt, und ins- 
besondere ihre religiösen Vorstellungen , ihren Götterdienst auch 
in diese Gegenden eingeführt, deren rohe und wilde Bevölkerung 
sich an sie anschlofs. Ist nicht die griechische Schrift phönicisch ? 
Weisen uns nicht die ersten Kuntbestrebungen , die wir in Grie- 
chenland erblicken, sowie die religiösen Vorstellungen, die uns 
darin entgegentreten , auf Phonicien oder wenn man will , auch 
auf Ägypten hin ? wollen wir in Bezug auf beide Länder die 
diese Behauptung bestätigenden Zeugnisse und Angaben Herodots 
verwerfen und in den Mythen und Symbolen Griechenlands alle 
Beziehungen auf die genannten Länder verkennen oder durch 



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446 



Schriften von Uichold, Nitsch, 



sophistische Widerlegung abweisen , wollen wir durchaus jede 
Verbindung des Oient* mit Griechenland in frühester Zeit ver- 
werfen und das als unstatthaft darstellen, was doch in der Natur 
der Sache liegt und durch die ältesten Zeugen bestätigt wird: 
dafs der früher cultivirte und civilisirte Orient sein Licht weiter 
auf Europa habe zurückstrahlen lassen ? Wir wollen in diesen 
Gegenstand , der hier am wenigsten erschöpft werden kann , nicht 
weiter eingehen , nur im Bezug auf Ägypten und die von dort 
aus nach Griechenland, der historischen Tradition geraäfs, ent- 
sendeten Colonien , die der Verf. seinem System gemäfs naturlich 
verwirft, da schon die Abneigung und der Hafs der Ägypter 
gegen das von ihnen darum auch nicht beschiff'te Meer so etwas 
undenkbar mache , die Bemerkung beifügen , dafs jene Ägypter 
freilich auf ägyptischen Schiffen schwerlich eine Fahrt unternah- 
men , die sie viel leichter auf den an ihrer Huste geankerten, 
das ganze Mittelmeer befahrenden, pbonicischen Handelsschiffen 
machen konnten, zumal wenn wir bedenken, dafs der Grund, 
der die Ägypter nothigte , das Meer und die weite Ferne zu su- 
chen, gewifs kein friedlicher war, dafs vielmehr innerer Zwist 
und Kampf sie zu einer Flucht auf phonicische Schiffe genSthigt, 
durch die sie allein ihr Leben zu retten vermocht. 

Die Schrift selbst, zu der wir uns nun wenden, zerfällt in 
zwei Theile, von denen der erste, kürzere, die Geschichte des 
trojanischen Kriegs behandelt ; den anderen gröTseren Theil fül- 
len die meist mythologischen Beilagen. Das erste Capitel oder 
die Einleitung : »Prüfung der bisherigen Annahmen über 
die Entstehung und Zeit dieses Kriegs« beginnt mit der 
gewifs wahren Bemerkung, dafs kaum über irgend einen Theil 
der alten Geschichte so viele und so verschiedene Ansichten auf- 
gestellt worden, wie über den trojanischen Krieg. Stofsen wir 
doch schon im Alterthum auf ähnliche Verschiedenheit der An- 
sichten, wie sie in neuerer Zeit wiedergekehrt ist, wo wir bald 
die rein historische, bald die rein allegorische Auffassung der 
Erzählungen vom trojanischen Kriege oder vielmehr der darauf 
sich beziehenden Homerischen und anderen Gedichte finden. So 
hat es denn auch in neuerer Zeit nicht an solchen gefehlt , die 
entweder Alles , was über diesen Krieg in den Homerischen Dich- 
tungen vorkommt, für buchstäblich wahr ansahen and so freilich 
zu Folgerungen geführt wurden, die ihren Mangel alles poeti- 
schen Gefühls und Taktes nur zu sehr beurkundeten, oder die 
in dem Ganzen nur ein loses Spiel der Phantasie ohne weitere 



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Jahn , Lachmann und Moller. 



437 



Bedeutung erkannten, während Andere nichts als tiefsinnige Al- 
legorie überall finden wollten, ohne zu bedenken, dafs der Cha- 
rakter des Dichters, der in allen Schilderungen eine so grofse 
Wahrheit, in allen seinen Beschreibungen, wenn sie auch mit 
allem Beiz der Poesie und einer wahrhaft dichterischen, freien 
Begeisterung ausgestattet sind, eine so bewundernswürdige, fast 
historische Treue zeigt , und der eben mit durch diese Eigen- 
schaften hauptsächlich zu so grofsem Ansehen bei dem helleni- 
schen Volke, als der treueste Spiegel vergangener Zustände und 
einer verflossenen Heldenzeit, noch bis in die spätesten Zeiten 
herab gelangt ist, das Eine so wenig wie das Andere zuläTst. 
Dafs die Homerischen Gedichte einen gewissen historischen Cha- 
rakter besitzen , dem sie ihr grofses , Jahrhunderte lang fort- 
dauerndes Ansehen verdanken, wird man eben so wenig leugnen 
können, als die freie, dichterische Behandlung eines historischen 
Stoffs, die es uns nicht erlaubt, alles Einzelsto für buchstäblich 
wahr zu halten und mit ängstlich historischer Treue zu bemes- 
sen. Es bleibt demnach nur der eine Mittelweg übrig, das aus* 
zumitteln , was in der Homerischen Dichtung als historische 
Grundlage, in der poetischen Darstellung weiter ausgeführt und 
umkleidet , erscheint ; obgleich auch hier wieder die grofse 
Schwierigkeit eintritt, nach welchen festen und sicheren Princi. 
pien diese Ausscheidung des historischen Elements und der histo- 
rischen Grundlage von dem poetischen Stoff vorzunehmen ist. 
Auch unser Verf. entscheidet sich für einen solchen Mittelweg, 
und indem er die Prüfung der hauptsächlichsten in neuerer Zeit 
über diesen Gegenstand aufgestellten Ansichten vorausschickt, 
knüpft er daran die Begründung der eigenen , die er als das Re- 
sultat seiner Studien hinstellt. Entschieden weist er die gewöhn- 
liche Meinung ab, welche in der Entführung der Helena die 
nächste Veranlassung des Krieges findet und, nach dem Wortlaut 
der Homerischen Gedichte, auf die hohe Stellung des Agamem- 
non ein Gewicht legt, das der Verf. freilich nicht anerkennt, da 
er in Agamemnon keineswegs den Fürsten erkennen will, der 
als Oberhaupt, durch seine Stellung und durch seine Verbindung 
sowie durch seinen mächtigen Einflufs, die verschiedenen getrenn- 
ten Stamme, welche zu jener Zeit die verschiedenen Landstriebe 
des nachherigen Hellas inne hatten, zu diesem Kriegszuge zu- 
sammengebracht und vereint, und dann dieselben auch so gut als 
möglich , bei den lockeren Banden , welche die so verschiedenen 
zahlreichen Stämme miteinander und mit dem Oberhaupt ver. 



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438 



Schriften von Utchold, Nitach, 



einigt, auf längere Dauer zusammengehalten. Der Verf. erbebt 
hier manche Bedenklichkeiten , die theils localer Art sind, wie 
z. B. die geringe Ausdehnung des Hafens von Aulis, der kaum 
fünfzig Schiffe zu fassen vermöge , statt der tausenden , die nach 
der dichterischen Sage doch nothig waren , ein solches Heer uber- 
zusetzen; theils auch in der angeblichen zehnjährigen Dauer des 
Kriegs liegen, worin der Verf. einen innern, noch ungleich stär- 
keren Widerspruch zu erkennen glaubt, den Ref. wenigstens darin 
nicht findet, wenn er an die ganze Art und Weise, wie der 
Kriegszug unternommen , an die schwache Leitung der grofsen- 
theils fast ganz unabhängigen Volker durch ein gemeinsames 
Oberhaupt, an die geringe Ordnung in dem Ganzen des Zugs, 
kurz an dem gänzlichen Mangel dessen , was wir militärische Ord- 
nung und Disciplin nennen, denkt, zumal in einer Zeit, wo alle 
Kriegszuge mehr oder minder Raub- oder Rachezuge waren und 
in der Art und Weise, wie sie gefuhrt wurden, dies auch deut- 
lich zeigten ; wo bei gröfseren Unternehmungen verschiedener 
dazu vereinten Stämme leicht ein und der andere Theil sich los- 
reifsen und auf eigene Rechnung Züge unternehmen mochte, eben- 
sowohl um Leute zu gewinnen , als um für die eigene Existenz 
und Subsistenz zu sorgen: ein Fall, der bei dem trojanischen 
Kriegszuge so gut wie bei andern ähnlichen , ja noch weit eher 
eintrat, je zahlreicher und verschiedener die zu diesem Zuge, 
theil weise selbst gegen ihren Willen, zusammengebrachten Schaa- 
ren waren , die bei dem Mangel an hinreichendem Lebensunter- 
halt zu weiteren Zügen genothigt waren , die freilich die Errei- 
chung des Hauptziels hindern und die Eroberung Troja's ver- 
zogern mufsten. Mögen es auch nicht gerade zehn Jahre gewe- 
sen seyn : eine längere Dauer der Belagerung ist uns nicht un- 
wahrscheinlich , zumal wenn wir, den Verhältnissen der Griechen 
gegenüber , von denen ein grofser Theil während der Belagerung 
sich zerstreute, die Lage der Trojaner, ihre Hülfsquellen und 
Verbindungen in Betracht ziehen. Wir finden daher so wenig 
an den zehn Jahren Anstofs als an den neunundzwanzig Jah« 
ren, während welcher Psammetich die syrische Stadt Azotus be- 
lagerte (Herod. II, 157 und daselbst meine Note S. 8/47), und 
vielleicht mit mehr Ordnung , als Agamemnon mit seinen zusam- 
mengera fiten Schaaren die Stadt Troja. Denn Herodots eigene 
Worte: "Aibtxov — jrpooxoTjjfiiyo^ InoXidpxee, iq 6 l$- 
tlXe etc. lassen uns doch kaum einen Zweifel, hier an eine Be- 
lagerung zu denken , die wenigstens periodisch einen bestimmten 



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Jahn, Lachmann und Müller. 



und regelmäfsigen Charakter hatte. Vergl. auch Hengstenberg 
De rebb. Tyriorr. pag. 79. 

Endlich ist auch der Verf. der Ansicht, dafs der Zug selbst 
and die ganze Unternehmung gegen Troja bei weitem nicht so 
bedeutend und so grofs gewesen , als sie in den Homerischen 
Gedichten erscheine. Und doch nothigen uns die bestimmten 
Angaben des Thucydides , an den Ref. sich hält , an eine für die 
damaligen Zeiten umfassende, allgemeine, alle früheren ähnlichen 
Züge überbietende Unternehmung zu denken, and die Stellung 
des Agamemnon als eine höhere zu betrachten. Referent bricht 
diese Betrachtungen, die doch hier nicht weiter ausgeführt wer« 
den können und nur als blofse Andeutungen gelten sollen, ab, 
um noch Einiges über die Verhältnisse der Troer, die der Verf. 
gleichfalls für Zweige jenes grofsen tbracischen Stammes hält, 
beizufügen. Hier folgt Ref. einer Vermuthung, die er bei dem 
Mangel bestimmter Nachrichten bei den Alten, darum auch für 
Nichts mehr als für eine Vermuthung auszugeben wagt und der 
weiteren Prüfung des Vfs. vorliegender Schrift anheimstellt. 

Der troische Krieg fällt, wie der Vf. mit ziemlicher Evidenz 
wie wir glauben, S. 18 — 41 nachgewiesen, nicht auf das Jahr 
1194; nach seiner Berechnung wäre vielmehr zwischen 1124 und 
1104 tor Christo Troja erobert worden, also am Anfange des 
zwölften Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung. So wenig wir 
auch im Ganzen von dem Zustande Asiens um diese Zeit wissen, 
so scheint doch damals ein grofses Reich, das in den Ebenen 
Mesopotamiens seinen Sitz hatte, die verschiedenen Landstriche 
Mittel- und Vorderasiens zum grofsen Theil umfafst, und seine, 
wenn auch sehr lockere Herrschaft bis zu den äussersten Theilen 
der vorderasiatischen Halbinsel erstreckt zu haben, in der Weise 
freilich, wie dies bei solchen Reichen des Orients immerhin der 
Fall war, wo die einzelnen Provinzen und Landesthcile unter 
eigenen Landestursten einer oft fast ganz unabhängigen Existenz 
sich erfreuten und durch ein oft sehr laxes Band an jene Ober- 
herrschalt, die das Ganze zusammenhielt, geknüpft sind. Sollte 
nicht auch das troische Fürstenthura diesem Reiche angehört ha- 
ben und eben aus der Verbindung mit diesem der Beistand, der 
den Trojanern zu Theil wurde, und damit der längere Wider- 
stand , den sie der vereinten Macht der Griechen entgegensetzten, 
zu erklären seyn ? Sollte nicht selbst in dem Memnon , dem Sohn 
der Morgenröthe, der in der Reihe der Trojaner ficht, eine sol- 
che historische Andeutung liegen oder zu suchen seyn? Stellen, 



wie Plat. De Legg. III. p. 605 C. oder wie Diodor. IL mit , wo 
unter den Provinzen , die zu des Ninus Reich gehörten , auch 
Troas und die Nachbarländer genannt werden, möchten in die- 
sem Fall eine gröfsere Beachtung verdienen; Tgl. des Ref. Note 
zu Herodot I, 4* P a g- *4* 

Ref. mochte es kaum bezweifeln , dafs dem eigentlichen Zuge, 
der mit der Zerstörung Troja's endigte und uns aus den Home- 
rischen Dichtungen bekannt ist, schon seit längerer Zeit Feind- 
seligkeiten vorausgegangen waren, welche eine allgemeine Auf- 
regung unter den Bewohnern der verschiedenen Gauen von Grie- 
chenland , insbesondere der Küstenstriche hervorgebracht und da- 
durch dem mächtigen Agamemnon es möglich gemacht hatten, 
so viele einzelne Stämme, deren Züge sich nie über ihren hei- 
mathlichen Boden erstreckt hatten, zu einem gröfseren, weit- 
aussehenden Zuge zu vereinigen. Den Grund dieser Aufregung 
können wir nur in den öfteren Einfällen und Landungen asiati- 
scher Seeräuber finden, die besonders die Küstenstrecken heim- 
suchten, und vor Allem auf Menschenraub ausgingen, um den 
Bewohnern Asiens, die schon an ein üppigeres Leben gewohnt 
waren, die erforderlichen Sclaven zuzuführen oder auch selbst 
deren Harems zu füllen. Unser Verf. verwirft zwar S. 16 diese 
auch von Plafs angeführte Ursache, die uns doch zu nahe in der 
Natur der Sache, wie in den historischen Zeugnissen begründet 
liegt, als dafs wir sie unbedingt abweisen zu können glauben; er 
verwirft ingleichen den von demselben Plafs und Andern ange- 
führten Grund, dafs auch in dem ritterlichen Geiste jener Zeit 
und in der dadurch hervorgerufenen, besonderen Vorliebe für 
gewagte Unternehmungen ein Hauptgrund des Zugs gegen Troja 
zu suchen sey; und in der That, auch Ref. würde auf diesen 
letztern Grund weniger Gewicht legen, weil nach seiner Über- 
zeugung nur das zu nahe liegende und schwer gefühlte Bedürf- 
nifs der eigenen Sicherheit im Stande war, so viele getrennte 
Stämme zu einem solchen Zuge über das Meer , in einer solchen 
Zeit zu vereinigen. Eine Vergleichung oder Zusammenstellung 
mit den Zügen der Kreuzfahrer im Mittelalter würde auch Ref. 
in jeder Hinsicht für unpassend halten. 

Das zweite Capitel: Bedeutung der ersten Einnahme 
Troja's durch Herakles S. 42 ff. sucht nachzuweisen, dafs 
diese Sage von der ersten Eroberung Troja's durch Herakles, 
historisch aufgefafst, auf eine Niederlassung pelasgischer Coloni- 
sten im trojanischen Reiche sich beziehe; and es läfst sich damit 



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I 



, Lachmann und Malier. , 441 

auch das vierte Capitel verbinden, S. 73 ff.: Verrät herei 
der Antenoriden, insofern diese Antenoriden , deren Verrath 
den Griechen die Thore Troja's geöffnet, also die Eroberung 
und Zerstörung Troja's möglich gemacht haben soll, als Pelas- 
ger, als Nachkömmlinge jener ersten Colon ie, bezeichnet wer- 
den. Näher in Verbindung mit dem ersten Capitel steht der 
Inhalt des dritten S. 53 ff.: »Veranlassung und Bedeu- 
tung des eigentlichen trojanischen Krieges.« Wir ver- 
suchen in der Kurze die Ansichten des Verfs., die allerdings von 
denen des Ref. vielfach abweichen (wie aus dem , was wir bereits 
gesagt haben, zur Genüge hervorgehen wird), unsern Lesern vor- 
zulegen, ohne ihrem Unheil vorgreifen zu wollen, und erinnern 
dabei zugleich an eine ähnliche, schon früher von Volker auf- 
gestellte Ansicht, wonach die Wanderung der äolischen Colonien 
nach Asien die Veranlassung und Grundlage der Geschichte des 
trojanischen Kriegs gewesen, dieser Krieg mithin nur als die 
poetisch - nationale Erzählung dieser Colonienzüge anzusehen sey. 
(S. Allgem. Schulzeit. i83i. Nr. 39 ff.) Wir können auch dieser 
Ansicht nicht beipflichten , theils aus andern Ursachen , theils weil 
wir überzeugt sind, dafs ein solcher Zug eines einzelnen Stamms 
nimmermehr eine solche Bedeutung in der hellenischen Sage und 
Dichtung für die gesammte Nation Jahrhunderte hindurch hätte 
gewinnen können. 

Der t mische Krieg ward, nach unserra Herrn Verf., durch 
die grofse Volkerbewegung herbeigeführt , welche der Einfall der 
Thessaler in Thessalien veranlagt (S. 53), so dafs auch nur sol- 
che Griechen daran Theil genommen, welche in dem Mutter- 
lande keine Wohnsitze mehr fanden und neue jenseits des Meeres 
zu suchen genöthigt waren; der Mittelpunkt und der Hauptbe- 
standteil dieser Völkerschaaren , die, ihre bisherigen Wohnsitze 
verlassend, sich neue gewinnen wollten, Seyen die Myrmidonen 
gewesen, an welche sich viele Achäer und Atoler angeschlossen; 
ein Theil habe sich in ostlicher Richtung nach Epirus gewendet, 
ein anderer westlich nach Skyros, und von da nach Lesbos und 
zu der nahen troischen Küste; diese seyen es dann gewesen , 
welche des Priamus Reich zerstört und diesen Zug gegen Troja 
, der also kein Rachezug , kein mit bestimmten Ab- 
Kriegszug gewesen , sondern als die natür- 
liche Folge einer Wanderung eines aus seinen Sitzen verdiängten 
Stammes , der sich neue Wohnsitze aufsuchte , erscheine. Sonach 
wäre also der troiache Krieg (S. 60) und die Niederlassung der 



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442 Schriften von U sc hold. NiUch. 



genannten Auswanderer in Äolicn , auf Lesbos und Tenedos Ein 
und dasselbe Ereignifs ; und es gehört demnach der ganze Zug 
dem Norden Griechenlands an , so dafs der Süden , wohin doch 
die Homerische Sage durch den Raub der Helena die nächste 
Veranlassung zum ganzen Zuge gesetzt hat , wo nach derselben 
Dichtung die gröfsere Civilisation und, wenn man will, der Cen- 
traipunkt der Macht Griechenlands, die in den Händen der Atri- 
den liegt, zu suchen ist, gewisserraafsen ganz von dem Zuge 
ausgeschlossen bleibt. Geschickt weift der Verf. mit seiner Be- 
hauptung die Stellung des Achilles und dessen Bedeutung in der 
Iliade in Verbindung zu bringen , und selbst der Einwurf , dafs 
nach der gewöhnlichen Annahme die Colonien, welche auf Les- 
bos und Tenedos sich niederliefsen , aus dem Peloponnes waren, 
dem ja auch der Führer, das Oberhaupt des ganzen Zugs, Aga- 
memnon, angehört, entgeht seiner Aufmerksamkeit nicht. Vgl. 
S. 69. Wir haben uns freilich noch nicht überzeugen können, 
dafs, wie der Vf. annimmt, darum blos in der Homerischen Sage 
Agamemnon als Oberanführer des Ganzen erscheint , weil die 
Entstehung des Kriegs hier dichterisch in einer dem Bruder des 
Agamemnon zugefugten persönlichen Beleidigung gesucht werde, 
oder dafs der Sanger der Utas bestimmt genug (?) andeute, wie 
die südlichen Achaer, die Peloponnesier, Nichts zur Eroberung 
TrojYs beigetragen, wie Agamemnon und Menelaos an den Tos- 
ten, die Achill vollbringt und die Homer durch sein Lied ver- 
herrlicht , sowie an allen Eroberungen keinen Antheil haben (?), 
indem Alles von einiger Bedeutung , was die Griechen unterneh- 
men, auch als Werk des Achilles und Odysseus erscheine. 

Diese Ansicht noch näher aus den Homerischen Gedichten 
zu begründen, ist das fünfte Capitel S. 8a ff., das wir darum 
hier gleich folgen lassen, bestimmt. Dafs die Homerischen Ge- 
sänge keine eigentliche Geschichte des troischen Kriegs enthalten, 
indem vielmehr die geschichtlichen Ereignisse nur kurz in Epi- 
soden berührt sind, wird dem Verf. Niemand bestreiten. Aber 
er geht weiter. Ihm ist Homer im eigentlichen Sinne Sänger der 
Älyrmidonen und ihres Führers Achill ; um die Gröfse dieser sei. 
ner Helden, die sein Gesang vorzugsweise verherrlichen soll, 
würdig zu preisen und hervorzuheben, läfst er um sie die übri- 
gen Völker Griechenlands sich schaaren und eine grofse Anzahl 
Verbündeter sich anreihen, die also hier nur als Nebenpersonen 
erscheinen, gleichsam als dichterischer Schmuck, um den Haupt, 
helden dadurch desto mehr unter dieser Mitte hervorzuheben und 





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Jahn, Lachmann and Malier. 



448 



in desto glänzenderem Lichte zu zeigen. Homer, der es wohl 
verstanden , die historische Wahrheit mit den Bluthen der Poesie 
zu schmücken, bat nach des Verfs. Annahme die verschiedenen 
ruhmlichen Eigenschaften des myrmidonischen Volkerstamms in 
seiner Dichtung auf Ein Individuum ubertragen , und dieses Eine 
Individuum, diese Eine Person, welche die Tugenden und die 
Kraft des ganzen Volks in sich trägt, ist Achilles, der Mittelpunkt 
der ganzen Ilias. Vgl. S. 89 fi. (Auch nach Hrn. Völker a. a. 0. 
wäre Achilles Repräsentant der äolischen Wanderung in dem tro- 
janischen Kriege , er wäre eine t hessalisch - pelasgische Landes- 
gottheit, deren Mythus und Cultus die auswandernden äolischen 
Böotier mit sieb genommen und in die neuen Wohnsitze in Asien 
verpflanzt hätten.) 

Der Raub der Helena, den die dichterische Sage als nächste 
Veranlassung des Zugs gegen Troja angiebt, ist daher nach dem 
Verf. ohne allen historischen Grund ; er ist ein blofses Mittel der 
Sage, die ungerechte Eroberung Troja s durch die Myrmidonen 
und Aoler zu verkleiden, das Gehässige, das ein Angriff auf 
fremdes Eigenthum hat, zu entfernen (S. 164)9 indem Helena, in 
Troja wie in Sparta, auf gleiche Weise von Stämmen gleicher 
Abkunft verehrt, hier wie dort die Mondsgöttin ist, deren Ver- 
schwinden am Himmel symbolisch als eine Entführung vom Gott 
des Himmels — hier Paris, bei Andern Hermes, bei Andern Zeus 
— dargestellt ist; ein Verhältnis, das auf gleiche Weise in der 
Sage von der Entfuhrung der Harmonia durch Kadmos, der Eu- 
ropa durch Zeus, der Artemis durch Orestes dargestellt sey. Da Ts 
die Helena Mondsgöttin ist, mochte Ref. am wenigsten bestreiten, 
zumal wenn er die in der ersten Reilage, auf die wir weiter 
unten zurückkommen werden, aufgehäuften Beweise vergleicht; 
aber wird darum die ganze Homerische Sage von der Entfuhrung 
der griechischen Fürstin, welche Sage dem Dichter Veranlassung 
und Ausgangspunkt seiner Dichtung bildet, aller historischen 
Wahrheit entbehren und als eine blos verschönernde Zuthat, mit- 
hin als eine dem Wesen des Gegenstandes durchaus fremde, nur 
zufällige Nebensache erscheinen? Es hält uns schwer, daran zu 
glauben , zumal bei der historischen Wahrheit , die doch in dem 
Wesen der ganzen Homerischen Dichtung bis in ihre Einzelhei- 
ten uberall so sehr vorherrscht, und schwerlich einer solchen 
Einkleidung oder Verkleidung eines historischen Faktums sich 
bedient haben wurde. Noch schwerer aber wird es uns , mit der 
Ansicht des Verfs. die Stellung und Bedeutung zu vereinigen, 



welche Homer dem Agamemnon giebt , dieser Dichter, »dessen 
historische Glaubwürdigkeit«, wie unser Verf. S. aoi bei einer 
andern Gelegenheit bemerkt, »gar nicht hoch genug angeschla- 
gen werden kann « (eine Behauptung , die uns übrigens der Verf. 
selbst keineswegs uberall festgehalten zu haben scheint ; denn wir 
glauben, sie verträgt sich nicht mit der ganzen Ansicht, die der 
Verfasser von dem troischen Kriege, von der Veranlassung und 
den Haupthelden desselben aufgestellt bat). Dafs Homer den 
Agamemnon im Gegensatz zu Achilles, dem Haupthelden seiner 
Dichtung, in dem sich alle Zuge eines vollendeten und ächten 
griechischen Helden nach den herrschenden Begriffen des heroi- 
schen Zeitalters vereinigt finden sollen , unvort heilhaft geschildert, 
wollen wir dem Verf. durchaus nicht streitig machen; aber der- 
selbe Homer stellt doch den Agamemnon immerbin dar als das 
höchste und allgemeine Oberhaupt der gesammten gegen Troja 
gezogenen Heeresmacht , als den mächtigsten Fürsten seiner Zeit, 
dessen Willen sich selbst Achilles, der Held des Ganzen, beu- 
gen mufs, wenn auch ungern und wider Willen. Hätte der Dich- 
ter so Etwas wagen können, ohne irgend einen historischen, also 
wirklichen Grund dazu zu haben? Wir zweifeln nach dem vom 
Verf. eben selbst angenommenen Satze der historischen Glaub- 
würdigkeit des Dichters , und können mit der Stellung des Ho- 
merischen Agamemnon so wenig wie mit den Angaben des Thu- 
eydides die Ansichten des Verfs. vereinigen ; wir können daher 
auch nicht Stellen, wie z. B. S. 99, unterschreiben, wo wir le- 
sen : »Sollte die Grofse und Herrlichkeit der Myrmidooen (Homer 
ist nemlich, wie schon oben bemerkt worden, nach unserem Vf. 
Sänger des Myrmidonenstamms , dessen Zuge, Wanderungen und 
Niederlassungen er verherrlichen will) aufs deutlichste veran- 
schaulicht werden, so konnte dies nur dadurch geschehen, dafs 
der Sänger sie mit ihren Brüdern im Peloponnesos in 
Vcrgleichung brachte und den grofsen Abstand zwischen beiden 
hervorhob. Hätte er denselben an den Volkern bezeichnen wol- 
len, so wäre dies nie ganz gelungen: er bezeichnete uns densel- 
ben also an den beiden Führern, an Achilles und Agamemnon. c 
Wir glauben, hier ist der Verf. zu weit gegangen und hat dem 
Dichter Etwas untergestellt, an das er wohl schwerlich gedacht 
haben mag. 

Mit besonderem Vergnügen verweilte Bef. bei dem sechs- 
ten Capitel S. ioo ff., das er zu den gelungensten Theilen des 
Buchs rechnet Es behandelt dasselbe die freilich mit der ubri- 



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Jahn, Lffvfcoiann and Müller. 



44» 



gen Untersuchung des Vfs. in innigem Zusammenbange stehende 
Frage über die Einheit des Ilias, die eigentlich schon durch 
die vorausgehenden Untersuchungen ebensowohl postulirt als in 
gewisser Hinsicht nachgewiesen war. Übrigens ist hier, der Na- 
tur der Sache gemäfs, diese Frage nur von ihrer inneren Seite 
betrachtet ; der äusseren Beweise wird am Schlüsse des Abschnit- 
tes noch mit Einigem gedacht : ohnehin hat ja auch in neuester 
Zeit Nitsch die meisten dahin einschlagigen Punkte bis zu dem 
Grade möglichster Evidenz gebracht, über welchen weiter hin- 
auszukommen schwerlich möglich seyn wird. Niemand , (das ist 
der Satz des Yerfs. S. io3, dem wir gerne beipflichten,) der 
gesunden Kunstsinn hat, kann die Ansicht in Schutz nehmen, als 
sej die Ilias durch verschiedene Sänger entstanden und erst spä- 
terhin zu einem Ganzen geschickt verbunden worden; die Ein- 
wendung, dafs ein in sich so vollendetes Kunstwerk, wie die 
Utas, in jener Entwicklungsperiode der epischen Poesie bei den 
Griechen nimmermehr durch einen einzigen Sänger habe zu 
Stande gebracht werden können, erscheint daher dem Verf. mit 
Recht bedeutungslos, ausgegangen von Menschen, die mit dem 
Entwicklungsgange der epischen Poesie der Griechen nicht ge- 
hörig vertraut sind, oder, setzen wir hinzu, überhaupt keine 
höhere poetische Anschauung und Auffassung besitzen oder einer 
solchen nur fähig sind. Gut weist der Verf. nach, und für die, 
welche sehen wollen und sehen können, auch gewifs befriedi- 
gend (S. 106 ff.), wie eine Reihe von Ereignissen in der heroi- 
schen Zeit Gegenstand des epischen Gesangs waren , wie der 
Heldengesang sich schon in früherer Zeit entfaltet, wie Fehden 
und Streitigkeiten der einzelnen Stämme schon frühe die Veran- 
lassung zu epischen Liedern gaben, wie die Kämpfe der Centau- 
ren und Lapithen u. a. t vor allen die Theten des Herakles viel- 
fach die epischen Sänger beschäftigten u. dgl. m. , wie demnach 
Tor Homer eine grofse Reihe von epischen Gesängen entstanden 
seyn müsse , in welchen die grofsen Thaten der Vorzeit und viele 
Verhältnisse, welche in der Ilias erwähnt werden, .ein festes Ge- 
präge und eine bestimmte Gestalt erhielten. Vgl. S. 112. Was 
der Vf. darüber noch weiter bemerkt, mag in dem Buche selbst, 
das sich durch seine klare, angenehme Darstellung empfiehlt, 
nachgelesen werden. Es wird dann schwerlich noch Refremden 
erregen können, wie Ein Sänger im Stande war, ein solches 
vollendetes Kunstwerk, als die Ilias, zu Hefern. Was den Beweis 
von der Schreibekunst betrifft , so äussert sich darüber der Vf. 



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446 



Schriften tod Utchold, NiUch, 



S. 114 folgcnderraafsen : »Ob die Schrcibhunst zu seinerzeit bei 
den griechischen Colonisten schon allgemein verbreitet war oder 
nicht , ist uns ziemlich gleichgültig , und sollte auch das letztere 
der Fall gewesen seyn, so wird derjenige, der mit der Entwich- 
lang der epischen Poesie der Griechen und anderer Volker ver- 
traut ist, uns zugestehen, dafs die Ilias auch ohne die Henntnifi 
der Schreibkunst in ihrer ganzen Vollendung entstehen 
konnte. « Auch diesem Satze giebt Ref. freudig seine Zustim- 
mung , und ohne das wiederholen zu wollen , was über diesen 
Gegenstand in den Oiscussionen , welche durch Wolfs Prolego- 
menen hervorgerufen wurden, sattsam vorgebracht worden, er- 
laubt er sich nur, was die Möglichkeit, tausende von Versen, 
also gröfsere Gedichte im blofseo Gedächtnis zu bewahren und 
somit auch mundlich auf die Nachwelt fortzupflanzen , betritt t , 
auf ein neueres Zeugnifs, aus Silvio Pellico's Prigioni ent- 
lehnt, hinzuweisen. Der unglückliche Dichter, mit seinem Lei- 
densgefährten Maroncelli im Herker schmachtend, war, ohne ir- 
gend ein Schreibmaterial zu besitzen, doch atets im Geiste mit 
der Poesie beschäftigt und erzählt uns darüber cap. j5 der an- 
geführten Schrift Folgendes: »Maroncelli nel suo sotterraneo avea 
composti molti versi d'una gran bellezza. Me Ii andava recitando 
e ne componeva altri. Jo pure ne componeva e Ii recitava e la 
nostra memoria esertilavasi a rilenere tullocio. Mirabile fu la ca- 
pacita che acquistammo di poetare lunghe produzioni a memoria, 
limarle e tornarle a limare infinite volte e ridurle a quel segno 
medesimo di possibile finitezza che avremmo ottenota scrivendole. 
Maroncelli compose cosi a poco a poco e ritenne in mente parecchie 
migliaia di versi lirici ed epici. Jo feci la tragedia di Leoniero da 
Dertona e varie altre cose. « 

Über andere bei dieser Frage nach der Einheit der Homeri- 
schen Gedichte zu berücksichtigende Punkte hat sich neulich ein 
geistreicher französischer Dichter, der mit der alten wie mit der 
neueren Literatur, insbesondere der poetischen, wohl vertraut 
ist, auf eine so klare und deutliche Weise ausgesprochen, dafs 
wir wohl darauf unsere Leser verweisen mochten ; wir meinen 
nemlich Edgar Quinet : Des poetes epiques. I. Homere in der 
Revue des deuz mondes Tom. VI. pag. 385 tf. Auch die Fra- 
ge , ob Ilias und Odyssee von Einem und demselben Dichter 
ausgegangen, zu Einer und derselben oder zu verschiedener Zeit 
entstanden, wird dann eher auf befriedigende Weise beantwortet 
werden können. Unser Verf. , der in dem Sanger der Ilias den 



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Jahn , Lach mann und Müller. 



447 



Sänger der Myrmidonen erkennt, möchte darum fast in dem Dich- 
ter der Odyssee Heber einen Dichter der Äolier, denen Odysscus, 
der Held der Dichtung, angehört, erkennen und demnach beide 
Werke von verschiedenen Dichtern otisgchen lassen: eine Ver- 
muthung , die auch weiter unten am Schlüsse der vierten Beilage 
S. 260 wiederholt wird, die wir aber theils nach onsern schon 
oben angedeuteten Ansichten, theils aus inneren Gründen doch 
für etwas gewagt halten müssen. 

Wir gehen nun zu den reichen Beilagen über, um wenig, 
stens die Hauptideen, welche darin sich näher ausgeführt finden, 
kurz anzudeuten, da wir bereits die Aufmerksamkeit unserer Le- 
aer durch die ausführlichere Darstellung des Hauptinhalts des 
Werkes so sehr in Anspruch genommen haben. Eine klare Ent- 
wicklung, die uns, wie dies leider bei so wenigen in das Gebiet 
der Mythologie einschlagenden Schriften der Fall ist, die gewon- 
nenen Resultate klar und deutlich uberschauen läftt, die nicht im 
Dunkeln oder in ungewissen Gefühlen und Anschauungen schwebt, 
zeichnet diese Untersuchungen aus, selbst wenn sie auch, der 
Natur der Sache nach, schwerlich auf allgemeinen Beifall, bei 
aller sonstigen Anerkennung , rechnen dürfen. 

Die erste Beilage S. 116 — 164 betrifft die Bedeutung 
der Helena und ihrer Wanderungen. Schon oben haben 
wir angedeutet, in welchem Sinne der Verf. die Helena nimmt; 
diese Beilage enthält die nähere und ausfuhrliche Erörterung, in 
Verbindung mit einigen andern damit zusammenhängenden Punk- 
ten. Der Verf. weist die Übereinstimmung der Helena und 
Sei e na nach, er deutet dann die mythische Angabe von der 
Abstammung der Helena von Zeus und Leda aus Einem Ei, 
sammt ihren Brüdern, den Dioscuren, deren Sage nach S. ia5 
ihre Entstehung der einfachen Naturerscheinung zu verdanken hat, 
dafs Morgen- und Abendstern nie zu gleicher Zeit am Himmel 
glänzen, sondern dafs der Morgenstern schon längst untergegan- 
gen ist, wenn der Abendstern erscheint; und darauf bezieht er 
auch die Sage von ihrem abwechselndem Aufenthalte im Oiympos 
und im Hades oder im Grabe. Daraof werden die weiteren Be- 
ziehungen der Helena als Gottin des Monds, in ihrer schaffenden 
Kraft, äusserlich wie innerlich, als Weberin und als Zauberin 
u. s. w. durchgangen, und ihre Entführung (vgl. S. 139 ff.) sinn- 
bildlich als das plätzliche Verschwinden des Mondes am Himmel dar- 
gestellt; Paris aber, der die Helena entfuhrt, ist dem Vf. nichts 
anderes, als der Leuchtende, der Glänzende, ein Prädicat 



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448 Schriften toh Uschold , Ni tsch , Jahn , Lachmann u. Müller. 

des thracischen Himmelsgottes Hermes. Daher werden auch nie 
Wanderungen der Helena (Tgl. S. 144) >° ähnlichem Sinne wie 
die mythischen Wanderungen des Herakles, der Io, auf die Alu- 
breitung des Cultus der Helena nach allen Richtungen hin bezo- 
gen , so dafs sie in dieser Hinsicht selbst gewisse historische An- 
deutungen über die ältesten Volherzüge enthalten sollen. 

Die zweite Beilage: Über die Atriden und die süd- 
lichen Achä'er S. i65 ff. hat eine ähnliche Beziehung auf die 
im Vorhergehenden aufgestellten Ansichten des Verfs. über den 
troischen Krieg, insofern der schon oben erwähnte Einwurf , der 
aus der Stellung des Agamemnon in den Homerischen Gedich- 
ten , sowie aus der gewöhnlichen Tradition von Orestes , dem 
Fuhrer der Colo nisten, die Lesbos und Tenedos besetzten (wo 
nach des Verfs. Annahme vielmehr die Myrmidonen sieh nieder- 
ließen), erhoben wird, hier beseitigt werden soll durch eine nä- 
here Erörterung über den geschichtlichen oder vielmehr mytho- 
logischen Inhalt der Sage von den Atriden. Diese nemlich fallen 
nach der Deutung unseres Verfs. so ziemlich fast ganz dem My- 
thus anheim und sind ohne bestimmte historische Geltung. Zu- 
vorderst Tantalu s, des Pelops Vater, ist eine rein mythische 
Person; er ist das Symbol des traurigen Zustandes des Reichen, 
der sich abzehrt, während er seinen Vorrath zu Grunde gehen 
und seine Schätze verrosten läfst (S. 166 ff.) ; Pelops ist gleich- 
falls eine mythische Person, er ist ein Heros der thracischen 
Volkerschaften, der seine Entstehung dem Namen des Pelopon- 
nesus zu danken bat; ebenso gehören Atreus und Thyestes 
rein der Dichtung an; Agamemnon endlich ist der Karische 
Zeus, den Herodot ausdrücklich von dem griechischen unter- 
scheidet , muthmafslich das nemlicbe Wesen , welches andere thra- 
cische Stämme unter den Namen Hermes, Kadmos, Dardanos, 
Jasion und Paris verehret und dem die Griechen den Namen des 
kariscben Zeus beigelegt (S. 177). Als allgebietender Herrscher 
trete Agamemnon vor Troja defsbalb auf, weil er in den alten 
Sagen , die sich über ihn erhalten , als der mächtigste Herrscher 
gefeiert worden u. s. w. (S. 180 ff.). Dafs dann auch Orestes, 
dessen Sagen und Wanderungen der Verf. S. 187 ff, verfolgt, 
der Dichtung anheimfällt , wird nicht befremden. 

(DU Fortsetzung folgt.) 



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N'.29. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

t 

Schriften von Usc/toldj Nilszchj Jahn, Lachmann u. Müller. 

(Fortsetzung.) 

Wir bedauern hier, durch den uns zugestandenen Raum 
gedrangt, nicht näher in diese Ideen, die freilich manches Auf- 
fallende haben, so sehr auch der Verf. bemuht ist, sie in einen 
Zusammenhang miteinander zu bringen, eingehen zu Können ; dafs 
aber Ref. ihnen nicht unbedingt und in dieser allgemeinen Fas- 
sung, mit gänzlicher Beseitigung alles historischen Elements, bei- 
treten kann, dafs er keineswegs in allen diesen Personen blofse 
Spiele der Phantasie , reine Schöpfungen der fir&oxuxo; 'JiXkaq 
finden kann, sondern an der historischen Grundlage, die freilich 
in Sage und Dichtung manche Zuthat und Ausschmückung erhal- 
ten hat, festhält, wird nach dem, was er schon oben bemerkt 
bat, leicht zu errathen sejrn; zu einer weiteren Ausführung sei« 
ner eigenen Ansichten kann hier der Raum nicht seyn , so sehr 
es ihm auch scheinen will, dafs der Verf. in seinem Bestreben, 
die über den trojan. Zag aufgestellte Ansicht, zumal wo sie mit 
der historischen Überlieferung im Widerspruch steht, auf diesem 
Wege mythischer Deutung zu stutzen , zu weit gegangen ist und 
Behauptungen aufgestellt hat, die bei reiflicher Erwägung schwer- 
lich angenommen werden dürften. 

Wenn wir uns über die dritte Beilage, S. 169 ff.: »Über 
die Abstammung der Pelasger und die Bedeutung ih- 
res Heros Herakles, nach Allem dem, was über die Pelas- 
ger und Herakles geschrieben und gesagt worden, kurz fassen 
und selbst manches Bedenken, manche Zweifel, zumal bei der 
Erklärung einiger Stellen des Herodotus (z. B. I, Ö7. S. 202 f. 
oder I, 94. S. 206 ff.), wo, wie wir glauben, dem Vater der 
Geschichte Unrecht gethan wird, unterdrucken, so wird man bei 
der grofseren Ausführlichkeit, die wir den übrigen Theilen des 
Buchs zugewendet haben , dies entschuldigen , zumal da eine 
Besprechung dieser Sätze leicht zu einem eigenen Buche anwach- 
sen konnte. Wir beschränken uns daher auf die allgemeine An- 
gabe (das Nähere mag in dem Buche selbst nachgelesen werden), 
dafs nach onaerm Verf. die Pelasger hellenischer Abkunft sind. 
XXX. Jahr*. 5. Heft. 29 



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450 Schriften tob Uschold, Nitren, 



Im Laufe dieser Untersuchung werden dann auch die Lydier, die 
bei Gelegenheit einer Hungersnoth (Herod. 1 , 94.) Asien verlas- 
sen und in Etrurien sich ansiedeln, als Pelasger genommen, wie 
dies auch O. Müller in seinen Etruskern zu beweisen versucht 
hat. Den Hera hl es aber betrachtet der Verf. als den Träger 
ihrer (d. i. der Pelasger) Tugenden und Verdienste (S. 28 ff.), 
und in diesem Sinne durchgeht er nun die zwölf Arbeiten des 
Herakles, deren Deutung versuchend, und am Schlüsse auf die 
oben im zweiten Capitel aufgestellte Behauptung zurückkom- 
mend , welche die Sage von einer ersten Eroberung lYoja s durch 
Herakles nur auf eine pelasgische Niederlassung auf troischem 
Gebiet deuten zu können glaubt. 

Die vierte Beilage: Einige Bemerkungen über die 
Irrfahrten des Odysseus, S. 236 ff., soll Odysseus als einen 
Heros des äolischen Stammes darstellen, und deshalb auch als 
Träger der Eigenschaften und Schicksale desselben , so dafs seine 
Wanderungen und Fahrten auf die Verzweigung der äolischen 
Colonisten zu beziehen wären, welche schon vordem Herakliden- 
zuge an verschiedenen Punkten sich niedergelassen. Der Wider- 
spruch , in welchen der Verf. auf diese Weise mit den , von Hr. 
Prof. Klausen versuchten , auch in diesen Blättern besprochenen, 
Deutung dieser Irrfahrten des Ulysses fällt , springt in die Au- 
gen ; wir bedauern , hier nicht naher den Gegenstand behandeln 
zu können. — Dafs in der fünften Beilage, welche eine Über- 
sicht der Geschichte der Teuerer geben soll (S. 261 ff.) f 
welche als ein Zweig der Thraker betrachtet werden, die sich 
schon in der frühesten Zeit in Asien festgesetzt, auch noch vie- 
les Andere zur Sprache kommt, z. B. die Sage von den Hyper- 
boreern S. 275, dafs die meisten der hier vorkommenden Perso- 
nen als mythische, als Geschöpfe der Dichtung (wie z. B. Pria- 
mus) betrachtet und erklärt werden, kann nach Allem dem, was 
über den Charakter der vom Vf. eingeschlagenen Methode schon 
gesagt ist, nicht auffallen. 

Sollten wir nun noch in den Inhalt der sechsten und letz- 
ten Beilage (S. 3oi ff.): Über die Bedeutung des Äneas 
und seiner Wanderungen, eingehen, die uns nach dem äl- 
testen Italien führt und die Grund best and theile der ersten und 
ältesten Bewohner dieses Landes, deren Abkunft u. s. w. auszu- 
roitteln, mithin die schweren Fragen über die Abkunft der Be- 
wohner Etruriens und die politisch -religiösen Einrichtungen des 
Landes, über die Gründung Roms und dessen erste Bevölkerung 



Jahn , Lachmann und Müller. 451 

und Anlage, Ober Evander und dessen Stadt auf dem pa latini- 
schen Berge, zu beantworten sucht und namentlich, indem sie 
mit Niebuh r die erste Anlage Roms von Etruskern, die auf dem 
palatinischen Berge sich niedergelassen (S. 346), ausgehen lüTst, 
doch erst den Zeitpunkt der Vereinigung der Latiner und Sabiner 
mit den Etruskern als den Augenblick der Entstehung Roms be- 
trachtet (S. 35 1 ) , sollten wir diese und so viele andere in diesem 
Abschnitt berührten, wichtigen und inhaltschweren Punkte einer 
weiteren Erörterung unterwerfen wollen , wie sie der Vf. aller- 
dings verlangen konnte, so möchte dazu noch weniger Raum in 
dieser Anzeige vorhanden seyn , welche blos die Bestimmung hat, 
die Freunde des Alterthums auf eine wichtige Erscheinung auf- 
merksam zu machen und zu weiterem Studium, zur Prüfung 
dieser reichhaltigen Schrift zu veranlassen, und so schliefst Ref. 
seine Anzeige eines Buches, in dem, wie wir gesehen, eine Reibe 
der schwierigsten und wichtigsten Punkte aus dem Gebiete der 
alten Geschichte, Mythologie and Poesie behandelt werden, mit 
dem Wunsche, durch seine Anzeige den gelehrten Verfasser zu 
weiteren Forschungen auf diesem dunkeln , und darum auch so 
schwierigen Felde veranlafst zu haben. 

Wir erinnern bei dieser Gelegenheit noch an einige andere, 
Homer und dessen Gedichte betreibende Schriften , welche in 
neuester Zeit erschienen und noch nicht in diesen Blättern an- 
gezeigt worden sind* Es gehören dahin vor Allen die Untersu- 
chungen des Herrn Prof. Nitzsch, weil sie, einem streng histo- 
rischen Wege folgend und an die alten Quellen sich streng hal- 
tend , uns allein ein sicheres und zuverlässiges Resultat verspre- 
chen können, und weder in selbstersonnenen Hypothesen sieb 
verlieren , noch ein vorher ausgedachtes System mit Hintansetzung 
oder Verdrehung der Zeugnisse des Alterlhums durchzufuhren 
suchen : 



1) Meletematum de hisloria Homert faec. II P. 17. Sententiae vett 

de Homert patria et aetate accuratius digeruntur. Kiliae. Ks officina 
Chrüt. Fr id. Mohr. (Programm auf den 28. Januar 1834.) 50 & 
in gr. 4. 

t) Meletematum de hietoria Homert fa*c. iL P. III de rhapsodit aeiati» 
Atticae Dineertatio. Kiliae, ex offie. Chr Frid. Mohr. (Programm 
auf den 28. Januar 1835.) 3? S. in gr. 4. 

Was zuvorderst die erstgenannte Ahbandlung , oder fasc. II. 
P. Ii der McUtemata, betrifft, so können wir hier gleich unsere 



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452 



Schriften von Uacliold, NiUzcli, 



Leser versichern, dafs das Resultat der Untersuchung, wie sie 
liier über die verschiedenen und zahlreichen Nachrichten der Al- 
ten über Homer s Vaterland und Lebenszeit mit der grofsten 
Genauigkeit und Umsicht geführt ist , weit entfernt die Wölfische 
Ansicht einer Homeridenschule , der wir die noch unter Homers 
Namen vorhandenen Gedichte , Uias und Odyssee, verdanken, zu 
bestätigen, gerade das Gegentheil herausstellt. Eben deshalb lag 
dem Hrn. Vf. so viel daran, eine genaue Sichtung und Prüfung 
aller dieser Nachrichten vorzunehmen und durch diese das Un- 
befriedigende der Wölfischen Hypothese in ein recht helles Licht 
zu setzen, oder vielmehr den Satz zu erhärten, der als Aufschrift 
der ganzen Untersuchung vorausgestellt ist: » Deraonstratur, dis- 
crepantiam de Homeri patria et aetate opinioni Wolfianorum , quae 
de secta s. schola est Homerica non sufTragari«. einen Satz, den 
gewifs gern Jeder unterschreiben wird, der mit Aufmerksamkeit 
den Untersuchungen des Herrn Vfs. gefolgt ist 

Der erste Abschnitt: »De quaeslionis vi et condilione narratio* 
sucht die Frage selbst, mit Rücksicht auf die durch die früheren 
Untersuchungen bereits gewonnenen Resultate, näher zu bestim- 
men oder vielmehr auf ihren rechten Standpunkt zu stellen, wo- 
nach die Forschung hier vor Allem darauf gerichtet seyn mufs, 
»ut testium aetatem fidemque pensitemus et omnem formam ad 
nativam integritatem revocare studeamus « (pag. 12). Es wird 
sich denn bald zeigen , wie Wolf s Behauptung der historischen 
Grundlage durchaus entbehrt, wie sie selbst mit den äussern 
Zeugnissen in einem nicht wohl zu beseitigenden Widerspruche 
steht, der in ihr selbst liegenden inneren Widersprüche nicht zu 
gedenken, auf welche sich der Verf. hier natürlich nicht einge- 
lassen hat, hinsichtlich deren wir auf den oben genannten Artikel 
von Edgar Quinet verweisen. Unserm Vf. aber geben wir voll- 
kommen Recht, wenn er S. 9 ausruft: »Verum ego mihi omnino 
persuaseram , istam de sectis s. scholis Epicorum hariolationem, 
a nemine satis exaetam ac perpensam, tum ab ipsa notionis in- 
formatione , tum a ratione et constantia desendentium, tum ab 
historica fide funditus laborare. « Die weiteren Bemerkungen 
über Hcsiodus und dessen Gedichte verdienen von Allen denen, 
die sich mit diesem Dichter in neuerer Zeit beschäftigt haben, 
ernstlich berücksichtigt zu werden. 

Wenn der Herr Vf. in seinen früheren Untersuchungen die 
Ilias wie die Odyssee in ihrer Integrität als Werke Eines Dichters 
erkannt hatte, hervorgegangen aus Einem grofsen Geiste, lange 



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Juhtt , L .ich mann und Miller. 



4M 



vor des Pisistratus Zeit, so gut wie eine Thebais , eine Athiopis 
und andere epische Gedichte , die wir leider nicht mehr besitzen, 
die aber in manchen Spuren ebensowohl die Nachahmung jener 
Gedichte, wie die Verschiedenheit von ihnen erkennen lassen, 
und damit zeigen, dafs eine Ilias und Odyssee schon langst vor 
ihnen vollendet, verbreitet und zu Ansehen gekommen war, und 
dafs die weit später blühenden Homeriden- oder Rhapsodenschu- 
len wohl die Homerischen Gedichte recitirt, und durch ihren le- 
bendigen Vortrag bei festlichen Gelegenheiten das Ansehen des 
Dichters verherrlicht, ja selbst sein Andenken erhalten haben, 
u. s. w. , so war nun, um den Gegnern jedes Argument zu be- 
nehmen, nur noch nachzuweisen, dafs die Verschiedenheit der 
Angaben über Homers Gebartsort und Zeitalter, welche von 
Manchen benutzt worden war, um daraus Grunde für eine Mehr- 
zahl von Dichtern herzuleiten, dies nicht beweisen könne, dafs 
vielmehr die übereinstimmende Ansicht des Alterthums nur zu 
der Annahme Eines Homers führe. 

So zerfällt der weitere Inhalt in zwei Abschnitte, deren er- 
ster die Nachrichten der Alten über Homers Zeitalter p. 20 ff., 
der zweite p. 39 ff. die über Homers Vaterland untersucht. So 
allein werden wir auf streng historischem Wege zu einem Re- 
sultate gelangen, das jedenfalls weit sicherer ist, als alle aus all- 
gemeinen Ideen u. dgl. abgeleiteten Hypothesen, und das allein auf 
einem festen Boden und sicherer Grundlage beruht. Es galt also 
hier, zuvorderst auszumitteln, welches die Ansichten des gebil- 
deten griechischen Alterthum über die Zeit, in welcher der Dich- 
ter der Ilias und Odyssee gelebt, gewesen. Der Verf. zeigt uns, 
wie schon die ältesten uns bekannten Schriftsteller, bei dem Man- 
gel aller Nachrichten über die Person des Dichters, deshalb auf 
die Gedichte desselben zurückgingen, um aus deren Alter und 
Ansehen auf die Person des Dichters und dessen Lebensperiode 
einen sichern Schlufs machen zu können. So finden wir bei dem 
Verf., nachdem er uns gezeigt, wie es in der Natur der Dinge 
lag, dafs das Andenken an die Person des Dichters ausgehen 
mufsle, folgenden richtigen Satz, mit Bezug auf das gewichtige 
Zeugnifs des Herodotus 11, 53. aufgestellt (p. 28): »quum nihil 
superasset nisi nomen (Homeri) operibus suis decorum , Graecos 
Herodoteae aetatis et necessario et reetc ex carminum historia de 
poetae aetate statuisse. « Vgl. p. 21. Darum durchgeht nun der 
Herr Vf. von S. 29 seiner Schrift an alle die einzelnen aus dem 
Alterthum auf uns gekommenen Zeugnisse über Homers Zeitalter; 



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454 Schriften von Uacholü, Nitzach, 

er kommt hier auch auf die alexandrinischen Gelehrten, zunächst 
auf Aristarchus und Krates, welche diese Frage ausfuhrlicher 
untersucht und behandelt hatten, obwohl, wie in der Erklärung 
des Dichters selbst , verschiedenen Ansichten folgend. Krates 
nerolich , der in den homerischen Gedichten alles historisch auf- 
fafste und in Homer einen wohlkundigen Zeugen dessen , was er 
berichte, uberall erkennen wollte, setzte die Blüthe des Dichtere 
kurz vor die Niederlassung der Herakliden im Peloponnesus und 
erklärte die Homeriden zu Chios für dessen Nachkommen; Ari- 
starchus hingegen , der kundigste und gelehrteste unter allen Aus- 
legern Homers, mochte es wohl kaum gewagt haben, sich über 
diese schwierige Frage mit solcher Bestimmtheit auszusprechen; 
er glaubte aber aus der in Homers Gedichten herrschenden Spra- 
che und aus einzelnen Formen derselben den Schlufs machen zu 
können , dafs der Dichter unter den jonischen Griechen , die von 
Athen ausgewandert, an der kleinasiatischen Huste und den nabeo 
Inseln sich niedergelassen hatten, gelebt habe« Und diese Ansicht 
durfte am Ende die einzige seyn , welche nicht willkuhrlich er* 
sonnen, sondern auf einer sichern Grundlage beruhend, die Stim- 
men der Unbefangenen für sich vereinigen durfte. Während bei 
näherer Prüfung, wie sie hier angestellt wird, es sich bald er- 
giebt, dafs die andern Angaben entweder ihren Grund in dem 
naturlichen Streben so mancher Städte haben , als Gebartsorte des 
grofsen Nationaldichters auch an seinem Ansehen und an dem 
daraus hervorgehenden Ruhme Antheil zu nehmen , oder von 
mufsigen Grammatikern und Scholiasten späterer Zeit ersonnen 
sind , zeigt sich das Zeugnifs des Herodotus am o. a. O. mit die- 
ser Ansicht durchaus in Übereinstimmung und die Glaubwürdig- 
keit des Vaters der Geschichte auch von dieser Seite bewährt. 

Bei der andern Frage über Homers Vaterland geht der Hr. 
Verf. auf ähnliche Weise zu Werke, und gewinnt so ein Resul- 
tat, das mit dem eben bemerkten über das Zeitalter Homers in 
Übereinstimmung, uns jedenfalls, wenn wir den ältesten Angaben 
und nicht willkuhrlich ausgesonnenen Hypothesen vertrauen wol- 
len , auf Jonien hinweist. Der Verf. nemlich verfolgt auch hier 
den streng historisch -chronologischen Gang, und so ergieht sich 
aus der chronologischen Zusammenstellung und Sichtung der ein- 
zelnen Zeugnisse, die über das Vaterland des Dichters vorliegen, 
bald, dafs, je weiter wir zurückgeben, je geringer die Zahl der 
Orte wird, die Homers Vaterland in Anspruch nehmen; je wei- 
ter wir aber vorwärts schreiten, die Zahl zunimmt, und überhaupt 



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Jahn, Luchuiann und Müller. 



die Geschichte Homers immer verwirrter und entstellter wird , 
so dafs spätere Griechen, ein Pausanias und Lucianus, sowie der 
Romer GeJims, sich in der gröfsten Verlegenheit sahen, wenn 
sie über diese Punkte sich entscheiden sollten, und es sogar für 
unmöglich hielten, die Frage über Homers Vaterland auf eine 
sichere und zuverlässige Weise zu beantworten. Wenn also die 
spateren Schriftsteller, deren Nachrichten den Stempel des spä- 
teren Ursprungs an sich tragen , hier auszuscheiden sind , so wer- 
den wir auf die ältesten Zeugen, auf die lyrischen Dichter Si- 
monides, Pindar und Bakcbylides zurückgewiesen, und diese, wenn 
auch in der Angabe des Geburtsortes selbst — Chios, Smyrna, 
Joe — nicht übereinstimmend, weisen uns doch alle auf Jonien, 
auf Kleinasien und die nahen Inseln hin, wie Aristarchus aus 
bestimmten Gründen gleichfalls vermuthete; die nachfolgenden 
Schriftsteller bis auf Ephorus und Aristoteles nennen bald die 
genannten Orte, bald Colophon oder Humä tu a. O. , die indefs, 
wie Herr Nitzsch nachweist, noch weniger iür sich haben, so dafs 
wir am Ende noch am ersten für Chios uns auszusprechen \ er- 
sucht seyu möchten . Wenigstens glauben wir , mit keiner solchen 
historischen Wahrscheinlichkeit für irgend einen andern der ge- 
nannten Orte — mit Übergehung der übrigen, die erst von spä- 
tem Schriftstellern genannt werden — uns nach den hier S. 41 fF. 
niedergelegten Beweisen aussprechen zu können. 

Die andere Abhandlung Fase II. P. III. beschäftigt sich mit 
einer Untersuchung über die Rhapsoden, und soll zunächst eine 
Verteidigung und eine weitere Erörterung der vom Verf. schon 
früher, theils in den Prolegomenen zu Piatons Jon, theils in 
fasc. 1. dieser Melett. aufgestellten Ansichten liefern, mit Berück- 
sichtigung und Widerlegung einiger inzwischen über denselben 
Gegenstand von Andern aufgestellten Ansichten , wie sie insbe- 
sondere in Kreusers Schrift : Homerische Rhapsoden oder Rcde- 
riker der Alten, Köln i833, uns entgegentreten, wo die Rhap- 
soden zu gemeinen Benkelsängern , die gleich den römischen Hi- 
strionen aller äussern Achtung entbehren u. s. w. herabgewürdigt 
werden, während doch yon Allem dem die historische Überliefe- 
rung nichts weifs; sie läfst uns nur dies mit Sicherheit annehmen, 
dafs die Rhapsoden selbst keine Dichter gewesen , sondern nur 
durch ihren Vortrag die Poesie unterstützt ( — » quod unum hi- 
storia probat , rhapsodos non poetas sed poetarum administros 
fuisse « p. 5). Nachdem so der Verf. auch hier im ersten Ab- 
schnitte den Sundpunkt der Frage festgestellt, geht er im zwei- 



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456 



Schriften von L schuld, NiUzch, 



ten : » Attici scriptores qaalem quum viderint tum oranino inter- 
pretati sint rhapsodiam, exponiturc p. 10 ff. zur Beantwortung 
der Frage selbst über, indem er den Begriff, das Entstehen und 
die Ausbildung der griechischen Rhapsodik nach den Angaben 
und Zeugnissen der Alten selber erörtert und damit zur Genüge 
das Falsche und Irrige in den neuerdings über die Rhapsoden 
aufgestellten Behauptungen nachweist. Er zeigt uns, wie der 
natürliche, lebendige Sinn der Griechen für mündlichen Vortrag 
schon frühe das Bedürfnifs solcher Vorträge bei öffentlichen, 
feierlichen Gelegenheiten, wo die ganze Gemeinde versammelt 
war, hervorrief oder vielmehr hervorrufen mufste, und wie da- 
her in derselben Weise, in der lyrische Gesänge durch den Mund 
des Citharoeden, dramatische Gedichte durch den Schauspieler, 
auch die epischen Dichtungen durch den Mund der Rhapsoden 
vorgetragen wurden, so dafs der Vortrag des Rhapsoden, obwohl 
zunächst auf die Homerischen Gedichte, als die gefeiertsten aus 
dieser Galtung sich erstreckend, doch seiner Natur nach keines« 
wegs auf diese allein sich beschränken mochte. So gelangen wir 
auf natürlichem Wege zu dem Begriff der Rbapsodik, die dem- 
nach nichts weiter ist, als der künstliche mündliche Vortrag von 
Gedichten aus dem Gedächtnifs ; wobei der Vortrag das Wesent- 
liche ist, und die eigentliche Abfassung von Gedichten durchaus 
vom Begriffe des Wortes ausgeschlossen bleibt. Dafs dieser münd- 
liche Vortrag von Poesien sich in Einigem unserem Gesang oder 
vielleicht dem , was wir den recitati vischen , declamatorischen 
Vortrag nennen, näherte, lag in der Natur der Sache, die eben 
deshalb als eine Kunst betrachtet und gleich der Kunst der CU 
tharoeden in Geschlechtern und Familien gepflegt und fortgepflanzt 
wurde. Ja der Verf. geht noch weiter; er zeigt uns aus einer 
Reihe von Stellen, dafs das Wort pa^&düv auch bei prosaischen 
Schriftstellern mehrfach von Jedem gebraucht wird, der auf ir- 
gend eine Weise und bei irgend einer Gelegenheit Verse aus dem 
Gedächtnifs recitirt. So ist das Wort, das ursprünglich zur Be- 
zeichnung jener öffentlichen kunstvollen Vorträge, welche bei 
feierlichen Gelegenheiten statt fanden, angewendet wurde, dann 
auch in allgemeinerem Sinne gebraucht worden. Wir bitten die 
Beweisführung S. i6 ff. bei dem Verf. selbst nachzulesen, der 
sich dann am Schlüsse seiner Abhandlung noch über die attischen 
Rhapsoden verbreitet und mit vollem Recht gegen Kreuser das 
Geschäft der Rhapsoden als ein durchaus geachtetes und anstän- 
diges in Schutz nimmt. Wir wollen hoffen, dafs die Frage über 



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Jahn, Lachmann und Müller. 



451 



die Rhapsoden mit dieser Untersuchung endlich geschlossen sey, 
da nach den ?orliegenden Zeugnissen der Alten kein anderes Re- 
sultat als das eben vorgelegte wird zu gewinnen seyn, und be- 
merken nur noch, dafs in dieser Schrift auch gelegentlich noch 
manche andere schätzbare Bemerkungen mitgetheilt werden , die 
wir hier nicht im Einzelnen namhaft raachen konnten. 

Wir reihen daran noch folgende, dem Herrn Prof. Nitsch 
gewidmete Schrift, deren Inhalt auch gewissermafsen auf den 
trojanischen Cyclus und die Homerischen Gedichte sich bezieht: 

Palamedes. Disstrtatio philologica. Scripsit Otto Jahn. Hamburgi 
Prostat apud Perthes et Besser. 1836. 60 & in gr. 8. 

Der Verf. war vor Allem bemüht, eine sorgfältige und wohl- 
geordnete Zusammenstellung aller der Nachrichten zu geben, 
welche das Alterthum über die Person des Palamedes und die 
ihm zugeschriebenen Erfindungen uns hinterlassen hat, und so 
eine möglichst vollständige Monographie über diesen von Dich- 
tern und Rednern hochgefeierten, von der Kunst verherrlichten 
Weisen der heroischen Zeit zu liefern, den die Sage, schwan- 
kend über Geburt und Eltern u. s. w. , doch einen entschiedenen 
Antheil an dem Zuge gegen Troja nehmen läfst, als Gefährten 
des Achilles, durch hohe Einsicht und Tapferkeit ausgezeichnet, 
schildert und zuletzt, durch des Ulysses Hafs und Neid, unter- 
geben läfst Es ist bekannt , wie die Sage diesen Palamedes zum 
Träger aller Weisheit gemacht und auf seinen Namen die Erfin- 
dung Alles dessen, was zur Ausbildung des menschlichen Lebens 
gehört, ja selbst der Schrift, zurückgeführt hat. Diese hohe 
Bedeutung des Palamedes in der heroischen Sage nachgewiesen , 
dessen Ansehen durch alle nachfolgenden Zeiten verfolgt und da- 
durch ein Endresultat möglich gemacht zu haben , ist das Ver- 
dienst der vorliegenden Monographie, die durch Klarheit des 
Vortrags sowie durch die umfassende Behandlung des Gegen- 
standes, wobei nicht leicht irgend Etwas übersehen worden ist, 
sich auszeichnet und, frei von aller Systemsucht, rein den histo- 
rischen Gang verfolgt, der allein zu sichern Resultaten fuhren 
bann. Der Verf. nimmt daher seinen Ausgangspunkt bei Homer, 
um zu zeigen, wie auch dieser Dichter in einem eigenen, freilich 
verlorenen , Gedichte den Palamedes besungen ; er zeigt dann, wie 
die tragischen Dichter, Äschylus, Sophokles und Euripides, den 
Mythus des Palamedes zu eigenen Dramen benutzt, wie die Kunst 



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Schriften von Utcbold, Nituch, 

selbst diesen Gegenstand ergriffen und die spätere Rhetorik ihn 
zum Thema mancher Schulreden gemacht hat« Darauf geht der 
Verf. zu den Nachrichten über Geburt , Abkunft , Vaterland etc. 
über, und knüpft daran die Erzählungen von den Erfindungen, 
welche die Sage dem Palamedes zuschreibt, unter denen die Er- 
findung der Buchstabenschria gewifs eine Hauptstelle einnimmt. 
Den Widerspruch mit der gewöhnlichen Annahme, welche das 
griechische Alphabet aus PhÖnicien mittelst des Hadmus ableitet, 
hat der Verf. keineswegs übersehen, im Gegentheil er hat Alles 
darauf bezügliche S. 24« 25 vollständig angeführt. Wenn dieser 
Widerspruch , wie von Manchen versucht worden , dahin ausge- 
glichen werden soll , dafs zu den sechszehn durch Kadmus ein- 
geführten Buchstaben Palamedes die übrigen , entweder sämmtlich 
oder zum Theil — denn die Angaben der späteren Grammatiker 
darüber sind sich nicht gleich — erfunden , so glaubt Ref. dar. 
unter nur eine spätere Deutung zu erkennen, welche den dama- 
gen Bestand des griechischen Alphabets nach ihrer Weise zu 
erklären suchte, und trägt kein Bedenken, die ganze Sage von 
der Erfindung der griechischen Buchstaben durch Palamedes, als 
deren älteste Zeugen uns Stesichorus und Euripides erscheinen, 
als eine griechische Fiction zu betrachten, die ihren naturlichen 
Grund in der Eitelkeit des griechischen Volks und in dessen Stolz 
hat, jedes fremde Element auf hellenischen Boden zu verwerfen 
und die Keime der hellenischen Cultur, die Grundlagen der spä- 
teren Blütbe, in Kunst, Wissenschaft u. s. w. auch auf heimi- 
schem Boden finden zu wollen: eine Ansicht, die besonders durch 
schmeichelnde Dichter und Redner den attischen Autocbthonen 
stets empfohlen wurde. Denn an dem semitisch • phüniciseben 
Ursprünge der griechischen Schrift, wie sie auch nachher 
ausgebildet worden seyn mag, kann Ref. nicht zweifeln, wie 
dies auch zu Herodotus V, 58 pag. 93 aufs entschiedenste 
gesprochen hat. 

Aber auch die anderen Erfindungen, welche die Sage dem 
Palamedes beilegt, indem sie ihm Alles das zuschreibt, was zum 
menschlichen Leben nützlich und not h wendig ist, führt der Vf. 
nach den Zeugnissen der Alten an, und zeigt, wie deshalb schon 
im Alterthum Palamedes als ein Muster von Weisheit und Klug, 
heit gepriesen wird. Aus dem Allem ergiebt sich ihm das Re- 
sultat (S. 29), dafs dieser Mythus durchaus kein lokaler eines 
bestimmten Ortes oder Volksstammes gewesen, sondern vielmehr 
als eine reine Fiction der Dichter zu dichterischen Zwecken zu 



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Jahn, Lachmaon and Muller. 459 

betrachten sey. Wir mochten auch noch ein historisches Element, 
oder, wenn man will, selbst eine historische Grundlage hinzufü- 
gen, da wir diesen Mythus so wenig wie der Verf. für einen 
physischen halten und darum die von Manchen versuchte Ablei- 
tung des Nameos Pal am ed es von äXq, alioz , um in dem gan- 
zen Mythus eine Beziehung auf Meer und Meeresgeister zu fin- 
den , nicht billigen können. Weit näher liegt doch die Ableitung 
Ton naXdpn , für die sich auch unser Vf. mit Becht entscheidet. 

Die ron S. 3i angehenden Noten enthalten ausfuhrliche Be- 
lege und Nachweisungen über das im Text Berührte, sowie ein- 
zelne weitere Erörterungen des dort blos im Allgemeinen An- 
gedeuteten. 

Die spartanische Staat »verfaesung in ihrer Entwicklung und ihrem 
Verfalle, von Karl Heinrich Lachmann. Mit einer Einleitung 
über die Anfänge der griechischen Geschichte, und einer Bei- 
lage über die Epochen de» Eratosthene» und Apollodorot, von der Zer- 
störung Troja's bis zur ersten Olympiade, Breslau, in Commission bei 
Graft , Barth u. Comp. 1836. Fi und 824 Ä. in gr 8. 

Wenn wir uns bei dieser Schrift, die sich gleichfalls mit 
Erforschung der älteren Zustände, zunächst der politischen Grie- 
chenlands, beschäftigt, und dabei Manches berührt, was in der 
Schrift von Uschold bereits zur Sprache gekommen , kürzer fas- 
sen und dem Verfasser nicht in das Detail seiner Entwicklungen 
über die spartanischen Staatsalterthuroer folgen, indem wir dies 
lieber Andern uberlassen wollen, so soll daraus kein ungunstiges 
Vorurtbeil gegen den Verfasser oder gegen seine Schrift abgelei- 
tet werden, die gewifs als ein Werk gründlicher Forschung und 
fleifsigeo , sorgfältigen Quellenstudiums gerechte Anerkennung 
▼erdient und selbst durch die im Ganzen umsichtige Behandlung 
so dunkler und schwieriger Gegenstände sich empfiehlt ; obwohl 
auch hier Bef. nach seinem Standpunkt mit vielen Behauptungen, 
wie sie diese Schrift enthält, sich durchaus nicht befreunden kann. 
Dies kann auch hier gleich von der Einleitung gelten, welche 
die auf dem Titel angekündigte Untersuchung über die Anfänge 
der griechischen Geschichte enthält (S. 1—67) und in ihren bei- 
den ersten Abschnitten sich über die ältesten Cultus Verbindungen 
in Griechenland verbreitet. Denn die ältere Geschichte Griechen- 
lands ist an die Ausbreitung des Cultus innig geknüpft und aus 
ihr hauptsächlich zu entnehmen. Der Geschichtsforscher wird 
daher genöthigt seyn, auf die ältesten religiösen Vorstellungen 



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Schriften von Utchold, Nituch, 



der einzelnen Stämme , die Verehrung ihrer Gottheiten , auf die 
bildlichen Darstellungen derselben , ihren Cultus und selbst ihre 
Namen zurückzugehen , um darin die Fäden zu entdecken , die 
ihn in dem Labyrinth der Erzählungen von der Abkunft der ein- 
zelnen Stämme und ihrer Fuhrer, die hier stets an den Cultus 
der Stamme selber angeknüpft ist, sowie in den Erzählungen von 
ihren Wanderungen , ihren Wohnsitzen u. s. w. leiten sollen. 
Hier müssen wir nun gleich bemerken , dafs Herr Lachmann im 
Ganzen einem ähnlichen Systeme, wie Herr Uschold , obwohl, 
wie wir aus mebrern Stellen ersehen , mit weniger Entschiedenheit 
und grofserer Vorsicht, die wir freilich hier am wenigsten tadeln 
wollen, folgt. Er glaubt neralich durch die am Anfange seiner 
Schrift über das älteste Religionssystem der Griechen und dessen 
Entwicklung gegebenen Andeutungen die Überzeugung gerecht- 
fertigt zu haben, dafs in diesem Religionssystem, soweit wir 
es kennen, schwerlich hinreichende innere Grunde zu der un- 
mittelbaren Ableitung aus dem Orient liegen konnten. Er 
bemerkt dann weiter, dafs es nur die Namen gewesen, welche 
Herodot von Ägypten herleite , Namen , die kein hellenisches Ge- 
präge tragen und meist auf alt-pelasgische Wortstämme zurück- 
zuführen seyen. Dies kann nun freilich Ref. nicht zugeben, da 
Herodotus an Stellen, wie II, 49* 5o. 5i. 58. u. a. , doch von 
mehr als von blofsen Namen spricht , und wirkliche Gegenstände 
des Cultus auf Ägypten zurückführt. Und wenn der Verf. als 
das Resultat seiner Forschung das Ergebnifs betrachtet, dafs es 
die allgemein zeugende und die gebärende Kraft gewesen , die 
allen späteren Zeugungen und Theogonien der Griechen zu Grunde 
gelegen, so ist dies eine so orientalische Idee, die in den ver- 
schiedenen Culten der Volker Asiens uberall uns entgegen tritt, 
dafs gerade hierin ein innerer Beweis, auch abgesehen von 
äusseren Spuren und Verbindungen für die Ableitung aus dem 
Orient zu liegen scheint. Und diese Ansicht findet selbst einen 
äusseren Beleg in den ältesten Kunstbestrebungen und in den sinn- 
bildlichen Darstellungen der hellenischen Gotter bis in die späte- 
ren Zeiten der blühenden Kunst herab. Diese Seite hat freilich 
der Verf. , der sich überhaupt mehr auf kürzere Andeutungen 
beschränkt bat, nicht berücksichtigt; wir glauben, sie ist bei 
solchen geschichtlich - mythologischen Untersuchungen nicht aus- 
ser Acht zu lassen, da sie uns mit grofserer Sicherheit leiten kann, 
als die oft mangelhaften und widersprechenden Angaben späterer 
Schriftsteller, einen Pausanias oder Strabo etwa ausgenommen, 



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Jahn, Lachmann und Müller. 



4(Jl 



um von einem Herodotus oder Thucydides nicht zu reden , deren 
Nachrichten gerade von der archäologischen Forschung ein oft 
überraschendes Licht erhalten. 

Besonderen Werth legt der Verf. auf die Nachrichten über 
Dodona, und über den Zusammenhang der Hellenen mit dem 
dodonäischen Orakel, da er dieses Hciligthum als den Punlit be- 
trachtet, von dem wenigstens ein Thcil der neuen Bevölkerung, 
welche Griechenland durch die hellenischen Stämme erhalten, 
ausgegangen sey (S. 14). Wir verbinden damit die Stelle S. 24 
ond 25, wo der Vf. unumwunden seine Ansicht dahin ausspricht: 
» Wenn es uns wahrscheinlich scheint , dafs Griechenland und Ita- 
lien seine Bewohner nicht von Osten, sondern von Nordwest er- 
halten hatte, so müssen wir annehmen, dafs diese ihre Sitze frü- 
her jenseits der Alpen gehabt hatten, wohin sie auf der grofsen 
Heerstrafse der europäischen Volker, im Norden des schwarzen 
Meeres, gelangt waren. Die letzten Nachwanderungen desselben 
grofsen Stamms durften die der Etrusker in Italien, in Griechen- 
land die der Hellenen gewesen seyn. Bei diesen nun, scheint es, 
hatte , durch besondere Verhältnisse unterstutzt , die religiöse 
Cultur, schon als sie den griechischen Boden betraten, den Punkt 
erreicht, zu welchem die Pelasger erst in Kreta gelangten. Es 
mufste daher ein Gegensatz entstehen, zwischen ihr und der frü- 
heren Religion, ein Gegensatz, der indefs erst mit dem Erschei- 
nen des letzten Stammes, der Dorier, vollständig wurde. Durch 
dieses Dazwischentreten der heroischen Mythologie wurde die 
Entwicklung der alten Religion gehemmt, sie mufste sich tiefer 
in das Geheimnifs zurückziehen, wenn sie nicht gänzlich von der 
neuen V ol ks religion verdrängt werden sollte, und sich fester 
von ihr abschliefsen , um ihre Heiligkeit auch ferner zu bewahren.« 

Kreta bildet nach dem Verf. die Verbindung zwischen der 
hellenischen Mythologie und der pelasgiscben Religion ; ja er gibt 
dieser Insel dieselbe Bedeutung auch als Vermittlerin mit dem 
Orient, in welcher Gestalt Kreta besonders in der Sage von Kad- 
mos , dem Phonicier, erscheine. Aber weder Kadmos noch Eu- 
ropa stammt nach dem Verf. aus Phönicien; diese läfst er durch 
die Minyer nach Kreta gebracht werden, wo sie mit dem altern 
einheimischen Gotte auf gleiche Weise vermählt werden, wie 
Kadmilos mit der Harmonia in Saroothrake. Doch lesen wir 
gleich darauf S. 3o die merkwürdigen Worte : » Die Verknüpfung 
der Sage mit Phönicien aber mufs nothwendig ihren Grund in 
den wirklichen äusseren Verbindungen Kreta s mit diesem Lande 



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Schriften von Utchold, Nitzich, 



gehabt haben, von welchen es auch in dem Alterthum Kunde 
gab und welche durch die Lage der Insel hinlänglich erklärt 
werden.« So soll denn diese (minyeische) Europa mit der pbo- 
nicischen Astarte verwechselt worden seyn, und so erscheine 
Nichts naturlicher, als dafs sie Phonicien zur Heimath erhalten 
und dafs die spätere Fabel von ihrer Entfuhrung aus Sidon sich 
gebildet Wir finden es weit naturlicher, statt dieser kunstlichen 
Proceduren den historischen Weg zu verfolgen, der uns hier 
auf den Orient, auf Phonicien zunächst hinfuhrt, und von dort 
her nach dem nahen Kreta , wie nach dem eigentlichen Griechen- 
land ebensogut phonicische Handelsleute und Niederlassungen, 
als phonicische Religionsideen und die Keime einer Civilisation, 
die mit dem Cultus und, wenn man will, selbst mit dem Handel 
zusammenhing , abzuleiten. Da auf diese Weise dem Verf. Kad- 
mos ein rein griechischer Religionsbegriff und eine rein griechi- 
sche Gottheit wird, so werden denn auch die Kadmeer in Theben 
von den Encbeleern in Illyrien an den Alu oheraunen unweit Do- 
dona hergeleitet, als dem äussersten Punkte, von wo der weit 
verbreitete Cultus des Kadmos den hellenischen Boden betrat. 
Da der Vf. fremde Colonien verwirft und zugleich Dodona, wie 
wir gesehen, als den Punkt betrachtet, von dem die hellenische 
Bevölkerung Griechenlands ausgegangen , so mufste er wohl auch 
mit den Kadmeern dahin gelangen, um sein System zu erhalten, 
und so die verschiedenartigen Nachrichten in ein wohlzusammen- 
hängendes Ganze zu vereinigen , was Ref. als eine Unmöglichkeit 
betrachtet ; wie er denn alle die Versuche neuerer Zeit, in diese 
Wirren durch scharfsinnige Combinationen u. s. w. ein System zu 
bringen, aus dem Grunde nicht für gelungen halten kann, weil 
einem jeden solchen System, bei gleichem Scharfsinn und glei- 
cher Combinationsgabe auch das entgegengesetzte wird gegen- 
über gehalten werden können , indem die sichere historische 
Grundlage fehlt und bei dem Widerspruche der auf uns gekom- 
menen Nachrichten , wo denn die eine Nachriebt da , wo sie in 
das System pafst, angenommen, in allen andern Fällen aber ver- 
worfen wird, die innere Notwendigkeit, die jedes System haben 
soll , durchaus abgeht. 

Ein dritter Abschnitt der Einleitung bespricht die Wande- 
rungen der griechischen Stämme, der jonischen und der achäi- 
schen, sowie die Abkunft derselben. Hier werden nun die Mi- 
nyer , im Widerspruch mit dem Zeugnifs des Herodotus, mit den 
attischen Joniern in Verwandtschaft gebracht und ihnen entgegen- 



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Jahn, Lachmann und Müller. 



403 



gestellt die Achäer, als das im Peloponnes zur Zeit des troischen 
Krieges herrschende Volk ; wie den Joniern der Poseidonscult 
eigen, so den Achäcrn der Apollo, der aber allerdings verschie- 
den sey von dem Apollo, den auch die Jonier von der ältesten 
Zeit her gehabt, der als Sohn des Hephästos noch völlig als das 
pelasgische Sonnensymbol sich zeige und zu Athen als Apollo 
itaTpeo« anter die ältesten einheimischen Gotter trete. Ref. ist 
weit entfernt, diese Verschiedenheit des Apollo in Zweifel zu 
ziehen, da er selbst früher auf diesen doppelten Apollo hinge- 
wiesen bat , nur mit dem Unterschied , dafs der ältere , Tom Vf. 
als pelasgisches Sonnensjmbol erkannte Apollo, ihm zwar 
gleichfalls Sonnengott , aber eine ägyptische Gottheit (Horus) ist, 
an deren Stelle gewissermafsen oder auch mit diesem fremden 
Gotte vermischt, später der dorische Apollo trat. S. die nähere 
Ausfuhrung in meiner Abhandlung De Apolline Patricio etc. (Hei- 
delberg 1820) pag. 16 ff. 

Wir übergehen Anderes, um noch Einiges über die Behand- 
lang der Pelopidensage p. 48 ff. zu bemerken. Der Verf. nera- 
lich tritt in der Frage nach der geschichtlichen Bedeutung der 
Sage vom trojanischen Kriege ganz der oben erwähnten Meinung 
Ton Volker bei, welche dieselbe auf die Züge und Niederlassun- 
gen der Äolier an der kleinasiatischen Küste bezieht; die troisebe 
Sage and die Pelopidensage erscheint ihm daher ursprünglich 
völlig getrennt and erst spater in eine Verbindung mit jener ge- 
bracht. An den troischen Küsten (so hätten wir uns nach dem 
Verf. die Sache vorzustellen) seyen Niederlassungen tyrrhenischer 
Pelasger gewesen, eines minyeischen Stammes, der aus Bootien 
vertrieben, über Attika, nach Lemnos und Samothrace gezogen; 
von Samothrace aus aber stamme das Haus des Dardanos, gegen 
welches der Zug statt gefunden; gegen diese Dardaner-Tyrrhener 
sey der Kampf der Aoler , die sich von Lesbos aus über die troi- 
sehe Küste verbreitet , gerichtet gewesen , und in ihm habe dem- 
nach die Sage von Ilion die äussere Veranlassung erhalten. Dies 
soll also Grund und Veranlassung der Homerischen Dichtung 
seyn ! Ref. kann sich mit dieser Ansicht nimmermehr befreun- 
den, so wenig wie mit der andern, welche statt der hol i sehen 
Züge nur die eines andern Stammes, der Myrroidonen, setzen 
möchte ; das ganze Wesen der Homerischen Dichtung , die hohe 
Bedeutung und das Ansehen derselben wird ihm dann unbegreif- 
lich, so vieler andern Punkte nicht zu gedenken, welche mit die- 
ser Ansicht auch nach den Zeugnissen der Alten und nach dem 



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404 Schriften ran Ugchold , Nitxcch, Jahn, Lachroann o. Malier. 

Inhalte jener Poesie in entschied enem Widerspruch stehen. Wie 
hätte ein solches vereinzeltes Unternehmen eines einzelnen, un- 
bedeutenden Stammes, ein Wanderungszug, deren in der älteren 
Geschichte Griechenlands so viele vorkommen , ein solches An- 
sehen in der Sage wie in der Geschichte erhalten , und von einem 
Homerus auf eine solche Weise , wie er es gethan hat , darge- 
stellt werden können ? Dies sind Gedanken, die sich wohl Jedem 
aufdrängen, der die Homerischen Gedichte, sowie die späteren 
Historiker, unbefangen, ohne irgend eine vorgefafste Meinung, 
gelesen hat Warum will man diese, besondern Ansichten oder 
Systemen zu Gefallen , abweisen und durchaus neue Ansichten 
aufstellen , die weder mit dem Inhalt und Charakter der Gedichte 
selbst, noch mit den äusseren Zeugnissen in Übereinstimmung sind? 

Übrigens betrachtet der Verf. den Homer als einen Jonier; 
die Zeit der Entstehung der Homerischen Gedichte glaubt er in 
die Zeit des Hampfes zwischen einem nach politischer Bedeutung 
strebenden Demos und einem in den alten Erinnerungen noch 
mächtigen Adel verlegen zu müssen (S. 107). 

Nach dieser Einleitung folgt in fünfzehn Abschnitten eine 
geschichtliche Darstellung der spartanischen Staatsverfassung , und 
zwar von ihren ersten Anfangen mit der Gründung eines dori- 
schen Staats im Peloponnes an bis zu der von den Honigen Agis 
und Hleomenes versuchten Umwälzung und deren Folgen. Ref., 
die Prüfung des Einzelnen, wie er schon oben bemerkt, Andern 
uberlassend, begnügt sich mit einigen Andeutungen über die lei- 
tenden Ideen des Vfs. und den Gang, den er befolgt hat, ohne 
in weitere Einwurfe, die er bei mehr als einem Orte zu machen 
hätte, einzugehen, da nämlich, wo das Streben, in diese dunkeln 
und verwickelten Verhältnisse, über welche wir von den Alten 
durchaus nicht vollständig unterrichtet sind , über welche die 
Alten selbst zum Theil schwankten, ein befriedigendes Licht zu 
bringen und Alles in ein wohlgeordnetes System zu setzen , den 
Verf. zu Behauptungen verleitet bat, die wir wenigstens nicht 
zu unterschreiben wagen würden. 

(Der Betchlufi folgt.) 



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4 

N°. 30. HEIDELBERGER i837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Schriften von Uschold, Nitesch, Ja/in, Lackmann u. Müller. 

( B e t chl u/s.) 

Die älteste Bevölkerung der Landschaft Lakonien bildeten 
nach dem Verf. Minyer ; an ihre Stelle traten dann die Achäer, 
deren Fürsten — die Pelopiden — erst wenige Menschenalter 
yor der dorischen Wanderung das Land besetzt , dessen Hauptort 
das schon Ton den Minyern gegründete Amyklä war, von wo am 
auch später Sparta gegründet worden; der Hülfe eben dieser 
unterworfenen Mimyer verdankten , wie der Vf. glaubt , die ein- 
gedrungenen Dorer — ursprünglich nicht drei, sondern zwei 
Stämme, die sich in Histiäotis zu Einem Volke verbanden, die 
Dymanen und Hylleer — den schnellen Sieg über die Achäer 
und diese Minyer bildeten dann auch den Hauptbestandteil der 
dritten neu errichteten Phyle, der Pamphylen, zu der auch 
die Ägiden gehörten. Der Verf., von den Wanderungen der 
Dorer berichtend, nimmt, wie billig, dazu als Grundlage Hero- 
dots Stelle I, 56. (allerdings eine der schwierigsten des ganzen 
Buchs); aber er verwirft Einzelnes, während er Anderes daraus 
annimmt, ohne zu bedenken, dafs mit allgemeinen Urtheilssprü- 
eben von der Sorglosigkeit der Logographen , die verschiedene 
Sagen ohne Bücksicht auf ihren Ursprung verbunden , hier wenig 
ausgerichtet wird, und dafs keineswegs Herodotus einer der sorg- 
losen Logographen war, die sich blos begnügt, das Tradirte auf- 
zuschreiben, so gut es gehe, ohne alle weitere Prüfung. Im 
Gegentheil, Herodots Verfahren bildet den entschiedensten Ge- 
gensatz zu solchen Logographen , wie Ref. bereits an einem an- 
dern Orte (T. IV. p. 4oa seq. seiner Ausgabe und die dort an- 
geführten Stellen) nachgewiesen hat. Es ist gewifs zu beklagen, 
wenn so Manche , die in unsern Tagen es versucht haben , irgend 
ein System über die alte Geschichte, Staatsverfassung und My- 
thologie der Griechen aufzustellen, mit Herodotus in einen Wi- 
derspruch kommen, der nicht gerade geeignet ist, für ein System 
zu gewinnen, das durch den ältesten geschichtlichen Zeugen ver- 
worfen wird. 

In dem nächsten siebenten Abschnitt werden insbesondere 
auch die ursprünglichen Verhältnisse der Perioken und der 
XXX. Jahrg. 5. Heft. 30 



i 



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464> Schriften von Uschold, NUxvch, 

Heloten besprochen; in letztern erkennt der Veri. die Bewoh- 
ner des sumpfigen Ufers des Eurotas im Gegensatz zu den hoch- 
liegenden Städtebewohnern ; er leitet den Namen derselben ab 
von Vkoc>y das im Allgemeinen jede wasserreiche Ebene bedeutet; 
es wurden bei der Besetzung des Landes durch die Dorer die 
Heloten zu zinspflichtigen , aber noch nicht leibeigenen Bauern, 
indem einem jeden Spartaner eine Anzahl dieser Grundbesitzer 
zugewiesen , die ihm die Hälfte des Ertrags zu zinsen hatten. 
So denkt sich der Verf., nach der Analogie der messenischen 
Helotie, dieses Yerhältnifs (S. ii5), das erst später in Folge 
wiederholter Autstande dieser Heloten sich verändert <j und in 
eine völlige Unterdrückung derselben sich umgestaltete, so dafs 
die bisher freien , zinspflichtigen Bauern nun leibeigen wurden 
und ihr Loos , ihre Behandlung in jeder Hinsicht sehr hart war, 
härter als das Loos der Sclaven in den übrigen griechischen 
Städten, zumal in den Fabrik- oder Handelsstädten vgl. S. 149. 
i5o: eine Ansicht, die den Verf. in einen Widerspruch bringt 
mit O. Müller u. A., die dieses Verhältnis als ein weit milderes 
darzustellen versucht haben. 

Mit dem echten Abschnitt S. 117 treten wir in eine Unter- 
suchung über die Bedeutung und die staatsrechtliche Geltung der 
Namen Spartiaten und Lacedämonier. Nach dem Vf. wäre 
Lakedämon als allgemeiner Volksname der ofßcielle der spartani- 
schen Regierung gewesen , wo sie als Macht , als Staat in den 
Verhältnissen und Beziehungen zum Ausland auftrete; der Aus« 
druck Spartiaten wäre eine Standesbezeichnung, unter der die 
Tornehmen Bewohner der Stadt im engern Sinne ZU verstehen, 
d. h. die Bewohner der eigentlichen Altstadt, der in der Mitte 
gelegenen Akropole, um welche herum in den zugetheilten Di- 
strikten oder, wenn man will, Vorstädten: Pitana, Messra , Kvno- 
syra, Limne Lakeda monier (?) gewohnt, so dafs dann die 
Spartiaten gleichbedeutend werden mit den Hornsen , als dem 
spartanischen Geburtsadel (?). Ohne auf den letzteren Punkt uns 
einzulassen , da wir über die Homöen auf C. Hermanns Schritt 
verweisen können, bemerken wir nur, dafs mit diesen Unterschie- 
den über die Benennung Lakedämonier und Spartiaten , sowie mit 
der vom Verf., im Gegensatz zu Varkenaer u. A. aufgestellten 
Behauptung, dafs unter jenem Namen die Perioken, in besonderem 
Unterschiede von den Spartanern, keineswegs verstanden würden, 
eine Anzahl Stellen des Herodotus in völligem Widerspruch steht. 
Der Vf. scheint dies auch gefühlt zu haben; aber seiae Bebaup- 



Jahn, Lachmann und Miillrr 



467 



tung, dafs Herodot, weil er in -liesen Benennungen nicht so sorg- 
fältig (wie spatere Schriftsteller) unterschieden, »für uns in die- 
ser Hinsicht alles Ansehens ermangele«, hann uns nur 
als eines ?on den gewöhnlichen Auskunftsraitteln erscheinen , An- 
sichten der Alten, Stellen, die sich mit unsern Sätzen, mit un- 
«erm System nicht vereinigen lassen , auf eine leichte Manier zu 
beseitigen. Denn an andern Orten wird wieder auf denselben 
Schriftsteller, der hier alles Ansehens ermangeln soll, Alles ge- 
baut. So heifst es Herodot IX, 53 von den Gräbern, in welche 
die zu Plataa Gefallenen beerdigt wurden: Act* t d a ipövio t. 
(entgegengesetzt den andern, nachher genannten einzelnen Völ- 
kern, die ebenfalls ihre Gefallenen in eigenen Gräbern bestatteten) 
f»ir Tfi&q inotnoavTo ; in das erste Grab harnen die 

l^ivtq (i. e. oi a eX ov%t<i), in das zweite oi <*Uo» Sna^-r^xa*, 
in das dritte die Heloten. Hier werden doch wohl die Periöfcen 
im zweiten Grabe gewesen seyn, gerechnet demnach unter die 
Xna^Ttr-Tui. So kommt Aaxc£ai uö>ioi und Dna^tu'iTat ohne 
betondern Unterschied IX, 33. 35. 36. vor; oder VIII, fl. 3. n4, 
wo (wie VIII, 2) zuerst ZnapTt^TOu steht und dann in der feier- 
lichen Anrede Aaxt<?aiu<mot : Beweises genug, dafs, wenn das 
letztere auch die feierliche, olHcielle Standesbezeichnung gewe- 
sen, doch im Sprachgebrauche Znaoxiijxai. nicht selten ganz in 
gleichem Sinn genommen wurde. So findet sich VIII, 141 zu- 
erst Aaxcdatpörtot und dann oi ano ^ndoxr^ 9 so VIII, 124 
zuerst AascdMipdfiOft und dann ZnapxtriTai , dagegen umgehehrt 
IX, 64 zuerst ^naoxif t xai und IX, 65 zu Anfang Aaxcdcuu.öytoi. 
Ref. beschränkt sich auf diese nur aus den beiden letzten Buchern 
des Herodotus entnommenen Belege , die sich mit leichter Muhe 
wohl noch vervielfältigen liefsen, auch wenn man in andern Au- 
toren sich umsehen wollte. Die Folge davon wurde den hinrei- 
chenden Beweis liefern, dafs diese Benennungen sich nicht so 
scharf abgränzen lassen, sondern im Sprachgebrauch verwechselt 
oder vielmehr , ohne Beachtung des ursprünglichen Unterschie- 
des, gebraucht und selbst in staatsrechtlichen Verhältnissen so 
angewendet worden sind. Wenn Sparta die ursprungliche Be- 
nennung der dorischen Niederlassung war, welcher die ganze 
Landschaft unterworfen war, so kann es nicht befremden, wenn 
der Name der Landschaft allgemeiner gefafst , auch die regieren- 
den Herren derselben in sich begriff , oder der Name der letz- 
teren hinwiederum auch von dem ganzen Lande im Allgemeinen 
gebraucht wurde. 



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Schriften von Uichoid, NiUech , 



Ober die beiden Königshäuser und deren Ursprung verbreitet 
sich der neunte Abschnitt S. i34 ff., wo der Verf. diese beiden 
königlichen Familien mit den beiden oben erwähnten Stämmen in 
Verbindung bringt , so dafs die Familie der Eurystheniden dem 
Stamme der Hylleer, die der Prohliden dem Stamme der Dyma- 
nen angehöre. Daran knüpft sich Anderes über die Dioskuren 
und über die Verbältnisse der Dorier zu dem neuen Demos bis 
Lykurg u. s. w. Dafs freilich Manches hier sehr problematisch 
ist, wird sich der Verf. selbst nicht verhehlen wollen, der mit 
dem nächsten , zehnten Abschnitt zu einer Schilderung der Ly- 
kurgischen Gesetzgebung ubergeht, S. i5i ff. Als Zweck der 
Staatseinrichtungen, welche die Tradition dem Lykurg zuschreibt, 
stellt der Verf. voran : die Vereinigung des Volkes und des Adels 
zu einem gemeinschaftlichen Staatsbürgerthuro, während Ref. in 
ihm nur den Wiederhersteller der alten dorischen Stammsitte, 
die selbst durch neue Zusätze in ihrer ganzen Schroffheit und 
Abgeschlossenheit erhalten werden sollte, erkennen kann. Wir 
wollen und können hier nicht weiter in das Einzelne eingehen; 
es mag genügen, den verschiedenen Standpunkt angedeutet zu 
haben, der freilich auch zu verschiedenen Folgerungen fuhrt, wie 
dies aus der weiteren Darstellung des Verfs. ersichtlich ist , der, 
wie uns scheint, ein viel zu complicirtes Gebäude einer sparta- 
nisch-aristokratischen Regierungsform hier aufgestellt hat, und 
z. B. in der Ixxknaia (im Gegensatz zur a\l* 9 der eigentlichen 
Volksversammlung, mit unbedeutenden politischen Rechten) eine 
Versammlung von Beamten erkennen will, in deren Hände die 
Berathschlagung über alle Gegenstände der ausübenden Gewalt 
gelegt war, die die Gerusia so gut wie die Ephoren in sich be- 
fafste, und somit die spartanische Regierung im eigentlichen Sinne 
des Wortes, also eine rein aristokratische, gewesen. Ref. kann 
sich mit diesen und ähnlichen Behauptungen nicht befreunden 
und hält sich im Ganzen lieber an die Darstellung, wie sie C. 
Hertmann in den Griechischen Staatsaltertbümern gegeben hat 
Er bemerkt nur noch, dafs der Verf. im vierzehnten Abschnitt 
die spartanische Verfassung mit der römischen, sowie selbst mit 
der ottischen in ihrer früheren Entwicklung bis Klisthenes ver- 
gleicht, und im fünfzehnten die Verhältnisse der beiden Haupt- 
Staaten Griechenlands, Athens und Spartas, zur Zeit der Perser- 
kriege, sowie den Einflufs des peloponnesischen Kriegs auf die 
inneren Verhältnisse Spartas bespricht; er sucht dabei auch die 
Ursachen des inneren Verfalls zu entwickeln, bis auf Agis und 



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Jahn, Lachmann und Müller. 469 

Kleotnenes herab , und deren Versuch , die alte Verfassung Ly- 
kurgs unter ganz veränderten Verhältnissen wiederherzustellen. 

Die in der Beilage am Schlufs des Ganzen geführte Unter, 
suchung über die Epochen des Eratosthenes und Apollodorus von 
der Zerstörung Troja's bis zu der ersten Olympiade würde, wenn 
sie in dem Grade sicher ist, wie der Verf. solches glaubt, zu 
einem sehr niederschlagenden Resultat führen und in die Systeme 
der griechischen Chronologie uns wenig Vertrauen setzen lassen. 
Der Verf. nemlich glaubt (S. 3a3) erwiesen zu haben, »dafs die 
chronologischen Angaben über die spartanischen Konige, die Er- 
eignisse der spartanischen Geschichte und die athenischen Ar. 
chonten , bis zu der ersten aufgezeichneten Olympiade und noch 
geraume Zeit über diesen Zeitpunkt hinaus, durchaus erdichtet 
sind. Da nach diesen Angaben die übrigen berechnet sind, so 
überlassen wir es dem Leser, zu beurtheilen , auf welchem Grunde 
das künstliche Gebäude der griechischen Chronologie vor jenem 
Zeitpunkte überhaupt ruhe.« So würde auf jenen Alexandrinern 
der Vorwurf lasten , durch willkührliche Ansätze ein System der 
Chronologie in Umlauf gebracht zu haben , das auf reinen Fictio- 
nen beruht! So Etwas zu glauben fällt allerdings schwer. 

Zum Schlüsse nennen wir noch eine Schrift, die sieh auf die 
attischen Alterthümer bezieht und durch die Art und Weise, wie 
der Gegenstand darin behandelt ist, gewifs alle Aufmerksamkeit 
▼erdient : 

Panathenaiea. Auctore Herrn. Alex. Mueller, phil Dr. Bonnae, im- 
pensis librariorum Koenig et van Borcharen. UDCCCXXXFll TO S. 
in gr. 8. 

Ref. mufs vor Allem hier auf den Satz aufmerksam machen, 
den der Verf. mit vollem Recht an die Spitze seiner verdienst- 
lichen Arbeit gestellt hat, einen Satz, der selbst in neuer, neue, 
ster Zeit übersehen, darum nicht genug wiederholt werden kann: 
dafs nemlicb unsere Forschungen über die Religionen Griechen- 
lands, sowie über Alles das, was man mit dem gewöhnlichen Na- 
men der Antiquitäten belegt, erfolglos bleiben, wenigstens 
zu keinem befriedigenden Resultate führen können, wenn man 
•ich blos an die schriftlichen — oft auch unvollständigen oder 
sich widersprechenden — Quellen hält, diese sammelt und ordnet, 
dagegen die Denkmale der Kunst nach ihren verschiedenen Zwei- 
gen, unter denen einige (wie z. B. die Vasen) so reich an bild- 
lichen Darstellungen dea hellenischen Lebens sind, durchaus un. 



» 



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410 Schriften von Uacliold, NiUsch, Jahn, Lachmann u. Müller. 

berücksichtigt lassen will. Wenn früher dies nicht wohl möglich 
war, so lange diese Denkmale der Kunst entweder gar nicht ent- 
deckt oder doch nur höchst Wenigen zugänglich waren, so kann 
doch jetzt eine solche Entschuldigung nicht mehr vorgebracht 
werden. Um so auffallender mufs es aber seyn , wenn Gelehrte 
in unsern Tagen einer solchen Anforderung sich entziehen oder 
sie gar als unstatthaft abweisen wollen ! Wir müssen daher dop- 
pelt wünschen, dafs dies ?on dem Vf. so dringend anempfohlene 
Studium der Werke der alten Kunst bei jeder solchen Untersu- 
chung sorgfältig beachtet werde, zumal da er selbst in dieser 
Monographie über das Fest der Panathenäen gezeigt hat, wie 
sehr der Gegenstand durch die stete Riicksichtsnabme auf die 
bildlichen Denkmale des Alterthums gewonnen hat Dafs übrigens 
die schriftlichen Quellen — die Nachrichten der Alten — nicht 
ubersehen sind, bedarf wohl kaum einer besonderen Erinnerung; 
sie waren auch theil weise schon von Andern gesammelt, so dafs 
das Verdienst des Vis. besonders in der geschickten Behandlungs- 
weise des Gegenstandes und in der bisher durchaus vernachläs- 
sigten nachsieht auf roannichfache Beste der alten Kunst, auf die 
herrlichen Vasen mit ihren Darstellungen u. s. w. besteht. Wir 
verweisen in dieser Hinsicht namentlich auf Cap. VII. p. 63 ff. 
über die Panathenäischen Vasen. Indessen sind auch die andern 
Theile in einer gleich befriedigenden Weise behandelt , indem 
der Verf. ausfuhrlich Entstehung und Veranlassung des Festes 
bespricht und über die grofsen und kleinen Panathenäen und de- 
ren Unterschied, über die einzelnen Tage der Feier und die Zeit 
der Feier selbst, über die dabei stattfindenden Gebräuche und 
Festlichkeiten u. s. w., auch insbesondere über den Fakellauf u. a. 
sich verbreitet , wobei nicht leicht etwas auf diesen Gegenstand 
Bezügliche übergangen ist. Der Verf. zeigt eine umfassende 
Kennlnifs der Archäologie , die auf gründliche philologische Stu- 
dien basirt, nicht wenige Punkte in einem ganz neuen Lichte 
dargestellt hat, und uns zugleich zu den besten Erwartungen 
von den weiteren Studien des Verfs. berechtigt. 

Chr. B ä h r. 



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Gemälde der Schweis von Meyer , Hagnauer. 411 

Historisch- geograpisch- statistische» Gemälde der Schweiz. Stet Heft. Der 
Canton Schvyz Von Gerold Meyer von Knonau. St. Gallen u 
Bern , 1835. Huber u. Comp. XU u. 335 £ — 18<e« Heft. Der Can- 
ton Tessin. Von Stefano Franscini. A'ocA der it alten. Handschrift 
von Q. Hagnauer. Ebd. 1835. Xlt u. 436 V (Jedes Bändchen mit 
einem Nebentitel: Der Canton — , historisch» geographisch» statistisch 
geschildert) 

Der Unterzeichnete hat an einer früheren Stelle dieser Jahr- 
bucher (i835. p. 436 flF.) das erste Heft dieser Sammlung, das 
Gemälde des Cantons Zürich von G. Meyer von Knonau, mit 
gebührendem Lobe angezeigt, and freut sich, das verdienstliche 
Unternehmen unter den Federn vorzüglicher Manner fortrucken 
zu sehen. Die beiden Verf. der genannten Bände sind durch 
frühere Arbeiten als grundliche Statistiker so vorteilhaft be- 
kannt, dafs man von ihren Schilderungen der zwei, bisher sehr 
wenig bekannten Cantone die besten Erwartungen hegen durfte. 
Diese sind auch, soweit die Hulfsmittel der Verf. reichten, in 
der That erfüllt worden, allein es liegt in dem Wesen statisti- 
scher Werke, dafs der Einzelne immer von den Vorarbeiten 
Anderer abhängt , und wo weder von Privatpersonen noch von 
Beamten auf das zweckmäfsige Sammeln von Nachrichten Bedacht 
genommen wird, da müssen bei dem ersten Versuche, das Ganze 
eines Staates zu schildern, Lücken bleiben, die erst später durch 
mehrseitiges Zusammenwirken ausgefüllt werden können. 

Dafs hier nicht blos das eigentlich Statistische dargestellt 
werden soll, ist schon aus dem Titel abzunehmen. Ausser den 
Umständen, die sich auf Volks- und Staatsleben beziehen und da- 
her auf das Wohl und Wehe der Einwohner irgendwie Einflufs 
äussern , sind manche andere geschichtliche und geographische 
Merkwürdigkeiten aufgenommen worden , um die Gesammtheit 
dessen mitzutheilen , was der Fremde wie der Inländer über ei- 
nen Canton zu wissen begehren kann. Doch hat der gröfste Theü . 
des Inhaltes auch statistisches Interesse. — Franscini spricht 
von seinem Vaterlande (er ist Staatsschreiber zu Bellinzona), 
Meyer v. Knonau giebt die Früchte wiederholter Wanderungen 
und konnte zahlreiche Mittheilungen unterrichteter Bewohner des 
Cantons Schwyz benutzen , unter denen er vorzüglich einen hi- 
storisch -topographischen Aufsatz des Pfarrers Schibig erwähnt. 
Die Angaben sind daher mit aller Sorgfalt bearbeitet und der 
Leser erhält überall den Eindruck der genauen Kenntnifs und 
Gewissenhaftigkeit der Verf. Letztere drückt sich auch darin 



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472 Gemälde der Schweis 



aus, dafs sie das Nichtbekannte nicht willkührlich ergänzen and 
da, wo Franscini nur ungefähre Schätzungen aufstellen kann, 
ist dies stets bemerkt. In beiden Cantonen ist für die weitere 
Entwicklung der geselligen Angelegenheiten noch Vieles zu thun ; 
man ist an den Gedanken gewöhnt, dafs beide in manchen Hin- 
sichten hinter anderen Theilen der Schweiz zurückstehen , and 
wohl Jeder, der diese Bände zum erstenmale in die Hand nimmt, 
wird seine Aufmerksamkeit darauf richten, wie dieser Umstand 
von den Verf. behandelt worden ist. Hierin zeigt sich nun die 
Verschiedenheit ihrer Stellung entscheidend. Franscini tragt 
kein Bedenken , die Gebrechen seines Landes scharr, mit strafen- 
den und zürnenden Worten zu rügen und zu ihrer Abstellung 
feurig zu mahnen; Meyer v. Knonau, ein Zürcher und von an- 
derer Confession , äussert sich milder, beschränkt sich öfter auf 
die Beschreibung des Thatsächlichcn und überlä'fst dem Leser, 
den Tadel selbst auszusprechen. Beide haben aber gewifs zu 
vielen Verbesserungen den Heim gelegt, indem sie den Bürgern 
der abgehandelten Cantone einen getreuen Spiegel vorhielten. 

Unter/, fugt nun, um von dem Inhalte eine deutlichere Vor- 
stellung zu geben, einige Bemerkungen hinzu, die in dem all- 
gemeinen Theile jedes Bandes ihre Veranlassung gefunden haben. 
Der zweite Theil ist eine Topographie nach der Buchstabcnfolge. 

Für den Canton Schwyz scheint der Besitz eines der drei 
grofsten Wallfahrtsorte in Europa von raehrern Seiten wichtig 
geworden zu seyn. Das Kloster Einsiedeln, auf einer Hoch- 
ebene von 2700 Fufs über dem Meere gelegen, wird noch jetzt 
ungefähr von 100,000 Menschen jährlich besucht, worunter frei- 
lich wobl auch viele Bewohner des eigenen Cantons mit begrif- 
fen sind. Es ist jedoch die Frage, ob diese grofse Zahl von 
Wallern mehr ausgiebt, als die 10,000 Reisenden, welche die 
bezaubernde Aussicht auf der Btgi (der Verf. braucht Rigi als 
weiblich) alljährlich herbeizieht. — In der Nähe eines so ge- 
leierten Ortes, unter dem Einflüsse eines reichen und mächtigen 
Klosters mufste , wenigstens in Bezug auf das Äussere des Got- 
tesdienstes , eine eifrige Religiosität und ein beharrliches Festhal- 
ten an den herkömmlichen Formen entstehen. Der Canton hat, 
bei ungefähr 40,000 Einwohnern (die unvollständige Zählung von 
i833 gab 38,35i), 118 Welt- und 204 Klostergeistliche, zusam- 
men 322 oder Vn« der Einwohner. Es bestehen viele religiöse 
Bruderschaften, an der Kirche zu Schwyz allein i3, und diese 
sind mit einem Vermögen ausgestattet , welches, wie Meyer v. K. 



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von Meyer, Hagnauer. 473 

andeutet (S. i5a), für Zwecke des Unterrichts benutzt werden 
konnte. Die 5 Buchdruckereien in Schwyz sind fast allein mit 
dem Drucke von Gebetbuch ern u, dgl. beschäftigt. Die Refor- 
mation vermochte nicht zu wurzeln, auch stand ihr im Wege, 
dafs sie das sogenannte Reislaufen, nämlich das für Sitten und 
Gewerbfleifs verderbliche Hinausziehen der männlichen Jugend 
io fremde Kriegsdienste, zu verhindern suchte, woran die Ein- 
wohner nun einmal festhielten. i655 wurden 4 Protestanten zu 
Art enthauptet, 36 andere entkamen nach Zürich. 1698 wurde 
die letzte harte Strafe gegen einen, der protestantischen Lehre 
verdächtigen Einwohner von Art zuerkannt. Der kräftige Wider- 
stand gegen die Franzosen und die von diesen gegründete helve- 
tische Bepublik im J. 1798 entsprang zum Theil aus Besorgnissen 
für den Fortbestand der Religion. Indefs hinderte diese Anhäng- 
lichkeit an den herrschenden Glauben nicht, dafs seit dem taten 
Jahrhunderte über Ländereien und Rechte mit dem Kloster ge- 
stritten wurde, und erst 1829 wurde der letzte Zwist durch ein 
demselben gunstiges Erkenntnifs geschlichtet. 

Schwyz ist bekanntlich eine reine Demokratie. Die Lands- 
gemeinde, regelmäfsig alle 3 Jahre im Mai berufen, ist »die 
grofste Gewalt und Landesfurst « , wie eines der a5 Fundamental- 
gesetze sagt, und dieser »Fürst« hat sich oft als einen sehr 
launigen und wetterwendischen zu erkennen gegeben, wie dies 
von einer Versammlung, in der man schon mit 18 Jahren Sitz 
und Stimme erlangt, nicht anders zu erwarten ist. Doch wider- 
standen die versammelten Landleute 1758 dem Versprechen Re- 
dings, Jedem 1 fl. zu geben, wenn sie die Zulassung der Je- 
suiten beschlicfsen wurden. (i836 soll dieser Beschlufs doch 
noch erfolgt seyn. ) Eine Milderung des Übels liegt darin, dafs 
der aus 108 Personen bestehende Grofsrath alle Gesetzvorschläge 
an die Landesgemeinde bringt. Die Demokratie ist indefs keines- 
wegs consequent gewesen , indem man die Bewohner des soge- 
nannten äusseren Landes, wohin vorzuglich die Warch im unte- 
ren Linththale, oberhalb des Züricher Sees, gehört, in einem 
Unterthanenverhältnifs hielt, welches 1798 aufgegeben werden 
mufste , nach der Aufhebung der Mediationsacte zum Theil wie- 
der hergestellt und, nach offenem Bruche und dem Entschlufs 
des äusseren Landes, sich loszureifsen , erst i833 durch die neue 
Verfassung gänzlich beseitigt wurde. 

Die Grofse des Landes wird von dem Verf. zu ib l /% O M. 
angenommen. Der Canton reicht, mit einer geringen Ausnahme, 



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414 

nicht in die Schneegrenze hinauf. Die höchste Bergspitze (Rofs- 
stocU) hat 7700 , die Spitze der Rigi 55a 7 Fufs , der Pafs des 
Progel, über den man von dem romantischen Klönthal, am Fufse 
der ungeheuren Felswand des Glärnisch, in das Muotathal hinab- 
steigt, 482a F. Hohe. Hieraus erklärt sich der Reichthum an 
guten Viehweiden. Der Feldbau war ehedem starker, fangt aber 
wieder an sich zu heben, und dies sollte aus allen Kräften be- 
fordert werden. Nur in der weiten Thalsoole der March geht 
der Pflug. Wie schon sich auch , als Vorgrund des , am Fufse 
des Mythen terrassenförmig aufsteigenden Fleckens Schwyz die 
fetten Wiesen ausnehmen, so wäre doch für den Nahrungsstand 
der Bewohner ihr öfterer Umbruch gewifs zuträglich , und es ist 
eine unerwartete Notiz , dafs in dem hauptsächlich der Viehzucht 
gewidmeten Lande die Wohlhabenden nur fast wöchentlich 
einmal Fleisch essen, die Andern nur an den grofsen Festen. 
Je weniger jetzt mehr auf den Kriegsdienst im Auslande zu bauen 
ist, desto mehr sollten die Productiooszweige im Lande mit Fleiis 
und Einsicht betrieben werden. Der Canton sendet 4 — 5ooo 
Kühe jährlich nach Italien , die man im September in langen Zü- 
gen die Gotthardsstrafse ubersteigen sieht ; das Vieh ist von vor- 
trefflicher Rare und der Verkauf bringt gegen 1,200,000 Schw. 
Franken ein ; dafür wird aber auch junges Vieh aus Zürich und 
Zug hinzugekauft. Der Rindviehstand soll über 20,000 Stück 
betragen. Einsiedeln hat gute Pferdezucht. Die niedrigeren Ge- 
genden führen viel Darrobst aus. Die Waldungen sind beträcht* 
lieh, aber von unbekanntem Flächengehalte, und durch weiden- 
des Vieh, Diebstahl, Harzscharren und schlechte Wirtschaft 
herabgekommen, was die neue Waldordnung von iB33 hoffent- 
lich verbessern wird. — Die Alpen sind meistens Gemeindegut 
und stehen unter einem Verwaltungsrathe. Am reichsten sind die 
Genossamen der March mit Gemeindevermögen ausgestattet. — 
Unter den Gewerken ragt die Verarbeitung der Floretseide in 
dem Gebiete des ehemaligen Freistaates Gersau hervor. Hoch 
an der Rigi hinauf ßndet man die dürftigen Bewohner kleiner 
Häuser mit dem, des Staubes wegen sehr ungesunden, Kämmen 
(Kämmlen) der bei dem Abhaspeln der Seide zurückbleibenden 
inneren Puppen haut beschäftiget. 

Uber Bevölkerungsverhältnisse sind die Angaben spärlich. 

Das Unterricbtswesen liegt darnieder, die meisten Lehrer 
sind nur auf das Schulgeld angewiesen, wefshalbda, wo sie nicht 
zugleich Küster etc. sind, nur Geistliche sich dem Lehrberufe 



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von Meyer, Hagnauer. 



widmen können. Von 385o schulfähigen Hindern sind 980 oder 
% ohne Unterricht. Die zerstreute Lage der Wohnungen muls 
den Schulbesuch erschweren , und es ist erfreulich , wenn durch 
freiwilliges Mitwirken, wie es von dem wackeren Waldbruder 
am Mythen geschieht, die Lehrkräfte verstärkt werden. Die sinn- 
voll mitgetheilten Sittenzüge deuten auf einen guten Vorrath al- 
ter treuer und frommer Sitte, und man kann nur bedauern, dafs 
dies biedere Volk von seinen Obern nicht zweckmäfsig gelenkt 
wird. Bei der Beschreibung des unvergeßlichen Bergsturzes von 
Goldau im Jahr 1806, der 457 Menschen todtete und für 2 Mill. 
Franken Schaden anrichtete, lernen wir in der Rettungsgeschichte 
des Bläsi Mettler Gebirgsbewohner kennen, die sich von dem 
Einflüsse der Civilisation in unglaublichem Grade fern gehalten 
haben , so dafs sie in dem Pfeifen des Windes wie in dem Schreien 
der Eulen die Stimmen böser Geister zu vernehmen glaubten und 
die Altern bekümmert waren, weil keines ihrer Kinder Geld 
zählen -konnte. 

Feuerassecuranzen konnten noch nicht aufkommen. Auch ein 
• Zuchthaus fehlt. » Delinquenten wurden, wenn keine Todesstrafe 
erfolgte, in fremde Kriegsdienste abgegeben, den Verwandten zur 
Besorgung und Beaufsichtigung zugestellt; bisweilen versuchte 
man es, sie durch Ermahnungen wieder auf die rechte Bahn za 
bringen, oder man überliefs sie der Sorge des Himmels«. S. 213. 
In Crimina Isachen gilt die Carolina, die Folter wnrde i835 ab- 
geschafft, doch mit Beibehaltung einer Züchtigung, zu der Ket- 
tenschliefsen, hartes Lager etc., und bis auf 6 Streiche bei ei- 
nem Verhöre gerechnet werden! 

Den Stand der Finanzen beurtheilt man am besten aus dem 
Etatsentwurfe von i835. Die Summen sind Gulden zu 40 Schil- 
lingen, i3 fl. auf den Louisdor, was ungefähr 28 Vs iL auf die 
kölnische Mark anzeigt. 

Einnahme 26,894 fl. , wovon 16,000 iL aus dem Salzregale, 
322i fl. vorjnhr. Überscbufs des Salzamtes, 3900 fl. vom Gottes- 
hause Einsiedeln, 848 fl. Capitalzinsen, 1820 fl. von Lotterieen etc. 
Eigentliche Steuern kommen also gar nicht vor. 

Ausgaben 27,152 fl., wovon 455o fl. Besoldungen nnd jähr- 
lich bestimmte Auslagen, 4240 fl. Militärwesen, 3400 fl. Land- 
jäger , 234o iL Tagsatzungskosten , 2000 fl. Conferenzen , Com- 
missionen and Reisen, i5oo fl. Procefs und Criminalia , i3oo fl. 
die Regierungscommission , 1000 fl. Schreib- u. Di uckkosten etc. 
Das scheinbare Deficit von 258 fl. rührt davon her, dafs im vor- 



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hergehenden Jahre der Cantonsseckelmeister ein Guthaben von 
1798 fl. behalten hatte ! Dieser Staatscassier und oberste Finanz- 
beamte hat i5 liOuisd'or Besoldung, der Archivar 6, der Land- 
amman 40 L. Die Regierung hostet wenig, aber man mufs ge- 
stehen, dafs sie auch nicht eben viel leistet. 

Was den Canton Tessin betrifft, so ist die Grofse des Flä- 
chenraums gar nicht genau auszumitteln , weil , wenn auch die 
Gränzen auf dem See völlig bestimmt wurden , doch ein Theil 
des Gränzzugs in unzugängliche und selbst unübersehbare Eis- 
und Schneefelder fällt. Fr. rechnet 780, Michaelis 846 ital. 
O Meilen, was, da 60 solcher Längenmeilen auf den Meridian- 
grad gehen, und also 16 O M. einer geographischen gleich sind, 
resp. 48V« und 5a, 0 geogr. ausmacht. Über die Temperaturver- 
hältnisse findet sich keine andere Nachricht, als dafs die mittlere 
Jahres wärme des Gotthard hospizes — o, os R. ist. Ansprechend 
aber ist die Unterscheidung von 5 Höhenstufen des Landes : 
1) Region des Weinbaues und der zweimaligen Getreideernte 
(nämlich Rispen, und Kolbenhirse nebst Buchwaizen als Nach- 
frucht) , bis zur H5he von 2000 F. ; der Lago maggiore , den der 
Verf. oft mit dem altertümlichen Namen Verbano bezeichnet, 
Hegt nur 646 F. hoch; 2) der Kastanien, bis 3ooo F.; 3) der 
Nadelbäume, bis 5ooo F.; 4) der Alpen (nämlich Weiden), 65oo 
F. ; 5) der höheren Alpen und des Schnees. Die gröfste Erhe- 
bung ist die Gotthardsspitze Peschiora, 9898 F. 

Die Volkszahl 109,000 ergiebt nach beiden obigen Annahmen 
des Flächenraums 2060 bis 2224 Menschen auf die CD M. Der 
Jahreszuwachs war: von 1808 — 1824 o, 62 Proc, von 1824 — 
i8S3 o, 7t Proc (Der Verf. scheint bei seiner Angabe von Pro- 
centen die anfängliche Volkszahl zum Divisor genommen zu ha- 
ben, statt dafs man besser die mittlere anwendet.) 

Die Nahrung der Landleute ist, der gegebenen Beschreibung 
zufolge , reichlich und stärkend , obgleich sie nicht eben viel 
Fleisch in sich schliefst. Wer nicht bedächte, dafs die unteren 
Stände schwer von ihren Gewohnheiten abgehen, der müfste sich 
wundern , dafs der deutsche Landmann sich noch nicht hat ent- 
schliefsen können, die wohlfeile, kräftige und wohlschmeckende 
Polenta von Maismehl zu versuchen. Indefs ist wenig Wohlstand 
anzutreffen. Viele Familien sind verschuldet, leben auf Borg 
von Wirthen und Krämern, kaufen deshalb tbeuer ein und be- 
zahlen in Naturalien nach niedrigem Anschlage. Viele Bauern- 
häuser sind klein und schlecht, viele Landleute gehen des Som- 



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Ton Meyer, Hagnauer. 417 

raers baarfufs, oder in Strümpfen ohne Sohle oder in Holzschuhen. 
Fragen wir nach den Ursachen dieses ungunstigen wirthschaft- 
lichen Zustandes, während das Klima in den tieferen Gegenden 
sehr vorteilhaft ist, so können wir aus den in dem Buche zer- 
streuten Andeutungen folgende Umstände als die einllufsreichsten 
zosaramenstellen : i) Unwissenheit. Von 20,000 Bürgern können 
6 — 7000 nicht schreiben. Hierdurch mufs jenes Borgesystem auch 
zar Veranlassung vieler Übervorteilungen werden. 2) Nachläs- 
sigkeit, Hang zum Müfsiggehen , Mangel an Sinn für Verbindun- 
gen, wie es denn z. B. sehr wenig Milch Gesellschaften giebt. 
3) Zu häufiges Weintrinken. 4) Viele Feiertage, wobei richtig 
bemerkt wird, dafs an denselben nicht blos die Menschen, son- 
dern auch die Thiere, Maschienen etc. unbeschäftigt sind. 5) 
Starke Procefssucht , durch die 182 Notare und Advocaten ge- 
nährt 6) Nachtheilige Pachtverhältnisse. Besonders im Bezirke 
von Lugano besteht die verderbliche Halbpacht, hier mezzeria 
oder masseria genannt. Auch ein nachtheiliges Vermiethen des 
Viehes ist gangbar. 

In der Landwirtbschaft verdienen die lästigen Weiderechte 
auf Wiesen erwähnt zu werden. Auf den Voralpen (maggenghi, 
Maisassen) darf der Eigenthümer nur einen einzigen Grasschnitt 
nehmen. Getreide mufs noch aus Italien zugekauft werden , doch 
weit weniger, als man gemeiniglich glaubt; Franscini vermu- 
thet 35 — 40,000 Mailänder Moggj (zu 1, 4 * 1 Hektoliter), also 
34 — 39,000 bad. Malter, nebst 12 — i5,ooo Rubbi Mehl zu 10 
schweren Pfunden (von i, f4S bad. Pf.), also 21,00 — 2625 bad. 
Centner. In Hinsicht auf die Wälder, die fast ganz Gemeinde- 
gut sind , steht es ungefähr wie in Schwyz. Der Rindviehstand 
war iÖ33: 35,5oo Kühe und 17,100 Zugochsen, zusammen 52,6oo 
Stück, also ohne das Jungvieh; die Rage ist klein, unansehnlich, 
weshalb eine Milchkuh für ungefähr 5 Louisdor verkauft wird, 
während man für eine aus den andern Cantonen 11 — 12 L. er- 
hält. Futterkräuter und Futterwurzeln werden nicht gebaut. 

Wenn man die Ausfuhr an Holz, Hohlen, Rinde, Seide, 
de, Vieh etc. mit der viel stärkeren Einfuhr von Getreide, Salz, 
Wein, Metallen und Gewerkswaaren vergleicht, und zugleich 
die Summen bedenkt, die für Dispensationen, Pfründenbelehnun- 
gen und Unterhalt der Zöglinge auf auswärtigen Lehranstalten 
ausser Landes gehen, so konnte man versucht werden, an der 
Wahrheit der neueren nationalökonomischen Lehre von der Han- 
delsbilanz Irre zu werden und dem Mehrbetrage der Einfuhr den 



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418 Gemälde der Schweiz 

unvorteilhaften Vermögenszustand zuzuschreiben. Nun ist es 
zwar richtig, dafs bei gröberem Gewerbfleifse zum Yortheil für 
die Einwohner mehr producirt und ausgeführt werden konnte , 
allein das Gleichgewicht stellt sich doch auch jetzt schon auf an- 
dere Weise her, es ziehen nämlich alljährlich 10 — 12,000 Men- 
schen ins Ausland, gröfstentbeils in die Lombardei, und zwar 
so t dafs einige in jedem Jahre wieder mit gutem Verdienste nach 
Hause zurückhehren, andere längere Zeit ausbleiben. Merkwür- 
dig ist, dafs die verschiedenen Gegenden des Cantons solche Aus- 
wanderer von verschiedenen Gewerben liefern , von hier Maurer, 
Steinmetzen, Gypsarbeiter , von dort Kupferschmiede, anders- 
woher Glaser, Holzhauer, Haminfeger, Hastanienbrater , Kellner. 
Aus Blenio gehen viele Chocolademacher in andere Länder, wie 
aus Graubundten. Diese Wanderungen zeigen Capitalmangel an, 
der auch aus dem höheren Zinsfufse zu erkennen ist. 

Die neuere Herstellung guter Landstraßen hat , da jetzt nur 
7s der Zugkraft erforderlich ist, die man sonst für eine gewisse 
Last nöthig hatte, zum Verdrusse mancher Menschen eine grofse 
Veränderung in den Preisen mancher Dinge bewirkt. Um Bellin- 
zona ist der Centner (i s /* bad.) Heu von i5 — 18 auf 8 — 9 Lire 
(zu nicht voll 18 Kr.) gesunken. Es ist zu bedauern, dafs die 
schone Gotthardsatrafse nicht stärker benutzt wird. Die Zölle, 
die Monopole in der Spedition und im Transport machen die 
Fracht theurer, als auf der Splügenstrafse, und man zieht daher 
zwischen Mailand und Basel die letztere, obgleich sie länger ist, 
meistens vor. Dies sollte die Tessiner anfeuern , mit allen Kräf- 
ten zur Wegräumung der Hindernisse zu wirken , welche der 
Lebhaftigkeit dieser uralten Alpenstrafse noch im Wege stehen. 

Dafs dos Unterrichtswesen sehr mangelhaft ist, wurde schon 
oben angedeutet Die Schulkinder sind '/so der Volksmenge, und 
die neuen Gesetze haben noch keinen rechten Vollzug gefunden. 
In manchen Gemeinden sind die Schulzimmer so klein, dafs ein 
Theil der Kinder ganz vom Unterrichte ausgeschlossen bleiben 
mufs oder wenigstens aus Mangel an Raum noch nicht schreiben 
kann. Für die Armen geschieht fast nichts, doch ist die Zahl 
der Bettler nicht so grofs, als mao vermuthen sollte, nämlich 
1600 — 2000. Die Justiz ist, bei einem zahlreichen Personal von 
76 Friedensrichtern und Beisitzern, 5o Richtern erster Instanz 
und 25 Appellationsrichtcrn und Ersatzmännern, sehr langsam. — 
Von den Gerichten erster Instanz wurden im J. i83* in zucht- 
polizeilichen und peinlichen Fällen 5o Personen (dabei" 2 Weiber) 



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von Meyer , Hagnauer. 



479 



verortheilt, 9 aus Mangel an Beweis entlassen, 6 losgesprochen. 
— Die Geistlichkeit besteht aus 119 Mönchen, worunter 25 sich 
mit dem Unterrichte beschäftigen, und 5io Weltgeistlichen; also 
zusammen Einer auf 170 Einwohner (der zehnte Theil wäre zur 
Seelsorge zureichend), nebst i65 Nonnen. Die Reformation, die 
der Verf., im Übrigen ein frei und scharfblickender Denker, alt 
»neue Irrthumer« bezeichnet, hatte sich seit i534 nach Locarno 
verbreitet, aber i555, bei strenger Kälte, die 3 Personen das 
Leben kostete, wurden die Reforrairten zur Auswanderung ge- 
zwungen. So erhielt Zürich die geachteten Familien der Orellt 
and Muralto in seine Bürgerschaft. Das grofse Sitten verderben 
der Geistlichkeit wurde von dem unermüdlichen Eifer des Car- 
dinais Borromaus (San Carlo) mit Erfolg bekämpft. — Über 20 
Einsiedler hausen auf den Bergen und leben von Almosen. 

Für den Freund der Sprachvergleichung sind die Proben 
des tessinischen Dialektes, der sich dem Romanischen nähert, 
nicht ohne Interesse. In einigen Orten des unteren Livinerthals 
ist die Kühnheit , einen Superlativ von Hauptwörtern zu bilden , 
im Gebrauche, z. B. testissima statt grande testa, grofser Hopf, 
omissim statt grande uomo u. s. w. 

Bei den Finanzen ist vorzuglich zu bemerken, dafs Tessin 
und Uri die einzigen Cantone mit einer Staatsschuld sind. Die- 
selbe beträgt dort nicht ganz 5 Mill. Lire (1 % Mill. iL). Die 
Verzinsung kostet a35,ooo, die Tilgung i38,ooo Lire (gegen 2% 
Proc. des Schuldenstammes). Von den Staatseinkünften , die für 
i833 — 34 auf 897,000 L. angeschlagen wurden, werden über 
•/* (566,ooo L.) durch Zoll und Weggeld, über Vi (247,000 L.) 
durch das verpachtete Salzregal gedeckt. Der Pachter verkauft 
. das von ihm noch gereinigte Salz zu 42% faL Centesimi das 
SIL, also das bad. Pfund zu beinahe 6 Kr., was man, im Ver- 
gleich mit dem Preise in der Lombardei, für sehr mäfsig halt. 
Die Post ist für 6000 L. jährlich an Zürich uberlassen, die Lot- 
terie für 4000 L. verpachtet; die jährlichen Einsätze wurden 
i832 auf i5o,ooo L. angegeben. 

A . H. Ra U. 



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Die neue Med ca. Rin Roman von dem Verfanter dt* Seipio Cicala. In 
drei Bänden. Stuttgart, Brodhag. 1836. 8. lr Bd. 3!) 1 S. 2ter Bd. 
442 S. 6tcr Bd. 484 & 

Den Grundgedanken dieses ausgezeichneten Romans spricht 
sein Titel aus; er will die Raserei gerechter Eifersucht schildern. 
Diodor von Sicilien erzählt (. t , 3.): »Jason wohnte in Korinth 
und lebte zehn Jahre mit Medea. Er zeugte mit ihr drei Sohne* 
Während jener Zeit war Medea von ihrem Gatten geliebt, nicht 
allein um ihrer ausgezeichneten Schönheit willen, sondern auch 
wegen ihres edeln Sinnes und ihrer übrigen Vorzuge. Als aber 
später die Zeit die Reize ihrer Gestalt allmäblig vertilgte, ver- 
liebte sich Jason in Kreons Tochter Glauce , und warb um die 
Jungfrau. Nachdem der Vater eingewilligt und den Tag zur 
Hochzeit bestimmt hatte, suchte Jason zuerst die Medea zu be- 
wegen, dal s sie freiwillig auf die Ehe verzichten sollte; er wolle 
die neue Heirath nicht schliefsen, als wäre er der vorigen Ver- 
bindung überdrussig , sondern aus Fürsorge für seine Kinder suche 
er eine Verwandtschaft mit dem königlichen Hause zu stiften« 
Allein seine Gemahlin rief zürnend die Gotter an als Zeugen sei- 
ner Schwüre. Jason achtete das nicht und vermählte sich mit 
der Königstochter. Medea wurde aus der Stadt verbannt, erhielt 
aber von Kreon noch einen Tag Frist, um sich zur Abreise zu 
rüsten. Da schlich sie sich bei Nacht in das Königshaus (sie 
hatte sich durch ihre Salben unkenntlich gemacht) und legte 
Feuer ein vermittelst einer kleinen von ihrer Schwester Circe ent- 
deckten Wurzel, welche die Eigenschaft hatte, dafs, wenn man 

sie anzündete, ein, unauslöschlicher Brand entstand Andere 

Schriftsteller, sagt Diodor, erzählen so: Die Sohne der Medea 
brachten der Braut ein vergiftetes Geschenk; sobald sie das Ge- 
wand anzog, starb sie. Hierauf ging die Wuth und Grausamkeit 
Medea's , wozu die Eifersucht sie reizte, so weit, dafs sie ihrem 
Gemahl durch die Ermordung seiner und ihrer Kinder den schreck- 
lichsten Jammer bereitete. Einer der Sohne war entflohen , die 
andern mordete sie und begrub ihre Leichen im Hetligthume der 
Here. Dann entfloh sie nach Theben zu Herkules. Jason war 
unvermögend, das schwere Leiden zu tragen, und machte seinem 
Leben ein Ende.« 

(Der Beuehlufs folgt.) 



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N\ 31. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Die neue Medea. 

(Be$chluf$.) 

Zu diesem tragischen Roman des Alterthums, dessen Einzel- 
heiten wir absichtlich dem Leser ins Gedächtnifs rufen, hat der 
Verf. des Cicala ein freies und selbständiges Gegenstuck gedich- 
tet: eine christliche, katholische, italienische Medea, die in ihren 
heiligsten Gefühlen und Neigungen angegriffen, im Kampfe der 
Tugend mit der Leidenschaft der Bache, dieser letztern unter, 
liegt und zu der schaudervollsten That geführt wird. Indefs hat 
der Verf., der sonst starken Effekten nicht abhold ist, in der 
Darstellung des Gräfslichen grofse Mäfsigung bewiesen, und sei- 
ner Heldin die Achtung und das Mitleid des Lesers, selbst nach 
dem fürchterlichen Momente, zu sichern gewufst. Wir wollen, 
so weit es der enge Raum gestattet, versuchen, mit ßeiseitelas* 
sang aller Nebengestalten und der meisten Episoden, den Lesern 
dieser Blätter einen Begriff von der Textur des Ganzen zu geben. 

Ein Sturm bildet die Ouvertüre zu der Tragödie. Zu Neapel 
auf dem vordersten Felsblock des Hafendammes sitzt eine Frau 
von ungewöhnlicher Gestaltshohe und Formenreichthum , unbe- 
weglich im drohenden Winde, das Antlitz entfärbt, die Lippen 
blafs, nur das grofse, schwarze, auf die See gerichtete Auge in 
wildem Ausdrucke, zwischen Sehnsucht und Zorn, glühend. Eine 
Felucke ohne Mast und Segel ringt vor ihrem Blick mit dem 
Winde und wird von den Wogen gegen die Felsen geschleudert. 
Aus der zurücktretenden Strömung hebt sich zu halbem Leibe 
die Gestalt eines jungen Mannes hervor, weicher die Zuschauerin 
in dem Augenblicke , in welchem eine Woge sie fortreifsen will, 
umschlingt und rettet. Zugleich tritt seitwärts hinter einem an- 
dern Felsen eine kraftvolle Männergestalt hervor, die ein junges, 
zartes weibliches Geschöpf, das gleichfalls ohne Bewufstseyn ist, 
blutend auf den Armen trägt. (S. i — i3.) So führte der Verf. 
von den fünf Hauptfaktoren seines Romans gleich in der ersten 
Scene vier zusammen. Was der Leser im Buche erst allmählig 
erräth, sey ihm hier mit zwei Worten gesagt: der kräftige Mann 
ist der Kapitän Jaques Pierre, der berühmte normannische 
XXX. Jahrg. 5. Heft 31 



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482 Die neue Mcdea. 

Korsar, die am Ufer harrende Frau Donna Laura, nicht seine 
Gattin, aber seine viel jahrige Geliebte, die mit ihm längst, wie 
unser Jahrhundert sagt, in einer Gewissensehe lebt; der junge 
Mann ist des Kapitäns Steuermann Ja f Her, das gerettete, halb- 
todte Mädchen ist die schone Griechin Zoe, eine Verwandte 
Laura s. Diese (der Roman sagt's uns deutlich erst am Schlüsse) 
in den griechischen Provinzen Venedigs aus einer der edelsten 
Familien des Landes erwachsen, war in ihrer ersten Jugend der 
Gegenstand der regellosen Begierden des venetianischen Verwal- 
ters jener Länder, des ProTeditore Don Badoer, geworden. Von 
ihm geschändet ermannt sie sich nach der Ermordung ihres Ve- 
ters, und besteigt ein Schiff, um in Venedig Gerechtigkeit zu 
verlangen , aber ein türkischer Seeräuber , yon dem Proveditore 
gedungen, nimmt das Schiff. Aber dieses fällt in die Gewalt 
Jaques Pierre's des Korsaren, den wir eben mit seiner Beute, 
von der Eifersucht erwartet, ans Land steigen sahen. 

Die Namen der Hauptspieler sagen uns , welchen historischen 
Hintergrund der Roman hat. Es ist kein anderer als die Ver- 
schworung des spanischen Statthalters, Herzogs von Ossuna, ge- 
gen die Republik Venedig, im J. 1618. Die historische und die 
poetische Thatsache entwickeln sich neben und ineinander. 

Laura mufste sich gestehen, »dafs ihr Geliebter in den we- 
nigen Monaten seit ihrer letzten Trennung ihr fast fremd gewor- 
den. Als er plötzlich erschien, wie durch ein Wunder vom 
Schiffbruch gerettet, hatte sie nichts von dem Glücke des Wie- 
dersehens empfunden, womit ihre Sehnsucht sich so lange ge- 
tröstet Offenbar nahm er an der zarten Schönen , die er 

allem Anschein nach aus dem Schiffbruch gerettet, einen Antheil, 
der eine furchtsame Liebe wohl beunruhigen konnte. Überdies 
lag auch zwischen der Schönheit von Donna Laura und der zar- 
ten Jugendliebe der Fremden ein Unterschied von Jahren , wel- 
chen die Eifersucht hoher anschlägt, als es der Muhe werth ist. 
Aber ein Gedanke der Art harn nicht in die Seele dieser Frau; 
ihre eigene Liebe zu ihrem Freunde wurzelte zu tief, als dafs so 
leicht eine Regung von Eifersucht in ihr entstehen konnte. Sie 
war ebenso ferne davon , wie von der Vermuthung , dafs die Auf- 
merksamkeiten des jungen, liebenswürdigen Jaffier für sie doch 
wohl eine andere Ursache haben mochten, als das allgemeine 
Wohlwollen eines gutgeordneten Gemüthes und die zuvorkom- 
mende Gefälligkeit des Volks, dem er angehorte.« (S. 46* 47-) 



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Die neue Medea. 



48* 



Aber die Leidenschaften schreiten schnell. Bald spricht Ja- 
ques Pierre mit Laura nur noch von Freundschaft (S. 5o), und 
erklärt ihr, dafs sie die schöne Zoe aufzunehmen hat. »Die 
Freundin, die ich dir bringe, besitzt anmutbige Talente jeder 
Art. Sie wird unser Leben durch Gesang und Tanz, durch ih- 
ren jugendlichen Frohsinn, durch ihren harmlosen Muth willen 
verschönern.« — »»Ist es das Mädchen, das du aus dem Schiff- 
bruch gerettet? Wo ist sie?«« — » Weifa ich es, Laura?« — 
»»Wie? du trugst sie auf den Armen fort, sie kniete mit uns 
auf dem Molo — . «c »Dort verlor sie das Bewufstseyn. Ich trug 
sie fort; ich lief von Tbure zu Thüre, um Hülfe zu suchen für 
sie. Nirgends fand ich solche, bis mich der Zufall in daa Sprach- 
zimmer eines Nonnenklosters führte. Da liefe ich sie — .« — 
»»Welches Kloster ist es?«« — »Ich weifs es nicht; doch hofT 
ieh es morgen noch zu finden. Es mufs in der Nähe von San 
Giacomo da* Spagnuoli seyn. Inzwischen können wir uns wegen 
ihrer beruhigen. Eine Schwester Orsola hat sie in Empfang ge- 
nommen, der ich nur das Würdigste zutrauen kann. Wenn Al- 
* ter, königlicher Stand und Heiligkeit sich unter dem Ordens- 
gewand einer Hapuzinessin vereinigen können, so mufs es eine 
Frau wie diese seyn.« — »»Ich kenne sie, Jacques; sie ist eine 
lebendige Heilige in Frömmigkeit und Weisheit — ««. »Du 
kennst sie , Laura ? Du kennst die Schwester Orsola ? Ach ! da 
wärest du gewifs glucklicher als ich, wenn du zu ihr eingelassen 
werden wolltest!« — »»Als du? fragte Laura mit dem Aus- 
drucke der höchsten Verwunderung. Was kannst du in einem 
Frauenkloster zu schaffen haben?«« — »Aber bedenke doch, 
dafs ich Zoen dabin gebracht, dafs sie hblb todt war, als ich 
sie verliefs — .« — »»Zoe ist ihr Name? Jaques Pierre , dieser 
Name bringt kein Glück.«« — »Was meinst du damit?« — 
»»Ich hatte nur Eine Schwester, Jaques. Aber ihre Geburt ko- 
stete mich das Leben meiner Mutter, und ihre Falschheit brachte 
mich um meines Vaters Liebe. Sie und meine Stiefmutter ver- 
trieben mich vom Herde meines Vaters, und die Eine hiefs Zoe 
wie die Andere. Ach, und Zoe hiefs auch die Amme, welche 
den sch5nen Knaben , den ich dir geboren , im Schlaf erdruckte. 
Was wird mich diese Zoe kosten ? Und ich habe nichts mehr 
zu verlieren als dich!«« — »Und unser Kind Lauretta?« — 
»»O, was kann mir Lauretta seyn, da ich weifs, dafs ihre Nähe 
mir oder die meinige ihr verderblich ist?«« — »Lafs ihn fah- 
ren, diesen finstern Glauben, der unser Gluck vergütet! Lau- 



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484 



Die neue Medea. 



retta's Gegenwart soll dieses Gespenst verscheuchen , und Zoes 
Freundschaft wird dich Alles vergessen machen, was dir Böses 
geschehen ist anter ihrem Namen.« (S. 53. 54«) 

Dieses Gespräch enthält Vieles, das vor und nach vorgeht, 
ja den halben Roman im Heime. Laura wurde in Folge dessel- 
ben unbegreiflich sanft , und Jaques Pierre dringt mit Hülfe eines 
süTslichen Franziskanermoncbs mit hochrotbem Gesichte in das 
Nonnenkloster ein, in welchem wir Engel und Teufel von Non- 
nen kennen lernen , und wo der Kapitän zu seiner höchsten Über- 
raschung ausser Zoe auch sein Kind Lauretta findet, das die schöne 
Griechin nicht weniger zärtlich liebt als der Vater selbst. 

Zwischen diesen Ereignissen entwickelt sich in dem ersten 
Bande der Charakter des Herzogs von Ossuna , des spanischen 
Statthalters zu Neapel, »der die eigentliche Seele der Begeben- 
heit ist, die uns beschäftigt.« (S. i83.) Dieser hatte im J. 1611 
die Stelle eines Vicekonigs von Mailand erhalten , welche den 
Übergang zu dem nämlichen Posten in Neapel zu bilden pflegte, 
der für den wichtigsten galt, den die spanische Krone zu ent- 
wickeln hatte, und dem Herzoge nach fünf Jahren zu Theil wurde. 
Der Ruhm einer glänzenden Verwaltung ging ihm voran ; aber 
er vermochte dss Vorurtheil gegen seinen Namen um so weniger 
zu überwinden, da er nur durch die ungewöhnlichsten finanziel- 
len Anstrengungen, die er der Insel zugemuthet, so schnell eine 
Marine geschaffen, und den Hafs des Adels und der Geistlich- 
keit, die er auf keine Weise geschont, gegen sich erregt hatte. 
Indefs dauerte es nicht lange, so hatte er wenigstens die Mehr- 
zahl des Volks für sich gewonnen , dem er durch seinen prakti- 
schen Blick, seine raschen Entscheidungen und seine Gerechtig- 
keitsliebe imponirte, und dessen Einbildungskraft er durch ko- 
lossale Unternehmungen und mittelst Combination, Verkleidungen 
und Spionen durch die Spiegelfechterei von Allwissenheit be- 
schäftigte. Häufig standen seine Unternehmungen in dem offen- 
barsten Widerspruche mit der Politik des spanischen Kabinett 
und selbst mit dem öffentlichen Gange seiner Staatsverhandlun- 
gen. Zwischen Venedig und Spanien war damals der Friede zu 
Stande gebracht. Aber weder der Herzog von Ossuna , der eine 
gegen Venedig bewaffnete Flotte in See hatte, noch der Vice- 
könig von Mailand, welcher die Festungen Venedigs in Besitz 
behielt, stellten ihre Feindseligkeiten gegen den Freistaat ein. 
Ossuna namentlich rüstete stärker als je, und sagte laut, dafs er 
nicht ruhen würde, bis er Venedig auf dem Markusplatze selbst 



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Die neue Medea 



485 



den Todesstofs gegeben. Und wirklich ging er in vollem Ernste 
mit dem Plan um, Venedig durch eine Verschworung mitten in 
Venedig selbst zu stürzen. Zu diesem Plane gehörte wesentlich 
die Mitwirkung Jaques Pier res, des berühmten Seemannes, der 
die Schifffahrt im adriatischen Meere und namentlich in den Ve- 
netianischen Lagunen genau kannte. Doch traute er ihm nicht 
unbedingt und glaubte nicht genug Burgschaften suchen zu Kön- 
nen. Zu diesem Zweck hatte er früher schon bewirkt, dafs Laura 
ihren ländlichen Aufenthalt in Nervi verlassen und nach Neapel 
ziehen mufste. Auch Jaques Pierres Tochter, die in einem Klo- 
ster zu Florenz erzogen wurde , hatte er , wir wissen nicht auf 
welche Weise , dahin holen lassen. Auch von des Kapitäns Lieb- 
schaft mit der schonen Griechin hatte er gehört , und , um sich 
auch dieses Werkzeugs zu versichern , der Schwester Orsola den 
gemessensten Befehl ertheilt, Zoe n nicht am Sprachfenster er- 
scheinen zu lassen, daher die fromme Fanatikerin Orsola in die- 
ser schon eine Uimmelsscbwester und in dem leichtsinnigen Witz- 
bold Ossuna einen andachtigen Beförderer der Klöster sucht. (S. 
# 188 — 204.) 

Aber die Liebe des Kapitäns triumphirt mit Hülfe glücklicher 
Zufalle und des seltsamen » Nonncnvicarius « , für welchen wir 
hier nicht Raum haben, über den Willen des Herzogs und den 
Wunsch seiner Laura , der ein Vorgefühl sagt , dafs die Nahe 
ihrer Tochter ihr Verderben sejn, und eine doppelte Liebe sie 
zu Grunde richten wird, und fuhrt Zoe und Lauretta aus dem 
Kloster (S. ao5 — 288. 3o3 — 358. II, 43 — 48). Zugleich, um 
•ein Gewissen zu beruhigen, belügt er sich selbst, dafs Laura 
eine Leidenschaft für Jaffier empfinde und schürt an dessen wirk- 
lich sich erschliefsenden Neigung. » Sage Laura'n ein paar freund- 
liche Worte. Sie verdient es um dich und mich. Es wäre jäm- 
merlich, wenn wir uns auch nicht einmal über das Einzige ver- 
ständigen lernten, was uns noch fehlt, obgleich es vor unsern 
Fufsen liegte Aber Jaffier, wie sehr auch sein Herz an der 
Frau hing, deren Eroberung ihm so leicht wurde, hä'tte doch 
lieber vor einer türkischen Galeere gestanden. (I, 292.) 

Inzwischen wird Jaques Pierre auf dem Wege zum Vicc- 
konige in das Krankenzimmer eines alten spanischen Astrologen 
geführt , der von einem treuen Neger bedient wird. Dieser selt- 
same Greis, eine Figur, die uns an die letzte Production des 
Verfo. erinnert , weissagt dem Kapitän warnend sein Geschick 
(S. 359 — 370). Der Herzog weist ihn wegen Zoes Befreiung 



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an den Residenten Venedigs, Spinelli, deutet ihm seine Plane an 
und tatst ihn in der Ferne das Herzogthum blicken, das Mansio 
Cuerdes der Astrolog für ihn in der Zukunft gesehen. (S. 373—394.) 

Im zweiten Band entfaltet sich das Verhängnifs wie eine 
Wetterwolke , die den Himmel allmäblig ubersieht Zoe tritt mit 
Zuversicht in das Haus des Kapitäns ein, der ibr die Überzeu- 
gung beigebracht hatte , dafs Laura's Nachsiebt nur eine billige 
Erwiederung der seinigen gegen Jaffiers Bewerbungen um sie 
sey. Aber Lauretta das Kind, früher so froh und offen, legt 
eine sonderbare Scheu gegen seine Mutter an den Tag. Diese 
will mit leidenschaftlicher Heftigkeit, mit ungewöhnlicher Innig- 
keit die wiedergewonnene Tochter ans Herz drucken. Das Kind 
aber, von Zoe fascinirt, bricht in ein Geschrei des Widerwillens 
und der Furcht aus, so dafs Zoe, von ihrer naturlichen Lebhaf- 
tigkeit ergriffen , hinzuspringt und der Mutter es aus den Armen 
reifst. Diese schaudert sichtbar zusammen. Eine wunderbare 
Glut von Schmerz und Zorn bedeckt das Gesicht der verschmäh- 
ten Mutter auf einen Augenblick. In dieser für Alle lastigen 
Stimmung fallt Jaque Pierre 's Blick durch die offene Fensterthüre 
auf den Vesuv, und schnell improvisirt er einen Ausflug der gan- 
zen Gesellschaff nach Torre delT Anunciata, wo er schon früher 
für den Sommeraufenthalt ein Landhaus geroiethet hatte. (S. 49 
bis 5i.) 

Nach einer interessanten Reise , auf welcher sich Zoes kal- 
tes und egoistisches Naturell zu entwickeln anfängt, finden wir 
unsre Bekannten in jenem Landhause, den Kapitän wie seine alte 
Geliebte von bangen Ahnungen und ominösen Zufällen gepeinigt. 
Aus einer Ohnmacht mufs Laura anstatt in das vom Sturm zer- 
störte Schlafgeroach in den grofsen Saal des Hauses zu Bette 
getragen werden. Die vier Wände sind mit Fresken bemalt. Das 
Auge der Erwachenden heftet sich mit Entsetzen auf die Wand 
gerade vor ihr. Hier erscheint auf dem Gemälde das Schicksal 
Jasons und Medea's vollendet. »Zween liebliche Knaben liegen 
todt in ihrem Blut, und zwischen ihnen steht der verzweifelnde 
Vater mit einem Blicke, worin der Jammer den Zorn überwun- 
den hat, emporschauend zu Medea, die sich eben auf ihrem von 
geflügelten Drachen gezogenen Wagen vom Boden erhoben. Mit 
dem Triumph der Rache auf der Stirn und der kaum gesättigten 
Wuth im Auge hält sie dem Jammernden den blutigen Dolch 
entgegen, den Hintergrund füllt die brennende Burg von Korinth.c 
Von diesem Gemälde — dessen Stammbaum, wie der übrigen, 



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Dio neue Mc*(Je&- 



♦87 



vom Verf. geschickt auf Andrea Sabatino and mittelbar auf den 
Kunstler einiger griechischen Gemälde , die der jüngere Philostra- 
tus beschreibt, zurückgeführt bat — wendet die Unglückliche die 
Augen nicht mehr ab, und erwacht erst nach geraumer Zeit wie 
aus einem Traume. (S. 5j — 81.) 

Alea jacta est. Mit dem keimenden Entschlüsse Laura s wird 
im Roman alles großartiger , und die Kraft des Dichters selbst 
scheint mit der einmal ausgesprochenen furchtbaren Aufgabe zu 
wachsen. Dieser Band ist reich an ächter Poesie, an den glü- 
hendsten Schilderungen erhabener Naturscenen und heimlich to- 
bender Leidenschaften. Zwei Vulkane rauchen vor onsern Au- 
gen, der Vesuv, und das von innerem Feuer verzehrte Men- 
schengemuth. 

Die Gesellschaft ist aufgebrochen den Berg zu besteigen. 
Aber der Eremit, in dessen Hütte sie angekommen ist, prophe- 
zeiet Unwetter. Laura jedoch will diesem trotzen ; und nun win- 
det sieh die Karavane auf ihren Maulthieren den Schlangenpfad 
des Kegels hinan. Bald aber bleiben Zoe und der Kapitän er- 
müdet zurück , und nur die trotzige Laura schreitet mit Jafißer 
vorwärts. Da naht das Unwetter. »Jaffier machte sie auf die 
Gefahr für ihre Gesundheit aufmerksam. . . . Sie lachte fast mit 
einem Ausdruck der Wildheit über diese Sorge und bestand auf 
der Fortsetzung ihres Ganges. Er beschwor sie, rückwärts zu 
blicken in die Tiefe; denn in Einem Augenblicke war der Kegel 
des Berges bis über die Mitte in einen Nebel gehüllt worden , der 
sich immer hoher hinaufzog und plötzlich wie ein Bad um den- 
selben zu drehen begann. Laura stand still und betrachtete mit 
einem unverkennbaren Ausdruck innerer Befreundung mit den 
Schrecken der Natur das merkwürdige Schauspiel. Beide standen 
über den kämpfenden Wolken ; sie sahen die Blitze sich schlän- 
geln zu ihren Füfsen und horten die Donner krachend nieder- 
rollen in die Tiefe. Der Berg aber lag in heiterer Klarheit über 
ihren Häuptern und der Himmel breitete freundlich sein durch- 
sichtiges Blau über ihn.« (S. 99.) Wir haben nur eine kleine 
Probe der herrlichen Naturschilderungen gegeben, die sich in 
diesem Theile des Werkes finden und der Leser selber suchen 
mag. Unter verhängnifsvollen Gesprächen ersteigt der junge 
Steuermann mit seiner angebeteten Herrin den Gipfel , und sie 
finden in dem Krater selbst vor einem Schneegestöber Schutz. 
Speluncam Dido duz et Trojanus eandem deveniunt — . Aber 
der Verf. benützt diesen Moment nicht auf die Weise, wie fiel. 



48» Die neue Medea. 

leicht mancher Leser erwartet hatte. Er hat seiner Heldin Herz 
ganz mit Rachegefühl erfüllt, und dadurch für die Gefahren ei- 
ner Verirrung unempfänglich gemacht; er hat den jungen Jaffier 
so mit ritterlichen Gesinnungen und jungfräulicher Scheu ausge- 
rüstet, dafs er selbst nicht auf den Gedanken kommt, den Ver- 
sucher zu machen. Das Paar erscheint wieder auf der Hohe 
des Randes. * Der ganze Meerbusen mit seinen herrlichen 
Husten und Inseln lag nun in seltener Klarheit aller Gegenstände 
vor ihnen, und das Meer schimmerte in jenem matten Silber- 
glanze, welcher solchen Tagen eigen ist. Am westlichen Hori- 
zonte stiegen dicke, weifse Gewolke empor; die Gebirge und 
Waldungen der Landzunge , die sich von Castelamare bis über 
Massa hinunterzieht , rauchten in aufsteigenden Dünsten. Die 
Sonne brannte schwul herab für die Jahrszeit, und Alles verkün- 
digte, dafs das schlimme Wetter noch nicht vorüber war.« (S. io5) 

Nach einer verzweiflungsvollen Irrfahrt finden endlich beide 
den Fufs des Berges wieder, und hier Schutz in dem Landhause 
eines alten Edelmanns, in welchem sich eine eigene Novelle ab- 
spinnt (S. io5 — 134)» Inzwischen werden sie vom Kapitän und 
der launigen Zoe, deren Charakter sich immer widerwärtiger ent- 
wickelt und von dem verblendeten Jaques Pierre noch nicht durch- 
schaut wird , vergebens erwartet , gesucht und endlich verloren 
gegeben. Die unheimliche, halb hexen- halb riesenhafte Gestalt 
der Mutter Bubo , die eine zweite Schicksalswarnung für den Ka- 
pitän ist, füllt als Episode diesen Abschnitt in schauerlicher Be. 
leuchtung aus. (S. i35 — 169.) 

Noch ehe Jaques Pierre Laura gerettet weifs, geht er von 
Torre del Annunciata aus nach Neapel zum Herzog von Ossuna, 
und geräth immer tiefer in seine Ketten. (S. 170 — 202) Von 
Laura und Jaffier kommt immer noch keine Kunde. Da rückte 
Zoe allmahlig mit dem Heirathsversprechen heraus, das ihr von 
dem Kapitän schon in seinen ersten Bewerbungen um ihre Liebe 
gemacht worden war. Bisher konnte die Schonung für Laura 
als ein Grund des Aufschubs gelten. Dieses Hindernifs scheint 
nun auf einmal gehoben, und Zoe dringt darauf, dafs eine Ver- 
bindung, die ohne den Tadel der Welt und ohne Kränkung ihres 
Gewissens nicht länger fortbestehen könne, durch den Segen der 
Kirche geheiligt werden m5ge. Sie ahnt freilich so wenig als der 
Leser , welches andere Hindernifs ihrer Verbindung im Wege 
stand , und dafs Jaques Pierre im Begriffe ist , das Verbrechen 
einer Doppelheirath zu begehen. Er war nämlich schon seit 



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Dlf» neue Medea 



489 



Jahren verheirathet , und seine Gattin genofs in der Normandie 
einen Jahresgehalt von ihm. Nur ein Handlanger des Kapitäns, 
der Hauptmann Renault, der Trunkenbold, keine unwichtige 
Nebenrolle im Roman (in der Geschiebte erscheint er noch viel 
bedeutender), ist der Vertraute dieses Geheimnisses. Indessen 
trotzt der Verliebte auch dieser Gefahr, als ihm Renault zu rech« 
ter Zeit den Tod seiner alten Frau meldet. Jetzt ist jedes ge- 
weissagte Hindernifs gehoben. — Aber Laura lebt, und die 
Gerettete und nach dem Landhause Zurückgekehrte findet in dem 
früher einsamen Schlafgemach ihres Geliebten die Lagerstätte ei- 
ner Genossin. » Unsre nordischen Erfahrungen haben keinen Mafs- 
stab für die Sturme von Naturen, wie die von Laura ist. Mit 
ubermenschlicher Kraft drängen sie den ungeheuersten Jammer 
in ihr Inneres zurück und scheinen ruhig, während er ihr Herz 
zersprengen sollte. Auf einmal bricht er als Verzweiflung los, 
die sich eben so schnell in Wuth verwandelt »Haarerau- 
fend, händeringend wirft sie sich zu Boden; plötzlich springt sie 
wieder auf«, reifst einen Dolch, der auf dem Tische liegt, aus 
der Scheide und hat ihn bereits auf die eigene Brust gezuckt, 
als sie einen Blick auf das Gemälde ao der Wand wirft. Im Au- 
genblick läfst sie die Hand sinken und eine fiebrische Glut be- 
deckt ihr Gesicht, sie stöfst den Dolch mit Heftigkeit zurück in 
die Scheide und legt ihn unter das Kopfkissen ihres Lagers. Of- 
fenbar hat sie einen Entschlufs gefafst; aber mit welch furchtba- 
rer That muPs er schwanger seyn, wenn ein Blick auf die Male- 
rei an der Wand ihn gereift hat ! Es ist Medea , die aus ihrem 
Drachenwagen herab dem verzweifelnden Jason den blutigen Dolch 
zeigt, womit sie eben seine Kinder gemordet.« (S. 253. 354«) 

Meeresstille folgt auf diesen Sturm. Laura verzichtet bei 
ihrem Geliebten mit scheinbarer Ruhe. Sie hat die Schwester 
Orsola sterben sehen (S. 234 — - sie will in jenem Kloster 
eine Zuflucht suchen, ja sie läfst sichs gerne gefallen, dafs, wäh- 
rend den Kapitän seine Plane abrufen , Zoe und das Kind — das 
ja doch einmal an sie gewöhnt sey — in demselben Kloster un- 
tergebracht werden.« (S. 256 — 260). 

Des vierte Buch des Romans zeigt uns Jaflier, die beiden 
Frauen und das Kind auf der gefahrvollen Wanderung nach dem 
Venetianischen durch die Abruzzen. Eine schöne Räuberepisode : 
die fromme Gemeinde der Waldenser, auf welche die Reisenden 
stofsen, und welche die Schilderung der rührendsten Scenen ver- 
anlagt; die liebliche Zwischennovelle von dem hoffenden greisen 



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490 



Die neue Medea 



Elternpaar am Tempel della Speranza, deren Hoffnung den seit 
fünfzig Jahren verlorenen Sohn wieder so sehen, nicht zu Schan- 
den wird (ein Goldkorn von Poesie!); endlich die originelle Ge- 
stalt des Kriegsmanns in der Kutte des Einsiedlers, der von alt- 
und neurömischen Schlachtfeldern eine Collection von Schadein 
in seiner Kapelle bat und nächtlicher Weile der ganzen Rauber- 
gegend du Weltgericht vortrompetet: — diese vier Zwischen- 
spiele machen jenen Theil des Romans höchst interessant; auch 
ist er, ohne dafs die äussere Geschichte allein fortruckt, merk* 
würdig für die Entwicklung der Charaktere und Entschlüsse der 
Hä u t j)Oc 8 o o c o • o g c r*s c Ii © i n t in so 3 b s c h ö u 1 1 c h c os I^j i c h tc ^ d & Cs 
wenn Jaques Pierre n auch nicht die äussere Bache der Nemesis 
ereilte, er hinlänglich mit ihrem Besitz gestraft erscheint. Den- 
noch wird Laura auf sie, da Jaffier ihr bei dem Übergang über 
eine Furth das Leben rettet , eifersuchtig und gegen Jaffier selbst 
dadurch erkältet (S. 261 — 442.) 

Von dem dritten Bande , der die Katastrophe enthält , theilen 
wir, durch den Baum gedrängt, nur das Notwendigste mit. Die 
Beisenden kommen in der alten Diocletiansstadt Spalatro an (S. 
87), und hier wirft der Vf. einen Buckblick auf Laura s Seelen- 
zustand. Die plötzliche Entfernung von Menschen, deren blofser 
Anblick schon so schmerzlich für sie war, hatte eine lindernde 
Kraft auf sie ausgeübt; Einsamkeit und Nachdenken hatten sie 
gelehrt, Jaques Pierre's Verlust als Strafe Gottes für ihre unge- 
weibte Liebe hinzunehmen , ja selbst den Gewinn der Liebe ihres 
Kindes zur Aufgabe eines neuen Lebens zu machen. Aber ein 
Cbristenthum wie dieses ist eine zu überraschende, zu schnell 
vorübergehende Erscheinung, als dafs Erfolg zu hoffen wäre. 
Bei den Waidensem hatte sie die Heilung eines Rachsüchtigen 
gesehen (II, 341 — 352), aber eben hier ist ihr die Hoffnungs- 
losigkeit ihres eigenen Zustandes klar geworden , und als selbst 
Jafliers Neigung ihr zweifelhaft wird , verwirrt sich Alles in ihrem 
Innern mehr als jemals — und das Schicksal schreitet schnell. 
(III, 100 f.) In Spalatro fanden die Beisenden Unterkunft bei 
einem Pfarrer Wukaschin , in dessen Haus bald auch eine andre 
Fremde tritt, eine zweite Zoe, im letzten Glänze üppiger Schon- 
h ei t , und bei aller Verschiedenheit in Höhe , Wuchs und Haltung 
Laura'n an Gestalt wunderbar ähnlich, von ihr aber verabscheut 
und sie selbst verabscheuend. Ein böser Genius kommt mit ihr 
in das Haus; sie umstrickt den Pfarrer mit Unzucht und fesselt 
das Herz der jungen Zoe , und mit ihr der kleinen LaureUa. 



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Die neue Medea 491 

Nor die fiebrig jährige Matter des Pfarren , ein alter Rachegeist, 
der über dem Schädel des ermordeten Gatten brütet, and die 
deswegen eine Freundin an Laura gefunden hat, erkennt in jener 
fremden Zoe den Dämon , und wird darum vom eignen Sohn aas 
dem Hause vertrieben. Ihr folgt, zum grofsen Erstaunen Jaques 
Pierre's, der inzwischen auch eingetroffen ist, Laura, welche 
langst die Entdeckung gemacht hat, dafs sie des Kapitäns nie auf- 
richtig geliebtes Kebsweib gewesen ist, und gleichzeitig die grau- 
same Kränkung der heiligsten Gefühle durch den hartnäckigen 
Widerwillen ihrer Tochter gegen sie erfahren hat Jaffiers Blick 
erspäht die Verlorene und theilt Jaques Pierre o seine Entdeckung 
mit. Die ältere Zoe entflieht nach seltsamen Zwischen vorfallen. 
Der Leser weifs längst, dafs es Lauras verhafste Schwester war. 
Sie ist die schuldbelastete Gattin Spinelli's, des venetianischen 
Residenten zu Neapel. Der Kapitän thut einen tiefen Blick in 
die Seelenlosigkeit seiner eigenen Zoe and mifst zum erstenmal 
den Verlust Lauras. (III, aoo— ao5.) Er eilt zu dieser und 
macht ihr Vorschläge, die mit Absehen zurückgewiesen werden. 
»Schwerlich giebt es eine grausamere Verletzung des weiblichen 
Herzens, als wenn eine untreue Liebe, statt reuevoll die Liebe 
anzuflehen, sich an die Sinne wendet und den Gegenstand ihrer 
früheren Verehrung tief anter sich selber herniederzuziehen sucht« 
(S. aio.) 

Die junge Zoe wird in einer Kirche mit ihrem Schänder, 
dem Proveditore Badoer zusammengeführt, der noch einmal im 
Anblick ihrer durch eine Ohnmacht enthüllten Reize schwelgt. 
(S. ao6 ff.) 

Inzwischen wird die Verschwörung angezettelt und raifslingt. 
Wir verweisen hier unsre Leser an die Geschichte, die vom Vf- 
in diesem dritten Bande sehr getreu ausgebeutet worden ist. Ja- 
ques Pierre glaubt sich vor Jaffier nicht sicher und lafst diesen 
verhaften. Er aber erfährt durch Laura, was geschehen, und 
bezahlt seinen Freund mit gleicher Münze. Nun wird Jaffier frei, 
und alle andere Verschwornen , darunter der Pfarrer, die alte 
Zoe, Badoer, Renault a. A., fallen der Gerechtigkeit in die Hän- 
de , die venetianisch richtet Wir eilen über alle diese , vielleicht 
allzu historisch und selbst in den Nebenumständen und Neben- 
personen mit diplomatischer Ausführlichkeit berichteten Geschich- 
ten hinweg, der grofsen Katastrophe zu. (S. 448 ff.) 

Die marmorne Brücke, welche den Markuspallast mit den 
neuen Gefängnissen verbindet, hoifst die Seufzerbrücke; denn 



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492 



der sie betrat, ohne zu den Dienern der Gerechtigkeit zu gehö- 
ren , war in der Regel für dieses Leben verloren. In diesem 
Augenblick ist der enge Kanal seiner ganzen Länge nach vom 
Monde beleuchtet. Eine greise nnd eine kleine Barke halten un- 
mittelbar an der Seufzerbrücke. Wir horchen eine Zeitlang den 
Unterhaltungen der Bemannung , da öffnet sich endlich die kleine 
Thüre unter der Brücke, und sogleich legt die giöfsere Barbe 
ror derselben an. Ein schwacher Lichtschein fallt aus der Thur- 
öfTnung und zeigt den Kapitän Jaques Pierre , der im Hemd und 
weiten Schifferhosen mit einem Mönch und drei andern Gefange- 
nen unter Bewaffneten Platz auf der Barke nimmt. Im nämlichen 
Augenblicke nimmt das kleine Fahrzeug den Hausbeamten des 
Doge auf, der die öffentlichen Hinrichtungen leitet. Der Mond 
verbirgt sich und der schwarze Schatten verschlingt Alles. An 
der Ausmündung des dunkeln Kanals liegt eine andre Barke, die 
ausser den Schiffern drei Frauen mit einem kleinen Mädchen und 
einem Diener trägt. Man erkennt in ihnen Laura, Lauretta, des 
Pfarrers Mutter mit dem Schädel, und eine Brandstifterin, von 
der unser Auszug schweigen mufste. Sie kommen sämmtlicb v 
zuzuschauen und Abschied zu nehmen. Diese Barke schliefst sich 
an die beiden Fahrzeuge an und gleitet nun mit ihnen in der 
Tollsten Beleuchtung der heitersten Mondnacht dabin. Eine Gon- 
del bringt die Nachricht vom Tode des Doge, die jedoch nicht« 
in den Geschicken der Gefangenen ändert Die Hinrichtung be- 
ginnt (S. 459 ff.) , zufällig von rührendem Gesänge der schönsten 
Tasso'sstrophen aus der Ferne begleitet. Wir ubergehen den 
theils ruhrenden, theüs schrecklichen Tod der andern Verbre- 
cher und eilen zu Jaques Pierre a Ende. Dieser hat die Fassung 
nicht verloren. Der Handfesseln ledig bedeckt er vom Band der 
Barke aus Laura's Hand mit Küssen, und bittet sie unter Be- 
schwörungen um Verzeihung und um Liebe für sein, für ihr 
Kind. In diesem Augenblick lodert in dem Auge der Frau eine 
Flamme auf, welche nur die Begleiterin eines grofsen Entschlus- 
ses seyn kann. Mit einer leidenschaftlichen Heftigkeit fafst sie 
Lauretta n unter den Armen und reicht sie ihm hinüber in die 
Barke. — Aber wer moebt' es wagen, das Schicksal auszuspre- 
chen , das hier waltet ? — Noch ehe der Vater es gefafst hat , 
läfst die Mutter das Kind los, und es verschwindet mit einem 
Jammergeschrei im Wasser zwischen den zusammenstofsenden 
Fahrzeugen. Mit dem leisen Ächzen; »o Laura!« bedeckt sich 
der Kapitän das Gesicht mit beiden Händen. Nur wenige Augen. 



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I 



Die neue Medea 493 

blick beugt sich der starke Mann unter der Last seines Schmer« 
zens , dann wird der Dienst der strafenden Gerechtigkeit an ihm 
yollzogen und er verschwindet in den Fluthen. Seit dem Tode 
des spanischen Aatrologen war dessen taubstummer Neger des 
Kapitäns treuester Diener und Schutzgeist. Auch jetzt, auf Lau. 
ras Hahn befindlich, hebt er den leuchtenden Dolch hinter die- 
ser, stürzt seinem Herrn nach, um ihn von dem Stricke zu be- 
freien , welcher ihn mit den Stein am Hals in die Tiefe gezogen , 
da es ihm nicht gelingt, versinkt auch er in die Tiefe. In den. 
selben Gewässern endet Jaffier, der unglückliche Verräther, ei- 
nige Jahre nachher sein Leben. Laura, nachdem sie den Becher 
der Bache bis auf den letzten Tropfen geleert, wählt, in tiefer 
Beue, mit erfinderischer Grausamkeit des Schicksals, für den 
Best ihres Lebens den Aufenthalt in einem Kloster, wo dreihun- 
dert Lustdirnen ihr Sundenleben abbüTsen, und wo sie auch ihre 
Todfeindin — Zoe Spinelli als Strafgefangene findet Zuletzt be- 
richtet der Boman über die letzten Schicksale des Herzogs von 
Ossuna , und zeigt , dafs sich das Walten der Nemesis auch gegen 
diesen Urheber so viel Unheils nicht verkennen läfst. (S. 479 &) 
In diesem dritten Bande sind einige Längen, die unsres Er- 
acbtens anders hätten ausgefüllt werden können, die sich aber 
vielleicht aus dem achtungswerthen Bestreben des Vis. erklären, 
jene Hudelei zu vermeiden , mit welcher Walter Scott den Schlufs 
seiner Bomane so reifsend schnell abspinnt, wie die galloppirende 
Schwindsucht ein für Jahrzehende bestimmtes Menschenleben in 
wenigen Tagen abhaspelt. Der Verf. des Cicala dagegen liebt es, 
alles Historische in seinen Bomanen zu erschöpfen, und so wird 
deon auch hier jede Nebenperson , besonders in den Procefs- 
akten, so gründlich abgehandelt, dafs der Leser zuweilen auf 
zwei- und dreifache Wiederholungen stofst. Dagegen verliert 
man Personen und Hauptmotive der Handlungen nicht selten aus 
den Augen, und so ist der im zweiten Bande vorbereitete, gräfs- 
licbe Entschlufs der neuen Medea, in dem Augenblicke, wo er 
zur Tbat wird, psychologisch doch noch so wenig reif, dafs $ 
ohne den Epilog des Dichters, der Leser immer noch geneigt 
wäre, in der gräfslichen Handlung die boshafte Wirbung eines 
tückischen Zufalls zu sehen, der in dem Gemütbe der Unglück- 
lichen mehr gelesen hat, als zu lesen war. Die junge, nichts- 
würdige Zoe, nächst Laura die zweite Heldin des ganzen Bo- 
mans, verschwindet unbegreiflicherweise mit ihrer Verhaftung 
(III, 379) ganz aus unsern Blicken. 



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494 



Schriften üb. die suapeadirten Gefälle in Oatfrlealand. 



Trotz dieser Ausstellungen rechnen wir den Roman zo den 
ausgezeichnetsten Erscheinungen in diesem Gebiet unsrer vater- 
landischen Literatur, bedeutend durch Reichthum und Neuheit 
der Erfindung , Consequenz der mannichf altigen Charaktere, schone 
Abwechslung lieblicher Episoden, deren meist gemüt bliche Farbe 
gegen die finstre Tendenz des Ganzen wohltbätig absticht. Aber 
auch das düstere Hauptgebäude ruht auf einer ethischen Grund- 
lage. Wie unselig Laura durch die Rache wird , erhellt aus sich 
selbst; doch auch an Jaques Pierre rächt sich die verachtete 
Vernunft aufs furchtbarste. Denn was die Leidenschaft für des 
Lebens Leben, für die rechte Zoe hält, das ist eine nichtige, 
vergiftete Frucht , ist der verborgene Tod , während das wahre 
Leben, das Gute, in Knechtsgestalt, in die Farbe der Nacht ge- 
bullt, stumm und taub, als scheinbarer Tod, uns zur Seite steht. 
Die blühende Zoe ist der böse Genius, der schwarze Sklave der 
Schutzgeist des unglücklichen, verblendeten Kapitäns. üeber al- 
len Personen der Geschichte waltet die Gerechtigkeit als Nemesis. 
Nur die arme Lauret ta wird fast schuldlos, als blofses Mittel, zum 
Opfer. Aber im Roman, so wenig als im Leben, kann hienie- * 
den die Theodicee vollständig seyn. 

G. Schwab. 



1) Sind die au die HerrtichkeiUbesitzer in der Provinz Ostfriesland von 
den Eingesessenen früher entrichteten §ogenannten suspendirten Gefälle 
durch französische Gesetze aus der Zeit der Vereinigung Ostfrieslands 
mit Frankreich aufgehoben worden ? I ersuch einer Erörterung dieser 
Frage vom Standpunkte der Geschichte und der Kritik. Hannover, in 
der Höhnischen Buchhandlung. 1836. 100 & 8. 

2) Die suspendirten Gefälle in der Provinz Ostfriesland. Bemerkungen , 
veranlafst durch eine neuere Schrift, die Aufhebung jener Gefälle durch 
französische Gesetze betreffend. Von einem Ostfriesen. Ebend. in der- 
selben Buchhandlung 1884». 26 & 8. 

S) Anderweite Bemerkungen zu der Schliß: Sind die Herrlichkeitsbesitzer 
in der Provinz Ostfriesland ete. etc. ? Ebend. in derselben Buchhandl. 
1837. 13 S. 8. 

Der Provinz Ostfriesland ist während des laufenden Jahrhun- 
derts das harte Loos gefallen, in einer kurzen Frist nicht weni- 
ger als viermal unter eine neue Landesherrschaft gestellt zu wer- 
den. Bis zum Tilsiter Frieden (1807) ein Theil der preufsischen 
Monarchie, (jedoch mit einer besondern Verfassung,) wurde Ost- 
friesland durch diesen Frieden an Frankreich und bald darauf 



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Schriften üb. die totpendirten Gefälle in Ostfriesland. 495 

durch den Traktat von Fontainebleau v. 11. Not. 1807 an das 
damalige Königreich Holland abgetreten, dann im Jahre 1810 
samt dem Königreiche Holland mit dem französischen Kaiser- 
reiche vereiniget, hierauf im November 181 3 von dem Könige 
von Preufsen wieder in Besitz genommen and durch den traite 
de Paris v. 3o. Mai 1814 der Krone Preufsen zaruckerstattet , 
endlich im ajBten Artikel der Schlußakte des Wiener Kongresses 
von Preufsen an Hannover cedirt. In allen diesen Fällen war der 
Wechsel der Herrschaft zugleich mit einem, wenn auch bald 
mehr bald weniger durchgreifenden , des inneren Rechtsznstandes 
der Provinz verbunden. Zieht man noch insbesondere die Eigen- 
tümlichkeiten der vormaligen Verfassung des Fürstenthumes Ost- 
friesland in Erwägung, — eine Verfassung, welche sogar von der 
Verfassung anderer deutscher Länder wesentlich verschieden war, 
indem sie mehr an die Verfassung der Llans in den schottischen 
Hochlanden erinnerte, — so kann man, auch ohne mit den Ein- 
zelheiten bekannt zu sern, ermessen, dafs jene Veränderungen in 
die Interessen der einzelnen Landeseinwohner mannigfaltig ein- 
greifen mofsten, diese Interessen bald verletzend, bald auch be- 
günstigend. 

Unter anderem trat dieser Fall bei den Gefällen ein , welche 
die Besitzer der ostfriesischen Herrlichkeiten bis zum Jahre 1807 
von den Eingesessenen ungestört bezogen hatten. (Da die Ge- 
schichte und Verfassung des Fürstenthums Ostfriesland nicht so 
allgemein bekannt sejn möchte, als sie es wegen ihrer Eigentüm- 
lichkeiten zu seyn verdient, so fugt Ref. Folgendes erläuterungs- 
weise hinzu: Ostfriesland war einst eine Art von Bepublik. Diese 
bestand aus den »Häuptlingen« der Provinz. Ein jeder dieser 
Häuptlinge hatte ein bestimmtes Gebiet, über welches er fast 
unbeschränkt herrschte. Doch scheint diese Herrschaft anfangs 
mehr auf dem Ansehn beruht zu haben, welches der Häuptling, 
als das Haupt des vornehmsten Geschlechts seines Stammes oder 
Llans über die übrigen Stammesgenossen hatte, als die Grund- 
herrlichkeit des deutschen Rechts gewesen zu seyn. In der Folge 
kamen die mit der deutschen Grundherrlicheit zusammenhängen- 
den rechtlichen Ansichten allerdings auch in Ostfriesland in Um- 
lauf; aber wohl erst dann, als Ostfriesland mit dem übrigen 
Deutschland, von welchem es als ein fernes und schwer zugäng- 
liches Land fast vergessen worden war, in eine nähere Verbin- 
dung trat. Alle diese Häuptlinge bezogen übrigens , ein jeder in 
seiner Herrlichkeit, von den Eingesessenen gewisse Abgaben, theils 



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Schriften üb. die •ntpendirten Gefälle in Ostfriesland. 



als Schutzherren , theils für die Landesverteidigung , theils kraft 
des althergebrachten Ansebns ihrer Geschlechter. Eins dieser 
Geschlechter brachte endlich durch Verdienst, Glück und Heirath 
mehrere Herrlichkeiten an sich. Dieses gelangte nun vertragsweise 
zur HeiTSchaft über ganz Ostfriesland. Zugleich schlofs es sich, 
um seine Herrschaft zu befestigen , an Kaiser und Reich an. So 
entstand die Grafschaft und dann das Fürstenthum Ostfriesland« 
Anfangs hatten die Grafen keine andern Einkünfte als die. welche 
sie von ihren eigenen Herrlichkeiten bezogen. In der Folge aber 
wurden diese Einkünfte mit andern vertragsweise oder durch Be- 
willigungen der Häuptlinge und Stände des Landes« ingleichen, 
in den Zeiten der Reformation, durch Säkularisationen vermehrt. 
Mit der Zeit unterschied man auch die Einkünfte , welche die 
Grafen oder Fürsten von ihren eigenen Herrlichkeiten bezogen, 
von denen anderer Herrlichkeitsbesitzer, durch den Namen der 
Kammer- oder Domanialeinhunfte.) — Als Ostfriesland mit Hol- 
land und dann mit Frankreich vereinigt wurde, mufste die neue 
Ordnung der Dinge den ferneren Bezug jener Gefälle, sowohl 
derer, welche die Landesfursten , als derer, welche die andern i 
Herrlich hei tshesitzer von den Eingesessenen erhoben, fast unaus- 
bleiblich gefährden oder einstellen. Ein neues Abgabesystem wurde 
eingeführt ; die Fortdauer jener Gefalle stand wenigstens mit dem 
Geiste des franzosischen Rechts, (und mit diesem Rechte stimmte 
auch das Recht des K. Holland uberein,) geradezu in Widerspruch; 
und wenn schon Lehne, mit einigen wenigen Ausnahmen, in Ost- 
friesland unbekannt waren , so war man doch in Holland und noch 
mehr in Frankreich mit der Verfassung Ostfrieslands zu wenig 
bekannt, als dafs man nicht hätte geneigt oder gemeint seyn sol- 
len , das Verdammungsurtheil , welches jene Rechte über die Feu- 
dalabgaben aussprachen , auch auf jene Gefälle auszudehnen. Was 
zu erwarten stand , geschab auch wirklich , wenn auch die Ge- 
setze, welche in dem Rausche jener Zeit erlassen wurden, Vieles 
unbestimmt und unentschieden liefsen. (Daher eben die Streit- 
frage, von welcher weiter unten die Rede seyn wird.) Aber bald 
begann wieder ein anderes Zeitalter; der Fremdherrschaft wurde 
in Deutschland ein Ende gemacht; auch ihre Spuren wollte man 
vertilgen. Da hatten nun umgekehrt diejenigen zu furchten , wel- 
che von den unter jener Herrschaft getroffenen Veränderungen 
Vortheil gezogen hatten. In den norddeutschen Staaten stellte 
sich Vieles anders , als in den Staaten Süddeutschlands. 

(Der Ii c schlaf s folgt.) 



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N\32. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

Schriften über die suspendirien Gefälle m Ottfrieslnnd. 

(Bctchlufs.) 

Jedoch Ref. bat jetzt die Data einzeln anzuführen, welche sich 
auf den in den vorliegenden Schriften verhandelten Gegenstand 
beziehen, wenn er sich auch auf die wichtigeren und wichtigsten 
beschränken mufs. — Durch einen Beschlufs des Honigs von 
Holland, vom 10. April 1808, wurden die sämtlichen hollandischen 
Steuern in Ostfriesland eingeführt, mit alleiniger Ausnahme der 
Grundsteuer, an deren Stelle ein Surrogat trat. Da hierauf dem 
Könige vorgestellt wurde, dafs das neue Steuersystem mit den aus 
der ehemaligen Verfassung herrührenden an die Domanial hasse zu 
leistenden Abgaben unvereinbar wäre, so wurden durch einen 
anderweiten Beschlufs, vom 12. Juni 1809 , eine grofse Anzahl 
» dieser Abgaben, die der Beschlufs namentlich aufführte, pro* 
visorisch d. i. auf so lange abgeschaflt, bis dafs ausgemittelt 
seyn wurde, welche von diesen Lasten auf Verträgen über die 
Verleihung des Grundeigenthums oder als Grundrenten zu betrach- 
ten wären. (Die Abschaffung war nur eine provisorische; daher der 
Name: suspendirte Gefälle.) Dieser blos provisorische Zustand 
wurde, so lange Ostfriesland ein Theil des H. Holland war, nie 
in einen definitiven verwandelt. Obwohl übrigens der Beschlufs 
v. 12. Juni 1809, wie der Vf. der Schrift Nr. 1 zeigt, nur von 
den Domanialgefätlen ausdrücklich handelte, so wurden doch 
die in dem Beschlüsse genannten Abgaben von nun an , mit we- 
nigen Ausnahmen , auch den übrigen Herrlichkeitsbesitzern nicht 
mehr entrichtet. — Auch in den Zeiten der franzosischen Herr- 
schaft wurden jene Abgaben nicht weiter entrichtet. Dagegen fin- 
det sich unter den Gesetzen etc. , welche bei der Vereinigung des 
K. Holland mit Frankreich und bis zum Jahre 181 3 für die aus 
jenem Honigreiche gebildeten Departemens erlassen oder auf diese 
Departemeos ausgedehnt wurden, keins, welches den Beschlufs 
vom 12. Juni 1809 ausdrücklich bestätiget oder die über die Lehns- 
und grundherrlichen Abgaben in Frankreich erlassenen Gesetzo 
ausdrücklich auch für geltend in Ostfricsland erklärt hätte. — 
Während der kurzen Frist, in welcher hierauf Ost friesland wieder 
XXX. Jahrg. 5. Heft. 32 



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498 Schriften üb. die autpendirten Gefälle in Ottfrietland. 



an die Krone Preufsen kam, blieb dieser Zustand der Dinge im 
Ganzen unverändert. Nachdem aber Ostfriesland von der Krone 
Preufsen an die Krone Hannover abgetreten worden war, wurde 
von der k. hannoverschen Regierung durch eine Verordnung vom 
9. April 1818 die von dem Konige von Holland verfugte Suspen. 
•ion der Dom anial- Prästationen wieder aufgehoben und dagegen 
festgesetzt, dafs diese Abgaben, mit einigen Ausnahmen, vom 1. 
Mai 1818 an wie vormals erhoben werden sollten. Bei dieser 
Verordnung bat es bis jetzt sein Bewenden behalten, ungeachtet 
die Abgabenpflichtigen mehrere gegen dieselbe gerichtete Vor* 
Stellungen bei der Regierung und bei den Kammern eingereicht 
haben. Auch ist den Betheiligten nicht verstattet worden, den 
Weg Rechtens gegen die Staatskasse wegen des Fortbezuges der 
in Frage stehenden Abgaben einzuschlagen. Die suspendirten Ge- 
fälle, welche vormals an andere Herrlichkeilsbesitzer zu entrich- 
ten waren, liefs die Verordnung vom J. 1818 unerwähnt. Daher 
mehrere Rechtshändel , welche insgesamt von den Gerichten des 
K. Hannover zum Vortheile der Eingesessenen rechts- 
kräftig entschieden worden sind. — Es hat sich demnach die 
Sache so gestellt, dafs die sogenannten suspendirten Gefalle von 
einem Theile der Eingesessenen der ostfriesischen Herrlichkeiten 
entrichtet, von einem andern aber nicht entrichtet werden. Un- 
streitig eine sehr auffallende Ungleichheit des Rechts! 

Der Vf. der Schrift Nr. 1 (welche mit grofscr Gründlichkeit 
ausgearbeitet ist,) hat nun den Beweis zu führen gesucht, dafs 
das Zwischenrecht die s. g. suspendirten Gefälle niemals definitiv 
aufgehoben habe, wobei er, mit gutem Grunde, vorzugsweise auf 
die franzosische Gesetzgebung Rucksicht nimmt, da die holländi- 
sche in mehr als einem Sinne nur eine provisorische war. Er fuhrt 
diesen Beweis, — in welchem, wenn er gelungen ist, theils eine 
Verteidigung der k. hannoverschen Verordnung v. 9. April 1818, 
theils eine Erwiderung auf den pben erwähnten Gerichtsgebraucb 
liegt, — so, dafs er die in die Sache einschlagenden franzosischen 
Gesetze einzeln durchgeht und zu zeigen sucht , dafs keins der- 
selben die in Frage stehenden Gefälle , weder ausdrucklich noch 
Folgerung s weise, aufgehoben habe. — Ref. wurde die ibm 
durch den Zweck dieser Blätter gesetzten Grenzen uberschreiten, 
wenn er diese Beweisführung auch nur in einem Auszuge wie- 
dergeben oder sie einer ausführlichen Prüfung unterwerfen wollte. 
Doch erlaubt er sich die Bemerkung , dafs sie ihm nur t heil weise 
vollkommen gelungen zu seyn schien. Man kann oder mufs dem 



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Schriften üb. die •titpendirten Gefälle in OetfricaUnd. 499 



Vf. zugeben , dafs sich kein französisches Gesetz nachweisen läTst, 
welches die vorliegende Frage ausdrücklich entschiede. Ebenso 
durfte mit dem Verf. anzunehmen seyn , dafs sich aus den Ge- 
setzen etc., durch welche die Verfassungsgesetze des französischen 
Reichs in dem vormaligen K. Holland in allgemeinen Ausdrucken 
eingeführt wurden, nicht mit genügender Sicherheit der Schlufs 
ziehen lasse, dafs hiermit zugleich dem Grundeigenthume die Frei- 
heit gewährt wurde, welche ihm in Frankreich durch die Ge- 
setze v. J. 1789 ff*, zu Tbeil geworden war. Wenn aber nament- 
lich durch, die kaiserlichen Decrete v. 18 Ott. und v. 8. Nov. 1810 
die Zehnten und die Grundrenten in den aus dem vormaligen 
K. Holland gebildeten Oepartemens ausdrucklich aufrecht erhalten 
jedoch für ablösbar erklärt wurden , so ergiebt sich wohl hieraus 
(a contrario und mit Rücksicht theils auf den Geist der franzö- 
sischen Gesetzgebung überhaupt theils auf das oben erwähnte 
holländische Provisorium vom 12. Juni 1809) sehr unzweideutig 
die Folgerung, dafs alle blos grundherrlichen Abgaben für immer 
aufgehoben seyn und bleiben sollten. 

Die Vff. der Schriften Nr. 2. 3. haben es hauptsächlich mit 
der hannoverschen Verordnung vom J. 1818 zu thun. (Die ge- 
schichtlichen Nachrichten von der vormaligen Abgabenverfassung 
y Ostfrieslands, welche die Schrift Nr. 2 giebt, werden Vielen will- 
kommen seyn.) Ohne auf den von dem Verf. der Schrift Nr. 1 
geführten Beweis im Einzelnen einzugehen, suchen sie, gegen 
die Motiven jener Verordnung, z. B. zu zeigen, dafs die s. g. 
suspendirten Gefalle zum Theil und zu einem grofsen Theile ur- 
sprünglich Steuern waren und dafs daher die fernere Beziehung 
dieser Gefalle durch die Staatskasse mit der dermaligen Stcuer- 
verfassung unvereinbar, dafs aber auf jeden Fall den Belasteten 
der Weg Rechtens nicht verschlossen werden dürfe : — Befrem- 
det hat es Befo. , dafs in diesen Schriften nirgends auf den Un- 
terschied aufmerksam gemacht wird , der zwischen Ostfriesland 
und den altlur.no versehen Landen in so fern eintritt, als jenes 
Laad von Preufsen in dem Tilsiter Frieden an Frankreich und 
dann wieder, nachdem es zum Besitze dieser Provinz vertrags- 
roäfsig gelangt war, an Hannover abgetreten wurde, anstatt dafs 
die k. hannoversche Regierung io die alten Erblande jure post- 
liminii wiedereingesetzt wurde. 

Die Verfasser der drei Schriften haben sich insgesamt nicht 
genannt. Nun ist zwar das Recht eines Schriftstellers, anonym 
zu bleiben, wohl nicht zweifelhaft. Aber eine andere Frage ist 
die, ob nicht ein Schriftsteller, welcher über öffentliche An- 
gelegenheiten eines bestimmten Staates schreibt, sich nennen 
oder die von ihm beobachtete Anonymität durch besondere Gründe 
rechtfertigen sollte. 

Z a c h ar iä d. Aelt. 



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5041 



ÜBERSICHTEN und KURZE ANZEIGEN. 



M E I) I C I N. 

1) Untersuchungen über da§ Uesen und die Behandlung einiger der wich- 
tigsten Krankheiten der Wöchnerinnen , von Robert Lee, Arzt und 
Gtburtshelfer am Briiish-Lying-in-hospital etc. A. d. Engl, übersetzt 
u. mit Zusätzen versehen wn Dr. €. Schneemann. Hannover 1854. 
Verlag der Helwingschen Hofbuchhandlung. X u. 276 .V 8. 

2) über schwammige Auswüchse der weiblichen Geschlechtsorgane. Denk- 
schrift zur Feier des 25jährigen Bestehens der Entbindungsamtalt zu 
Leipzig unter Leitung ihres Stifters und Directors Joerg. Im Namen 
der mt'dicinischcn Gesellschaft zu Leipzig von Friedrich Ludwig 
Meifsner, Dr. d. Med. etc. Mit drei lithographirten Tafeln. Leip- 
zig am 8. October 1835. Verlag von Otto Wigand. 26 V 4. 

Die in der ersten Schrift abgehandelten Krankheiten sind das 
Puerperalfieber, die Schenltelphlebitis und die Gebärmutterblut- 
flüsse, über welche der Vf. vielfache Beobachtungen zu machen 
Gelegenheil hatte, die ihn anzunehmen bestimmen, dafs dem Puer- 
peralfieber stets eine Entzündung des Uterus und seiner Anhänge 
zum Grunde liege und dafs die entzündliche, congestive und ty- 
phose Form dieser Krankheit nur das vorwaltende Ergriffenseyn 
des ser5sen , muskulösen und venösen Gewebes des Organs be- 
zeichnet. Als die wichtigsten Arten dieser Krankheit nennt der 
Verf. Entzündung des Bauchfellsackes und der Bauchfellbedeckung 
der Gebärmutter*, Entzündung der Anhänge dieses Organs, als 
der Eierstocke etc., Entzündung des schleimichten, muskulösen 
oder eigentümlichen Gewebes des Uterus , Entzündung und Ei- 
terung der einsaugenden GefäTse und Venen der Uterinorgane , 
welche verschiedene Arten häufig allein, aber oft auch miteinan- 
der gemischt vorkommen. In Bezug auf die erste Art, die Ent- 
zündung des Bauchfells, kann der Verf. nur das Längst bekannte 
bestätigen. Die Diagnose der zweiten Art , der Entzündung der 
Uterinanhänge, gewinnt durch die Abhandlung im Ganzen nur 
wenig. Rücksichtlich der Entzündung der eigentlichen Gebär- 
multersubstanz finden wir auch nur Bekanntes. Werlhroll da- 
gegen ist eine vom Übersetzer beigegebene Krankheitsgeschichte« 
Belehrend in einem höhern Grade ist der Abschnitt über die Ent- 
zündung und Eiterung der aufsaugenden Gefäfse der Gebärmutter 
und über Gebärmutterphlebitis , bei welcher gleichzeitig auch an- 
dere Organe krankhaft verändert gefunden werden. Die Entzün- 
dung beschränkt sich zuweilen auf die Venen des Uterus, häufig 
aber breitet sie sich auch über das angrenzende Muskelgewebe 
aus , das dann erweicht, dunkelroth oder schwarzbraun gefunden 
wird. Oft aber leidet auch das Bauchfeil, und natürlich fehlen 
dann auch nicht die Zeichen der Peritonitis. Die Venae sperma- 



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Medirin. üOl 

ticae pflegen vorzugsweise entzündet zu seyn, und noch häufiger 
nur eine von ihnen, nämlich die dem Sitze der Placenta nächst- 
gelegene. Seltener, als die Venae spermaticae , sind die hypo- 
gaslrischen Venen entzündet. Als Ursachen bezeichnet L. me- 
chanische Verletzungen bei Losungen der Nachgeburt , faulende 
Nachgeburtsreste, Anwendung der Halte. Die Diagnose dieser 
Krankheit bleibt immer dunkel , was der Vf. auch zugeben mul's, 
da ausser einem dumpfen Schmerz oder einem Gefühle von Schwe- 
re, welches überdies auch häufig fehlt, kein ortliches Symptom 
die Krankheit ankündigt oder wenigstens von andern verwandten 
unterscheidet. Ein besonderer Abschnitt enthält die Geschichte 
der Phlebitis ut. , welche der Übersetzer unter Berücksichtigung 
der Arbeiten Puchelt's , Balling s und Gottmannf hätte ergänzen 
sollen. Die personelle Mittheilbarkeit stellt L. nicht in Abrede, 
und beschreibt im Gegentbeil einige Fälle, die für eine solche 
sengen und zu grofser Vorsicht die Geburtshelfer auffordern. 
Ebenso ist er nicht abgeneigt , eine Verwandtschaft zwischen Kind- 
bettfieber und Erysipelas anzunehmen , was sich indessen nach pa- 
thologischen Grundsätzen nicht durchfuhren läfst. Sein Verfah- 
ren beruht auf rationellen Ansichten, nur können wir den zu gro- 
fsen Gaben des Calomel und des Mohnsafts keinen Beifall zollen. 
Dem Terpentinöl und den Brechmitteln zeigt L. sich abhold, da- 
gegen wandte er nach dem Beispiele franzosischer Arzte lauwarme 
Einspritzungen in die Vagina mit entschiedenem Nutzen an. 

Die Phlegmatia alba dolens puerperarum beobachtete der Vf. 
zweiundzwanzigmal und entwirft davon ein lebendiges Bild. Bei 
der Geschichte dieser Krankheit vermissen wir die Arbeiten der 
Deutschen. Die Schenkelpblebitis sah L. nicht allein bei Wöch- 
nerinnen, sondern auch ausser dem Wochenbette bei Supprcssin 
mensiom, Vei schwärung des Gebärmuttermundes und andern or- 
ganischen Krankheiten der Geschlechtstheile. Auch bei Männern 
kommt sie in Folge der Einwirkung äusserer Schädlichkeiten, 
der Kälte und Nässe, vor. Die Behandlung L.'s besteht in Blut- 
egeln, Calomel und Antimonialpräparaten.. Bevor L. die Gebär- 
mutter blutflusse näher erörtert, geht er auf eine Widerlegung 
der Hunterschen Ansicht über die Verbindung der Placenta mit 
der Gebärmutter ein und stellt am Ende Folgendes auf: die 
menschliche Placenta besteht nicht aus einer mutterlichen und 
kindlichen Hälfte, sie hat in ihrer Substanz keine Zellen und ist 
mit der Gebärmutter nicht durch Blutgefäfse verbunden. Alles 
Blut, welches der Uterus durch die spermatischen und hypoga. 
strischen Arterien erhält, fliefst in die Venen der Gebärmutter, 
und nachdem es durch diese gegangen ist , kehrt es in die allge- 
meine Blutmasse der Mutter durch die spermatischen und hypo- 
gastrischen Venen zurück, ohne in die Substanz der Placenta zu 
gelangen. Da die Decidua in der Mitte zwischen den Nabelgc- 
fäfsen und dem Uterus sich befindet, so mufs jede Veränderung, 
welche das Fötalblut trifft, von einem indirekten Einflufs auf die 
Flüssigkeit herrühren, indem dies durch die Placenta fliefst, das 



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r.«2 



Med k in 



mütterliche Blut hingegen durch die grofsen Blulbehälter des 
Uterus. Eine Blutung bei geschwängerter Gebärmutter oder nach 
der Entbindung entsteht daher nicht aus zerrissenen Blutgefässen 
zwischen Uterus und Placenta, sondern aus den natürlichen Öff- 
nungen in der innern Haut der Gebärmutter, welche durch die 
Placenta geschlossen worden. 

Bei Blutungen von Placenta praevia empfiehlt L. ungesäumte 
künstliche Entbindung, sobald der Gebärmuttermund so weit ge- 
öffnet ist, dafs die conisch zugespitzte Hand eingeführt werden 
kann. Der Übersetzer räth in einer Anmerkung auch nicht so 
lange zu warten, sondern den Gebärmuttertnund künstlich zu er- 
weitern, was indessen leichter gesagt als vollbracht wird, wenn 
man die Wahrheit gestehen will. Bei Metrorrhagien nach völliger 
Entbindung glaube ich, auf Erfahrungen gestützt, jetzt auch mit 
Wenzel und Mappcs ein Brechmittel aus Ipecacuanha empfehlen 
zu können. Aber auch das Mutterkorn (das freilich unter ver- 
schiedenen Verhältnissen gesammelt sehr verschiedene Resultate 
geben mag) leistete mir in einigen sehr verzweifelten Fällen treff- 
liche Dienste. 

Einige grammatikalische Verstösse, wie Peritoneum statt Pe- 
ritonaeum, Symphisis statt Symphysis , und Inconsequenzen in der 
Schreibart, wie Basilika und dann decidua, kommen zu oft vor, 
um sie als Druckfehler ansehen zu können. 

Der Vf. der zweiten Schrift bezeichnet die B lasen seheidenfisteln, 
die Eierstockwassersucht und die Afterprodukte des Uterus, mit 
Ausnahme der Gebärmutterpolypen, als wahre Opprobria medico- 
rum. Gern stimmt Ref. ihm in Bezug auf die erste Hrankheits- 
sippe bei, wo er in den ihm vorgekommenen Fällen, nach viel- 
fältig fehlgeschlagenen Versuchen mit Suturen und der Anwen- 
dung eines Cauterii potent, et actualis , zuletzt nur noch durch 
das Tragen eines Schwammes, der täglich wiederholt gewechselt 
werden mufs, den Zustand der Kranken erträglich zu machen 
versuchte. Nicht allein der Mangel an klinischen Anstalten für 
Frauenzimmerkrankheiten auf den meisten Universitäten erklärt 
es, dafs wir noch immer keine genügenden Y er fahr ungs weisen zur 
Beseitigung dieser Übel kennen, sondern einen grofsen Theil der 
Schuld trägt die dem weiblichen Geschlecbte eigenthümliche 
Schaam , bei Krankheiten der Geburtsorgane nur selten und oft 
erst dann Hülfe zu suchen, wenn das Übel einen Grad erreicht 
hat, dafs keine menschliche Hand mehr Hülfe bringen kann. Die 
vom Verf. hier mitgetheilten , durch Abbildungen versinniiehten 
Fälle sind: ein Fungus haematodes , welcher sich zwischen Mast- 
darm und Mutterscheide entwickelt, die hintere Wand der Vagina 
durch die äussern Schaaratheile hervorgedrängt und zersprengt 
hatte und zwischen den Schenkeln sichtbar war. Die Exstirpa- 
tion durch den Schnitt gelang hier vollkommen. Der andere Fall 
betrifft ein Schwammgewächs, welches vom Cavum uteri hervor- 
wuchernd, durch die Ligatur von seinem Boden getrennt, mit 



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Medien» 503 

einer Geburt zange entfernt werden mufste ; der dritte , ein ge- 
stieltes and aus einer stratanakÖsen Stelle der Gebärmutter her- 
▼orgewuchertes Schwammgewächs , welches erst nach dem Tode 
der Kranken entfernt wurde. 

M. halt die fungosen Afterprodukte nicht in dem Grade sel- 
ten , als gewöhnlich angenommen wird , nicht so ganz leicht ihre 
Unterscheidung von Polypen und fibrösen Geschwülsten, deren 
eigen i humliche Merkmale er einander gegenüber hervorhebt, und 
empfiehlt zu ihrer Beseitigung vor Allem die Operation , nament- 
lich den Schnitt, wogegen sich nichts einwenden läTst 

Die Darstellung wurde durch mehr Präcision und Kurze ge- 
wonnen haben. Dafs die thätige ärztliche Gesellschaft in Leipzig 
diese Gelegenheit abermals benutzte, um auf eine wissenschaft- 
liche Weise ihre Theilnahme an einem für die Leipziger Hoch- 
schule wichtigen Tage zu bezeigen, verdient Anerkennung. 

8) Die Lungenschwindsucht ist heilbar, oder die Entwicklung de* Pro- 
zesses, den Natur und Kunst einzuschlagen haben, um diese Krankheit 
su heilen i nebet einer Empfehlung einer neuen und einfachen Heilme- 
thode, von Dr. Fr. Hopkins Ramadge , erstem Arzte des Hospitals 
für Lungenkranke in London, a. d. Engl, von Dr. C. Hohnbaum. 
Mit 4 illum. Tafeln. Dritte Aufl. 1835. Druck und Verlag vom biblio- 
graphischen Institut in HUdburg hausen. XV u. 100 S. 8. 

Gewifs ein Titel, durch den Hohnbaum zum Übersetzen, 
und Ärzte und Laien zum Lesen und zum Kaufen verführt wur- 
den. Bevor wir in die Beurtheilung dieser Schrift eingehen, 
können wir nicht umhin, einem hier ausgesprochenen, und vom 
Übersetzer wie von einigen Becensenten getheilten , Irrthume zu 
begegnen. Es wird hier nämlich gesagt , dafs London der einzige 
Ort sey , wo ein besonderes Hospital für Schwindsuchtige und 
andere Brustkranke sich finde. Dies ist ein Irrthum, denn in 
Paris finden sich deren zwei, die nach dem Willen der Stifter 
nur für Brustleidende bestimmt sind , nämlich das Hopital Necker 
und das Hop. Beaujon. Übrigens ist erfahrungsgemäß die Praxis 
an einem Hospital , welches nur für eine Krankheitssippe bestimmt 
wird , nicht geeignet , zur bessern Kenntnifs dieser Krankheit und 
ihrer Heilmethoden hinzuwirken , da der Arzt nur zu leicht hier 
in einen Schlendrian verfallt, der für die Wissenschaft und die 
Kranken gleich sehr verderblich ist. Der Vf. läugnet es durch- 
aus, dafs Catarrhe die Entstehung der Schwindsucht begünsti- 
gen , und erklärt ebenso bestimmt die catarrhalischen Krankheiten 
als Präiervation gegen die Lungenphthise und als das Hauptmittel 
zu ihrer Heilung, was um so mehr Erstaunen erregen raufs, als 
er die gallertartige tuberculose Infiltration als das Product einer 
eigenthümlichen chronischen Entzündung ansieht, von der man 
doch in der That nicht annehmen kann, dafs sie durch den Zu- 
tritt eines catarrhalischen Leidens beseitigt werde. Mit Bayle 
nimmt er an , dafs der in der Phthise ausgeworfene Eiter von der 



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Mcdicin 



die Tubercelhöhle auskleidenden Membran und nicht von der 
Brnnchialhaut herkomme. Bronchialaffection soll erst am Ende der 
Hranitheit und dann entstehen , wenn die Natur unter Ein flu f*- 
eines Catarrhs Versuche zur Heilung mache. Die Ablagerung 
von Tubercelstoff betrachtet er als eine eigenthümliche , krank- 
hafte, durch fehlerhafte Ernährung bedingte Secretion. Die Hei- 
lang geschehe durch Resorption der Tuberceln in einer frühem 
Periode der Krankheit und dann , noch im Zustande der Rohheit , 
durch Einschließung in schwarze Lungenmaterie. Wenn die Na- 
tur Heilung bewirke , so verbreite sich die Irritation von der 
Umkleidung der Höhle auf die benachbarten Bronchialaste , und 
es entstehe ein emphysematischer Zustand der Bläschenstructur 
dieses Theils der Lunge durch Einschließung der Luft im Act der 
Exspiration. Durch Ausdehnung der Luftzellen und durch den 
darauf folgenden voluminösen Zustand des Lungengewebes ent- 
stehe nun ein so constanter Druck von aussen nach innen auf die 
Aussensenseite der Hohle , dafs ihre Wände einander genähert 
werden, wodurch eine Heilung per primam intentionem erfolge. 
Bei schneller Heilung und noch nicht alter Hohle entstehe eine 
zellige Vernarbung, bei hinzutretendem Lungencatarrh und bei 
lange bestehender Phthise bilden sich die Vernarbungen durch 
libro • cartilaginose Lamellen. Neben einem Ve&icularemphysem 
gebe es selten neue Tubercel , was die Folge der ausserordent- 
lichen Thätigkcit der Lungen durch häufiges Einathmen sey, wie 
es mit chronischem Catarrh und Asthma verbunden zu seyn pflege. 
Leuten, die Anlage zur Schwindsucht haben, empfiehlt R. eine 
nährende Diät und häufigen Aufenthalt in freier Luft, Wechsel 
des Aufenthalts, Seereisen, letzte in der Absicht, um einen 
leichten Catarrh hervorzurufen und zu unterhalten, 
Laufen und Reiten. Gegen Laennec behauptet er, dafs die Be- 
strebungen der Natur zur Heilung der Lungenphthise die Brust 
erweitere u-.d das Lungenvolumen vergrofsere, daher er auch 
häufige Inspirationen' zur Stärkung der Brust empfiehlt. 

Für den Verf. gibt es zwei Wege zur Heilung der Phthisen : 
sie chronisch zu machen oder die kunstliche Erweiterung der 
Lungentlieile , welche der Luft zugänglich sind, zugleich aber 
auch dem hectischeu Fieber durch ortliche Blutentziehungen ein 
Ziel zu setzen. Der Zweck der Inhalation ist Ausdehnung der 
Lunge , damit die Flächen der primären Tubercelhohlen mitein- 
ander in Berührung kommen, ferner Lungencatarrh und ein Ve- 
sicularcmphysem. R. läfst sie daher mit der von ihm besonders 
dazu erdachten Maschine vornehmen und fortsetzen, sobald es 
ihm gelungen ist, durch einige Blutegel das het tische Fieber und 
andere Zeichen der Congestion zu bannen. 

Im Anhange erzählt R. auch einen Fall von Empyem in Folge 
von chronischer Pleuritis, der aber auch als Lungenschwindsucht 
passiren mufste. 

Das Weitere übergehen wir. Was die Schrift in pathologi- 
scher Beziehung Gutes enthält, ist nicht neu, das darin mitge- 



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theilte Neue paradox und des Beweises, oder doch wenigstens 
der Bestätigung bedürftig. Wir Können daher diesem literarischen 
Pro- oder Educte trotz seiner schon dreimal erlebten Verjüngung 
kein langes Leben verheifsen ! 

SU ei terra levis! 

V 

4) Versuche für die praktische Heilkunde , von Ferdinand Jahn. Ei- 
senoch, bei Joh. Fr. Bärecke. 1835. Erstes Heft. Fl II u. 216 S. 

Möchte doch ein ähnlicher Geist, wie in diesen Blättern, die 
unzähligen Zeit- und Gesellschaftsschriften beleben, mit welchen 
wir bei jeder Büchermesse überschüttet werden. Was der ge- 
niale Jahn hier bietet, zeigt von grundlicher Gelehrsamkeit, gro- 
fser Belesenheit, scharfer Beobachtung, strenger Wahrheitsliebe 
und festem Willen, das Seyn Tom Schein, das Korn von der Spreu 
zu sondern. Was hier geboten wird, ist, um mit Göthe zu re- 
den , ein Fläschcben reiner An ah , und Punsch daraus mache 
sich jeder nach Lust 

Eis ist hier der Ort nicht , um in eine Kritik der einzelnen 
Abhandlungen, zweiundzwanzig an der Zahl, einzugehen, was 
wir den kritischen ärztlichen Zeitschriften (in denen man leider 
mit jedem Tage eine Abnahme der Kritik wahrnehmen muPs) an- 
heim geben müssen. Doch erlauben wir uns auf folgende die 
Aufmerksamkeit der Leser besonders zu fuhren: Beiträge zur 
Naturgeschichte der hitzigen Hirnhöhlen Wassersucht 
der Kinder. Über keine Krankheit ist so viel Wahrheit und 
Dichtung in die Welt geschrieben worden als über die in Rede 
stehende, und jeder Unbefangene wird einräumen müssen, dafs 
es keine leichte Aufgabe ist , diesen Augiasstall zu reinigen. Jahn 
hatte Gelegenheit, diese Kinderkrankheit epidemisch an seinem 
Wohnorte zu sehen, dessen eigentümliche , klimatische, politi- 
sche und sonstigen Lebensverhältnisse, über welche der Vf. sich 
hier mit Freimut h weitläuftig ausspricht, die Steigerung der Krank- 
heit bis zur Epidemie einigermafsen erklärlich machen. Das We- 
sen , die Entstehungsweise und die Heilung der acuten Hirnhöh- 
lenwassersucht auf wissenschaftliche und der Erfahrung entspre- 
chende Grundsätze zurückzuführen, war die Aufgabe, die der 
Verf. sich gestellt und hier sine strepitu verborum, sine confu- 
sione opiniontim, sine fastu honoris, sine pugnatione argumento- 
rum durchgeführt hat. Seine Fackel ist die pathologische Ana- 
tomie, gegen welche einige unbärtige, kaum der Schule entlau- 
fenen Jungen jetzt zu Felde zu ziehen sich unterfangen. 

Nicht minder beachtungswert h sind die Bemerkungen über 
einige Kinderkrankheiten, namentlich über die beider Den- 
tition zuweilen vorkommende Entzündung im Zahnfleische, in den 
Alveolen und im Zahne selbst, über die acuten Scropheln der 
Kinder etc.; über die Wirksamkeit sehr kleiner Arznei- 
gaben; über die Longenschwindsucht mit scheinbarem 
Herzleiden; das gerichtsärztliche Gutachten über ein 



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5W> 



Mediein. 



mehrere Jahre hindurch von den Altern mifshandelt es 
Mädchen; Krankheitsnachklänge; Ober den geistigen 
Extract der Brechnufs u. s. w. 

Ob der Trofs der Ärzte, die Receptschreiber , die nur nach 
dem praktisch Brauchbaren d. h. nach dem suchen, was sich be- 
hende in ein Receptchen verkehren lafst, und auf den Titel eines 
Magister, non minister naturae Anspruch machen, ob diese mit 
Jahns Versuchen zufrieden seyn werden, wollen wir von vorn 
weg bezweifeln; denn hier treffen sie so Vieles, was ihrem 
Schlendrian im Denken, Fuhlen und Handeln: 

„Der Affe druckt und dreht, 

Bit daf« das Uhrlein stille atefat." 

schroff entgegentritt. 

5) Jahrbucher de» ärztlichen Verein» zu München. Kreier Jahrgang, mit 
I Kupfer SV 5 Steintafcln. München 1835. I UI u. 23? S. Derselben 
zweiter Jahrgang , mit 4 Beilagen. München 1836. FW und 415 & 
Verlag der A. Weberechen Buchhandlung. 

Man kann den deutschen gelehrten Gesellschaffen im Allge- 
meinen den Vorwurf nicht machen , dafs sie durch eine allzu 
grofse Thätigkeit sich frühzeitig abnutzen. Die Preisfragen sind 
ziemlich aus der Mode gekommen, und wenn zufällig auch eine < 
Societät sich einmal verleiten lafst, über einen die Menschheit und 
die Wissenschaff tief berührenden Gegenstand eine Frage aufzu- 
stellen, so hat man nach einem halben Decennium eine Bekannt- 
machung zu erwarten, dafs keine der eingegangenen Arbeiten 
den Sinn und den Zweck der Aufgabe aufgefafst und befriedigend 
beantwortet habe. Auch nur wenige medicinisch- naturhistorische 
Gesellschaften geben Bechenschaffsberichte von ihrem Wirken 
und Treiben , und diese lobliche Gewohnheit sollte doch nicht 
aus der Mode kommen. Die Jahrbücher des erst seit wenigen 
Jahren ins Leben getretenen Münchener ärztlichen Vereins ent- 
halten manche treffliche Arbeit, auf die wir hier mit einigen Zei- 
len aufmerksam machen wollen, wobei wir zugleich aber auch 
den Wunsch, ihres eigenen Gedeihens wegen, ausdrücken wollen, 
dafs die Bedaction bei der Auswahl der zum Druck geeigneten 
Arbeiten immer recht strenge verfahren möge. Der Aufmerk- 
samkeit der Leser empfehlen wir folgende Abhandlungen ; über 
die Heilung der Trepanationswunden und der Unochenverletzun- 

§en, von Weifsbrod; über die Blutgefässe des Uterus, von 
chneider; über die Grenzen der Staatsgewalt in Bezug auf 
medicinische Systeme, über ein eigentümliches Brustleiden, von 
Ottinger; die Thymusdrüse in anatomischer und physiologischer 
Beziehung, von Eugen Schneider; über das Asthma tbymi- 
cum, von Graf (ein lehrreicher, manche beachtungswerthe Winke 
enthaltender Aufsatz); Mittbeilungen über die orientalische Pest, 
von Fischer, Professor zu Abu-Zabel (Alexandrien verlor die 
Hälfte seiner Bewohner, Cairo 75,000 Seelen, viele Ärzte und 



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Mcdicio. 



507 



Weiter starben, and der Verf. spricht sich für die Contagiosität 
im Gegensatz mit den in Ägypten angestellten franzosischen Ärz- 
ten ans) ; Krankheitsgeschichte einer als Folge von Entzündung 
vermeintlich in dem linken Brustfellsacke durch Crisis erronea 
entstandenen, durch die Section aber in dem Herzbeutel nach» 
gewiesenen Ergiefsung , von AI. v. Winter (ein in diagnostischer 
Beziehung sehr interessanter Fall; die Redaction dieses Aufsatzes 
läfst Manches zu wünschen übrig) ; das Wurzel pulver von Aspi- 
dium filix mas , das sicherste aller Band Wurmmittel, von Dr. Ül- 
lersperger; die Molken- und Badanstalt Kreuth im Jahre i835 
von Dr. C. Krämer; über die Heilquellen zu Kissingen, von 
Dr. Balling. 

6) Klinische Chirurgie von Philipp Wilhelm, Dr. der Phü. u. M ediein, 
ord. hff. Professor der Chirurgie in München ete. Erster Bernd, mit 4 
in Stein gestochenen Tafeln. München 1830, Joseph Lindaucr'sche 
Buchhandlung. 8. 415 5. 

Die Schrift enthält acht besondere Abhandlungen, den Jahrs- 
bericht der chirurgisch- augenärztlichen Abtheilung des allgemei- 
nen Krankenhauses zu München von 1837 — 28, über die Be- 
handlung der venerischen Krankheiten , über die Behandlung der 
Krätze , Bemerkungen über den Bruchschnitt , über den Glieder- 
schnitt als eine vom Verf. sein genannte Amputationsmethode zur 
Absetzung des Oberarms und Oberschenkels, Bemerkungen über 
die Steinzermalmung und den Steinschnitt, des Verls. Exstirpa- 
tionsmethode der krebshaften Gebärmutter, Beschreibung einer 
merkwürdigen Pulsadergeschwulst. 

In der tabellarischen Übersicht der in der chirurgischen Ab- 
theilung bebandelten Kranken h'güriren neben 71 Verstorbenen 
auch 18 Fortgejagte (!!). Die Abhandlung über die Behand- 
lung der Syphilis und über die Behandlung der Krätze sind of- 
fenbar die gediegensten und von einem allgemeinen Interesse. 
Wie Handschuh, Fricke u. A. , so versuchte auch W. die Be- 
handlung dieser Krankheit ohne Quecksilber, und befand sich wohl 
dabei , günstigere Resultate von diesem Verfahren als von der 
Verquickung beobachtend. Was der Verf. 8. 56 ff. über die bei 
der Behandlung dieser Krankheit mit Quecksilber, über die Indi- 
cationen der einzelnen Quecksilberpräparate sagt, stimmt ungefähr 
mit dem überein , was der geniale J. A. Schmidt einige Decen- 
nien früher in dieser Beziehung aussprach. 

Rein entzündungswidrig behandelt W. übrigens syphilitische 
Krankheiten nicht , sondern stellt folgenden Behandlungsgrundsatz 
in schwülstiger Rede auf: »durch Vermehrung und Beförderung 
aller Ab- und Ausscheidungen des menschlichen Korpers das in 
demselben haftende, durch syphilitische Infection erzeugte, alle 
syphilitischen Krankheitsäusserungen bedingende allgemeine syphi- 
litische Contagium aus dem Korper zu entfernen und gleichzeitig 
die Krankheitsäusserungen selbst durch eine ihrem Ausspruche, 



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508 Hodicin. 

ihrer Starke und Form, wie ihrem Sitze entsprechende, mit der 
alle Ab- und Ausscheidungen des Körpers befördernden Behand- 
lung verbundene anderweitige Behandlung gehörig zu bekämpfen ,« 
was er dadurch zu erreichen sucht, dafs er jedem Syphilitischen 
halbstündlich eine halbe Tasse von einer Mischung aus einem 
Scrupel Succus laquiritiae, 8 Gran Aniskörnern und einem Maas 
Wasser lauwarm trinken lafst, und nach Umständen hiermit noch 
ein Purgans oder ein Diaphoreticum verbindet, wobei der Kranke 
eine strenge Diät beobachten und in einer gleichmäßigen Tem- 
peratur verbleiben müfs. Des Vfs. Verfahren bei der Psora zeich- 
net sich durch Wohlfeilheit , Schnelligkeit der Heilung und Rein- 
lichkeit aus, was den meisten sonst gebräuchlichen Verfahrungs- 
weisen nicht nachgerühmt werden kann. Des Vfs. Bemerkungen 
über den Bruchschnitt enthalten nichts Neues, sondern bestätigen 
nur Bekanntes. Die als sein bezeichnete Amputationsmethode 
zur Absetzung der obern und untern Gliedmaßen ist, wenn wir 
anders dieselbe recht aufgegriffen haben, durchaus dieselbe, nach 
welcher Ref. und der Verf. im Sommer 1822 Dupuytren operiren 
sahen , freilich nicht mit dem vom Verf. hier angegebenen , dem 
Gröt eschen ähnlichen Messer. Aach an seiner Exstirpations- 
methode der krebsartigen Gebärmutter können wir nichts Neues 
aufßnden. Die hier beschriebene eigenth um liehe Pulsaderge- 
schwulst ist merkwürdig und verdiente mitgetheilt zu werden. 

T) Handwörterbuch der gesummten Chirurgie und Augenheilkunde, heraus- 
gegeben von den Professoren Dr. W. Walt her in Leipzig, Dr. M. 
Jäger in Erlangen, Dr. J. Radius in Leipzig, Zweiter Band. 620 
Seiten. Leipzig, Weygand'sche Verlagsbuchhandlung. 1887. 

Dieser zweite Band geht von Atrophta bis Fascia scapularis, 
und enthält, gleich dem ersten, einige recht gediegene Artikel, 
zu welchen wir namentlich die aus dem Gebiete der Augenheil- 
kunde, ferner Balggeschwulst, Blennorrhoea , Blepharoplastice , 
Bruchband, Cancer, Caries, Cataracta (besonders gelungen), Chi- 
rurgia , Corpora aliena , Exostosis , die Exstirpationen rechnen. 
Zu kurz und nicht vollkommen genügend ist der Artikel Auscul- 
tation abgehandelt, und nur das erste Stethoscop, nicht das von 
Piorry verbesserte und mit einem Plessimeter versehene, besehrie- 
ben. Ebenso hätten wir dem Artikel Empyem eine grofsere Aus- 
dehnung gewünscht, und wundern uns, hier nicht Becker 's treff- 
liche Abhandlung über Pleuritis chronica berücksichtigt gefunden 
zu haben. Bei manchen Arzneimitteln hätten die Recepte wohl 
gänzlich wegbleiben können, wie bei Calaraus aromaticus, bei 
andern in geringerer Anzahl vorbanden seyn dürfen , wie bei 
Belladonna, bei einigen Balsamen, Conium maculatum etc. 



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Hechts- und Staatawiaaenachaft. 



8) \eueste Andeutungen über die Seit war tskrümmung des Rück gratfrei , 
die hohe und volle Schulter, besonders bei den Mädchen. Ihre Begrün- 
dung in der Natur, ihre Ursachen, ihre Verhütung und Heilung. 
Worte der Warnung und Belehrung über die sweckmäfsigste Ait der 
physischen Beaufsichtigung der Jugend etc. von F. J. Bönig, flr. med. 
in Stuttgart. Mit lithogr. Abbildungen. Stuttgart 1837. Hullbcrger- 
sehe Perlagshandlung. 85 S. 

Trotz allen Toilettenkünsten, in welchen unsere Damen es 
mit Hülfe der Putzmacherinnen , Schneiderinnen u. s. w. zu ei- 
nem hohen Grade der Vollkommenheit gebracht haben, entdeckt 
das Äuge des Henners nicht häufig einen vorwurfsfreien Wuchs 
und eine makellose Kö'i perbildung bei den Schönen unserer Tage, 
und nicht selten mochte man sich geneigt fühlen, ihnen mit Mar- 
tial das Sunt tibi crura, ut cornua lunae! nachzurufen. Offenbar 
trägt zu dieser mangelhaften körperlichen Entwicklung, zu die- 
ser Bildungshemmung, die allen Ansprüchen einer vernünftigen 
Diätetik höhnende Erziehung bei , welche die Entfaltung des Ver- 
standes , oder eigentlich nur eine Überl üllune des Gedächtnisses 
im Auge, um das Gedeihen des Korpers sich wenig oder nicht 
kümmert. Ahnliches kann man von der Beschaffenheit der Kor- 
perbildung unserer männlichen Jugend sagen , welche im wahren 
Sinne des Worts von unsern Schulpedanten früh zu Invaliden 
geschrieben wird. Die vorliegende Schrift ist nicht allein für 
Aeizte, sondern auch für Laien und für diese vorzugsweise be- 
stimmt, und behandelt daher in einer populären, doch edel ge- 
haltenen Sprache die Entstehungsweise, den Begriff, die Ursa- 
chen, die Vorhersagung, die Verhütung und die Behandlung der 
hohen Schulter, der vollen Schulter, der Seitwärtskrümmung des 
Ruck^raths mit ihren weitern Folgen. Der Gymnastik spricht 
der Verf. nach Gebuhr das Wort, und deutet zugleich die Grän- 
zen der Gymnastik und der Orthopädik als Heilungsmomente an. 

Der Inhalt des Buchs und die Darstellung ist von der Art, 
dafs wir die Schrift zu einer allgemeinen Verbreitung und Beher- 
zigung oach bestem Wissen und Gewissen empfehlen. 

Heyfelder. 



RBCHT8- und STAATSWISSENSCHAFT. 

Grundzüge der Politik des Rechts. Von Dr. K. F. Röder, ( Privatdocen- 
ten auf der Universität in Giefsen.) Erster Theil. Einleitung. All- 
gemeine Staatsverfassungslehre. Darmstadt , J. W. Heyens Hof buch- 
handlung, G. Jonghaus. 1837. 353 .S. 8. 

Der Grundgedanke des Vfs. kann vielleicht so chara Utensil t 
werden : Den in der Erfahrung bestehenden Staaten liegt eine 
Idee zum Grunde, die Idee eines dem Rechtsgesetze entsprechen- 
den Zustandes der menschlichen Gesellschaft. Wie diese Idee am 
vollkommensten , nach Zeit und Umständen — also mit Hülfe der 



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Recht«- und StaaUwisienichaft. 



Politik — am vollkommensten verwirklicht werden könne, ist die 
Aufgabe der Staatswissenschaft. (Daher der Titel der Schrift.) 
Der Staat entsteht nicht durch einen Akt der Willkühr: der 
Staatsverein beruht also nicht seinem Wesen nach auf einem Ver- 
trage ; das Volk d. i. die Mehrheit der stimmfähigen und person- 
lich selbstständigen Burger ist nicht schon von Rechtswegen der 
Herrscher oder die Quelle aller Gewalt. Sondern nach Zeit und 
Umständen, nach dem Mafse der Kultur und Civilisation, zu wel- 
cher ein Volk gelangt ist, ist bald diese bald eine andere Ver- 
fassung die rechtmäfsige , sind bald diese bald andere als die ein- 
sichtsvolleren und einsichtsvollsten, zur Herrschaft oder zur Theil- 
nähme an der Ausübung der Herrschaft berufen, ist der öffent- 
lichen Meinung bei der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten 
d. i. bei der Auslegung und Anwendung des Rechtsgesetzes bald 
ein gröfseres bald ein geringeres Gewicht beizulegen. 

Nachdem der Vf. in der Einleitung diese und ähnliche Sätze 
aufgestellt, auch eine Übersicht der Geschichte und Literatur der 
Staatswissenschaft gegeben hat , geht er zur Verfassungslehre über. 
Er handelt hier theils von der Verfassung der Staaten überhaupt , 
theili von den vornehmsten Beherrschungs- oder Regierungsfor- 
men, von der Demokratie, von der Aristokratie, von der Monar- 
chie. In einem zweiten Theile wird der Verf. noch inbesondere 
die konstitutionelle Monarchie in Betrachtung ziehn und sodann 
die allgemeine Lehre von der Staatsverwaltung nach ihren ver- 
schiedenen Zweigen, (jedoch, was die Polizei und die Finanz- 
Wissenschaft und die Staatswirt hschaftslehre betrifft, nur mit An- 
deutung der rechtlichen Grundlagen dieser Wissenschaften,) die 
Gesetzgebungskunst und den Staatsdienst, endlich die Verhältnisse 
von Staat zu Staat bebandeln. 

Der Vf. hat durch diese Schrift Erwartungen und Hoffnun- 
gen bei seinen Lesero erregt, die er, nach dem bereits Geleiste- 
ten zu urtheilen, gewifs in der Folge erfüllen wird. In allen 
philosophischen Wissenschaften stehen zwei Partheien einander 
gegenüber, die Parthei der Idealisten und die der Realisten. Eine 
dritte Parthei sucht zwischen ihnen Frieden zu vermitteln, indem 
sie einerseits die Ansprüche der ersten Parthei hei abstimmt, und 
(vielleicht das grofsere Verdienst!) die Sprodigkeit der zweiten 
gegen das Ideale mäfsiget. Der Vf. darf der dritten Parthei bei- 
gezählt werden. 

Annalcn dt» Adventen- Verein» zu Hannover. Hannover, F erlag der Hahn- 
sehen Hafbuekhandlung. Fünft* Heft. 1835. 152 ü $eek»te» Heft. 
1886. 208 & 8. 

Mit Vergnügen zeigt Ref. die Fortsetzung einer Zeitschrift 
an, deren in diesen Blättern schon früher mit dem ihr gebühren- 
den Lobe gedacht worden ist. Die Hefte V und VI enthalten, 
wie die früheren, i) die Protokolle der Sitzungen des Vereins, 
s) Vorschläge zur Verbesserung der Gesetzgebung und Gutachten 



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Reohtt- und StfiaUwis»en»chaft. 



über Gesetzentwürfe, welche die Rechtspflege betreffen, 3) Ab- 
bandlangen rechts wissenschaftlichen Inhalts und Rechtsfälle, 4) 
Nachrichten , z. B. Ton dem dermaligen Bestände des Vereins. — 
Unter den Aufsätzen der zweiten Klasse zeichnen sich besonders 
die » Ansichten und Wunsche des Vereins in Beziehung auf die 
Procefs-Ordnung für die Untergerichte im K. Hannover vom 5. 
Okt. 1827« durch die Ausführlichkeit und Gediegenheit der in 
dem Aufsatze enthaltenen Bemerkungen aus. (Der schon in den 
früher erschienenen Heften begonnene Aufsatz lauft durch beide 
Helte fort. Vielleicht wäre es rathsam, ein jedes den Procefs 
betreffende Gesetz dem Advocatenstand zur vorläufigen Begut- 
achtung mitzutheilen. Anwälte und Sachwalter wissen oft am 
besten , wie Gesetze dieser Art im Leben wirken , ob ihrem 
Zwecke gemäfs oder entgegen.) — Unter den Aufsätzen der drit- 
ten Klasse befinden sich mehrere , die auch für das gemeine Recht 
Interesse haben ; z. B. die Aufsätze : Kann der Gläubiger, welcher 
im Concurse des Hauptschuldners sich nicht gemeldet hat und 
präcludirt ist, dennoch den Bürgen angreifen? llft. VI, S. 120. 
(In dem hier erzählten Rechtsfalle wurde die Frage bejahend ent- 
schieden, jedoch zugleich mit Rücksicht auf die besondere Be- 
schaffenheit des Falles.) Zur Lehre von der Untheilbarkeit und 
dem Verluste ländlicher Servituten. Ebd. S. 125. (Ein interes- 
santer Rechtsfall. Eine servitus viae wurde schlechthin für er- 
loschen erklärt, weil sie in Beziehung auf das vor dem andern 
Grundstücke liegende Grundstück verloren gegangen war.) — 
Wir wünschen der Zeitschrift einen ununterbrochenen Fortgang. 

Die Verpachtung der Landgüter in ihrem ganzen Umfange, der Pacht- 
anschlag, der Pachtcontract und die Übergabe, mit Hinweisung auf 
die Grundsätze de» gemeinen auch preuf suchen Landrechts, praktisch 
erörtert von O. ff. v. Honstcdt, Landcommissäre , Mitgliede mehrerer 
landwirthschaftlicher Gesellschaften. Hannover, Verlag der Hahn'schen 
fhfbuchhandlung. 204 8. 8. 

Der Vf. zieht die drei auf dem Titel der Schrift erwähnten 
Gegenstände, auf welche bei der Verpachtung eines Landgutes 
Alles ankommt, sowohl in landwirthschaftlicher als in rechtlicher 
Hinsicht in Betrachtung. Die ganze Schrift ist ein ehrenvolles 
Zeugnifs von den theoretischen und praktischen Kenntnissen des 
Vfs. Wenn auch manche in dem Buche enthaltene Regeln und 
Rathschläge nach der Grofse , Beschaffenheit und Lage der Land- 
guter und nach der Verschiedenheit der Länder zu modifictren 
und bald mit dieser bald mit andern Einschränkungen oder Ver- 
änderungen in Anwendung zu bringen sind , so ist doch das Werk 
den Verpächtern und Pächtern in allen deutseben Ländern, be- 
sonders aber denen gröTserer Landgüter , als ein klassischer Rath- 
geber zu empfehlen. 



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Ober eine Sammlung geschichtlicher Notizen , den Adel in Livland betref- 
fend, von Moritz WrangcH, Freiham aus dem Hause Luddenhof. 
Riga, Verlag von W. F. Bäcker. 1836. 19 S. 8. 

Schon seit dem Jahre 1816 beschäftigt sich der Vf. mit der 
Geschichte des Inländischen Adels, dieses so interessanten Zwei- 
ges des deutschen Adels, Er hat in dieser langen Reihe von 
Jahren weder Zeit noch Muhe gespart, die im Druck erschiene- 
nen Werhe und Abhandlungen sowie die (in öffentlichen oder 
in Privatarchiveri befindlichen) handschriAlichen Nachrichten, wel- 
che den Adel Livlands betreffen , zu sammeln und zu ordnen. 
Von den Schätzen, die er so gesammelt hat, giebt die Torliegende 
Schrift ausfuhrliche Nachricht. Leider! macht der Vf. nirgends 
Hoffnung , seine so vollständigen Materialien auch zu verarbeiten 
oder wenigstens die allgemein interessanten Resultate durch den 
Druck bekannt zu machen. Und doch hätte er den Beruf zu ei- 
ner solchen Arbeit um so mehr, da er einerseits des Vortrages 
vollkommen mächtig und andererseits mit der Geschichte des 
deutschen Adels überhaupt, (auch mit der neuesten Literatur die- 
ses Faches,) sattsam bekannt ist. 



r O *f£xf«?of vono;. Imperatorum ßasilU, Constantini et Leonis Prochi- 
ro*. Codd. MSS. ope nunc primum edidit, prolegomenis , annotutioni- 
bus et indieibus instruxit, C. K. Zachariae J. V. D Heidelbergensis. 
Accedit commentatio de bibtiotheca Bodlejana ejusque Codicibus ad Jus 
Graeco- Roman um »pect antibus . flcidelbergae apud J. C. R. Mohr, Aca- 
demiae bibliopolam. MDCCCXXXVll. 8. CCXll und 868 & 

Der Herausgeber, welcher jetzt schon zum dritten Male mit 
der Bearbeitung einzelner Überreste des byzantinischen Rechts 
hervorzutreten wagt, glaubt diese Selbstanzeigc mit einer Ent- 
schuldigung oder Rechtfertigung seines Unternehmens beginnen zu 
müssen. Er hat schon öfters seine Überzeugung von dem Nutzen 
und der Wichtigkeit des Studiums des byzantinischen Rechts aus- 
gesprochen, und glaubt wenigstens in einer Beziehung den Beweis 
dafür in diesen Jahrbuchern i836 S. 857 ff - geführt zu haben. 
Der Rechtszustand des griechischen Volkes, wie er sich in unsern 
Tagen namentlich in Beziehung auf das Privatrecht vorfindet, steht 
in dem genauesten organischen Zusammenhange mit dem Rechte, 
welches in dem griechischen Reiche vor dessen Zerstörung durch 
die Türken bestand: ein Zusammenhang, der immer klarer wird, 



bucher mit dem vergleicht, was uns z. B. Herr Staats rat Ii von 
Maurer und Herr Dr. Geib in ihren bekannten Schriften über 
das dermalen in Griechenland geltende Recht berichtet haben. 



Z achar i ä d. ä. 




(Der lic schlaf s folgt.) 



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N*. 33. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DEll LITERATUR. 



Rechts- und Staafswisscnschaft. 

( lies chlufs.) 

Darum durfte das Studium des byzantinischen Rechts eine 
besondere Aufmerksamkeit von Seiten derer verdienen, welchen 
die Ausbildung und Verbesserung des Rechtszustandes im König- 
reiche Griechenland am Herzen liegt : zumal auch die byzantini- 
schen Rechtsquellen eine reiche Fundgrube von griechischen Kunst- 
wörtern sind , deren Mangel in der neugriechischen Sprache einer 
schnellen Fortbildung des Rechts hinderlich seyn mufs. 

Aber die Bearbeiter des byzantinischen Rechts haben noch 
eine zweite, nicht minder schlagende Rechtfertigung für ihr Un- 
ternehmen. Die Wichtigkeit der byzantinischen Rechtsquellen für 
die Kritik ( und wohl auch für die Erklärung ) der Quellen des 
justinianischen Rechts bedarf keines besonderen Beweises. Je 
allgemeiner aber diese Thatsache anerkannt ist, um so mehr ist 
bei dem neuerwachten kritischen Bestreben der Bearbeiter des 
römischen Rechts eine Reihe von Untersuchungen not h ig , theils 
über den Bestand und die Natur der uns erhaltenen Überreste der 
byzantinischen Jurisprudenz, theils über ihren verhältnifsmäfsigen 
Werth für die Kritik des Corpus juris. Vor Allem ist für die 
Kritik des griechischen Textes der Novellen, für dessen Aufstel- 
lung bis jetzt fast nur zwei interpolirte Handschriften aus ziem- 
lich neuer Zeit benutzt worden sind, Vieles von der Vergleichung 
der byzantinischen Rechtsquellen, zu hoffen, namentlich solcher, 
die in alten Handschriften auf uns gekommen sind, in welche 
die Schreiber noch nicht die Sprachart der neueren Zeit übertra- 
gen haben. Vielleicht durfte gerade in dieser Beziehung auch 
die vorliegende Ausgabe des Prochiron von Nutzen seyn , da ihr 
^wei ziemlich alte Handschriften zum Grunde liegen, und viele 
Stellen der Novellen wörtlich in das Prochiron ubergegangen sind. 

Nach diesem Vorworte mag nun hier eine Inhaltsangabe des 
Buches folgen, welches den Gegenstand dieser Anzeige bildet. 
I. Den Anfang machen Prolegomena in 10 Kapiteln, deren Inhalt 
durch folgende Bemerkungen klar werden wird. Neben den be- 
kannten und öfters gedruckten Rechtscompendien von Micbaiel 
Psellos, Michaiel Attalioties und Konstantinos Armenopulos werden 
schon seit alter Zeit drei Rechtscompendien erwähnt , die von 
byzantinischen Kaisern publicirt worden seyn sollen, und die man 
durch die Namen Eklogie , Prochiron , Epanagogie von einander 
unterscheidet. Cber die Geschiebte, d. h. das Alter und die Ur- 
heber dieser Rechtscompendien oder kleinen Gesetzbücher sind 
sehr verschiedene Ansichten geäussert worden. Die Eklogie 

XXX. Jahrg. 5. Heft. 33 



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§14 Hechts- und Staatawisicntchaft. 

sollte bald von den Kaisern Leon und Konstantinos um das Jahr 
911, bald von den Kaisern Basilios, Konstantinos und Leon zwi- 
schen 870 — 878; das Prochiron bald von den Kaisern Basilios, 
Konstantinos und Leon zwischen 870 — 878, bald von den Kaisern 
Leon und Konstantinos um 911 , bald von dem Kaiser Leo um 
900 verfafst worden seyn : nur die Epanagogie wurde einstim- 
mig den Kaisern Basilios, Leon und Alexandros (879 — 886) zu- 
geschrieben. Zuletzt hat Herr Geheime just izrath Biener die 
Ansicht aufgestellt, dafs die Eklogie von den Kaisern Leon und 
Konstantinos (den Bildersturmern) etwa um 789, das Prochiron 
von Basilios, Konstantinos und Leon (870 — 878), die Epana- 
gogie endlich von Basilios, Leon und Alexandras (879 — 886) 
publicirt worden sey. Diese Ansicht ist mit wenigen Modifikatio- 
nen in den Prolegomenen zu der vorliegenden Ausgabe des Pro- 
chiron vertbeidigt worden, und zwar in folgender Weise. — Jene 
kleinen Gesetzbucher bestehen aus Vorreden oder einleitenden Con- 
stitutionen und einer Reihe von Titeln, in welchen das gesammte 
System des Rechts dargestellt wird. Den Vorreden steht eine 
lnscription voran, in welcher die Namen der Kaiser genannt wer- 
den, von welchen die Vorrede herrührt. — Ausserdem giebt es 
mehrere Rechtscompendien, welche von Privaten zu verschiede- 
nen Zeiten ausgearbeitet worden sind, und denen das eine oder 
das andere jener kleinen Gesetzbucher in <1«l Ar t zum Grunde 
lie^t, dafs der Text desselben und seine Altplilungen mannich- 
tach abgeändert und mit willkürlichen Zusätzen aus andern Rechts- 
quellen vermischt sind. Ebenso willkürlich haben nun die Verfas- 
ser die Vorreden und Insci iptionen der kleinen Gesetzbücher, 
welche sie entweder ihrer Arbeit zu Grunde legten oder aus de- 
nen sie wenigstens Auszüge in ihre Arbeit übertrugen, bebandelt. 
— Diese letztere Thatsache war bisher nicht hinreichend erkannt 
worden: man glaubte in diesen Pri vatcompendien bald das eine 
bald das andere der kaiserlichen Rechtscompendien zu ent- 
decken, und mofste mithin unfehlbar zu der Annahme geführt 
werden, dafs uns die Letzteren, namentlich was die Vorreden 
und ihre Inscriptionen betreffe, in sehr verwirrter Weise in den 
Handschriften überliefert worden seyen. — In den Prolegomenen 
zum Prochiron, von welchen hier die Rede ist, ist nun der Be. 
weis versucht worden , dafs in den bekannten Handschriften eine 
solche Verwirrung nicht vorliege; sondern dafs ein Theil die 
Eklogie enthalte, und diese den Kaisern Leon und Konstantinos 
und zwar der <)t en Indiktion des Jahres 6247 oder 6248 seit Er- 
schaffung der Welt regelmäßig zuschreibe: ein anderer Theil das 
Prochiron, und dieses den Kaisern Basilios , -Konstantinos und 
Leon (870 — 878) beilege: ein dritter Theil die Epanagogie, 
und als deren Urheber die Kaiser Basilios , Leon und Alexandroi 
(879 — 886) bezeichne: die übrigen Handschriften endlich Pri- 
vatcompendien enthalten, welche in Kap. 5 — 8 einzeln aufge- 
zählt und genau (zum Theil mit Abdruck einzelner Stücke) be- 
schrieben werden. 



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Staats- und Reclitsu-tiacnichaft. 



515 



II. Auf die Prolegomenen fol^t die Ausgabe des Procbiron 
selbst auf S. i — 358. Der griechische Text ist nach mehreren 
Handschriften festgestellt worden: ihm sind Anmerkungen und 
eine lateinische Übersetzung beigegeben , welche beinahe ganz aus 
W. O. Reitzens Übersetzung von Armenopulos entlehnt ist. 

III. Eine kurze Übersicht über die Geschichte und die Ein- 
richtungen der Uodlejanischen Bibliothek zu Oxford , and über 
die in ihr befindlichen Handschriften , endlich ein beschreibendet 
Verzeich nifs der Handschriften des byzantinischen Rechts, welche 
jene Bibliothek enthält, bilden einen Anhang oder eine Beigabe, 
mehr zu den Prolegomenen, als zu der Ausgabe des Procbiron 
selbst (S. 259 — 338). flirr ist denn auch (S. 287 fT.) zum ersten« 
male die Vorrede and der erste Titel eines griechischen Rechts* 
compendiums aus dem Anfange des loten Jahrhunderts ('Entxou.^ 
xäv wiiLov) gedruckt, dessen Vorrede eine Bearbeitung der 1. 2 
de origine juris enthält, die schon von Herrn Prof. K lenze in 
seinem Lehr buche der römischen Rechtsgeschicbte, Berlin i835, 
8. 54 benutzt und angeführt worden ist. 

IV. Den Beschlufs machen (S. 339 — 368) verschiedene Re T , 
gister. 

Schon vorhin ist bemerkt worden, dafs, abgesehen von eini- 
gen anderen Corruptionen in den Handschriften, die Eklogie bald 
der 9ten Indiktion des Jahres 6247 TOn Erschaffung der Welt, 
bald der 9ten Indiktion des Jahres 6248 von Erschaffung der 
Welt zugeschrieben werde, wobei die Handschriften gleichmä'Psig 
den Marz als den Monat der Promulgation angeben. Die zwei 
ältesten Handschriften haben die Zahl 6248 : eine noch ältere 
Handschrift (Codex Vallicellanus [Romae] F. 47 aus dem zehnten 
Jahrhunderte), die erst jetzt zu meiner Kenntnifs gelangt ist, 
stimmt mit ihnen überein. Die übrigen Handschriften, die Mehr« 
zahl, scheinen für die Jahrszahl 6247 zu seyn. Da nun nach den 
gewöhnlich, z. B. von Ideler, aufgestellten Regeln die ote In- 
diktion in das Jabr der Welt 6249 fällt, so scheint in der In- 
scription der Eklogie eine andere Zahlung von Jahren nach Er- 
schaffung der Welt befolgt worden zu seyn. Einige andere 
Grunde für die Annahme einer neuen , bis jetzt noch unbekann- 
ten, konstantinopolitanischen Aera für Rechnung nach Jahren seit 
Erschaffung der Welt sind p. XMII zusammengestellt worden. 
Der Unterzeichnete hofft and wünscht, dafs ein Chronologe sie 
der Berücksichtigung werth finden möge. 

E. Zachariä. 

• ■ 



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5 Iii 

« 

RÖMISCHE LITERATUR. 

Lateinische Grammatik von C. G. Zumpt, Dr. Siebente Ausgabe. 
Berlin, bei Ferd. Dümmler. 1834. 1* und 119 Ä. mit 8 unpaginirten 
Seiten Anhang. (Die sechste Au»g. v. 1828 hatte bei gleichem Druck 
659 S.) 

Ref. bat schon mehrmals in diesen Jahrbüchern sein Crtheil 
über diese Grammatik niedergelegt , und durch beigefugte Be- 
merkungen theiis dem Verf., theils denen, welche diese Gramma- 
tik gebrauchen, einigen Dienst zu leisten gesucht. Sein Zweck 
blieb nicht unerreicht: seine Bemerkungen wurden von dem Vf. 
mit der Gesinnung aufgenommen und verstanden, mit der sie ge- 
geben waren , und auch wirklich berücksichtigt : eine Genug- 
tuung, die ihm bei einer noch weit mühsamem Arbeit, nemlich 
einer dreimaligen Recension des grofsen Schneider'schen Wörter- 
buches, mit zahlreichen und wesentlichen Zusätzen und Berich- 
tigungen, nicht widerfahren ist. Wenn er nun, nach eine Zeit» 
lang Fortgesetztem Gebrauche , auch von dieser Ausgabe eine An- 
zeige liefert, so glaubt er zwar einer Charakterisirung dieses 
Werkes, sowie einer eigentlichen Beurtheilung desselben, über* 
hoben seyn zu können, möchte aber doch, um des oben angege- 
benen Zweckes willen , der ein gedoppelter ist , auch seinerseits 
an der Verwollkommnung eines Werkes fortwährend mit arbeiten 
hellen , das , ungeachtet seit seiner ersten Erscheinung eine be- 
deutende Anzahl rivalisirender , zum Theil sehr vorzüglicher , 
Werke, manches sogar in wiederholten Auflagen, erschienen ist, 
wegen seines weiten Wirkungskreises im gesammten deutschen 
Vaterlande , und noch darüber hinaus , ein wahres Nationalwerk 
» geworden ist. Es bat sich von Anfang an durch Klarheit der 
Darstellung, rationelle Behandlung und Eigentümlichkeit der For- 
schung, und wir mochten sagen durch eine gewisse Gemütlich- 
keit, die sein Studium zugleich, neben der Belehrung, auch an- 
ziehend und unterhaltend macht , Freunde erworben , und diese 
Vorzüge haben auch unsere Nachbarn über dem Rhein erkannt, 
indem Hr. Louis Vaucher in seinem TraiU de Syntaxe Latine 
(Geneve et Paris ch. J. J. Pachoud. 1827. 8.) die Zumpt'sche Syn- 
tax und die Anmerkungen zur Etymologie fast ganz übersetzt hat. 
Was man sonst bei der Anzeige von neuen Ausgaben zu thun 
pflegt, indem man nemlich angiebt, in wieferne sie vermehrt und 
verbessert seyen , scheint hier gleichfalls umgangen werden zu 
dürfen. Dafs die Zusätze nicht unbedeutend sind, sagt die Sei- 
tenzahl; dafs sie werthvoll und nicht unwichtig sind, dafür bürgt 
das bisher Geleistete, und der richtige Takt, den der Vf. bisher 
gezeigt bat: welcher Art sie sind, das kann Jeder aus der bishe- 
rigen stufenweisen Vervollkommnung des Buches abnehmen. Es 
bleibt uns also nur übrig, unsere freudige Theilnahme an der 
fortwährenden Wiedererscbeinung eines Buches auszusprechen, 
dessen Verbreitung ein sprechendes Zeugnifs der vorherrschenden 
rationellen Behandlung auch dieses Zweiges der Studien in den 
öffentlichen Lehranstalten ist. 



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Römische Literatur SIT 

Wir knüpfen nun amere Bemerkungen vorzüglich an eine 
Beihe von Paragraphen aus der Syntax an, denen wir nur vor- 
ausschicken wollen, dafs, wenn auch hier und da ein Mangel oder 
ein Fehler gerügt werden Sollte, dies nicht sowohl neue Mängel, 
sondern meistens jetzt erst entdeckte Puncte , zum Theil von we- 
nig Belang, sind, die wir, wenn das Buch unser wäre, ändern 
würden. 

Zu §. 629 bemerken wir, dafs gratulari mit dem Acc. c Inf. 
yon Fikenscher in seinem Programm De conjunctionc quod 
(Norib. 1826. 4* P* 10) aus Liv jus an drei Stellen nachgewiesen 
ist, nemlich III, 28. IV, 40. XXI, 5o. S. auch Forcellini, der 
Stellen aus Terentius, Ovidius und Suetonius nachweist. — Bei 
§. 364 scheint uns die Bemerkung hinzugehören, dafs die Col- 
lectivworter miles u. dgl. , für milites, nicht blos allein, sondern 
bei Dichtern sogar mit Adjecti?en im Singularis, statt im Plara* 
Iis, vorkommen, z. B. Unrat. Carm. L i5. 6: multo — milile, 
vgl. Epod. 2, 3i : multa cane für multis canibus, was, wegen der 
auffallenden Abweichung von unserm Sprachgebrauche, wohl be- 
merkt werden dürfte. — §. 365 steht die Stelle : Ucentia reruni 
eorruptrix est morunu Sie ist aus Ammian. Marcel I in. XXV. 3. 
p. 338. ed. Ern. Es heifst aber dort: licentiam exterminans » ve- 
rum corruplricem et morum. Wollte also der Herr Vf. est hin- 
einsetzen , so durfte doch et vor morum nicht wegbleiben. — 
$. 366 würden wir bei der Stelle Cic. in Verr. I. 3 1 : cur civitas 
concurrerent nicht blofs gesagt haben, sie sey verdorben, son- 
dern auch bemerken, dafs concurrerit besser scheine, damit nicht 
ein Lehrer das weniger gute Gruter'sche concurreret vorziehe. 
In demselben §. wird citirt Drakenb. ad Liv. VI. 20. Hier kommt 
allerdings der Fall vor: plebs — postquam — viderunt : aber 
Drakenborcb sagt Nichts dazu ; eben so wenig VII. 20 , wo steht 
movit populum — ut — immemores essent; aber wohl zu X, 
38, 12 bei ut vir virum legefent. (Auf der i5ten Zeile ist 
der Druckfehler exanimen). Am Schlüsse des §. wird wieder 
Drakenb. ad Liv. XXI, 7, (7.) citirt. Und hier ist allerdings 
scheinbar der angegebene Fall, im Grunde aber doch nicht: denn 
in dem Satze et iuventus delecta, ubi plurimum periculi ac laboris 
ostertdebatur , 161 vi majore obsistebant — ist nicht aus dem 
Nomen collectivum des vorhergehenden Satzes der begriff 
der Mehrheit gezogen, und bei dem Verbum des 1 olgenden 
Satzes angewandt. Obsistebant gehört ja eigentlich in den Satz, 
in welchem iuventus steht. Drahenborch unterscheidet aber in 
•einen in der Note gesammelten Beispielen die zwei von dem H. 
Vf. geschiedenen Fälle gar nicht. — §. 368 ist zu auxilia (Hülfs- 
vülker) irati zu citiren Gronov zu Liv. 29 (nicht 20), 12 (4). — 
§. 369 am Ende: die Stelle des Justinus ist 1, 2, 4* — § 370 
Anfg. Die Stelle aus Sallust ist nicht aus der Bede des Lepidus, 
sondern aus der des Philippus gegen den Lepidüs 7. p. 16. ed. 
Orell. oder ed. Cort. p. 949. n. 12. — §. 374 • wenn es bei Cic. 
de Off. I, 41. heifst: si quid Socratcs aut Arislippus contra morem 



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;>H Römische Literatur. 

- civilem fecerint , so bann man annehmen, Cicero habe ge- 
dacht si quid homines, quälet Juerunt Sacra t es aut Aristip'pus — fe- 
cerint. Oie letzte Stelle ad Fam. XI. 20. ist nicht von Cicero, 
sondern von Brutus geschrieben. — §. 389. Bei der Construction 
von adulari hätten wir auch die merkwürdige Stelle Cic. Tuscc. 
II. 10,24: pinnata cauda nostrum adulat sanguinem angeführt, 
und Kuhners Ausgabe dazu citirt, Ed. 2. p. t85. vgl. auch die 
deutsche Ausgabe des Forcellini, und die Ausgabe des Refn. , 
die jetzt beendigt ist. — §. 412 am Ende wurden wir bei Ge- 
legenheit des Ciceronischen Ausdrucks artis, cui studtbat, 
primam lUleram — (welchem ganz gleich ist Cic. ad Fam. 4, 3) 
die Warnung ausgesprochen haben, dafs man aus Redensarten, 
wie die angegebene, oder aus ähnlichen, z. B. Brut. 93: s*u- 
duisse litteris , oder wenn man in Wörterbüchern liest , Cicero 
habe de Or. I. 3. gesagt studere alicai scientiae, nicht scbliefsen 
solle, man könne sagen theologiae studet, wie man im Deutschen 
sagt: er studirt Theologie, und dann am Ende gar studet, 
ohne Object, er studirt. Oer Grund ist, weil studere nicht 
einfach studiren, sondern einer Sache mit Wärme ergebep seyo, 
heifst. S. de Legg. I. \: iuri studere te memini , — neque un- 
quam mihi vi ms es ita te ad dicendum dedisse, ut sus contemne- 
res. Ist doch auch das Beispiel aus de Or. I. 3. bei ForceJlini 
unrichtig ausgehoben, denn es heifst dort : ut nemo fere sludu iss e - 
ei scientiae [sc. rerum ad mathematicam artem pertinentium ] 
vehementius videatur, und so ist auch im Brutus a. a. O. , qui 
videretur exquisitius studuisse literis. — Wenn §. 4i3 
gesagt wird, invidere alicui laudes lasse sich deutsch geben: Ei« 
nem seinen Ruhm beneiden, so ist dies ein der deutschen 
Sprache aufgedrungener Latinismus, indem die deutsche Sprache 
zwar erlaubt: Einem seinen Ruhm mifsgonnen, aber nur: 
Einen um seinen Ruhm beneiden. — §. 4i3 extr. Wenn 
hier gesagt ist , » die Verba der Gleichheit und Verschiedenheit 
werden in Prosa mit den Präpositionen cum und ab verbunden, 
z. B. congruo , consentio, abhorreo , dissideo«; so dürfte der Stu- 
dirende zwar nicht veranlafst werden, zu glauben, dafs alle diese 
vier Verba mit cum und mit a construirt werden, aber doch, 
dafs die beiden ersten cum, die beiden letztern a bei sich haben, 
und ausschliefsend ansprechen. Aber so gewifs es ist , dafs man 
nicht sagt congruere und consentire ab aliquo und abhorrcre cum 
aliquo , so findet sich doch nicht blofs dissenlire ab aliquo , son- 
dern auch Cic. Acadd. II, 47: cum Cleanthe doctore suo — multis 
rebus Chrysippus dissideU So besonders häufig auch di&crepare 
cum — , wie schon die Lexica zeigen, auch discordarc tum — 
de Finn. I. i3. — § 420 ist die Bemerkung, wie Ref. aus Er- 
fahrung weifs, nicht überflüssig, dafs est mihi zwar, %%ie hier 
richtig steht, ich habe, aber nicht in dem Sinne von ich be- 
sitze, heifst, neinlich in Redensarten wie: Er besitzt Viel 
oder Wenig: multa oder pauca ei sunt, für: Er ist reich. — 
5. 4*5. Bei den beiden Beispielen am Schlüsse: Cic. de N. D. IL 



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Römische Literatur. 510 

extr. : mala et impia consuetudo est contra deos disputandi, und 
Senec. ad Polyb. (Consol.) «9: est magna felicitas in ipsa Jelioitate 
moriendi et wartet man zwar in dem einen wie in dem andern 
Falle den Infinitiv {disputare und mori): aber die Gerundien sind 
etwas verschieden zu erklaren. Das erste: mala et impia consue- 
tudo est consuetudo contra deos d isputandi', das zweite: mori 
in ipsa felicitate magna est moriendi felicitas. — §. 4^7- Aom. 
2. wäre die Abkürzung von iuris- oder iureconsultus richtiger 
lCtus als Ictus geschrieben. — §. 439 : unter den Verbis des 
Erinnerns, sich Erinnerns oder Vergessens sollte nicht 
in gleicher Linie die Formel in mentem mihi venit stehen , als ob 
sie in der Weise den Genitiv bei sich hätte, wie memini, recor- 
dar, obliviscor, admoneo. Bei den letztern ist der Genitiv unmit- 
telbar durch den Begriff des Verbums herbeigeführt *) : bei jener 
Formel mufs erst recordatio, mentio oder memoria ergänzt wer- 
den, weswegen denn auch oft bei ihr der Gegenstand der Erin- 
nerung selbst im Nominativ steht , was der Herr Verf. zwar am 
Schlüsse des §, aber blofs als Factum, bemerkt. — §. 441. in 
dem Beispiele aus Cic. de Sen. steht der Druckfehler fruetra. — 
§. 448 : »ei der Construction meum , tuum — est erwarteten wir 
auch die Bemerkung, dafs, wenn durch eine Art von Apposition 
die Person, die das Pussessivum meint, beigesetzt wird, eine 
Construction eintritt, wie meum , Consulis, esse existimavi hostem 
ex urbe eiieere. Über solche Appositions-Genitive, aber nicht in 
der Formel meum est, sondern wie Hör. Sat. I, 4, 22 : cum mea 
nemo scripta legal, vulgo recitare timentis, verdient nachgesehen 
zu werden Ruddimann. Inst. Gramm. Lat. II. p. 49 sq. ed- Stall- 
bäum. — §. 45i wird richtig das Factum angegeben, dafs, da 
sonst der blofse Ablativus bei den Passivis der Verba, um die 
bewirkende Sache auszudrucken, gesetzt werde, welche bei der 
v activen Construction im Nominativ stehe, bei Personen «bei, 
die Etwas bewirken, die Präposition ab, der einzige Fall 
jedoch ausgenommen sey , wenn die Participia der Verba erzeugt 
werden (natus, genitus, und bei Dichtern edituz, ortus, satns). 
Hier konnte aber bemerkt werden, dafs diese Ausnahme in Phra- 
sen wie palre censorio genitus, natus matre quadragenaria wohl 
nicht als Ablative der Causalität zu betrachten seyn dürften, wie 
-in sole mundus illustratur, fecunditate arborum delector, sondern 



•) Ein gelehrter Freund bemerkt hiezu : „Wir denken uns den Genitiv 
bei diesen Verbis als Thcilbcgriff: z. B. ohlivisci iniuriarum , nicht 
die franse Thatsache der Beleidigung, sondern dio Bitterkeit dersel- 
ben: obliviici tui, nicht te, weil man seine ganze Existenz nie ver- 
gibt, ausser im Wahnsinn; mit dem Are. bei gst.r/.Uchem Verges- 



■en, Brut. 60: tubito tot am causam oblitus e*t. [Oblivisci iniutias, 
bei deponcre memoriam doloria , steht in der Or. pro Coel. XO.] So 
memini mit dem Acr. , blofs sich nn die Existenz einer Person erin- 
nern: Cic. Am. 2, 9: meiainerum Paullum, Phil. V, 6. Cinnam me- 
mini. Mit dem (Jen. höchstens, wenn man an einen Theil der Per- 
son, ihre Individualität, eigenllkh Persönlichkeit denkt ; vielleicht 
aber nie bei einer Person.»' [lirorum memini steht de Finn V. 1 ] 



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520 Römische Literatur 

dafs sie im Grande Ahlati vi absolut i sind. — §. 45o,. Wenn der 
Hr. Vf. den aus dem Griechischen in das Lateinische ubergegan- 
genen Accusativus absolutus (oder des entferntem Objects, wie 
Buttmann sagt) als statt des Ablativs gesetzt erklärt, so mag dies 
bei den Formeln id temporis, id aetatis gelten, wofür man aller* 
dings co tempore , ea aetale sagen kann. Aber ob Cicero in der 
angeführten Stelle Or. 56: mag n am partem ex iambis nosira 
constat oratio gerne gesagt haben würde magna parte, ist noch 
die Frage. Eher magna ex parte , was er aber wegen ex iambis 
\ ermied. Eben so wenig glauben wir, dafs Livius I 3«. für ce- 
tera egregium, wenn er den Accusativ hatte vermeiden wollen, 
ceteris (statt in Ctteris) egregium gesagt haben wurde, oder sich 
für cetera similis, cetera laetus, cetera bonut eben so gut sagen 
liefse ceteris similis, ceteris laetus, celcris bonus, ja dafs dieses 
die eigentliche and regelrechte Ausdrucks weise sey , für die je- 
nes sieb, gleichsam davon abweichend, finde. — §. 45o» In den 
Beispielen aus Cic. Acad. und de Sen. sollten die Worte floruit 
und consilio et auetoritate mit Cursivschrift gedruckt seyn. — 
§. 478 hätte auch die Consti uclion bei Cic. de Rep. 1. 37. (s. das, 
die Anm. in der Ausgabe des Ref. p. 1 5 1 ) bemerkt werden kön- 
nen: Ergo his annis quadringentit Romae rex erat? (von jetzt 
an vierhundert Jahre rückwärts, vor 400 Jahren). — §. 481. 
Bei in loco und loco in der Bedeutung am rechten Ort, gleich 
suo loco, möchten wir die Bestimmung beifügen, dafs Cicero vor- 
zugsweise loco sage: denn ad Famm. XI. 16. aus welchem Briefe 
Forcellini epistolae — non in loco redditae citirt, haben alle guten 
Ausgaben längst das blofse loco. Dagegen ist bei Horatius Od. 
(IV. 1». 28.) und Terentius (Adelph. 2, 2,8.) in loco, loco aber 
findet sich bei ihnen nicht. — §. 485 beginnt: »Die Verglei- 
chungspartikel quam wird nicht selten ausgelassen bei minus, plus 
und ampUua « . nun folgen nach Angabe des Facturus die Bei- 
spiele zum Beweise: Liv. occiderant minus duo millia ci- 
vium; Tac. decem haud amplius dierum frumentum; Ter. plus quin- 
gentos colaphos inf regit mihi; Liv. sexdeeim non amplius legionibus 
defensum imperium ; Cic. minus triginta diebus ; Prop. plus unL 
Wir betrachten diese Stellen so: die erste: occiderant duo millia, 
so dafs minus parenthetisch und gleichsam also ausserhalb der 
Construction steht; die zweite: frumentum decem dierum (füll in 
horreis), haud amplius; die dritte gleicht der ersten, die vierte 
der zweiten; bei der fünften ist eben so wenig, wie bei den vo- 
rigen, quam ausgelassen, auch der Ablativ diebus nicht von minus 
regiert, sondern minus steht gleichsam auch parenthetisch, oder 
Tielmehr, ehe die Zahl auf die Frage, in wieviel Tagen? ange- 
geben wird, wird durch minus angekündigt, dafs die gleich an- 
zugebende Summe (in dreifsig Tagen) nicht voll zu nehmen 
sey. Ständen diese Vermehrungs- und Verminderungspartikeln 
immer nach den Zahlen, wie in der zweiten Stelle aus Livios, 
so würde es noch mehr in die Augen fallen, obgleich die Wort- 
stellung die Sache im Wesentlichen nicht anders macht. Wir 



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Römische Literatur 521 

setzen nur noch bei, dafs auch maior und minor so gebraucht 
wird. Bei Cic. pro Sex. Rose. Araer. §. 3o. fand Steinmetz in 
den Pariser Handschriften , was überhaupt fast alle Codd. geben: 
anno» natus major guadraginta. Orelli nimmt hier freilich an, 
es seyen durch die Abschreiber zweierlei Constructionen vermischt 
worden annos natus guadraginta und annis maior guadraginta, und 
das letztere giebt er: eben so hat es schon vor ihm A. Mattbia 
erklärt und gegeben. S. aber dagegen Möbius zu dieser Stelle 
und Scbmieder : nur ergänzen wir auch hier nicht guam , sondern 
nehmen maior als vorausgeschickte Epanorthose der Zahl. Vgl. 
Com. Nep. de Regg. 2, 3: major annos sexaginta natus decessil. 
S. das. Dähne (Ed. Teubn. p. i56), Gunther, Bremi und Feld- 
bausch. Gerade so ist auch Com. Nep. Hann ib. 3, 2: minor 
quinque et vi eint i annos natus. Vgl. Stall bäum zu Ruddimann II. 
p. 2o5 , welcher auch die Stelle des Cic. pro Rose. Am. nicht ge- 
ändert wissen will. Auch bei Frontin Strateg. IV, 1, 10. p. 4*3» 
Oudend. findet sich minor guinguaginta annos natus. Vgl. das. 
Oudendorp. — §. 491. In der dreifachen Construction des Ver- 
bums Jacere in der Bedeutung: Etwas machen oder anfan- 
gen mit Jemand, jacere de, dann quid jacias hoc nomine und 
quid Jacias huic ho mini , nehmen wir eine dreifache Bedeutung 
und Erklärung an; a) mit de: was willst du in Betreff dieses 
Men eben thun ? b) hoc homine nehmen wir als Ablativi absoluti, 
für dum oder qua mit iu hic homo est, ut est oder ut nunc est. So 
ist de Or. III. 1. a. illo Senatu se rem publicam gerere non 
posse. Wir wissen wohl , dafs Mehrere dies für den Ablativ des 
Mittels halten, c) huic homini mag für den Dativus commodi 
oder incommodi gelten. — §. 4Q2» Bei dem Vocativ konnte noch 
bemerkt werden , dafs die Anrede mit o sich auch häufig in Über- 
setzungen aus dem Griechischen oder in Machbildungen griechi- 
scher Ausdrucksweise findet. — §. 5io. Die Stellen Cic. d« R*>p. 
1, 43: Tum fit iUud , quod apud Platonem est luculente dictum, si 
modo id expr imere Latine potuero , und de Legg. II, 18: Plato, 
si modo interpretari potuero — werden wegen potuero behan- 
delt, und zwar ganz richtig. Dafs aber exprimere und interpretari 
durch ubersetzen wiedergegeben wird, Könnte die Schüler ver- 
leiten , ihr eigenes Übersetzen durch exprimere ausdrücken zu 
wollen, da doch die erste Stelle (was wir dem H. Verf. nicht zu 
sagen brauchen) sagen will: si modo, guod a Piatone tarn lucu- 
lente , eleganter, copiose dictum est, imitando exprimere et guasi 
eßngere potuero. — §. 5ia. Die als gleich angegebenen deutschen 
Constructionen: ich fragte ihn, ob er wisse und ob er 
wüfste, enthalten eigentlich eine Dialektsverschiedenbeit. Der 
Norddeutsche sagt lieber nach ich fragte ihn, in lateinischer 
und französischer Constructionsweise : ob er wüfste;, der Süd- 
deutsche: ob er wisse, (nemlich damals, als ich ihn fragte) 
und versetzt sich in den Moment des Fragens. — Wenn §. 5ao 
gesagt wird , der Deutsche brauche das lmperf. Conjunct. von 
müssen, sollen u. dg), oft ohne den Begriff der Unmöglichkeit, 



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522 



Römische Literatur 



und sage: da müjttesl fleifsiger seyn, du solltest eine 
Reise unternehmen, gleichsam mit feinerem Ausdruck für 
du mufst, du sollst, wo der Lateiner setze debes, oportet, 
nicht deberes, oporteret; so ist das Factum des Sprachgebrauchs 
richtig, aber der Grund davon nicht genug herausgehoben. Der 
Lateiner denkt und sagt nemlich die Sache, wie sie ist: der 
Deutsche spricht oder denkt vielmehr hypothetisch und gleichsam 
elliptisch: wolltest du deine Pflicht than, du wurdest—. 
Eben so bei longum est, es wäre zu weitläufig, denkt der 
Lateiner die Sache, der Deutsche die Folge, die eintreten wurde, 
wenn es nicht unterbliebe, wobei er voraussetzt, dafs es unter- 
bleibe. Wir wissen wohl, dafs man auch im Deutschen melius 
erat, (hoc providere,) übersetzen kann und auch übersetzt: es 
war (wirklich) das Bessere, ora torisch und logisch richtig: 
aber wir halten es für eine Nachbildung des Lateinischen. (Gegen 
das Ende des §. steht deligentior statt dilig.) — § 5s8 wird die 
Stelle Cic. Verr. IV, 23, (5s) jetzt citirt: xjui videret, equum 
troianum introductum , urbem captam die er et , da hingegen in der 
fünften und sechsten Ausgabe der Grammatik und in der Z. Aus- 
gabe der Verrinen viderent — dicerent steht, wie auch Or. giebt 
Will der Hr. Vf. etwa jetzt die Lesart der Ed. Hervag. (nemlich 
die von 1 53 4 ; denn die von i54o, die Camerarius besorgt hat, 
hat videret — dicerent) wo videret — dicerel gelesen wird? — 
§. 542 könnte ein Wink angegeben seyn, dafs alle angegebenen 
verschiedenen Bedeutungen , auch die mit dem exhortativen Con- 
junetiv, sich ganz einfach erklären lassen, wenn man denkt quin 
sey aus quine , gut non entstanden, und heifse eigentlich wie 
denn nicht? warum denn nicht? — §. 55o. Um nachzuwei- 
sen , dafs bei Zwischensätzen, die aus dem Gemüt he eines Andern 
gesprochen werden, der Deutsche wie der Lateiner den Conjunc- 
tiv mache, dient die Übersetzung von quod se — appellaverim , 
weil ich sie genannt habe, nicht, da die erste Person den 
Conjunctiv nicht kenntlich macht. — §. 554* Schon in einer frü- 
hern Bec haben wir bemerkt, dafs hier eine fünfte Form der 
Gegenfragen (aus 1. und 3. zusammengesetzt) übergangen ist, 
nemlich utrum — ne: — an — Cic. de N. D. II. 34. 87: utrum 
ea Jbrluilane sint, an eo statu, quo — so dafs utrum gleichsam 
für utrum sil steht, (welcher von beiden Fällen stattfinde) 
ea fortuitane sint, an — ob dies zufällig sey, öder — . — 
$. 556. Betrachtet man die Stelle de Off. 3, 33 : qui polest tem. 
perantiam laudare is , qui ponat summum bonum in voluptate? 
blofs so, wie sie hier in der Grammatik steht, so sieht sie wie 
ein allgemeiner Satz aus: Wie kann derjenige Mensch, der 
in dem Geniefsen das höchste Gut erblickt, dieMafsig- 
keit loben? Wäre dies der Sinn, so müfste es ponit heifsen, 
und das Beispiel gehörte gar nicht hierher. Es geht aber auf 
eine bestimmte Person , den Epikurus ; darum steht qui für cum, 
und ponat mit Recht. Das sollte dadurch in der Grammatik an- 
gedeutet seyn, dafs Epicurus in einer Klammer nach is beigesetzt 
wurde. — §.574« Die Construction von quamquam, quomvis und 



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Römische Literatur. 523 

würden wir etwa so erklären: quamquam zeigt durch Wie* 
derbolung desselben Wortes (quam — quam), wie qut'squis, utut, 
quotquotf ganz wie unser deutsches : es steht soso, ein Schwan- 
ken, ein Zugeben mit Unentschiedenheit, z. B. utut est: es ist 
so, aber das Wie bleibt dahingestellt, quisquis est: er ist, aber 
die Quantität, der Grad ist nicht zu bestimmen, oder, wenn er 
bestimmt ist , so ist dies doch nicht von dem Ein Hufs , der er- 
wartet werden konnte. Quamvis aber und licet sind gleichsam 
parenthetische Zwischensätze eines Concessivsatzes , der seiner 
Natur nach auch ohne sie im Conjunctiv stehen wurde. Quamvis 
in turbidis rebus sint ist s. v. a. sint in turbidis rebus, quantum tu 
eos inesse vis; oder: licet stomachetur i. e. sto machet ur , per me 
licet. Daraus wurden wir dann auch die Satze erklären, wo 
quamvis ohne Verbum steht, z. B. Quasi vero mihi dißcile tri, 
quamvis mutlos nominatim prqferre : d. i. multos proferre , quantum 
vis. Vgl. auch noch über quamquam Kritz. zu Sali. Jug. 3 , 2. 
p. 16. Bei quam fällt uns noch bei, dafs etwa bei §. 107 die 
Bemerkung noch Baum finden konnte, dafs quam auch zur Ver- 
stärkung des Positivs der Adjective diene. Z. B. Cic. ad Att 
VII. i5. suam in senatu auctoritatem quam magni aestimat : wo 
Einige quam, aus Unkenntnifs dieses Sprachgebrauchs, ausstrei- - 
chen. S. Buddimann. Inst. Gr. Lat. IL p. 307 sq. 

Doch genug zum Beweise unserer abermaligen Durchsicht 
des Buches, und unserer Achtung desselben, die durch die vie- 
len trefl liehen Zusätze, welche wir nicht aufzählen können und 
wollen, noch gesteigert worden ist. Möge dies noch lange nicht 
die letzte Ausgabe seyn ! G. H, Moser. 



f'igilum Romanorum Latercula duo Coelimontana magnam partem militiae 
Romanae exjtlicantia erfirfit atque illustravit , Appendicem Inscriptio- 
num, quae ad Vigilius pertinent , Laterculotum militarium hueusque 
eognitorum omnium et Inscriptionum variarum militarium adjecit Otaus 
Kellermann Danas. Romae 1835. 4. 

0 

Das Detail des romischen Kriegswesens war bei der Menge 
von Schriften über diesen Gegenstand noch keineswegs aufgehellt. 
S. Creuzers Born. Antiq. Cap. XI. p. 345 ff. fite Aufl. insbeson- 
dere §. 252. Nun macht Herr Kellermann , dessen Genauigkeit 
alle Anerkennung verdient, zwei marmorne 6 Fufs 9 Zoll hohe 
Piedestale beliannt , deren Inschriften viel Licht verbreiten. Sie 
wurden im Jahre 1820 zu Born im Park Matthäi auf dem Coli- 
sehen Berge zufallig ausgegraben und in der Villa genannter Fa- 
milie aufgestellt. Die eine ist im J. 210 n. Chr. von der fünften 
Cohorte der Vigiles, die eben auf dein Cülischen Berge statio- 
nirte, dem Kaiser- Mitregenten M. Aurelius Antoninus (früher 
Bassianus, später Caracalla) geweiht, wie die Inschrift der Vor- 
derseite lehr*. Der andern Vorderseite hatte nie eine Inschrift, 
sollte aber, wie der Herr Verf. beweist, demselben Kaiser von 
derselben Cohorte geweiht werden, und ist nicht vor 2o5, aber 
einige Jahre vor 210 gemacht. Die drei übrigen Seiten bei- 
der Piedestale enthalten Namen der Soldaten und Verzeichnisse 



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ihres Dienstes. Nun aber war der Dienst in der Stadt dem im 
Lager der Legionen nachgebildet. Daher sind diese Inschriften 
wichtig für das Verständnifs des ganzen römischen Kriegswesens. 

Zuerst handelt Herr Kellermann von den durch August im 
6ten Jahre nach Chr. znr Sicherheit der Stadt angeordneten Vigi- 
les und ihrem Praefectus umfassend , und weifs die scheinbar wi- 
derstreitenden Angaben glucklich zu vereinigen. Den Spitznamen 
Sparteoli leitet er von den Feuereimern ab, welche aus Spart am 
(Pfriemenkraut) gemacht and gepicht waren. 

Sodann zeigt er scharfsinnig nach, dafs das Piedestal ohne 



einige Jahre vor dem andern verfertigt ist. 



Sie enthalten nemlicb beide fast dasselbe Verzeichnis von 
tennamen, dem Dienstalter nach, nur sind bei dem jungern am 
Anfänge die Namen der Ausgedienten weggelassen and am Ende 
durch die der Tironen ersetzt In dem spätem erscheinen 18 
Namen anter einem hohem Bang, welche in dem altern noch 
anter den Gemeinen standen. Sehr lehrreich für die Beurthei- 
lung der lateinischen Inschriften überhaupt ist die Vergleichung 
der einen altern , nachlässig gehauenen und hernach unbrauchbar 
gewordenen, mit der andern spätem, wie sie Herr Kellermann 
S 11 f. zusammenstellt. Aber auch die spätere ist nicht frei 
von Fehlern, welche der Herausg. mit Umsicht und Vorsicht 
zu verbessern sucht. 

Das Wichtigste aber, was wir aus diesen 2 Inschriften and 
ihrer Erläuterung durch viele andere hier mitgetheilte Inschriften 
kennen lernen, sind die Titel der Vigilum und ihrer Fuhrer , de« 
ren Ämter grofstentheils bisher unbekannt waren. Nämlich PR 
d. i. Praefectus vigilum , deren wir unter Alexander Severus 3 
su gleicher Zeit finden. Dies erklärt Hr. K. genügend aus ihrer 
Gerichtsbarkeit. Derselbe unterscheidet sehr genau ihre nach den 
Zeiten veränderte Verrichtung und Macht. S PR d. i. Subprae- 
fectus, deren aus Inschriften nur 7 bekannt sind. Er hiefs auch 
Vicarius Praefecti , ist aber nicht zu verwechseln mit dem Yice- 
praefectus vigilum; jenes war ein stehendes Amt, dieses fand nur 
in ausserge wohnlichen Fällen statt, nemlich nur im Verhinderungs- 
fälle des wirklichen Praefectus. — TRiB d. h. Tribunus vigilum, 
in jeder Cohorte einer, also im Ganzen 7. Sie avancirten gewöhn- 
lich zum Tribunatus militiae urbanae oder praetorianae. — Cen- 
turio , deren in jeder Cohorte 7 vorkommen , also im Ganzen 49 
waren. — ^ ist auf diesen Inschriften das Zeichen für Centuria, 
was Herr K. zu bemerken ubersehen hat — Der Rang der übri- 
gen Stellen ist nach den vorliegenden Untersuchungen vom ge- 
meinen Soldaten aufwärts folgender: 1) Miles, 2) Codicillarius 
Tribani (a codicillis) = scriba sobeornicularius, ad jutor Tribuni , 
3) SETR d. i. Secutor Tribuni, der Bediente des Tribunus. — 
Optio valetadinarii (nicht valetudinarius, wie Hr. K. hat), der 
Gehulfe des Arztes. Vgl. Digest. Lib. 5o. Tit. 6. leg. ult. , wel- 
che Stelle Hr. K. ubersehen bat. — Optio arcarii , der Gehulfe 
des Hassirers. 4) B d. i. Beneficiarius Tribuni, der ein Bene- 
Kcium, eine Auszeichnung vom Tribunus erhalten. — A quaestio- 



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R&abcbc Literatur. 



nibus , welcher die Tortur besorgte. 5) Tesserarius ^ , welcher 
ie Parole vom Tribunos empfing und weiter besorgte. 6) Optio 
, der Gehulfe, wie Hr. K. S. 22 annimmt, des Tribunus, wir 
glauben aber der des Centurio gehört in diesen Rang. Gi uteri 
Inscr. 571. 3: A comment. Praef Optio Centurion. Vgl. auch, 
was Hr. K. S. iq, Col. 1 sagt. 7) Vexillarius, der Träger des 
VexiJlum, oder Signifer. — Gleichen Ranges war A Commenta- 
rha Praefecti , der Buch fuhrer, Fi sei curator. — Cornicularius 
Tribuni , Adjutant des Tribunus. 8) Optio Balnearii, der provi- 
sorische Bademeister. 9) Beneficiarius Subpraefecti , der vom Sub- 
praefectus eine Auszeichnung erhalten. Oer Inschrift Nr. IV zu- 
folge setzt Ref. hinzu : Cornicularius Subpraefecti , der Adjutant 
des Unterpräfects. Die letzten Schritte zum Centurionat machte 
der Beneficiarius Praefecti, und endlich der Cornicularius Prae- 
fecti, der Adjutant des Präfects. 

Der Rang der übrigen läfst sich nicht genau bestimmen : 
1MC d. b. Imaginifer cobortis , der das Bildnifs des Kaisers trug. 
ABAL d.i. A balneis. UNC d. i. Unctor cohortis, der für die 
Salben sorgte. HO oder HC d. i. Horrearius cohortis, der Ma- 
gazinaufseher. CAR d. i. Carcerarius , Gefängnisaufseher , mit 
seinem Optio, welcher OPCA bezeichnet wird, d. i. Optio car- 
cerarii. TAB d. i. Tabularius , Archivar. AQA d. i. Aquarius, 
beim Loschen eine wichtige Person, wie SIF d. i. Siphonarius, 
der die Wasserschlauche besorgte. BU d. i. Buccinator, der die 
Nachtwachen durch Blasen bezeichnete. SU d. i. Buccinator suf- 
fectus. So erklären wir SU, ohne SU zu corrigiren in BU. — • 
CACUS erklärt Hr. K. als Ordonanzofticier. Ohne dafs er uns 
davon überzeugt hat , wissen wir doch nichts besseres. EM d. i. 
emeritus , und EMB emeritus beneficiarius. EXPR d. i. Exceptor 
praefecti, dem der Präfect dictirte, sein Secretär; desgl. EXTR 
ezceplor tribuni. LSPR d. i. librarius subpraefecti , der Rech- 
nungsführer des ' Unterpräfects ; desgl. LTR librarius Tribuni. 
PBPR d. i. Principalis beneficiarius Praefecti. VIC d. i. Victimarius. 

Aus der zweiten (vollständigsten) Hauptinschrift v. J. 210 
ergeben sich 104 Offi eiere, 904 Gemeine, im Ganzen 1008, aus- 
ser dem Tribunus und 4 Ärzten, welche alle mit Namen aufge- 
führt werden; eine grofse Bereicherung für die römische Ge- 
schichte. Ferner ergiebt sich aus dieser Berechnung und Ver- 
gleichung mit andern Verzeichnissen , dafs die Cohorten der Vi- 
ertes, den prätorischen der Zahl nach gleich, aus 1000 Mann 
bestanden; also die Centurie aus 143. 

Noch viel mehr Titel und Amter finden sich in der Appen- 
dix, dem grüTsern Theile des Buches, in welcher Herr H. alle 
schon bekannten Inschriften über das romische Kriegswesen mit- 
theilt , und diese mit vielen bisher unbekannten stark vermehrt, 
so dafs man hier alles beisammen hat, was man von betreffenden 
Inschriften und gründlicher Erläuterung nur wünschen kann. Ein 
solches Werk konnte niemand liefern, als der lange in Rom ge- 
lebt, sich vieler Verbindungen erfreut und seine Zeit sorgfältig 
benutzt hat. 



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526* Römische Literatur. 

Den Schlofs machen die Register, welche eine reiche geo- 
graphische, historische and antiquarische Ausbeute liefern. 

Gelegentlich wird vieles berichtigt. Z. B. S. 2 Not. 9 Dio 
Cass. Lib. LV cap. 3i : ngvxnxooxf^ nach Lipsias corrigirt in 
ntvx tixooxrjs. — Münch's Irrthum, der von Nardini stammt, 
in der Ausgabe des Rufus, als wären 38 Cohorten vigiles gewe- 
sen. — Am meisten wird Orelli zurechtgewiesen. 

Druckfehler haben wir folgende bemerkt: S. 2 Col. 2 hin. 5: 
Cohortes corrigire in cohortim. . S. 4 Col. 2 5 : Tab. II in 
Tab. 2. Ebenso S. 18 Col. 1 Lin. 38 und Col 2 Lin. 1. 

Das Werk ist wohl durch das archäologische Institut und 
daher durch die Kunthandlung Schenk und Gerstäcker in Berlin 
zu beziehen. V ö m e l. 



De aurtore vitarum , quac sub nomine Cornelii N e p 0 t i § feruntur , quae- 
tiione» criticoe. Scripiit G. E. F. Lieber kuehnius- Po hlmannia- 
nua. — Commentatio , Judicio amplissimi ordinis philosophorum Jenen», 
in Panegyri Aeademica die VI. \\. Septembr. MDVCCXXXlf Primario 
Praemio ornata. Prodiit Lipsiae in Libraria H'uttigiana. 1837. ( X 
und 176 Ä gr. b.) " 

Diese Abhandlung zerfällt in drei Bücher. Das erste handelt 
von dem Leben und den Schriften des Cornelius Nepos, so wie 
von seinem Charakter und seiner Schreibart. Das zweite Buch 
gibt die Geschichte der Biographien und die verschiedenen Mei- 
nungen der Gelehrten über dieselben. Hierbei tritt zuerst die 
Meinung derer auf, die das Buch dem Aemilius Probus zuschrei- 
ben, wobei ausführlich die Sätze des Herrn Rink (p. 4<> — 4°) 
beleuchtet werden; alsdann die Meinung derer, die dem Corne- 
lius zwar das Eigeuthum der Biographien nicht absprechen, aber 
den Aemilius Probus als Epitomator annehmen. Dann kommt die 
dritte Meinung zur Sprache, wornach dem Cornelius Nepos und 
Aemilius Probus die Abfassung der Biographien abgesprochen und 
sowohl der Autor als das Zeitalter des Buchs im Ungewissen ge- 
halten wird ; wobei die Sätze von Julius Held am ausfuhrlichsten 
besprochen werden (S. 52 — 64). Und zuletzt ist die Rede von 
denen, die wie der verstorbene Dahne den Cornelius Nepos als 
Autor vertheidigen. — In dem dritten Buche nun wird die Ge- 
sammtheit der vorhandenen Biographien dem Cornelius Nepos 
zugesprochen , theils aus äussern , theils aus innern Gründen. 
Unter den äussern Gründen wird angeführt, dafs alle Codices 
die Biographie des Cato und Atticus dem Cornelius Nepos bei. 
legen, ferner dafs drei in Hänefs Catalog aufgeführte spanische 
Handschriften sämmtliche Biographien dem Nepos zuweisen , ohne 
des Aemilius Probus zu erwähnen. Als innere Gründe werden 
angeführt : die öfters ausgesprochene Freiheitsliebe des Verfassers, 
die Hinweisungen auf die Zeiten der sinkenden romischen Re- 
publik , während andere Züge deutlich erkennen lassen , dafs das 
Buch nicht in die Zeiten des Theodosius fallen könne (p. 72 ff.). 
Dabei tritt als eigentümliche Meinung des Herrn Vfs. hervor, 
dafs er die vorhandenen Biographien nicht als ein Bruch- 



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RölltMchc Literatur 52? 

stuck aus dem gröfsern biographischen Werke des 
Cornelius Nepos, sondern als ein besonderes Werk 
von diesem Autor ansieht, wobei er scharfsinnig den letz, 
ten Satz der Praefatio erklärt, und sich zugleich auch auf eine 
Stelle in Epaminondas (cap. 4, 6) stutzt. — (Magnitudo volumi- 
nis ist nach ihm der geringe Umfang des ganzen Buchs, der 
keine grofse Vorrede zuläTst, und das Werk hat nicht den Titel 
De viril illustribus, sondern es ist ein selbständiges Buch ( Volu- 
men), das ohne alle Verstückelung von der Praefatio bis zum 
Suhl u Ts der Notizen de legibus reicht, und in den Worten des 
Autors selbst seinen Anfang sowie sein Ende bezeichnet. Aber 
in dem Werke de viris illustribus folgten auf die griechischen 
Feldherren die romischen, auf die griechischen Geschichtschrei* 
her die romischen , auf die griechischen Redner die römischen 
u. s. f. — Und das vorhandene Volumen des Cornelius Nepos 
enthalt ganz un verstückelt die Vitas imperatorum Graecorum.) 
Der Raum dieser kurzen Anzeige gestattet nicht, in das Einzelne 
weiter einzugehen , nur möchte hier gleich die eine Bemerkung 
sich aufdrängen, dafs wenn wir mit dem Herrn Verf. annehmen, 
dafs das auf uns gekommene Buch von der Praefatio bis de re- 
gibus ein unverstückeltes Ganzes ist, wie es der Autor edirte, 
so konnte es wohl , nach dem oben aus den Äusserungen des Vfs. 
Angeführten, nicht blos vor den Biographien der römischen Feld- 
herren stehen, sondern an der Spitze des ganzen Werkes de vi- 
ris illustribus, und dann fällt die gegebene Erklärung von magni- 
tudo voluminU wieder zusammen. — In dem zunächst folgenden 
vertheidigt der Vf. die vorhandene Folge der Biographien gegen 
Titze, indem er nachweist, dafs sie rein auf chronologischer Ord- 
nung beruht. — So .werden auch die von Walicki*) geinach- 
ten Vorschläge zu veränderter Reihenfolge zurückgewiesen. — 
Nun wird zu beweisen versucht , dafs das vorhandene Buch so- 
wohl seinem Inhalt als seiner Sprache nach dem Cornelius Nepos 
in Beziehung auf sein Zeitalter u. s. w. völlig entspreche. Den 
Scblufs bildet die Nachweisung der Quellen, die der Autor in 
jeder einzelnen Biographie benützt habe. — In der Ausgleichung 
divergenter historischer Angaben, wie sie z. B. gleich anfänglich 
in der Vita Miltiadis vorkommen, verroifst Ref. eine gewisse 
Schärfe des Urtheils, die zur entscheidenden Klarheit des Be- 
haupteten führte. Und wenn auch die Abhandlung im Allgemei- 
nen gut angelegt und wohl geordnet ist, so möchte an mehreren 
Stellen der eben erwähnte Mangel fühlbar seyn. Der Styl des 
Ganzen ist im Allgemeinen mehr ubereilt and fluchtig, als cor- 
rect. Als Beleg will Ref. nur Eines anführen : S. 86 gibt der 
Verf. den in den meisten Ausgaben stattfindenden Titel : De vita 
ezcellentium imperatorum, in der Eorra an: Vitae de excell, impp. , 
und ist selbst der Meinung, dafs der Autor sine dubio dem Buche 
den Titel gegeben habe: Vitae de Graecis imperatoribus (.'). 

•) De Cornelio Nepote. Disscrtatio inaupuraliii — ad pradum doclori« 
philoaophiae rite obtincodum. Dorpaü Livorum 1838. 

Feldbav*cä. 



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52H Rom i ic he Literatur. 

P. l'irgilii Maroni» et Titi Cmlpurnii Bucolica tum Apptndice 

larum edidit Frid. Andr. Chr. Grauff, phil. Dr. et ßymnasii Rien- 
nensis Director. Rernae , Sumptibu» Ubrariae Dalpianae. 1835 u. 1836 
JP. 88 u. 11 S. in 8. 

Eine recht nett auf sehr gutem, hellem Papier gedruckte 
Schulausgabe , welche mit dem Eklogen Virgils die ähnlichen Dich- 
tungen des späteren Calpurnius nebst einigen andern kleineren 
Gedichten, die aus Wernsdorfs bekannter Sammlung der Poetae 
Latini minores und zwar nach dem Pariser, von Lemaire veran- 
stalteten Abdruck entnommen sind, verbindet, jedoch beides be- 
sonders paginirt und mit besondern Titeln versehen, so dafs es 
auch besonders ausgegeben werden kann , was gewifs zu billigen 
ist. Der Text des Virgil ist nach der bei Teubner in Leipzig 
1820 erschienenen Jahnschen Ausgabe, mit wenigen einzelnen 
Ausnahmen, geliefert; bei Calpurnius ward der Webersche Text 
(in dem Corpus poett. Latt. Francof. i833) gegeben. Einleitungen 
oder Noten sind nicht beigefugt; da aber der Text der sä'mrat- 
lichen eilf Eklogen gegeben wird , so läfst sich wohl vermuthen, 
dafs der Herausgeber an der Autorschaft des Calpurnius, dem 
man bekanntlich mehrere dieser Eklogen , wo nicht (mit Sarpe) 
alle, absprechen wollte (vgl. uns. Rom. Litt. Gesch. §. 149)1 kei- 
nen Zweifel hatte. Der Appendix (von S. l\i ff.) enthält eine 
Reihe von kleineren lateinischen Dichtungen, meist aus späterer Zeit, 
zuerst Severi Sancti Carmen de mortibus boum , dann Vespae judU 
cium, wie bemeikt, nach Wernsdorfs Recension, der auch der 
Herausgeber in den folgenden Gedichten folgt, die meistens in 
die lateinische Anthologie aufgenommen und nun zum Theil in 
einer besseren Gestalt in H. Meyers neuer Ausgabe dieser Antho- 
logie erschienen sind, welche jedenfalls der Wernsdorfschen He- 
cension vorzuziehen ist. So findet sich Bedae Ecloga in Meyers 
Antholog. Ep. 3gi; die beiden Gedichte des Pentadios Ep. «5a 
u. 2S0 ; des Servatius junior Gedicht De vetustate Ep. 542 ; des 
Focas Ep. 288 u. s. w. De,n Beschlufs macht: Albi Ovidii Juven- 
tini Elegia de Philomela (bei Meyer Ep. 233) und Julii Sperati 
Elegia de laude Philomelae (ib. 392) nebst einigen Epigrammen. 

Wir wünschen noch recht viele Schulausgaben auf so gutem 
Papier und mit so deutlichen Lettern gedruckt, wünschen auch 
mit dem Herausgeber » ut etiam hac qualicunque opella lectione- 
que scriptorum vetustatis probatissimorura assidua sol humanitatis 
atque doctrinae magis magisque exoriatur splendidior « , ohne je- 
doch den nachfolgenden Wunsch zu theilen : v patriaeque nostrae 
Helvetiae libertas ubique terrarum gentibus exsistat.« 

Chr. Bahr. 



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N\ 34. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Kmo« hUtorique tur la Vit et la Do et r in c <i\4 mmonius- Saccus, 
chef d'une de» plus eilibrte Ecole» philotophiquet d'Alexandrie , par L. 
J. De haut, Docteur en droit et Profetseur estraord. ä la Faculti de 
Philosophie et de lettre» de V iJnivenite' de Gand. Ouvrage conronec 
par VAcademie Royale de» Scieneet et Bellet - lettre* , dan* »a tiance 
generale de 7. Mai 1830. Bruxeltet , M. Iloycz , Imprimeur de VAead. 
roy. 1836. 4. IV u. 204 S (Leipzig, bei Avenariut u. Friedlein.) 

Schon 1828 hatte die kon. Akademie als Preisfrage für i83o 
aufgegeben eine Zusamraenordnung und Erklärung der 
Fragmente ?on A romonius-Saccas, nebst Untersuchung, 
was er von Vorgängern angenommen, wie er auf seine 
Zeitgenossen wirkte, und welches sein Einflufs auf 
seine Nachfolger gewesen ist? Der Vf. hatte bereits mit 
Erfolg ein Paar andere Preisaufgaben bearbeitet: 1) im J. 1827 
über den Athenischen Kriegsanführcr und Redner, Iphikratos; 
2) im J. 1829 über das ontologische oder objective Ich. 
In dem letzteren, sehr ausführlichen, lateinisch geschriebenen 
Memoire fuhrt er Beweise für das Selbst-Seyn, die Immaterialität 
und die Unsterblichkeit der Seele. Nur weil die Annalen der Uni- 
versität seit i83o nicht mehr gedruckt wurden, blieb es indefs 
ungedruckt. 

Monographien sind äusserst wunschenswerth. Erst wenn 
die einzelnen Data nach allen Beziehungen berichtigt 
sind, kann daraus, was für ein Ganzes wichtig ist, mit Zuver- 
lässigkeit construirt werden. Der Vf. citirt S. 62. 63. dreizehn 
dergl. Monographien über einzelne alte Philosophen, von Wyt- 
tenbachischen Schulern. Andere erschienen unter Bubnkenius (S. 
100). Schade, wenn nicht das Wesentliche daraus in eine CoU 
lection gebracht wird. Allerdings aber mufs, wie es die oben 
angeführte Aufgabe auch in diesem Fall vorschrieb, nicht blos 
der Gegenstand an sich zuvorderst aus den Quellen dargestellt 
und erklärt werden. Auch das Woher und Wodurch der 
Vergangenheit, das Wo und Wie des Jetzt, und das Wohin 
und Wozu der Folgezeit ist zugleich zu beleuchten. Soviel 
möglich sollten immer die Texte, auf welche alles ankommt,* vor- 
ausgeschickt oder wortlich eingeflochten werden. Denn die mei- 
XXX. Jahrg. 6. Heft. 34 



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WO Dehant: Ettai sur la Tie 



sten Fehlgriffe entstehen , weil die f welche ein- größeres Ganses 

bearbeiten wollen , die zerstreuten Traditionsquellen nicht leicht 
mit einem Mal im Überblick haben und gegen einander haften 
bannen. 

Das erste Beispiel monographischer genauerer Untersuchung 
erwarteten wir von dem Vf. dort, wo Potamon als Vorgän- 
ger des Ammonius- Saccas zu beleuchten war , da die Preisan- 
gabe ausdrücklich die Vorgänger beleuchtet wünscht. Auch 
bei dem Vf. S. 43 wird wegen Potamon über die Ungewißheit 
der Angabe seiner Zeit bei Suidas geklagt. Freilich werden schon 
bei Brucker T. II. S. 194 — 198 die verschiedensten Muthmafsua- 
gen darüber discutirt. Heumann erregte fast ganz unnotbigo 
Zweifel, wie denn wohl Potamon vor und nach dem Augustus 
±w Alexandrien philosophirt haben könne, da August fast 5o Jahre 
regiert habe. Man gelangt aber dennoch auch bei Brucker nicht 
zu eigener Entscheidung, weil die Stelle aus Suidas nicht richtig 
und vollständig vorausgeschickt und sogar schon pss" avxov statt 
(ift avxbv in den Text hineingeruckt wird. 

Suidas sagt : üoTauov, aXt^avdftvq <f>ikooo<po$ ytyovaq nph 
Avyovoxov xcu utx avxbv eoxiv avxov ttq xa<; TIXaxtavos 710X1- 
«riio5 linofivqua. Nicht ganz gewifs ists hier, ob die Worte xa*. 
jut avxov zu ytyovoq oder zu toxiv zu ziehen sind , und ob 
H«t avxov post eum auf Augustus oder auf Potamon selbst gehe. 
Der Sinn konnte seyn, dafs eine Schrift des Philosophen nach 
ihm, als seine Hinterlassenschaft, da sey. Aber auch der gewöhn, 
lieh angenommene wahrscheinlichere Sinn ist ohne bedeutende 
Schwierigkeit für die Chronologie Potamons. Augusts Regierung 
wird von der Schlacht bei Actium an gerechnet. Erst 4 Jahre 
später beehrte ihn der Senat mit der avyr; oder dem Titel der 
geheiligten Majestät. Aber auch von jenem Sieg an gerech- 
net lebte er nur noch 43 Jahre. Potamon kann also a5jährig zu 
Alexandrien als eklektischer Philosoph aufgetreten seyn und war 
dann doch bei Augusts Tod nur 68 Jahre alt. 

Dieses Augustische Zeitalter war demnach der An- 
fang der eklektischen Methode zu philosophiren, und 
zwar ihrer ersten Epoche, indem Potamon erst nur aus den 
griechischen Systemen, das beschränkende Einseitige oder Indi- 
viduelle weglassend, das Wesentliche als das Wahre auszulesen 
suchte. 

Daruber giebt Diogenes Laertius im P.oomium Nr. ai eine 
inhaltsreiche Notiz. Schade nur, dafs die Erklärer sich dabei fast 



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et la doctrine d^AmmonU.-Sacca^. 531 

mfip, piit #em Chronologischen und nicht mit dem Lehrin halt 
beschäftigten. Diogenes Laert. kann, da er Antonins des thilo- 
sophen wicht; erwähnt, nicht später, als unter Antoninus Pius, 
also ungefähr a. 140 geschrieben hal.cn. Gar nicht unpassend war 
es dann, wenn er um diese Zeit schrieb: »Ferner aber vor 
Kurzem ist auch eine Eklektische Haeresis eingeführt worden 
(tfty $e wpo 0X1.70? xat sxXexi 'xif ' '&»?f<f*?' ttorj X ^ i no 
Tot^o^o; ..) von Po Umon , dem Alexandriner, welcher aus jeder 
der Häresen u> s s, was (iM ge'fallen U,' auswählte.« Diogenes 
halte näcbstzuyor über die Pyrrhonische HaYcsis gefragt, ob sie, 
da sie nicht » eine Hinneigung zu einer Reihenfolge von Dogmen « 
zeige, dennoch e.ine Häresis (eine wählende Lehrart) zu nennen 
sey ? Eine neuere Methode zu philosophiren, als die eklektische 
Potamons, war seit Augusts Zeit nicht entstanden. Ein Jahrhun- 
dert kannte also, in «lieser Beziehung auf sie, dem Laertier ein 
wpo oXtyo» seyn. (Auf jeden Fall wäre in der vorliegenden Prcis- 
sebrift p. 44 statt au commencement du troisiemc siede zu lesen 
=: du deuxieme, wenn wir Grund fanden, gegen Suidas das Zeit- 
alter Potaroons weit vom Tode des Augustus zu entfernen.) 

Eine neue äussere Schwierigkeit nämlich entstand den Er Ida- 
rern , insofern nach Porphyrs Leben des Plotinus c. 9. p. IX und 
C\\ ed. Oeuzer. ein Potamon mit Plotin in solchem Verhültnifs 
war, dafs der Philosoph Plotin auf ihn — man weifs nur nicht 
klar, worin? — »horchen« konnte. Der Zusammenhang ist: Viele 
vornehme Männer und Frauen vertrauten sterbend ihre Kinder 
dejji ptytjnus. §ein tfaus ward ileswegcn voll von Knaben 
(TiaiJfs) flnd Mädchen. Ei> tovxok; Ite r t v xut ÜOTauov, ov 
Tij£ itaiiStvoibx; <p(*ovTt£(DV noXXaxtq av xai uexa notovvxoQ 
r { x K Mjaoaxo. plotin , so ubersinnlich er dachte, habe doch, wie 
zu seiner, wahren Ehre weiter erzählt ist, sogar die Rechnungen 
wegen des yerroöge.ps dieser Kinder sich voflegen lassen und auch 
<Ke Genaigkeit dessen , was denselben (nach den Abrechnungen) 
VffrM*!b*t beaufsichtigt. (Die Worte: Miyo* **<>*pivov- 
Tcpv xat xiji ax^ifln«. «»lueXitxo sind mit einander zu verbinden 
und Tiap'iuevovxa als Neutrum zu denken.) 

£uf jeden Fall isf das Ev xovTotg nicht auf das entfernte 
avfyes, sondern a#f nattia; zu beziehen, und da der ganze Con- 
tei% {mit Recht) rphraen will, dafs der ins Oberirdische strebende 
Philosoph dennoch uro der anvertrauten Kinder willen für vieles 
niedrigere ein? grofse Geduld bewiesen habe, so ist ohne Zwei- 
fel auc* das, was er gegen den Knaben Potamon tbat, von einer 



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M 2 Behaut : Kitai «ur la vie 

■ • . 

aolchen Geduldsprobe zu deuten. Was aber ist es nun, was fer 
für den ihm anvertrauten Potamon that ? 

Statt aw haben die Basler Ausgg. im Texte und ein Paar 
Codd. am Bande iv, welches als die schwerere Lesart erscheint. 
(dp mag, weil man das t* nicht deuten konnte, angenommen 
worden seyn.) Sollte demnach nicht zu ubersetzen seyn: Unter 
diesen (Knaben) war aucV ein Potamon, dessen Erziehung wohl- 
besorgend (Plotin) öfters Eines (von demselben), auch wenn er 
(der Knabe) es umarbeitete, aufmerksam angehört hat.« Gerühmt 
wurde somit die Herablassung des Tiefdenkers, welcher aus Sorg- 
falt für den ihm anvertrauten Zögling sogar den nämlichen 
Aufsatz, = sV f wenn derselbe ihn verbessert hatte, (wieder 
vorgelesen) gen.au anhörte. 

Dafs nun dieser Potamon ein anderer sey, als der Alexandri- 
ner, welcher vor Augusts Regierung, das ist, zwischen a. ante 
aer. Dionys. 24 und a.ji^ posi Chr. nat. zu Alexandrien die eklek- 
tische Methode zu philosophiren zeigte, ist ohne Schwierigkeit 
zuzugeben. Dem mit Plotin lebenden Porphyr war der junge 
Potamon so bekannt, dafs er ihn ohne Umschreibung nennt. (Die 
Vermuthung, einen im Kap. i3 p. CXII angeführten leichtsinnigen 
Polemon dafür zu setzen, scheint ohne Notb gewagt. Der Po- 
tamone gab es mehrere ; auch circa a. 335 einen Confessor. Selbst 
die Conjectur, dafs statt ueru noiovvvoq zujesen wäre uSTpa 
noiovvxot; , scheint , soviel Bespect die Ingeniosität Wittenbachs N 
fordert, bedenklich, da sogar sehr zweifelhaft bliebe , ob ftexpa 
Tfotetv Verse machen bedeute.) Die Preisschrift deutet nur 
auf diese chronologische Knoten, ohne sie, wie eine Monographie 
versuchen sollte, zu lösen. 

Bei weitem das Wichtigere wäre es für die Preisaufgabe ge- 
wesen, genau zu bemerken, wie der Alexandriner Pota- 
mon eklektisirte und dadurch dem Ammonius Saccus 
vorarbeitete. Denn sehr merkwürdig ists, dafs der Laertier 
aus einer eigenen Schrift Potamons, oxoi^aoaiq (aphoristische 
Elementenlehre?) genannt, bestimmt angeben konnte, wie Por. 
nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch philosophirte und 
durch Auswahl eine Vereinung verschiedener Vorgänger als mög- 
lich zu zeigen versuchte. Von seinem theoretischen Eklekticismus 
wird atigegeben, dafs Potamon zwei xpitrifia (BeuftheilungsweU 
sen) der Wahrheit, nämlich die Untersuchung v(p* ov und oV ov 
nachgewiesen, auch als Principien (ap^aq) die Materie und 
das Machende = das i$ ov und das v<p ov angenommen, und 



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« 

et la doctrinc «TAmmoruiiR-Saccai. W 

zugleich das Machen, woi>jais, durch die Frage nach der Qua. 
lität, noiq, von dem xonoq (viell. xvitoq?) as iv cp unterschieden 
habe. Wir sehen dadurch, dafs er eine Annäherung des Plato- 
nischen zum Aristotelischen im Auge hatte, was dem Ammonius 
Saccas ron Hierokles bei Pbotius Nr. a3i (s. Preisschrift S. 118) 
noch bestimmter zugeschrieben wird. 

Vernachlässigt aber wird gewöhnlich, auch das noch bedeu- 
tendere hervorzuheben , wie Potamon im Praktischen über 
dem streng Ethischen doch auch das Eudämonische nicht 
vergab und lieber ein Combiniren als ein ausschliefsendes Oppo- 
niren darüber einleitete. »Das Ziel, auf welches hin alles 
gebracht werde, to rtXoq, i<f 6 navxa avatytqixai, sey, sagte 
schon Potamon, ein jeder Tugend gemäfs vo|l kommen es 
Leben as» xaxa naaav aftrnv teltiav, (also das ächtsitt- 

liehe), aber nicht ohne die auch äusseren der Natur ge- 
mäfsen Dinge, welche dem Leibe zugut kommen, ov* 
avtv imv To» «jomaroc xaxa tpvatv aya%&v nah rmv txroq. (also 
nicht ohne das, was an der riäovti das Edle uns Naturgemäfse ist.) 

Wir wissen demnach auf keinen Fall mit Um. Dehaut S. 45 
zu klagen, dafs, was die Lehre des Eklektikers, Potamon, be- 
treffe, nous nous arretons dans la plus grande incertitude. Wir 
sehen, dafs er im Theoretischen Wesentliches von Plato mit Ari- 
stoteles, im Praktischen das Stoische mit dem Epikureischen im 
Guten zu vereinigen wählte. Ein Vnglück war es, dafs man seit 
Cudworth und Mosheim soviel über den Ursprung des Plotinischen 
Neoplatonismus chronologisch skeptisirte und soviel Irriges über 
seinen turbirenden Einflufs auf die Logoslehre der Christen be- 
hauptete, welche vielmehr ganz anderswo, nämlich schon im Lo- 
gos Monogenes des platonisirenden Philo, präformirt war. Nicht 
erst die nichtchristlichen Neuplatoniker, sondern schon Philo (und 
wer weifs, welcher zuerst von seinen Vorgängern?) verwandelte 
sich die Platonische Kraft = Nus oder Logos, welche von allem 
Werdenden die Vorbilder, aber nur als Ideen, enthielt, in einen 
Prophorikos, d.i. in einen aus dem ürgott hervorgebrachten, für 
sich bestehenden, nach jenen Ideen schaffenden Logos, als einen 
zweiten Gott. Dieser jüdisch-theosophische Logos aus 
Alexandrien aber wurde dann, eine gute Zeitlang vor dem neu- 
platon. Eklektizismus Plotins, welcher nur vom Nus als Logos 
sprach, dadurch christlich, dafs der ungenannte Verfasser von 
dem Prolog des Johannesevangelinm , von seinem 6 Xoyo< , »1s 
einem zu seiner Zeit genug bekannten, ohne Worterklärunp sich 



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534 Dchaut : £n*at iur 1a vie 

aussprechend, jenen durch Speculalion enl deckten , dem "Meimera 
di Jehovah ähnlichen Logos , als den Geist', in das Fleisch 8. 1. 
in den Leib, des Messias Jesus, versetzt dachte, und dadurch das 
jüdisch alexandrimsche Philosephema seiner Zeit mit 'der palästi- 
nischen Messiasidee zu combiniren trachtete. 

Wie viel reiner hätte sich aus dem Laertier das Wesentliche 
'des auch um die geistig erregte Zeit der Geburt Christi begon- 
nenen noch blos griechischen Eklekticismüs erlernen 'fassen! wie 
nämlich Potamon den glücklichen Gedanken hatte, nicht etwa 
»nach Gefallen« Lehrmeinungen auszulesen, sondern im Theore- 
tischen eine Vereinigung von Hyperphysik (v(p oi) und Physik 

ut), im Praktischen reine Combination des Ethischen mit dem 
Ekidämonist^hen dadurch einzuleiten, dafs er die Kinseitigheifen 
und schroffen Gegensätze der viererlei 'Parthien Wegiiets uiid das- 
jenige als ä^as gemeinschaftlich Wahre beizubehalten das JÖeispiel 
gab, was mit einander, wenn man es nur ruhig über legt, wohl 
verträglich und zugleich zu denken ist. Nicht im beliebigen Aus- 
lesen, sondern im vVegreinigen der nichtnothigen Differenzen 
bestund dei ächte Eklekticismüs. 

Herrn Dchaut können wir daher hier nicht beistimmen , wenn 
er Potamons Eklekticismüs S. 46. 47. deswegen von (lern 
weiterhin folgenden als den einzig wahren unterscheidet und 
die Nach folger fa Iseh e E hie h t ih er nennt , Weil ' er diese Be- 
nennung allen denen beilegt ;, die nicht ausschliefsend an lernen 
Philosophen sich hielten , sondern ein na ch mehreren ratio« 



arisrotei isenen , sioiscne mit e ud a moni s tische n riaupt- 
satzen und hielt sich an die sich einander nähernden Indifferenz- 
punkte lieber, als an allzu schrone Entgegensetzung. Dagegen 
nehmen wir mit dem Verf. gerne an, «Jafs^er diejenigen, welcne 
mit ihrem Auswählen aus rationellen Systemen überdies 'auch 

ffe 




sich ableitenden Gnosis Anderer (wie Simon 'jllagüs , Dosithcus, 
Menander) zu unterscheiden sind. 

Die Neupla t o nilier aber sind ohne Zweifel nur alsäann 
zu den Synkretisten zu rechnen , wenn sie parsischc , iulßsche, 



* 



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et Im ftotitriae d'Ammoaiua Saccas. 

jüoische und christliche Sätze nicht blos zur Vergleichung , son- 
dern ab göttlich mitgetheilt (revelirt) aufnahmen ; was von Plotin 
schwerlich, von Celsus und Porphjrius gewifs nicht zu behaupten ist. 

Von Potamon sagt S. 46, er habe vraisemblablement zahl, 
reiche .Zuhörer gehabt. Wer kann dies wissen, da ausser der 
Versicherung, dafs er viele Jahre hindurch lehrte, andere Noti- 
zen fehlen? Strabo, Ammonius, der Lehrer Plutarcbs, Euphra- 
tes Alex, combinirten. Hauptsätze verschiedener rationeller Systeme 
(S. 47- 48). Ob aher Potamon .personlich ihnen dazu Anla&_ 
und Vorbild geworden sey, ist weder zu bejahen noch zu isr- 
neinen. Potamon, den August uberlebend, konnte sehr wöhl noch 
von demjenigen Ammonius benutzt worden seyn, welcher, wie 
Potamon selbst., sich an Plato und Aristoteles zugleich hielt und 
nach Nero s Befehl zu Athen lehrte. Dieser aber war nioht der 
Sekkes. 

Jedoch! wir fojgeu dem Verf., ohne die Zeitlücke bis auf 
Sackas ausf üllen zu kennen, zu diesem Hauptgegenstand der Preis- 
aufgäbe. Ammonius Saccas erscheint uns als der, welcher in 
.seinen öffentlichen Unterhaltungen vornehmlich die griechischen 
(Philosophien /miteinander eklektisch zu versöhnen suchte, doch 
aber dadurch in diesem Eklekticismus eine zweite Epoche 
machtei, weil er in Plotin und Andern wenigstens eine Aufmerk- 
samkeit auf das orientalische, durch Annahme von Emanationen 
sich unterscheidende, persische und indische Philosophiren er- 
weckte. Ob er aber daraus in seinen vertrauteren Besprechungen 
mit Plotin und einigen Wenigen, eigentümliche Dogmen oder 
PrObabilitaten (etwa vom Emanirtseyn des Novt ans dem Ur- 
gott, und der ^vyr, aus dem Nov«?) mit den griechischen Philo- 
sophemen combinirt, wenigstens zur Meditation vorgetragen habe, 
ist schwerlich, mit dem Verf. zu bejahen. Dafs Saccas oder auch 
Plotin «etwas deswegen, weil es äusserlich geofifenbart worden 
fiej, aufgenommen und also synkretisirt habe, ist noch weniger 
nachzuweisen. Plotin glaubte wohl an das , was ihm inn«ri; cn 
hell wurde, als an höhere Ausstrahlung, aber doch nicht als 
an etwas bestimmt und wie infallibel mitget heil tes, sondern so, 
dafs er es unablässig durch Rationalisiren zu begründen -suchte. 

Auch von Ammonius Saecas rühmt zwar Hierokles (bei Pho- 
tius Codex 214 u. g5i) selbst mit Begeisterung, dafs derselbe 
sich über das, die Philosophie beschimpfende, Gegeneinander- 
streiten der Platoniker, Aristoteliker und anderer Systematik, 
welchem zu lieb man sogar Stellen , um sie dissonireoder zu ma- 



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5*6 Dehaut: Easai sur In vi« 

chen, verfälscht habe, mit wahrem Enthusiasmus erhob. 
Ovtoi yay n^uio^ lvT&ovaid<ra$ npb$ tu <^iXocro<ßta{ dXi?S&«.- 
rov, xai xa; tg)? tzüXXop Joija^ ^tpi^oV) tu? jiXctaToy ovci- 
«>o,- (piXoaocßta naoaTpißopivaq f el<je xaXoc -ra ixaxifov, xai 
atjy^oj'fv si$ fya xai xi*> arxöv fovv, xai aaTaataaTov x^v 
<pi\oao<plav napgltaxe »am toi( aviot /papipotc, uaXiaxa to^ 
. upiaioi^ toi» at»TW oryysj'ovoxöi', IlXoxfvtp xai Qpiytvii [non 
christiano] xai xoi$ « Ä <> xovxrov. Auch nennt ihn Hierohles 
deswegen Stollidaxxoq. Dennoch bezieht sich dies bewundernde 
Prädikat, ebenso wie bei Plotin, nicht etwa darauf, dafs er ein 
Glauben an irgend eine äusserlich überlieferte Infallibilität mit 
seiner philosophirenden Eklektik wie etwas Entscheidendes Ter- 1 
bunden habe. Sie verglichen und benutzten, was auf dem Wege 
der Revelation volksthümlich und populär da war, zugleich mit 
dem Wissenschaftlichen, aber ohne dafs sie sich durch jenes oder 
dieses gebunden erachteten. Ein lebhaftes, überraschendes Ent- 
stehen ihrer Einsichten war solchen Männern allerdings ein Ein- 
wirken des Gottlichen, eine innere Inspiration, aber nicht wie 
etwas wörtlich mitgetheiltes, das dann buchstäblich als unfehlbare 
Geheimnifslehre fortzupflanzen gewesen wäre. Wir sehen viel- 
mehr aus ihren Bearbeitungen , wie sie jene , als gottlich geschätz- 
te, Gerauthsaufregungen durch Begriffentwickelung, Gründe und 
Schlüsse ins Klare zu bringen und das Ahnen des Wahren, 
(dies.es Diviniren, in welchem man die göttliche Abkunft der 
Menschenseele zu erkennen liebte), erst in ein des Namens »Got- 
tesbewufstseyn « würdiges Wissen zu erheben gewohnt waren. 

Ammonius Saccas tritt demnach fast ganz in die Reihe 
der Eklektiker nach Pota mons Weise , insofern auch von ihm 
Uierokles (bei Photius Cod. a5i ) berichten konnte, dafs er 
hauptsächlich die Übereinstimmung zwischen Plato und Aristoteles 
zu zeigen pflegte; was ja auch bei dem Potamon des Laertiers 
das Charakteristische ist. Nur der Enthusiasmus, mit welchem 
Saccas dachte und lehrend wirkte, scheint ihn am meisten von 
Potamon unterschieden und, weil er viel mehr Eindruck machte, 
auch veranlafst zu haben , dafs Hierokles , in der so eben gege- 
benen Stelle, von ihm als von dem Ersten spricht, welcher 
für das Wahre der Philosophie enthusiastisch gewesen sey. 
Der Erfinder des Eklekticismus, Potamon, wurde wahrscheinlich 
mehr als ruhiger Denker das , was er ward und wodurch er in 
seinen Nachahmern mehr im Stillen , bis auf den Mann hin wirk- 
te, den, wenn die Tradition das Wort Saccophoros richtig deq. 



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et la doctrin« d'Aiuiooaiai-Sacca«. MI 

tet, der Innere Drang von dem Sackträgergeschäft , Korn zu 
schleppen, in die Schulen der Philosophen getrieben 
bat Eni xovrov [die allzusehr ins Unbestimmte leitende Variante 
tTit TotTHv ist ganz unwahrscheinlich!] (zur Zeit des Commodus) 

Afi povioq ö WlxXlJV Zaxxä<; xovq aaxxov; xaTttAtTiwv, o!$ f*C- 
ti(f>tp$ %ob<; wt?pot>$ , tov <pikoo9<pov iianaaa%o ßiov. Totrrcp 
tponnoai <paoi xeu nptxtpov [christianum] ß^yswjv xai I1Xot4- 
schreibt Theodoret in der Disput. VI. de Curatione 
graecar. affectionum. p. 869 ed. Schulz. 

Die Regierungszeit des Commodus lauft von a. 180 bis zu Per* 
tinax und Septimus Severus a. 193. Nach den genauen Angaben 
von Porphyr im Leben Ptotins war dieser '(geb. a. ao5) vom 
' J. 232 an, zur Zeit des Alexander Severus, eifriger Zuhörer des 
Saccas, welcher aber damals, wenn wir die Hälfte der Regierung 
des Commodus (= a. 186) als seinen Übertritt zur Philosophie 
annehmen , schon über sechs und vierzig Jahre lang diese Studien 
fortgesetzt hatte. Wahrscheinlich wird es daher, dafs, als Plo- 
tiu nach zehn Jahren a. «4«a ihn verliefs , um , mittels des Kriegs- 
zugs von K. Gordian gegen die Perser , seine Kenntnifs persischer 
und indischer Lehren zu erweitern, Saccas, welcher dann schon 
nahe an den Siebzigen seyn mufste, Plotins Zurückkunft (im J. 
«44) nicht mehr erlebte. Wenigstens ist davon , dafs Plotin , ehe 
er dann nach Rom ging, den alten Lehrer noch einmal in Ägyp- 
ten aufgesucht habe , von dem in dergleichen Notizen sorglälti- 
gen Porphyr nicht angedeutet 

Auch die Preisschrift stimmt mit dieser biographischen Be- 
rechnung fast ganz uberein. 

Die wichtigere Frage aber ist: was und wie lehrte der en- 
thusiasmirte Sakkas? christlich? oder antichristlich ? oder viel- 
mehr als ein die griechischen Philosophien eklektisch reinigender 
und vereinigender, aber auch die orientalische Erklärungsweiso 
durch substanziirte Ausflusse aus dem Einen Urgott , nicht iguo- 
rirender Wahrheitsforscber ? 

Sein Verbältuifs zur Christuslehre, wie mehrerer anderer 
Neuplatoniker, scheint mir oft gemifsdeutet zu werden. 

Porphyrius in seinem dritten Buch gegen die Christen be- 
hauptete in einer durch Eusebius KG. 6, 19. geretteten Stelle: 
Ammooius, von christlichen Eltern erzogen, habe, da er das 
Nachdenken und die Philosophie erreichte, sogleich zu der 
gesetzmäfsigon Staatsreligion sich umgewendet. evSvc 
nfa Ti* xajt* vQpovt KoXtTiiav uiTißotXs'so. Origenes dage- 



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5*8 Dehaut i E..ai aur la v ie 

• , g en, * Kita« «od in Wleoisohen Kennten e«o«.», baWe 
sich in das barbarische (ungriechische) Wagnifs (»ro^i^ d. L 
in die Christenlehre) hinausgeworfen. Er habe «war Plato , .Neu 
menius u. t] gl. ni. sehr benutzt, sey auch des Ammonius Zuhörer 
geworden , da dieser in damaligen Zeiten die meiste Mittheiluogs- 
gabe in der Philosophie hatte , habe aber dennoch einen andern 
Lebensgang gemacht. Er habe sich selbst und die Lehrfertigkeit 
eigennützig behandelt, »(a/ *», SC, xoX^ctvt , y^av ai>xov 

Im direkten Gegensatz wider dieses behauptet Eusebius: AU 
Christenfeind habe Porphyr »offenbar gefälscht«. Denn Am- 
raonius sey nicht ans der christlichen Theosebie in das Heidnische 
-verfallen. sk jitov rov mtkxa t>;v &$oog$ttx*v tm, tov «Siuxov 
TOftov (xvnuv?) vxntottv. Ihm sey vielmehr das reine und 
nichtabfällige der .gottergebenen Philosophie sss ti;; 
tvSeov (p^oejo^ta« , auch bis ans Lebensende geblieben., wie 
auch noch die 'Arbeiten des Marines, der durch Schriften, die er 
hinterließ , bei -den meisten wohlgeachtet sey, bezeugen, Wie denn 
der Aufsatz: ntpi ^ttjq Moivocomq xou lr t aov avu^tayto^ über- 
schrieben, und welche andere bei den Freunden des Schoogoten , 
yiloxaXoa, , gefunden 1 würden. « 

Hieronymus de Scriptorib. «cd. c. 66 nimmt dies, nach sei- 
ner rhetorisch vermehrenden Weisenaus Eusebius, dafs Hamno- 
ntüs fiv disertus (?) et eruditns in Philosophie . . . Unter mnlta (?) 
ingenü sui monumenta etiam de Comonanlia Morsis et Jesu elegant 
opus composuit , macht aber ans eigener Combination noch den 
Zusatz : et Evangelicos Canones exeogitavii , tnios ' pöstea secutus 
est Eusebius Caesariensis. 

Herr Dehaat verwirft S. 78 die letztere Angabe des Alles 
wissenden Hieronymus, mit Recht. Die mechanische Zusammen- 
stellung der ' parallelen Erangelientette machte gewifa ein anderer 
Ämmonros. — Aber sogar die ganze Behauptung , wie sie Hieron. 
aus Eusebius schöpfte, glaubt der Vf. durch zwei Gründe entfernen 

'und dagegen annehmen zu müssen, dafs Sahkas aus einem Chri- 
sten wieder Heide geworden scy. Hierin scheint er uns zu viel 

'1ßu folgern. 

'Der eine Grand ist: Long in in einem Aufsatz an Marcellus, 
welchen Porphyr im Leben Plötiiw anftiewahrre (ed. Weisse. 1609 
'p. 1%) . it&^^ und (den hicbtchristlicben) OH- 

' genes , mit denen er Vi*Ie Zeit zügebraeht habe, zu den Philo- 
sophen , welche es für nutzlich hielten, die Zuhörer zum Erfas- 



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V 



et la dck-trinc d'Ainmoölu«-Sacca8. M9 

se"n dessen, was ihnen gefiel (apeaxom — Jo^ufcW) blos 
mündlich zu fördern. — Folgt denn aber hieraus, das Sahlis 
gWt nichts schrieb na jamais rien ecrit? Er, welcher den 
Pidtin zur Vergleichbng der orientalischen Philosopherne mit den 
griechischen veronlafste, konnte Wohl zu Alexandrien, Wo das 
Christen thum und Jude nt hu m philosophisch betrieben würde, eine 
Yergleichung Mose's mit Jesus in einem Nebenwerk versucht ha* 
Ben, wenn gleich gesagt ist, dafs er nicht , wie der Piaton iL er 
Eufeli des u. A. über seine Philosophie ( ! ) Schriftliches hin- 
terlassen labe. LOngfn war anter den Heiden geblieben. Den. 
noch bahnte er Mose als ovy 6 Tttföi« ävr 9 und bewunderte be- 
kanntlich jenes : »Gott sprach , Es werde! Und es Ward« ah sub- 

. 'Ifta tfnd'gotteswtSrdig. Hep» 4t^o*u ed. Weist». im 33. 276. Ist • 
es nicht eben so Wohlglaublich, dafs Sakkas , als ein Philosoph, 
welcher überallher, auch aus der orientalischen 'Richtung der 
Denker , das Wanre der Philosophie mit Begeisterung aufsuchte, 
nach diesem Zwccl; auch Mose und Jesus in Parallelen be- 
tftetat 'Wbe? Longin 4 iagt hient, dafs er gar nichts schrieb, 
'sondern riur, dafs er seme jihilOSophischen Lehrmeinungen nicht 
* schriftlich 'nachlieft. Zu Äte^ttdria , w* langst Äristohul nnd 
I*nfTo für Üen Heoraismus platonlsirten, wo Pantanus emd andere 
Cnristerilehrer sieb mit den griechischen Philolophten nicht blos 
ü aus Scuriften sdhdern auch durch Besuchung ihrer' Lehrversamm- 
- 1 un gen 'bekannt niaCljten, konnte ein enthusiasmirter VVahrheits- 
freund '»Öse tmd Jesus nicht ignorireo. SäMas Suchte überall die 
VeremigongSpurikte ; so aüch die ovpfätia Mtivaeoq *cu Inoov, 
r -8*ne 'weder Jude, noch Pol) theiste , noch Chrfbtlaner seyn zu 
wollen, als eklektüchdr Philosoph. • - 

*Den zweiten Grund dagegen findet der Vf.'ln Arnmianus 
^arceW., 1 Welcherod as 'Bruchion ( ; d.' h. dim'Städrttaäl von Ale- 
xandria , wo auch das Museom "war)^ ein diu turn um praestantiuni 
^ominüm 'dömici (B. 22. Kap. 16. p.' ite) unde ... et 

Öacäs Ammoniiis, Pldtini Magister, feehr Wahrscheinlich, 
Wiewohl nirgends mertiefert/lst^s, 'daTs, weWAmmbntos das 
^hristenthum'VerVheiäigt und terbreftet ' hatte , 'fer (S. 83) nicht 
" mit einer 1 vVra S Süit 'abhängigen 'AWorisatlou ,' im Mnsfefiim zu leb- 
9 ien , begünstigt' 1 wof den wäre. Allein 'wird nicht Therm' eine öber- 
1 treibende 'Voraussetzung in die Varize Frage eingesenöben ? wie 
'"wenn man "in der eigentlicnen Verbindiingsstadt der drei Welt- 
"Weile, in dem von 'Alexanders kosmopolitischem SchajfblicJLnjld^ 
'Von'^er ümfassersden Klugheit der ersttn^öfelnSer zagenden 



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540 



Dthaut . fc»«ai mr )• vi« 



Mittelpunkt des Orients und Occidents , in dem dort aufgehäuf- 
ten , ebendadurch zur Eklektik hintreibenden Reichthum von Re- 
tten des Alterthums , um die Zeit der Antonine , nur die Wahl 
gehabt hätte , entweder als erklärter Heide oder als Christ zu 
leben ? So ausschliefsend intolerant war das Heidenthum gewöhn- 
lich nicht, und die christliche Hierarchie konnte et noch nicht 
seyn. 

Meine mit der Stelle bei Eusebius wohl vereinbare Ansicht 
deswegen ist: Der unter Christen erzogene Sakkas gieng, sobald 
er das Selbstdenken und die Philosophie erreichte, mit Begeiste- 
rung , wie Hierokles rühmt, in das für die Philosophie rühmliche 
Bestreben über, die hellenischen Philosophien in ihren Haupt- 
sätzen miteinander zu vereinigen. Daruber lehrte er mit solcher 
Kraft , dafs Plotin , als er 28 jährig Andere ohne Befriedigung ge- 
hört hatte, sobald er bei Ammonius eingeführt war, seinem lei- 
tenden Freunde zurief: Diesen suchte ich! und nun eilf gan- 
zer Jahre ihn benutzte. (Porphyr. Leben Plotins K. 3.) Folgt 
denn nun aber hieraus , dafs Sakkas Polytheist wurde? und 
dafs er gegen das Christenthum lehrte? Wie würden wir als- 
dann bei Euseb. HG. 6, 19. aus einem Briefe des Origenes er- 
fahren, data dieser, da er schon als Christenlehrer Buhm hatte, 
und daher von Häretikern und von Griechischgelehrten, beson- 
ders Philosophen besucht wurde, eben deswegen, um beides zu 
prüfen, den Philosophen, welcher am meisten Ansehen 
hatte, fleifsig gebort, dort aber schon den (nachmaligen 
Presbyter von Alexandrien) Herakles als bereits fünfjährigen 
Zuhürer angetroffen habe , der sogar die Pbilosophenkleidung 
ajiitahin und beibehielt Hätte Sakkas das Heidnische als solches 
empfohlen, hätte er wider das Christenthum geeifert, wer würde 
diesen beiden christlichen Vorstehern es verziehen haben, dafs 
•ie anhaltend seinen Lehrsaal besuchten? 

Überhaupt ist es, wie zum Theil mein unvergefslicher, schar f- 
sichtiger Lehrer, Prof. Boesler, zu Tubingen schon 1786 in 
seiner Diss. de Commentitiis Pbilosophiae Ammonianae fraadibus 
et noxis allgeraeinhin gezeigt hat, ganz unhistorisch, dafs der 
Neopl atonismu s an sich zum Kampf wider das Christentum 
entstanden oder gehraucht war. Mosheim u. And. meinten, die 
aleiandrinische Logologie nicht anders ableiten und dadurch wieder 
aus der Dogmatik wegreinigen zu können. Aber diese war schon 
im jüdischplatonisirenden Philo. Von Potamon, Ammonius, Plo- 
tinus ist eine beabsichtigte offene Feindseligkeit gegen Judenthum 



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et la doctrine d'Ammonios-Saccaa. 



541 



und Christenthum nicht nachzuweisen. Suchten doch beide Letz, 
tere, oder «wenigstens PJotinus gewifs auch aus den Revelationen 
Zoroasters Wahres, ohne sich daran, als an unfehlbare Offenba- 
rungen, fesseln zu wollen. Dafs Celsus, Crescens, Porphyrius 
gegen das , was ihnen an der damaligen Darstellung der Christen- 
lehre allzu abergläubig und rechthaberisch schien , bitter , verfol- 
gend, sarkastisch waren, dies lag nicht im Geiste der conciliato- 
rischen Eklektik ; es ist vielmehr, wie so vieles in den Phänomenen 
der Wissenschaftlichkeit, als etwas nur aus dem persönlichen 
Charakter, nicht aus dem System entsprungenes zu erklären. 

Sakkas war, seit er eklektisch philosophirte , Monotheist- 
Eusebius , der seine Worte zu wägen und zu wählen weifs , drückt 
sich auch sehr behutsam aus. Er sey bis zum Tod bei der ev- 
&co£ (ptXoaorpta beharrt. Ans dem ßtoq xaxa Seootßtiap sey 
er nicht in den tSvixoq T^onoq verfallen. Nach Porphyrius lebte 
er der Staatsreligion gemäfs. Genau genommen sagen beide, was 
nach der Natur seines P&ilosopbirens nicht anders von ihm zu 
erwarten ist. Er stand als religiöser Selbstdenker, gerade als 
eklektischer Philosoph, wie er es war, zwischen dem Heiden-» 
thum und dem kirchlichen Christenthum, so dafs Christen und 
NichtChristen von ihm eine » nicht gegen sich selbst aufruhreri- 
sche« Philosophie boren konnten. Auch hindert uns dieses sein 
Beharren auf dem philosophischen Standpunkt nicht einmal (wie 
der Vf. S. 109 befurchtet) daran, manche Übereinstimmung des 
Sakkas mit Plotins aus den Enneaden erhellendes System als wahr- 
scheinlich vorauszusetzen. 

Porphyr freilich ist parteiisch genug , dafs er ihn gerne' ganz 
zu sich herübergezogen hätte. Aber, dafs Sakkas sich wider 
das Christliche erklärt habe, wagt er doch nicht zo behaupten. 
Eusebius spricht hier nicht nur vorsichtiger, sondern zugleich 
wahrer. 

Der Vf. ist mehr der Ansicht Porphyrs (S. 83) , setzt aber 
ohne historischen Beweis exoterische Unterhaltungen voraus, 
in denen Sakkas nicht gegen das Christenthum gesprochen habe, 
wo also Herakles, der christliche Origenes u. & ihm anhaltend 
hören konnten. Dagegen wermuthet er andere, widerchristliche 
esoterische avvovotaq. — Allerdings erfahren wir, dafs Sakkas 
namentlich den Plotin , Erennios und den nichtchristlichen Orige- 
nes auch vertaulich belehrt habe. Aber wie? War diea 
eine geheimere, esoterische Schule? Darf man denn wohl an- 
nehmen , dafs er dort wider das Christliche , dafs er also in einem 



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542 Dehiwt: Cmiu wr la \ic 

Gegensatz gegen das öffentlich und exoterisch Gesagte lehrte , Ja 
er doch kein Hindern ils in seiner Zeit gehabt hatte, auch eso- 
terisch gegen die vom Staat nicht Icgitimirte Christi ich keit sich 
zu erklaren? Der Lehrer, welchem nirgends zweierlei Schulen 
zugeschrieben werden, konnte die vertraute und fähigere in einw 
gen Verträgen auch weiter führen. Aber, wenn er exoterisch 
so lehrte, dafs er auch Christen anzog, so hatte er doch gewif* 
nicht — esoterisch wider sie zu kämpfen lehren können, ohne 
selbst bei den Vertrauteree gegen sich Argwohn und Widerwil- 
len zu erregen. Überhaupt sagen, wie ich im später Folgenden 
noch klarer zeigen werde , die alten Stellen nicht , dafs Saldos 
eine besondere esoterische Schule gehabt habe, wenn. $t gleich 
mit Einigen fähiger geachteten sich vertrauter besprochen ha^ 
ben mag. 

Mochten wir nun, nach all diesem, nur genauer wissen oder 
durch den Verf. der Freisschrift lernen können: was. haupt- 
sächlich Sakkas mit Enthusiasmus (wie. ein Gottlich, 
belehrter) und mit langem, vielem Beifall vorzutra- 
gen pflegte? Hierüber ist Herr Prof. Dehaut weit glucklicher. 
Er glaubte, aus Plotins Enneaden — in denen aber Ammonius S. 
nicht einmal genannt ist — recht viel , was derselbe gelehrt habe, 
S. i33 — 1&7 den Preisentschcidern vorhalten zu können. 

Dazu gebraucht er drei Kriterien als EntdeckungsmiUel, Zu- 
erst sollen uns zwei bei Nemesius auf den Ammonius zu- 
rückgeführte Ausspruche den Weg bahnen, alles, was bei 
Plotin mit diesen Fragmenten ubereinstimme, für Ammoniusisches 
Pbilosophem zu halten. [Da Plotin manches auch von Andern, man- 
ches aus sich selbst hat , diese Fragmente selbst aber nichts ganz 
eigentümliches aufstellen, so wird uns schon diese Entdeckung 
der Philosophie ^m/nomo-Plotinienne sehr problematisch.] 

Das zweite Kriterium nach S. 117 wäre: Alles, worin Plo* 
tins Enneaden mit andern Schülern des Sakkas ubereinstimmen, 
ist bei Plotin selbst aus Ammonius. [Aber, nicht zu gedenken, 
dafs das Übereinstimmende doch auch andere Quellen haben kann, 
ist das Schlimmste dies, dafs wir von dergleichen Mitschülern bei 
Am. fast gar nichts haben. Von Olympius, der von Plotin ab- 
gieng, ist nichts übrig. In dem, was von Longin erhalten wur- 
de, ist gar wenig, das wir mit Plotin als Philosophen verglei- 
chen kennten. Der christliche Origenes hat ohnehin aus allen 
Philosophien geschöpft, nicht blos aus der Schule des Sakkas.] 

Als drittes Kriterium wird S. lao angegeben: Da nach Hie* 



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et la doctrine il'Arnmoning Sncca«. 



rokles bei Pfiotius Amnion, vorn ehralich Plato und Aristoteles zu 
vereinigen suchte, so ist alles bei Plotin, was diese Harmonie 
betrifft, Lehre des Ammonius. Dagegen müssen wir einwenden , 
dafs ja doch nicht alles, was der Sohn dem Vater ähnliches hat, 
gerade geerbt ist , und dafs überhaupt Pfotin jene Harmonie zu 
zeigen, selten zum Zweck bat. 

Das Sicherste bleibt, was wir bei Nemesias als Ammoniusisch 
angegeben finden. Aber wie wenig ist dies ! Und das Charakteri- 
stische von Emanationen, welches die Preissehrift darin fand, müs- 
sen wir sehr Anstand nehmen, in dasselbe hineinzutragen. 

Allerdings bewahrte Nemesias Emesinas nt$t (pvatoig 
avSpanov (ed. Matthai 1802) im K. 2. o. 3. zwei Stellen aus 
den Lehren des Ammonius, auf welche man auch, s. Fabrik 
cii Biblioth. gr. cd. Harles , schon früher hingewiesen wurde. 
Beide Stellen betrefTen die wichtige Lehre, wie die Seele 
vom Leibe wesentlich verschieden und wie sie doch 
mit diesem als einwirkend aber dennoch nicht räum- 
lich vereint aey. Die erste Allegation versichert, zu geben, 
was von Ammonius, dem Lehrer des Plotin und — von Nume- 
nius, dem Pythagoriker (!!) gesagt worden (cip^im) sey und 
gegen die, welche behaupten: der Leib sey die +t>^n» genü- 
gen werde, nie andere giebt an: die Frage, wie die Vereinung 
der Psyche und des Leibs geschehe, habe sich Ammonius, 
Plotins Lehrer, auf die dort folgende Weise aufgelöst (gneXvtro). 

Der VI. giebt S. 128 — 146 das Griechische (welches auch, 
ohne den Nemesius als Quelle zu nennen, Gregor # von Nyssa 
(Tome II. p. 91 u. 109 seiner Werke ed. Morell.) aufgenommen 
bat) und seine Übersetzung mit Erläuterungen. Zeigt diese Über- 
setzug gleich an mehrern Stellen, dafs, wie es der Verf. selbst 
bemerkt , die französische Sprache zu dergleichen Übertragungen 
philosophischer Subtititfiten nicht sehr geeignet ist, so machen 
wir hier doch darüber keine specielle Ausstellungen. Nur wo 
es die Hauptsache betrifft, nämlich die Behauptung der Preis- 
sebrift, dafs vermöge dieser zwei Stellen Ammonius, wie Plotin, 
eine Emanation der Menschenseelen aus einer allgemeinen Welt- 
seele , ferner eine Emanation dieser Weltseele aus einer absoluten 
Intelligenz und dann drittens eine Emanation dieses Nus aus Gott, 
als dem höchsten Wesen selbst, angenommen habe, müssen wir 
uns dringende Einreden erlauben. 

Die Preisschrift mochte, so wie andere neue Schriften aus 
der Geschichte der Philosophien von den Herren Matter und Cou- 



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514 Behaut: Essai sur la vic et la doclrine d Aramonius-Saccas. 

sin, dadurch sehr überraschen und gefallen, dafs man mit einera- 
mal einen recht grofsen Vorrath von Philosophemen mit alten Na- 
men verbinden konnte, die, weil man nicht Werke von ihnen hat, . 
indefs nur als mundliche Lehrer berühmt waren, von deren Lehr- 
inhalt aber sich wenig angeben Hefa. So stand indefs Ammonius 
Sakkas in der Philosophengeschichte. Durch die Preisscht ift aber 
sollen wir uns uberzeugen lassen, dafs alles Theosophischc, was 
in Plotins Enneaden sich auf jene neuplatonische Trias be- 
zieht, schon von Amm. Sakkas abstamme, und dafs wir überhaupt, 
mit einem Mal von dem , was dieser Lehrer Plotins Eigentüm- 
liches gehabt habe, recht vieles wissen könnten. Aber strenger 
untersuchend müssen wir leider uns doch wieder in ein weit 
dunkleres Nichtwissen über die Philosophie des Sakkas und auf 
beharrliches Unterscheiden zwischen ihm und dem Inhalt der uns 
jetzt, durch die mit so reichem kritischem und philologischem 
Apparat ausgestattete Creuzerische Ausgabe (Oxonii. I. II. III. vol. 
in 4.), viel zugänglicher und verständlicher gewordenen Plotini- 
schen Enneaden zurückgewiesen erkennen. Denn in Wahrheit 
vermögen wir in den beiden an sich sehr interessanten Über- 
lieferungen aus Ammonius Seelenlehre bei Nemesius — 
von der ihm zugetrauten Emanationslehre und Trias nichts zu sehen. 
Wir beobachten vielmehr eine Vereinigung aristotelischer Dia- 
lektik im Beweisfuhren , mit Platonischer Ideenlehre im Inhalt 
selbst, mit Bewunderung des philosphischen Scharfsinns des Eklek- 
tikers A. Sakkas, aber so, dafs er — uns wenigstens — in diesen 
beiden einzigen Reliquien seines Geistes nichts von Neigung 
zur orientalisch theosophischen Emanationshypothese 
merken läfst. 

Die erste Stelle (S. 128) gibt fünf Argumente, dafs der 
Leib nicht auch die Psyche sey! Aber wie? Sie erschei- 
nen ganz in der phantasielosesten dialektischen Gestalt. Auch der 
Inhalt ist nicht aus Ideen der Vernunft , noch weniger aus einer 
philosophisch speculirenden Phantasie (oder Möglichheits-Vermu- 
thung), vielmehr einzig aus Erfahrungen und Begriffen geschöpft; 
zum Beispiel, dafs der Leib aus unbestimmbar vielen Elementar- 
teilchen bestehe, die nicht zusammengebracht werden und als 
ein Ganzes zusammengefafst bleiben könnten, wenn nicht durch ein 
nioht aus Theilen bestehendes Kraftwesen, die Seele. 

(Der Benehluft folgt.) 



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N°.35. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



De haut: Essai sur la vie et la doctrine d Amnionitis Saccas. 

( Retchlufs.) 

Dies Zusammenfassen und Halten der Korpertheile könne 
nämlich auch nicht, wie die Stoiker diese Erklärung versuchten, 
durch eine den Korpertheilchen selbst eigene, sich einwärts und 
auswärts dehnende Bewegung (xovixn xn^ao et<; xo eon xat 
ti{ to e5o) geschehen; wodurch jene Alten schon eine Ahnung 
von vis altractiva und repulsiva aller Materie hatten. Denn diese 
Bewegung setze doch selbst wieder voraus eine alles zusammen- 
bringende und zusammenhaltende Kraft, die dann abermals nicht 
selbst materiell , d. i. des Zusammenbringens bedürfend , seyn 
mufste u. s. w. 

Alle die fünf Argumente enthalten nicht einmal etwas von Pla- 
tonischen Ideen , noch viel weniger von orientalischen Emanations- 
phantasien. Die Seele ist vielmehr dem Ammunios und dem 
Numenius — von welchen beiden zugleich (!) die fünf Argumente 
abgeleitet sind — etwas durchaus nicht t heil bares [all das viele 
ihr aufgenothigte und vorgehaltene in Ein leibliches Ganze und 
zugleich in Ein geistiges Wissen und Wollen vereinigendes], 
das also auch von ihnen nicht als ein Ausflufs (welcher doch eint 
Theil eines theilbaren Ganzen seyn mufste) gedacht seyn konnte. 
Ein Emaniren ist überhaupt eine Ficlion der Phantasie, die 
nur so lange möglich scheinen kann , als man sich auch die Ur- 
Hraft als ein theilbar bewegliches vorstellt; mag man es 
dann auch noch so fein materiell, wie Feuer, wie Licht, wie 
magnetische Ausflusse u. dgl. vorauszusetzen versuchen. 

Eine Nebenberaerkung dürfen wir sofort bei dem ersten Frag- 
ment, weil sie uns weiter leiten kann, nicht ubergehen, dafs näm- 
lich die kurz angegebenen fünf Beweise für Nichtleiblichkeit der 
Seele nicht de m A m m o nius allein, sondern zugleich dem 
Pythagoriker Numenius zugeschrieben sind. Der Text gibt 
sie als to Trapa Auuwnor, to« dtduoxd'kov UXorivov 9 xai 
N ovuevIov toxi TLvSayopixov ti^iuva. Wir wissen also nicht: 
ob sie alle als von Amnionitis gesagt und durch Numenius , wel- 
cher bald als Pythagoriker, bald als Platoniker, immer aber als 
XXX. Jahrg. 6. Heft. 35 



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546 Dctaaot: Eaaai «ir la vic 

■ 

• 

ein damals mit Plotin in Rivalität stehender Philosoph vorkommt, 
nur aufbehalten waren? oder ob sie vielleicht zum Theil dem 
Numeoius selbst angehorten? (Stammt vielleicht die Losung des 
Einwurfs, dafs die Seele in drei Dimensionen, also wie eine Ma- 
terie erscheine, von dem Pytbagoriker?) 

Über des Numcnius Verbältnifs zu den Lehren des Amm. 
Sahkas und des Plotin gibt uns Porphyrius's Leben des Plotin be- 
stimmte, hieher anwendbare Aufschlüsse. Nach Kap. 3 war A me- 
lius, vorerst ein Platoniker als Schuler eines Lysimachus , von 
dem dritten Jahre an aber, seit Plotin zu Rom war (r= seit a. 
346) vier und zwanzig Jahre lang (also bis 269) im philosophi- 
schen Umgange mit Plotin , während dieser zehn Jahre lang dort 
blos mundlich über Philosophie conversirte (Synusien hatte) 
und alsdann erst auf Andringen der Freunde zum Theil an den 
Enneaden zu schreiben anfing. A melius dagegen, welcher alle 
Zeitgenossen an Arbeitsamkeit ubertraf, halte nach Porphyr fast 
alles, was Numenius lehrte, geschrieben, gesammelt und meist 
auswendig gelernt ; aus den Zusammenkünften aber [man mufs 
nach dem Zusammenhang an die owovaiai mit Plotin denken] 
machte er sich in jener langen Zeit hundert Bucher von 
Scholien, die er seinem Adoptivsohn schenkte. Diesen A me- 
lius nun veranlafste (nach K. 17) Porphyrius auch, in drei Tagen 
einen Aufsatz über den Unterschied zwischen den Leh- 
ren des Numenius und des Plotin, zu entwerfen, weil 
»manche aus Hellas« ausstreuten, als ob Plotin blos die Lehren 
des Numenius sich zur Unterlage nehme (iitoßuX'ktoSat). 

Diese Notizen scheinen mir am besten die Quelle zu ent- 
decken, aus welcher Nemesius Eraesinus jene fünf Argumentatio- 
nen, die er als ttprj^eva des Ammonius und Numenius zu* 
gleich angiebt, geschöpft habe. Sie klingen an sich ganz wie 
zusammengedrängte Scholien, und von Amelius wissen 
wir durch Porphyr gewifs, dafs er sich, wie über die Lehren 
des Numenius, so auch über das, was er in 94 Jahren aus den 
(Konversationen mit Plotin , in denen ohne Zweifel auch manche 
Ammoniusische Einsicht erwähnt wurde, gelernt hatte, solche 
Scholien verzeichnet und dann auch zu jener Vergleichungs- 
schrift benutzt habe. 

Wundern dagegen mufsten wir uns, dafs die Preisschrift bei 
Benutzung des ersten Fragments, welches ausdrücklich als u^ti- 
ptva des Ammonius nicht allein, sondern zugleich des Nu- 
menius angegeben ist, doch darüber y wie dieser hier mit Amm. 



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* 



et la doctrine iTAmmonias-Saccat. 54? 

in Verbindung komme, kein Wort sagt und die doch von Beiden 
abgeleiteten Argumente blos auf Ammonias bezieht. Ganz ohne 
Grund ist es zugleich, dafs S. 124. i33. behauptet wird, a) Am. 
monius Sakkas habe eine esoterische Schule gehabt, und b) 
ebenderselbe habe dem Nichtchristen Ortgenes, dem ErenriiuS und 
dem Plotin das Wort abgenommen, nichts von diesen seinen eso- 
terischen Lehren bekannt zu machen. Richtig ist wohl, dafs 
nach Porphyr Erennius zuerst, und alsdann Origenes die Abrede 
gebrochen habe und so endlich auch Plotin davon abgegangen sey. 
Unbegründet ist c) des Vfs. Vermuthung, dafs durch ebendieses 
Erennius Entdeckung (nach S. 127) nun jenes Fragment, als 
etwas aus der esoterischen Schule des Sakhas, an den 
Aufbewahrer, Nemesius, gekommen sey. Denn vorerst ist eine 
solche besondere Schule jenes Eklektikers nicht nachzuweisen. 
(Ist ja doch nur von Drei Vertrauteren die Rede, die unter sich, 
ohne den Lehrer, sich zu einem Verschweigen eigentümlicher 
Satze des Sakkas vereinigten.)' Und dann wäre doch nicht er- 
klärt, wie dem Nemesius auch von Numenius einiges durch Eren- 
nius zugekommen sey. 

Überhaupt wird , wer die fünf subtilen Argumentationen für 
die Immaterialitat der Psyche erwägt , nichts darin , was für esote- 
risch geheim oder mystisch idealisch hatte gehalten werden können, 
entdecken. Was aber für die ganze Ansicht über Ammon. Sak- 
kas und seine (eklektische) Lehrart bedeutender wird, ist dies, 
dafs die Stelle des Pörphyrias, auf welche der ganze Unterschied, 
als 6b Ammon. manches nur esoterisch gelehrt habe, gebaut 
wird, gar nichts von einer solchen ihm, dem Eklektiker beliebig 
gewesenen Abtbeilung in zweierlei Schulen behauptet. 

Porphyr sagt wörtlich nur Folgendes: »Da zwischen Eren- 
nius, Origenes tfttd Plotinus (f) die Übereinkunft ge- 
worden war, nichts Zu enthüllen von Aramonius's Lehrmeinun- 
gen, welche wohl ihnen in den Vorträgen {iv tou$ axpocLatcri) 
weiter gereinigt worden waren (avfxtxa^To), so blieb 
auch Plotinus dabei (spteve, oder wie Creuzer sehr wahrschein- 
lich vermuthet: «veuevi), indem er zwar mit einigen, die herzu- 
kamen, (Über Philosophie) conversirte, aber die Dogmen von 
Ammonius unausgesprochen bewahrte. [Das seltene Wort 
avexTivffTo ist von 71 vw, txitva , = wie eine Pustel aufblusen, 
abzuleiten.] » Als aber Erennius zuerst die Übereinkunft über- 
schritt, so folgte zwar Origenes dem Vorgange des Erennius, 
schrieb aber doch nichts, als die Schrift über «Tie Dämonen 



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S48 De Ii auf ; Essai sur la vi« 

und — unter Galienus — : dafs der Baailcus alleiniger 
Dichter sey *); Plotinus aber wirkte noch lange Zeit, ohne 



*) Über diese Stolle in Porphyre Leben des Plotinus K. 8 , dafs Ori- 
genes, der nichtchristliche Mi tm hu ler Plotins bei Amnion Sakkaä, 
nichts als ein Ttp rtuv Saifxovujv geschrieben habe, Mai rr< 

YaXnjvov ort lroaftyji o ßaeiXvJs, ist so vieles (•. die Creuzeri- 

•che Annotation T. I. S. XCIII) vermuthet und nicht entschieden 
worden, dafs ich meine Vcrmuthung, wie sie aus Porphyr selbst 
entstand , auch mitzuthcilen wage. Dafs der Philosoph, Ori ge- 
nes , den der Platonischen und Plotinischen Philosophie geneigten 
Kaiser (ßcurikiui) Galicnns durch jenen Aufsatz als den alleinigen 
Poeten habe preisen wollen, möchte ich, nicht nor weil diese 
Schmeichelei allzu unphilosophisch wäre, sondern auch weil Por- 
phyr nichts dagegen bemerkt, nicht für wahrscheinlich halten. Will 
man aber übersetzen: Nur der Sch ö pf c r ist der Regent, so mülste 
im Griechischen vielmehr stehen : ort ßaertXiv; 6 
die griechische Periodologie setzt in dergleichen Sätzen das Pradicat 
vor dem Subject (Vgl. m. Comm. zu Joh. 4, 24.) 

Mir fiel auf, wie wortreich Porphyr jiu 17. Kap. ausführt, dafs 
Er selbst eigentlich Bza/Asu;, nämlich im Syrischen Malchus, 
heifse, und dafs deswegen Longinus ihn: MaAyt! angeredet, Ame- 
lius aber an ihn geschrieben habe: AmsAo; BaatXtl tu x^arnrv. In 
i der Gesellschaft bei Plotin hiefs demnach Porphyr, statt Malchus, 
oft o Ba<r<A«u;. Tov Ma> ycv , sagt er S. LXV1I, outoc, nämlich A me- 
lius > » ; rhv BotfftXia y^a(pti (= er schreibt den Malchus um, in den 
griechischen c Bac/Acu;.) Vgl. K. 21 , wo auch Longinus ihn o Bo> 
ctksv; nennt. Nun erzählt Porphyr ferner im Kap. 15 von sich selbst: 
Er habe an einer Geburtsfeier Piatons einst in Plotios Gegenwart 
ein mystisch - enthusiastisches Gedicht über die heilige Ver- 
mählung (den ftfo; yafxo; der Seele mit Gott, woraus auch der 
dogmatische Artikel de Unione mystica abzuleiten ist) vorgelesen, 
and da Einer über seinen furor poeticus =5 patvtSai tov Uo^upiov» 
gespöttelt , habe vielmehr Plotin laut ausgesprochen : «dcigac opsu 
tov xo/jjtiJv, na/ tov <ptk<><TQ$ov neu tov <«oo<J>avnjv. Di cs geschah, da 
Porphyr zwischen 263 und 208 bei Plotin war, in Galiens Zeit 

~ t*# TaArt^ou. Ist demnach nicht wahrscheinlich der Sinn jener dun- 
keln Überschrift dieser: Origenes habe wenig, doch in Galiens 
Zeit anch einen Aufsatz (scherzweise) geschrieben, mit dem Titel: 
Der Basileus (das ist, unser syrischer Freund , Malcbns oder 
Porphyr) ist allein ein Poet! — Der Scherz sagt: Plotin bat 
ihn wie vor andern allen zum Dichter ausgerufen. — Gerade weil 
dies Scherz über ihn selbst war, giebt Porphyr keine weitere Er- 
klärung, wie er, wenn die Sache sonst von Bedeutung gewesen 
wäre, wohl etwas hinzugefügt hätte. 

Der unbestimmte Ausdruck cti VaXnjvov hat veranlafst , dafs Fa- 
bricins in der Chronologie des Lebens Plotins (S. XLVIII. Crcuzc- 
rischer Aasg.) diese Schrift des Origenes ins s weite Jahr Ga- 



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et la doctrinc d'Aminonius-Saccas. 549 

irgend etwas zu schreiben [bis er sich vom ersten Jahre 

des Galienus an , weil die philosophischen Conversationen {avvov 
atatt) oft gar zu bunt durcheinanderliefen, zu einigem Nieder- 
schreiben antreiben liefs, so dafs, da Porphyrius im zehnten Jahr 
Galiens mit ihm bekannt wurde, Plotin 21 Bücher von den 54, 
ans denen die sechs Enneaden bestehen, als seine Meditation ge- 
schrieben hatte and sie einigen Auserlesenen y unter andern auch 
dem Porphyr anvertraute.] 

Aus dieser Notiz erhellt a) vorerst nicht, dafs der Lehrer 
Ammonius Sakkas selbst an der Übereinkunft der Dreien wegen 
Nichtverbreitung seiner gereinigteren Lehrsätze Antheil gehabt, 
also das Esoterische gewollt; noch weniger dafs er eine esoteri- 
sche Schule gehegt habe. Wenn eine solche gewesen wäre, so 
hätten nicht die genannten Drei eine Verabredung zum Geheim- 
halten zu machen Anlafs gehabt, weil das Verschweigen Bedin- 
gung für alle Esoteriker gewesen wäre, b) ist nicht von beson- 
dern Belehrungen, sondern von den Vorträgen für die Zu- 
hörer überhaupt, von Akroasen, die Bede. Der Eklektiker 
trug vor, wie die Natur der Sache es mit sich bringt, was die 
verschiedenen Hauptphilosophien , jede nach ihrem Standpunkt 
einseitig, annahmen. Er aber zeigte, was er von den Besonder* 
heiten wegzulassen, also gleichsam wegzureinigen = zu 
apmxa&cuptty , fand, so dafs sie alsdann gerade im Uni- 
verselleren und Nichtdifferirenden Eines wurden. 
Dieses gleichsam sublimirte, wodurch der Krieg der Hauptsysteme 
gegeneinander, das skandalöse aTaota&iv von Philosophie ge- 
gen Philosophie, ohne ein nur aecordirendes Conciliiren (= ohne 
ein falsches juste-milieu) vielmehr durch "ein Hervorheben 
des Bleibenden aus den angehängten Particularismen gehoben 
werden konnte, gab Am. in den Akroasen selbst, also nicht 
blos esoterisch. t Jene Drei miteinander aber meinten eine Zeit- 



liena, als Mitrogonien von Valerian = a. 253 setzte. Da- 
mals würde sie wenigstens noch nicht als Schmeichelei auf den blos 
Mitregicrcnden entstanden seyn. Galien war aber wirklicher Kai- 
ser , so lange Porphyr bei Plotin war, also auch damals, da Plotin 
seinen so vertraut gewordenen 0 Bu<riA«u$ oder Malchus so feierlich 
als ächten mystischen Poeten proclamirt hatte, was dann 
Origcnes wohl unter dem scherzhaften Titel, wie ein Elogium , 
weiter ausgeführt su haben scheint. Judicium sit penes acutiores ! 
Wohl uns, dafs das Heil der Welt von allen dergleichen dunklen 
Traditionen nicht abhängt. 



1 



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5S0 Dehaat : Eu,u sur ia ur 

lang, besser von dieser eigentlichen Frucht der Eklektik, ?oq der 
ConCtriitrulioii des Gereinigten io ein Ganzes, keinen Gebrauch 
ins Allgemeine hin zu machen. Sie wollten das txnvta&ai, das 
erumpere in vulgus, noch mehr vermeiden. Sie müssen also eine 
Zeitlang die verschiedenen allen Systeme nur getrennt behandelt 
und lieber über einzelne Probleme Besprechungen (Conversatio- 
nen) versucht haben. Erst als diese, aus denen sich Amelius 
Scholien machte und also mancherlei zu retten suchte, allzu 
abschweifend (voll von a-ru^ia und noXXn <ßa*»Taoia) geworden 
waren, liefs sich Plotin bewegen, seine aus allem Überdachten 
ihm einleuchtenden Resultate folgerichtig, aber ohne dafs 
er der früheren getheilten Systeme leicht erwähnte, so nieder- 
zuschreiben, wie die freieren Besprechungen ihn dazu veranJafa- 
ten. Und dies ist auch die aus der ganzen Anlage der Enneaden 
ersichtliche Entslehungsart derselben. Plotin ordnet jedesmal über 
die in der Besprechung discutiiten Fragen seine Beantwortung, 
wie sie ihm «us seinem Gedankensystem flofs, ohne dafs fr die- 
ses, als ein Ganzes, der Reihe nach darstellte. 

Wieviel dann aber in diesen seinen, erst seit a. 25t begon- 
nenen Aufzeichnungen ein gleichsam geerbtes Eigenthum des Am. 
Sakkas gewesen seyn möge, mit welchem Lehrer er seit 241 nicht 
mehr im Umgang gewesen war, ist, da er in den Enneaden auf 
ihn nie sich bezieht, sondern als Selbstdenker seine Sätze und 
Folgerungen nur aus sich herausspinnt, gewifs nicht so leicht 
und zuverlässig, wie der Haupttheil der Preisschrift es darstellt, 
zu entwickeln« 

Auch das zweite (inlricatere) Fragment bei Nemesius giebt 
hiezu keine sichere Grundlage. Zwar ist der Scharfsinn sehr be- 
wundernswürdig , mit welchem Aramonius schon auf einer gan* 
besondern Art des Kxistirens der Geister, nämlich darauf bestand, 
dafs diu Seele als ein denkendes Kraftwesen nur wirksam 
auf gewisse materielle Theile, nicht aber selbst wie an Ort 
und Raum gebunden gedacht werden solle. Sie sey nicht 
räumlich oder nach Dimensionen theilbar im Leibe, -vielmehr in 
ihm überallhin als ein in sich bestehendes Eines und Ganzes auf 
nichtsinnliche Weise einwirkend, tpe^yav* An sich also sey 
sie lür uns nicht vorstellbar, sondern nur denkbar, eher bei 
weitem nicht blos wie ein Gedankending, vielmehr als gewifs 
wirklichseyend denkbar, weil sie offenbar einwirke, ohne 
dafs die Art dieser ihrer Energie etwas materielles, räumliches, 
theilbares, bemerken lasse. [Er schrieb ihr ein wirkendes 



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et la doclrine d'Auuuoniut Saccai. 



Seyn zu, aber nicht ein — Daseyn, oder Dortseyn ! Eine sehr 
feine, für alles Denken geistiger Kraftwesen wichtige Unter- 
scheidung ! ] 

Amin, war demnach schon so weit in der philosophischen 
Anstrengung für reines (nichts von Gestalt und Vors teil bar- 
keit bedürfendes) Denken, ^dafs er das, was sich wissend und 
wollend als eine Wirklichkeit oder wirksame Kraft manifestirt, 
auch als ein an sich wirkliches zu denken vermochte, ohne dafs 
er die Charaktere der Materialität : Undurchdringlicheit oder ÖrU 
üchkeit (das Behaupten eines gewissen Orts und Baums) und 
Gestaltung, darauf ubertragen zu müssen meinte. Er lehrt uns 
Schoo, wirkende Kräfte als selbstbestehend, als wirkliche Dinge 
an sich zu denken, ohne dafs wir mit ihrem Wirklichseyn ein 
Böumlichscyn verbinden müfsten. Das Wirken beweist die Wirk- 
lichkeit , das Seyn eines solchen Dings , das aber ohne Theilbar- 
keit, ohne Raum, existire. Viele blos aus Mifsverstand entsprin- 
genden Witze gegen Kants voovptva oder wirkliche Dinge an sich 
wurde schon Sakkas weggewiesen haben. 

Ebensowenig meinte er (wie doch sogar tief speculative Dog- 
matiker des igten Jahrhunderts darüber sich noeh nicht erhoben), 
dafs das Denkbare alsdann ein blos denkbares, nur ein Gedan- 
kending sey. Ihm fielmehr ist sein vojitov zwar ein nicht vor- . 
stellbares, gestaltetes, räumliches, aber es ist ihm doch, weil 
es wirkt, als ein wirkliches denkbar, das heifot, als eine an sich 
bestehende Kraft, die wir um ihrer gleichförmigen Wirksamkeit 
willen als seyend anerkennen müssen, aber, weil wir nichts ohne 
Örtlichkeit sinnlich uns vorstellen können, nur als ein wirk- 
liches Ding an sich durch Denken (voav) erfassen, dessen 
übrige unkörperliche Weise zu seyn aber wir nicht be- 
schreiben können, weil sein Wirklichseyn uns (oder eigentlich: 
sich selbst) nur durch Wissen und Wollen, als un- 
räumliche Kraftäusserungen , also als Wirkungen einer 
oichträumlichen , nichttheilbaren , nichtmateriellen, und doch ge- 
wifs wirksamen Wirklichkeit bekannt wird. 

Wie wichtig dieser Tief blick des arten Amin. Sakkas in das, 
was als wirklich nur denkbar (nicht vorstellbar) und dennoch, 
weil es anhaltend und gleichförmig wirkt, mit Gewifsbeit als 
wirklichseyend denkbar ist, ja sogar als reinseyend gedacht wer- 
den müsse, auch für die Lehre oder Überzeugung von. dem nicht- 
sinnlichen, nichträuralichen Wirklichseyn eines höchsten oder voll- 
kommen Geistes, also für die eigentliche Theologie sey, ist hier 



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552 Dt haut : Eisai aar U vic 

nicht auszuführen, nur anzudeuten. Auch bedauern wir, den grie- 
chischen Text hier nicht wortlich übersetzen und philosophisch 
commentiren zu können. 

Aber notb wendig ists, das vorixov oder das als wirklich denk* 
bare und doch nicht vorstellbare, nich traumliche Kraft wesen, wie 
Amin, es schon gefaxt hatte, richtig zu verstehen, weil ohne dies 
freilich auch nicht verständlich wird , wie er bei Nemesius so 
richtig sagen konnte : die (denkende und wollende) Seele sey für 
den Leib nicht ortlich da, sondern nur durch ihr Verhal- 
ten zu demselben (ev a^eaet) oder, was ebendasselbe sagt, 
durch das Einwirken, tvtoyua (Nur dieses Einwirken auf 
das Ortliche, den Leib, ist ihr Von ihr selbst, d. i. von ihrem 
nicht vorstellbaren , aber doch gewissen Wirklichseyn , bekannt. 
So ist sie sieb selbst als gewifs seyend , aber doch nur denkbar, 
nicht vorstellbar. 

Ebendeswegen sagte dann nach dem Fragment II. Ammonius: 
die Seele (das Denkendwollende) ist nicht an einem Ort, d. u 
nicht in einem sinnlichfublbaren Raum. Sie, als ein yor t xoy (als 
eine nur denkbare, aber doch wirkliche Wirklichkeit) ist auch an 
einem rono<; vorjxbq = an einem nicht sinnlich vorstellba- 
ren Ort. Um dies zu erklären sagt er: Wenn die Seele nicht 
in den Leib, wenn sie nur in sich selbst hineinwirkt, so ist sie 
— sich selbst der Ort. Sie ist in sich entweder als Verstand, 
im Xoyt£<odat, oder in sich als Vernunft, als rov; f indem sie 
voei. [Das votiv des Griechen nämlich ist ihm nicht ein blofses 
Denken (ein Verstehen und Vergleichen der Begriffe). Nus ist 
(auch schon bei Anaxagoras) ein Denkvermögen mit innerer Thä- 
tigkeit oder Kraftbewegung, ein Denken mit Wollen oder mit 
Selbstbestimmungshraft, und vornehmlich ein Denken dessen, was 
seyn oder werden soll, also ein wollendes Denken der Ideen.) 

Inu>m nun Amm. sagt: die Seele, sey alsdann kv tö vä 9 wenn 
sie votl, so ist sein Sinn: Sie ist oder wirkt in sich selbst, als. 
wollende Vernunft. Keineswegs aber ist sein Sinn: die Seele sey 
alsdann in jenem (ausser ihr zu denkenden) Novq, welcher nach 
Plotin aus dem, sogar über das Seyn erhabenen, höchsten Guten 
ausgegangen und aus welchem die Weltseele als das Dritte jener 
Trias emanirt sey. Dem Ammonius ist die Seele, wenn sie von, 
nur in sich selbst, in sieb als einem vovq, welchen er von dem 
Xoyt^aöai unterscheidet, wie auch wir das verständige Urthei- 
len, welches gleichsam ein Rechnen ist, von der Vernunft, als 
dem Seelen vermögen, Vollkommenes, Notwendiges, Wahres, 



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et la doctrinc d'Aminonius-Saccas. 



Gates , Schönes , als Ideen zu denken , wohl zu unterscheiden ha- 
ben. Dieser vovg der Seele selbst , in den sie als yoovoa sich wie 
an einen to*o{ vo*i%o<; zurückzieht, ist dem Ammonius nach dem 
glücklicher Weise aulbewahrten zweiten Fragment nicht etwas 
ausser der Seelenkraft, wie bei Plotin, der aus dem höchsten 
AyaSov emanirte Not>$ (des Schaffens). 

Achten wir streng auf die subtile Denkbarkeit , wie sie Am- 
monius erfafst hatte , so ist vielmehr klar , dafs er als Vereiniger 
von Plato und Aristoteles an eine Emanation der Seele gar nicht 
dachte. In Wahrheit konnte er auch daran nicht denken, weil 
er die Seele nach ihrem im Wissen und Wollen sich zeigenden 
Wirken durchaus als nicht aus Tbeilen bestehend erkannte , ein 
jedes Emaniren aber ein Ausgehen eines Theils aus einem Theil- 
baren seyn mufste. Ihm aber ist die Seele durchaus nur untheil- 
bar, in sich selbst hinein oder ausser sich in den Leib nur als 
das einfachste Ganze wirkend; so, wie alles Wissen und Wollen 
immer sich als ein Zusammenfassen des vielen Denkbaren in Eine 
und ebendieselbe, in Eine alles vergleichende, beurtheilende, ent- 
scheidende Kraft manifestirt. Alles Sinnliche, ja überhaupt alles 
Objective (Gegenständliche), ist Vielheit, alles Bewufstwerden 
aber ein Concentriren des Vielen in Eine dasselbe betrachtende 
Kraft, die sich eben dadurch als ein Durchaus -einfaches zeigt, 
da, wenn sie aus Theilen bestünde, das Viele in den verschiede- 
nen Theilen zerstreut wäre und nicht mit einem Mal betrachtet 
und gewufst seyn würde. Er beschliefst die ganze subtile Erör- 
terung kurz und gut mit dem Wink: Die Seele ist (für den Leib) 
das heifst, sie ist einwirkend •). [Sie selbst ist als ein nicht- 
räumliches denkbar, das in den Baum einwirke.] 

Dem Ammonius Sakkas ein Ableiten der Seele aus Emanation 
zuzuschreiben , gibt uns demnach das II. Nemesiusische Fragment 
keinen Grund; vielmehr beweist es, dafs, wenn er in der so streng 
ausgesprochenen Einfachheit des eben deswegen nur denkbaren , 
nicht örtlich vorstellbaren Seelenwesens (wie wir nicht zu zwei- 
feln haben) folgerichtig fortdachte, er nicht einmal die Emana- 
tionshypothese in sein System aufgenommen haben honnte, wenn 



•) Auch dieses zweite Fragment klingt, ganz gleich dem ersten, wio 
Scholien. Auch dieses also scheint ein Überrest zu seyn aus den 
vielen Aufzeichnungen, welche sich der überfleifsigo Amelius aus 
den Akroascn von Nunicnius und Flottnus (und mittelbar durch die- 
sen von Ammonius) zusaminengedrägt zu machen pflegte. 



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554 



Dchaut : Essai sur la vic 



gleich ihm als Alexandriner die Neigung der Phantasie der Orien- 
talen, sich das Seyn der Geister nicht als ewig, sondern als ein 
Werden durch Ausflüsse oder Ausscheidungen aus einem ewigen 
Allvater oder Allwesen zu erklären, da schon Philo sich die Xo- 
yoi nebst ihrem ngaroronoq Xo^ot so zu erklären gesucht hatte, 
nicht unbekannt sejn konnte« 

Unser Resultat mufs demnach von dem der Preisschrift sehr 
abweichend sich aussprechen. Laut des II. Fragments bei Nemo 
sius, und laut der bestimmten zweifachen Erklärung des Hiera- 
kies bei PhotiuS ( s. die Preisschrift selbst 8. 118. 119) war des 
mit Begeisterung lehrenden Ammonius Sakkas Geschäft f noch 
bestimmter, als wir es oben bei Potamon bemerkten, auf die 
Vereinigung im Wesentlichen zwischen Plato und Aristoteles ge- 
richtet = ovp<f><apov sv T045 smxatfi*H( ts xat «yayxuio-raTOK 
tov doyfxa-zav UXar&yot; tc xa» AfioxottXovq *nv yvvpriv 
ava^vai und dadurch mit Vernunft-Enthusiasmus und wie ein 
$io8i&a*Toq die Schmach der innern axaaK (331 Zwietracht und 
Selbst Zerstörung) von der Philosophie abzuwenden. [Fällt es un- 
sern Lesern nicht auf, dafs unsre Zeit in Philosophie und Theo« 
logie auch eines Sakkas bedurfte?] 

Dafs Hierokles bei dem Prädikat: Gottlichbelehrt, an 
etwas von orientalischer Mystik gedacht habe, liegt in beiden 
Stellen nicht Amnion. Sakkas bleibt uns also*, » wenn wir 
für ihn inconsequentes in ihn hineintragen , ein die griechischen 
Philosophien reinigender Eklektiker, toc« tov na\cu&p avfy&9 
, sagt Hierokles, dtaxa&a^Äp xat toi( txuTfpadfy (utrin- 
que sc. apud Platonicos et Aristotelicos ) avcKpatrouevo^ fo^otc, 
anooxtvaoaptvof, 

Dafs Plotin, nachdem er von a. 23a — 24a in seinem philo- 
sophischen Umgang gewesen war, auch Parsiscbe, Zoroastrische 
Philosophie während Gordians Feldzug gegen die Perser a. a4a 
— 244 kennen lernen wollte, war seine Sache. Niemand weift 
davon etwas, dafs Ammonius, wenn er gleich als Alexandriner 
gewifs auch darüber meditirte und discutirte, etwas wesentliches, 
vornehmlich die Emanations-Hypothese daher angenommen habe« 
Vielmehr starb dieser Lehrer Plotins wahrscheinlich vor dessen 
Zuruckhunft , und Porphyr im 3. Kap. des Plotiniscben Lebens 
sagt nur: der bei Ammonius anhaltend (10 Jahre lang in einem 
Alter vom 28sten bis zum 38sten Lebensjahre) verbliebene Plotin 
habe eine solche Fertigkeit in der Philosophie sich erworben, 
dafs er geeilt habe , auch von der bei den Persern gelehrten und 



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et la doctrinc d'Amraonius-SaccQs. 555 

der bei deo Indern zurechtgebrachten eine Erfahrung zu erhal- 
ten. Ttei^av Xaßousrof. 

Ob er, erst 10 Jahre alt später an den Enneaden schreibend, 
dorther die Trias des an sich Guten , des Nus und der allgemeinen 
Weltseele in einem eigentlichen Eroanationsverhältnifs (wie Quelle . 
und Ausflusse) sich denkbar gemacht habe, oder ob das, was er 
davon sagt (vornehmlich adr. Gnosticos p. 199 T. I.) mehr nur bild- 
lich zu verstehen sey , ist hier nicht weiter zu untersuchen. Auf 
jeden Fall war eine solche Trias dem Zoroastrischen Dualismus, 
welcher aus dem Abgrund anfangsloser Zeit oder Dauer (Zeruane 
AUerene) Böses und Gutes nebeneinanderseyn liefs, gar "nicht 
ähnlich, auch ist gerade jener Aufsatz npoq tovc TrvaTixovq 
gegen solche, die (etwa wie Marcion?) die Hervorbringung der 
Welt einer nichtguten Potenz zuschrieben. 

Plotin macht, soviel wir sehen (ganz oder durch Bildlichkeit?) 
den Übergang zu der Vermischung von orientalischen Emanation*« 
meinungen mit griechischen, besonders Platonischen , Ideen. Da« 
von aber etwas auf seinen Lehrer, Ammonius Sskkas, zurückzu- 
tragen, haben wir aus der Preisschrift, wiesonsther, nichts uber- 
zeugendes gefunden. Wir finden uns daher nur berechtigt, die- 
sen als einen das Platonische mit dem Aristotelischen im Wesent- 
lichen vereinigenden Eklektiker von den Neoplatonikern abzuson- 
dern , deren Eigentümliches schon bei dem platonisirenden Philo 
darin besteht, dafs ihre Phantasie das, was Plato blos als Ideen in 
dem Urwesen dachte, in substanzielle Urbilder aller Dinge ver- 
wandelte, die sogar in besonder bestehende Intelligenzen (Logoi) 
hervortretend, entweder wie Zeugungen oder wie Ausflusse, 
Persönlichkeit haben könnten. 

Übrigens ist auf jeden Fall die urchristliche Trias der 
Taufformel weit genügender, als die Plotinische, welche vie- 
len andern speculativen Versuchen , die Gottheit in blos theore- 
tischen Beziehungen als eine Trias zu denken, ähnlich ist, indem 
sie nur auf Intelligenz , nur auf das Theoretische allein gerichtet, 
auch nur das wirksame und Leben gebende Intelligente erklären 
würde. In dem ür christlichen dagegen ist obenan Gott der Va- 
ter von allem. Der in dem Fleisch Jesu Menschgewordene Geist 
ist das als Intelligenz wirksame Göttliche; als Lehrer und Regie- 
rer des Reiches Gottes unter den Menschen ist er deswegen der 
vorzüglichste von Gott gezeugte, der Mcssianische Sohn des Ei- 
neu Gottes , welchen man bald , aber doch erst ausser Palästina , 
als den Ao*o$ xpetfopixos, die durch schaffendes Wort und durch 



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t 



I 

S56 Dchaut : Essai snr la vi« 

Lehre wirkende Intelligenz zu denken versuchte. Was aber die 
thcoretisirenden und dogniatisirenden Philosophen allzu gewöhn- 
lich vergessen, das M or alischnöthige, das h eiligthätig o 
Wollen, das wird im Urchristlichen als Pneuma Hagion, als 
heilige auf Heiligung wirkende Gotteskraft, dem Gott- 
andächtigen t Glauben besonder und nachdrucklich vorgehalten. 
Und dies ist für die Menschheit das Wichtigste. Die ewige Voll- 
koramenheit = Gott, manifestirt sich nicht blos zum 1 ehrend- 
regierenden Wissen, sondern hauptsächlich zum heilig- 
wollenden Wirken. Welch ein Unglück, dafs, in geradem 
Gegensatz gegen dieses praktische Urchristliche das Theoretische, 
und sogar nur als eine das Unentbehrlichwesentliche mit so vie- 
len Meinungs versuchen (Dogmen) vermischende Dogmatik, zur 
Hauptsache gemacht wird, die christliche Moral oder Willensvetv 
pflichtung aber all jenes endlose Theoretisiren erst zur Grundlage 
haben soll. Ebendeswegen lehrt und lebt man meistenteils nur 
in einer Umkehrung der wahren Sachordnung. Weil die Beschäf- 
tigung mit dem Meinen unendlich ist , hinkt das Überzeugen von 
vernunftiger und religiöser Moral kaum wie ein Appendix hinten- 
nach, die Durchfuhrung auf alle Lebensverhältnisse aber wird als 
etwas , das sich von selbst verstünde, aber als Gewissenserregung 
allzu unbequem wäre, im Lehren und Erziehen fast ganz ver- 
mieden und vernachlässigt; ungeachtet jenes vermeintliche dog- 
matische Wissen fast mit jedem Tage ungewisser, wenigstens auf 
einen weit engeren Umfang und Gehalt beschränkt wird, während 
zum Wohl der Menschheit, besonders der cultivirteren, doch, 
im Gegensatz gegen den mit der Verständigkeit unvermeidlich 
steigenden Egoismus, nichts unentbehrlicher wäre, als eine von 
allem unstäten Dogmatismen völlig unabhängige Erziehung zu 
selbstständigen , lebensthätigen Überzeugungen für Pflicht und 

Gottandächtigkeit. ____ 

Gcwifs sehr erfreulich ist es, dafs in neuerer Zeit mehrere 
französisch schreibende Gelehrte im Darstellen der alterthuinlichen 
Wissensbestrebungen (Philosophien) Gründlichkeit mit Anmuth 
und Klarheit zu verbinden sich bemühen und dadurch National- 

■ 

beifall erworben haben. Auch der Vf. rechtfertigt sich darüber, 
und es verräth bei uns gewifs theils eine Beschränktheit im 
Philosophiren selbst, theils eine Mangelhaftigkeit in Ausbildung 
der Landessprache , wenn man das Pbilophischwahre anders nicht 
als in scholastischen Kunstwörtern und Barbarismen » objectiv und 
. subjectiv machen zu können « sich beredet. Allerdings aber niufa 



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et la doch ine d 



551 



alsdann die grundliche Erforschung des Inhalts zuvor streng ge- 
nommen und beendigt seyn, ehe an die gefalligere Darstellungs- 
weise gedacht wird, damit nicht etwa manches für das Denken 
schwierigere deswegen wegbleibe oder umgestaltet werde, weil 
es sich nicht leicht genug in die allgcmeinfafsliche Darstellungs- 
weise fugen mochte. 

Der gelehrte und selbstforschende Verf. hat nach S. HI der 
Vorrede im Sinn, bald noch zwei Memoiren, nämlich Über die 
Philosophie des Numenius, nach deren Einflufs auf die 
Ecole Ammonio-Plotinienne , und Ober Plotins Lehre nach 
deren Beziehungen auf den Lehrer, A mmonius Sakkas, 
zu veröffentlichen. Um so mehr fühlte Ree. sich aufgemuntert, 
in das Wesentliche dieser sehr ehrenwerthen Preisschrift einzu- 
gehen. Was der Vf. sich S. i3i wünschte: que le savant Creu- 
ur fera bientöt paroitre sa belle edition des Enneodes , a laquelle 
il travaille depuis plus de vingt ans et qui est attendue avec la 
plus vi ve impatience par tous ceux, qui s'oecupent de l'Histoire 
de Philosophie, ist indefs auf eine auch dem Ree. sehr willkom- 
mene Weise zur Erfüllung gekommen , so dafs der für das Den- 
ken schwierige Inhalt, von vielen andern ihn umgebenden Schwie- 
rigkeiten philologisch und literarhistorisch befreit, vermittelst 
dieses reichen Apparats nun um so eher unmittelbar erreicht wer« 
den kann. 

Wir machen nur noch eine Bemerkung. Der Verf. zieht S. 
187 daraus, dafs Ammonius ein Sackträger (etwa wie Jakob 
Böhme ein Schuster?) gewesen sey and also nur den verdoibenen 
alexandrinischgriechischen Dialekt verstanden habe, die Folgerung : 
er habe Plato und Aristoteles nicht aus ihren Quellschriften, son- 
dern nur etwa aus Philo und Numenius kennen lernen koonen! 
Diese Voraussetzung konnte auf ein künftiges Memoire über des 
Ammonius Lehre bedeutenden Einflufs haben. Wahr ist es nun 
zwar, dafs ihn Theodoret in der oben angeführten Stelle für ei- 
\ien solchen saccarius hält, wie sie im Cod. Theodos. L. XIV. tit. n. 
de saccariis portus (nicht Urbis) Romae als legitimirte portefaix 
vorkommen und von Godofredus T. V. p. 291 gelehrt beleuchtet 
werden. Dennoch ist dieses auf Amm. überzutragen nicht so si- 
cher, dafs darauf Schlüsse über seine Kenntnisse von Plato und 
Aristoteles gebaut werden dürften. 2axxo<popoi hiefsen auch 
solche, die sich (als Enkratiten, als Mönche, oder als sonst um 
Kleidung unbekümmerte) in Kleider , die man aauxovq (cilicia) 
nannte, hüllten, s. Godofredi Note zu Cod. Theod. XVI. tit 5. 



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» 

» 

Hl o reo b r ©c h c r • (ininclÄotic rit ä deutschen Staatsrechts* 

(T. V. p. i35.) Vcnnuthlich trug Am. statt des paltiom philo- 
sophicum einen solchen oaxxoq, wie nach Epiphan. haer. 80. nr. 
5. manche Massilianer ( ^-^^io Betbruder) und andre um das 
Wcltfurmige unbekümmerte Enkratiten. 

1. Mai 1837. Dr. Paulus. 



Grundsätze det heutigen deuttchtn Staatsrechts. Systematisch entwickelt 
von Dr. Romeo Maurenbrecher, Prof. der Rechtem* der Rhein. 
Friedrieh- Wilhelm*- Univermtdt au Bonn. Frankfurt a. »f., Verlag von 
Franz Varrentrapp. 1821. 589 S. gr. 8. 

Der Verf. erklärt sich über den Plan seines Werkes ifr der 
Vorrede so: » Der .Verfasser hat in dem vorliegenden Werke das 
deutsche Staatsrecht in seinem wissenschaftlichen Zusammenhang 
darstellen, in seinen Grundlagen prüfen, von manchen Irrlehren 
reinigen, wenn man es so ausdrücken wiH, neu begründen 
wollen. Er durfte aus diesem Grunde nicht Stehn bleiben bei 
der prac tischen Auslegung der gegenwärtig in Deutschland gel« 
t enden Hechtsmiel J en : er mufste vielmehr sowohl einest h eil s auf 
das geschichtliche öffentliche Recht Deutschlands zurück« 
gebn, an welches das beut ige zunächst, wenn auch nicht immer 
dem Geiste nach, sich anschließt, als er anderntheils das phi- 
losophische Staatsrecht d. h. diejenigen Ansichten nicht 
ausser Betracbt lassen durfte, welche über die Öffentliehn Ange- 
legenheiten im Staate a priori seither entwickelt worden sind. 
Man mufs nemlieh diese Ansichten (»die allgemeinen Lehren des 
Staatsrechts«) kennen, wie der Verfasser sieb überzeugt hat, um 
die Beziehungen unserer neuesten Gesetzgebung verstebn zu kön- 
nen , die davon bald mehr bald weniger sich zu eigen gemacht 
hat, und man mufs sie nicht blos kennen, wie sie vereinzelt und 
oft zerstückelt in Deutschland geschichtlich geworden sind: 
sondern sie sind aufzufassen in ihren ganzen , eigenen , inner n 
Zusammenhang, wenn man nicht Gefahr Taufen will, sie gar nicht 
Oder sie falsch zu verstehn. In diesem Sinn mufs jeder deutsche 
Pubücist Philosoph seyn: er mufs es seyn, weil seine Legis- 
latoren Philosophen geworden sind: aber er darf es auch nur 
seyn, soweit diese es geworden sind oder künftig es noch wer. 
den dürften: denn selbst ph i losophiren wollen innerhalb des 
Htm gegebenen Staats d. h. das Positive ergänzen wollen ans 
den Eingebungen seines philosophischen Talentes oder seiner phi- 



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I 



Manrcnbrcchcr : 'Grundsätze des deutschen Staatsrechts. 559 

losophischen Schale, hiefse an die Stelle des Gesetzgebers sich 
setzen und Gesetze geben wollen, statt die gegebenen aus- 
zulegen. « 

In Gemäfsheit dieses Planes hat der Vf. sein Werk in sechs 
Bucher eingetheilt, von deren Inhalte hier die Anzeige folgt: 
(Vorausgeschickt ist in i3 Paragraphen eine Einleitung, welche 
sich über die Gegenstände verbreitet, die auch in ähnlichen Wer- 
ken in den Prolegomenen Torgetragen werden.) Erstes Buch. 
Allgemeine Lehren des Staatsrechts. (Allgemeines oder 
philosophisches Staatsrecht.) §. 14 — 61. — Zweites Buch» 
Staatsrecht des deutschen Reichs. §. 63 — 87. Unterab- 
theilung: Verfassungs - Begierungsrecht des deutschen Reichs. 
Dieselbe Unterabtheilung wiederholt sich auch in den folgenden 
drei Buchern. (Das ehemalige deutsche Territorialstaatsrecht 
hat der Vf. ubergangen; vielleicht in der Erwägung, dafs es von 
dem beatigen weniger abweicht oder für dieses von geringerem 
Interesse ist. Aach hat der Verf. Einiges, was dem ehemaligen 
deutschen Landesstaatsrechte angehörte, im 5ten und 6ten Buche 
nachgeholt.) — Drittes Buch. Staatsrecht des Rhein- 
bandes. §• 88 — 98. — Viertes Buch. Staatsrecht des 
deutschen Bundes. §. 99 — ia3. — Fünftes Buch. All- 
gemeines deutsches Territorialstaatsrecht. §. 124^. 
226. — Sechstes Buch. Heutiges deutsches Privat- 
furstenrecht. §.227 — 249. (Unterabtheilung : Von dem Erb- 
rechte nach Privatfürstenrecht. Von den übrigen Familienrechten 
nach PFR.) — Ein Anhang S. 487 ff. enthält: Die Zusammen- 
Setzung des deutschen Reichstages im Jahre 1792; die deutsche 
Bundesakte; die Wiener Schlafsakte; das Bundesgesetz vom 3o. 
Okt. 1834. die Errichtung des Bundesschiedsgerichts betreffend; 
ein Verzeichnis der heutigen Mediaiisirten. 

Es ergiebt sich aus dieser Inhaltsanzeige , dafs das Werk 
mehrere Wissenschaften umfafst, in dem Sinne, dafs es Leh- 
ren, welche man gewöhnlich in Schriften und in akademischen 
Vorträgen als verschiedenen Wissenschaften angehurend behan- 
delt t zu einem Ganzen vereiniget. Ref., weit entfernt, diesen 
Plan fehlerhaft zu finden, mufs vieiraehr demselben sowie der 
Ausfuhrung seinen vollen Beifall ertheilen. Wenn es auch not- 
wendig seyn mochte, das in dem Weeke Vereinigte in akademi- 
schen Vorträgen wieder zu trennen , so wird es doch sowohl dem 
Zuhörer als dem Geschäftsmanne mehrfach nützen, aus diesem 
Werke eine lebendige Erkenntnifs von dem inneren Zusammen- 



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560 'Marcard : Ober den Nationnlwohtttand im K. Hannover. 

hange unter allen jenen Lehren nnd Wissenschaften zu schöpfen. 
Übrigens zeichnet sich das Werk auch durch die Klarheit der 
Darstellung und durch den Reich th um der darin gegebenen Ci- 
tate vorteilhaft aus. 

Zachar iä d. ä. 



Zur BeurtheUung des National- Wohlstände», de$ Handels uad der Gewerbe 
im Königreich Hannover. Von G. W. Marcard. Mit Tabellen und 
zwei lithograpkirten Abbildungen. (Die eine giebt die vordere Anrieht 
des Gebäudes der höheren Gewerbeschule zu Hannover, die andere den 
Grundriß von diesem Gebäude.) Hannover , im Verlage der Hahn'schen 
Hofbuchhandlung , 1836. 130 & (ohne die Tabellen ) 8. 

Eine trefllicbc , eine musterhafte Schrift ! Der Vf. hätte ihr 
ebensowohl den Titel : Nationalwirthschaftliche Statistik des K. 
Hannover, geben können. — Der ausgezeichnete Werth der 
Schrift besteht zuvorderst darin , dafs der Verf. den dermaligen 
Stand der Bevölkerung etc. im H. Hannover und in dessen ein- 
zelnen Theilen durchgangig nach amtlichen Nachrichten 
und in bestimmten Zahlen mit möglichster Genauigkeit an- 
giebt. (In mehreren Stellen kommen zugleich statistische Nach- 
richten von der Ein- und Ausfuhr der Nachbarstaaten, insbeson- 
dere von der der freien Städte Hamburg und Bremen, vor.) 
Mit Recht nimmt der Verf. an , dafs eine jede specielle Statistik 
ihrem Grundcharakter nach eine Zahlenstatistik seyn müsse. Die 
Folgerungen, die sich aus den statistischen Zahlen ziehen lassen^ 
gehören in eine andere Wissenschaft. (Doch bat der Verf. diese 
Folgerungen, was die Statistik des K. Hannover betrifft, keines- 
wegs unberücksichtigt gelassen.) Eine specielle Statistik , deren 
Grundlage in Zahlen ausgedrückte Thatsachen sind , hat zugleich 
den unschätzbaren Werth, die Klagen über schlechte Zeiten etc. 
auf das richtige Mofs zurückzuführen. An Klagen dieser Art fehlt 
es nirgends, hat es niemals gefehlt, (mau lese nur die Landtags- 
akten der Vorzeit,) und wird es niemals fehlen. Aber man schliefse 
nicht von den Klagen Einzelner sofort auf den kläglichen Zustand 
der gesamten Bevölkerung eines Landes. Oft klagen diejenigen 
die Zeiten an , die sich selbst anklagen sollten. Wer in seinen 
Geschäften vorwärts kommt, schweigt, anstatt die Zeiten zu loben. 
Eine Zahlenstalistik kann allein über das Steigen oder Fallen des 
Wohlstandes eines Volkes im Ganzen genügenden Aufschlufs geben. 

(Der Bcschlufs folgt.) 



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N°. 36. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR 



*• 

Marcard: Uber dm Nationalwohl stand hn K. Hannover. 

(Beichlufs.) 

Sodann aber zeichnet sich die Schrift auch dadurch vorteil- 
haft aas, dafs in derselben überall die Grundsätze der neueren 
Volkswirtschaftslehre, die Grundsäte, welche der Freiheit des 
Grundeigenthums, der Gewerbe und des Handelsverkehrs das 
"Wort sprechen, zur Beurtheilung der dargestellten Thatsachen 
angewendet , mit Umsicht und MäTsigung angewendet werden. 
Zwar werden nicht alle mit den nationalwirthschaftlichen Grund- 
sätzen, von welchen der Vf. aasgeht, einverstanden seyn. Aber 
auch diejenigen, welche in diesen Grundsätzen von dem Vf. ab- 
weichen, durften in dieser Schrift, wenn sie anders der Gegen- 
partei nicht das Gehör versagen wollen, Veranlassung zur noch- 
maligen Prüfung ihrer Ansichten finden, z. B. der Ansiebt, als 
ob ein Land verarmen könne, weil es viel einführe. (Womit 
kann es denn sonst die Waarcn, die es einfuhrt, bezahlen, als 
mit der Ausfahr?) Einige Stellen der Schrift, jedoch nur we- 
nige, enthalten sogar eine besondere Veranlassung oder Auffor- 
derung zu einer werteren Erörterung nationalwirthschaf'tlicher 
Fragen. So z. B. die Stelle S. 85: »Es ist schwer zu begreifen, 
wie bei einigen neuem Schriftstellern, welche sich in das Gebiet 
der Handels Verhältnisse Hannovers verirrt haben, die Meinung 
hat Eingang finden können, als werde das Land nur durch den 
Credit des englischen Handelsstandes und das Zehren an den 
Überbleibseln englischer Subsidien erhalten. Kaum ist jemals eine 
auffallendere und unbegründetere Ansicht geäussert worden. Es 
möchte wohl nicht nachzuweisen seyn, dafs englische Subsidien 
seit dem siebenjährigen Kriege im Inlande in beträchtlicher Mafse 
in Umlauf gekommen sind, jedenfalls können solche vorüber- 
gehende Geldzuflüsse nicht erheblich den Nationalwohlstand ver- 
mehren, der auf ganz andern Grundlagen beruht. Was aber das 
angebliche Creditgeben des englischen Handelsstandes anlangt, 
so kann dasselbe schon aus dem Grunde nicht Statt finden, weil 
wenige directe Beziehungen mit dem ersteren in Ansehung der 
Einfuhr von Waaren in das hiesige Land obwalten.« 
XXX. Jahrg. 6. Heft. 36 



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/ I 

562 Mareen): Ober den Nrt total woHUtaftd im K Hannover. 

Die Schrift erhält noch überdies ein besonderet Zeitinteresse 

dadurch , dafs man aus ihr die Grunde ohngefahr abnehmen kann , 

dem preufsischen Mauthvcreine beizutreten. Bedeutsam ist in die- 
ser Beziehung das auf dem Titel stehende Motto: Feiices sua si 
bona norint. Der Vf. hat zwar das Wort: Agricolae, nicht hin- 
zugesetzt. Doch mochten sich Viele seiner Leser durch die 
Schrift veranlagt finden, die abgebrochene Stelle zu ergänzen. 

Um den Inhalt der Schrift noch genauer zu bezeichnen, fu- 
gen wir die Überschriften einzelner Abschnitte und Tabellen hinzu : 
i. Statistik der Bevölkerung nnd des Bodens; allgemeiner Über- 
blick. 2. Landwirtschaftliche Verhältnisse. 3. Verhältnisse des 
Handels. j. SchiiTiahrt. 5. Gewerbeim engeren Sinne. Tabel- 
len: I. Summarische Übersicht des Königreichs nach Flächen- 
inhalt , Einwohner- und Hnuserzahl. II. Summarische Iber sieht 
dos culhvii ten und des nichtcultivirten Flä'chengehalts des König- 
reichs. III. Summarische Übersicht des Garten., Acker- u. Wie- 
senlandes , nach dem ermittelten Ertrage. IV. Summarische Nach- 
weisung der Vortbeilung des Grundeigentums im Königreiche. 
V. Übersicht der seit 1800 bewerkstelligten Gemetnhettstheilimgen 
und Verkoppelungen. VI. Übersicht des Viehbestandes in den 
Landdrostei-Beairken Hannover und Ant ich. VII. Übersicht der 
Fruchtpreise von 17*77 — i835. VIU Nacbweisung der aus den 
Grenzzoll-Registern der Jahre i8 ,e /rr bis i8 at /sa sich ergebenden 
Ein- und Ausfuhr, in Beziehung auf Gegenstände, welche zugleich 
Hauptartikel der Exportation des Königreichs sind. IX. Übersicht 
der in fremde Seehafen eingelaufenen oder durch passirten hanno- 
verschen Schiffe, umfassend die Jahre 1822 bis i835 -einschliefst. 
X. Übersicht des Bestandes an Seeschiifen in den f ,anddrostei- 
bezirken Aurich und Stade, aus den Jahren 1826 — 1634. XI. 
Übersicht des Schifffahrtsverkehres in den Häfen und Landungs- 
plätzen des Königreichs, in den Jahren 1824 bis i835. XII. Sum- 
marisches Verzeicbnifa der Gewerbetreibenden, und Verwntenrft- 
zahlen derselben. 

Einen Auszug laTst die Schrift schwerlich, am wenigsten in 
diesen Blättern, zu. Doch folgen hier einige Stellen aus dem 
ersten Abschnitte, welche wrir t Lei ls wegen der Vielseitigkeit ih- 
res Interesses theils als Beispiele von dem Geiste und Charakter 
des Vortrages herausheben. 

Die Volkszählung vom Jahre i833 ergab für das Königreich 
Hannover 1,662,629 Einwohner mit Einscblofs des Militärs, bei 



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einem Fla^ewinhalte von 694^^000 geographischen Qaadrat- 
meilen, durchschnittlich, ohne letzteres, auf einer Quadratmeile 
sS65 Menscnen. Von diesem mittleren Durchschnitte wich aber 
die Bevölkerung in den ein/einen Provinzen und Verwaltungs- 
bezirken sehr bedeutend ab. Nur et#a */ s jener Zahl ernährte, 
nach den Ermittelungen vom Jahre i833, der meistens unergie- 
bige Boden hn Lünebui gschen Landdrostei - Bezirke, welchem 
gleichwohl einige erheblich bevölkerte Districte angeboren, und 
nicht viel mehr als 4 /s der Durchschnittszahl betrug die sehr un- 
gleich vertheilt e Bevölkerung im La nddrbst eibezinke Stade, Heide 
Verwaltungsbezirke aber bilden die bedeutendste zusammenhan- 
gende Flache und mit dem auf 36*/s öuadiatmeilen nur 49,816 
Civilein wohner enthaltenden Ilerzogthume Aremberg-Meppen, die 
grölsere Hälfte des Honigreichs, welche demnach zu den schwach 
bevölkerten Gegenden Deutschlands gezählt werden mufs. Von 
der Gesararatbevölkerung lebten in den Städten: im Bezirke der 
Berghauptmannschaft "/100 , so dafs mithin nur I7 / 10 o f«fr das 
Land verblieben; in den Landdrosteibesirken : Hildesheim «Vioö, 
Anrieh 'Vibo* Hannover 1 */i 00 > Lüneburg ls A 0 o , Osnabrück ^/no» 
Stade Vioo* Die Gesammtbevülkerung in den Städten betrug 
o6o,oo5 Menschen, mehr als sechsmal so viel lebten mithin anf 
dem Lande, und werden die vielen Ackerstädtchen, wo Rivalität 
und Privilegien nahe belegener gröfserer Städte oder andere Ver- 
hältnisse das Gedeihen eines städtischen Lebens nur in sehr be* 
schrihkter Mafsn gestatten , nicht mit zur Berechnung gezogen , 
so stellt sich die als eigentlich städtisch zu betrachtende Bev&l- 
kei-nng als nodi vtei geringer heraus. — Von 14,589,813 Galen, 
berger Morgen , wiche unter Zugrundelegung der oben angege- 
benen Zahl geographischer Quadratmeilen die gesammte Ober- 
fläche des Honigreichs ungefähr halten wird, bestehen 8,076,182 
Morgen oder **/i 0 ö in Ackerland, Gärten, Wiesen, privativen 
Weiden, Forsten and cuKurfähigem Forstgraude; mithin sind auf 
Gemeinheiten , cwlturunfthige BlöTsen, Torfmoore, Seen,, Flusse, 
Sandschellen, Weg« und andere regelmäßiger Cultur entzogene 
Platze, 6,5i4,63t Morgen oder 45 /ioo des ganzen Flächengebalts 
zu rechnen. Von dem gesammten culti?irten Areale mit Ein* 
schlufs der Forsten gehören den freien öder meierpflichtigen 
Grundeigentümern in den Städten und auf dem Lande e3 e Ab 
Procent, den Lehn- und Allodial-Rittergntsbesitzern 6'Ao ProC.* 
den Kirchen, Pfarren und Schulen i*Ao AWki der normfnenfcam- 
mer 17^ ProC. , den Hamme reien und Gemeinden |*Ai lPr**-i 

• 



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und der KlosterUammer Vio Proc. Von der ganzen bestandenen 
und culturfäbigen Forstgruodflacbe (2,242,576 Cal. M.) kommen 
auf die Doraanialforsten 53Vio, auf die zu den adeligen Gütern 
gehörigen Forsten 7 7 / JO , auf die der Gemeinden 3a 4 /ioi auf die 
der Kirchen und Klöster 2 , und auf die der übrigen Grundbe- 
sitzer 4V10 Procent. 

Zacharia d. ä. 



Zur Genesis und Therapeut ik der epidemischen Cholera und über deren 
Verhältnis» zum Morbus müiaris. Nach eigenen in Eger und München 
gesammelten Erfahrungen von August Siebert» med. Dr. Damberg, 
bei J. C. Dresch. 1837. Vll und 164 4>. gr. 8. 

Ein nicht nur mit vielem Geist, sondern auch im Geiste der 
Hippokratischen und Sydenham'schen Schule geschriebenes Buch, 
voll neuer Ansichten und praktisch wichtiger Blicke in die bisher 
so räthselhafte Natur der » furchtbaren Unbekannten«, die um so 
mehr die ernsteste Berücksichtigung verdienen, als der kühnfeu- 
rige Verfasser es nicht scheute, »der in wissenschaftlicher Hin- 
sicht beifg. ersehnten Tochter des Ganges ins Auge zu blicken«, 
— % und auch wirklich in ihr tückisches Herz geschaut und darin 
gelesen zu haben scheint. 

Referent, dem das Geschick — er hält es bei seinem un- 
wissenschaftlichen Alters -Phlegma für ein gütiges Geschick — 
diese Autopsie der Asiatin versagt hat, der mithin aui die Kriti- k 
ltersrolle hier klüglich Verzicht leistet, beschränkt sich daher 
blos darauf, die originellsten Parthieen des interessanten Buches 
um so genauer hervorzuheben , je gröfsern Bespect er theils für 
den genialen Blick des ihm im Übrigen unbekannten Verfassers , 
theils für den noch nicht aus Europa vertriebenen , stets zu wie- 
derholten Einfällen — und wer weifs , ob nicht auch noch zu 
einem Besuche in unser Rheinland ? — geneigten ostindischen 
Feind hegt; — zwei Gründe, welche die folgende einfache Re- 
lation und die dadurch beabsichtigte Leitung der Aufmerksamkeit 
auf die neue literarische Erscheinung hinlänglich rechtfertigen 
dürften. 

Den Nutzen der bisher aufgestellten Theorieen über die Cho- 
lera lür den Praktiker verneinend, indem letzterer, diesen An- 
nahmen folgend, mit zwei Feinden — der Krankheit und der 
Hypothese — zu kämpfen habe , geht der Verf. von der Ansicht 
aus: da Ts es nicht die gestörte und alienirte Function irgend eines 



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Sieberl: Ueneiii unil Therapeut der Cholera. 565 

Organs von mittlerer Dignität sejn könne, welche als ver- 
antwortlich für die Krankheit zu erklären sey. Eine Leber, sagt 
er, kann Wochen lang in ihrer Function gehindert seyn , es wer- 
den sich vicarirende Thätigkeiten finden, und der Mensch wird 
nicht einige Stunden nach dem Beginne der Krankheit sterben. 
Der Gallenausflufs in den Darmkanar kann Wochenlang zurück- 
gehalten werden, die Digestion wird sehr leiden etc., aber der 
Kranke wird nicht nach einigen Stunden sterben. In die Gedärme 
ausgeschwitzten Membranen , exanthematische Productionen , selbst 
mit deletärer Ruckwirkung, können wohl den Tod — aber nicht 
binnen einigen Stunden bringen. Dies Alles ist zwar von grofser 
Bedeutung, aber immer nicht genügend, um sich den raschen 
Verfall aller organischen Functionen, den nach einigen Stunden, 
unter grofsen Leiden der Bewegungsnerven und Lähmung mit 
freiem Sensorium, erfolgenden Tod zu erklären. Nein! hier 
leidet ein Centraiorgan der Bewegungsnerven , welches mit den 
vegetativen Nerven in inniger Verbindung steht , und zwar — 
das Ruckenmark. 

Der Verf. sendet nun seinen Betrachtungen über die Cholera 
erst eine meisterhafte Abhandlung über das Schleimfieber mit 
Friesel-Tendenz voran , als derjenigen höchst entwickelten Krank- 
heitsform , welche als eine neue Krankheitsperiode mit dem Her- 
einbrechen der asiatischen Cholera zusammenfällt ; indem jetzt 
neue Krankheitscharaktere auftauchten, die sich den gelindesten 
wie den heftigsten Formen aufdruckten, und die Verwandtschaft 
unter sich wie die Abhängigkeit von einem gröTsern Krankheits- 
gubernium ahnen Iiefsen. Es ist das Rheuma, welches dem 
Schleimfieber wie dem Friesel zum Grunde lag, und es ist dia 
Cholera, welche die Akme dieser Krankheitsformen bildet. 

Das sind die. zwei Angel , auf denen des Verfs. Theorie von 
der Cholera sich stützt: das Rheuma in der höchsten Potenz, 
und das von demselben zuerst und vorzugsweise befallene Ru- 
cken mark. 

Ungern nur übergeht Ref., um nicht zu weitläufig zu wer- 
den , die praktisch wichtigen Blicke über das Schlcimfieber und 
den Friesel, welchem letztem der Vf. die Selbstständigkeit vin- 
dicirt , und eilt daher sogleich zum Hauptgegenstand. 

Die Krankheit&charahtere selbst, noch mehr aber die anato- 
misch pathologischen Untersuchungen verrathen dem Verf., dafs 
der Cholera wie den rheumatisch - pituitösen Fiebern ein und das- 
selbe Agens, nur in verschiedenem Stäikegrade und mit beson- 



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SicUert. ttenetM und J tu rapi utik <l«r CJiolera 



derer Liebhaberei für gewisse Organe, zum Grund« liege ^ ja dt* 
dem FweseJscbleimfieber und der Cholera ^rueuisam zukommen- . 
den Charakter* sind so deutlich und so aufeinander gedrängt, 
dafs die Ansieht nimm es in Zweifel gezogen werden kann : die 
Cholera tey die Ahme jener pituit&sen Krankheiten, 
denen das l r i e s e I r b e u in a zum Gründe liegt, und die* im 
Verlaufe häufig Frieseltendens und wirklichen Kriesel als kritisch« 
Entfaltung zeigen. Es ist das Rheuma, welches in der Fhj*. 
sic-gnomie der Cholera als achter Familienaug zu erkennen ist», 

Wenn ein von dient mächtigen Choleragifte Ergriffener, mit 
lividem Gesichte, mit breiten bräunlich- bleifarbenen Bangen um ' 
die. tiel liegen den nach oben gerichteten Augen , mit Trostlosigkeit 
in dem von» TodesscbrecUen verzerrte« Gesichte,, mit einer wel- 
ken , bläulichen, halten Zunge, mit: einem Atbem, der uns an» 
weht wie der eishalte Zugwind aus einer Gruft , mit tiefseufzen- 
der Respiralion und krächzender Grabesstimme, mit den halten, 
pulslosen, huallenförmig eingezogenen Extremitäten, mit vermehr 
tetera egoistischem Princip daliegt, nichts wünschend, nichts hof- 
fend} — dann sehen wir freilich keine dem pitukesen Fieber oder 
dem Friesel verwandte . Krankheitscharaktere, sondern — einen 
verlornen Menschen. Wenn wir aber die Krankheit in ihren Ab- 
iallen, in ihren Nachkrankbeiten an solchen Individuen, die mir 
gestrcilt sind, mit einem« Worte, von unten hinauf betrachten, 
so schweigen die vielen chimärischen, Erklärungen ihres Wesens, 
und sie wird fatslicher. 

Es ist die asiatische Cholera eine epidemisch - miasmatische 
Krankheit. Die zunächst vor unsern Auge» liegenden Vorgange 
Streiten gegeo die Annahme, dafs die Luit der Träger des Mias- 
xna's sey ^ es ist nämlich mit allen ihren Verbreitungsarten voli- 
, kommen vereinbar, dafs das Krankheitsmiasma, welches tellu- 
rischen Ursprungs ist, an die Erdrinde gebunden sey und 
auch auf diesem Wege sich weiter verbreite. 

Diese Krankheit ist als eine Kern- oder Mutterkrankheit zu 
betrachten , welche sich die Herrschaft über den stationären Krank- 
heitsgenius angeeignet hat; daher sie den übrigen untergeordne- 
ten Krankheiten ihre Charaktere aufprägt. 

Sobald die Cholera eine Gegend befallt, ist ihr Hereinbre- 
chen durchaus epid e misc h - mi asma ti sc h ; allein es wird das 
Miasma im Individuum nicht zerstört; und somit kann bei starker 
Receptivität anderer Individuen das Miasma durch das Erster« 



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Siebert: Genesis und Theranuutik der Cholera. 



au£ di* letzten» sich weiter verbreiten, was mit dem Begriffe 
von, C**t»&ttH»i zusammenfällt. 

Dies Coata^imn haftet nieb* an Gegenständen, sondern nur 
an einem erbrankten noch lebenden Individuum. Ein 
gesunder: Mensch , welcher sich bei, Cholerahranken aufhält, kann 
das Contagium nicht weiter, schleppen ; nur wenn er die Cholera 
im Leibe trägt, ist Verschleppung möglich. 

Durch Verschleppung nach einem fremden Orte können ein- 
zelne Ipcfriidiiei* mit besonderer Receptivität von der Cho- 
lera befallen werden; aber das Contagium erlischt dennoch als- 
bald,, wenn es nicht durch epidemisch -miasmatische Verhältnisse 
wieder erzeugt wird; und zur Ausbildung einer wirklichen Epide- 
mie gehört noth wendig der epidemisch -miasmatische Kankheitszug. 

Die Cholera , im Unterschiede von einer rein epidemisch- 
contagiüsen Krankheit, bricht plötzlich mit Macht und oft auf 
verschiedenen Punkten herein und erreicht in wenigen Tagen 
ihr* Wbe. 

Mit dem Tode wird auch das Contegium zerstört , und eine 
Leiche hat keine Ansteckungsfähigkeit, durch Section beigebrachte 
Wunden, sind gutartig ; auch ist keine Einimpfung der Cholera 
möglich. 

Physiologische Charaktere. 

Die Cholera ist farch einen KrankheitsstofT — das Rheuma 
in der höchsten Potenz — bedingt, der das Rückenmark be- 
fällt und dasselbe in einen Reizungszustand versetzt , welcher dem 
neuro - phlogistischen oder neuro -paralytischen Entzündungspro- 
cesse vergleichbar ist» 

Durch die;, innige Verbindung des Rückenmarks, mit den ve- 
getativen. Nerven wird es 1 der Darmkanal, welcher die Ausschei- 
dung der Krankheitsmaterie und des pathischen Producls über- 
nimmt. Es ist die Scbleimbautseeretion des Darms daher im All- 
gemeinen vermehrt und alienirt, und es entstehen überdies die 
den pituitosen Krankheiten eigenthümlichen Pseudoproductionen. 

Durch die primitive bedeutende Erkrankung der genannten 
Centralnervengebilde werden sämmtliche Secretionsorgane , mit 
vorläufiger Ausnahme des Darmkanals, in den Zustand der Halb- 
lähmung und wirklichen Lähmung versetzt. 

Da diesem Zustande vorzüglich jene Organe unterworfen 
sind, welchen die Oxydation des Blutes anheimfällt — die Leber 
und die Lungen—, so ist die nolhwendige Folge: Mangel des 



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568 Siebert i Genc.i. und Therapcutili der Cholera. 



Gallenabsatzes aus dem Blute in die Leber, und Mangel 
der Blutentkohlung in den Langen, mitbin Vorhandensein 
von überkohltem Blute, Stagnation in den Venen, leere Arterien, 
Respirationsnoth und Cyanose. i 

Zeigt sich der Darmkanal tbätig und gebt er nicht zu Grund 
in seinen Bemühungen, das Patbiscbe auszustoßen, so wird das 
Rückenmark und die vegetativen Nerven entlastet, 
und damit gewinnen die Sccretionsorgane ihre freie Thätigkett; 
lind diese wird nun meist überschwenglich geübt; daher icteri- 
sche Erscheinungen, vermehrte Urinsecretion, Brust- 
congesl ionen , K o pfcongestionen , und überhaupt sämmU 
liehe Erscheinungen der Hyperreaction. 

Das Sensorium bleibt so lange frei, bis es consensuell 
toii dem Rückenmarke her befallen wird; wo das Gehirn dann 
genau denselben pathologischen Veränderungen, wie jenes, nur in 
geringerm Grade unterworfen wird. 

Da die Bewegung*- und die vegetativen Nerven die befalle- 
nen Organe sind und deshalb Circulations- und Secretionsstockung 
— Zustand der Halblähmung — eintritt; so läfst sieb auch der 
Mangel der reactiven Tbätigkeit des Gesammtorganismus — des 
Fiebers erklären. 

Indem bei den malignen Ursachen der Darmkanal zerstörende 
Sloffe zu entfernen hat und diese häufig nicht vollkommen cot* 
leert werden; so entsteht, zumal wenn durch reizende oder nar- 
cotische Behnndlungsweise die Ausstofsung des Pathischen ver- 
bindert wurde, ein hinausgezogener Krankheilsprocefs, der ent- 
weder auf der Darmschleimhaut als eine sehr entwickelte Jebris 
pituilosa (Typhoid), oder durch Auswärtskehrung auf das antago- 
nistische Organ — die äussere Haut — als Friese 1 verläuft. 

Die veränderte Beschaffenheit des Blutes, des Urins, des 
Magen- und Da r m -See retes in den verschiedenen Perioden 
der Krankheit werden vom Verf. umständlich und auf die lehr- 
reichste Weise beschrieben, woduich seine Ansicht vom primi- 
tiven Leiden des Rückenmarkes in das hellste Licht gestellt wird. 
So z. B. wenn das Rückenmark entlastet wird und dann 
Leber und Lunge plötzlich wieder secerniren, die ausgeathmete 
Luft wärmer wird , der Puls sieb erbebt , wird man wahrhaft 
überrascht durch die fast natürliche Beschaffenheit des aus der 
Vene gelassenen Blutes , welches früher dick , klebrig , schwarz 
war. Im Typhoide oder Friesel , wo das Krankheitsgift ins Blut 
übergetreten, näheit sich das letztere der Dissolution. — Hin- 



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Sieben: Geneti« umi Thcrapeutik der Cholera. 54rt> 

sichtlich der Urinsecretion , so findet, wenn das Rückenmark im 
heftigsten Grade befallen, vollkommene Unterdrückung des üro- 
poetischcn Systemes statt. Wird das Ruckenmark et was freier, 
so wird glänzend strohgelber oder auch ganz wasserheller Urin 
in kleinen Mengen gelassen. Es ist dieses keineswegs spastischer, 
sondern jener stolllose Harn, der bei allen acuten lund chro- 
nischen Rückenmarkskrankheiten eine constante Erscheinung und 
für die Diagnostik sehr erleichternd ist. VVird die Urinsecretion 
vollkommen frei, so ereignet sich dieses nur entweder in der 
•Reconvalescenz, oder aber auch in Nachkrankbeiten , bei denen 
das Ruckenmark ausserm Spiele ist. 

Doch brechen wir hier ab , um einiges Wenige an/u fuhren 
von dem Vielen und Wichtigen , was der Verf. mittheilt über die 

Ana tomischen Charaktere. 

■ 

Das Ruckenmark befindet sich stets in einem leidenden 
Zustande, verschieden nach den Stadien und dem Wechsel der 
Krankheit. Rei den rasch und unter Krämpfen Verstorbenen ist 
die kranke Rückenmarksmasse körnig - sulzig ; es ist vollkommene 
Gewebsveränderung , welche sich von dem relativ gesunden Rü- 
ckenmarke abgränzt , wie ein weicher Eierdotter von dem gehär- 
teten Weifsen. Rei nicht so rasch Verstorbenen (in i bis 3mal 
24 Stunden) findet sich das Rückenmark meistens in seinem gan- 
zen Verlaufe hart wie Kautschuk; bei Leichen, welche nach 4 
bis 1 1 Tagen u. s. f. am Typhoid gestorben sind , justo weicher 
und ohne Veränderung des Gewebes; die Medulla ist aus der ge- 
fahrlichen Periode — dem Cholerastadium — als ziemlich integra 
hervorgegangen, sie wurde entlastet, und der Krankheitspro- 
cefs gehörte sodann dem Darmkanal, dem vegetativen Nerven- 
system und dem Blut an und wurde achtes Schleimlieber. 

Übergehen wir selbst das Wichtigste der Sectionserfunde in 
den übrigen verschiedenen Systemen des Organismus, und be- 
merken wir blos, hinsichtlich der mit den Ergebnissen der Sec- 
tion harmonirenden Rückenmarkserscheinungen bei lebenden Cbo- 
lerakranken, dals man zwar in Letztern Rückenmarksscbmerz nur 
äusserst selten beobachten könne; dafs aber an vom Rückenmark 
entfernten Theilen und vom Ruckenmarke herrührend, die Kran- 
ken fast immer ein spannendes, schmerzhaftes Gefühl klagen, 
welches vom Rücken her über beide Hypochondrien in die Herz- 
grube läuft, wo es am heftigsten wird. 

Wie ursprüngliche Rückenmarksleiden, auch ohne Cholera- 



* » 



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I 

570 Sichert : GenoaU und Theraneuiik der Cholera 

natur, ähnliche Symptomen mit der Cholera haben und des V/s. 
Meinung bekräftigen: dafs in der Cholera das Rückenmark der 
pWlii hwnhe Tbeil sey, bestetig* auf das auffallendste folgen- 
der von .hm erzählter merkwürdige Fall, Er hatte vor einigen 
Jahren eiae Kranke» welch« an, äusserst heftigen , täglich mehr mal 
wiederkehrenden epileptischen Zufallen litt. Die Finger waren 
auch ausser dem Anfall lw all unförmig gekrümmt und blaulich, 
ebenso die Hand einwärts gebogen, die untern Extremitäten ge* 
lähmt, die Zehen einwärts gebogen und blau; der rechte FuGs 
so nach Innen und Lünten gebeugt , dafs, er die Gestalt eines 
Klumpfufses bekam; Mastdarm, und UrinbJase gelähmt; — Alles 
genau wie bei CboTeral eichen. Die Krankheit rührte von 
Schlägen auf des ftuchgrad her;, es war chronische, Entzündung 
des Rückenmarks, uod nicht der geringste Schmerz desselben vor- 
handen ; dagegen aber die Spannung über den Bauch herüber und 
der Druck in der Herzgrube unerträglich. Zwei grofse Mosen 
auf beiden Seiten der cauda equina abgebrannt und vonn 0 au 8 
Tagen dreimal, wiederholt, stellten die Kranke wieder her. 

F.den wir, auf das. wichtige Buch, woraui wir nur audnerk- 
sam machen wollten , seifest verweisend , zu einigen Andeutungen 

tl t C 1 1c 1 1 09 £ t Ii O iS C \) L 1 1 C f Y C I) <i • 

Behandlung. 

Die Fingerzeige der Natur , d. h. die: Wege , welche sie ein- 
geschlagen, haben will» sind viel deutlicher l>ei ; der Cholera, elf 
bei vielen andern Krankheiten. 

Nachdem de* VL erst die Symptomatologie der drei Stadial 
Oder Gwde der Cholera (u\enn einerseits müssen sie nicht in 
einander übargehen, und es kann nach jedem Genesung erfolgen, 
andrerseits; kenn die Krankheit mit Lberspx iugung des er&leo Sta- 
diums gleich mit dem zweiten oder dritten beginnen, was man 
vorzüglich am Anfange einer Epidemie beobachtet) vorangeschickt ; 
so stellt er folgende Grundsätze auf. 

1) Man mufs das zur Ausscheidung von der Natur bestimmte 
Organ — den narmkanal in seinen Bemühungen unter- 
stützen, daher die Ausleerungen anfänglich nach Oben, alsdann 
nach Unten befördern; 

2) die Secvetioo der Leber und den Gaüenausflufs 
bet bätigen , wodurch einerseits die Digestion eine normale 
Bichtung bekömmt, andrerseits die Luagenblutoxvdation durch 
die vorbereitende in der Leber freier wird; 



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3) die durch dem fast ganz daroiederliegenden kleinen Krew, 
lauf entstandene Stagnation in deo Venea zu. Heben su- 
che a, worauf der kleine und. grofse Kreislauf beginnt und ein* 
Beaction möglich wird* 

4) das schwer befallene Gentral-Ner? engebüde, inaon- 
d.erbeit das Rückenmark entlasten durch einen auf dieses 
Organ zunächst intensiv wirkenden Hautreiz; 

5i) die kritischen Bestrebungen der Hafte*, die sich einerseile 
durch enanthematische, andererseits durch exanthematische 
Tendenz aussprechen , durch einen allgemein peripherischen 
Uautrciz unterstützen; 

6) die chemische Beschaffenheit den Blutes und 
den Säfte masse zu verbessern suchen, vorzüglich in dem 
den Cholerastadien folgenden Typhoid. / 

Die Krankheit ist im ersten Stadium häufig sehr leicht zu 
besiegen durch strenge Diät, gänzliches Vermeiden seihst des 
kleinsten Bissens consistenter Nahrung, die 13 ett wärme, leichten 
Tbee, Transpiration» Weine Gaben Bheum, Ipecacuanha, bei drin- 
genden Umständen bis zum Erbrechen, und zu starken Schweifscn 
gereicht. 

Zu deo vorzuglichsten Requisiten des Heilappara-tes in Be- 
handlung der eigentlichen Cholerastadien rechnet der Verf. das 
Emeticum, die Aderiasse, das Calomel mit oder ohne 
übe um , die Moxa und die Waschungen mit erwärmter 
Kalilauge. f 

l) Das Emeticum , doch vorzüglich nur die Ipecacuanha , 
seilte, wo nur eioigermafsen noch Zeit übrig ist, in seiner vol- 
len Kraft bei jeden» Cbolerakranken in Anwendung gebracht weis 
den. Es ist nicht selten , dafs nach dessen completer Wirkung 
(galligem Erbrechen, freier Respiration und Schweifs) selbst ein 
heftiger Cholereaoiall rasch zum glücklichen Ausgang gebracht 
wiwd. 

a) Die Aderlässe. Der Verf. versichert, dafs er *e BluU 
entziehungen in der Münchner Choleraepidemie häuhg Vortreff- 
liches leisten sah. Würde man zur Ader lassen i) uro einer Ent- 
zündung zu begegnen , a) um die Blutmasse überhaupt zu ver- 
mindern , oder 3) gar ein verderbtes , vergiftetes Cholerablut aus 
den Venen zu lassen, so seyen diese drei Grunde grundfalsch» 
Wett man aber nicht zur Ader lasse, weil der PuJn elend un«J 
leer ist oder die Lebenskreft gesunken erscheint ; so seyeo diese 
Gründe noch unhaltbarer. — Die Vorderben bringenden Horn*** 



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57- Stabeft: Genesis and Thcrapeutik der Cholera. 

in der Cholera sind das Erkranken des Ruckenmarkes und 
der Mangel der Blut entkoh In ng in den Abdominal, and 
Brustorganen mit stockender Circulation ; und was die Moxa für 
das Ruckenmark, was das Emeticum, Calomcl und Rheum für die 
Circulation und Entkoblung in der Leber sind , das ist die Ader- 
lässe für den (stockenden) kleinen Kreislauf in den Lungen. 
Je kälter der Hauch und die Extremitäten, je leerer der Po/s 
und je gesunkener die Lebenskraft erscheint, desto mehr ist die 
Aderlässe angezeigt, freilich nur eine kleinere aber öfters wie- 
derholte, des Tags 3 bis 5mal und von 4 bis 6 Unzen. 

Sowie man aber eine gunstige Reaction bemerkt mit freiem 
Kopfe und leichter, wenn auch beschleunigter, Respiration und 
warmer feuchter Haut; so lasse man sich durch die Frequenz 
des Pulses nicht verfuhren , eine Aderlässe zu machen , die nur 
störend auf die reactive Thätigkeit des Organismus, oder auf die 
Bestrebungen die Krankheit der Peripherie (durch Friesel) zuzu- 
wenden, wirken wurde. 

3) Das Calomel wird hauptsächlich vom Vf. gerühmt. Dafs 
dasselbe, auch wenn der Kranke stirbt, stets erregend auf die 
Gallenbereitung wirke, beweisen offenbar die Cholerasectionen , 
bei welchen man genau unterscheiden kann, welche Leiche Calo- 
mel, und welche keins bekam; indem bei ersteren sich im Magen 
und Zwölffingerdarm immer Gallenspuren , bei letzteren diesel- 
ben aber niemals finden. — Bewirkt das Calomel, oft erst nach 
2 — 3tägigem oder auch längerm Gebrauche, endlich gallige Stuhle 
und damit meistens Salivation, so ist dies ein sicheres Zeichen 
der Genesung von der Cholera ; denn ohne Wiederaufleben der 
Secretionsthatigkeit ist keine Heilung, aber auch keine Salivation 
möglich. — Wie vortrefflich die Ausleerungen und die Erregung 
der Gallensecretion sey , das beweisen die häufig gunstigen Er- 
folge, welche man nach Anwendung derlei Mitteln sieht. Pro- 
fessor Wilhelm in München wählte zu demselben Zwecke grofse 
Gaben Ipecacuanha und Rheum, und man kann die Resultate sei- 
ner Behandlung zu den gunstigsten zählen. 

4) Die Moxa. Um ein Licht auf die bewundernswerthe 
Wirkung der Moxa (bei rheumatischer Metastase auf das Rücken- 
mark) fallen zu lassen, erwähnt der Verf. folgenden Fall. Ein 
Mädchen von 10 Jahren wurde von rheumatischem Fieber mit 
Pneumonie befallen. Die Krankheit wandte sich alsbald dem ga- 
strischen Apparate zu; dieser wurde wieder verlassen, ohne dafs 
Krisen eingetreten wären; dagegen stellten sich ziehende Schmer- 



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Sichert: Geneeit Und Thcrapeutik der Cholera. 5*3 

zen und Krämpfe der untern Extremitäten ein. Stuhliund Urin 
wurden sparsam und die untere Hörperhälfte des Kindesllahm. 
Nachdem das Mädchen mehrere Wochen lang so gelegen; wurde 
der Vf. zur Behandlung gezogen. Das Kind hatte ein aufgedun- 
senes Gesicht, abgemagerte und vollkommen lahme untere Ex- 
tremitäten , und bereits begann der Zustand sich auf die Urinblaso 
und den Mastdarm zu erstrechen. Es wurden alsbald auf beiden 
Seiten der cauda equina zwei tüchtige Brenncylinder abgebrannt. 
Als man dieselben hinwegnahm, hob der Vf. das Kind am Arm 
auf, und siehe da! es stand fest im Bette aufrecht. An demsel- 
ben Tage noch spielte und sprang das Kind mit seinen Geschwi- 
stern. — Dergleichen Fälle sah der Vf. aber schon viele, und 
er hat niemals die Moxa angewendet, ohne die auffallendsten 
und stets gunstigsten Erfolge gesehen zu haben. 

Er fragt nun : Welchem Arzte wird die Betrachtung des 
Rückenmarkkanals einer Choleraleiche, und in Erwägung der Un- 
geheuern, mit gar nichts zu ersetzenden Wirkung der Moxa bei 
Rückenmarkskrankheiten sowohl acuter als chronischer und me- 
tastatiseber, bei Entzündung, Erweichung, Eiterung und Wasser- 
ergufs, — welchem Arzte wird nicht die Moxa als ein souveränes 
Mittel in der exquisiten Cholera einfallen? denn die gelinderen 
Formen derselben heilt man auf gelindere Weise. 

Dem Einwurfe, dafs es ein barbarisches Mittel sey, begegnet 
der Vf. mit der Erwiderung, dafs die Cholera wohl tausendmal 
barbarischer sey, und die Wirkung der Moxa auf das Rückenmark 
so zauberartig und plötzlich erfolge, dafs er nur Thräncn des 
Dankes, aber niemals Klagen bei den Gebrannten bemerken konnte. 
Nach dem ganzen Buche des Verls, zu schliefsen, scheint es je- 
doch, dafs er in der Cholera selbst die Moxa noch nicht wirk- 
lich angewandt habe, sondern durch die Ergebnisse der Section 
belehrt, dieselbe erst in Vorschlag bringe, und das freilich mit 
vollem Rechte. 

5) Nach^ Anwendung der Moxa fängt man sogleich die Wa- 
schungen mit stark erwärmter Auflösung des kausti- 
schen Kali an, worüber, sowie über die Behandlung der aus 
der Cholera sich bildenden Krankheiten, nämlich i) die Hyper- 
reaction mit Kopferscheinungen, ar) die Cholera protracta 
mit fortdauernden Rückenmarksleiden, und 3) den Typhoid, — 
Ref. auf das treflliche Buch verweist. 

F. Gr oos. 



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mrcum rvnaivnmo t* nanu touo »» guw nO ucgll ITH p CT UlOrl rtOTn uTT l , m»I CiTTO , 

0«//a Opografio Riwlta MDCCCXXXf I Patte J. 140 & Parte i/. 

2ü8 A?. in 8. f/on //m» GarieUi m ZWenl,J Mit dem Motto am 
Plinias Epp. 11,5: „ffaec «*o SSfl nccyi vo/o non tanquam assecutum 
cssc mc credum, ted tanquam assequi laborantcm. " 

Unit»- den besseren and gediegenen Erscheinungen der italie- 
nischen Literatur unserer Tage nimmt gewifs die vorliegende 
Schrift, die in DwotscbJand «och wenig bekannt, mit gröfserem 
Rechte als hundert am der e Producta des Auslandes es doch zu 
werden verdient , eine ehrenvolle Stelle cm. Der nächste Gegen« 
stand derselben ist, wie der Titel besagt, eine Schilderung der 
Lage Italiens unter den Br. mischen Kaisern ; aber der Vf. , indem 
er den Zustand Italiens in dieser Zeit au schildern bemüht ist, 
entwirft uns dabei zugleich ein ziemlich vollständiges Bild der 
Art und Weise , wie Italien und überhaupt das römisch abendlän- 
dische Reich von Auguttus an bis auf Conatantin den Greisen und 
von da an weiter bis zum gänatiohen Zerfall desselben regiert 
wurde; wir erhalten eine Übersicht des ganzen Verwaltung«- und 
Begierongasystems , wie es sich in der bemerkten Methode nach 
und nach entwickelte und durch seine fehlerhafte Organisation, 
durch seine snaern Mängel und Gebrechen den Zustand Italiens 
SO wie der übrigen Provinzen immer mehr verschlimmerte, und 
so die Auflosung herbei! ührtc , deren Folge der Untergang dieses 
Reiches selber war. Wir erholten, also hier zugleich ein Bild 
des Verfalls des römischen Reichs, dargestellt von dam Standpunkt 
der Staatsverwaltung und des durch die mangelhafte Einrichtung 
derselben herbeigeführten traurigen Zustandes der Bewohner des 
Reichs. So wird diese Schrift, die uns einen klaren Überblick 
der Lage Roms und Italiens zunächst in allen innern Verhältnissen 
giebt, eine recht erwünschte und dankbare Gabe, zumal da des 
Verfs. bündige Darstellungsweise ihn von der Weitschweifigkeit, 
die man gewöhnlich an den Werken seiner Landsleute tadelt, ganz 
und gar entfernt bat, da er möglichst gedrängt, aber doch klar 
die Resultate seiner Forschung zusammenstellt, diese selbst aber 
nur auf die Stellen der Alten, die in den Noten am Schlüsse je- 
des Bandes zusammengestellt sind, basirt hat. Die in Deutsch* 
Und jetzt grassirende Methode, die nach selbstgeschaffenen An- 
sichten die Einrichtungen der alten Weit in ein dieser selbst frem- 
des System ummodelt, und damit sich den Anstrich einer philo- 
sophischen Bebandlungsweise des Gegenstandes zu geben sucht, 
ist Gott sey Dank noch nicht, wie es scheint, über die Alpen 



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«oüo il go v. Imperat. Roman i. 515 

gedrungen; dem Vf. dies» Schrift ist sie wenigstens noch durch* 
aas fremd geblieben ; er verschont uns (und -wir wissen ihm da. 
für Dank) mit geistreichen Hypothesen und Combinationen ; aber 
er hat mit desto gröberer Treue nnd Sorgfalt die Steilen der 
Alten tu einem Bilde zu vereinigen gewufst, das seiner Natur 
nach freilich nicht immer vollständig ausfallen konnte , das aber 
doch genügt , um uns den Chara Itter der römischen Staa ts m nsc h i nc 
in der Kaiserzeit , sowie die I,age der dorcu sie «regierten ünttr- 
thanen im wahren Liebte erkennen zu lassen. Zu diesem Zwecke 
sind sowohl die Schriften der alten Cltfssftier als die Recht stel- 
len sorgfaltig benutet; vielleieht hatten noch mehrere Zuge aus 
den Kirchenvätern, namentlich aus den alteren Apologeten, oder 
selbst noch aus Ambrosius und Augustinus genommen werden 
können, obwohl wir auch theilweise Benutzung derselben, wie 
z. B. des Salvianus, Gregors des Grofsen u. A. hier antreffen; 
übrigens scheinen uns im Allgemeinen die Schriften der romi- 
schen Kirchenväter in dieser Hinsicht noch nicht so benutzt wor- 
den zu seyn , als sie es wohl verdienen mochten , wie sich Ref. 
bei einem aus andern Rucksichten unternommenen Studium der. 
selben uberzeugt zu haben glaubt; freilich mufs man sehr auf 
der Hut seyn , nicht allen Übertreibungen dieser Schriftsteller, 
die bisweilen in ihrem Interesse die Farben etwas stark auftragen, 
unbedingt und in vollem Grade Glauben zu schenken. Wichtige 
Zeugen für -die Kenntnifs der inneren Lage des Reichs und seiner 
Bewohner werden sie immerhin bleiben; während andrerseits aus 
dem traarigen und beklagenswerthen Zustande der Bewohner Ita- 
liens , wie er durch die schlechte Staatsverwaltung mit hauptsäch- 
lich herbeigeführt wurde, manche Stellen jener Autoren, manche 
Klagen derselben wohl erklärlich werden. So wird es wohl be- 
greiflich , wie das unter der christlichen Verwaltung so gednlckto 
Volk die alten Zeiten und die alten Götter zurückwünschen mochte, 
unter deren Schutz es einer besseren Zeit und glucklicherer Tage 
sich erfreut halte. Die natürliche Veranlassung zu diesen allge- 
meinen 'Klagen und Wünschen, denen die ganze Kraft eines Au- 
gustinus (in dem beruhinten Werke De civitate Dei) , eines öro- 
sius u. A. entgegentreten mufste, gab zunächst die allgemeine Be- 
druckung, unter der das Volk seufzte in Folge der schlechten 
Verwaltung des Staats und der durchaus verkehrten, dem Natio- 
nalwohlstande nachtheiligen Principien, welche in der Regierung 
befolgt wurden, auch abgesehen von äusseren Drangsalen , durch 
die Einfälle wilder und roher Nationen verursacht. Indem uns 



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57« Garsetti : Deila c omiizionc d'ltaüa sotlo il gov. dcgl. Itnp. Romanik 



der Vf. diese Seite darstellt, entwirft er uns ein Bild, das zwar 
getreu und wahr, doch im Ganzen, wenn wir auf die Lage der 
Bewohner Italiens in jener Zeit und unter jener Herrschaft einem 
Blick werfen, höchst trostlos und niederschlagend ist; er zeigt 
uns, wie das Volk in Folge dieser Einrichtungen immer mehr 
herabkoromen und somit das Reich in sich zerfallen mufste , um 
eine leichte Beute kräftiger Nationen zu werden, die noch ge- 
wissermafsen im Naturstande befindlich, die Folgen einer alle 
Lebenskraft lähmenden Civilisatjon an sich nicht erfahren hatten. 
Dies ist im Ganzen genommen der Eindruck, den diese Darstellung 
auf uns gemacht hat, bei der wir, ausser der umfassenden Ge- 
lehrsamkeit und Belesenheit des Verfassers, auch seiner Unbe- 
fangenbeit und strengen Unparteilichkeit die verdiente Anerken- 
nung zollen müssen ; je weniger und je seitner er sich in allge- 
meine Betrachtungen cinläTst und in schonen philanthropischen 
oder auch philosophisch gedrechselten Phrasen, wie sie jetzt be- 
liebt sind, sich ausbreitet, desto mehr wird diese unbefangene 
Darlegung des Thatbestandes ohne weitere Reflexion als die, 
welche als notwendige Folge aus diesen Factis hervorgeht, ei- 
nen Jeden ansprechen. 

Nach diesen allgemeinen Bemerkungen über die Tendenz und 

_ 

über den Inhalt der Schrift glauben wir noch Einiges speciell 
nachweisen zu müssen, um damit zugleich den Gang, den die 
Darstellung im Einzelnen verfolgt , wenigstens in ihren Haupt- 
punkten, einiget mafsen erkennen zu lassen. Die nähere Einsicht 
mufs freilich dem besondern Studium, zu dein wir gern auffor- 
dern, überlassen bleiben. 

Der erste Abschnitt des ersten Theils giebt als Einleitung ei* 
nige allgemeine Bemerkungen über Italien , über die Natur des 
Landes und seiner Bewohner, ganz kurz, wie es die Bestimmung 
des Buchs erforderte; im zweiten Abschnitt kommt der Vf. dann 
auf die Ursachen der Entvölkerung Italiens von dem Anfang un- 
serer Zeitrechnung an, im dritten auf die traut ige Lage des Lan- 
des schon unter den ersten Kaisern und noch mehr nach dem 
zweiten Jahi hundert. 

(Der Bcschlufx folfft.) 

* 



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N°.37. HEIDELBERGER 1837 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



« 

Garze Iii: Deila condizione dllalia sotlo il governo degli 
lmperalori Romum. 

(Beschlufs.) 

Der Verf. fuhrt hier, besonders in dem ersten Abschnitte, 
den Satz durch, nie nach den verheerenden Bürgerkriegen das 
unter Augustus angewendete Mittel, die Bevölkerung des Landes 
und den Wohlstand desselben mittelst der . Anlage der Militärcolo- 
nien, in welchen die gedienten Soldaten zur Belohnung der ge- 
leisteten Dienste mit den Ländereien der untergegangenen oder 
erniedrigten Bevölkerung gewissermaßen belohnt wurden und aus 
wilden Kriegern ruhige Ackerbauer werden sollten, wiederherzu- 
stellen, gerade den entgegengesetzten Erfolg hatte und auf den 
Zustand Italiens nur nachtheilig einwirken konnte, da dies gerade 
das entgegengesetzte Resultat von dem, was man erwartet hatte, 
hervorbrachte. Zu diesen auf die Bevölkerung und auf den Na- 
tionalwohlstand so nachtheilig einwirkenden Militärcolonicn kamen 
nun noch die immer mehr überhandnehmenden Besitzungen ein- 
zelner Grofsen, die das Eigenthum der kleineren Besitzer nach 
und nach in sich verschlangen und ihre grofsen 'Ländereien nur 
durch Sclaven bearbeiten Helsen: ein Umstand, der, wie auch im 
Verfolg der Schrift mehrfach im Einzelnen nachgewiesen wird , 
auf die Cuitur des Landes wie auf die Bevölkerung gleich nach- 
theilig wirkte ; endlich ist hier noch weiter zu berücksichtigen 
der unruhige, wenig gesicherte Zustand im Innern, vor Allem 
aber das unzählige Bedrückungen jetler Art mit sich führende 
und alle freie Industrie , allen lebendigen Verkehr hemmende 
Steuer- und Finanzsystem der römischen Kaiser. Der Vf. dürfte 
nicht leicht in diesen Punkten Widerspruch erfahren können; ja 
wir glauben, dafs diese Ursachen eine weit gröfsere Entvölkerung 
Italiens und eine noch weit kläglichere Lage desselben schon viel 
früher, als es wirklich der Fall war, hätten herbeiführen müssen, 
wenn nicht das Einströmen so vieler Fremden nach Rom wie 
nach Italien aus andern Theilen des römischen Reichs der Be- 
völkerung nachgeholfen, den Mangel theilweise ersetzt, und durch 
die Reichthümcr, die von allen Theilen der Erde den Kaisern 
XXX. Jahrg. 6. Heft. 37 



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» 

578 Garsetti t Deila comlisione d lialia 

». 

und den Grofsen Roms zuflössen, die Abnahme des Wohlstandes 

in Etwas ausgeglichen hätten; daher denn, als dieser Zuflufs schon 
vom vierten Jahrhundert an aufhorte oder doch nachlieft, der 
Verfall auch desto schneller eintrat. So war die Lage Italiens 
schon im fünften Jahrhundert so kläglich , so traurig , dafs sie 
kaum kläglicher gedacht werden kann; der Verf. knüpft daran 
S. 28 eine Bemerkung, die wir mitzutbeilen uns veranlafst sehen: 
Wenn man an alle die Unglücksfälle denkt, welche Italien in den 
Jahrhunderten des Mittelalters und in den nachfolgenden betrof- 
fen haben, ohne dafs das Land in den traurigen Zustand herab- 
sank, in dem wir es in den bemerkten Jahrhunderten der romi- 
schen Zeit antreffen , so könnte man sich wohl zu einem Zweifel 
an der Wahrheit mancher der hier aufgestellten Behauptungen 
veranlafst oder doch wenigstens sich gedrungen fühlen , die Ur- 
sachen davon aufzusuchen. Dieser Zweifel aber durfte verschwin- 
den, wenn man einen Blick auf die Beschaffenheit der kaiserli- 
chen Regierung wirft, und dabei in Erwägung zieht, dafs Italien 
in diesen Zeiten weder die Industrie noch den Handel des Mittel- 
alters besafs, dafs es ihm an Armen fehlte, um das Land zu be- 
bauen, und dafs die Schwäche des Reichs so grofs war, dafs man 
selbst den Verkauf der Landesprodukte, aus deren Über Hufs man- 
cher Vortheil hätte gezogen werden können , an die nahen, frem- 
den Nationen , die im vierten und fünften Jahrhundert seine Grän- 
zen umlagerten, verbot, u. s. w. 

Um diese Behauptung nun im Einzelnen zu begründen and 
nachzuweisen, geht der Vf. mit dem nächsten, vierten Abschnitt 
in eine Darstellung des Ackerbaues, der Viehzucht, des Wein- 
baues, der Baumzucht (zunächst Olbaumzucht) in dem alten Ita- 
lien ein ; wir erhalten hier ein aus den Nachrichten der Alten 
wohl zusammengefügtes Bild der ganzen Landwirtschaft Italiens, 
die sich zunächst über die bemerkten Gegenstände erstreckte, 
und lernen in den einzelnen mit vieler Sorgfalt hier gesammelten 
Details damit zugleich das ganze System der Landökonomie Ita- 
liens in seinen einzelnen Beziehungen und Verhältnissen auf das 
häusliche Leben näher kennen. Daran schliefst sich im fünften 
Abschnitt eine Betrachtung dessen , was wir die industrielle und 
commercielle Seite nennen und jetzt als eine Hauptquelle des 
Nationalwohlstandes zu betrachten gewohnt sind. So bedeutend 
nun auch der Ackerbau und die Viehzucht des alten Italiens war, 
so wenig Bedeutung hatte in der hier zunächst berücksichtigten 
Periode die Industrie and der Handel, allerdings zum grofsen 



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«>Uo il gor. degli Imperat. Romani. 579 

Nachtheile des Landes. Ein Grund davon liegt gewifs schon in 
der Verachtung, mit welcher der alte Börner in den Zeiten der 
Republik , schon von frühe an , alles das zu betrachten gewohnt 
war, was auf Handel und Industrie sich bezog, weshalb alle und 
jede Beschäftigung damit, jedes eigentliche Gewerbe, als eine 
entehrende, des Börners unwürdige und darum dem Solaren zu- 
nächst zu überlassende Beschäftigung angesehen wurde, analog 
den Ansichten, die wir auch bei andern Völkern dorischen Stam- 
mes in Griechenland finden, nur dafs sie sich bei diesen kleinen 
Staaten nicht in dem Grade geltend machen oder so lange fort- 
dauern konnten, als dies offenbar bei dem alten Born und zwar 
noch in weit grofserer Ausdehnung der Fall war. Indem der 
Römer , schreibt der Verf. S. 47 , also sich des Handels , den er 
als eine des Freien nicht anständige Beschäftigung ansah, enthielt, 
und doch bemerken mufste, wie die industriösen Bewohner der 
Provinzen sich durch den Handel bereicherten, sah er bald den 
Handel als ein Mittel an, das Ärariam zn bereichern (d'impinguare 
l'erario) und so, statt den Handel zu begünstigen, suchte er viel* 
mehr, durch ein falsches Princip der Staatsverwaltung geleitet, 
ihn zu erschweren mittelst Einrichtungen, die vielleicht gut, als 
Born noch klein, ohne Industrie und selbst ein Gegenstand des 
Hasses aller nahen Nationen war, es nicht mehr seyn konnten, 
als Born reich und die Herrin der Welt geworden war. Unter 
diese Hindernisse rechnet der Verf. insbesondere die verschiede- 
nen deshalb eingeführten Zölle und Steuern, so wie die schon 
seit älteren Zeiten bestehenden Zünfte (collegia); er hat daher 
beiden eine nähere Erörterung gewidmet, und erinnert hier noch 
an einige andere, die Entwicklung einer freien Industrie und ei- 
nes lebendigen Handels durchaus hemmenden Ursachen, unter de- 
nen er mit Recht auch die verschiedenen von den Kaisern ange- 
legten Fabriken nennt (S. 59 ff.), die nicht blos für die Bedürf- 
nisse des Hofes, der Armee u. s. w. arbeiteten, wie dies wohl 
noch heutigen Tags aus ökonomischen Bücksichten oder auch 
selbst um einen besondern Zweig der Industrie zu heben oder 
ihm einen Anstofs zu geben, geschieht, sondern auch als eigent- 
liche Specalatton zum Gewinn der Kaiser angelegt waren , und so 
natürlich, durch die Privilegien und Vorrechte, deren sie genos- 
sen , jede andere ähnliche Industrie in ihrem Keim ersticken mufs- 
ten. Der Verf. zeigt uns weiter, wie auch bei mancher Lebhaf- 
tigkeit des innern Verkehrs, doch der eigentliche Handel Italiens 
mit dem Auslande, selbst abgesehen von zahlreichen Beschrän- 



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580 Gnrzetti : Deila condizionc d'Italia 

m 

Hungen, Verboten, Steuern u. dgl. doch im Ganzen nur ein pas- 
siver war; was wohl so lange angieng , als Italien Mittelpunkt des 
gesammten Reiches war und in Rom die Schätze der Erde zu- 
sammenflössen, wodurch die Verarmung des Landes, die auf diese 
Weise nothwcndig eintreten mufste , allerdings eine Zeitlang ver- 
bindert und der gänzliche Verfall Italiens hinausgeschoben wurde. 
Desto fühlbarer aber mufste diese Verarmung werden, als der 
Sitz der Kaiser nach dem Orient verlegt, als das Reich selbst in 
zw vi Theile getheilt war und Rom kaum noch der Mittelpunkt des 
in sich zerfallenen abendländischen Reiches genannt werden konnte. 
Mit dem Orient aber war, wie der Vf. gut nachweist, der Han- 
del immerhin nur passiv; Italien bezog von dorther eine Menge 
von Artikel , ohne auch nur irgend ein Product in den Orient 
abzusetzen. Wir wollen auch hier das Resultat der Untersuchung 
S. 75 mit den Worten des Vfs. mittheilen : Alle diese Umstände, 
welche den aktiven Handel mit den Barbaren Europas hinderten, 
während der passive mit Asien fortdauerte, mufsten es den Pro- 
vinzen unmöglich machen , die enormen Steuern , mit denen sie 
belastet waren, zu tragen, und es mag darin selbst ein Grund 
Hegen, warum das Reich des Occidents um s,o viel eher als das 
des Orients zerfiel; denn welche grofsen Lasten Volker tragep 
können, die eine freie Industrie und einen freien Handel besitzen, 
das können uns selbst manche Republiken des Mittelalters bewei- 
sen. Aus diesem Grunde aber verarmten alle Provinzen, und am 
Ende auch Italien , das dem allgemeinen Verfall länger als andere 
Provinzen widerstehen konnte, weÜ es der Mittelpunkt aller Reich- 
thümer der Welt früher geworden war. Es hielt sich aus dieser 
Ursache noch einige Zeit länger, mitten in der allgemeinen Ar- 
muth , es hielt sich durch die Gunst seiner Kaiser; so wie aber 
diese, vergessend, dafs Italien Haupt und Herz des Reiches war, 
es in eine gleiche Lage mit den übrigen Provinzen brachten, mufste 
dieses Land in gleichem Grade die allgemeinen Übel fühlen und 
ebenfalls zuletzt in dem allgemeinen Schiffbruch untergehen. 

Um diese traurige Lage Italiens vo'n dem staatswirtbschaftli* 
chen Standpunkt aus uns noch deutlicher zu machen , geht der 
Vf. im sechsten Abschnitt in eine ausführlichere Erörterung des 
ganzen römischen Besteuerungssystems ero , d. b. er giebt uns 
nicht eine Theorie desselben, deren wir weiter auch nicht bedür- 
fen; wohl aber eine genaue Darstellung der einzelnen seit Augu- 
stus Zeit bestehenden und in Uralauf gebrachten Besteuerungs- 
weisen , wie sie sich im Laufe der Zeiten gestalteten , und auf 



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•Otto il gov. degli Iinperat Romoni. 581 

den Wohlstand des Landes einen immer nachtheiligeren Einftufs 
ausüben raofsten. Dieser JSinflufs zeigt sich selbst darin, dafs 
man, wie im nächsten Abschnitt weiter entwickelt wird, um der 
allgemein herrschenden Baulust zu frohnen , sogar die Werke 
früherer Zeit zerstörte oder absichtlich verfallen liefs, um daraus 
Material für die Anlage neuer Bauten zu gewinnen , in welchem 
die Eitelkeit und Ehrliebe der Städte, wie der Gouverneurs der 
Provinzen sich gefiel, ohne dafs bei dem allgemeinen Nothstand 
die Mittel dazu vorhanden gewesen wären. Zwar verschweigt 
uns der Vf. (im achten Abschnitt) keineswegs die Unterstützun- 
gen , welche den armen Bewohnern Italiens von Seiten der Kaiser 
zuflössen; aber sie .erstreckten sich leider nur über einen Zeit- 
raum von zwei Jahrhunderten. Was der , Verf. im neunten Ab- 
schnitt über die in Italien so beliebten Schauspiele und deren 
Forldauer bis ins vierte und fünfte Jahrhundert betrifft, fanden 
wir neulich in einer lesenswerthen Abhandlung von Ch. Magnin: 
La Comedie au IV siede, in der Revue des deux Mondes i835. 
II. p. 6S3 ff. noch weiter ausgeführt. Unser Verf. mufste sich 
hier natürlich blos auf einige allgemeine Angaben, wie sie zur 
Vervollständigung seines Bildes und seiner Schilderung der Lage 
Italiens uothig waren, beschränken. Wichtiger ist dann der lote 
Abschnitt, welcher die politische Lage Italiens zu seinem Gegen- 
stände hat und zunächst nachweist, wie die Regierung der Städte, 
früher ziemlich frei und unabhängig, dies in der Raiserperiode 
immer weniger wurde, und wie zuletzt durch das unmittelbare 
Eingreifen der Kaiser in alle Zweige der Municipalverwaltung 
und Gerechtigkeitspilege ganz Italien in die Lage einer kaiserlichen 
Provinz gebracht ward. Dieser Verlust der Unabhängigkeit der 
innern Verwaltung, schon bemerkbar unter den ersten Kaisern und 
in Zeiten der Ruhe und des Friedens, ward besonders fühlbar, 
seit das Kaiserthum die Beute einer Soldateska geworden war und 
der anarchisch -tyrannische Zustand des Reichs durch gewaltsame 
Mafsregeln jeden Rest einer freien Verfassung der einzelnen Städte 
zu zernichten wufste. Diese Umwandlung Italiens in eine Reichs- 
provinz tritt schon im dritten Jahrhundert ein; und der Verf. ist 
deshalb insbesondere bemüht, nachzuweisen, wie eben durch dio 
Neuerungen eines Diocletianus und nachher durch die des Con- 
stantinus Italien der Vorrechte, die es sich früher errungen hatte, 
beraubt, ein gleiches Loos mit den Provinzen, die ihm einst 
unterthan gewesen waren, theilte ( ridotta all' uraile ed infelicc 
coudizione delle provincie che gia crano State sue suddile). 



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582 Ganetü ; Deila < ondizi >ne d'lulia 

So weit reicht der erste Theil. Mit welcher ruhmlichen 
Bescheidenheit der Verf. sich über seine Arbeit erklärt , mögen 
die Schlufsworte, die wir deshalb hier im Originaltexte beifugen, 
beurkunden: Chi scrisse il presente discorso ben sa quanto ancor 
manchi per esaurire la materia che ei prese a trattare ; ma sie« 
come il caso porto , che per l'angustia del tempo non se ne po- 
tesse offerire al publico se non un piecolo saggio; egli dair ac- 
coglienza che a quanto si farä, si riserra di giudicare, se quanto 
ancora ne resta sia degno della publica luce o dell' oscuritä in 
cui tanti anni si giacque.« 

Der etwas später erschienene zweite Theil soll, als Vervoll- 
ständigung des ersten, das ganze Regierungssystem , wie es sich 
in den drei ersten Jahrhunderten und insbesondere im vierten 
und fünften, gestaltete, darstellen und zugleich nachweisen, wie 
seit Diocletian bis zum Verfall des abendländischen Reichs in die* 
ser Hinsicht die Lage Italiens beschaffen war. Die weiter zur 
gänzlichen Vervollständigung des Bildes nöthigen Seiten, wir 
meinen die Darstellung der Religion und der Literatur, sowie die 
politische Geschichte liegen ausser dem Kreise dieser Erörterung ; 
wir wünschen, dafs der Vf., wozu er auch am Schlufs der Vor- 
rede Hoffnung macht, auch diese Seiten in gleicher Weise ver- 
folgen und darstellen möge. 

Nach einer kurzen Einleitung über die Ausdehnung und Be- 
yfilkerong des römischen Reichs und die Regierung der Provin- 
zen zur Zeit der Republik kommt der Vf. mit dem dritten Para- 
graph p. 8 ff. auf Augustus und dessen Verfahren in Gründung 
einer Monarchie mit Beibehaltung der republikanischen Formen, 
die freilich schon unter seinen nächsten Nachfolgern manche Ver- 
änderungen im Einzelnen erlitten hatten, so sehr auch im Ganzen 
das von Augustus eingeführte Regierungssystem bis auf Hadrian, 
die bemerkten Veränderungen abgerechnet, die nicht sowohl in 
der Verschiedenheit politischer Principien als in dem persönlichen 
Charakter des Regenten ihren Grund hatten, in Fortdauer blieb. 
Hadrian suchte dagegen Alles im Staate in eine gr5fsern, unmit- 
telbare Abhängigkeit von sich und seiner Person zu bringen und 
sich damit zum absoluten Herrscher Roms und des romischen 
Reichs aufzuwerfen; die Baiser betrachteten sich von nun an 
nicht mehr als die ersten Burger Roms , sondern als die Herren 
des Staates, sowie von Rom selbst. Möglich war diese Umwand- 
lung , ja sie war natürlich , und die Folge der durch Augustus in 
der Verfassung Roms und in den inneren Einrichtungen vorge- , 



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•Otto il gow. degli Imperat. Houiani. 583 

nommenen Änderungen, welche sämmtlich den Zweck und ,'die 
Absicht erkennen lassen , an die Stelle republikanischer Einrich- 
tungen nach und nach rein monarchische zu setzen, und in die 
Hände der Kaiser die höchste Gewalt und die unmittelbare Lei- 
tung und Regierung aller Staatsangelegenheiten zu bringen. Spä- 
ter, nach den Zeiten der Anarchie und eines höchst unruhigen, 
durch die Willkühr einer Soldateska, welche nach Belieben die 
Regenten Roms ein- und absetzte, herbeigeführten Zustandes, 
sehen wir zuerst unter Diocletian das Princip der absoluten Herr- 
schaft in der Person des Monarchen, von dem Alles ausgeht, wie* 
der in vollem Sinn hervortreten und geltend gemacht werden: 
was freilich auch am Ende das einzige Mittel war, die Ordnung 
herzustellen und einem unsichern , unruhigen und gefährdeten 
Zustande ein Ende zu machen , und so wird man es auch be- 
greiflich finden, wie Diocletian diesen Schritt wagen, und nach 
dem Ausspruch eines spätem Autors (Eutrop. IX, 16.*) dem 
Staat statt der bisherigen Form der romischen Freiheit die einer 
absoluten Monarchie geben konnte. Was er nicht zu vollenden 
vermochte, geschah unter Constantin : »Restava che il sno go- 
verno di quattro divenisse governo d'un solo e governo in per- 
petuo monarchico; e questo si fece da Costantino, perche secondo 
uno scrittore contemporaneo sotto di Iui la republica cominciö a 
reggersi ad arbitrio d un solo uomo. « So beschreibt nun der Vf. 
die. unter Constantin dem Gcpfsen eingetretenen Veränderungen , 
die in der Anordnung der einzelnen Amter, deren Besetzung und 
Verwaltung, in der Controle, in welche die einzelnen höheren 
wie niederen Beamten zu einander gestellt waren, das Bestreben 
zeigen , dem Reiche eine durchaus gleichförmige Verwaltung zu 
geben, die, Alles bis in seine einzelnsten Theile verfolgend, Al- 
les zuletzt von dem Willen des Monarchen abhängig machte, und 
gegen Druck und Gewalt und Ungerechtigkeit nur in der sorg- 
fältig gegliederten Staatsraascbine , in der sich gegenseitig zum 
Vortheil des Monarchen controlirenden Beamtenhierarcbie , als 
deren wahren Schopfer für alle folgenden Jahrhunderte Constan- 
tin erscheint, Gewähr und Schutz dem Einzelnen darbot. In 
diesem Sinne war auch der ganze den Kaiser umgebende Hofstaat, 
sowie das zn seinen Befehlen stehende Heer eingerichtet und ge- 
ordnet. Der Vf. giebt uns ein, wenn auch der Natur der Sache 



•) „qut linpcrio Romano priniua *cgiae consuetudinii formnm uiagU 
quam Ronianae libertatie invexil etc. etc. 



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584 Garzetti i Deila condmoae d'Italia 

m 

nach wenig anziehendes, so doch lebendiges und klares Bild die- 
ser durch Constantin geschaffenen Verwaltung und der durch ihn 
gemachten Organisation des Reichs und der Beamten; er schil- 
dert dann die Verwaltung der Provinzen wie die der Städte, und 
verbreitet sich hier über die Curialen, Decurioncn u. s. w., ohne 
dafs irgend ein wesentlicher Punkt hier übergangen wäre; er 
durchgeht dann die verschiedenen Classen der Bevölkerung, und 
bespricht ihren Antheil an der inneren Verwaltung der Commu- 
nen , sowie ihre meist sehr gedrückte Lage , der die kaiserlichen 
Verordnungen wenig aufzuhelfen vermochten. An diese Erörte- 
rung schiiefsen sich dann weitere Betrachtungen über die durch 
eine verkehrte und auf den Nationalwohlstand nachtbeilig einwir- 
kende Verwaltung herbeigeführte Abnahme der Bevölkerung und 
der Landescultur, und über die Mittel; diesem abzuhelfen oder 
doch entgegenzuarbeiten. Bei dieser Gelegenheit kommt denn 
auch die Einführung des Colonats zur Sprache, wobei die in 
Deutschland erschienenen Schriften zu Rathe gezogen sind. Der • 
Verf. bespricht alle diese und ahnliche Gegenstände in so weit, 
als dies zu seinem Hauptzweck , ein Bild der Lage und des Zu- 
Standes des Reichs und seiner ganzen Verwaltung zu geben, er- 
forderlich ist. Die weiteren Erörterungen des Verfs. beziehen 
sich auf das Militär- und Finanzsystem, welches nach seinen ein- 
zelnen Zweigen und Abtheilungen, mit steter Rücksicht auf den 
Hauptzweck des Ganzen, dargestellt wird. Der Raum erlaubt 
uns nicht, weiter in das Einzelne dieser Erörterungen einzugehen, 
die durch den klaren, übersichtlichen Blick, den sie uns gewäh- 
ren, gewifs auch diesseits der Alpen bekannter zu werden ver- 
dienen. Wir können daher den schon oben ausgesprochenen 
Wunsch nur wiederholen, dafs der Verf. zur Vervollständigung 
des Ganzen nun auch die noch fehlenden Seiten, die religiöse 
sowohl als die wissenschaftliche und literarische , mit gleicher 
Sorgfalt und Wahrheit darstellen möge. 

Wir hatten diese Anzeige bereits niedergeschrieben , als uns 
eine weitere Fortsetzung der Forschungen des Verfs. zukam, mit 
der Aufschrift : 

La Germania e suoi popoli sino all' anno dcW era vulgare 180. Miluno 
dalla tipografia rivotta. MDCCCXXXf I. 77 & in gr. 8. 

An die Schilderung des Zustandes der römischen Herrschaft 
im vierten und fünften Jahrhundert, wie sie in den beiden ersten 
Abtheilungen vorliegt, schliefst sich allerdings nicht unpassend 



# * 

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«Otto - il gov. degli Imperat. Romani. 585 

hier eine Schilderung des Landes und des Volkes, das ein in sich 
schon so zerfallenes Reich zu zernichten und eine neue Gestaltung 
der Dinge, eine neue Welt, hervorzurufen vermochte. Auch diese 
Darstellung des alten Germaniens hält sich rein an die von Gric- 
eben und Römern überlieferten Nachrichten, mit Benutzung der 
Resultate neuerer Forschungen und ohne Aufstellung geistreicher 
H/pothesen, die das Dunkel, das über das alte Germanien zum 
Theil lastet, in ein helles Licht verwandeln sollen, das darum 
aber doch noch immer ein sehr trübes ist und bleiben wird. 
Wir müssen auch hier eine gewissenhafte Umsicht und eine durch- 
aus gedrängte, alle Weitschweifigkeit und unnütze Ausführlich- 
keit vermeidende Darstellung anerkennen ; ein sorgfaltiges Quel- 
lenstudium zeigen die auf jeder Seite gegebenen Nachweisungen, 
hauptsächlich ausTacitus, dann aus Cäsar, Ammiänus u. A. Nach 
diesen und andern Quellen entwirft nun der Vf. zuvorderst eine 
Schilderung des Landes selbst, seiner Bewohner, der Sitten wie 
des Charakters derselben u. s. w. ; er kommt bei dieser Gelegen- 
heit auch auf die Religion der alten Germanen, und stellt hier 
S. 9 — 12 die Nachrichten der Griechen und Römer zusammen, 
wobei er von dem Satze ausgeht, dafs unsern Vorfahren ein fester 
Priesterstand gefehlt, der durch alle Stämme gleichmäfsig ver- 
breitet, ein bestimmtes Religionssystem und einen fest geordne- 
ten Cultus geschaffen und erhalten hätte. Eben dieser Mangel, 
verbunden mit der Rohheit der germanischen Stämme, ihren öf- 
teren Wanderungen und Zügen , wodurch sie leicht veranlafst 
wurden, die eigenen vaterländischen Religionsbegriffe und An- 
sichten aufzugeben , und die der fremden Nationen , unter denen 
sie sich niedergelassen , anzunehmen , erscheint in den Augen des 
Vfs. als der Hauptgrund, warum, ungeachtet aller Bemühungen 
der deutschen Gelehrten, von der alten Religion Germaniens zu- 
nächst doch nur das uns bekannt ist , was lange nach dem Er- 
loschen dieser Religion in der Edda gesammelt worden, wozu 
noch die wenigen und dunkeln Notizen hinzukommen, die Cäsar 
und Tacitus uns hinterlassen, beide die Gotter der Germanen mit 
den Gottheiten Griechenlands und Roms verwechselnd. „ 

Diese Schilderung des alten Germaniens reicht bis S. 27 ; 
dann folgt eine historische Übersicht der einzelnen Kriege Roms 
mit den germanischen Völkern, deren Aufzählung im Einzelnen 
mit Nachweisung ihrer ursprünglichen Sitze und Verzweigungen 
unter einander der Vf. absichtlich «übergeht. Er schreibt darüber 
Folgendes : Percbe le notizie di qu' popoli che sulle prime ebbero 



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586 Ganse Ui : Deila condizionc fltalia 

a guareggiave con Roma tono assai scarse cd oscure e allo scopo 
del prescnte discorso poco importano le intralciate quistiooi soll' 
origine 1« sedi e le diramazioni delle anticbe genti germaniche : 
non pare qoi luogo di tesscrne ona storia distesa, ma solo una 
succinta narraztone delle guerre principali ch' esse sostennero o 
mossero tin Terso la fine del secondo secolo dell' era volgare, 
riservando ad aliro luogo piu diffusa mcnzionc de popoli che oe* 
secoli sequenti farono causa piu prosaima della rovina dell' im- 
pero Romano. 

So verbreitet sich nun der Verf. zuerst über das Zusammen- 
treffen der Romer mit den Cimbern, dann über die Kriege des 
Cäsar, die Unternehmungen des Agrippe, des Drusus, des Tibe- 
rius u. s. w. ; er schildert uns den unglücklichen Zug des Varus 
und die in Folge dessen veränderte Politik Roms in Absicht auf 
die Volker Germaniens und den Verkehr mit denselben ; er gebt 
dann über auf die innern Zwistigkeiten dieser Stämme, wodurch 
ihre Unternehmungen gegen das rumische Reich allerdings aufge- 
schoben und zum Theil wenigstens verbindert wurden. Daß hier 
der Aufstand der Bataver, Marobaudes, die Marcomannen u. And. 
zur Sprache kommt , brauchen wir wohl nicht noch besonders zu 
bemerken. Mit S. 52 kommt der Vf. auf die Sarmaten, die etwa 
zwei Jahrhunderte vor der gewöhnlichen Zeitrechnung über den 
Tanais zogen und die früher von den Scythen besetzten Land- 
striche einnahmen; wie dies geschehen, ist unbekaut; in gleichen 
was aus den Scythen, welche durch die Sarmaten von der Donau 
und von dem Meere zurückgedrängt waren, geworden, und wie 
im Laufe von acht Jahrhunderten in den von Scythen und Sar- 
maten einst bewohnten Landstrichen mit einem male die Slaven 
erscheinen. Der Vf. denkt sich die Sache so : Die Scythen zogeo 
sich bei dem Vorrücken der Sarmaten in das heutige Rufsland 
und Polen mehr landeinwärts zurück und lebten hier ferne von 
den* Stürmen, welche die Länder längs der Donau und alle Pro- 
vinzen des abendländischen Reichs erschütterten. Inzwischen wa- 
ren die Germanen von den Gestaden des gothischen und finni- 
schen Meerbusens herabgezogen an die Donau; die Hunnen Ton 
Asien aus in Europa eingedrungen ; die Sarmaten aber in den 
schweren und langwierigen Kämpfen , welche Germanen und Hun- 
nen mit den Romern führten, überwunden, genöthigt zu den 
Scythen zu fliehen ; bald darauf ward auch die Macht der Hun- 
nen gebrochen, ihr Volk erlosch in Europa. In Folge dessen 
wälzten sich nun die Germanen über das römische Reich und 



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•olto il gov. degli Impcrat. Komani. 581 

liefsen damit einen grofsen Theil des tob ihnen bewohnten Lan- 
des , iowie die an der linken Seite der Donau gelegenen Striche, 
frei von Bewohnern. In diese Länder kehrten nun Scythen und 
Sarmaten zurück und erscheinen von nun an unter dem Namen 
der Slaven , die jn der Folge nach und nach über ganz Deutsch- 
land rechts von der Elbe sich ausbreiteten, Preufsen, Polen, den 
grofsten Theil des heutigen Rufslands u. 8. w. besetzten. 

Nach Beendigung dieser übersichtlichen Darstellung der Völ- 
ker Germaniens und ihrer Kriege mit den Römern stellt der Vf. 
(S. 59) noch die Frage auf, wie es wohl diesen Volkern nach 
80 vielen vergeblichen Angriffen auf die Gränzmarken des romi- 
schen Reichs , nach so fielen Niederlagen, die sie erlitten, doch 
zuletzt möglich geworden , die Provinzen des abendländischen 
Reichs zu überschwemmen und zu besetzen. Die Schwäche des 
Reichs, die schlechte Regierung und der daraus hervorgehende 
Druck, der auf den Bewohnern der Provinzen lastete und ihre 
Kraft lähmte , sey kein genügender Grund , wenn man auch noch 
so sehr an die unwiderstehliche Kraft und Wildheit der Germa- 
nen glaube , da sie nimmermehr einzeln und in vereinzelten, durch 
längere Zwischenräume unterbrochenen Angriffen so Etwas aus- 
zufuhren vermocht hätten und nimmermehr Roms Macht in dem 
Grade zu schwächen oder zu überwinden im Stande gewesen 
wären. Der gluckliebe Ausgang aller dieser Unternehmungen 
gegen Rom und die römische Herrschaft ist vielmehr nach dem 
Verf. der Verbindung zuzuschreiben, wodurch die bisher verein- 
zelten Stämme zu Einem grofsen Ganzen vereinigt, eine weit 
gröfsere Kraft zu entwickeln vermocht , sowie der ausdauernden 
Festigkeit, mit welcher diese Volker ihre Unternehmungen aus- 
geführt. Dies giebt dann dem Verf. Veranlassung, noch weiter 
über diese Verblödungen, die in dieser Art bei andern Völkern 
sich nicht finden , über ihre Veranlassungen , ihre weiteren Aus- 
dehnungeo, ihre Folgen und' Wirkungen sich auszusprechen, und 
in einem lesenswerten Schlufsworte die Ergebnisse dieser Unter- 
suchungen über die Volker, die das römische Reich zerstörten, 
sowie über die Art und Weise ihrer Kriegszüge zusammenzu- 
stellen. 

Chr. Bahr. 



- 



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588 Fr. M.r. Appendini , B.IU „tri. « S. G.roUo,.. 

Ksamc critico della queutione intorno alla patria di S. Girolamo libri IV. 
Del padrc Francesco Maria Appcndini delle scuole pic. Zara. 
DaUa tipograßa Battara. MDCCCXXXIU. 256 & in 8. 

Die Frage nach dem Vaterland des h. Hieronymus, schon 
früher Gegenstand lebhaften Streites unter den Gelehrten Italiens 
und Ungarns, soll, nachdem auch in den zunächst verflossenen 
Decennien durch mehrere eigene Schriften der Gegenstand von 
neuem wieder angeregt worden, in vorliegender Schrift durch, 
eine umfassende, die verschiedenen Ansichten über diesen Punkt 
einer sorgfaltigen Prüfung unterwerfende Erörterung, in der zu- 
gleich eine Menge anderer, mit der Hauptfrage mehr oder min- 
der in Berührung stehende Gegenstände bebandelt werden , zu 
einem Endresultat gebracht werden , das dem Lande Dalmatien 
die Ehre sichert, Vaterland des berühmten Kirchenlehrers gewe- 
sen zu seyn. Dafs die Untersuchung in möglichster Vollständig, 
keit gefuhrt ist , könnte schon der blofse Umfang der Schrift und 
die Seitenzahl derselben zur Genüge zeigen; dafs sie aber auch 
mit Gründlichkeit und Genauigkeit gefuhrt ist, wird nähere Ein- 
sicht bald lehren. Wir wollen, da die in Dalmatien gedruckte 
Schrift schwerlich in Deutschland sehr bekannt seyn dürfte — 
Ref. wenigstens, der sich gerade in der letzten -Zeit speciell mit 
diesem Gegenstande beschäftigt hatte und in seiner eben unter der 
Presse befindlichen zweiten Abtheilung des Supplements der Rum. 
Jiit. Gesch. nur ungenügende Angaben vorzulegen wufste, war sie 
eine eben so unbekannte als willkommene Erscheinung — die 
'Hauptpunkte der Schrift, sowie die Ergebnisse der in ihr ent- 
haltenen Prüfung in der Kürze unsern Lesern vorlegen , denen 
auch schwerlich die andern zu Venedig , Triest , Horn und Zara 
erschienenen Streitschriften in dieser Sache bekannt seyn dürf- - 
ten. Die letzten darunter sind ' wohl die beiden Schriften des 
Canonicus und Erzpriesters Capor : Della patria di S. Girolamo 
risposta etc. Rom. i8a5. 8. und : Deila patria di S. Girolamo se- 
conda ed ultima risposta etc. Zara i83i. Zwei andere Schriften 
werden wir weiter unten noch anfuhren. 

Den Ausgangspunkt der ganzen Untersuchung bildet die ei- 
gene Äusserung des Hieronymus (De vir. ill. i35. ): »Hierony- 
mus presbyter , palre Eusebio natus in oppido Slridone, quod 
a Gothis eversum Dalmatiae quondam Pannoniaeque continium 
fuit.« Hier sucht nun der Verfasser zunächst aus sprachlichen 
wie aus andern Gründen zu erweisen, dafs Stridon in Dalmatien 
selbst noch gelegen und als diesem Lande zugehörig betrachtet 



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, Fr. Mar. Appendiiii \ Deila patria di S. Girolamo. 5^9 

werden müsse , dafs es diesseits der Bebischen Gebirge (jetzt 
Dinara) an deren Fufs bei den Quellen des Flusses Titius oder 
Kerlta gelegen und mit dem von Ptolemäus u. A. genannten Si- 
drona zusammenfalle, unter 43) 3o Grad Länge und 44i 3o Breite 
(vgl. p. 18), also entsprechend der Lage des neueren Strigovo 
oder in seiner mehr illyrischen Fassung Strinaz oder Sdrinaz (S. 
32). Für diese Ansicht bringt der Vf. nicht blos manche andere 
Zeugnisse und Belege bei, sondern selbst die Autorität der Kir- 
che, welche den Hieronymus als einen Dalmatier betrachtet; er 
zeigt uns, wie auf der Stätte des von Gothen zerstörten Stridon 
eine Kapelle dem h. Kirchenvater zu Ehren aufgerichtet ward , 
die aber später in der ersten Hälfte des i6ten Jahrhunderts von 
den Türken, die erst durch den Frieden von Passarowitz diese 
Landstrecken wieder zurückgaben , zerstört wurde : wie denn 
überhaupt damals Alles eine veränderte Gestalt erhielt und diesem 
Umstände wohl es auch zuzuschreiben ist, dafs kaum irgend ein 
Best alter Zeit, irgend eine Buine des alten Stridon vorhanden 
ist. " Mit der Lage des Orts stimmt aber auch die Benennung 
überein, die in den verschiedenen Formen Strido , Sidrona . Stri~ 
govo, Sdrinaz u. s. w. immer auf denselben Begriff einer Mitte 
(mezzo, meditullium), eines in der Mitte zwischen zwei ver- 
schiedenen Landestheilen an der Gränze gelegenen Ortes hinweist. 
Dies hat der Verf. im vierten Cap. aus der Dalmatisch- Uly t ischen 
Sprache, welche er für das alte Thracisck-Sarroatischc hält, auf 
eine sehr befriedigende Weise nachgewiesen; im fünften sucht er 
die Gränzen des alten Dalmatiens , mit besonderer Bücksicht auf 
die oben angeführten , hier besonders zu beachtenden Worte des 
Hieronymus: w quod — Dalmatiae quondam Pannoniaeque confinium 
fuil,* näher zu bestimmen, und unterscheidet deshalb ganz rich- 
tig die frühere engere Gränze , auf welche hier Hieronymus durch 
sein quondam sich bezieht, und die später durch Augustus erwei- 
terte, welche über die Bebischen Berge, die vorher nordwärts 
die Gränze Dalmatiens bildeten und an deren Fufs Stridon lag, 
hinausgieng und, diese Gebirgskette in die Mitte nun nehmend, 
bis an die Sau sich erstreckte. In dem siebenten oder Schlufs- 
capitel des ersten Buchs suefct dann der Verf. die Zeit der Zer- 
störung dieses (dalmatischen) Stridon und die Zeit des ersten Ein- 
falls der Gothen in Italien zu bestimmen. 

Die drei andern Bücher sind eigentlich polemischer Art, da 
sie eine ausführliche Widerlegung sowohl der Ansicht, welche 
das alte Stridon in Istrien sucht, als der andern, welche dasselbe 



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590 Fr. Mar. AppemUni i Dell« patria di S. Girolarao. 



nach Ungarn bei dem heutigen Srinovar verlegt , bringen und in 
einer ausführlichen Deduetion , in welcher der Gegenstand nach 
allen Seiten hin beleuchtet wird, das Irrige und Unh all baltbare 
dieser Behauptungen nachweisen. 

Was den ersten Punkt betrifft, so äusserte sich schon Eras- 
mus in der seiner Ausgabe vorgesetzten und noch immer lesens- 
wertben Vita Hieronymi tadelnd gegen das um seine Zeit hervor- 
tretende Bemuhen, 8tridon , die Vaterstadt des Hieronymus, in 
Istrien zu suchen ; wenn man aber die grofse Zahl von Gelehr- 
ten und zum Tbeil namhaften Männern bedenkt, die dieser An- 
sicht im Ganzen, mit mehr oder minder Abweichungen in ein- 
zelnen Nebenpunkten, gehuldigt; wenn man bedenkt, dafs noch 
in diesem Jahrhundert in zwei, zu Venedig 1824 (»Deila patria 
di S. Girolarao«) und Triest 1829 ( » S. Girolamo' dimonStrato 
evidentemente di patria Istriano«) erschienenen Schriften diese 
Ansicht vertheidigt worden ist, so wird man auch den grösseren 
Umfang begreifen, der hier im Buch II. und III. der Widerle- 
gung derselben gewidmet ist. Hernach wäre das alte Stridon in 
dem Territorium der jetzigen Stadt Capo d'Istria zu suchen, etwa 
dreifsig italische Meilen entfernt von der Arsa, welche nach der 
späteren, durch Aogust, wie vorher schon bemerkt worden, ge- 
machten Gränzbestimmung, die Grenze Dalmatiens bildete und 40 
Meilen entfernt von der Gränze des alten Pannoniens, da, wo jetzt 
ein ärmliches, kleines Dorf, Sdregna, Sdrigna, oder vielmehr 
ein altes, mittelalterliches Castell liegt, welches die Geburtsstätte 
des Hieronymus seyn soll , ohne dafs jedoch diese mit allen an- 
dern Nachrichten und mit den angegebenen geographischen Be- 
stimmungen in völligem Widerspruch stehende Behauptung durch 
vorfindlichen Buinen oder Alterthümern irgend eine Bestätigung 
erhielte, da vielmehr die ganze Lage des Orts uns schon darauf 
hinweisen kann, hier keine alte Stadt oder deren Beste zu su- 
chen. Da diese Ansicht hauptsächlich von Fla vi us Biondo, einem 
der angesehensten Schriftsteller Italiens im fünfzehnten Jahrhun- 
dert, ausgegangen ist, an den sich viele Gelehrte der nachfolgen- 
. den Jahrhunderte bis auf die Verfasser der beiden oben genann- 
ten Schriften anschlössen , so beginnt der Verf. int zweiten Cap. 
des zweiten Buchs p. 66 ff. damit, dafs er die Irrthumer dieses 
Mannes in seiner Beschreibung Istriens im Allgemeinen, sowie 
insbesondere in dem Versuche, das alte Stridon in dem genann- 
ten istrischen Dorfe wiederzufinden, nachweist; er geht dann auf 
die andern Vertheidiger dieser Ansicht über, die durcE Verruckung 



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Fr. Mar. Appendioi : Deila patria di S. Giralano. 



der wahren Grenzen des alten Dalmatiens den Mißstand oder 
vielmehr den Widerspruch zu heben suchten, in den sie durch 
Annahme eines in Istrien gelegenen unbedeutenden Dorfes mit dem 
Zeugnifs des Hieronymus und andern Angaben der Alten verfal- 
len waren , da wir vielmehr Stridon für eine bedeutende Stadt, 
und selbst für einen Bischoffssitz , und nicht für ein elendes Dorf 
oder Castell halten dürfen, Hieronymus aber offenbar von einer 
angesehenen Familie abstammte (vgl. Buch III. cap. VI. VII. ) , 
und in Rom, nicht aber, wie Einige behaupten wollen, in A(jui- 
leja, die Taufe erhielt' (s. cap. VIII. IX.). Was für das dalmati- 
sche Küstenland Salona gewesen, das scheint für das Binnenland 
Stridon gewesen zu seyn (vgl. p. 147)1 das im Alterthum für den 
Handel und für den innern Verhehr die Bedeutung hatte, welche 
bis zum Schlufs des achtzehnten Jahrhunderts das weiter östlich, 
im jetzigen Bosnien gelegene Serajevo behauptete (vgl. S. 

Das vierte Buch beschäftigt sich mit Widerlegung derjenigen 
Ansicht, die das alte Stridon viel weiter nordlich an den Grenzen 
Croatiens, der Steiermark und Ungarn bei dem Zusammenflüsse 
der Mur und Drau in dem durch diese beiden Flusse gebildeten 
Inseldistrict (Tschaka tornia; Ref. verweist auf Büsching Erdbe- 
schreibung II. p. 484) sucht , wo in einem angenehmen , * durch 
Hügel, die mit Weinreben bepflanzt sind, gebildeten Thale un- 
weit der Mur ein Ort Srinovar, Sdrinovar, Stridoga, 
Stridovo, Stridogo, Strigna u. 8. w. genannt, liegt, der die 
Stelle des alten Stridon einnehmen soll: wodurch denn freilich 
die Granzen des alten Dalmatiens gewaltig verrückt uqd bis zur 
Drau ausgedehnt werden , was den bestimmten Zeugnissen der 
Alten widerspricht, wornach selbst nach der Erweiterung Dal- 
matiens unter August dieses Land nur bis an das Ufer der Sau 
sich erstreckte, und diese Grenzen auch noch zwei Jahrhunderte 
lang nach dem Tode des Hieronymus, bis circa 600 unserer Zett- 
rechnung, fortbebielt. 80 würde dann das nach Hieronymus an 
der Grenze Dalmatiens gelegene Stridon etwa achtzig ital. Meilen 
weiter von dieser Grenze oder ungefähr hundert Meilen von der 
früheren Grenze zu suchen seyn ! Und doch het diese Ansicht 
namhafte Gelehrte zu Vertheidigern gefunden, die freilich dabei 
sich in mancherlei Widersprüche verwickeln mufsten , welche hier 
aufgedeckt und widerlegt werden. Wir glauben daher, dafa 
durch diese Schrift die Streitfrage über das Vaterland des Hiero- 
nymus zu dem Endresultat gebracht ist, das in solchen Gegen- 
ständen überhaupt nach Vorlage der Quellen zu gewinnen ist. 



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592 Seil : Die Itocuporatio der Römer, i 

Der Vf. wenigstens hat Alles seinerseits aufgeboten , was zu die- 
sem Ergebnifs führen bann, ohne dabei durch einseitige Vorliebe 
für sein dalmatisches Vaterland verleitet, die Stellen der Alten 
verkannt, oder durch irrige Deutung und Auffassung dieselben 
zu seinen Gunsten vordreht zu haben, da er überall mit Unbe- " 
fangenheit und Gründlichkeit zu Werke gegangen ist, und nur 
mit Gründen die entgegengesetzten Ansichten bekämpft, dadurch 
aber auch wirklich widerlegt hat. 

C/ir. Bahr. 



Die Reeuperatio der Römer. Eine rethtahhtorUche Abhandlung von Dr. 
Carl Seil, Privatdocenten der Rechte in Cicften. Braunschweig , bei 
P'icweg und Sohn. 1837. 

So wichtig die Kenntnifs des älteren romischen Prozesses 
für das Verständnifs , selbst noch des Justinianischen Rechtes, ist, 
so grofs sind die Lücken, welche uns überall fühlbar werden. 
Erst aus der Zeit der sinkenden Republik , durch Cicero *s Schrif- 
ten, ist uns ein etwas festerer Gesichtspunkt eröffnet, aber Vie- 
les war schon hier gegen seine ursprüngliche Bedeutung sehr 
verändert. Dafs, wo Romer zu Einflufs und Gewalt kamen, sie 
nach den Einrichtungen ihres Gerichtsverfahrens die Welt zu ge- 
stalten suchten , ist natürlich , aber Manches auch ging von Aus- 
sen wieder in die Ordnung der Hinge zo Rom selbst über. So 
scheint das Judicium recuperatorum ursprünglich nicht für Ver- 
hältnisse der romischen Bürger unter sich bestimmt gewesen zu 
sevn , zuletztaber in seiner freieren, aus dem jure gentium ge- 
bildeten , zur einfacheren Beendigung des Prozesses führenden 
Form von den Roinern für sich selbst reeipirt zu seyn. Daher 
kam es denn auch hauptsächlich in Beziehungen vor, wo der 
magistratus freiere Mand hatte, und jedenfalls nicht alte prozes- 
sualische Formen beobachtet werden mufsten. So unterschieden 
sich auch gewifs in den Sachen selbst das Cent um viral gericht, 
der judex und arbiter, und die recuperatores. 

(Der bcschlufi folgt.) 



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N°. 38. HEIDELBKRGKR 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Seil: Die Recupwalio der Römer. 

(Be$chlufs.) 

Nun ist aber die geschichtliche Ent wickelung dieser Lehre 
eine der am wenigsten erkannten und zu erkennenden im römi- 
schen Alterthume, und alle Gelehrten wissen von den Recupera- 
tores im Verhäitnifs zum judex nur dieses oder jenes immerhin 
äusseres und zufällig erscheinendes Merkmal anzugeben , z. B. die 
meisten dahin , dafs das Judicium oder arbitrium nur aus Einer 
Person gebildet worden sey, die recuperatio aber aus mehreren, 
wie z. B. dies ausser den von Seil angeführten Schriftstellern 
noch behauptet Puchta Institutionen S. 42 — aber das innere 
Verhäitnifs des Ursprungs und Fortgangs des Instituts, und selbst 
der praktische Gebrauch desselben vor Aulhebung des alten ordo 
judicii sind bei dem gegenwärtigen Zustand der (Quellen gehörig 
nicht darzustellen. 

Herr Dr* Seil hat sehr fleifsig angegeben, was Andere vor 
ihm vermuthet haben, und hat auch auf alle Beziehungen sich 
eingelassen, aus welchen einiges Licht kommen konnte. Er selbst 
lieht den Ursprung des Instituts in den alten völkerrechtlichen 
Verhältnissen, das judicium recuperatorum soll die Rechtssicher- 
heit zwischen den Volkern praktisch machen , welche in ein be- 
stimmtes juristisches Verhäitnifs zu einander getreten waren, so, 
dafs sowohl Delicto der Angehörigen dieser Volker gegen ein- 
ander wie anderes Unrecht durch den Anruf jener Gerichte 
gutgemacht worden wären. In ähnlicher Weise kommen auch 
im deutschen Mittelalter z. B. in der Schweizergeschichte allerlei 
Fälle Tor, wo durch genommene Richter Sireithändel nicht nur 
der Stände unter einander, sondern auch Einzelner gegen einen 
Stand entschieden und das gethane Unrecht ausgeglichen wurde. 
So lange es nicht möglich ist, eine (Quelle aufzufinden , welche, 
indem sie von den Recuperatoren handelt, deren Verhäitnifs nicht 
als etwas Bekanntes voraussetzt , kann man wohl von einer gluck- 
lichen Combination von Ideen , aber nicht von einer verlässigen 
Darstellung sprechen. Es wäre somit ungerecht , dem lleifsigen 
Verfasser dieser Schrift etwas vorwerfen zu wollen, ausser dafs 
er manchmal zu weit von seinem Gegenstande abgeschweift ist, 
auf allgemeine Betrachtungen z. B. über die Bildung der Staaten 
sich eingelassen, und anderntheils manchmal specielle historische 
Fragen herbeigezogen, aber nur obenhin behandelt hat, wie z. B. 
über das dominium juris Quiritium u. s. w. Auch hat er offenbar 
die Citate über manche Dinge des römischen und griechischen 
Altertburas zur Ungebühr hei vorgesucht, obgleich es immerhin 

XXX. Jahrg. 6. Heft. , 38 

< 



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694 Seil: Die Recupcratio der Römer 



sehr löblich ist, dafs man in jungen Tagen auch ein specialen 
guter Vorbildung liefere. Vorzüglich interessant ist das aufge- 
worfene Capitei » von Jer Entwicklung und Fortbildung der 
Rccuperaloren in rein römischen Rechtssti eitigkeiten * , weil von 
hier aus ihre Bedeutung im romischen Prozesse und ihr Verhält- 
nifs zu dem judex und arbiter gefunden werden mufs. Allein 
der Vf. hat dieses Capitei weniger ausfuhrlich behandelt, er be- 
ginnt mit einem unfruchtbaren Räsonnement über den römischen 
Volkscharakter , stellt sogar einen Vergleich mit dem griechischen 
an, und giebt ausserdem viel Allgemeines, während er besser 
«las ganze System der rSmiscben Actionen zu den» 
Zwecke geprüft hätte , ob nicht recuperatores hier und dort an- 
wendbar waren oder aus goten Gründen schienen. Un$ Kommt 
vor, als wenn ganz besonders in causis , wo der raagistratns ex- 
tra ordinem erkennen konnte, von diesem die Recuperatoren bei- 
gezogen worden seyen, weil dieser Prozefs so eine Art von un- 
bestimmt summarischen Prozefs, ein Mittelding, bildete zwischen 
dem ordentlichen Verfahren coram judice nach Instruction 
und dem Verfahren extra ordinem , wo der Magistrat» einen 
«weiten Act abschneiden wollte. In vielen Punkten, wo in der 
neueren Zeit sonderbare iMeinungen aufgestellt sind, z. B. dafs 
der judex oder die Recuperatoren nur Richter des facti. seyen, 
hat der Vf. das Rechte getroffen und das Ungesunde der gegen- 
teiligen Darstellung hervorgehoben. Aber nicht Können wir in 
demjenigen ubereinstimmen, was der Vf. über den Gebrauch der 
Recuperatoren im römischen Criminalprozesse sagt, denn so wahr 
es ist, dafs hier Recuperatoren nicht vorkommen, so wenig ist 
die Sache so schwankend und mager, v»ie bei Herrn Seil, zu er- 
klären, sondern der einzige und schlagende Grund' ist, dafs Cri» 
minalsachen nur vom Volk oder Senat oder durch Volks- oder 
Senatscommissionen abgeurtheilt wurden, Recoperatoreo aber so 
gut wie die judices einzelne Männer sind, welche das Vertrauen 
des Magistratus in ihre Individualität zum Prozesse ruft. 
Die Construction in dem Capitei »Von dem Verschwinden der 
Recuperatoren«, wo die Jahrhunderte aneinander geruckt sind, 
wie die Jahre, und wo das Eine genügt hätte, dafs das ganze 
alte Prozefsaystcm über den Hauten fiel, hat uns am wenigsten 
gefallen. — Wenn wir diese kurze Anzeige auf Verlangen eines 
verehrten Collegen in der Intention machen, den Verf. auf dem 
Wege des Fleifses nnzueifern, so müssen wir ihn vor dem wei- 
ten Ausholen einerseits und andrerseits vor dem heutzutage herr- 
schenden Systeme des Hin- und Herconjecturirens in den kleinen 




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SM 

KURZE ANZEIGEN und NACHRICHTEN 

von einigen neuen Erscheinungen im historischen imd in 

verwandten Fächern. 



Von dem 

Staatslexikon oder Kncyklapädie der Staattwinensehaften von Karl von 
Rotteck und Karl Welker 

liegen fünf Lieferungen des dritten Bandes vor ans. Diese Lie- 
ferungen enthalten die Artikel von Breisgau bis Constitution. Das 
Werk ist zu bekannt und verbreitet , als dafs es einer ausführli- 
chen Anzeige bedurfte; eine Kritik ist aber bei Buchern, welche 
dem Bedürfnifs eines bestimmten Publikums entsprechen sollen, 
gar nicht angebracht. Es wird daher genug seyn, hier zu be- 
merken , dafs das Werk rasch fortschreitet und dafs gröfstentheils 
nur bekannte Männer als Mitarbeiter erscheinen. Dafs mehrere 
Artikel vorkommen, welche man gerade in diesem Werke am 
wenigsten vermissen wurde, läfst sich nicht vermeiden. Zu die- 
sen Artikeln würden wir des Herrn von Theobald Beiträge, Ci- 
tadelle und Congrevesche Raketen zählen. Die mehrsten Arti- 
kel in diesen fünf Lieferungen sind von den Herausgebern bear- 
beitet, doch finden wir unter den bekannteren Mitarbeitern auch 
Paulus und Mittermaier, welcher Letztere einige ausführliche Ar- 
tfhel, und zwar besonders solche, die man noth wendig geradein 
diesem Werke aufsuchen mufs, geliefert hat. Die Verlagshand- 
lpng und die Herausgeber des St'aatslexikons kündigen übrigens 
an, dafs sie da» ganze nächstens erscheinende Dictionary of po- 
Jrfies, political economy and statistics von Mac Culloch in ihr 
Werk aufnehmen wollen, und auch diejenigen Artikel desselben, 
welche ihre schon erschienenen Bände ergänzen können, in einem 
Supplementbande nachliefern. 

Mit Vergnügen zeigt Ref. zugleich die Vollendung der 

Badischen Landesgeschichte dee Herrn Joseph Bader 

an, deren erste Lieferungen er schon zu einer andern Zeit er« 
wähnt hatte. Ref. hat schon bei der Anzeige der ersten Liefe- 
rungen bemerkt, dafs er es für sehr verdienstlich hält, die Lan- 
deageschichte, oder auch überhaupt die Geschichte, auf die Weise, 
wie Herr Bader gethan hat, für das grofsere Publikum zu be- 
arbeiten, weit sie dadurch von ihrer Würde nichts verliert, und 
keiner, der hernach tiefer eindringen oder forschen will, auf 
einen falschen Weg geleitet wird. In eine Kritik eines gut ge- 
schriebenen, zur allgemeinen Belehrung über eine Special geaebicht» 
abgefafsten Bachs einzugehen, scheint dem Ref. ganz unpassend, 
da erst beim Gebrauch sich zeigen raufs , wo allenfalls noch er- 
gänzt oder verbessert werden mufs. Einzelne Irrthumer seheinen 



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5% Gctchinhtc. 

ihm in einem solchen Buche von keiner Bedeutung , wenn der 
Ton gut getroffen, der Faden gehalten, die Belehrung nach dem 
Bedürfnifs berechnet ist ; denn man sticht in einem solchen Werke 
mehr die historische Belehrung als Notizen, die man in andern 
zum Nachschlagen bestimmten Werken leichter findet. Ref. wünscht 
dem Buche recht viele Ausgaben, und hofft, dafs diejenigen, die 
sich besonders mit der Badischen Landesgeschichte abgeben, dem 
Verf. Berichtigungen und Bemerkungen zukommen lassen, am 
das nutzliche Buch zu vervollkommnen. Da das Buch nicht, wie 
das gewöhnlich unter uns geschieht, unter Protection, oder auf 
höhere Veranlassung , oder um Lugen und Schmeicheleien unter 
dem Namen von Geschichte zu verbreiten und sich dadurch zu 
empfehlen , fabrizirt worden , sondern vom Verfasser in einem 
unabhängigen Sinne geschrieben ist, so wäre es ungerecht, über 
manche Ürtheile und Ansichten zu rechten , ohne den ganzen Zu- 
sammenhang ausfuhrlich darzulegen , was hier nicht geschehen 
kann. 

Johann de Witt und seine Zeit, von P. Simons, übersetzt von Ferd. Heit- 
mann. Erfurt, Otto. 1836. Zweiter Theil. 241 S. 

Ref. kann nur wiederholen, was er bei der Anzeige des er- 
sten Theils bemerkt hatte, dafs er weit eher begreift, wie ein 
Holländer ein solches Buch auf seine Kosten konnte drucken las. 
sen, als wie ein deutscher Verleger eine deutsche Übersetzung 
für nutzlich halten konnte. Da das Buch übrigens ganz unschäd- 
lich ist und manche einzelne Notizen enthält, die gut gebraucht 
werden können, so ist es ganz erfreulich, dafs dergleichen Bü- 
cher ihr Publikum haben müssen , weil ein Buchhändler sich dar- 
auf einläfst, sie zu drucken. Wer an solcher Nüchternheit Ge- 
fallen hat, wurde etwas Tüchtigeres und Besseres gar nicht an- 
sehen, es ist daher nützlich und nothwendig, dafs mehr Bücher 
für die Schlafenden geschrieben werden, als für die Wachenden. 

Allgemeine Weltgeschichte für alle Stände, mit besonderer Rücksicht auf 
die Geschichte der Religionen , sowie auf das Bedürfnifs der gebildeten. 
Jugend beiderlei Geschlecltts bearbeitet und bis auf das Jahr 183.') fort- 
geführt von Ludwig Bauer, Professor am königl. Catharinenstifte. 
Stuttgart. Beiser. 

Von dieser in Heften von 6 bis 9 Bogen erschienenen Welt- 
geschichte hat der Ref. zwei Bände von etwa 1200 Seiten vor 
sich, welche die Geschichte bis auf die Zeiten der Kreuzzüge 
enthalten, er gesteht aber aufrichtig, dafs er mit den Bedürfnis- 
sen und der Bildung der Classen, welche der oder die VerfT. im 
Auge haben, viel zu wenig bekannt ist, als dafs er über dieses 
Buch und dessen Brauchbarkeit und Nutzen zu urtheilen wagen 
durfte; unschädlich ist es auf jeden Fall. Übrigens scheint ihm 
der Anfang, oder die ersten Hefte, eine viel passendere Beleh- 
rung über allerlei, was aus der Urzeit berichtet wird, als der 



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Geschichte 



zweite Band über das Mittelalter zu geben; aber die Verfasser 
des Bachs und dessen Käufer werden besser wissen , was ihnen 
nützlich ist, und wie sie belehren wollen und können oder auch 
wie sie belehrt sc vn wollen , als Ref. , der sich daher auch darauf 
beschrankt, die Erscheinung und den Fortgang der Hefte anzu- 
zeigen. 

*. 4 

Pctiklei als Staatsmann während der gefahrvollsten Zeit seines Wirkens» 
von Dr. J. A. Kutzen, Privatdocenten der Geschichte zu Ureslou. 
Grimma. Gebhardt. 1834. 202 $. 8. 

Das Buch enthält historische Betrachtungen des Verfs. über 
die Verwaltung des Perikles, gestutzt auf ein Studium des Thu- 
eydides und anderer griechischer Schriftsteller. Der Vf. beweist 
Gewandtheit, Leichtigkeit und Belesenheit, das ist Alles, was 
man von einer Probeschrift erwarten darf. Er hat S. 112 u. fg. 
Beilagen eingerückt, welche für seine philologischen Studien Zeug- 
nifs geben. Die Urtheile der Neuern über Perikles hätte der Vf. 
nicht abdrucken lassen sollen, weil jeder, welcher wissen will, 
was dieser und jener über eine Sache gesagt hat , gewifs auch 
die Bucher besitzt, die zum Nachschlagen nothig sind. Eine 
Nachweisung der Seitenzahl der vielen angeführten Bucher wäre 
daher hinreichend gewesen. 

Über moderne Literatur. In Brief eu 4in eine Dame von Gotthard Oi- 
wald Marbach. Zweite Sendung. Uörne , Weine. Leipzig 1836. 
S. 134 - & 201. 

9 

Wie diese Schrift unter die Bücher gekommen ist, die man 
ihm zur Anzeige, geschickt hat, weifs Bef. nicht, da er nicht 
Kritiken über Kritiken schreiben darf, von der Art moderner Li- 
teratur, von der hier die Bede ist, gar wenig weifs, und als al- 
ter Mann, der einer ganz andern Generation angehört, sich in 
die Streitigkeiten der neueren Generation um so weniger mischen 
mag, als er glaubt, dafs die jungem Herren es dem Theile des 
Publikums, welcher allenfalls nach des Bef. Unheil fragen oder 
eine Bedeutung darauf legen könnte, ungemein leicht machen, 
sich selbst ein Urtheil zu bilden. Diese Art Schriften lassen sich 
ja alle in einer halben Stunde lesen. So wenig Bef. übrigens 
Börne s Heftigkeit , seine ganze Manier , seine einseitige Bitterkeit 
billigen kann , so sehr ihn neulich die Ausfälle des Verstorbenen 
auf Luther und die Beformation, deren Bedeutung er und Witz- 
lioge seiner Gattung zu würdigen nicht im Stande sind, geärgert 
haben, so mufs er dennoch gestehen , dafs es ihm lächerlich 
scheint, mit jemand zu streiten, der sich nicht vertheidigen kann 
oder darf. Ob es klug war, Börne und Heine . zu achten und 
ihre Schriften zu verbieten, will Bef., da die Sache einmal von 
Leuten geschehen ist, die, wie es heifst, stets sehr besorgt um 
onser Seelenheil waren , nicht untersuchen , ei hält es aber für 
ungerecht, mit ihnen zu disputiren, oder sie zu schimpfen, wenn 



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598 



(««•clikhtc 



man gewifs ist, daff sich niemand ihrer annehmen darf. Gestor- 
ben war wahrscheinlich Borne noch nicht, als dieses Buch ge- 
druckt wurde. Übrigens wird Menzel i .»st eben so hart angegrif- 
fen als Borne. In den letzten Abschnitten ist die Rede von He- 
gels and Gothe 's Pantheismus. Davon sollte man in dergleichen 
Schrillen nach Ref. Meinung gar nicht reden, das gehört ganz 
allein für die esoterische Schule. Das, was man Pantheismus 
nennt, als poetische Idee oder Resultat tiefer Speculalion, Ifegt 
ganz ausserhalb der Sphäre der eleganten Welt. Es behauptet 
in der Contemplation , Mystik und selbst in der Theologie einen 
so würdigen Platz, dafs sich, wie jeder weiCs, sehr oft Calvin 
und Spinoza begegnen, oder Fichte und Jakob B5hm zusammen- 
treffen , oder Bonaventura und Av+cenna einig werden. Von der 
Speculation und aus der Tiefe an die Oberfläche von Pamphlets 
und Zeitungen für Damen gebracht wird die stärkende Nahrung 
der Denkenden und Weisen für die sich beim Thee Unterhalten- 
den tödtliches Gift. - 

thstorheke Schriften «tu dem rtachlaf* von Dr. F. H Gr an f ff, Prof. 
und Bibliothekar in Lübeck. Lübeck 1Ä36. Iter Th. 388 & 2t er Th. 
430 S. fiter TA.~456 A in 8. 

Den Inhalt dieser Bände bilden eine Anzahl Arbeiten, die ent- 
weder schon früher gedruckt, oder vorgelesen, oder als Vor- 
lesungen vorgetragen , den Beifall eines engeren Kreises erhalten 
hatten , die Kritik hat ihr Recht daran verloren und die Über* 
Schriften der einzelnen Aufsätze deuten hinreichend an, was man 
findet und in welcher Form es gegeben ist; Ref. will sich also 
begnügen, die in den drei Bänden enthaltenen Aufsätze einzeln 
anzuführen. Dio Herausgeber seihst haben übrigens in der Vor- 
rede hinreichend angedeutet, dafs der eigentlich historische Werth 
dieser Schriften weniger bedeutend ist, als ihre Popularität, Leich- 
tigkeit und auf nutzliche Unterhaltung berechnete Form. Der 
erste Aufsatz des ersten Bandes bandelt von den Besitzungen der 
Slaven im nordlichen Deutschland, fr eilich nicht gelehrt und for- 
schend, sondern nur obenbin streifend und im Allgemeinen ver- 
weilend. Am Ende werden ganz summarisch aus den bekannten 
Büchern die Notizen über die Schicksale der Wenden bis zum 
Untergange ihres Reichs mitgetheilt, wie man sie in einer Vor- 
lesung geben wurde. Dann folgt ein Beitrag zur Geschichte 
Heinrichs des Ersten von Mecklenburg; dann drittens ein Auf- 
satz , der uns mehr als die beiden andern angezogen hat und eine 
dem Verfasser eigene Untersuchung enthält. Dieser Aufsatz ist 
überschrieben ; Die Verlegung des Bischofssitzes von Oldenburg 
nach Lübeck, eine historisch. chronologische Untersuchung. Dann 
folgt in einem etwas ausfuhrlicheren Aufsatz« die Nachweisung, 
wie Lübeck zum Besitze von Travemünde kam. Der fünfte Atif- 
satz: Wanderungen durch Lübecks Gassen im i.jten und i5ten 
Jahrhundert, mag den Lübeckern der Gesellschaft zur Bcförde- 



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rung nutzlicher Thätighcit , denen er im Januar i83a vorgelesen 
ward, sehr gut gefairen haben, die Herausgeber hätten ihn jedoch 
liier nicht wieder abdrucken lassen sollen, wenigstens nicht in der 
Fot« , 4'w er hier hat. Von grofserem Interesse und reicher an 
Notizen, die der Verf. zuerst ans Licht gezogen, sind die drei 
Aufsätze, die den Band beschliefsen : Über den Zustand und die 
Verfassung der Kirchen in Lübeck , sowohl vor als kurz nach der 
Zeit der Reformation , nebst zwei schätzbaren Originaldocumen- 
ten in plattdeutscher Sprache von i53o und 1 53?.. Dann über 
die ehemals in Lübeck bestandenen Vikarien, als Anhang dazu, 
die Stiftungsurkunde über die Bergen fahrer Vikarie zu St. Marien 
1401. Endlich: Abhandlang über den Zustand der öffentlichen 
Lnterrichtsanstalten in Lübeck vor der Reformation der Kirche. 
Als Anbang dazu, Bischotis und Kapitels zu Lübeck Zusicherung 
wegen eines bei der Jakobikirche angelegten zur Schule gehöri- 
gen Gebäudes i34o. Den grofsten Theil des zweiten Bandes 8. 
1 — 266 nehmen die vier Vorlesungen über die Lubecksche Re- 
formationsgeschichte ein; die drei folgenden Aufsätze Nr. X. XL 
XU. hätten, nachdem Lappenbergs Ausgabe des Sartorius erschie- 
nen ist , ganz wegbleiben qiüssen , das scheinen die Herausgeber 
in der Vorrede selbst andeuten zu wollen. Den SchluPs des Ban- 
des machen die Erörterungen und Anfragen in Beziehung auf ein 
altes Privilegium , welches die Stadt Lübeck zur Anlegung einer 
Messe befugt. Dazu gehurt als Anhang der Abdruck der von 
Dreyer gemachten Copie des Privilegiums Friedrichs 11. zur An- 
legung einer Messe in Lübeck, ertheilt 1236 im Lager bei Augs- 
burg. Der ganze dritte Band von S. 1 — 3i6 handelt von Mün- 
zen und Münzgescbichte , wovon Ref. auch nicht das Geringste 
versteht. Die Herausgeber sagen, der verstorbene Verfasser habe 
diese Materie in acht Abschnitten vollständig erschöpfen wollen, 
er habe aber nur drei derselben ausgearbeitet. Von dem i8ten 
Aufsatz, über die älteste gedruckte Chronik der Stadt und des 
Bisthuras Lübeck oder, das Chronicon Slavicuni in Lindenbergs 
Sammlung norddeutscher Geschichtschreiber, gestehen die Her- 
ausgeber selbst ein, dafs er sehr unvollkommen ist, und dafs er 
besser ganz weggeblieben wäre. Dasselbe gilt von den beiden 
letzten Stücken des dritten Bandes, die, wenn sie auch vielleicht 
mehr Leser linden sollten als alle andere Aufsäte dieser Samm- 
lung, doch gewifs nicht in diese gehörten. Man hätte sie beson- 
ders herausgeben können. Der erste Aufsatz^ oder vielmehr Zei- 
tungsartikel, über Johann Ballhorn und Conrad von Hovein, füllt 
nur ein Paar Blätter , der zweite nimmt volle hundert Seiten ein. 
Dieser Aufsatz, Kriegsbegebenheiten in und um Leipzig im Sep- 
tember und October i8i3, so wenig er gerade in diese Samm- 
lung gehurt, enthält als Bericht eines Augenzeugen manches Un- 
terbaltende ; Belehrendes haben wir nicht darin gefunden , da der 
Verf. nur im Sinne der Menge redet und auf dem Standpunkte 
eines blofsen Zuschauers steht. 



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I' . u ,.|,;, |,.„ 



Wetzlarschc lleiträge für Geschichte und llechlsaltet thtimer , herausgegeben 
von Dr. Paul Wigand. Krstc» Heft. Metzlar 1836. 92 S. 

Der Verf. verspricht die Fortsetzung dieses Werks in zwang- 
losen Heften zu sechs Bogen, vier Hefte sollen einen Band bil- 
den. Ref. findet dieses erste Heft so nutzlich und brauchbar, 
dafs er aufrichtig die Fortsetzung wünscht und hofft, da der In- 
halt nicht nur unterhaltend und belehrend, sondern auch unmit- 
telbar aus den Quellen geschöpft ist. Den grofsten Baum in die- 
sem Hefte nehmen die aus den Acten des Beichskammergerichts 
gezogenen Falle über den letzten Kampf der sogenannten wett- 
phälischen Femgerichte mit den eigentlichen Beichsgcrichten ein. 
Herr Dr. Wigand hat bekanntlich um 1825 in Hamm einen star- 
ken Octavband über das Femgericht Westphalens heraus- 
gegeben, Bcf. glaubt daher seinen Lesern nutzlich zu seyn, wenn 
er hier die beiden ersten Seiten des vor ihm liegenden Hefts ab- 
drucken lnfst, weil auf denselben das Besultat der mühsamen Sta- 
dien der einzelnen Fülle ganz vortrefflich zusammengefafst , und 
eine recht deutliche Vorstellung gegeben wird , wie die Deutschen 
aus der Scylla der Fem in die Chatybdis schreibender deutsch- 
römischer Justiz gefallen sind. Der Verf. schreibt: 

Bekanntlich waren zuerst die Freigerichte unmittelbare Land- 
gerichte, die sich, während der Bildung der Territorialgewalt, 
bei den besondern Zuständen Westphalens als kaiserliche Gerichte 
über die unmittelbaren Freien des Landes erhalten hatten, und 
in dieser Beziehung noch kaiserliche Freigrafschaften im Ge- 
gensatz der an die Landesherren ubergehenden Gografschal ten 
bildeten. So wie hier bei der siegenden Gewalt der Landeshoheit 
ihr Gcrichtsbezirk und ihre Competenz sich immer verengte, 
hatten sie dieselbe auf der andern Seite 7 durch die angemaßte 
Gewalt .kaiserlicher Landgerichte und durch den sich bil- 
denden Freischöffenbund, zur Handhabung strenger Rechts- 
pflege in peinlichen Sachen, über ganz Deutschland extendirt, 
und sich zur furchtbarsten Macht emporgehoben, der erst durch 
kaiserliche Reformationen, Privilegien und Gegenbündnisse 
Schranken gesetzt wurden , die aber mit einer geänderten Ver- 
fassung, Bildung und Zeit, sowie mit einer neuen peinlichen Ge- 
setzgebung, mit Constituirung eines höchsten Reichsgerichtshofes 
allmählig ganz weichen mufsten. 

Hiegegen kämpf ten die Freigrafen seit dem fünfzehnten Jahr- 
hundert mit immer schwächer werdenden Kräften, während man 
ihnen im Umfang ihres alten Landgerichtsbezirks (Freigrafschaft) 
dasjenige nirgend streitig machte, was sich in ihrer Competenz , 
der siegi eichen Gewalt der landesherrlichen Gerichte gegenüber, 
herkömmlich erhalten und in die neue Zeit übertragen hatte. 

Dafs für die Geschichte des letzten Auftretens dieses, mit 
YYuth verlbeidigten Überbleibsels veralteter Zeit, dieses, aus 
dunkler anarchischer Epoche des Mittelalters herrührenden Insti- 
tuts, sich io den Acten des Beichskammergerichts manches Be- 



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Gc-acltichte. 



«Ol 



lehrende finden würde, habe ich bereits im Archiv für die Ge- 
schichte Westphalens (VI. S. 36/i) angedeutet und dort auch Ei- 
niges mitgetheilt. 

Ich glaubte den Freunden der geschichtlichen Vorzeit aber 
einen Gefallen zu erzeigen, indem ich die trockne und schwierige 
Lecture der alten Kammergerichts- Acten fortsetzte; und ich gebe 
hier noch einige Auszüge und Resultate als Beitrag zur Geschichte 
der Femgerichte. 

1) Die Ansicht, dafs die Femgerichte gesetzlich, und von 
Kaiser und Reichswegen aufgehoben worden seyen , bedarf 
keiner Widerlegung. Wie man auch ihnen entgegenhämpfte , ihre 
Wirksamkeit uberall bestritt und sie abzuschneiden wufstc , so 
betrachtete sie doch das Hammergericht immerfort als bestehende, 
verfassungsmässig begründete Gerichte, und gab die Möglichkeit 
des Einschreitens ihrer Competenz noch zu. Da sie aber nie ei- 
gentliche Gerichte höherer Instanz gebildet hatten, und das Hain- 
mergericht jetzt für das Reich das neu constituirte Gericht der 
Berufung war, und da auf der andern Seite die neue Ordnung 
in der Gerichts vei Fassung und Territorialregierung die Evocatio- 
nen wegen verweigerter Rechtspflege, die im Mittelalter so häufig 
gewesen wareo, nach und nach unmöglich machte , in den eignen 
Gerichtbezirken aber durch die Erhebung und Anwendung der 
landesherrlichen Gerichte , den Freigerichten fast gar kein Fall 
der Gewalt und Wirksamkeit übrig blieb, so hörten sie allmählig 
ganz auf, oder gingen mit den Überbleibseln veralteter Formen 
in blofse Rügegerichte über. 2) Das Reichskammergericht stellte 
sich naturlich gleich anfangs, als gesetzlicher, geordneter , kaiser- 
licher Gerichtshof, in welchem die neue Jurisprudenz bald Ein- 
gang fand, feindselig jenen Freigericbten gegenüber und wider- 
strebte ebenso ihren veralteten Formen, als ihrem Trotz und 
Festhalten an dem ererbten Herkommen. 

Dafs Anfangs aber noch der Zustand dieses Gerichts höchst 
kläglich, seine Autorität sehr gering war, geht aus den Acten 
klar hervor. Zugleich kann man nicht ohne ein Lächeln bemer- 
ken, wie dieses schreibende Collegium sofort die Verschleppung, 
Langsamkeit und Weitläufigkeit gleichsam bei der Installation als 
Mitgabe erhalten zu haben scheint. Von allen hier mitgetheilten 
Sachen wurde keine einzige final entschieden. Das Recht ging 
in der Weitläufigkeit der Formen und in den juristischen Bedenk- 
lichkeiten unter. Nicht sowohl das Hammergericht vernichtete 
daher die Gewalt der Freigerichte , als die geänderte Zeit , die 
neue Verfassung, und die weitschweifigen Rechtsformen, die so- 
wohl die Partheien als die Richter allmählig zahm und nachgiebig 
machten. 3) Die unvermeidlichen Zwischenzustände, die sich im 
Obergang aus der alten Zeit in die neue überall zu Tage legten, 
brachten freilich noch manche Verwirrung, Unsicherheit, Gewalt 
und Beschwerde hervor. Im Conflict der alten und neuen Ge- 
richte ging Mancher rechtlos aus , und wir vernehmen auch hier 
manche Beschwerde über Ungerechtigkeit, Partheil ich Ii ei t und 



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Verzögerung der Justiz; bemerken zugleich eine Sehnsucht 
der alten, volksmäfsigen , schnellen Rechtspflege. Doch erkennen 
wir nicht minder in unsern Actenauszugen eigensinnige Hecht, 
haber, Querulanten und unruhige Kopfe , denen die alte Acbts- 
erklarung der Feme ein freies Feld zu Gewalttätigkeiten eröff- 
nete , wobei sie aber bald mit dem Gesetz des ewigen Landfrie- 
dens in Cooflict geriet hei». Auf der andern Seite glaubten - auch 
in einer ganz geänderten Zeit doch viele im Volh noch an die 
untrügliche Macht der Femgerichte, wie man an Wunderkureir 
und Zaubergeschichten glaubt. Sie waren noch eine Zeitlang ein 
gefürchtetes Institut, wie auch schon ihre Wirksamkeit ohne Er- 
folg blieb, und ihre Bannformeln nur hohle Worte waren. 

Nach dieser Einleitung , die Rei. ausdrücklich vollständig ab- 
drucken lafst , um die Verbreitung der Zeitschrift zu befördern 
und zu empfehlen, folgen Ton S. 4 — 47 die tehr passend und 
mit den Worten der Urkundeo ganz kurz aus den Acten gezo- 
genen vierzehn Bechtsfalle von i5ia — 1 5-3 , die wir besonders 
darum den Freunden der deutschen Geschichte, welche nicht 
Rechtsgelehrte sind , empfehlen , weil der Verf. sich die Mühe 
gegeben hat , mit Weglassung aller unwesentlichen Dinge aus den 
Acten nur die kurzen Stellen auszuheben, die wirklich bedeu- 
tend sind. 

Den übrigen Theii dieses Hefts füllt eine Untersuchung über 
den Ursprung der Stadt Wetzlar S. 48 — 65. Dann folgen einige 
Auszuge aus den Necrologieo und Heberollen des Set. Marienstifts 
zu Wetzlar S. 65 — 78. Dann folgt S. 79 — 88 ein recht anzie- 
hendes Document, nämlich die Wisunge ubber das Landgericht 
zu Mechtelnhusen 1476, aus einer gleichzeitig geschriebenen 
Sammlung vor« nusthumorn, woraus Herr Dr. Wigand künftig 
noch interessante Dorfweuthumer mitzutheilen verspricht. Die 
letzten Blätter lullt eine antiquarische Untersuchung, ob der 
Thurm auf dem Halsmunt romisch sey. 

Über die 

* 

Materialien zu einer Geechichte der Landgüter Livlands , gesammelt von 
Heinrieh von Hagcmciitejr , rata. kais. Hofrathe , Ritter mehrer 
Orden, Erbherm zu Alt- Drostenhof. Riga, Frantzen» Buchhandlung ■. 
lr Theil. 1888. 292 .V. 

weifs Hei. nichts zu sagen , da das Buch ein blos locales und 
allenfalls ein allgemeines Staats wirtschaftliches Interesse hat; da- 
gegen kann er nicht verbergen , dafs er mit Vergnügen bemerkt, 
wie lebhaft der Antheil ist, den der Adel der Ostseeprovinzen, 
trotz so vieler Hindernisse von Seiten Rufslands, an der deut- 
schen Wissenschaft nimmt. Wie viel ist nicht dort für die Be- 
kanntmachung historischer Urkunden und Chroniken geschehen ! 
Unsere vorzuglichen Schriftsteller im belletristischen Fach finden 
dort besonders ihr Publikum , und wie wir am Beispiele des Vfs. 
und sehr vieler grofien Güterbesitzer von Livland und Cur Und 



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Geschichte. 



(MS 



und Estbland nachweisen könnten , sogar auf ihren Gütern suchen 
diese Herren Erholung und Beschäftigung in der Wissenschaft. 
Das können wir von dem Adel der eigentlich deutschen Provin- 
zen nicht mit eben dem Rechte rühmen , wenn nämlich nicht von 
seichter Leserei , sondern von ernsten Studien die Bede ist. Wie 
worden aber auch die Leute gewöhnlich erzogen, oder vielmehr 
dressirt, worin und auf welche Weise werden sie unterrichtet! 
Welche Ansichten werden in unsern Stände versammjungen eis 
Weisheit gepriesen!! 

Neuere Geschichte der Deutschen von der Reformation bis zur Bundesact» , 

von Karl Adolf Mensel, königl. preufe. Schul' u. Consistorialrath. 

Sechster Band. Die Zeiten de» Kaiser Matthiaa und Ferdinand II. bis 

zur Schlacht auf dem weifsen Berge. 

Auch unter dem Titel : 
Geschichte des dreißig jährigen Krieges in Deutschland. Krster Band. 

Breslau, Druck und Verlag von Grafs, Barth u. Comp. 1885. 502 & 8. 

Bef. will sich begnügen, weil ihm aufgetragen wird, dieses 
Buch anzuzeigen , blos zu bemerken , dafs es erschienen ist ; er 
beholt sich eine ausfuhrliche Anzeige dieses und besonders des 
folgenden Bandes vor, weil er dem Herrn Gfrorer in Stuttgart 
versprochen bat, sobald eine Beihe sehr dringender Arbeiten be- 
endigt sevn wird , eine ausführliche Anzeige von des Herrn Gfrö- 
rers neuestem ungemein schätzbaren Werk auszuarbeiten. Diese 
Anzeige will er dann mit einer Anzeige der neuesten Bände von 
Menzels Geschichte verbinden. Er sieht übrigens mit Bedauern, 
dafs auch Menzels Werk , mit einer furchtbaren Zahl von Bänden 
drohend, wie sehr viele ähnliche Bücher, unstreitig dazu beitra- 

5en wird , dafs unsere Landsleute , von lästiger Gründlichkeit und 
usfuhrlichkeit ihrer tüchtigen und fähigen Schriftsteller ge- 
schreckt, zu den erbärmlichen Prodacten ihre Zuflucht nehmen, 
die* wir jetzt in allen Händen sehen. Den Titel von Herrn G fro- 
rers Werk wollen wir hier sogleich als Notiz für di« Leser der 
Jahrbucher beifügen : 

Geschichte Gustav Adolphs, Königs von Schweden, und seiner Zeit i für 
Leser aus allen Ständen bearbeitet von Professor A. F. Gfrorer, Bi- 
bliothekar zu Stuttgart. Mit 7 Portrait», 3 Abbildungen und l Holz- 
schnitt, nach Originalzeichnungen von Dr. Fellner und Andern. Stutt- 
gart und Leipzig, bei Rieger f Comp 1887. 1048 A\ gr. 8. 



Auch eine neue Arbeit eines unserer schätzbarsten Geschichts- 
forscher, des Prof. Aschbach zu Prankfurt a. M. , kann Bef., 
durch anderweitige Geschäfte gehindert, nicht so ausfuhrlich an- 
zeigen, als die schätzbare Arbeit angezeigt zu werden verdient. 
Er will daher hier nur eine vorläufige Kunde von der Erschei- 
nung des Buches geben, um zu einer andern Zeit ausführlicher 
auf das Einzelne des Inhalts eingehen zu können. Er erfährt mit 

r 



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«04 Geschichte. 

Vergnügen, dafs unter die deutschen Werke, welche, wie z. B. 
Pfisters Geschichte von Deutschland mit Unterstützung der fran- 
zosischen Regierung übersetzt werden, auch die treulichen For- 
schungen Aschbachs über die Geschichte der Mauren in Spanien 
aufgenommen worden. Herr Aschbach hatte nämlich bekanntlich 
zuerst die Geschichte des westgothischen Reichs in Spanien gründ- 
lich Und ausführlich behandelt, dann zwei Bande, Geschichte der 
Ommai jaden in Spanien, folgen lassen; im Jahre i833 erschien 
' der erste Band der Geschichte Spaniens und Portugalls zur Zeit 
der Herrschaft der Almoraviden und Almohaden , und endlich in 
diesem Jahr die 

Geschichte Spaniern und Portugalls zur Zeit der Herrschaft der Almora* 
viden und Almohaden, von Dr. Joseph Aschbach , Prof. zu Frank- 
furt a. M. Zweiter Theil. Die Geschichte der Almohaden und der 
christlichen Pentarchie auf der pyrendischen Halbinsel. Frankfurt a. M. 
1837. 356 & g. 

Ref. hatte gehofft , der Verf. würde die Spanische Geschichte 
wenigstens bis auf die Zeit der volligen Vertreibung der Mauren 
und bis auf die Eroberung von Granada herabführen ; es scheint 
aber dazu wenig Aussicht, da er erfahrt, dafs Herr Aschbach mit 
der Ausarbeitung einer sehr ausführlichen Geschichte der Regie- 
rung des Baisers Siegmund beschäftigt ist , und aus den Frank- 
furter Archiven Vieles bisher Ungedruckte und Unbekannte ge- 
zogen hat und ans Licht bringen wird. 

Aus Dänemark ist Ref. durch die Güte des Professors der 
deutschen Literatur in Soroe , den er vor vielen Jahren manch- 
mal in Daubs Gesellschaft getroffen hatte, eine gelehrte Arbeit 
eines Danen zugekommen, deren Titel er hier mittheilen will, 
theils weil damit vielleicht dem Verfasser und dem gütigen Über, 
sender ein Gefallen geschieht, theils weil er sich freut, dafs ein 
so ungemein wichtiger Gegenstand aufs neue ganz ausführlich 
und aus den Quellen behandelt wird. Auf eine Beurtheilung darf 
er sich nicht einlassen, da er seinen beiden Collegen , die alle 
beide gerade in diesem Fache Meister sind, nicht ins Amt fallen 
darf, sondern es ihnen überlassen mufs, ob sie vielleicht das Buch 
genauer durchsehen und dem Publikum ihre Beurtheilung mittbei- 
len wollen. Der Titel des Werks ist: 

Caspari Frederici H'egener. D. De Aula Atlalica. Littcrarum artiumque 
fautrice libri sex. Vol. I. Havnioe apud C. A. Reitzel. 1836. 293 p. 

Ref. fühlt sich den Philologen, die dergleichen einzelne Ma- 
terien gründlich und gelehrt, aber zugleich klar und ohne die 
unerträgliche Anmafsung, welche man an vielen desselben wahr- 
nimmt, behandeln, um so mehr verbunden, als es unmöglich ist, 
in der allgemeinen Geschichte ohne dergleichen Vorarbeiten ei- 
nen sichern Schritt zu thun. Es ist bei weitem leichter, dem 



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Geichichte. 



Publicum zu genügen, als «ich selbst, und leichter eineu Ruf 
und einen Ruhm zu erwerben, als ein wahres und sicheres Ver- 
dienst. Wie wichtig die Zeit und der Gegenstand, den der Vf. 
ausführlich und gelehrt behandelt, sowohl an und für sich als 
in Beziehung auf die Geschichte der Lagiden in Ägypten, auf die 
der Römer und in Rücksicht auf den spatern Zustand von Klein- 
asien ist, darf dem Publicum, für welches Herr Wegenerschreibt, 
nicht eist gesagt werden. 

Zum Beweise, dafs die von Perthes veranstaltete Sammlung 
der unter Ukerts und Heerens Leitung erscheinenden Staatsge- 
sebichten rasch fortschreitet, bemerkt Ref., dafs 

der zweite Band der Geschichte des österreichischen Kaiserstaats von Jo- 
hann Grafen Mailäth 

in diesem Jahre erschienen ist. 

Der gründlich gelehrte, uneigennützige, unermüdlich arbeit- 
same und biedere Staatsarchivar von Luzern , Herr Ludwig Kel- 
ler, hat dem Ref. schon vor längerer Zeit eine unter seiner Auf- 
sicht gemachte Arbeit zugeschickt , die Ref. darum hier anzeigen 
will , weil er durch den Abdruck einer beigefügten gedruckten 
Erklärung des Herrn Keller beweisen kann , dafs man in Demo- 
kratien auf literarische Verdienste und auf einen uneigennützigen 
Eifer für Verbreitung und Beförderung der Literatur keinen be- 
deutenden Werth legt. Herr Keller verwaltete neben seinem 
Archivariat das Amt eines Bibliothekars mit grofser Uneigen« 
nützigkeit und mit einem rühmlichen Eifer, man hätte ihm daher 
zu Gute halten sollen, wenn er vielleicht auch etwas zu fest auf 
seine Meinung bestanden wäre, statt dessen veranlafste man ihn, 
seine Stelle niederzulegen, obgleich er allein durch grofse Aus- 
dauer und Zeitaufopferung das nützliche Verzeichnifs der Can- 
tonsbibliotheh zu Stande gebracht hatte: 

Bücherverzeichnifs der Cajttons- Bibliothek in Luzern. Ir Band 39? Seiten, 
2ter Hd. 475 & Zter Bd. 200 S. Luzern 1835 - 1836. 

Man wird schon aus den Seitenzahlen sehen, dafs diese Bi- 
bliothek nicht unbedeutend ist. Das Verzeichnifs begreift auch 
die nicht gerade merkwürdigen Handschriften ; es macht aber ei- 
ner Stadt von 7 — 8000 Einwohnern nicht wenig Ehre, dafs sie 
in Besitz so reicher literarischer Hülfsmittel ist, die durch dies 
gedruckte Verzeichnifs erst recht brauchbar werden , weil jetzt 
der Freund der Literatur ganz sicher weifs , was er in seiner 
öffentlichen Bibliothek finden kann und was er sich selbst an- 
schaffen mufs. Herr Keller giebt in einer dem ersten Theile vor- 
gesetzten Einleitung die Geschichte der allmähligen Bildung die- 
ser zuerst von den Jesuiten gegründeten, dann durch den Ankauf 
der Privatbibliothek des Grofsraths Anton Balthasar vermehrten 



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Gewhichtf. 



Sammlung. Durch die Bibliothek des Herrn Balthasar ward be- 
sonders tCiv das Bcdörfnifs des grölsern Publicum* gesorgt, wel- 
ches jetzt wahrscheinlich nicht sehr bedauern wird, dafs die Bi- 
bliotheken der Franziskaner, der Kapuziner, der Cisterzienser, 
die man bekanntlich neben den Waldbrudern u. s. w. noch immer 
im Cnnton Lu/ern findet, ihm nicht zugänglich sind. Der Streit 
mit dem Bibliothekar entstand übrigens gerade über den theo- 
logischen Theil dieses Verzeichnisses, besonders wegen der An- 
dachtsbücher und ascetischen Schriften. Wir wollen, ohne uns 
eine Entscheidung anzumafsen, die gedruckte Erklärung des Herrn 
Staatsarchivars als einen Beitrag zur Geschichte literarischer In- 
stitute hier abdrucken lassen. Herr Keller erklärt sich unter dem 
a3sten Juli i836 folgendermaßen : 

Die Grundlage der Cantonsbibliothek bildet vorzuglich die 
ehemalige Jesuitenbibliotbek , daher sie reich an der altem Lite- 
ratur der Theologie ist. Ohne dafs sich die Bibliotbekseommission 
in die Abfassung und den von der Regierung angeordneten Druck 
des Catalogs einmischte, da das Reglement einfach sagte: »der 
ReeJcatalog solle gedruckt werden«, wurde bisher der ganze Ca- 
talog abgedruckt. Beim ascetischen Fache mischte sich die Com- 
mission auf einmal ein und meinte, man dürfe hier eine Ausnahme 
machen, es Seyen auch gar zu viele. Es wurden zwei Mitglieder, 
Professoren der Theologie, an der Spitze Herr Professor Chri- 
stopher Fuchs, beauftragt, eine Auswahl zu treffen. Schon ge- 
gen einen unvollständigen Abdruck in diesem einzelnen Fache 
machte ich meine Einwendungen , und noch vielmehr gegen eine • 
solche Auswahl, wie sie vot liegt (bei unserm Exemplar finden 
wir die Blätter 417—470 mit der Censur , die allerdings sender- 
bar ist, beigelegt), die ohne Grundsätze, ohne die geringste Un- 
tersuchung des inner n Gehalts, blos nach Lesung des Titels un- 
ternommen wurde und alle bibliographische Kritik mit Fufsen trat, 
und wo selbst Luzerneriscbe Producte, die gewifs in einer öf- 
fentlichen Landesbibliothek Platz verdienen, gestrichen wurden. 
Ich wandte mich an die Regierung, die das Bibliotkekreglement 
erlassen hatte, und verlangte eine Bestimmung, ob der Catalog 
▼ollständig oder mit Auswahl gedruckt werden sollte; diese wies 
die Sache an den Erziehungsrath , in welchem drei Mitglieder der 
Bibliothehscom mission, und unter diesen Herr Fuchs selbst, sich 
befinden, nod diese Behörde, die also ziemlich befangen war und 
zur Hälfte in eigner Sache richtete, genehmigte, ohne meine 
Frage zu erörtern oder hei der Regierung auf die nähere Be- 
stimmung des Artikels anzutragen, und ohne eof die Erklärung 
von i3 Professoren und Lehrern und einige« der gebildetsten 
Geistlichen zu achten , welche den vollständigen Abdruck ver- 
langten , um selbst das Beliebige auszuwählen , da sie den Herrn 
Fuchs nicht als competenten Richter in der Literatur anerkennen 
könnten, die Censur ihres Mitglieds. Ich verlangte meine Ent- 
lassung bei der Regierang , die nicht sogleich darauf einging, und 
man bewog mich , das gestellte Gesuch zurückzunehmen , was ich 



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Geschichte. 



«07 



auch tbat, mit der Erklärung verbunden, dafs ich wie btshin die 
Bibliothek nach den Regeln der Bibliothekswissenschaft verwalten 
werde, was man auch annahm, and so tief« ich das Fach denn 
geroaTs Reglement abdrucken. Nun aber klagte die Commission 
und der Erziehungsrath (was bei dessen Zusammensetzung be- 
greiflich), ich hatte mich gegen sie opponirt und ihre Weisung 
ausser Acht gesetzt, konnte also, als mit der Commissi«*) in Op- 
position stehend , nicht mehr an der Stelle belassen werden ; und 
die Regierung , ohne meinen Bericht hierüber zu verlangen, ohne 
zu vernehmen, worin diese Opposition bestehe, gab mir unter 
'lern Vor wände wegen obwaltender Anstände mit der Commission 
die Entlassung, jedoch mit Verdankung meiner Dienstleistungen 
für die Bibliothek. Diese Entlassung aber wurde verzögert bis 
der Catalog vollendet war. 

Ober die Hetvctier und ihr Verhältnif* zu einer älteren Bevölkerung der 
Sehweit, nebtt einigen Worten über Volker Wanderungen und über die 
Sueven. Eine akademische Amtsrede von Friedrich Brömcl, Prof. 
der Geschichte zu Basel. Basel 183«. 36 S. 

Man wird in einer Rectoratsrede , vor einer gemischten Ver- 
sammlung gehalten, keine neuen Entdeckungen und Bemerkun- 
gen , auf sechs und dreifsig Seiten keine gelehrten Untersuchun- 
gen , über die auf dein Titel bemerkten sehr wichtigen und sehr 
schwierigen Punkte suchen, aber Herr Brümel beweiset, dafs er 
seiner Sache mächtig ist, die neuesten Schriften darüber kennt, 
und sie leicht und klar vorzutragen im Stande ist. Dieses letz- 
tere wird man in einer Stadt, wie Basel ist, besonders von einem 
Professor der Geschichte fordern, die Rede hat daher in jeder 
Rucksicht ihrem Zwecke entsprochen. 

Ein anderes Buch, welches Ref. schon über ein Jahr lang 
anzuzeigen versäumt hat, weil er es nicht wiederfinden konnte» 
wagt er nicht zu beurtheiien , da der Verf. seinen Gegenstand so 
gelehrt durchgeführt hat, dafs er ganze Bogen lullen mufste, wenn 
er mit ihm disputiren wollte. Ref. gesteht, dafs er von dem ger- 
manischen Erbadel und dessen Verhaltnissen ganz andere Begriffe 
hat, als der, wie es scheint, in Preufsen und Sachsen sehr be- 
liebte und begünstigte Verf., der mit freundlicher Rede hohen 
und niedern Adel, Erblichkeit der Lehn und das ganze Feudal- 
wesen im alten Deutschland und sogar in Norwegen findet Ref. 
ist allerdings überzeugt, dafs ein Unterschied der Geburt unter 
den alten Deutschen statt fand ; aber von diesen bis zum Feudal- 
adel ist ein unermefslicher Schritt. Ref. bedauert die Tendenz 
zum Ruckschreiten, zur Entfernung vom Volke, die sich uberall 
zeigt, und einmal gräfslichen Zwiespalt und grofse Verwirrung 
erzeugen wird, glaubt aber, dafs mit Widersprechen wenig aus- 
gerichtet ist, und hält es um so mehr für Pflicht, Theorien und 
Darstellungen, mit denen er nicht übereinstimmt, zur öffentlichen 



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Gctiluchte 



# 



Kenntnifs zu bringen, je weniger er, im hohem Alter stehend, 
einer Ansicht huldigen kann, die ihm von jeher fremd war, so 
gern er zugiebt , dafs er, wenn man die Stimmen zahlte, wahr- 
scheinlich die Mehrheit nicht für sich haben würde. Wer diese 
Worte versteht, wird ihn daher gewifs entschuldigen, wenn er,, 
um dem gutigen Verfasser Aufmerksamkeit mit Aufmerksamkeit 
zu er wieckrn, das Buch blos anzeigt: 

Über den germanischen Erbadel. Beitrag zur Geschichte de» Vrtprung» 
der Stände in Deutschland von Dr. Christian Thierbach, königl. 
Professor und Oberlehrer am vereinigten Gymnasium zu Erfurt , Mit- 
gliede der Akademie nützlicher Wissenschaften daselbst und Bitter de» 
rothen Adlerorden». Gotha 1836. 132 S. 8. 

Von der ins Englische übersetzten Chronik des Rabbi Joseph 
Ben Joshua, deren ersten Theil Ref. in diesen Blättern im vori- 
gen Jahre ausführlich angezeigt hatte, ist ihm der zweite Theil 
Zügekommen, und er bedauert sehr, dafs er nicht ausführlich die 
Nachrichten des gelehrten Juden durchgehen und die Ansichten 
desselben mit den christlichen der Katholiken und Protestanten 
des Zeitraums, der darin behandelt wird, vergleichen kann: 

The Chronicle» of .Rabbi Joseph Ren Joshua Ben Meir , The Sphardi. 
Translated from the Ihbrew by C. H. Uialloblotzky. Pol. II. London, 
printed for the Oriental Translation Fund of Great Britain and Ircland, 
»old by A. J. f'alpy AI. A Red Lion Court Fleet- Street MDCCCXXXl'I. 
526 p. 8. 

Dieser Band begreift die Zeitgeschichte des Verfassers i5i7 
— i554i a ' s ° Geschichte der wichtigsten Periode des sechs- 
zehnten Jahrhunderts. Die Ansichten und Betrachtungen des Rabbi 
müfste man übrigens vorzüglich berücksichtigen, wenn man die 
Chronik gebrauchen wollte, denn die mehrsten seiner Erzählun- 
gen sind nicht zuverlässiger oder genauer, als das, was er von 
der Entdeckung von America erzählt. Er sagt nämlich , nachdem 
er vorher manches gar Sonderbare von den spanischen und por- 
tugiesischen Seefahrten und von dem Menschenhandel, -den die 
Portugiesen damals trieben , vorgebracht hat , pag. 8 : Und der 
Name des Mannes, der dies Land entdeckte, war Americo, und 
man nannte es nach seinem Namen America; aher Peru und Klo- 
bikanah waren erst die Namen dieses Landes, und die Spanier 

nannten es die neue Welt bis auf diesen Tag Und sie 

fanden, heifst es weiter, dort auch Söhne Enaks (Riesen), gleich 
der Hohe der Cedern war ihre Hohe , und sie brachten einige 
derselben in Retten gefesselt nach Spanien, und die Spanier wa- 
ren vor ihren Augen wie die Heuschrecken. 

(Der Reschlufs folgt.) 



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N°.39. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Historische Literatur, 

( Be$chlufs.) 

Ein sehr merkwürdiges Document für die jüdische Geschichte 
füllt in diesem Bande über vierzig Seiten und enthält manches 
Anziehende. Oer Rabbi erzählt nämlich zuerst pag. 1/19: »Ein 
jüdischer Mann, dessen Name war David, kam aus einem entfern- 
ten Lande von Indien an den Hof des Honigs von Portugal! , und 
sprach zu ihm: leb bin ein Hebräer, und fürchte den Herrn, 
Gott von Himmel , und mein Bruder, der Honig der Juden, sandte 
mich zu dir, o Honig, um Hiilfe, und nun sey ein Helfer für 
uns und wir wollen in den Hrieg ziehen gegen Soliman, und wol- 
len das heilige Land aus seiner Hand nehmen. « Der Honig habe 
ihn begünstigt, er habe lange in Lissabon gewohnt, die zum 
Christenthuin gezwungenen Juden hätten an ihn geglaubt, er sey 
hernach durch Spanien und Frankreich nach Italien gereiset, habe 
Fahnen machen lassen und habe unter diesen Fahnen alle seine 
Landsieute zum Zuge nach Palästina vereinigen wollen. Dann 
fahrt Babbi Joseph weiter unten fort: Und es ging eine Buthc 
auf von Portugal l, ein Zweig aus der Wurzel von Israel, welches 
zerstreut war seit den Zeiten zerstörender Taufe, des Name war 
Salomo Molcho, und als dieser sah den Mann David, rührte der 
Herr sein Herz, und er kehrte zurück zum Herrn, dem Gott 
seiner Väter , .und er beschnitt das Fleisch seiner Vorhaut. Und 
er wufste nichts vom Gesetze des Herrn und von der heiligen 
Schrift in diesen Tagen , und es begab sich , als er beschnitten 
war, dafs der Herr Salomon Weisheit gab und er wurde weiser 
als alle Menschen in gar kurzer Zeit, und viele verwunderten 
sich über ihn , und er ging nach Italien und mit kühnem Antlitz 
sprach er vor den Königen und verbarg sein Antlitz nicht vor 
ihnen. Und er ging in die Türkei und kehrte nach Born zurück 
und sprach mit Clemens, der ihm Gnade widerfahren liefs gegen 
den Wunsch aller derer, die in seinem Bath safsen und Recht 
sprachen. Und er gab ihm einen geschriebenen Freibrief mit 
seinem Namen unterschrieben, dafs er wohnen dürfte wie es ge- 
fallig sey vor seinen Augen, und er benannte sich selbst mit dem 
Namen eines Israeliten, und er war weise in der Weisheit der 
Cabala und brachte hervor aus seinem Munde Worte der Gnade, 
die der Geist des Herrn in ihm sprach, und sein /Wort war be- 
ständig auf seiner Zunge, und er schöplte beständig aus dem tie- 
fen Brunnen der Cabala treffliche Worte, und er schrieb sie 
auf Tafeln ; aber diese habe ich noch nicht gesehen. 

XXX. Jahrg. 6. Heft. 39 ; 



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H10 Qcicnicntc. 

Dann wird gesagt, wie alle Welt ihn mit Rathsein versucht 

habe, wie er in Bologna gepredigt, wie er Alles gewufst und 
Viele gewonnen habe. Endlieh beiist es: Und gar Manche klei- 
deten sich in Neid gegen ihn; aber sie konnten kein Übles auf 
ihn bringen in Italien, denn er war beliebt vor den Augen der 
Edlen , und er vereinigte sich mit David und sie waren eins in 
jenen Tagen. Dann folgt von i5a — 189 das lange Schreiben Sa- 
lomons an die Rabbiner, welches mit der Zuschrift beginnt: 

Ihr grofsen Berge, ihr Säulen der Gefangenschaft, ihr, die 
ihr Wissenschaft kennt und Kenntnifs versteht, ihr, ein lieblich 
Gesicht vor den Augen dessen, der in der heiligen Wohnung 
verweilet, ihr, die ihr Macht habet zu stehen im Tempel des 
heiligen Honigs, und die ihr eingebunden seyd im Bundlein der 
siebenzig Gesichter des Baumes des Lebens der Gerechten, zu 
seyn ein starker Wall und ein hohes Bollwerk rund um die zer- 
störte Stadt (Zion>, dafs wir leben mochten um sie wieder er- 
baut zu sehen ! Mochte viel Frieden seyn um den Thron des 
Bönigs Messias. Diese (die Rabbinen) sind die Saat von Gott 
gesegnet vom Himmel. 

Der lange Brief enthalt sonderbare Visionen, den tragischen 
Schlufs der Geschichte macht die Verbrennung des Propheten. 
Rabbi Joseph ist jedoch so verständig, dafs er seufzend einge- 
stellt, er traue seinen Glaubensgenossen nicht ganz, wenn sie 
sagten, Salomon sey ganz unbeschädigt aus dem Feuer hervor* 
gegangen und acht Tage nachher lebendig und gesund in seinem 
Hause gesehen worden. Der Rabbi macht es, wie die ehrlichen 
Theologen unter uns, er sagt: Der allmächtige Gott allein weifs 
es. Ich wünschte zu Gott, ich konnte mit Gewifsheit und Auf- 
richtigkeit in einem Buche schreiben, ob diese Worte wahr sind, 
oder nicht. 

Die Beschreibung der Verbrennung und des von Salomon 
abgewiesenen Antrags der Bekehrung, welche ihm Carl V. thun 
liefs, beginnt unmittelbar hinter dem langen Schreiben, mit den 
folgenden Worten: 

Und Salomo wollte mit dem Kaiser reden wegen des Glau- 
bens, wie dieser recht gedeutet wurde, und er wandelte seinen 
Weg, als der Kaiser in Regensburg war, und sprach mit ihm 
dorten. Das Herz des Kaisers ward aber verhärtet und er hörte 
ihn nicht von Seufzen und Angst, und er liefs einen Befehl aus- 
gehen und man brachte Salomo ins Gefängnifs und seinen Freund 
Prinz David, und seine Leute und sie blieben darin viele Tage, 

Dann wird er in Ketten und Banden mit nach Mantua ge- 
führt, dort wird er öffentlich verbrannt. Sonderbar ist hier, wie 
auch in unsern Tagen, dafs dieselbigen mächtigen Leute, welche 
irrige Meinungen verfolgen oder durch Schaareo offizieller oder 
gedungener Schreier niederschreien lassen , die privilegirten Leh- 
rer , welche die Urheber des ihnen verbalsten Widerspruchs ver- 
bannen, einkerkern, verbrennen können und das auch niemals 



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Geschichte. s 611 



unterlassen , so wenig Zutrauen in die Starke ihrer eigenen Gründe 
«etzen , ond nichts mehr furchten , als die Wirkung des Worts 
der Verfolgten ond Verflochten. Auch hier wird der arme Salomo 
geknebelt oder, wie Rabbi Joseph sagt, mit einem Gebifs in Sei- 
nem Munde zum Tode gefuhrt. 

David kam davon, denn es heifst pag. 191 : und es ward 
niemsnd übrig gelassen bei dieser Vernichtung , als der edle Ru- 
benite, Salomo's Freund, Ond sie setzten eine Wache über ihn. 
Der Maiser zog nach Bologna und sie nahmen den ftubeniten mit 
ihm in einem Wagen mit Fesseln gebunden und nahmen ihn mit 
nach Spanien , ond er wohnte dort viele Tage und starb im Hause 
des Gefängnisses. 

Man wird aus dem Angeführten schon schliefsen können, dafs 
sich über Zustand und Schicksale der unglücklichen , überall ver- 
folgten Juden des i6ten Jahrhunderts, besonders über ihre Ver- 
hältnisse in Portugall, Spanien und Italien, viel aus diesem Bu- 
che lernen läTst. 



In dem Augenblick, als er diese Blätter geschrieben hatte, 
erhielt Ref. von seinem Freunde, dem Prof. Hitzig zu Zürich, 
eine gelehrte Abhandlung, deren Erscheinung er anzeigen will, 
weil Herr Prof. Hitzig darin über einige für die ganze christliche 
Zeitrechnung sehr wichtige Punkte ganz nehe Resultate heraus- 
gebracht hat. Ref. wagt jedoch nicht, dem gelehrten Orientalisten 
und Forscher in seinen Untersuchungen zu folgen, oder mit ihm 
in chronologische Einzelnheiten einzugehen, da er, wenn er der 
Resultate bedurft hat, immer einer oder der andern Auctorität 
gefolgt ist, ohne selbständige Prüfungen anzustellen; er begnügt 
sich daher mit einer blofsen Anzeige. Der Titel der Schrift ist: 

Ostern und Pfingsten. Zur Zeitbestimmung im Alten und Neuen Testament. 
Sendschreiben an Dr. Ludwig Ideler, königt. preufs Astronom, ordentl. 
Professor an der Universität zu Berlin, Mitglied der preufs. Akademie 
der Wissenschaften u. *. w. Heidelberg. Winter. 1831. 44 S. 8. 

Ref. will , um die Leser der Jahrbucher auf diö Veranlassung 
und auf das Resultat der gelehrten Arbeit des Herrn Prof. Hitzig 
aufmerksam zu machen, zwei Stellen hier abdrucken lassen. Was 
die Veranlassung angeht, so schreibt Herr Hitzig S. 3: 

Der Entscblufs zu diesem Schriftchen wurde gefafst, noch 
bevor die Synode des Cantons Zürich die Feier des Ostermon- 
tags aufzuheben decrelirt hatte, statt dessen, wie ich sehe, frei- 
lich der Ostermontag vielmehr abzuschaffen seyn wird. Auch 
dafs Ostern und Pfingsten heranrücken , ist nicht die Veranlas- 
sung, ant welcher, sondern nur die Gelegenheit, bei der ich 
schreibe. Der nächste Anlafs ist ein ganz geringfügiger, der mich 
aber besonders berührte. Während des Sommersemesters 1 i&K> 
entwickelte ich in Vorlesungen über die Offenbarung Johannis 



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bll Orientalische Literatur 

auch meine Meinung über die Zahl 666 , wie Herr Domkandidat 
K... M der gerade damals hospitirte, sieb erinnern wird, und nun 
finde ich im neuesten Hefte einer neuen Berliner Zeitschrift die- 
selbe Ansiebt von Benary als die Seinige aufgestellt. Ohne Zwei- 
fel hat dieser scharfsichtige Gelehrte selbständig sich des Gedan- 
kens bemächtigt, ohne Zweifel ist jene Ansicht seine Meinung; 
ebenso gewifs bleibt sie auch die Meinige. Und wenn ich eine 
meiner Ansichten gedruckt von Berlin empfing, so kommt es mir 
ar leicht zu Sinne, meine Meinung über das und jenes binwie- 
erum gedruckt nach Berlin zu senden. Und selbst den ganz 
unwahrscheinlichen Fall gesetzt, jener reisende Theologe hätte 
aus meinen Vorlesungen nach dem Ausdrucke des seligen Daub 
eine Weinprobe für andere holen wollen, so schadet es viel- 
leicht nichts, wenn ich durch die 1 hat meine Geneigtheit be- 
weise, selber auch unverlangt solche an Gerechte wie an Unge- 
rechte abzugeben. 

Die andere Stelle geht Pfingsten an, sie lautet S. 39: Ich 
beschränke mich auf eine theilweise Beleuchtung des sogenannten 
ersten christlichen Pfingst festes. Sie furchten vielleicht, ich werde 
Sie mit meiner Meinung über die Gaben der Sprachen unterhal- 
ten wollen; allein seyn Sie unbesorgt! Ich habe, da doch jeder . 
meint , über diese Sache schreiben zu müssen , meine Ansicht 
davon bereits sonstwo im Stillen niedergelegt , und werde um so 
weniger den Mifsgriff thun, Sie mit einer die Chronologie gar 
nicht berührenden Untersuchung zu langweilen. Wohl aber 
habe ich Lust zu beweisen, dafs am ersten Pfingstfeste 
nach Jesu Auferstehung jene Gabe der Sprachen gar 
nicht ertheilt worden sey, sondern «die Ausgiefsung 
des Geistes um einige Zeit früher erfolgte, so daft 
der Grund der Feier des Pf ingstf estes für die Chri- 
stenheit hinwegfällt. Diesen Beweis zu fuhren ist dem An- 
schein nach ungemein schwer, in der That aber etwas sehr leichtes. 

Schlosser. 



ORIENTALISCHE LITERATUR. 

Die poetitcke Literatur der Araber vor und unmittelbar nach Mohammed. 
Eine historisch-kritische Skizze von Dr. Gutta v PTtlf, Privat docen- 
ten der Orient aluchen Sprachen an der Universität zu Heidelberg. Ver- 
lag der Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart u. Tübingen. 92 & 8. 

Der Verfasser erklärt in der Vorrede, dieses Werkchen sey 
im Wesentlichen nichts anderes als seine im letzten \\ intcr ge- 
haltene , nunmehr ausführlicher bearbeitete Probevorlesung über 
die ihm von der hochlöblichen philosophischen Facultnt zur Be- 
antwortung aufgestellte Frage : » Wie war die arabische Poesie 
vor Mohammed beschaffen, und welchen Einfiufs übte der Pro* 



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Orientalische Literatur. 



613 



phet auf dieselbe?« Es versteht sich daher von selbst, dafs er 
dieses Thema, an das sich eigentlich die ganze Geschichte der 
arabischen Poesie anschlichst, keineswegs zu erschöpfen gedachte. 
Er wollte nur den Charakter der vor- und nachislamitischen Poe- 
sie in bestimmten Umrissen zeichnen, und die wahren Gründe 
ihrer Blüthc wie ihres Verfalls, besonders den mittelbaren und 
unmittelbaren Antheil, den Mohammed an letzterem hatte, genau 
angeben. Der Verf. widerlegt zuerst die Meinung derer, welche 
den Grund des Sinkens der Dichtkunst unter den muselmä'nnischen 
Arabern in den immerwährenden Kriegen , welche die Stiftung 
des lslamismus nach sich zog, finden wollen, indem er zeigt, dafs 
gerade die ältesten und vortrefflichsten heidnischen Dichter, Mu- 
halhal, Schanfara, Antar u. a. m. auch zugleich die thätigsten 
Feldherren und gefiirchtetsten Ritter ihrer Zeit waren, und nicht 
minder als ihre islamitischen Sohne den grofsten Theil ihres Le- 
bens auf dem Schlachtfelde zubrachten. Dies führte den Vf. zur 
Auseinandersetzung der Hauptelementc der vorislamitischen Poesie 
sowie zur Aufzählung der verschiedenen Umstände, die glucklich 
zusammenwirkten, um sie bis zur Erscheinung Mohammeds auf 
eine hohe Stufe der Entwicklung zu bringen und den Dichtern 
das höchste Ansehen und den grofsten Einflufs auf den Geist des 
Volks zuzusichern. Sodann verwirft der Vf. die in Europa fast 
allgemein verbreitete Ansicht: es habe Mohammed den reinen 
Geschmack der Araber verdorben, weil er den Koran, der nicht 
viel poetischen Werth hat, als Muster der reinsten Poesie aufge- 
stellt, indem er beweist, dafs Mohammed sich nie für einen Dich- 
ter ausgab, dafs auch seine eifrigsten Anhänger ihn nicht als ei- 
nen solchen verehrten. Nachdem er danu die wahre Ursache des 
allmähligen Sinkens der arabischen Poesie angibt , führt er auch 
von diesen immer matter werdenden Gedichten jeder Gattung, so 
wie er es früher bei den kräftigen vorislamitischen Erzeugnissen 
getban, einige Beispiele an. Ref. gibt hier noch den Schlufs des 
Werkchens , weil er in wenigen Worten das Resultat seiner Be- 
trachtungen ausspricht: »Die arabische Poesie vor Mohammed 
trug alle jene Naivetnt des reinen Naturlauts, der überall als ent- 
scheidendes Mefkmal der Volkspoesie gelten mufs, au sich. Drei 
Arme schickte der kräftig sprudelnde Quell der arabischen Wüste 
aus , und die herrlichsten Blüthen sprofsten an ihrem Gestade : 
der zerstörende Giefsbach des Kriegs, der berauschende Strom 
der Liebe und der frischlabende Flufs der Gastfreundschaft. 
Mit der Erscheinung Mohammeds wurde alle persönliche Neigung 
für eine Religion, alle individuelle Thatkraft für das Gottesreich 
auf Erden verwendet Nicht durch Mohammed selbst, wenigstens 
nicht unmittelbar, sank die arabische Poesie. Dies war eine Folge 
der politischen und religiösen Centralisation ; der gegebenen Dog- 
men nicht minder, als der überhand nehmenden wissenschaftlichen 
und abstrakten Bestrebungen. Und wieder waren es drei Arten , 
in die sich die arabische Poesie spaltete: die Religionspoes ie 



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«14 



Orientalische Literatur. 



mit ihrer Demut h und Selbst? erläugnung , die Hofpoetie mit 
ihrer kriechenden Lobpreisung und dem Bombast ihrer Hyper- 
beln , und die Schul poesie mit ihren angelernten Künsten und 
ihrer dürren Lehrweise. 

Ref. kündet hier auch vorläufig die alsbald erscheinende erste 
Lieferung seiner Übersetzung der 1001 Nacht an, der er dann 
später einen besondern Artikel widmen wird. Hier werde nur 
vorläufig bemerkt , dafs einige Belletristen sich ohne Grund über 
den Titel des Werks ärgern, welcher lautet: 1001 Nacht, zum 
erstenmale treu aus dem arabischen Urtexte ins Deutsche über- 
setzt u. s. w. Herr Habicht gesteht selbst wohl in seiner Vor- 
rede zum i4* Bändchen der in Breslau erschienenen Übersetzung, 
dafs er nur die letzten 1 18 Nächte selbst aus der tunesischen 
Handschrift übersetzt habe, während die übrigen 88a N. — wahr- 
scheinlich von seinen beiden Mitarbeitern Fr. von der Hagen und 
Karl Schall — wie sich jeder der franzosischen Sprache kundige 
Leser überzeugen kann , nur aus dem Franzosischen nach Galland 
Caussin und Gautier übersetzt worden sind. Wie sehr aber diese 
Franzosen, namentlich Erstgenannter, alles moderoisirt und ganz 
wülkührlich in ein gallisches Gewaod eingekleidet haben, ist schon 
v,on Freiherrn de Sacy und vielen andern Orientalisten so oft be- 
dauert worden , dafs Ref. keinen Augenblick zweifeln konnte, dafs 
eine treue Übersetzung aus dem Arabischen der sämmtlicheo 1001 
Nacht jedem Freunde der morgenländiscben Literatur willkommen 
teyn miifsten. 

Lettre» sur l'kutoire de» arabe» avant Vi»\ami»me par Fulgcnce Fr c stiel. 
Pari». Theaphile Barroit plre et Benjamin Duprat. 114 p. gr. 8. 

Wenn die Geschichte des letzten heidnischen Jahrhunderts 
der Araber, über die grofstentheils nur abgerissene Fragmente 
hie und da einiges Licht werfen, schon deshalb sehr wichtig ist, 
weil sie nicht geringen Aufschluß über die fast mährchenhaic 
schnellen Eroberungen ihrer musclmännischen Sohne gibt, so ist 
sie auf der andern Seite zum Verständnifs der meisten Dichter 
aus jenem goldnen Zeitalter der Poesie nicht minder unentbehr- 
lich. Nur wer die hohen kriegerischen Tugenden und die unge- 
heure Tbatkraft der zerstreuten Wüstenbewobner kennt, kann 
hegreifen, wie diese, sobald ihre zersplitterten lange nur gegen 
sich selbst gewendeten Kräfte durch das Band der Beligion ver- 
einigt und gegen äussere Feinde gerichtet werden, in weniger 
als einem halben Jahrhundert drei Welttheilen Gesetze geben.- 
Eben so kann auch der beste orientalische Philolog, mit allen 
grammatikalischen und lexikalischen Kenntnissen und Hülfsmitteln 
ausgestattet, nur dann in den wahren Geist jener erhabenen Poesie 
eindringen, ja oft sogar, weil die meisten poetischen Erzeugnisse 
jener Zeit nur Gelegenheitsgedichte waren , nur dann ihren wah- 
ren Sinn errathen , wenn er die Sitten und Gebräuche der dama- 



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Orientalische Literatur. 



ligen Beduinen im Allgemeinen und das Leben und die Thaten 
der heroischen Dichter im Einzelnen genau kennt. Orientalisten 
sowohl als Geschichtsforschern mufs daher Herrn Fresnels Werk- 
chen, das über die denkwürdigsten WafFenlhaten der ausgezeich- 
netsten Feldherren und Dichter vor der Erscheinung Mohammeds 
Auskunft ertheilt, höchst willkommen seyn. Der Verfasser des 
Werks, aus dem Herr Fresnel einen ersten Auszug gibt, ist der* 
berühmte Philolog und Dichter aus Cordova , Abu Omar Ahmad 
Sohn Muhammads Ibn Abd rabbihi, der im Janre 246 der Hedjra 
geboren ward und ein Alter von 82 Jahren erreichte. Sein in 
25 Bucher eingethciltes Werk fuhrt den Titel : Alikd Alfarid (die 
einzige Perle). Dieses Werkchen verdient um so mehr Vertrauen, 
als Herr Fresnel in seiner Einleitung gesteht , er habe Alles un- 
ter der Leitung eines der berühmtesten Mascbaich in Kahira, 
desselben, bei dem auch Ref. einen mehrjährigen Unterricht ge- 
nofs, ubersetzt. Aber der gelehrte Verfasser, der seine Arbeit 
einem Freunde in Paris mit einem als Einleitung dienenden Briefe 
zusendete — weshalb sie unter dem Namen »Briefe über die 
Geschichte der Araber« erschien, begnügte sich nicht mit einer 
einfachen Übersetzung seines Textes, sondern er schmückte sie 
auch noch mit höchst interessanten Noten und Erörterungen aus, 
die eben so belehrend als unterhaltend sind und gelegenheitlich 
auch manches Licht über den jetzigen politischen , moralischen 
und literarischen Zustand Egyptens werfen. Jeder Freund der 
Geschichte und Literatur des Orients mufs daher sehnlich wün- 
schen, dafs der Verf. seinem Vorhaben, das ganze Werk des 
Ibn Abd Rabbihi zu übersetzen, das wohl Stoff zu einem paar 
Hundert solcher Briefe geben wird, treu bleiben und die er- 
wünschte Ruhe, an der es jetzt in Egypten, wo die Pest wieder 
einheimisch geworden zu seyn scheint , so oft fehlt, finden möge, 
um es mit Hülfe seines Lehrers glücklich ausfuhren zu können. 
Die Übersetzung des Verfassers dürfte wohl als Muster für Alles, 
was aus dem Arabischen in europäische Sprachen übertragen wird, 
aufgestellt werden, da sie mit der gewissenhaftesten Treue einen 
sehr blühenden, eleganten Styl verbindet, den man längst schon 
in Frankreich mit Recht an Herrn Fresnel bewundert. Nur sol- 
che Leistungen, die aber freilich nicht von Jedem gefordert wer- 
den können , vermögen es , eine allgemeine heifse Liebe zum Sta- 
dium der orientalischen Literatur zu wecken, während sie doch 
auch zu gleicher Zeit den scrupulosesten Philologen befriedigen. 
Der einzige Verwnrf, den man allenfalls dem Vf. machen könnte, 
— und Ref. verschweigt ihn nicht, damit man ihn nicht für die 
Mängel seines Freundes und ehemaligen Studien- und Leidens- 
gefährten blind glaube, — wäre der, dafs Manches, was in die- 
sem Werkchen als etwas Neues gegeben wird, schon längst durch 
de Sacy und Andere in Europa bekannt ist. So die Erzählung 
des Kriegs von Basus, (wo jedoch noch in einer Note auf do 
Sacy's Memoire hingewiesen wird), eine lange Anmerkung über 



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616 



Orientalische LiUratur. 



die Arab Aiaraba und Mustaaraba , Mebreres über die Messe ron 

Okazh, über das Verschicben der heiligen Monate u. s. w. Doch 
wird jeder billige Kritiker ihm das gerne verzeihen, wenn er 
bedenkt, dafs Herr Fresnef erst, seitdem er im Oriente lebt, 
sich cusschliefslich mit der arabischen Geschichte beschäftigt und 
es ihm dort unmöglich war, mit dem, was auf diesem Felde schon 
in Europa geschehen war, vertraut zu werden. Übrigens ist das 
Bekannte selbs auf eine so geistreiche und originelle Weise auf- 
gefafst und dargestellt und mit so vielem Unbekannten vermischt, 
dafs man es bedauern mufste , wenn Herr Fi esnel es vermieden 
hätte, alles nicht mehr ganz Neue zu berühren. So sagt er z. B. 
wo er von der Messe von Okazh spricht: »Mais comment con- 
cevoir que des hornmes dont ies plaies etaient tonjnurs saignantes, 
qui avaient toujours des vengeanues ä exercer, des vengeances a 
redouter, pussent a une epoque fixe imposer silence a leurs hai- 
nes, au point de s'asseoir tranqutliement aupres d un ennemi raor- 
tel ? Comment 1c brave qui redemandait le sang d'un pere, d'un 
frere ou d'un (Iis, selon la phraseologie du desert et de la bible, 
qui depuis iongtems peut etre poursuivait en vain le meurtrier, 
pouvait il le recontrer, laborder paeifiquement a Ouqazh, et faire 
assaut de cadences et de rimes avec celui dont ia seale presence 
l'accusait d'impuissance nu de lachet e, avec celui qu'il devait tuer, 
sous peine d'infamie, apres l'expiration de la treve? Enfin com- 
ment pouvait il ecoutcr un panegyrique oü I on celebrait la gloire 
acquise a ses depens, et soutenir le feu de millc regards et faire 
bonne contenance ? Est ce que Ies arabes n'avaient plus de sang 
dans les v eines pendant la duree de la f'oire? 

Ces questions si embarrassantes , et que mes lecteurs peut 
etre, de quelque penetration que la nature les ait doues , regar» 
deront comme insolubles, — ces questions furent resolucs dans le 
paganisme arabe de la mattiere la plus simple et la plus elegante. 

A la foire d'Oukazh les preux etoient masques. 

Nachdem er nun Vieles über die Beschaffenheit der Helme, 
Panzer und Masken oder Schleier der Beduinen sagt, kehrt er 
zur Messe mit folgenden Worten zurück: »Ce fut dans ce con- 
gres des poetes aarabes (et presque tous Ies guerriers etaient 

Soetes a Tepoque dont je m'oecupe) que s'opera la fusion des 
ialectes de l'Arabie en une langue inagique, la langue du Hidjaz, 
dont Mahomet se servit pour bouleverser le inonde; car le triom- 
phe de Mahomet n'est autre chose que le triomphe de Ia parole. 
En mettant la foiie d'Ouqazh au bau de 1'isJamisme, Mahomet 
aneantit le parlement de l'Arabie, et frappa au coeur cette societe 
unique de tribus, qui a trafers les guerves Ies plus acharnces, n'ou- 
bliaicnt jamais leur commune oiigine, et venaient tous les ans au 
rendez-vous national pour y gouter les joies exquises du suffragc 
unt? erscl. Depuis lors les traditions appelees riudjdl furent rem* 
placees par la tradilion noromec hadith, qui se rapporte ä un 
seul homme, Mahomet. 



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• - 

Griechin, lic Literatur «17 

• 

Herr Fresnel hat mit diesem Briefe über die denkwürdigen 
Tage (ayyam) der Araber auch eine zweite Auflage seiner Über- 
setzung von Schanfaras Lamiat Aladjam verbunden, die schon vor 
einigen Jahren zuerst in der Revue de Paris, sodann im Journal 
asiatique erschienen ist. Er halte nämlich inzwischen noch ein 
Mannscript mit einem Commentar gefunden, aus dem ihm über 
den Sinn einiger Verse ein neues Licht aufgegangen. Bekannt- 
lich hat de Sacy in seinen beiden Auflagen der Chrestomathie 
dieses unübertreffliche Gedicht herausgegeben, ubersetzt und er- 
läutert, sowie auch das Erheblichste von Schanfaras Leben hin- 
zugesetzt , so dafs es überflüssig wäre hier mehr darüber zu sa- 
gen. Man erwartet gewifs nicht vom Ref. , dafs er hier bei von 
einander abweichenden Stellen sich für den einen oder den andern 
Übersetzer ausspreche , oder gar über einzelne Verse noch seine 
eigne dritte Ansicht mittheile; dies kann nicht in einer Recension 

J;eschehen. Auch Herrn Fresnels Methode, das Arabische mit 
ranzösischen Buchstaben zu schreiben, ist gut und einfach. Auch 
er weifs, wie Ref., nor von a, ou und f, tfuch er druckt Buch- 
stabe 4 durch ih und B. 17 durch zh aus. Um B. 21 und 32 
su unterscheiden , schreibt er fuf erstem ein q und für letztern 
ein k. Ref. hofft bald einen zweiten Brief anzeigen zu können, 
und verspricht dann über den Inhalt des Textes selbst etwas aus- 
führlicher zu seyn. 

J0r. O. Weil. 



GRIECHISCHE LITERATUR. 

Manuel de l'histoire de la literature Grecque, übrige de Vouvrag* 
de Schoell, refondu cn partie et complite" par J. K G. Roule», doet. 
en Philosophie et lettre» et en droit, professeur d'archeologie et d*anti- 
quiti» Romaine» ä Vunivertiti de Gand. ßruxelfe». A la libraire clut- 
•ique d> Alexandre de Mat, rue de la batterie nr. 24. MDCCCXXXni. 
XIV und 436 & 11» gr. 8. 

Der Mangel eines brauchbaren Compendiums bei Vorträgen 
über die Geschichte der griechischen Literatur mag wohl die 
erste Veranlassung zur Entstehung dieses Handbuchs gegeben 
baben, das wir keineswegs als einen blofsen Auszug aus dem 
grÖTseren Werke von Scholl, das allerdings die Grundlage bildet, 
zu betrachten haben, da es in der That gar manche, freilich ihm 
nur zum Vortheil gereichende, Veränderungen unter den Händen 
seines gelehrten Bearbeiters erlitten und so eine in Manchem 
wesentlich verschiedene Gestalt von dem genannten gröfseren 
Werke, das ja auch unter uns durch eine deutsche Bearbeitung 
bekannter geworden ist , erhalten hat. Wenn daher auch die 
Anordnung des Stoffs, die Eintheilungsweise desselben nach sechs 
Perioden u. a. der Art beibehalten worden, so ist doch im Ein- 



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618 



Griechische Literatur 



seinen gar Manches verändert oder vielmehr verbessert worden , 
zumal da der Charakter eines Handbuchs in so manchen Fällen 
nicht ein allgemeines Hin- oder Herreden oder eine längere und 
ausführlichere Erörterung verschiedener und entgegengesetzter 
Ansichten verstattete, sondern ein bestimmt und entschieden aus- 
gesprochenes Urtheil verlangte. Und gerade in diesen meist schwie- 
rigen Fallen wird man alle Ursache haben, mit des Vfs. Behand- 
, lungsweise, mit seinen Urtheilen und Ansichten zufrieden zu seyn, 
da sich auch hier die Gründlichkeit und Gediegenheit, die wir 
auch mehrfach an andern Leistungen des Herrn Prof. Roulez an- 
zuerkennen Gelegenheit fanden , seine umfassende Henntnifs der 
classischen Literatur und insbesondere aller der besseren Leistun- 
gen der neueren Zeit, bewährt findet. Was er S. III seiner 
Vorrede in dieser Hinsicht bemerkt: »En abregeant Scholl, je 
ne me suis pas toujours astreint ä le reproduire servilement. Loin 
de la j'ai quelquefois interverti l'ordre qu'il suit et refondu en- 
tierement plusieurs passages. Le plus souvent, lorsque cet au- 
teur entre dans l'exposition d'une controverse Sans adopter d'avis, 
le cadre de mon Ii vre m'a force naturell ement ä t ran eher net en 
faveur de l'opinion qui me paraissait la plus vraisemblable« J'ai 
aussi rectifie bon nombre de points d apres nies propres lectu l es- 
et mis a profit lea additions et corrections de l'auteur et des tra- 
dueteurs etc. etc. « — das haben wir vielfach bestätigt gefunden, 
und behalten uns vor, Einiges der Art nachher anzuführen. 

Herr Roulez hat sich insbesondere dadurch ein Verdienst er- 
worben, dafs er aufs sorgfaltigste die bei Scholl mangelhafte Li- 
teratur überall nachgetragen und ergänzt bat, wobei ihm seine 
genaue Henntnifs aller der in Deutschland erschienenen Schriften 
nicht leicht irgend eine Ausgabe von Bedeutung, nur irgend eine 
Abhandlung über einzelne Schriftsteller übersehen liefs, wie z. B. 
S. 216 der von Wagenfeld vorgebrachte (angebliche) San c hu. 
niathon nach der französischen Bearbeitung von Le Bas. 1 836. 
Paris, hier nicht fehlt. Bei einer neuen Auflage , die dem nütz- 
lichen Buche nicht fehlen wird , bann unter Anfuhrung des nun 
erschienenen griechischen Textes der Betrug (denn dafür sieht 
Ref. mit Andern, jetzt nach Bekanntwerdung des griechischen 
Textes, das Ganze unzweifelhaft an) nicht wohl unerwähnt ge- 
lassen werden. In Bezug auf diese reichlicher mitgetheilten lite- 
rarischen Notizen äussert sich der Verf. S. III des Vorworts fol- 
gend er mafsen : »Quant a la partie bibliographique , je me suis 
Borne a en faire un choix relativement aux auteurs qui ont etd 
publies souvent; cependant pour ceux-lä meme j'ai donne une 
grande extension a 1 indieätion des publications des trente dernie- 
res annees. Mon but en cela a cte de faire connaitre dans ce 
pays les nombreux travaux de la pbilologie allemande , et de sup- 
pleer en partie a labsence chez nous de livres speciaux sur la 
Bibliographie de la literature ancienne, tels que l'Allcmagne en 
possede dans les ouvrages de Krebs 9 de Schweigger, etc.«, wo» 



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Griechische Literatur. 619 

mit wir oocn die ocniuiswone oer vorreae veioinaen. — je n n 
pas neglige de nie tenir au courant des publications faites jusqu a 
ce jour et den consigner les resultats (Jans mon Ii vre, pour an- 
tant quils m'etaient connus.« So schreibt der Vf. im November 
i836, da sein schon im April i835 zum Druck völlig aasgearbei- 
tetes Manuscript durch unvorhergesehene Umstände liegen blieb 
und erst nach mehr als anderthalb Jahren dem Druck ubergeben 
werden konnte ; welche Zwischenzeit von dem Verf. benutzt 
wurde, um alle inzwischen erschienenen Schriften nachzutragen 
und so seinem Handbuch möglichste Vollständigkeit von dieser 
Seite zu geben. Wir müssen dies um so mehr mit Dank aner- 
kennen, wenn wir überhaupt an die Absicht des Verls, denken, 
zunächst mit diesem Handbuch in seinem jetzt ruhiger geworde- 
nen Vaterlande, bei einer durchweg vorherrschenden Richtung 
zu materiellen und industriellen Interessen, ein die classischen 
Studien und deren gründliche Bildung förderndes Hulfsmiltel zu 
liefern und damit selbst Eifer und Sinn für diese Studien zu 
wecken und zu unterhalten. 

Nach einer kurzen Einleitung, die über den Begriff und 
Umfang der Geschichte der griechischen Literatur, ihre Einthei- 
lungsweise nach Perioden u. dgl. sich verbreitet und die verschie- 
denen dazu vorhandenen Hülfsmittel In möglichster Vollständigkeit 
Aufführt , eilt der Verf. kurz über die erste Periode hinweg , und 
verweilt bei den hier vorkommenden Fragen über die Urzeit 
Griechenlands, über dessen älteste Bevölkerung und deren Ab- 
kunft oder Ursprung (bekanntlich die Lieblingsthemata unsrer Zeit 
in Deutschland) nur so weit, als es unumgänglich nöthig war, 
ohne in neuen Vermuthungen oder Combinationen sich zu gefallen 
oder überhaupt auch nur die schwierige und dunkle Frage ent- 
scheiden zu wollen, die sich auch nach unserm Ermessen, nach 
den vorliegenden Datis, wenn man nicht Vermuthungen und Ein« 
falle statt historischer Wahrheit geben will, schwerlich je mit Be- 
stimmtheit wird entscheiden lassen. Er spricht von den Pelas- 
gern wie von den Hellenen, und gedenkt auch der Kolonien, 
welche zwischen dem ao. und 1 6. Jahrhundert vor Christi Geburt 
durch Danaus und Cecrops und Hadmua eingeführt worden; wenn 
er dann hinzusetzt: »l'opinion la plus generale les fait venir de 
l'Egypte ou de la Phenicie ; il n'est pas invraisemblabJe cependant 
queiles soient sorties de la Thrace, antique berceau des popula- 
tions europeennes « , so ist dies allerdings die Ansicht mehrerer 
namhaften Gelehrten Deutschlands, die aber Bef. nicht zu der 
seinigen machen kann , wie er unlängst in diesen Jahrbb. Nr. a8. 
29. dargethan hat. 

Auch bei der zweiten Periode der griechischen Literatur, 
die nach Schöll von 1184 — 5o4 reicht und mithin den Troischen 
und Homerischen Cyclus befaist, hat sich der Vf. und mit Hecht 
kurzer gefafst , indessen bei Homer selbst doch das Wesentlichste 
von dem angegeben, was in einem solchen Werke zunächst io 



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urivcniiiiii iiiicraiur. 



Bezug auf die Frage nach dem Verfasser oJer fielmehr nach 
dem Ursprang der unter Homers Namen auf uns gekommenen 
Dichtungen, der Ilias Qnd Odysse , anzugeben war. Die Haupt- 
punkte des darüber geführten Streits werden angef ührt ; und wie 
nach den in neuester Zeit in Deutschland und Frankreich geführ- 
ten, Herrn Roulez keineswegs unbekannt gebliebenen Untersu- 
chungen wohl zu erwarten war, der Verf. erklärt sich zuletzt 
gegen die Wölfische Ansicht , und für diejenige, welche uns als 
die schon im griechischen Alterthum vorherrschende und von den 
Alexandrinischen Gelehrten im Ganzen angenommene erscheint, 
von der aber abzugehen für uns um so weniger Grund vorhan- 
den sejn durfte , als wir zweitausend Jahre später der grofsen 
Hülfsmittel , deren sich das Alexandrinische Zeitalter noch er- 
freute, zur genaueren Untersuchung des Gegenstandes, beraubt, 
schwerlich uns einbilden dürfen , über die Resultate der Alexan- 
drinischen Forschung noch weiter hinausgehen -zu können, da wo 
aller Boden unsicher wird und bei dem Mangel einer sicheren 
und festen Grundlage Alles auf blbfse Vermuthung sieh beschrän- 
ken mufs. 

Mit der dritten Periode, d. t. von der Zeit Solons an, wird 
der Boden sicherer, und der Verf. führt uns nun nach den von 
Scholl gemachten Em- und Abtheilangen die einzelnen Schrift- 
steller auf, wobei er sich möglichst kurz und bestimmt zu fassen 
suchte, da der gewaltige Umfang der Materie ihm kaum mehr 
erlaubte, als bei jedem Schriftsteller einige Hauptpunkte, die als 
wesentlich und not h wendig nicht übergangen werden konnten, 
hervorzuheben und in den Noten möglichst vollständige Angaben 
der Ausgaben und anderer Schriften zu liefern. Bef. mufs die 
Leser hier auf das Buch selbst verweisen, wenn sie dasselbe in 
seinen Einzelheiten näher kennen lernen und sein oben im Allge- 
meinen ausgesprochenes ürtheil bewährt finden wollen; er will 
nur als Probe auf einige Hauptschriftsteller, deren Darstellung 
zum Theil besonderen Schwierigkeiten unterliegt, verweisen. Man 
vergleiche z. B. das, was über Herodot S. 81 ff. gesagt ist, 
insbesondere die Schlufsworte (S. 8a), welche über die Kritik 
ond über das, was wir die tides dieses Autors nennen, sich fol- 
gendermafsen aussprechen : »Herodote raconte toujours avec sim- 
plicite et exercitude, non seulement les faits dont il a pu n*r lui 
roeme reconnaitre la verite, mais aussi ceux nui lui ont ete com. 
muniques dans ses voyagcs. Souvent il s'abstient d emettre son 
opinion; quelquefois il exprime seulement ses doutes. C est donc 
a tort quon lui a donnc lepithete d'historien fabuleux, quil ne 
merite nullement. Des voyageurs modernes ont confirme^ un grand 
no nihre de recits consideres anciennement eommo mensongers, 
ou ont fait connaitre les causes qui ont pu induire cet ecrivain 
en erreur ; et c'est ainsi que les fables meines , que son histoire 
renferme, sont un temoignage de son amour pour la verite.« 
So wird auch das, was über Plato und dessen Schriften S. 12a ff. 



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Griechische Literatur. ßxl 

oder was über Aristoteles S. 170 fr. bemerkt wird, nicht minder 
befriedigen. Bei Plato hat sich insbesondere der Vf. auch über 
die verschiedenen Versuche, Piatons Dialogen nach bestimmten 
Classen oder nach einem bestimmten System zu ordnen , ausge- 
sprochen, theils kürzer und bestimmter, als dies in Schölls grö- 
ßerem Werke der Fall ist, theils aber auch mit einigen Erwei- 
terungen und Zusätzen, wie dies bei einer näheren Einsicht und 
Yergleichung beider VVerke bald sich herausstellt. Über Schleier- 
machers Einteilung der Platonischen Dialoge nach drei Classen 
urtheilt der Verf. S. 125 Folgendes: »Cette division marquee au 
coin de la profondear et de la perspicacite , n'est pourtant pas 
satisfaisaute ; cn eilet eile suppose, chose tout a fait inviaisem- 
blable , que le fondateur de l'Academie, quand il commenna ä 
ecrire, avait de ja son Systeme forme et arrete dans sa tete et 
qu'il s'etait trace des ce moment le plan qu'il suivrait en l'expo- 
sant et en le developpant successivement dans ses ecrits. « Es 
folgt dann die Beurtheilung der Socher sehen Ansicht, und dann 
die Stallbaumsche, welcher der Verf. mit vollem Rechte, nach 
unserer Überzeugung, den Vorzug giebt. Über Asts Zweifel an 
der Ächtheit so mancher, zum Theil der vorzüglicheren Dialoge 
Piatons urtheilt er S. 126 folgend ermafsen : »Ast, qui a pousse 
le seepticisme le plus loin de tous , n'en reconnait que quatorze 
comme sortis de la plume de ce grand ecrivain. Cette assertion 
du reste na rien qui etonne, si fon fait attention qu'elle est, le 
resultat d'un exaraen auauel il a procede d'apres une idee fixe, 
en exigeant d'une suite d'ouvrages, ecrits dans une espace de 
quaraote ans environ, meme verve, meines vues , meme erudi- 
tion et meme perfection. Mais pour peu que Ton veuille fairo 
la part des circonstances exterieures, de l'accroissement et du 
declin du talent on sera amene ä porter au double a peu pres, 
ce nombre de quatorze dialogues de Piaton.« 

Wir wollen diese absichtlich bei zwei der wichtigsten Au- 
toren ausgewählten Proben nicht weiter fortsetzen; auch hat sich 
der Verf. bei minder wichtigen Autoren kurzer gefafst, wie z. B. 
selbst bei den sogenannten moralischen Schriften Plutarch's (S. 
259), während über die Lebensbeschreibungen S. 2 17 etwas aus- 
führlicher geredet wird. S. 223 hält der Vf. den Älianus, der die 
Variae Historiae geschrieben , für verschieden von dem Verfasser 
oder Sammler der Thiergeschichten ; die neuesten Untersuchung 
gen von Jacobs in den Prolegomenen seiner Ausgabe haben das 
Gegentheil ziemlich wahrscheinlich gemacht und die frühere An- 
nahme Eines und desselben Verfassers beider Werke in so weit 
bestätigt, als überhaupt in solchen Dingen Sicherheit und Gewifs- 
heit fleh erlangen läfst. Anderes übergehen wir, und schliefsen 
mit dem Wunsche, das nützliche Buch in dem Kreise, für den 
es bestimmt ist, immer mehr verbreitet zu sehen; dem Herrn 
Verf. aber möge die gerechte und wohlverdiente Anerkennung 
nicht ausbleiben. 



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Meletematum de historia Hometl fatc. It. P. IV. De memoria Ilomeri anti- 
quisiima Commenlatio Cap. I. et II. (Solemnia natalicia — Frideriei Ff 
die XXVIII men». Januar ii et annt MDCCCXXXVII — rite cetebranda 
Acad. Hiltens, reetor et eenatut indicant per Gr. Ouil. Nitztckium, 
eloq. et litt, antiqq. pro/, etc.) Kiliae , es offteina Chriet. Ftid. Mohr. 
89 S. in gr. 4. 

Dieses Heft giebt die nächste Fortsetzung der in Nr. 39 die. 
ter Jahrbb. besprochenen Ühtcrsachungen des Herrn Prof. Nitzsch 
über das Alterthum der Homerischen Gedichte and die geschicht- 
liche Nachweisnng desselben von den ältesten Zeiten an. Denn 
der Vf. gedenkt die äussere, historische Beweisführung nach al- 
len Seiten hin zu rollenden , ehe er sieb an die inneren Grunde 
für die Existenz eines Homeros and f ür die Autorschaft der Ilias 
and Odyssee wendet. In diesem Sinne bemerkt Herr Prof. JNrtzchf 
ganz richtig, wie ersprießlich für die Beantwortung der ganzen 
Frage es seyn durfte, wenn wir im Stande waren, nachzuweisen, 
wie , in welcher Weise ond durch welche Mittel Homer s Dich* 
tungen in Griechenland sich so sehr verbreitet haben ond zu so 
grossem Ansehen gelangt sind. Aber leider wird dies , bei dem 
Mangel aller näheren Zeugnisse kaum in befriedigender Weise je 
geschehen können; nur so viel geht aus den noch vorhandenen 
und vorliegenden Zeugnissen mit Sicherheit hervor, dafs die Ho- 
merischen Gedichte frühzeitig schon bei den dorischen Griechen 
und sonst bekannt geworden und auch zu Ansehen und Ehre ge- 
langt sind, wie wir denn frühe schon eine allgemeine Kenntnifs 
der llias und Odyssee vorfinden , und aus den , wenngleich spär- 
lich vorliegenden Zeugnissen den häufigen and aligemeinen Ge- 
brauch dieser Gedichte ersehen können. Arctinus von Milet, 
Stasinus von Cypern hatten in Homer die nächste Veranlassung* 
und das Muster zu ihren eigenen , diesem nachgebildeten Dich- 
tungen gefanden; sie mochten Manches aus Homer entnommen 
und weiter ausgeführt haben ; und so treten uns auch bei den äl- 
testen lyrischen Dichtern, z. B. bei Alcman und Hipnonnx, wie 
selbst aus den geringenBrachstücken ihrer Poesien erkennbar ist, 
die Sparen Homerischer Dichtung uberall hervor und geben Zeug- 
nifs von der allgemeinen Verbreitung und Kunde derselben. Dar- 
um versucht der Verf. vor Allem eine* sorgfaltige , kritische Zu- 
sammenstellung und Prüfung alier aus dem Alterthum in dieser 
Beziehung auf uns gekommenen Nachrichten und Andeutungen 
zu geben-, and so erhalten wir in diesem Hefte eine doppelte , 
zum Theil durch neuere Untersuchungen über Entstehang und 
Charakter der Homerischen wie der cyclischen Poesie hervorge- 
rufene Erörterung, deren Ergebnisse wir in der Kurze uhsern 
Lesern vorlegen wollen. 

Der erste Abschnitt: »Dubitatio de epopoeiis, quas aetas 
antiquior Homero praeter I Hadem et Odysseam attribuisse videa- 
tor.« beschäftigt sich mit der Frage nach den Gedichten, welche 



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Griechische 



Literatur 



623 




terthum zuschrieb. Wenn man in unser n Tagen den Namen Ho. 
meros zur Benennung einer ganzen Dichterciasse oder eines gan- 
zen Zeitraums gemacht und damit ihm alle Individualitat zu ent- 
ziehen versucht bat, und dann in diese Periode und auf diese 
Dichtgattung Alles wirft, was die Sage bald allgemein, bald nur 
theiJ weise und in wenig bestimmten, oft widersprechenden An- 
gaben mit dem Namen Homeros nur einigermaßen bezeichnet 
hat, so können wir uns eben so wenig wie Herr Nitzsch mit die- 
ser Ansicht befreunden, und müssen fielmehr dem Letztern ent- 
schieden beitreten , wenn er den Dichter in seiner auf historische 
Zeugnisse gestutzte Persönlichkeit uns erhalten wissen will, wenn 
er ihn nicht als allgemeine Benennung einer ganzen Zeitperiode 
in dieser gleichsam verschwimmen und untergehen lä'fst, wohl 
aber zu der Anerkennung des Satzes bereit ist, dafs auf den an- 
erkannten Dichter der Ilias und Odyssee gar Manches im Laufe 
der Zeit bei der wenig festen, wenig sichern Sage ubertragen, 
zur Verherrlichung , zu Ehr und Preis seines in aller Hellenen 
Mund hoch gefeierten Namens. (Quare ii soli habent quod cum 
fide sequantur, qui notas illas ac nomina animadvertentes Homeri 
yocabulum non progrediente tempore expilatum sed Iliadis et 
Odysseae poetam ab oranibus creditum fama atque opinione pa- 
rum certa uberius exornatum narrant.ee S. 8. 9.) So durchgeht 
nun der Vf. prüfend die einzelnen , ausser der llias und Odyssee, 



mehr Zuverlässigkeit andern Dichtern, die nach seinem Vorbild 
in seiner Weise und wo möglich auch in seinem Geiste Gegen- 
stande verwandten oder ähnlichen Inhalts aus dem trojanischen 
Sagenkreise besangen, zugeschriebenen epischen Poesien, und 
zeigt eben im Einzelnen, wie unbestimmt, unsicher und ungewife 
hier Homer's angebliche Autorschaft ist , die anerkannt und über« 
einstimmend immer nur auf diese beiden Gedichte sich beschränkt, 
nie aber in solch allgemeiner Übereinstimmung von einem drit- 
ten Gedicht nachgewiesen werden kann (vgl. S. 22). So wird 
auf diesem Wege das sichere Resultat gewonnen, dafs alle die 
andern in jenen Sagenkreis fallenden Poesien, die Thebais, die 
Epigonen, die lyrischen Gedichte, die kleine Ilias, die Nosten 
u. a. jedenfalls von dem Namen Homers, der ihnen mit Unrecht 
aus den oben bemerkten Veranlassungen tbeilweise beigelegt wor- 
den, auszuscheiden sind. 

Der andere Abschnitt mit der Aufschrift : » Accuratius quae- 
ritur de caussis favoris public i quo Homerus inter populäres flo- 
ruit.« S. 25 flf. sucht zunächst auszumitteln , wodurch denn die 
Homerischen Gedichte in frühem Alterthum zu so hohem Ansehen 
gelangt seyen , und ob sie dieses Ansehen , diesen allgemeinen 
Beifall ihrem Inhalt, also den darin erwähnten Nachrichten und 



»chen Ausführung, zu verdanken haben. Daß in dem Inhalt der 




Andern 





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624 ' Griechische Literatur. 

Sage ein nicht zu übersehendes Moment liegt, kann nimmer raehr 
geleugnet werden, nur darf ihm nicht eine zu grofse Ausdehnung 
gegeben werden, da allerdings in der Kunst des Qichters, also 
in der Fassung und Darstellung seiner Poesie, ein weit wichtige- 
res und einflufsreicheres Moment, wodurch das grofse Anseheu 
und die Bedeutung Homers so sehr gestiegen, gesucht werden 
mufs. Dies ist im Ganzen das Resultat der Untersuchungen des 
Verfassers; wir wollen es mit den eigenen Worten desselben, 
S. 28 u. 29 , wo es sich unter mebrern andern , in Bezug auf 
Fassung und Inhalt der Homerischen Dichtungen wichtigen Sätzen 
aufgeführt findet, beifügen: 

»Ex iis, quae posuimus, efficitur vel necessarium esse , ut 
in rerum traditarum memoria magnam vim Jaistc fateamur ad in- 
signandas in publicam gratiain Iliadem et Odysseara. Hae eo 
ipso , quod rerum Trojanarum monumenta fuerunt , omnes non 

Titanomachias , Tbeseides, Danaides et Phoronides, sed He- 
racleas et Thebaides gratia vere populari longe superarunt. Verum 
enim quum eaedem ea quoque carmina invicta laude post se reli- 
querint, quibus ab argumento ex parte tautuindcm commendationia 
accedebat, multo plurimum in poelae arte et humanilale silum Jueril 
necesse est.* Wir verbinden damit, indem wir uns auch hier 
mit der Angabe des Resultats begnügen, der eigenen Einsicht in 
die grundliche Untersuchung des Vis. das Weitere uberlassend , 
noch eine Stelle am Schlüsse des Ganzen S. 38 : » Manifestum est, 
Iliadem et Odysseam cetera carmina , etiam ea quae de Fabula 
Trojana essent , non tarn eo vicisse , quod memoriam belli Tro- 
jani uberiorem majoremque antiquarum rerum copiam haberent 
quam sua praestantia et virtute. Haec demum effecit, ut civita- 
tes, quarum in hello Trojano opera aut exigua aut nulla fuerat, 
sese per diasceuen i. e. interpolalionem corruptionemque monu- 
mento expetitissimo inferrent. Praeterea quicunque non 01 ationis 
et imitationis virtutibus, sed rebus traditis illam vim singularem 
et adrairabilem placendi tribueret, is merito ab ipsius Homeri 
judicio dissidere argueretur. Quaecunque enim in ipsis ejus car- 
minibus de cantu et cantoribus leguntur, omnia sie comparata 
sunt, ut artis id opus haberi intelligamus , quae non omnibus aut 
multis certe, sed paucis suppetat quibus Musa dederit; quura 
vero cantorum facultas accuratius describatur, Semper artem po- 
tius laudari quam res exhibitas. « 

Der nächste Abschnitt wird die Verbältnisse der dorischen 
Griechen zu den Homerischen Dichtungen näher beleuchten. 
(»Homerum inter Dorienses versantem illustremus * ) 

Chr. Bahr. 



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N°. 40. HEIDELBERGER i837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



1. Theodori Antiocheni, Mopavcatiae Epitcopi Quae »upereunt 
Omnia. Rdidit Aug. Frid. I ictor a H'egncrn, Theolpgiae Licen- 

t iatus, Philoa. Dr apmi Sc haken sei prope Regiomontum Borusso- 

rum DiaconuM. Fol. /. Theodori Comment arium in Prophet at 
duodecim minore$, ad exemplar Codicii Vindobon. nunc primum 
editum continene. Berolini, bei Dümmler. 1834. XXX und 720 & 
in gr. 8. 

1. De Theodori Mopaveateni P'ita et Scriptie, Comm. hiat. theo- 
logica. Scripäit Otto Fridolin Fritzecke, Theologiae Licen tia t ut. 
Halae 1836. X und 126 Ä*. tu 8. (Verlag de» H'aisenhauaea.) 

►Schon 1827 benutzte Dr. Sieffert in seiner Diss. Theodor ut 
IMopsvcslcn&is veteris teslamenli sobrie inlcrprelanäi vindex (welche 
Ree. nicht gesehen zu haben bedauert) unter anderm einige Frag- 
mente des Theodorischen Commentars über die zwölf kleine Pro- 
pheten (ob nach der ersten Bekanntmachung des gelehrten Majo 
vom J. i8a5? oder ob aus dem Codex theol. No. 55. der kais. Bi- 
bliothek zu Wien? weifs Ree. nicht — ) als charakteristische Pro- 
ben der nach ihrem Zeitverbältnifs allerdings merkwürdigen und 
etwas Besseres vorbereitenden , aber bald hierarchisch zurück- 
gedrückten Schriftauslegung Theodors, nach dessen 
buchstäblich historischer Hermcneia der zwölf klei- 
nen Propheten. i83o hatte Lic. von Wegnern (nach S. X) 
Gelegenheit, sich eine Abschrift von der so eben genannten Wiener 
Handschrift zu machen. Dieses Ms. selbst aber, auf Papier und 
wahischeinlich erst im sechszehnten Jahrhundert geschrieben« ist 
nur als Copie eines Colonna-Vaticatiischen Codex zu schätzen, der, 
mit Minuskeln und Accenten auf Pergament geschrieben, von 
Majo, dem eifrigen Entdecker und Verbreiter ungedruckter alter 
Texte, ungefähr ins eilfte Jahrhundert gesetzt wird. 

Während äufsere Umstände den Hrn. v. W. hinderten, so dafs 
er seine Abschrift, mit der ihr auf gebrochenen Columnen von 
ihm beigegebenen Version, nicht vor dem September i834 durch 
den Druck verbreiten konnte, hatte Majo schon 1825 Bomae 
im II. Th. des Vol. I. seiuer Veterum scriptorum nova collectio * 
e Vaticanis Codicibus pag. 41 — 104. den Theodorischen Com- 
mentar über Jonas, Nahum und Obadia, nebst dessen Proomien 
XXX. Jahrg. 7. Heft. 40 



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026 v Wegnern und Otto Fr. Fritsachc 

über Hosea, Arnos, Haggai und Zacharia abdrucken lassen. Diese 

Stucke verglich deswegen Hr. v. W. noch mit seiner Abschrift; 
und seine'Ausgabe giebt manche (wir wissen nicht, ob alle?) 
Differenzen zwischen dem Wiener und dem Vaticanischen Texte. 

Ein Mißgeschick Uta, äafs Hr. v. W. bis i834 nichts davon 
wufste, dafs Majo indefs, und schon im Jahre i83a im Tom. VI. 
seiner Scriptorum veterum no?a collectio p. 1 — 298. den gan- 
zen Theodorischen Commentar griechisch herausgegeben hatte. 
Daraus folgt , nicht blos , dafs auf dem r. Wegnernschen Titel zu 
den Worten nunc primum edidit — ein einschränkendes »in Ger- 
mania primum« hinzugedacht werden mufs, sondern auch, was 
weit unangenehmer iat, dafs der teutsche Herausgeber nicht auch 
aua der vollständigeren römischen editio prineeps sogleich die 
Differenzen zwischen ihr und seiner Wiener Abschrift unter sei- 
nen Text gesetzt hat. Diese, wahrscheinlich sehr kleine, VariaD» 
ten- Nachlese hatte inzwischen, etwa auf einem Bogen, als Addi- 
taraent zu dem Vol. I. ?on i834 nachgetragen werden können 
und sollen. 

Andere Bemerkungen eines accuraten Beurtheilert in der 
Halleschen Allgem. LZeit. i836. No. 64. 65. über Mehrere», das 
in der ersten teutschen Ausgabe besser zu wünschen wäre, setzen 
wir als bekannt voraus. 

Von der lateinischen Version des Herausgebers, in 
" welche ich jedoch nur selten einen Blick warf, bemerkte ich , dafs 
sie in Stellen, wo sie sich genau an den Text zu hallen doppelt 
' die Pflicht gehabt hätte, sich sehr unzulässige Umschrei- 
bungen erlaubt, p. 282. No. d. wird ö Seot genannt 9ta Tfioip 
ts i;uepwv xat vvxxav napatfo^at inl xov xr k xov(; avxov (seil. 
Jonain) 8iaoaaaq, v. W. yertirt : intra cetum conservarit inco- 
lumem. Wo bedeutet inl xov . . . intra? - — p. 284 sagt Theo- 
dor: Jonas xat iußXqSqvcu xijrct xat in avvov naga!to$<D$ oa* 
^rjvai *ai naoa8o$ox$pov 6x1 xr\v IxtiSev ävddvotv vnopeivai. 
Hrn. T. W's Version umschreibt flugs und nach Belieben: ceto 
nimirnm objici, prodigiose intra ejus venlrem seryari, multo vero 
prodigiosius ctiam Mine exittim nancisci. Wollte man auch be- 
haupten, Theodor habe durch sein infici ceio (= auf den Wall- 
fisch hingeworfen werden) eben das sagen wollen, was man ge- 
wöhnlich bei injici in oder intra cetum zu denken geneigt ist; so 
Wird doch in der Version, welche intra ejus venlrem, statt sw' 
avxov == »aut , oder über demselben« setzt, an Denen, die 
sich an die lateinische Übersetzung des Herausg. halten müssen, 



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I 



iber Theodor von Mnasreate. ' «29 

eine wahre Täuschung begangen. Hätte ein Rationalist sieb um 
»eines Systems willen eine Version dieser Art erlaubt, wie spöt- 
telnd wurde es ihm Tholuck, in der neuerlieh auf S. 1 » der 
Kritik gegen Streufs hervorgetretenen Weise, vorrücken, dafs 
er »die praktische Tendenz, sich auf dem Wege der Exe* 
gese der wunderbaren Elemente des Dogma's, wie der Ge- 
schieh te ,• z u entledigen, suche.« Was gewinnt das Dogma, 
selbst wenn es, der Wortbedeutung gemäfs, nur als Glaubens- 
meinung, nicht als Lehre, betrachtet wird, dadurch, dafs 
ihm (etwa am das Glossem« Matth, n, 40 zu vertheidigen) statt 
tn avrov über ihm, ein intra ejus ventrern zum wunderbaren 
Element gegeben wird? Auch 17 ixtiXcv &vd8voi$ ist, in Theo» 
dors Sinn, nicht ein Mine exire, sondern ein Von-Dort-aaf- 
tauehen. 

Dem der Verständigkeit mehr, als phantastisch -dogmatischen 
Speculationen, sich zuneigenden Haoptexegeten der Antiocheni- 
schen Schule fiel nicht, bei, das Wunderbare , das übrigens auch 
Er glaubte, bis zu der Widernatürlichliei t auszudehnen, ' 
wie wenn Jonas in den Ei nge weiden des Seethiers dreimal 
24 Stunden gewesen und nicht sogleich erstickt wäre» 
Wie in neuerer Zeit Prof. Anton zu Wittenberg eben dies aus 
eigener Ansicht des Textes genauer ausführte, so dehnt schon 
der Syrische Exegete des vierten Jahrhunderts (Theodor war ge- 
boren cirea a. 35o, starb a. 428 oder 429) das Wunderbare nur 
bis dahin aus, dafs die Schi (Heu te den Jonas ins Meer gewor* 
fen an p. 3oi tvtflaXov fi( *qv ÖaWjov, dafs er knl Sa- 
"kaaar^ tfepExo — auf dem Meere geschwommen sey, und dafs 
<5ott einem Ketos geboten habe, den auf dem Meere getragenen 
wegzuschnappen, fw. t>^ SaXaoor^ (ptpopevov *u%anteiv, 
so dafs der Prophet auf dessen Bauch = oi>ni? iv xoiMa, 
•sp§K Tt »ju^a* xeu vvxxa$ nsnoinniv a8ia<f>$opo<;. Dafs 

Theodoras unter dem xannuiv nicht ein Verschlingen, son- 
dern nur ein Aufschnappen [was auch der hebräische Aus- 
druck wenigstens zuläfst] und bei den Worten iv ttj xoi- 
Xia nicht ein ünverletztbleiben innerhalb des Leibes, sondern 
auf dem Leibe des Seethiers sich gedacht habe, sagt er so- 
gleich, indem er hinzufügt: der Prophet selbst habe sich ge- 
wundert, dafs er unbeschädigt auf dem Ketos, Inl tov x>?- 
-rotx; , erhalten wurde, **fuXaxTou. (ist. bedeutet immer über, 
niemals intra f) Daraus erhellt dann, dafs der syrische Exegete, 
weunerangiebt, Jonas habe ix xo.Xiag %av xrjvQvq sein Ge- 



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628 v. Wegnern und Otto Fr. Fritzsche 

bet zu Gott geschickt, doch dieses tu so verstanden habe, wie 
es sich mit dem nächstvorangegangenen tnt verträgt [Auch der 
hebräische Ausdruck ^T22 wenigstens nicht dagegen, 

wenn man auf dem Mittelleib des Fisches zu ubersetzen ver- 
sucht, so wie in den Worten *3?Jffl ohne Sünde gegen 

den Sprachgebrauch das *JÖ als = inde a, von dort weg, 

ubersetzt werden bann.] 

Mag man immer zweifelhaft bleiben darüber, ob der he- 
bräische Verfasser dieses Lehrmythos selbst bei diesen Aus- 
drücken das für uns gewohnlich (und deswegen wie natür- 
lich) angenommene Widernatürlichste eines dreitägigen Leben- 
digbleibens innerhalb eines Wallfischleibes, oder das immer 
noch nicht wenig wunderbare, doch (in einem Mythos!) eher zu- 
lässige Erhaltenwerden auf dem Bauche des grofsen Fisches, 
ursprünglich sich gedacht habe. Dem Übersetzer Theodors hätte 
es dennoch nicht entgehen sollen, dafs es seinem Auetor eigen 
ist, das Wunderbare zwar nicht ganz entfernen, aber auch es 
nicht bis in das Minderglaubliche steigern, und überhaupt nicht 
in eine bestimmte Erklärung desselben sich einlassen zu wollen. 
Nachdem Theodor zu Vs 1 1 , den LXX, an welche er sich allem 
hält, gemafs, gesetzt hat: tm zrv (war jfueoev, ohne genauer 
zu bestimmen, ob er sich ein Ausspeien aus den Eingeweiden, 
oder überhaupt ein Hinauswerfen auf das Festland, ge- 
dacht habe, fügt er p. 3o5 sehr vorsichtig bei: yap sa^a-rn« 
toriv avoias, tooovtuv weju avrov napa86$<a<; ytyovoxov xat 
fiaXiaxa yt navrav xr\(i iv Tep *»r™> o&T^ia<; 9 xfr Ik rqv x??- 
xovq t$odov noXvnqaypovelv [xdt] rot? n^otpnxov Xoyiapv xe Ott- 
oSai xaxaXaußaveiv av&fmxivq xai Sia xr\<; (popijq «rttf Jjfiere- 
pa; ?.F; ttr , 6 naq eyevixo. Offenbar war es Klugheit Theodors, 
das Wunderbare gar nicht zu erklären, sondern als blofse Ne- 
bensache in dem Lehrgedicht es der Fassungskraft eines Jeden 
überlassen, doch es auch nicht vermehren, am allerwenigsten 
aber wichtige Folgerungen (für den Infallibilitätsglauben) darauf 
gründen zu wollen. Die in Gedichte und Lehrerzählungen ver- 
wobene Wunder oder Abweichungen von der bekannten Natur. 
Ursächlichkeit setzen nicht einmal voraus , dafs sie doch — auf ir- 
gend eine unbekannte Weise — naturgemäfs erfolgt seyn müfsten, 
wie die historisch beglaubigten. Wunder in Lehrerzählungen 
(wie z. B. das Sprechen der Schlange Genes. 3.) sagen zum vor- 
aus, dafs es dem Verfasser nur um eine geschichtähnliche Ein- 



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über Theodor von Moptvcate. 62i> 

• * 

Meldung seiner Lehrgedanken , nicht um historischen Glauben zu 
thun war. Aber um so unpassender für den Herausgeber eines 
so vorsichtigen alten Schrifter klarers ist es, dafs er für Leser , 
die der lateinischen Version vertrauen, in ihn das vergröberte Jund 
wohl bedacht] ich von ihm vermiedene hineinträgt und das iv tcji 
xijtg) oo)xn?ia<i (nicht durch tri ceto , sondern) durch vitam inira 
viscera ceti ubersetzt. 

Eben so sehr ist es wider die Übersetzerspflicht, dafs er im 
Va 7, wo Theodor den Mittelleib des Ketos, worauf er sich den 
Jonas dachte, ein Land, eine yr t v nennt, woraus derselbe nicht 
entfliehen konnte, worin (= tvdov) er unbeschädigt wohnte, 
woher er aber kein Auftauchen, txdtaiv , fand, abermals be- 
stimmt in das Innere des Seethiers verwandelt, v. W. uber- 
setzt : ibi me excepit cetus , intra quem terram quandam videbar 
incolere, unde ev ädere homini ibi detento non licebat. Der Text 
sagt viel unbestimmter: exuSev o*u£t$aTo pe 6 xtjrqq, xou yi\v 
«rt*a tdoxovv oixuv , t§ ttf anofvyttv to xaTe%optV(? dvvaxov 
ovdapa>q $nr t p%9. 

An der Entscheidung: Ob der alte Verfasser des Mythos 
— denn dafs die Geschichte des Jonas eine für einen unverkenn- 
baren Lehrzweck verfafste Wunderev^ählung sey, hat Ree. im 
6. Stuck seiner Memorabilien schon 1794 S. 3a — 69 gezeigt — 
den Propheten, wie den Amphion, auf den Rücken, oder noch 
auffallender in die Eingeweide eines Seethiers versetzt habe, 
ist, wenn sie je möglich wäre, gar wenig gelegen. , Alle soge- 
nannte Wundererklärungen wären nur ein Problem für den Hi- 
storiker und Physiker, für die Theologie aber, welche aus allen 
unerklärten Wundern und Orakeln des Heidentbums, auch ohne 
sie erklären zu können, doch für die Lehre nichts folgern zu 
dürfen entschieden ist, kaum der Mühe werth ; wenn nicht der 
blos kirchlich hierarchische Infallibilitätsglaube auf den Schlufs: 
»Sie sind buchstäblich so geschehen und können doch natür- 
lich nicht entstanden seyn! Sie müssen also etwas über- 
natürlich gewirktes und zwar etwas in der Absicht, eine unfehl- 
bare Offenbarung zu beweisen, gewirktes gewesen seyn!« diesen 
seinen ganzen Mysticismus (Geheimnifshang) zu bauen versucht 
hätte. Nur gegen die fehlerhafte Argumentation, welche sagt: 
sie können nicht natürlich geschehen seyn , also müssen 
sie überua türlich, und zwar als Beweise einer übernatürlichen 
Lchrmittheilung bewirkt worden seyn, sollen die Hinweisungen , aus 
wie mancherlei natürlichen Ursachen sie erfolgt seyn können, 



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630 v. Wegncra und Otto Fr. Fritzach- 

für Vorurteilsfreie von einiger Bedeutung seyn. — Auf jeden 
Fall aber war an den Herausgeber der einzigen vollständigen 
Probe von der einst bewunderten und dann verketzerten Theo« 
doriseben Hermeneia zu fordern, dafs er die Eigentümlichkeit 
des Exegeten , dessen philosophisch historische Tendenz wenig- 
stens die alexandrinisch allegorisirende und die specnlativ dogma- 
tisirende weit übertraf, für die auf den griechischen Text nicht 
aufmerksamen Leser nicht verkehrt hätte darstellen sollen. 

Eine andere sonderbare Unrichtigkeit ist dem Ree. 
bei S. XII der Prolegomena aufgefallen. Hr. v. W. sagt: In 
Einem Vaticanischen Codex sey die Erklärung des Zacharias wahr* 
scheinlich deswegen weggelassen, weil der Orthodoxie die Be- 
hauptung des Theodor, dafs die alttestamentlichen Schriftsteller 
von der Persönlichkeit des heiligen Geistes im Gott* 
wesen noch nichts gewnfst hätten, allzu anstöfsig gewesen sey. 
Allerdings war dies auch eine — exegetisch richtige — Behauptung 
Theodors. Aber v. W. will dadurch Scholien und Auslassungen 
im Zachariah erklären und cilirt dazu in der Note» Coroment. ad 
Zachar. I, 8 — 11. p. 537 sqq. Dennoch ist gerade in dieser 
ausführlichen Stelle, bei welcher einige Codd. verwerfende Scho- 
lien am Bande haben, kein Wort vom heiligen Geiste. 
Vielmehr erklärt dort der auch hierin gewifs den alexandrinischen 
Allegoristen vorzuziehende Antiochenische Exegete (nur mit allzu 
grofser Helligkeit) zweierlei für eine «Xavq, «v<ua, ja aotäuaq 
om a^iffTcx;; nämlich wenn man (nach der alexandrinischen , fast 
zum Kirchengebot gewordenen Scbriftomdeatung) behaupte: dafs 
die Propheten den Sohn Gottes schon als Gott ge- 
kannt hätten, und (p. 54 1 ) dafs er ihnen als ein Engel (dea 
Bundes und sonst) erschienen sey. Theodor besteht exegetisch 
richtig darauf:, das Alte Testament kenne als ewiges Wesen und 
als Ursache von allem (a'idiov ovaiap xou napxuv ovatav) nur 
Gott den Vater und Schöpfer. Söhne Gottes Seyen nur die 
genannt worden, welche xata oixeiooiv Seov [wegen einer Haus« 
Verwandtschaft mit Gott? d.i. weil sie gewissermsfsen zum otxo$, 
zur Familie Gottes gehörten?] etwas mehr, nXtop xt, ge- 
habt hätten. Selbst die Apostel hätten top Xpiorov Gotres 
Sohn genannt nach der früheren Gewohnheit der Frommen 
baov xar' oixitoioiy Deswegen sage Jesus Joh. 16, 19: Er 
hätte ihnen noch viel zu sagen und der Geist der Wahrheit 
werde sie in alle Wahrheit leiten. Selbst die Apostel hätten 
diese höhere Bedeutung des Namens Sohn Gottes als Sso$ bei 



i 



über Theodor von Moptvcatc 6dl 

dem UeoxoTiK X^taroQ erst nach der Rückkehr desselben 
in den Himmel durch den heiligen Gebt gelernt! 

Unstreitig vermied hierdurch Theodor viele dem historisch 
genauen Exegeten wohl bekannte Schwierigkeiten. Zum Beispiel. 
Der Hohepriester hatte bei der Frage: Bist Da des lebendigen 
Gottes Sohn? *) als Jude gewifs nicht an eine zweite Person in 
der Gottheit« sondern nur an den Würdenamen des Messias ge- 
dacht. Jesus aber bejaht die Frage in diesem Sinn, und setzt 
nichts höheres hinzu, sondern nur mit Da nielitt sehen Worten 
dies, dafs er bald als Regent des Gottesreichs macht voll' wieder- 
kommen werde. Von einer höheren Bedeutung oder Homousie 
mit Gott selbst finden wir von ihm selbst in dieser gerichtlichen 
und letzten Erklärung über sich nichts berichtigendes gesagt. Und 
wollte man sagen, dafs er es blos deswegen, weil es doch nicht 
vom Synedrinm geglaubt worden wäre, nicht angegeben habe, so 
wäre dies ein Grund , wegen dessen er überhaupt auch von sei- 
ner Messiasschaft hätte schweigen- müssen. 

Theodor vermied nach ebenderselben Hauptstelle auch das alles, 
was die alexandrinischen Allegoriker dadurch unexegetisch in das 
dogmatische — für mögliches und unmögliches empfängliche — 
Bewufstsein ihrer und der folgenden Zeiten einschoben, dafs sie 
den Logos schon oft und viel als Engel des Bundes im A. T. 
manifestirt finden wollten. Auf der andern Seite aber hätte ihm 
die Kirchenorthodoxie noch danken sollen, dafs er dann doch die 
ScofTjTfli To» fiovoysrovf pag. 541 den Aposteln nach der 
tnavolloq uq xov ovpavov geoffenbart statuirte, ungeachtet es 
dem Exegeten schwer hätte werden müssen, irgendwoher zu be- 
weisen, dafs das, was der unbekannte Redaetor des Johannes- 
evangeliums, in seinem vorangestellton Prologus, über den Logos 
als Weltschopfungsorgan und als eingekörpert in Jesu Leib (aop{ 
ytvotiBvoq = ewrapxG&st;) voraussetzt, zuverlässig aus einer 
späteren, besonderen Lehrentdeckung des heiligen 
Geistes geflossen sey. Hatte doch, nach dem Evangelium selbst, 
Jesus sich als Christus und als Gottes Gesandten 17, 1. 2. von 
»Gott dem Vater, als dem alleinigen wahren Gott«,_so feierlich 
in seinem für die ZuhöVer lehrenden Gebet an den Vater unter- 
schieden. Und ist es doch in der That ein wichtiges Zeichen 



*) Vergl. Hosea 1, 10, wo voui gebesserten Volk gesagt wird, statt 
dars sie bis dahin ein tni-kaof S«ou zu nenucn wären, avret xXyfytrourat 



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633 Wegoeni und Otlu Fr. FriUtche 

von der Redlichkeit and Glaubwürdigkeit seiner historischen Über- 
lieferangen, dafs, ungeachtet der Verfasser des Prologs sich den 
Geist im Leibe Jesu offenbar als den weltschaffenden Logos ge- 
dacht hat, er hievon doch gar nichts in die überlieferten Worte 
Jesu hineingelegt hat. 

Fast unbegreiflich ist, wie ein kirchenhistorischer Schuler 
von Dr. A. Neander, der im II. Bd. 3. Abtb. seiner KG. den 
Theodor von mehreren Seiten her, besonders in christologiseber 
Beziehung, so richtig schildert und dem Hr. v. W. dieses Vol. I. 
dedicirt* hat, in eine solche Nachlässigkeit sich verwickeln und 
die in der Auslegung von Zachariah vorkommende so merkwür- 
dige und weitla'ufe Stelle über den Sohn Gottes, wie etwas 
vom heiligen Geist als Gott handelndes, angeben konnte. 
Müssen nicht dadurch die Leser von der Theodorischen Theorie 
sowohl über den Sohn als über den heiligen Geist eigentlich ab- 
gelenkt werden? Denn so wie sie in dem citirten Commentar zum 
Zachariah nichts vom Geiste als göttlicher Person and 
nichts davon finden, dafs er alttestamentlich noch unbekannt ge- 
wesen scy, so erfahren sie auf der andern Seite nicht, wo denn 
der Theodorische Commentar behaupte : Veteris Testamenti scrip- 
tores Spiriturn sanetum neseivisse, id est, ejus SeoTjyTa nondam 
cognovisse. 

In beiden Beziehungen hatte sich Theodor der wahren Be- 
schaffenheit der Sache wenigstens um einen grofsen Schritt exe- 
getisch genähert. Sehr tief nämlich mufs er, was an sich unver- 
kennbar ist, dies beachtet haben, dafs Jesu heiliges Leben und 
seine bis in den Kreuzestod beharrliche, gottandächtige Überzeu- 
gungstreue (dieses Wunder von menschlicher Gemüthskraft!) 
doch für uns übrige Menschen nicht als Musterbild zeigen würde» 
wie viel ein Menschengeist in gottgetreuer Rechtschaffenheit ver- 
möge, wenn, wie es immer mehr damals die gewohnliche Kir- 
chenmeinung wurde, Jener selbst alles dieses im unveränderlichen 
Bewufstsein seiner unzertrennlichen personlichen Vereinigung mit 
dem über alle Geister erhabenen Logos Gottes gethan und gelit- 
litten hatte: Die künstliche Aushülfen, dafs die göttliche Natur 
sich bisweilen von der menschlichen Natur Christi, wenn diese 
sich als rechtbandelnd oder leidend zu erproben hatte, in eine 
gewisse nyvfyM oder Verstecktheit zurückgezogen oder den Men- 
schen Christus durch eine wundervolle xeycoai* während solcher 
Handlangen von dem Bewufstsein der unabänderlichen Union mit 
dem Gotteswesen >> ausgeleert ä und also den rein menschlichen 



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über Theodor von Moptvette. 683 

WiHen Jesu bisweilen seiner eigenen Kraft und Freiheit überlassen 
habe, waren damals noch nicht erfanden. Wir wissen jetzt, dafs 
sie erst noch dem speculativen Erfindungsgeist teutseber Theologen 
"(zu Giefsen und zu Tübingen) vorbehalten waren. Theodor aber 
nahm dagegen an, dafs der Logos, als Sohn Gottes zwar den 
Menschen Jesus von dem ersten Augenblick an in die unzertrenn- 
liche personliche Einheit mit sich aufgenommen habe , weil Gott 
der freien Willensbebarrlichkeit dieses Menschengeistes für alles 
Gute zum Toraus gewifs war, dafs aber eben deswegen, um den 
Menschengeist Jesu doch ganz frei bandeln und sich so erproben 
zu lassen, jene persönliche Union des ewigen Sohnes Gottes mit 
dem Menschensohn weder den Propheten, noch den Aposteln be- 
kannt, noch Jesu selbst vor seiner letzten Leidensprüfung 
immer gegenwärtig gewesen sey. (Hat man sich einmal räthsel- 
hafte Aufgaben gemacht, so müssen wohl auch rathsei hafte Ver- 
suche zur Auflosung zugelassen werden.) 

Das , was der Theodorische Commentar zu Zachar. 1 , 7. 
über das Nichtwissen der Propheten von einem &eo{ als 
vios naTfoq Sbov (p. 538 — 541) exegetisch richtig behauptet, 
stund demnach mit des Kirchenlehrers kunstreichem Versuch, das 
idealisch Muster mä'fsige im menschlichen Leben Jesu dennoch mit 
dem kirchlichen Trinitätsdogma und den beiden Naturen in Christo 
in Harmonie zu bringen, in genauer, dogmatischer Verbindung. 
Abermals ein Beispiel, wie schwer es hält, ein durch theoretische 
Speculationen gebildetes Dogma mit dem exegetisch wahren in 
Vereinbarkeit zu erhalten. Das wichtigste ist für den religiösen 
Schriflforscher, die moralisch religiöse Aufgabe zu fordern, wie 
wir in Jesus einen factiseken Beweis, was die menschliche Wil- 
lensfreiheit in der beharrlichsten Gottergebenheit vermöge, zur 
menschlich möglichen Nacheiferung zu erkennen und uns als ' 
christlich idealisch vorzuhalten, allen Grund haben. Denn dafs 
für uns übrige, die wir, auch wenn wir von der Erbsünde ab- 
sehen, doch nur Menschengeister sind, das alles, was ein vom 
Gotteswesen auf eine ganz andere Weise erfüllter 
und emporgehobener Geist vermochte, nicht die Möglich- 
keit, e^ben so gesinnt zu seyn, darthun wurde, ist unläugbar. 
Und «Joch ist gerade dieser Beweis der menschlich möglichen 
Nachahmung für den Einflufs der Christusgescbichtc auf unser 
christliches Wollen von gröfstem Gewicht, da umgekehrt die 
höchste Beständigkeit und Sündlosigkcit eines mit Gott zum vor- 
aus unzertrennlich vereinten Geistes in allen Versuchungen nicht 



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634 v. Wegnern und Otto Fr. Fritztche 

einmal zn bewundern , noch weniger aber ron anders beschaffenen 
Geistern zu erreichen seyn wurde. 

Was den heiligen Geist betrifft, so behauptete Theodor 
ebenfalls, aber an ganz andern Stellen, hauptsächlich zu Joel » y 
28, da Ts der Ausdruck: Ich will meinen Geist ausgieße«, nichts 
anderes bedeute, als: Ich will Allen meine reiche Fürsorge, 
«Tffiovta, beweisen! dafs Je ho va von seinem Geiste dort in eben 
dem Sinn rede, wie in andern Stellen (Jes. i, 14) ron seiner 
Seele als ron seinem Selbst, da die im A. T. ron einem in der 
(Person liehen) Bestehensart monadischen heiligen Geist, welcher 
ron den übrigen (Personen?) gesondeit Gottes (Geist) und aus 
Gott wäre, nichts wufsten. Seine Worte sind: tor tnt t** *at- 
Xataq äiot&qxi?; Tivtvpa pev dyiop popatitxov iv inooraoti , xe- 
yu)^icT^.tv(r>q *0)V Xoinoiv [??] $iov xt op xai ex 9-eoo, ovx int" 
oxaf.iei(ov. Hr. r. W. übersetzt: saneti [?] reterrs testamenti 
scriptores Spiritum sanetum naturam [?] esse hrpostatice existen- 
tem et a ceterls NUminis {personit) segregatam et a Deo pro- 
ftetam [?] nondom noverant. Wir halten für hinreichend, durch 
unsere Fragezeichen angedeutet zu haben, wie dergleichen an 
sich merkwürdige Stellen nicht hatten periphrasirt werden sollen. 
Den Begriff fiovo&xov giebt der Übersetzer seinen lateinischen 
Lesern gar nicht. Was würde der in seiner Hermen eia so 
eifrige Theodor dazu sagen? 



Die zweite Schrift, deren Verfasser als Professor an die 
Stelle des so frühe rerstorbenen , noch so riel tüchtiges der Wis- 
senschaft zu hoffen gebenden Dr. Rettig nach Zürcth gerufen 
ist, giebt den Beweis, dafs er den Reliquien des oft genannten 
und wenig gebannten Mopsvestcners mit rieler Muhe in Catenen, 
Concilienacten und verketzernden gegnerischen Schriften nachge- 
spürt hat. Da Hr. r. Wegnern seit i834 das Volumen II. sei- 
ner Theodori Omnia nicht bekannt gemacht hat, so wäre riel- 
leicbt eine Übereinkunft zu treffen, dafs Hr. Prof. Fritzsche 
diesen Apparat vervollständigt an das Volumen I. desselben an-, 
schlösse. 

In so fern manche der aufgefundenen Fragmente zwar der 
antiochenischen Exegese, aber nicht bestimmt dem Theodor an- 
gehören, so möchte ich alsdann wünschen, dafs Er, als Sosptta- 
tor dieser Siaano^a , lieber alles gleichartige, möchte es auch 
vielleicht von Diodor, Lucia n, Ibas oder andern jener besseren 



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♦ 

Schale abstammen, so wie es noch zu finden ist, aufnähme und 
dadurch eine Resurrection der Schola Antiochena vor Neatorius 
so bewirken sachte. Denn am Ende ist es doch bei jeder dieser 
Reliquien mehr darum zu thon, ob sie in jene Schriftauslegungf- 
methode gehöre, als darum, ob ein Aioo\ oder ein StoS vor- 
zusetzen sey. 

Dabei möchte ich gerne noch einen Wunsch nicht verschwel* 
gen. Die biblische, besonders die ncntestamentltche Philologie 
scheint seit einiger Zeit mehr mechanisch als spirituell , mehr nur 
▼orb ereitungs weise , als so wie es von solchen, die das Theologische 
nach allen seinen Theilen und um der Resultate willen durchge- 
arbeitet haben sollen, anwendbar gemacht werden mufste, behau« 
delt zu werden. Allerdings ist Genauigkeit im Erforschen der 
Bedeutung einzelner Worte, Wendungen, selbst Partikeln nothig. 
Aber am Ende ist doch die Hauptsache, das, was dadurch für 
den Sinn des alten Schriftstellers, für das Ganse seiner Lehre oder 
auch seiner besondern Meinung entdeckt werde, nicht blos mer- 
ken zu lassen, sondern ins Klare su bringen, damit nicht jeder 
andere den nämlichen Apparat mit fast gleicher Muhe wieder 
durchzumachen und die — gewöhnlich nicht sehr nahrhafte *— • 
Brosamen guter Winke oder Einfälle kärglich her vorzubuchen 
genothigt bleibt. Das Leben ist kurz, des wissenschaftlichen Su- 
chens gar vielerlei. Wer nun zum Beispiel alle jene Überreste s 
der Antiochenischen früheren Schule aufzuspüren sich die ver- 
dienstliche Mühe gegeben hat und dieses Poekile eines exegeti- 
schen Apparats veröffentlicht, wie viel Dank wurde er verdie- 
nen, wenn er jedes an sich probable Fragment mit einem Stern« 
eben, jedes auffallende etwa mit einem f bezeichnen wollte. Wie 
sehr würde er dadurch Andern die Muhe vermindern, eines wie 
das andere mit gleicher Aufmerksamkeit anblicken und fragen zu 
müssen: ob es nur das gewöhnliche, oder ein Saaraenkorn eines 
eigentümlichen Resultats enthalte. Dem Sammler, der alles Ein- 
seine erwägen mufste, würde es sogar, dünkt mich, eine Art Er- 
heiterung gewähren, wenn er, ohne ein Wort zu verlieren, das 
Ergebnifs seiner speciellen Betrachtung festhalten und Andere 
dadurch zugleich zum schnelleren Überblick des Merkwürdigeren 
reizen konnte. Oder soll denn Jeder die ganze Masse von Spreu 
durch worfeln, um die schwerere, gehaltreiche Hornchen (sparsam 
genug) niederfallen zu sehen? Um Resultate mit den dazu ge- 
hörigen Gründen ist es zu thun! Jeder, der den Apparat dazu 
so vollständig wit mogKcb darlegt, erbebt sich dadurch über den 



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63« 



v. Wegncrn und Otto Fr. Fritziche 



blofsen Sammler. Wer dann selbst forschen kann und will, wird 
dennoch oft auch auf das Nichtbesternte and Nichtbekreuzte dank* 
bare Blicke werfen und das gewöhnliche schätzen, wodurch dem 
Alten das Eigentümliche und Auszeicbuungswürdige möglich ge- 
worden ist. 

. Beiden Verfassern dankt Ree. die Veranlassung, welche sie 
ihm gaben, über die exegetische Methode Theodors sich manche 
Bemerkung zu machen, die er als eine Belohnung seines immer 
nach Resultaten strebenden Durchlesens der mitge- 
thcilten Materialien betrachtet. Einiges davon kann auch 
Andern entweder eine Muhe ersparen, oder zu einer eigenen Be- 
trachtung aufregend werden. 

Fast unbegreiflich ists, wie ein geborner Syrer, bei einer so 
frühen Neigung, das Alte Testament zu erklären, sich doch nur 
an den alexandrinischen Übersetznngstext halten und (ganz an* 
ders, als der Lateiner, Hieronymus,) um Kennt nifs des ihm doch 
so nahe verwandten hebräischen Urtextes unbekümmert bleiben 
konnte. Von der alexandrinischen Übersetzung nimmt Theodor 
bei Zephan. 1,4. p. 469 an: dafs siebzig avty€<; Kpfa/foxspo* 
Tob 'kaov, entaTr^iovn; fiev axpipG)^ Tqq y\<dx%m tj^ oixcigk, 
tmaTn^ovtq S$ xai tov ypatpav , 4>no dt xor Upeos jtar- 
to s xov I(j|>a);?.iTtxor Xaov doxi^aa'bei 1 Ei, gewesen seyen. Wie 
konnte der Mann, welchem es um historische Exegese so sehr 
zu thun war, der unhistorischen Tradition über die alexandrini- 
sche Version (wie wenn sie durchweg von einerlei, so belobten 
Bearbeitern abstamme) so viel Glauben schenken? (Vergl. eins 
ähnliche Präconisation bei Habac. 2, Ii.) 

Der Syrischen Übersetzung dagegen ist Th. wenig geneigt* 
p. 369. » Man wisse, noch heute, nicht, durch wen sie gemacht 
und von welcher Art Dieser sey.« Bei Habac. 2, ti nimmt 
er ihr sehr übel, dafs sie das Hapax legomenon 0^£2 nieht, wie 
die LXX xaySapos = axraXij?, sondern naaaaXot; Nagel, 
tt lamm er, übersetze. Und doch ist die Metapher viel consequen- 
ter, dafs, wenn die Steine eines Hauses (darüber, daß es nicht 
dauern Könne) schreien, auch die Nägel und Klammern aus 
dem Holz dazu gleichsam antworten d. h. damit übereinstimmen, . 
Den Steinen stehen weit eher die Holznägel in dem Ge- 
bäude gegenüber, als die etwa in den Wänden steckende In- 
secten = xav&apot, die mit der Haltbarkeit des Baues in kei- 
ner Beziehung stehen. Zur Erläuterung mag eine sonst über- 
sehene Observation beitragen. Schon Castcll. im Polyglottcnlexicoo 



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1 



über Theodor von Moptvetie. 



«37 



p. 1787 bemerk, dafs bei den LXX wahrscheinlich zu lesen sey 
*a9$tfio<;. Dieses Wort bedeutet nach Vitruv de Architectura 
1. 4. c. s. p. 169 — 171 gewisse Balken, » prominentes ad ex- 
tremam subgradationem = tecti partem porrectiorem , ubi fit 
stillicidium «. Wenn solche Balken, nebst den Steinen, die Un- 
nahbarkeit des Gebäudes verkündigen, so ist, was der Prophet 
sagen will, ganz gesagt. (Beiläufig bemerke ich, da ich so eben 
auch Uro. Dr. Middeldorfs sehr schätzbare Ausgabe des Codex 
Hexaplaris Syriacus — i835. 4. — vergleiche, dafs dort p. 221 
Kfl&nVffl » talt MTW!! gedruckt erscheint, weil in der syri- 
schen Schrift, womit dieses Werk gedruckt ist, Jod und Schin 
allzu leicht verwechselt werden konnten.) 

Wir bemerken weiter: Theodor ist sehr geneigt, historisch 
zu erklären und daher auch die Psalmen und Prophetenspruche 
auf bestimmte Begebenheiten zu beziehen. Woher aber nahm er 
seine Geschichte jener Vorzeit? Er nimmt z. B. an mehreren 
Orten'an, die Überschwemmung Asiens durch Skythi- 
sche Horden falle in die Zeit Zorobabels und von die- 
sem seyen sie in Palästina besiegt worden. Aber wie konnte 
Theodor (zu Zach. 3, 8 — 10. S. 570. und sonst) diesem un- 
mächtigen Exulantenfürsten solche Siegeskräfte zutrauen? Nach 
Herodot 1, 104* 2, 1. 7, 10. drangen die Skythen vor, da noch 
Meder und Assyrer mit einander kämpften und sich selber 
schwächten. 

Von den Psalmen nimmt Theodor an, dafs sie alle von 
David seyen, dafs dieser aber die Schicksale seiner Nation bis 
in die Makkaböerzeiten hinab prophezei he. Im Grunde also 
konnte sich der historische Exeget nicht ableugnen , dafs mehrere 
Psalmen auf die Makkabäerzeit sich beziehen ! Er vereinigte nur 
dieses geschichtlich unleugbare mit seiner Kirchen meinung (Dog- 
ma), dafs alle Psalmen Davidisch seyen, durch das Wagestuck, 
sie für eine historia ante historiam zu halten, wo die Nation selbst 
oft als die redende Person zu denken sey. Wie Tausend andere, 
fragte auch Theodor sich nicht: Wozu hätten dergleichen wun- 
dervolle specielle Voraussagungen wirken und nützen sollen? 
Etwa damit man glaube, dafs Gott auch Zukünftiges wisse? 
Aber rechnet dies nicht fast Jeder, der einen Gott glaubt, zum 
voraus zu dessen Vollkommenheiten? Selbst der heidnische Be- 
griff von Zeus, Apollon u. s. w. schlofs dies in sich, ehe man 
sybillische Vorausbeschreibungen der Zukunft dachte und glaubte. 
Und wen hätten dann Davidische Voraussagungen über die Makka- 



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r 

«38 v Wcgncrn and Ott» Fr. Fritnche über Theodor von Mopgvestc. 

bücrschicksale tob Gottes Vorherwissen überzeugen sollen und 
können ? Ehe sie erfolgten, konnte die ganze Zwischenzeit keine 
Vergleichang zwischen dem Psalm und ' der Erfüllung anstellen. 
Sah man aber aus den späteren Zeiten auf dergleichen Psalmen 
und angebliehe Orakel zurück, so konnte niemand gewifs seyn, 
wie alt? wie unverändert sie waren? Das meiste Vorausgesagte 
aber erscheint ohnehin so -unbestimmt , dafs bekanntlich die ehr- 
lichsten Exegeten sich über das, was eigentlich vorausgewußt 
gewesen sey (man denke nur an die siebzig Jahrwochen) nicht 
vereinigen können. 

Streng hielt Theodor mit Recht darauf, dafs nicht etwa ein* 
zelne Verse eines alten Textes auf den Messias sich direct bezo- 
gen, wahrend die übrigen von andern Personen zu deuten wa« 
reo. Das Allegonsiren der Alexandriner war ihm rerhafst. Wenn 
Petrus Apost.Gesch. 2, 3i. aus dem Ps. 16 , 10. die Werte; ov- 
3s r\ aap^ avrov titit ö*ttirp^oj)(*v auf Jesu haldige Wiederbele- 
bung bezieht, so hält Theodor (zu Zach. 9, 10. 11. p. 6i3.) fest 
daran, David sage dieses vnepßoXixo»; (in dichterischer Vergrös- 
serung) vom Volk Israel! Die Anwendung auf Jesus nennt 
er typisch, aber nicht in dem Sinn, wie wenn dergleichen et- 
was vorausgeschehen und gesagt worden wäre, »damit« dadurch * 
ein Erfolg bei Jesus habe vorgebildet werden soWen. Typus 
ist ihm das Alte geschehene, nur in so fern es als etwas ähn- 
liches dort in Erinnerung gebracht werden konnte, wo bei Jesus 
etwas weit stärkeres und gleichsam vollständigeres, «Atyf- 
errepov, geschah. Jesu Geschichte ist ihm dann das wahre und 
volle (nicht das erfüllte, sondern das ausgefüllte, jsXij- 
paSev) , gegen welches er das Ältere nur Schattenwerk, oxta, 
nennt. Nicht aber ist ihm dieses eine praeßguratio oder etwas , 
das »erfüllt« hätte werden müssen , weil es nun einmal vor- 
hergesagt "war. (Wogegen immer der Gedanke auftreten würde: 
dafs es nur nicht hätte vorher gesagt werden sollen!) Eine 
Hauptstelle über diese richtigere (rationale) Ansicht s. bei Zach, 
ö, 0. 10. pag. 61a. Für Theodor war das Ältere nur <rxt<* s— 
ein Schatten werk als etwas dunkleres, vergleichbares, 
worauf man von den Erfolgen bei Jesus als vom bellen , vollen , 
wahren, habe zurückblicken können. Z. B. Ps. 86, 37. 38. rede 
vom ewigen Regiment der Nachfolger Davids überhaupt, v tor> 
nQaypaxoq aXr^ua = das factisch wahre aber sey als Messias- 
reich durch Jesus geworden. (Aach im Hebräerbrief 8, 5. 10, 1. 
ist oxta Schatten werk im Gegensatz gegen das Bleibende, 



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aber nicht praeßguratio am Vorbild) — Oft sucht überhaupt 
diese Exegese eine leichtere Bewegung zu gewinnen, indem sie 
annimmt, daff manches mit (dichterischer) Übertreibung, v*s*- 
0oAix0{, gesagt sey und da fs selbst bestimmte Zahlen (z. B. Zach. 
11,8. die drei Hirten in Einem Monat) doch nur als unbe- 
stimmt tm deuten seyen. Vgl. bei Zach. 8, a3. 3, to. Eben so 
erlaubt er sich (bei Zach. 7, 14. Joel 2, 18L) die Voraussetzung, 
dafs oft bei David ond den Propheten das Vergangene im Futu- 
rum und umgehehrt das Zukünftige als Präteritum ausgesprochen 
sey. 1 Was kann nicht alles gefunden werden, wenn dergleichen 
tvulXayat, wie Regel gelten! 

Wahrscheinlich hatte Theodor nicht lange zuvor seinen Psal- 
mencommentar durchgearbeitet. Auf diesen beruft er sich oft 
und wie aus frischer Erinnerung, auf andere eigene Arbeiten 
nicht. Die Propheten, welche er be\ Zachar. 9, 9. nennt, sind 
eben die sogenannten Kleineren. 

Doch genug für den Zweck unserer Jahrbücher. Mögen nur 
beide Heransgeber, besonders Hr. Prof. Fritzsche, die nun 
einmal auf die Antiochenische Exegetenschule gerichtete Aufmerk, 
samkeit bald durch eine vervollständigte Sammlung aller dorther 
zu reitenden Reliquien befriedigen. 

Mai 1837. Dr. Paulus 



Wörterbuch der Lateinischen Sprache, nach historisch genetischen 
Principien, mit steter Berücksichtigung der Grammatik, Synonymik 
und Alterthumskunde, bearbeitet von Dr. Wilhelm Freund. Zwei- 
ten Bandes erste Abt heil ung. — Leipzig, in der Höhnischen f'ertags- 
Buchhandlung. 1836. ( Interims- Titel) (24 Bogen , die Buchstaben 
D. K. bis excio enthaltend.) 

Fast schneller, als wir zu hoffen wagten, folgt dem ersten 
Theile dieses Werkes, welchen wir im Jeniushefte i835 dieser 
Jahrbücher angezeigt haben, ein neuer Theil, oder vielmehr ein 
Theil eines Theiles, gleichsam als Pfand und Burgschaft des un- 
unterbrochenen Fortscbreitens eines Werkes, welches m so hohem 
Grade geeignet ist, der deutschen Philologie Ehre zu machen. 
Unser gleich zn Anfang gefälltes Unheil über das Werk, weit 
entfernt, durch eine, uns sonst hochachtbare, Stimme in einer 
andern Zettschrift umgestimmt zu werden, hat sich uns durch 
fortgesetzten Gebrauch desselben nur noch mehr bestätigt, und 
dieser neue Theil, von dem wir ein grofses Stück ganz nnd ge- 
nau durchgesehen haben, bat uns in der Überzeugung bestärkt, 
dafs mit dem Fortgange de$ Werkes dem Verfasser die Kraft ge- 



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tf40 Freund : Wörterbuch der Lateinischen Sprache. 

wachsen ist, Sorgfalt aber and Fleifs sich gleich blieb und, wo 
möglich, noch gesteigert bat. Auch die Verlagshandlung ist in 
der Sorge für schone Ausstattang and grundliche Correctur fort-, 
gefahren, und wenn auch noch, bei der millionenfachen Möglich- 
keit zu fehlen, einige wirkliche Fehler stehen geblieben sind, so 
wollen wir die Pflicht der Billigkeit nicht über dem minutiösen 
Suchen von kleinen Fehlern des Druckes vergessen, so wenig als 
uns die Entdeckung einzelner Mängel des Werkes gegen den Verf. 
ungerecht machen soll, .der mehr geleistet hat, als irgend Einer 
seiner Vorganger, und der recht wohl daran thut, bei seinem wohl 
erwogenen Plane und bei den von ihm aufgestellten, geprüften 
Grundsätzen zu bleiben , und nur in diesem Kreise den innern Aus- 
bau des Werkes zu vervollkommnen, das sich mit Recht des Bei- 
falls sehr gewichtvoller Stimmen, so weit wir dieselben zu ver- 
nehmen Gelegenheit hatten, erfreut. Ist es auch wahr, dafs zu- 
weilen ein falsches Citat, vielleicht auf Treu* und Glauben, aufge- 
nommen wurde, und dieses Veranlassung zu einem Irrthum ge- 
worden ist, dafs noch einige Wörter könnten nachgetragen wer- . 
den, dafs in der Etymologie Einiges mangelhaft, Einiges irrig ist 
(ein Feld, wo übrigens noch ein Principienstreit herrscht, also 
nicht nur die Resultate , sondern auch die Grundsätze divergiren), 
dafs die Kritik zwar nicht ganz ausgeschlossen wurde (wie ein Re- 
censent dem Vf. vorgeworfen hat), aber doch seltener geübt ist, 
als man wünschen möchte, dafs auch hin und wieder eine Bedeu- 
tung fehlt, das grammatische und synonymische Element bei ein- 
zelnen Artikeln verkürzt erscheint, auch zuweilen gegen die lo- 
gische Anordnung sich Etwas einwenden läTs»t *) — welches Alles 
dem Werke, nicht ohne Beimischung ungerechter Übertreibung, 
vorgeworfen wurde ; so bleibt dennoch unser Urtheil stehen , dafs hier 
geleistet sey, was nur irgend mit Billigkeit verlangt werden kann. 

•)|Es lief« auch eine Stimme die Vcrmuthung fallen, „ea acheine auf 
die Vorarbeiten nicht hinlängliche Zeit verwendet zu •eyn.*' Der Be- 
griff „ hinlänglich " ist sehr relativ. Ruf. erblickt in dem Werke 
Beibat, ho wie in den Belingen zum I.Bande, überdies in den lexika- 
lisch-irrnroroatischen Forschungen, welche Hr Dr. Fr. in den, Ncnen 
Jahrbb. f. Philol. u. l'adag. von Scebode, Jahn und Klotz V. Jahrg. 
(1835) XIII. Bd I. H. S. 1 — «5. niedergelegt hat, ernste und tiefe 
Vorstudien ond kann aie bei einem Werke dieser Art, welchea die 
rüsligate Kraft erfordert, nicht über die Jahre dea muthigaten Wir- 
kena ausgedehnt wünschen. Hef. kannte einen hochachtbaren Gelehr- 
ten der an einem Wörterbuche anderer Art, aber auch einem sprach- 
lichen . SO Jahre arbeitete, ea endlich fertig hatte, aber, che der 
Druck beginnen konnte, 70 Jahre alt atarb. Es erschien nach seinem 
Tode; aber die endlosen Vorarbeiten hatten das Werk um die Vollen- 
dung gebracht, die ihm der geistreiche Verf. allein geben konnte. 

(Die Fortsetzung folgt.) 



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N». 41. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Freund: Wörterbuch der Lateinischen Sprache. 

(Fortsetzung.) 

Wir kennen wohl die hochfahrende Sentenz der Hyperkritik 
unserer Zeit: »Die Wissenschaft ist nicht billig, sondern ge- 
recht.« Ja, wenn die Wissenschaft selbst zu Gerichta säfse! 
Aber ein kritisches Tribunal stelle sich so hoch , als es wolle ; es 
ist und bleibt doch die Individualität, die über die Individualität 
zu Gerichte sitzt, und das Wir der Richter ist im, Grunde nicht 
mehr als ein Ich. Ref. ist ein Feind der Lobhudelei, die weder 
der Wissenschaft frommen, noch dem Schriftsteller, wenn er 
nicht kleinlich eitel ist, willkommen seyn kann: er tritt der An- 
raafsung, hinter der sich Hohlheit verbirgt, offen und schonungs- 
los entgegen: aber er glaubt, die Kritik habe auch die Pflicht, 
zu ermuthigen, wo sie ein tüchtiges, wenn auch nicht in jeder 
der tausend Einzelnheiten erreichtes, Streben findet. 

Doch wir wenden uns zu dem Berichte über das vorliegende 
Buch. Es ist demselben die Nachricht beigegeben, dafs der Vf., 
nachdem er nun mehrere öffentliche und Privat - Urlheile über 
sein Werk vernommen, jetzt mit erneuter Munterkeit an dem« 
selben fortarbeite, so sehr auch die Schwierigkeit der Arbeit 
Eile verbiete.; so dafs er bei seinem behutsamen, aber stetigen, 
Fleifse boflen dürfe, in wenigen Jahren das erwünschte Ziel zu 
erreichen. Die zweite Abtheilung des zweiten Bandes werde 
bis zum Buchstaben H, der dritte Band bis Q, und endlich der 
vierte und letzte Band bis Z reichen, das Ganze aber nach ge- 
nauester Überschätzung des vorräthigen Materials, und nach Ver- 
gleichung der der bereits gedruckten 100 Bogen mit dem Manu« 
Script zu denselben, den Umfang von 3oo Bogen nicht über* 
schreiten. 

Aus dem oben Gesagten mag sich denn, so wie aus unserer 
Beurtheüung des ersten Bandes, die Tendenz und die Absicht er- 
geben, in welcher wir hier eine Anzahl mehr oder minder be- 
deutender Bemerkungen über Einzelnes niederlegen, gleichsam 
als schriftliche Besprechung mit dem Verf. und unsern sich für 
das Werk interessirenden Lesern. Für diese dürfte es denn auch 
• XXX. Jahrg. I. Heft. 4i 



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642 Freund: Wörterbuch der LaleinitchcB Sprache. 

wohl überflüssig seyn, einzelne bedeutende Artikel, wo sich die 
Selbstständigkeit und das Überdachte der Arbeit in Vergleich ung 
mit den Vorgängern besonders herausstellt, herauszuheben, z, B. 
die Artikel do , ex f de, etiam, et und so viele andere. 

S. 1. b. fehlt, gleich bei dem ersten, zum Belege des d, 
am Abi. singul., angerührten, Beispiele (pucnando) eben dieser 
grammatische Hülfsbuchstabe , denn der Verf. wollte das Wort 
der Columna Rostrata, pucnandod, geben. — Zu D als Zeichen 
für 5oo hätten wir kurz citirt Seyfei ts Lat. Sprl. I. S. 7 f. — 
Bei damnare voti ist uns dreierlei aufgefallen : a) defs es nicht 
erklärt wird, da sich doch die Erklärung nicht von selbst Ter- 
steht; b) dafs man bei condemnare voti, worauf verwiesen wird, 
gleichfalls keine Erklärung findet, sie war aber um so notbiger, 
da Nonius Marc. p. 277, auf welchen wir dort gewiesen werdea, 
eine geradezu falsche Erklärung giebt; c) dafs diese Phrase un- 
ter condemnare unter der Rubrik „innerhalb der GerichtssphÜ» 
re u , und unter damnare als „aufserhalb der Gericbtssphsre" 
angegeben ist. — Unter de S. 12. a. 5. ist die Stelle aus Sali. 
Catil. 5o, 3. citirt: re/ert, quid his ßeri placcat: allein wenn man 
nicht quid de his ßeri placeat liest, gehört das Beispiel gar nicht 
hierher. — Unter dealbare ist aus dem Briefe des Curius bei 
Cic. ad Famm. 7, 39. angeführt: parieles de eadem ßdelia dealbare» 
Wollte der Verf. die Worte de eadem ßdelia nicht weglassen , so 
mufste er auch vor parieles das duo nicht fehlen lassen , nebst der 
Bemerkung, dafs es eine sprücbwortliche Redensart sev. — Un- 
ter decerto ist uns aufgefallen, dafs die Stelle aus Stat. Theb. I. 
479: ventis ut decertata residunt aequora unter den Bedeutungen 
in der militärischen Sphäre, dagegen unter denen aufserhalb 
der militärischen Sphäre die Stelle aus Hör. Od. I, 3, i3: timuil 
AJricum decerlantcm Aquilonibus angeführt ist. — Unter dedecus 
fehlt bei der Stelle des Linus III. 5 1 : Siccii caedes deoemviris et 
Appiana libido obiiciebantur , gerade das, worauf es hier ankam, 
und weswegen die Stelle citirt ist, nämlich die Worte et dedecora 
militiae, vor obiiciebantur. — Unter dedico sollte unter der Rubrik 
„term. techn. der Religionssprache noch vor der Stelle aus Ci- 
cero die des Catullus 18, 1. stehen: Nunc lucum tibi dedico 
consecroque 9 Priape. — Unter deduco II. (tropisch) werden zwei 
von Nonus aus Cic. de Rep. [durch einen Druckfehler steht Reg.] 
citirte Stellen, oder vielmehr eine an zwei Orten citirte, aufge- 
führt Hier hätte aber auch angegeben werden sollen, wo diese 
Stelle beim Cic. de Rep. zu finden ist, nämlich I. si, wiewohl 



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Freund : Wörterbuch der Latetnuchen Sprache. 643 



• ■ 

sie Heinrich an den Sehlnfs des I. Buches geschoben bat. Übri- 
gens ist in der Stell« des Nonios sicher ein Fehler, der zwar das 
Verbum deduccre nicht berührt, aber «doch die Stelle des Cicero 
(deduc oratio nern t u am ad haec cituma). Hr. Dr. F. schreibt) 
wie es in den Ausgaben des Nqnius steht, citeriora. Allein da N. 
die Stelle S. 85, 16. wegen citima oder cäuma citirt, so ist die 
Note des Merten us ganz unstatthaft, wenn er Sagt, die Beispiele 
desN. passen oft nicht zu seinem Lemma. Ist dies, so ist jedes- 
mal ein Fehler, entweder im Lemma oder im Beispiel, der cor- 
rigirt werden mufs. Denn so gedankenlos war N. gewifs nicht, 
dafs er sagte, er wolle die Form cituma mit einem. Beispiel aus 
Cicero belegen, und dann citeriora schrieb. An der zweiten Stelle 
mochte er das thun, wo er die Ciceronische Stelle wegen dedu- 
cere anfuhrt, und M. dieselbe Entschuldigung für citeriora an- 
giebt, aber mit mehr Fug und Recht. — Zu defungor müssen 
wir eine Bemerkung machen, die mehrere Stellen angeht, näm- 
lich, dafs zu Erklärung der citirten schwereren Stellen zuweilen 
mehr getban seyn sollte. Als Bedeutung des Wortes wird ange- 
geben: „ Ein unangenehmes Geschäft zu Ende bringen, Tollenden, 
daWm ab-, loskommen u. d. gl." Nun wird die Stelle angeführt 
Li?. 10, ao: [defunetos] consulii fato. Aber hier helfen die an- 
gegebenen Bedeutungen durchaus nicht. Nun steht zwar dabei: 
„▼gl. defungi fatalibus malis, aus Suetonius Ner. 40. u Aber das 
hilft nichts, wenn schon fatalibus ein Licht auf des Lirius fato 
zu werfen scheinen könnte. Es wirft keins. Die Stelle des Sue- 
tonius ist leicht, die des Linus bleibt schwer und dunkel. Es 
sollte entweder eine deutsche Erklärung gegeben, oder bemerkt 
seyn, es sey hier ron des Decius freiwilliger Aufopferung die 
Bede, und Budäus erkläre: Romanos consulis sui sese devoventis 
spontane* morte ab imminentibus periculis liberatos et exemtof. 
Auch eine der später angeführten Stellen des Lirius 4, 5: def. 
plurimorum morbis 9 perpaucis funeribus ist schwer oder gar nicht 
aus dem Obigen au erklären, sondern fast wie 10, sq, nämlich 
nach Drakenborch: plurimorum morbis, perpaucis funeribus übe-' 
rata civitate a turbis, quae ex seditione a L. Icilio mota immine- 
bant. — Zum Schlüsse des Artikels deineeps bemerkt Ref. in Be- 
ziehung auf die bier angeführte Stelle Cic. de Divin. I. 3o. 64: 
qui dein de deineeps moriturus esset, dafs er zwar in seiner 
Ausgabe deiniU ausgestoßen hat , auch deinde deineeps immer noch 
auffallend, wo nicht anstofsig, findet; dafs er aber jetzt doch 
dieses aus mehreren guten MSS. herstellen möchte, so dafs (nach 



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644 Freund : Wörterbach der Lateinischen Sprache. 

n 

dem vorausgegangenen primus und seeundus) das deinde den drit- 
ten bezeichnete , und deineept hiefse der Reihe nach. — Unter 
deiieere ist zweierlei zu bemerken. Erstlich hatten wir gewünscht, 
als wir deiieere aliquem e ponte aas Säet Coes. 80. in der eigent- 
lichen Bedeutung citirt fanden , das sehr nahe liegende tropische 
de ponte deiieere zu finden , welches bei Festes unter depontanus 
senex steht, und bei Nonius Marcellas unter sexagenarios de ponte ; 
nämlich: depontani senes appellabantur , qui sexagenarii de ponte 
deiieiebantur, und: quum — habebant sexaginta annot , tum 
denique eranl a publicis negotii» liberi atque otiosL Ideo in pro- 
verbio quidam putant venisse, ut diceretur sexagenarios de ponte 
deiiei oportere, quod siiffragium non ferant f quod per pontem fe- 
rebant : p. 5s3. ed. Nonii Marcelli von Mercer. Vergl. Creuzert 
Rom. Antiquitäten 2. Aufl. S. i65 bei Festus p. XLIX. ed. Seal. 
1593. 8. Zwar fehlt der Artikel depontanus nicht, nebst der Er- 
klärung bei Festus; aber unter deiieere sollte die obige Redensart 
stehen uud erklärt seyn. Zweitens vermifsten wir bei Angabe 
der tropischen Bedeutung von deiieere eine Erklärung zu dem Ci- 
ceronischen de gradu deiiei, ut dicitur, aus de Offic. I. 23. 80. 
Hier deutet das ut dicitur auf einen spruch wörtlich gewordenen 
Ausdruck. Davon sollte hier der Ursprung angegeben seyn. Beier 
sagt ganz richtig zu dieser Stelle: Hacc formula e gladiatorum 
ludo omninove e palaeslra videtur repetita; nur brauchte er nicht 
videtur zu sagen. Man vergl. Cic. Orat. 37, 129: magno Semper 
usi impetu saepe adversarios de statu omni deieeimus. E. E. 
C. Bach zu Ovid. Metam. IX. 43. zu den Worten : Inque gradu 
stetimus , certi non cedere — worüber auch Petr, Fabri Agoni- 
stic. p. 36. ed. Lagd. 1592. 4. nachzusehen ist *). — Unter do» 
Uro ist die bekannte alte Ableitung von lira (Furche) angegeben, 
nach Plin. H. N. 1B, 20, 49. N. 3, welche scheinbar durch Au- 
son. Idyll. 16, 11. bestätigt wird, wo es in der eigentlichen Be- 
deutung gebraucht scheint: Angulos aequis Partibus ut coeat, nil 
ut deliret amussis. Trotz dieser Autorität halten wir die angege- 



*) Ale eine fast unglaubliche Merkwürdigkeit führen wir hier gele- 
gentlich an, dafs Forcellini in dem Artikel deiieere die selbst in der 
neuesten Ausgabe nicht corrigirte Kostbarkeit bietet: signißcat etiam 
prostrare et occidere. — Da Ts aber oft die gröfste Gelehrsamkeit 
nicht vor Mifsgriffen der Art schützt, haben wir mit Erstaunen erst 
in diesen Tagen in dem Commentar eines scharfen Kritikers zu einer 
Schrift des Cicero gelesen, wo das vierte Capitel Progymnosmat o- 
rum Jphthonü citirt wird. 



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Freund i Wörterbuch der Lateinischen Sprache. 645 

bene Ableitung dennoch für falsch. Ausonius ist ganz der Mann 
dazu, dergleichen Dinge nicht aas dem ursprunglichen Sprach- 
gebrauche, sondern aus Grammatikern zu schöpfen. Möglich, 
dafs er diese Weisheit namentlich der angeführten Stelle des Pli- 
nius verdankte. Fände sich dieser Gebrauch bei einem Schrift- 
steller oder Dichter der yoraugustinischen Zeit, dann würde die 
Ableitung an Gewicht bedeutend gewinnen, obwohl überhaupt t 
aus bekannten Ursachen, die Römer keine sonderlichen Etymolo- 
gen waren. Und warum soll denn die Verrücktheit «gerade daher 
benannt seyn , dafs man von der Furche abkommt? Dö'derlein 
(dessen Ableitung desselben Wortes von delinguere, von dem 
Stamme Xtneiv, uns übrigens nicht zusagt) sagt im V. Bande 
seiner Latein. Synonyme und Etymologieen S. 88: „die Ableitung 
von Ura wird man gern aufgeben". Geben wir sie nun gleich 
nicht gegen delinquere auf, so doch gegen Xnpitf, wovon D. 
selbst zugiebt, dafs sie viel für sich habe. Wir halten sie mit 
Wyttenbach, der sie in seinen Vorlesungen, als Ref. ihnen bei- 
wohnte, vortrug, für ziemlich sicher, und bemerken nur noch, 
dafs sie einiges Gewicht dadurch erhält, dafs in der Handschrift 
des Fronto, nach des Hrn. Verfs. eigener Angabe, deleramenlum 
geschrieben ist, und (nach Furlanetto) in den Notis Tironianis 
deleriis steht [nämlich in der Ausgabe von Jan. Gruter ed. Com- 
niclin. i6o3. fol. pag. XCVII.J. Überdies findet sich in dem alten 
von Henr. Stephanus herausgegebenen Lateinisch-griechischen Glos- 
sar (Paris. i573. fol.) p. 64: delerat, itapaxditxH , Xq^tl, und 
delerus, Xijpfiiv, naqd\r^o^ 5 endlich findet sich (s. Forcellini T. 
II. p. 678. c) auch Uramenlum (für deliramentum oder delirium) , 
welches die Ableitung von Ura geradezu umstofst , und in deUrart 
dem de die Bedeutung giebt, die es in deblaterare, in Verglei- 
„ chung mit blaterare, hat. — Unter demovere (trop.) sollte auch 
das Horazische Gaudentem patrios ßndere sarculo Agros Atlalicis 
conditionibus Nunquam demoveos (Od. I, 1, Ii — i3.) angeführt 
seyn, um so mehr, da die Lesart streitig ist, und sich gewich- 
tige Stimmen und Handschriften dazu hinneigen, obgleich die 
Meisten, mit ßentlei, dimoveas lesen, unter welchem Artikel auch 
Hr. Dr. Fr. die Stelle hat, wo er aber sich genothigt sieht, der 
hier notwendigen Bedeutung eine eigene Rubrik , ohne noch ein 
zweites Beispiel auftreiben zu können, einzuräumen. Aber schon 
Lambin sagt: Malini legi demoveas , ut haec sit sententia : nun* 
quam eum de suo instituto sententiave deducas aut demoveas. Non 
dubium est autem, quin hoc verbum non apud hunc poetam so- 



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I 

tum , verum etiam apud M Tulliam , permultia locis ita sit cmen. 

dandum: ut in Or. contra Rull, ex ea possessio™ rem publicum 
de movere; et Paradox, de sententia demovere \ et Philipp, 
quarta: Virtus est una allissimis defixa radieibus, quae nunquam 
ulla vi labefaclari potest, nunquam demoveri loco." Er konnte 
noch viele andere Steilen anfuhren; denn damals stand noch im 
Cicero uberall dimovere, so dafs Nizolius das Verbum demovere 
in seinem Thesaurus Ciceronianus noch gar nicht bat. 8. die An- 
merk. des Ref. zu Cic. Tuscc. IL »4. 58- P- 089- T. L Demovea* 
geben an der Stelle des Horatius auch Baxter, Vallart, Fea 
(und diese Beiden hatten bekanntlich eine grolse Menge Hand- 
schriften), Zell, endlich der neueste Herausgeber des Horatius, 
Hofmann-Peerlkamp (Harlemi, ap. Vinc. Looses, i834. 8., 
über dessen Ausgabe Ref. eine Epistola Critica, Derdr. ap Jo. 
vanHoutryve, i835. a herausgegeben hat). Dieser schreibt: „Li* 
brarii non Intel ligebant, aliquem dimoveri exigoo tempore inde, 
quo mox redit, demoveri in perpetuum. Plauius Pers. UL 1. 45: 
Dicet quod quisque voll. Ego de hac sententia non demov ebor, 
Horat. I. 8erm. I. 38: quum te neque Jervidus aestus Demoveai 
lucro." Und an dieser Stelle dachte Bentlei an keine Verwand- 
lung des Verbums in dimoveat. — Unter demulcatus steht: aU- 
quam asperis verberibus aus Marcianus Capelle 8. pag. *7«. Das 
aliquam scheint aber hier keine Stelle zu haben. Ref. schlug 
nach, und fand in der Ansg. Lugd. ap. Vincent. 1639. a p. 3 18: 
Iristibus asperisque Satyrae alioquin lepidulae verberibus demulca- 
tus, — Unter dem um wird angeführt die bei Festus aus Livius 
Andronicus vorkommende Form demus; gut: aber die angegebene 
Analogie von prorsus, qUorsus, rttrsus, deorsus und quorsum, pror- 
sum 9 rursum, deorsum, ist nicht ganz passend. Alle diese Wör* 
ter sind nämlich Composita von vorsus, Vorsum mit Präpositionen. 
Da nun der Grrtnd der zweierlei Endungen diese« Wortes ein 
ganz anderer ist, als der der zwei Endungen von demum f da de- 
mum nach dem Verf. eine verlängerte Form der Demonstrativ* 
partikcl dem in idem, tandem, verwandt mit dem griechischen 
tyi >*t; *o Mg* daraus, dafs die Vergleichung hinkt. Die unter 
II. A. angeführte Bedeutung duntaxat, welche demum in der 
nachaugustinischen Laünität halt«, konnte durch das ausdrück- 
liche Zeugnirs des Festus (unter demum) belegt werden. JUi, 
sagt er, demum pro duntaxat posuerunt. — Unter Denkaks 
würden wir* zur Vervollständigung der Einsicht in die Bedeu- 
tung des Wortes, die Stelle des Festus b. v. ganz gegeben haben. 



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Freund : Wörterbuch der Lateinischen Sprache 



6*1 



Et folgt oämlich auf: Denicales feriae coUbanlur, cum hominis 
mortui causa Jamilia purgabatur, noch Folgendes: Graeei enim 
vinvv mortuum dicunL Der Umlaut in denicales ist wie in j> er- 
ntetes (von nex). — Unter denique gehörte bei II. A. die Sülle 
des TerenU Heaat. L l. .17. her: fodere aul arare aut äliquid 
ferre denique, die auch Cicero de Finn. I. 1. cilirt. Hr. Dr. 
Fr. bringt die Stelle unter der Bedeutung überhaupt, weil er 
mit Bentlei faecre , statt ferre, liest. So sehr uns Bentleis Ver- 
besserung im Terentius gefallt, so ist es doch etwas bedenklich, 
die constante Lesart auch aller Ciceronischen Handschriften zu 
verlassen, and anzunehmen, es seyen alle diese aus schlechten 
Terenzischen corrigirt worden. Die Herausgeber des Cicero 
glaubten deswegen auch Alle ferre behalten zu müssen, selbst 
Bentleis eifrigster Verehrer, Davisius. — Unter t/o, einem be- 
sonders sorgfaltig gearbeiteten Artikel, vermifste Ref. die Angabe 
der Verwandtschaft mit dem Griechischen (die auch sonst öfters 
nicht angegeben ist), und ebendaselbst bei der Redensart poenas 
dare die Angabe der Bedeutung. Zwar wird auf poena verwie- 
sen ; aber die Bedeutung sollte doch auch hier stehen , wenn auch 
die Erörterung darüber, wegen Zusammenstellung mit poenas pen- 
dere und solvere, und den Gegensätzen poenas repelere, capere 
und sumere, dort ihre passendere Stelle hat. Gewifs wird dann 
auch unter poena die merkwürdige Phrase poenam dare in der 
Or. pro Mit. c. 6 eitr. für bestrafen, nicht ubersehen werden, 
wo es heifst: Non poenam confessioni, std defensionem dedit. 
— Bei dem Buchstaben E bemerken wir, in Beziehung auf des- 
sen Vertauschung mit a, dafs nicht gesagt seyn sollte, es werde 
bald aspergo, eonspergo, dispergo , bald aspargo, conspargo, di- 
spargo geschrieben, denn jenes ist viel häutiger als. dieses. Sagt 
der Verf. doch selbst unter jenen drei Artikeln, dafs die zweito 
Schreibung sieh nur zuweilen finde , also die seltenere sey. Auch 
konnte vielleicht da, wo von der Apokope des e die Rede ist, 
und biber angeführt wird, auf das berber in dem Liede der arva- 
lischen Bruder hingedeutet werden. — Unter effetus hätten wir 
ein Wort über die fatale Stelle bei Sallust. Catil. 53, 5. sicuti 
effelae parentum zu lesen gewünscht. — Unter evenire vermissen 
wir die Erwähnung der Formel usu evenire, die in der neuesten 
Zeit so manche Erörterung veranlafst hat; nicht, als ob wir sie 
billigten, oder auch nur für gut Lateinisch hielten, sondero weil 
sie noch in vielen Ausgaben der besten Schriftsteller statt usu 
venire steht, und zwischen dieser und jener noch vor wenigen 

> 



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Q48 Freund : Wörterbuch der Lateinischen Sprache. 

Jahren von F. Lindemann in Seebode's Archiv f. Philologie 1826. 
I. 5, 6. p. 1 39. und in einem Excurs zum Auct. ad Herenn. p 699 
— 7o3. ein Unterschied gemacht und aufgestellt wurde. Ohne 
Zweifel ist nun zwar Hr. Dr. Fr. der Ansicht Orelli's zu Cic. 
Tuscc. I. 3o. der besondern Ausg. p. 354 — 356. u. a. O. , und 
F. V. Otto's im Excurs zum Cic. Cat. maj. 3, 2. p. 234 — 280, 
dafs usu evenire zu verwerfen sey, wofür sich der Ref. in seiner 
Ausgabe der Tusculanen a. a. O. T. I. p. '246 sq. auch entschie- 
den hat; allein in das Wörterbuch gehörte wenigstens die Ab- 
weisung der viel gebrauchten , noch in vielen Ausgaben stehenden 
und viel vertheidigten Phrase, wenn auch nicht eine Erörterung 
darüber. — Unter equidem sollte neben der richtigen Atisicht, 
dafs das e demonstrativisch - intensiv sey (s. Hand. Tursell. T. II, 
p. r'i), nach unserer Ansicht auch angegeben seyn, dafs es vor 
nicht eben langer Zeit noch sehr allgemein ab aus ego quidem, 
und an Stellen, wo dies nicht pafst, als aus et quidem entstanden 
betrachtet wurde. Es brauchte deswegen keine Widerlegung zu 
erfolgen. Zweitens genügt es für den Gebrauch nicht, zu sagen, 
es sey gewöhnlich mit der ersten Person verbunden; sondern 
es mufste gesagt seyn, dies sey bei Cicero, Horalius und Vigi- 
lius die einzige Constructionsweise, mit der es vorkomme, und 
zwar mit der ersten Person des Singulars; denn das equidem au* 
diebamus in der Or. pro Sest. 57, 122, und equidem — loque- 
mur, de Finn. III, 2, 9. wird doch schwerlich viele Vertbeidiger 
finden , obgleich der Verf. beide noch als Belege des equidem mit 
der ersten Person des Plurals anführt, da beide Stellen längst 
corrigirt sind, und zwar aus Handschriften *). Stellen aber, 
welche ehemals aus Cicero für die Verbindung von equidem mit 
der zweiten und dritten Person angeführt wurden, nämlich ad 
Att. 3,3. ad Atr. i3, 26. z. B. von Th Linacer de Emendata 
Structura Latini Serraonis (Lips. 1 55 1 . 8 p. 339.) und O. Gipha- 
nius Obss. in Ling. Lat. s(Frcof. 1624. 8. p. 82 sq.), bringt der Vf. 
selbst nicht mehr bei. — Bei emo sollte die in diesem Worte selbst 
nicht mehr erscheinende Grundbedeutung nehmen bemerkt seyn, 
die sich noch in adimo, eximo, demo, promo und tumo zeigt. 



') Da indessen Hand im Tursellinus T. 11. pag. 426. und 428 — 430. 
annimmt, Cicero könnte doch an einigen Stellen equidem mit einer 
andern Person und einem andern Numerus gebraucht haben , und 
die gegenwärtige Harmonie auf der 1. pers. Sing, blos hineincorri- 
pirt seyn; so glaubte Hr. Dr. Fr. vielleicht hier das «t*x*' v beob- 
achten su müssen, was wir nicht gerade tadeln wollen. 



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Freund: Wörterbuch der Lateinischen Sprache. 64» 

Der Art sind die Aasstellungen, von denen wir zum Beweise 
unserer genaueren Durchsicht einige Proben geben wollten, und 
die dem hohen Werthe des Werkes so wenig Eintrag thun , als 
einige stehen gebliebene Druckfehler, z. B. S. 37 unter decurro 
das Wort nach für noch, S. 3o Ovid. Metam. 8, 536. statt 535. 
(wo wir zweifeln, ob decus Kürperreiz, und nicht vielmehr An- 
stand, Schicklichkeit bedeute), oder unter Dentatus> wo M. (statt 
M') Curius steht, der von uns mit. Recht gelobten Correctheit 
des Druckes schaden. 

Nun könnten wir auch noch nach einigen fehlenden Wörtern 
fragen , z. B. warum Daduchus aus Fronto , einem Glossar und 
einer Inschrift bei Fabretti nicht aufgenommen sey , oder Dalma- 
tinus aus einer Inschrift (s. v. a. Dalmaticus), Damnabilitas , Da- 
peo aus einem alten lateinisch* griechischen Glossar, oder Delica- 
lulus, das sonst aus dem Appuleius ettirt, aber nicht nachgewie- 
sen wurde, und könnten uns damit den Schein einer ausgebreite, 
ten Belesenheit, dem Buche aber den Schein der Mangelhaftigkeit 
geben« Allein wir verschmähen Beides. Etwas Wesentliches fehlt 
nicht, und des Guten, Neuen und Neubegründeten ist so viel, 
dafs , wenn schon Schellers in so vieler Hinsicht unbefriedigendes 
Werk die Aufmerksamkeit mancher Gelehrten aufserhalb unsers 
Vaterlandes auf sich gezogen hat, und sogar durch Ruhnken 
nach Holland verpflanzt worden ist, das vorliegende Werk ganz 
geeignet scheint, die Ehre der deutschen Philologie, die gegen- 
wärtig ziemlich allgemein Anerkennung findet, auch auf diesem 
Gebiete zu erhöhen. Aber ehe wir unsere Anzeige schliefsen, 
fühlen wir uns gedrungen, eine Sache zur Sprache zu bringen, 
welche zwar schon von Einer Seite öffentlich gerügt worden ist, 
aber auch von dem Ref. nicht unberührt bleiben darf, damit sein 
Schweigen darüber, während sie ihm doch nicht unbekannt blei- 
ben konnte, nicht als Billigung erscheine, auf welche das Ge- 
schehene, wenn es sich als solches herausstellt, durch den Um- 
stand, dafs es in seiner Nähe geschah, wenigstens keinen Anspruch 
erhalten dürfte. 

Ein dem Ref. persönlich unbekannter Hr. Dr. Ch. H. Dor- 
ne r, Professor (nämlich ehemaliger), kundigte im März i835, 
von Mähringen aus (einem Dorfe bei Tübingen), ein neues 
„vollständiges Wörterbuch der lateinischen Sprache 
nach den neuesten Hulfsmitteln bearbeitet" an, welches 
in zwei Bänden in gr. 8. in vier Abtheilungen von je a5 bis 3o 
Bogen , zu dem Preise von 5 Thlr. (im Ganzen) bei J. N. Fischer 



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Ö50 Freund: Wörterbach der LsleinUckcn Sprach« 

■ 



und Fr. Schradin in Reutlingen herauskommen sollte. Er tagt in 
der Ankündigung, er habe eben die Absiebt gebäht, „auf den 
Schultern Gesncrs, Forcellini*» und Schellen ste- 
hend, und mit den neuesten Hü lfsmitteln in der Hand, 
ein neues Wörterbuch der lateinischen Sprache zu 
schaffen", als der erste Band des Worterbuchs von Hrn. Dr. 
Freund erschien, der ihn anfangs zum Aufgeben seines Planes 
veranlagte, bald aber zu dem Entschlüsse brachte, seiae Arbeit 
wieder aufzunehmen , da er mehr das Bedurfnifs der Schu- 
le, als der Gelehrten ins Auge zu fassen gedacht, und ein 
Werk Ton beschränkterem Umfange und zu wohlfeilerem 
Preise liefern wollte, welches bis Michaelis i836 vollständig in 
den Händen der Räufer sejn werde. - Die erste Abtheilung sollte 
bis Ende Juli i835 erscheinen, die uhrigen drei in vier- bis fünf, 
monatlichen Zeitabschnitten. Er nennt in seiner Ankündigung 
das Werk des Hrn. Dr. Fr ein wahrhaft neues und vor- 
treffliches Wörterbuch, dessen Verf. sich ein weit 
höheres Ziel gesteckt habe, als er. Er habe die Ausfüh- 
rung seines Planes mit wahrer Freude in tüchtigem Händen 
erblickt, ssgt er; seine eigene Arbeit aber sey nach einem weit 
weniger grofsartigen Plane angelegt , und deswegen hoffe er auch 
noch neben der des Hrn. Dr. Fr. Gutes stiften zu können. An 
seiner Hand soll der kleine Lateiner die ersten Schritte wa- 
gen, sein Buch soll leicht zu handhaben sevo, und dem nicht 
eigentlich gelehrten Freunde der romischen Literatur ein 
erwünschter Rathgeber bleiben. Es war aber im Käthe des Schick, 
sals oder des Verfassers anders beschlossen. Im Jahre i835 er- 
schien Nichts, um die Mitte des Jahres 18S6 aber, ohne Vorrede 
und Erklärung, eine erste Lieferung von 18 Bogen (Preis 
1 fl. 24 kr.) von A bis Anio % nicht in Reutlingen bei den ge- 
nannten Verlegern, sondern in der Hellberger sehen Verlagsband- 
lung in Stuttgart. Seitdem ist wieder Stillstand. Man konnte hier 
in Wahrheit sagen, es sey mehr geleistet als versprochen wor- 
den : die Erscheinung des halben Buchstaben A (etwas mehr) be- 
durfte mehr Zeit, als fast das ganse Werk brauchen sollte; die- 
ses Bruchstuck eines Bandes bedurfte zugleich mehr Raum, als 
Hrn.. Dr. Freunds Werk bis zu derselben Stelle; denn dieses 
steht bei Anio auf der s86sten Seite, das Dorn er' sehe auf der 
a88sten; und geht die Arbeit, die Ausdehnung und der Preis, 
wie natürlich, in demselben Verhaltnisse fort, so wird das Werk 
auch mehr Geld kosten, als das Freund' sehe, und für mehr 



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Freund : Wörterbuch <ler Lateinische.. Sprache. 651 

• 

•USoo Bogen, aus denen ea bestehen mufs, Herden die „hieinen 
Lateiner " ein nicht sehr „leicht zu handhabendes Ruch 11 schlep- 
pen , und statt 9, etwa 25 Gulden zu bezahlen haben. Hat nun 
der Verf. versprochen, „auf den Schultern seiner Vorgänger zu 
stehen 44 , so hält er auch hier wieder mehr, als er versprochen 
bat; denn er. hat nieht versprochen, das Werk des Hrn. Dr. 
Freund so auszubeuten (ein kostliches Wort unsrer Zeit!)., 
dafs Hr. Dr. Jahn in Leipzig in den neuen Jahrbuchern f. Phi- 
logie und Pädagogik i836. 10. p. 2 5 6. sagen konnte: „[Literari- 
sch* Täuschung:] Die Wahrheit ist, dafs Hr. Dömer Freunds 
Wörterbuch vollständig abgeschrieben, d, h. alles Material, alle 
Ansichten und die gante Anordnung Freunds wiedergegeben, und 
blas die Ausdrucksweise verändert und bisweilen etwas abgekürzt 
hau Die Abkürzung ist übrigens so unbedeutend, dafs das erste 
heft nur um zwei Seiten geringer ist, als da* Original [Dies ist 
ein Irrthum: das Freund' sehe Werk hat bis zu Anio 3 Seiten 
weniger, als Hrn. D.s Buch ; denn er hat bei vielen Artikeln noch 
anderswoher Zusätze gemacht] Ein Nachdruck , im streng 
juristischen Sinne, ist das Buch nicht, wohl aber ein schamlose* 
Plagiat, das, beiläufig gesagt , viel iheurer werden mufs, als da* 
Originalwerk." Ref. setzt Nichts hinzu, als dafs er eine grobe 
Menge Artikel in beiden Werken verglichen habe, dafs das Auf. 
nehmen des Fremden nicht immer, ja seltener, ganz wörtlich, 
sondern sachlich ist (wiewohl die Übereinstimmung bei vielen sehr 
bedeutenden Artikeln ganz nahe an das Wortliche streift, z. B. 
unter ab , adeo , admodum , adoro , animus u. s. w.) , dafs die Ord- 
nung häufig verändert wurde, auch viele Zusätze gemacht sind, 
dafs die Veränderungen oft seltsam sind , z. B. unter agon aus 
Hrn. Dr. Freunds Cither eine Cyther geworden ist, und Hr. 
D. den beflügelten ale* des Freundschen Wörterbuchs zu 
einem geflügelten gemacht hat; dafs Ref. den Vorwurf des 
Ausbeutens auf jeden Fall bestätigt gefunden bat, und dafs er 
nicht wufste, wie er es anzufangen hätte, wenn er Hrn. Dr. 
Jahn überzeugend und schlagend widerlegen sollte.- — Den Na« 
men für ein solches Verfahren, dem Verfasser und Verleger des 
Freund 'sehen Werks gegenüber aufzufinden, wenn etwa ein an« 
derer, ab der Jahn' sehe gesucht werden sollte, üherläfst der 
unterzeichnete Ref. seinen Lesern, und bemerkt nur, dafs dasselbe 
keineswegs geeignet scheint t die Wissenschaft wesentlich zu för- 
dern und Verfasser und Verleger eines Werkes der Art zu ermu« 
thigen. Wir ratbeo Jedem, an die Quelle zu gehen. 

Ulm. G. H. Moser. 



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■ 



652 Freund S Wörterbuch der Lateinischen Sprache. 

Nachschrift. 
Eben sollte diese Anzeige, wie sie oben steht, an die Be- 
daction der Jahrbb. abgehen , als uns eine Ton dem Verleger in 
grofser Anzahl verbreitete „Abgcnöthigte Erkärung" des 
Hrn. Prof. D. zukam, vom December i836 datirt, welche wir 
auch in dem Leipziger Börsenblatte für den Buchhandel lasen, 
und worin der Verleger gegen den Urheber und Einsender eines 
Artikels in der Sch lesischen und Leipziger Zeitung, der auch in 
die Preussische Staatszeitung übergegangen sey, wegen Anschul- 
digung des Nachdrucks Klage bei Gericht zu erheben droht, 
während der Hr. Prof. D. bemüht ist, die Anschuldigung des 
Plagiats nicht nur zurückzuweisen, sondern sogar auf Hrn. Dr. 
Freund, als mit noch mehr Fug auf diesen passend, zurückzu- 
schieben. Bef. hat keine Ursache, hier irgend etwas Anderes, 
als die Sache, im Auge zu behalten. Ob Jemand den Verleger 
in Stuttgart wegen dieses Werkes einen Nachdrucker genannt hat, 
weifs Bef. nicht, wufste diese Benennung auch gar nicht zu be- 
gründen. Dafs der Verfasser ein Plagiarius, wenigstens sein Buch 
ein Plagiat, genannt wurde, haben wir oben gesehen. Dem Bef. 
kommt es auf Benennungen nicht an; er will nur einfach berich- 
ten, was er gefunden hat. Hr. Pr. D. behauptet: „bei der Auf- 
gabe, das gleiche Material zu bearbeiten, habe er mit Hrn. Dr. 
Fr. in Benutzung derselben Quellen und Hülfsmittel nothwen- 
wendig zusammentreffen müssen, und, unter der an sich 
natürlichen Voraussetzung gleichen Fleifses und gleicher Gewis- 
senhaftigkeit, sey nichts Anderes zu erwarten gewesen, als ein 
ziemlich nahes Zusammentreffen seiner mit Hrn. Dr. Freunds 
Arbeit. 44 Darauf giebt er zu verstehen, er habe (ohne Zweifel 
erst nach seiner Ankündigung, in welcher er Hrn. Dr. Freund 
einen tüchtigen Arbeiter nennt, und sein Werk ein wahr- 
haft neues und vortreffliches Worterbuch, dessen 
Verf. sich ein weit höheres Ziel gesteckt habe, als er) 
„in dem Freund 'sehen Werke nur eine zum Theil sehr leicht- 
fertige Überarbeitung von Forcellini und von Hands Tur» 
sellin us, mit eben so leichtfertigen Bückblicken auf Ges- 
ner erkannt; namentlich aus falschen Citaten, die aus Forcel- 
lini und Gesner geflossen Seyen, aus falschen Erklärungen von 
W r örtern und Stellen, falschen Wortbedeutungen und Consiructio- 
nen"; kurz, Hr. Dr. Fr. wisse recht wohl, was seine Aufgabe 
sey, habe aber durch deren Losung nur einen neuen Beweis ge- 
liefert, wie weit oft das Thun hinter dem Wissen und Wollen 



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« 



Freund : Wörterbuch der Lateinischen Sprache. «55 

und wohl auch Können zurückbleibe. Darum habe Er denn sei- 
nen alten Plan [nämlich das Stehen auf den Schultern seiner Vor- 
gänger Gesncrs, ForcellinTs und Schellers] wieder auf- 
gefafst, habe seine Aufgabe gewissenhafter verwaltet, als Hr 
Dr. Fr. [freilich dennoch dieses vierte Paar Schultern nicht ver- 
schmähend], weiche eben deswegen in gar vielen Fällen von 
jenem ab, und nehme, trotz der fast wörtlichen Überein- 
stimmung, in vielen, zumal kleinem, Artikeln für seine stets 
auf die Urquellen gegründete Arbeit [das müssen doch 
wohl die Klassiker selbst seyn?] das Prädicat der Selbst- 
ständigkeit in noch höherem Grade in Anspruch, als 
es Hr. Dr. Fr. für die seinige könne. Die Übereinstimmung mit 
Hrn. Dr. Fr. sey durch die Natur der Sache geboten; 
wer Ihn eines Plagiats beschuldigen wolle, der müsse noch weit 
mehr Hrn. Dr. Fr. des Plagiats aus Forcellini, Hand, Ges- 
ner und sogar Scheller beschuldigen. Hrn. Dr. Freunds 
Werk ein Originalwerk zu nennen, sey lächerlich [Hr. Prof. D. 
hat es aber selbst in seiner Ankündigung gethan], und wenn er 
schon auf seinen ersten 18 Bogen nicht ganz so weit gekommen 
sey, als Hr. Dr. Fr., so werde doch sein Werk mit 200 Bogen 
(oder nur wenigen darüber) vollendet werden. Ein Umstand, der 
übrigens die richtige Proportion der einzelnen Tbeile der Arbeit 
geradezu aufheben mufs. Von einer Vollendung vor dem Freund*- 
schen Werke ist übrigens keine Rede mehr. 

Wir überlassen es billig dem Betheiligten, auf alles dieses 
zu antworten, mochten übrigens dem Hrn. Prof. D. zu bedenken 
geben , dafs bei einem aus Tausenden von Einzelnheiten beste- 
henden Werke, wie ein Wörterbuch, ist, man nur mit dem Vor- 
satze, Fehler finden zu wollen, hineinzublicken braucht, um sie 
wirklich zu entdecken, und dafs der Vorwurf der Leichtfertig- 
keit, mit dem er gegen Hrn. Dr. Fr. so leicht fertig wurde, 
von einem Kritiker Seines Wörterbuches leicht auf ihn retorquirt 
werden konnte; wir möchten ihn nicht sowohl fragen, ob er 
glaube, Hrn. Dr. Freunds Wörterbuch würde, wenn das D'sche 
zuerst erschienen wäre, diesem so ähnlich seyn, als das Seinige 
jenem? sondern, was denn Er zu so auffallenden Ähnlichkeiten 
sagen würde, wenn Hrn. Dr. Freunds Werk jünger wäre, als 
das Seinige? und endlich, ob irgend ein Artikel im Freund* - 
sehen Werke den Artikeln bei Forcellini, Hand, Gesner 
und Scheller so ähnlich in Eintheilung, Ansichten, kurz im 
Wesentlichen, sey, als folgender noch zum Schlüsse von uns 



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Freund : Wörterbuch der Lateinischen Sprache. 

aasgehobene, welcher nicht zu den klein ern gehört ? deren Ahn* 
lichkeit er oben mehr einräumt: 



Hr. Dr. Freund S. 54— 5o. 

Ad — druckt — zaerst die 
Richtung nach einem Gegen- 
stände bin, dann das Reichen 
bis z u demselben und daher zu- 
letzt die Nähe bei demselben 
aus 

A) im Räume 1) d i e R i c h- 
tong wohin, deutsch: zu, 
nach, gegen. — aufserst häu- 
fig von der geographischen 
Lage eines Ortes nach einer 
Seite hin: mit den Verb, ja- 
cere, v erger e, spectare etc. — 
2) das Ziel, wohin Etwas in 
•einer Richtung gelangt, und 
zwar a)ohne weitere Ruck- 
sicht auf den bei der Bewegung 
durchlaufenen Raum — daher 
a) bei den Verbis, die ein 
Gehen, Kommen, Bewegen, 
Tragen, Nahebringen, An- 
passen , Aufnehmen , R u f e n , 
Ermahnen, Anfeuern bezeichnen, 
wobei zu bemerken, dafs, wenn 
das Verb, schon mit ad zu- 
sammengesetzt ist, die Wie- 
derholung nicht immer stattfand, 
sondern dafür die Construct. 
mit dem Dati? oder Acc. 
angewendet wurde. 

ß) ad me 9 te, se, für domum 
meam, tuam, suam bei Plaut, 
und Terent. sehr oft. — 

c) bei den Stdätenamen 
ist auf die Frage wohin, ad 
statt des blofsen Accusat. 
gar nicht selten, welche letz- 



Hr Pr. Durner S. 49 — 5«. 

Ad — es bezeichnet zunächst 
ie Richtung nach, dann die 
Bewegung zu, und endlich die 
Ankunft d. h. Ruhe und Nahe 
bei einem Punct oder Ziel, und 
zwar eigentlich 

A) im Raum 1) die Rich- 
tung wohin, nach, gegen, 
zu. — so namentlich bei geo- 
graphischer Orts-Bestim- 
mung, mit den Verb, spe- 
ctare , vergere , jacere , situm es- 
se etc. — 

3) die Bewegung, wohin, 
a) zur blofsen Angabe des 
Endpuncts, — — — — 
daher a) bei den Verb, ge- 
hen, reisen, kommen, annä- 
hern, herbeirufen, bewe- 
gen, schicken u. d. gl , selbst 
bei den eigenen Composi- 
tis, statt blofsen Accus ativs 
oder Dativs. [Hier hat die 
Zusammenziehung grofse Undeut- 
lichkeit verursacht]. 



ß) admct te, nos etc. ZU mir 
d. h. in mein Haus u. s. w. 
in der Umgangssprache, daher 
besonders oft bei Plaut., 
Ter. und Cic. Briefen. 

y) bei Städtenamen — oft 
statt des seit Cicero's Zeil 
üblich gewordenen Accus, 
auf die Frage wohin. 



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t » 

Freund ■ Wörterbuch der Lateinischen Sprache. f»"il 



Hr. Dr. Freund: Hr. Pr. Dorner. 

tere Construction erst in Cicc- 
ro'sZeit zur gramm. Regel 

geworden zu seyn scheint. b) mit Rucksicht auf den 

6) dasZiel, mit Bezug auf zwischen Anfangs- und 

den durchlaufenen Raum, Endpuact liegenden Raum, 

die Grenze, deutsch: bis zu, bis zu, bis — an, oder auf, 

mit und ohne usquc — mit und ohne usque. 

3) die durch das Heran kom- 3) Ankunft wo, und somit 

men an einen Gegenstand Nähe, Ruhe bei einem Punct, 

bewirkte Nähe, daher Nähe häufig zu allen Zeiten, 

überhaupt ae apud, deutsch; vom Ort , wie apud, prope, bei , 

nahe bei, bei, in der rorclass. nahe bei, an. bei Mei- 

Zeit sehr häufig, aber auch lenahgabe, und besonders 

später nicht Seiten. mit lapU. — — bei Perso- 

bei Personen die An- nen. 

gäbe der Entfernung — be- 
sonders mit lapis überaus 
bä'ufig. 

B) in der Zeit, analog den B) von der Zeit, in denseU 
in A. angegebenen Verhält- ben Beziehungen, d.h. Rich- 
nissen l) die Richtung d. i. tung od. Hinnäberung gegen 
Annäherung an einen bestimm- einen Zeitpunct, gegen, 
ten Zeitpunct, deutsch: um, um. — a) Bewegung oder 
gegen. — 2) das Ziel, die Dauer bis zu einem Zeitpunct, 
Grenze, bis wohin ein durch, mit blofser Rücklicht auf den 
laufener Zeitraum reicht, End punct der Zeit, nach, in; 
mit und ohne usque, deutsch: mit Rucksicht auf die dazwischen 
bis zu, bis gegen — zur Be- ? er fliefsende Zeit, bis zu t 
Zeichnung des ganzen rerflos- bis an, auf u. dgl. , mit und 
senen Zeitraums. — 3) das ohoe usque. — 3) Ankunft 
durch gesteigerne Nähe bewirkte oder Eintreffen auf einen 
Zusammenfallen mit einem Zeitpunct, zu, in, an, auf, 
Zeitpoocte, also das Gesche- bei u. dgl. 

hen in demselben; deutsch: bei, 
zu, in, an. — An die Zeitrer- 
hältnisse knüpfen sich 

C) die Verhältnisse der Zahl, C) bei Zahlen, wiederum 
und zwar 1) die Annäherung 1) Näherung gegen eine 
an eine bestimmte Summe, Zahl oder Summe hin, naht 
wie unier bei n ah e, d.i. nahe bei. an, beinahe, bei« 



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Freund: Wortcrbnch der Lateinischen Sprache. 



Hr. Dr. Freund, 
a) das Ziel, die Grenze, bis 
zu einer bestimmten Zahl 
hin (selten). 

, D) In allen den mann ich- 
fachen Verhältnissen, die 
auf die Beziehung eines Ge- 
genstandes zu einem andern, in 
der Richtung nach einem 
yorgesteckten Ziele hin, sich 
gründen. 

E) Adverbialausdrücke 
mit ad gebildet : 

4) adme, te, rem etc. mich, 
dich, die Sache betreffend. 

5) ad tempus: a) zu einer be- 
stimmten , festgesetzten Zeit; — 
b) zu gelegener, gehöriger Zeit; 
— c) auf einige Zeit; — d) nach 
den Umständen. 

, 6) ad praesens (meist nur bei 
Spätem) a) für den Augenblick , 
auf kurze Zeit, b) vor der Hand. 

7) ad locum, zur Stelle. Liv. 
37» 27, 2. 

8) ad verbum, Wort für Wort, 
wort lieh. 

9) ad summam , a) im 'Gan r 
zen, im Allgemeinen, b) mit 
Einem Worte. 

10) ad ext remum, ad ultimum, 
ad poslremum: a) am Ende, zu- 
letzt, a) vom Orte: zu oberst, 
am ä'ufsersten Ende; 0) von der 
Zeit: zuletzt; y) von der Ord- 
nung: endlich, b) bei Liv. ganz 
und gar, völlig bs omnino. 



Hr. Pr. Horner. , 

2) seltener Eintreffen auf 

eine gewisse Zahl, bis zu, 

auf, adnumerum, in bestimm*. 
* 

ter, gehöriger Zahl. •- 

D) übergetragen auf a 1 1 e V e r - 
hältnisse, die entweder Rich- 
tung und Beziehungauf, oder 
Nebeneinanderstellen und Nahe- 
kommen von Gegenständen vor- 
aussetzen: — von Richtung 
oder Beziehung auf etwas 
gleichsam als Zielpuncr. 

E) nach diesem verschiedenen 
Gebrauch bildeten 

1 ) ad me, te, rem etc. mich t 
dich, die Sache angehend. 

2) ad tempus: a) zur bestimm- 
ten Zeit, zur Zeit; b) zu gebori- 
ger Zeit, bei Zeiten ; c) auf einige 
oder kurze Zeit; d) der Zeit 
gemäfs, nach den Umständen. 

3) ad praesens, bei Spätem, 
a) vor der Hand , 6) für den 
Augenblick, auf kurze Zeit. 

4) ad locum, zur Stelle. Liv. 
27, 27. 

5) ad verbum, Wort für Wort, 
wortlich. 

6) ad summam, a) im Gan- 
zen, Allgemeinen ; 6) überhaupt, 
mit Einem Wort, kurz. 

7) ad extremuni, ad ultimum, 
ad poslremum: a) vom Ort: am 
ä'ufsersten Ende, vorne; b) von 
der Zeit a) bis ans Ende, ß) am 
Ende, zuletzt, schliefslich ; c) 
von der Ordnung : endlich ; d) 
bei Li*', i. q. prorsus, omnino, 
gänzlich, im höchsten Grad. 



(Der Betchlufs folgt) 



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N*. 42. HEIDELBERGER 1837 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Freund: Wörterbuch der Lateinischen Sprache. 

(Beschluft.) 



Hr. Dr. Freund: 
II. Zusammensetzung. 
Nach der gewöhnlichen Ortho- 
graphie bleibt das d des ad vor 
Vocalen und b, d, h, m, v 
unverändert; — assimilirt sich 
dem Folgenden c, f, g; I, n, p, 
r, s, t; — fällt vor g und s 
zuweilen ganzaus, — und geht 
vor qu in c über. — .Neuere 
Philologen aber behalten , auf 
alte Inschriften und gute Codices 
gestützt, in den meisten Fällen 
das d bei. — Doch hat eine völ- 
lige Gleichheit in diese n Puncte 
selbst bei den besten Klassikern 
schwerlich stattgefunden, daher 
auch von uns, des bequemern 
Aufschlagens wegen , die alle 



Hr. Pr. DÖrner. 
NB. Bei Comp ns it. ward 
bis jetzt gewöhnlich das d von 
ad beibehalten vor Vocalen und 
vor b, d, h, m, v; assimilirt 
den c, f, g, 1, n, p, r, s, t; 
vor g und s auch ganz wegge- 
worfen, und vor qu in c ver- 
wapdelt; — in neuerer Zeit hat 
man, auf Inschriften und gute 
Handschriften sich berufend, es 
uberall beizubehalten angefan- 
gen, Durchgängige Gleichheit 
dürfte wohl auch bei den Al- 
ten nicht stattgefunden haben: 
daher ward hier, um unnöthige 
Mühe bei dem Nachschlagen zu 
ersparen, die althergebrachte 
Schreibweise befolgt. 



Schreibai t beibehalten worden. 

Damit nun nicht Jemand dem Ref. den Vorwurf mache, als 
habe er diesen Auszug mala fide gemacht, indem er die beiden 
Artikel nicht ganz mit allen Beweisstellen und allem, was sie 
enthalten, habe abdrucken lassen; bemerkter a) dafs er für einen 
vollständigen Abdruck den Baum nicht habe ansprechen dürfen; 
/>) dafs er gleich erklärt habe und jetzt noch bestimmter erkläre t 
es seyen im Buche überhaupt, und in den einzelnen Artikeln 
insbesondere, namentlich auch in diesem, viele Abweichungen 
von Hrn. Dr. Freunds Wörtei buche, sowohl in Angabe von 
Stellen, als von Bedeutungen; es stehe Manches bei Fr., was 
sich bei D. nicht finde, und umgekehrt; c) dafs es sich aber jetzt 
nicht darum gehandelt habe , Sondern um die Nachweisung einer 
Ähnlichkeit, die sich nicht unter die Rubrik des noth wendigen 
XXX. Jahrg. T Heft. 42 



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E. Bulow : da« NovelUnhucb. 



Zusaramentrelfcns, das durch die Nulur der Saehe 

geboten ist, bringen, und -nicht dadurch erklären läfst, dafs 
beide Verfasser mit gleichem Fleifso und gleicher Gewii- 
senhaftigkeit verfuhren (Eigenschaften, welche beide dem 
Hrn. Dr. Fr. von Hrn. Pr. D. ohnehin jetzt geradezu abgespro- 
chen werden, so dafs die tüchtigem Hände, welche Hr. Pr. 
D. dem Hrn. Dr. Fr. früher zugestand, wie durch einen Zauber- 
schlag zu untüchtigem geworden sind); dafs endlich eben so 
wenig der Zufall, als die Benutzung derselben Quellen und Hülfs- 
mittel (da sich nirgends ganz diese Anordnung vorfindet) eine so 
wesentliche Übereinstimmung herbeizufuhren vermochte, und dafs 
folglich dem Hrn. Dr. Fr. (auch wenn des Hrn. Pr. [X Anschul- 
digungen wahrer waren, als sie sind) und seinem Weihe schwe- 
reres und bittereres Unrecht widerfahren ist, als ihm durch irgend 
eine absprechende Kritik seines von ihm gewifs selbst nicht für 
mangellos gehaltenen Werkes widerfahren konnte oder Könnte. 

Mose r. 



Das Novellenbuch ; oder Hundert Novellen , nach alten italieni$chen , spa- 
nischen , frantötiseken , lateinischen , englischen und deutschen bearbei- 
tet von Eduard von Bülow. Mit einem Ferwowte von Ludwig 
Tieck. Erster 7 heil. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1834. L und 520 Ü 
Zweiter Theil. 1835 XXf'I und 578 & Dritter Theil. 1836. XXVI 
und 584 S. Werter Theil. XXXII und 576 & 

Die Aufgabe, die sich der Herausgeber bei diesem Werke 
stellte, war, nach seinen eigenen Ausdrucken, mit demselben eine 
Tollständige Auswahl des Guten und Bessern der alten italieni- 
schen und spanischen Novellistik ins Besondere , so wie im All- 
gemeinen auch dessen, was sich in den andern abendländischen 
Sprachen Einzelnes davon vorfindet, und zwar in Bearbeitungen 
darzubieten, welche die Volkstümlichkeit und EigentMhnlichfceit 
der Verfasser schonen und beibehalten, und also dem Kenner und 
Freunde dieser bei uns wenig bekannten Schatze die oft schwer 
erreichten Originale so viel als möglich ersetzen. Zugleich wollte 
er auch dem gröfaern Theile der deutschen Lesewelt eine ange- 
nehme Unterhaltung gewahren , indem er von diesen alten Novel- 
len alles Unschickliche oder Ungeschickte, Breite, Störende, Un- 
wesentliche in Styl und Stoff abtrennte. Es sollten in dem No- 
vellenbuch auch alle Tone der Novellistik angeschlagen werden, 
vom höchsten bis zum tiefsten herab; das Leichtsinnigste durfte 



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S E. BOlowi das Novellenhuch. U5U 

90 wenig wie das Frömmste davon ausgeschlossen seyn, sobald 

es sich nur durch poetischen Werth rechtfertigte. 

Eine reiche Bin me niese aus der altern Erzählungsliteratur 
war in der That ein Bedüdnifs unserer Zeit; sie ist Eur Aufhel- 
lung des geschichtlichen Ganges der erzählenden Poesie, so wie 
tom Maßstab für die Beurtheilung und Vorbild für die Ausfüh- 
rung spaterer ähnlicher Versuche unentbehrlich. Dieses Bedürf- 
nifs wurde denn in dem gegenwärtigen Werbe auf eine genü- 
gende Weise von einem Manne befriedigt, der vor vielen andern 
sich zur Losung einer aolchen Aufgabe berufen fühlen konnte, 
durch vielseitiges Studium und nachhaltige Liebe für diesen Li- 
teraturzweig, wie sich beides in der Ausführung beurkundet, 
durch die unterstützende Aufmunterung Tiecka, welcher dabei 
anregend und rathgebend thätig war, aus seinen 'seltenen Samm- 
lungen die nothigen Vorrithe darlieh und endlich das Werk durch 
einige vorredende Zeilen einführte, in welchen er in kräftigen 
Zügen die Entwicklung der Novellistik bei den einzelnen euro- 
päischen Volkern schildert. Am besten bewährt uns aber der 
Herausgeber seinen Beruf zu dieser Arbeit durch die geschmack- 
volle, zarte Behandlung der einzelnen Stücke, ao wie dureh den ' 
' richtigen Tact, welcher ihre Auswahl bei allem Scheine des tu- 
multuarischen Verfahrens dennoch leitete. 

Herr v. Hü low hu Isert sieh in der Vorrede zum vierten 
Bande ziemlich bitter gegen Neeensenten , welche schon bei An* 
zeige der ersten Binde in der äufrern Ordnung eine systematische 
Folge von ihm verlangten; aber dessen ungeachtet können auch 
Wir nicht umhin, jenem Tadel noch jetzt mit Überzeugung bei- 
zutreten. Denn hei allem Vortrefflichen, was die Sammlung ent- 
hält, dürfen wir uns doch nicht verhehlen, dafa dieselbe weit 
mehr eine Gabe »für den Henner und Freund« als für »die 
grüTsere Lese weit k ist, da Ts wir nicht mehr in vollem Sinne in 
diesen Poesien leben, und dsfs die Welt, in der sie sich bewe- 
gen , uns eben so fremd ist , als die Form der Darstellung in un- 
serer Zeit sich geändert hat. Die Novelle hat nunmehr eine 
Menge fremdartiger Elemente in sich aufgenommen. Ursprüng- 
lich war sie, wie schon der Name giebt, die Erzählung einer 
Neuigkeit, irgend einea interessanten heitern oder traurigen Vor- 
falls. Sie gieng vom mündlichen Vortrage aus, und es war nicht 
allein aus der äofserlicbcn Bücksicht, die vielen kleinen Geschich- 
ten durch einen Bahmen zusammenzuhalten, daf* Boccaccio und 
Viele nach ihm seine Novellen von einer Gesellschaft , der Samm- 



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660 E. v. Bnlow i daa Novellenbuch. 

ler der Tausend und Einen Nacht von Scheherazaden erzählen 
läßt, sondern es ist wirklich ein im Wesen der Novelle selbst 
begründetes Moment. Im Orient ist die Novelle noch jetzt leben* ' 
diges Wort« Je mehr sie sich aber in Europa davon entfernte 
und Schriftangelegenheit wurde, um so mehr näherte sie sich 
dem Roman, und es kam so weit, dafs sogar manche Ästhetiker 
über die Grenzbestimmung dieser zwei poetischen Gebiete in Ver- 
legenheit sind. Die Zeit der Novelle im ursprünglichen Sinne ist 
für uns vorüber, und es liegt eben so gewifs in der Nafur der 
Sache, als die alltägliche Erfahrung es unbezweifelt läfst, dafs 
diese alten Dichtungen, so trefflich sie an sich seyn mögen, nie 
wieder ein allgemeineres Publicum erhalten können , sobald ein* 
mal die Periode der Geschichte vorüber ist, aus deren Lebens- 
kern diese Blumen und Früchte emporgestiegen sind. Schon die 
äufserlichen Verhältnisse und Anforderungen unserer grSfsern Le- 
sewelt sind andere, als diejenigen, unter welchen jene altern No- 
vellen entstanden sind. Man will eine lange Geschichte, womög- 
lich in mehreren Bänden haben, man will in alle Details des Le- 
bens und Ergehens der Helden eingeführt seyn , und es sich bei 
ihm bequem machen, man will zwischenein anmuthige psycholo- 
gische, politische und andere Excurse und Ruhepunkte. Vor Al- 
lem aber will man gewisse natürliche Angelegenheiten auf das 
Decenteste mit durchsichtigem Schleier umhüllt wissen, um zu 
sehen, und sich doch selbst glauben machen zu können, man 
sehe nicht. Der Herausgeber hat, ob er gleich ausdrücklich 
nicht für weibliche Pensionsanstalten zu schreiben erklärt, in Rück- 
sicht auf diese Anforderungen unserer Lesewelt Manches aus die- - 
sen Erzählungen ausmerzen zu müssen geglaubt; aber dennoch 
ist seine Sammlung bereits von gewissen Seiten her im Namen 
der Moral sträflich angesehen worden. 

Es giebt eine ewige Poesie, die so tief aus dem Innersten 
des Geistes herauskommt, dafs sie unter halbwegs ähnlichen Ver- 
hältnissen dieselbe Bedeutung wieder für das geniefsende Indivi- 
duum gewinnen raufs. Wenn aber Tieck (B. I. S. XX) diese 
Bedeutsamkeit auch für die alten Novellen iu Anspruch nimmt, 
wenn er behauptet, dafs trotz aller Veränderungen der Mensch 
in allen Zeiten sich so sehr gleich bleibe, dafs in dieser interes- 
santen Gallerie mancher Beschauer eine selbsterlebte Begebenheit 
oder ein Porträt aus seinem Familienkreise zu erblichen wähnen 
mochte, so wollen wir dieser Behauptung zwar nicht durchaus 
widersprechen; nur wird man sich so viel unumwunden eingestehen 



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E. Bfitow : da* Movellenbuch. 661 

müssen, dafs diese Erzählungen unserem Leben, unsern Verhält- 
nissen meist so ferne stehen, dafs sie eines ausgebreiteten Leser- 
kreises nie mehr werden gewartig seyn dürfen. 

Haben wir somit einerseits das Bedürfnifs einer Blumenlese 
aus den alten Novellisten zugegeben, andererseits aber gesehen, 
dafs eine solche nicht dem grofsen Lesepublicum, folglich zu- 
nächst nur dem literarischen angehören könne, so wird man uns 
nicht verargen, wenn wir bei der Ausführung eines solchen Un- 
ternehmens zunächst auch vornehmlich die Bedürfnisse dieses li- 
terarischen Publicums berücksichtigt zu sehen wünschten. Und 
hier wäre uns eine Anordnung der einzelnen Novellen nach Spra- 
chen und bei jeder Sprache wieder chronologisch nach den .Ver- 
fassern sehr zweckmäßig erschienen. Diese Anforderung, welche 
schon von anderer Seite her an den Verfasser ergangen seyn mufs, 
weist er dagegen in der Vorrede zum letzten Bande (S. XX f.) 
unbedingt ab, da der höchste Zweck eines poetischen Werkes 
dieser wie jeder Art keineswegs der sey, dem Literarhistoriker 
ein bequemes Handbuch zu werden, sondern wohl ein selbststän- 
diger, der mit eben dessen Wissenschaft nichts gemein habe. 
Wollten wir aber auch gegen unsere Überzeugung hier zugeben, 
dafs das Werk, wio es nun vorliegt, auf den Namen eines poe- 
tischen Werkes als eines Ganzen Anspruch machen könne, so 
sehen wir doch nicht ab, wie nicht auch bei der vorgeschlage- 
nen Anordnung für den poetischen Genufs mehr gesorgt gewesen 
wäre, als durch willkührliche Zusammenwürfelung der verschie- 
denartigsten Stücke. Stellt man doch auch in einer Gemälde- 
gallerie nicht alle Stücke bunt durch einander, sondern unter- 
scheidet die deutsche, italienische, niederländische, französische 
Schule, und stellt auch unter diesen wieder die Stücke eines und 
desselben Meisters möglichst zusammen. Der Genufs des Einzel- 
nen wird dadurch in keinem Falle verkümmert, der Genufs des 
Ganzen dagegen wird auffallend gefördert. — Auch das dem 
-viertem Bande beigegebene „ VerzeicbniPs aller hundert Novellen 
nach den Sprachen und, alphabetisch, nach den Verfassern geord- 
net 14 genügt nicht. Die alphabetische Ordnung ist wieder nur 
eine äofserliche, und um so weniger passend, als mehrere Ver- 
fasser dem Namen nach nicht bekannt sind. 

In wie weit wir auch in Rücksicht auf die Veränderungen, 
die sich der Herausgeber bei einigen Stücken erlaubt hat, nicht 
mit den Grundsätzen übereinstimmen, von denen er sich hierbei 
leiten liefs, haben wir theito schon im Obigen angedeutet, theils 



• 



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662 E Bölow^ du« Novellcnbuch. 

wird es sieb bei Erörterung der einzelnen Novellen ergeben , zu 
welcher wir jetzt übergehen. — Herr v. Bülow giebt in der 
Vorrede über die Quellen, aus denen er geschöpft, sorgfältig 
Rechenschaft, und knüpft daran nicht selten sehr lehrreiche No- 
tizen über die Verfasser, über anderweitige Bearbeitungen des 
gleichen Stoffs u. dgl., wovon wir denn hier das NÜthigste aus« 
heben und einige Ergänzungen beifugen. 

Der Orient bleibt ganz aus dem Spiele, und mit Recht. 
Denn trotz der roanchfachen Beziehungen, in welchen orientali- 
sch* und occidentalische NovellistiU zusammen stehen, ist doch 
das beiderseitige Feld scharf genug begrönzt, und jedes einzelne 
reich genug, um abgesonderte Behandlongen zu verdienen. Auch 
griechische Erzählungen finden sich im Novellenboch nicht. 
Von lateinischen, deren in ganz Europa während des Mittel- 
alters und weit in di« neue Zeit herein eine grofse Menge theils 
einzeln, theils in Sammlungen — die hauptsächlichsten Sind die 
»diseiplina elericalis* und die »gesta Romanorum« geschrieben 
wurde, erhalten wir hier nur zwei. 

Die erste zunächst aus dem Lateinischen geflossene Erzäh- 
lung ist die Geschichte von Apollonius von Tyrus (Th. IV- 
S. 33a). Dieselbe gehört übrigens ursprünglich wahrscheinlich 
der mittelgriechischen Zeit an. Nicht allein der ganze Tou und 
Gang verräth die Verwandtschaft mit derr ähnlichen Producten 
jener Periode, sondern es sind auch wirklich historische Daten 
vorhanden, die einen griechischen Ursprung vermuihen lassen. 
Es ist die abenteuerliche Geschichte eines jungen tyrischen Für* 
sten, der anfangs um die Tochter des Honigs Antiocbu* von Sy* 
rien freit, aber von ihrem Vater verfolgt wird, weil er dessen 
verbrecherisches Verhältoifs zu seiner Tochter erratheo hat Apol- 
lonius heirathet hierauf die Tochter eines andern Fürsten, an 
dessen Land er als Schiffbrüchiger kommt, verliert aber sie und 
die Tochter, die sie ihm geschenkt hat, wie er glaubt, auf im- 
mer, und giebt sich Jahre lang der verzweifeltsten Trauer hm. 
Endlich findet er Weib und Tochter wieder, und stirbt als Kö- 
nig von Antiochien, nachdem er zweimal seine Lebensgeschichte 
niedergeschrieben hatte, die eine Handschrift dem Tempel zn 
Ephesus, die andere seiner Bibliothek anvertrauend. Als näch- 
stet Original liegt der Bülowschen Bearbeitung zu Grunde die 
in Augsburg i5q5 in 4. erschienene »Narr«*» eorum, qnae Apoi- 
lonio regi contiguerunta durch MaroueVelser, wieder abge* 
druckt in dessen WW« Nürnberg i68a. S. 681 — 7<>4* Diese 



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E. v. Uül.iv : da« Novolieiibuch. 663 

»narratio« soll vor tausend Jahren von einem Christen aus dem 
Griechischen übersetzt sc yn , und sich das Original zu Constanti- 
nopel unter den Buchern des Manuel Eugenicus und in der Kai- 
serlichen Bibliothek zu Wien befinden. Vgl. Fabricii bihliotb. 
graeca ed. Harles. VIII Y 14$ £ Eine Bearbeitung in barbarischen 
griechischen Versen (s. Dunlops history of iiction 1, 109.) er- 
schien 1696, nach Douce schon i563, zu Venedig unter dem Ti- 
tel : Ai^jjais wpoiiMT'nr AnoXXaPtov iov tv Tvp» prjfiaxa. 
Als Verfasser wird ein Konstantinos genannt. Vgl. Dufresne In- 
dex zum Glossar, graec. Die erwähnte lateinische Übersetzung 
schreibt Joh. Meursius und Casp. Barth dem Symposius, der im 
achten Jahrhundert lebte, zu, weil die in der Geschichte vorkom- 
menden Bäthsel sich auch unter den Aenigmata Symposii finden. 
Gegen das Ende des zwölften Jahrhunderts schon hat Gottfried 
von Viterbo die Geschichte seinem Pantheon einverleibt, wo sie 
unter dem dritten Antiochus (200 vor Chr.) spielt. Es beginnt: 

FHIa Scleuci magno stat clara decore, 
Matreque defuncta pater arsit io ejus amorej 
Res habet eflectum , pressa puella dolet. 

In diesem Metrum geht es dann fort, stets zwei unter sich rei- 
mende Hexameter, dann ein Pentameter. Hieraus wohl gieng 
die Erzählung in die Gesta Romanorum Aber (Cap. i54.), welche 
erst im vierzehnten Jahrhundert abgefafst sind, weshalb Herr 
v. Bulow (IV. S. XVII) die Version in den Gestis mit Unrecht 
die älteste lateinische nennt. Douce datirt den ältesten lateini- 
schen Druck in Prosa Augsburg »471. Eine italienische Bear- 
beitung in ottava rima erschien zuerst Venedig i486. Nach Frank- 
reich gieng das Buch aus dem Lateinischen im fünfzehnten Jahr** 
hundert über. Die älteste bekannte Version ist auf dem british 
Museum. Der älteste französische Druck erschien zu Genf o. J. 
in 4., ein anderer i53o zu Paris von Gilles Corrozet. Moderni- 
tät von Le Brun, Amsterdam (nach Douce, Rotterdam nach Fa* 
bricius) .710. 8. Eben so Paris 1711. Ein Auszug daraus steht 
in den Melanges tire*s d une grande bibliothe<jue , LXIV. S. 265. 
Aus diesem französischen Prosaroman entstand das englische Buch 
• »The mooste pytefull history of the noble Appolyn, Kyng of 
Thyre«, London i5io. Vergl. Ebert bibl. Lex. No. 840. Eine 
angelsächsische Version wird in Wanley Y Vcrzeichnifs angemerkt 
uud befindet sich jetzt in Cambridge. Vergl. Douce Illustration* 
II, 140. Eine Bearbeitung in altenglischen Versen erwähnt eben- 
falls Douce „und theilt ein Fragment derselben mit. Gower, der 



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6«4 F. v. Ralow: rfn« NfmUrnlu.ch. 

den Stoff in der Confcssio amantis (1. VII. S. 175 ed. i554) auch 
behandelt, entlehnt ihn aus Gottfried von Viterbo. Gower ist 
weiterhin nebst dem englischen Prosaroman die Quelle für Shak- 
speare gewesen, und tritt als Chorus auf im Eingang zu jedem 
Acte des Stuckes, das den gleichen Stoff bebandelt. Shakspeare 
vertauscht den Namen Apollonias gegen den Namen Pyrocles, 
wie nach Steedens Annahme das jetzt unter dem Titel Periclcs 
bekannte Stück ursprünglich hiefs nach dem Helden von Sidney's 
Arcadia. Steevens bemerkt hierbei, dafs mehrere der alten eng- 
lischen Dichter eine Ehre darein gesetzt haben, Sidney's Helden 
auf die Buhne zu bringen, was denn Shakspeare vermocht haben 
könne, den ohnedem unhistorischen Namen Apollonius aufzugeben. 
Wirklich hat Shakspeare's Held Ähnlichkeit im 'Charakter mit 
Sidney's Pyrocles, und so wäre also wohl dem Shakspeare sehen 
. Stucke dieser Name zu reititutren. Eine holländische Übersetzung 
unserer Geschichte erwähnt Panzer (Ann. f, 373) als zu Delf er- 
schienen. Vergl. Fabricius a. a O. 146. Über die deutschen Be- 
arbeitungen verweisen wir auf v. d. Hagens Grundriß S. 207. 
Die älteste, metrische, soll von den Gestis Homanorum ausgeben; 
die späteren, in Prosa, geben zum 'I heil Gottfried von Viterbo - 
als Quelle an. Nachträglich erwähnen wir nur noch eine in der 
Handschrift 1279 ( ' L " r Leipziger Universitätsbibliothek belindlicbe 
prosaische aus dem fünfzehnten Jahrhundert, welche so beginnt: 
»Hyr nach folget das geschiente von Apollonio tyro eyne lyblicbe 
Historie vn von dem Konynge anthiocho der syne eygene tochler 
beslyff« u.s. f. Vgl. Altdeutsche Blätter von M. Haupt und H. 
Hoffmann B. I. n5. Fernere Nachweisugen über die Sage, de? 
ren weite Verbreitung wir durch das Mitgetheilte hinlänglich an- 
gedeutet zu haben glauben, finden sich in Simrocks Quellen des 
Shakspeare III, 263. Ebendort (II, 207) ist die Geschichte nach 
den Gesta und dem deutschen Prosaroman erzählt. 

Die zweite lateinische Erzählung ist (I,3n) Lucrezia 
und Euryalus von Äneas Sylvius Piccolomini, nachhe- 
rige ni Pabst Pius II (lebte von i4o5 — »464), der. sich durch 
diese treffliche Erzählung, wenn ihm wirklich das ganze Verdienst 
der Abfassung zufallt, zu der höchsten Krone der Erde auch den 
Kranz des Dichters verdient hat. Eine Dame in Siena und Eu- 
ryalus, der in Kaiser Siegmunds Gefolge in diese Stadt kommt, 
werden von gegenseitiger heftiger Liebe ergriffet), die über alle 
Schranken des Gewissens und der äufsern Gefahr bin nach ihrer 
Befriedigung ringt. Die Schilderung dieser unbändigen , fast zau- 



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E. v. Bülow: i!ai Not ellenbuth. IH»5 

berhaften Gewalt dieser verbotenen Leidenschaft verdient Gott- 
frieds Tristan und holt an die Seite gestellt zu werden, und die 
lyrische Glut des Ganzen erinnert an das Höchste, Trefflichste 
dieser Gattung. Das ganze Verhältnifs bleibt trotz der Wagnisse 
der dämonischen Leidenschaft das Geheiranifs weniger Vertrauten, 
und macht einen um so ergreifenderen Eindruck, je mehr sich 
die ungeheure Flamme im Stillen aufzehrt. Es endet damit, dafs 
der Kaiser Siena verlassen mufs; Lucrezia welkt dahin und erliegt 
bald ihrem Schmerz; Euryalus erhält später von seinem Herrn 
eine schone, keusche und weise Jungfrau aus herzoglichem Blute 
zur Ehe. Die Geschichte ist, wie der Verfasser in einem einlei- 
tenden Briefe an den kaiserlichen Kanzler Schlick erklärt, in Sie- 
na wirklich vorgefallen , und zwar ist theiJs aus Anspielungen des 
besagten Dedicalionsbriefs, the.Is aus den Angaben des ältesten 
deutschen Übersetzers der Geschichte, der mit Äneas in Brief- 
wechsel stand, mit allem Grund anzunehmen, dafs Schlick selbst 
unter dem ft Euryalus der Geschichte zu verstehen sey. Schlick, 
von Geburt bürgerlich, hinterliefs wirklich gräfliche Nachkom- 
menschaft, die noch jetzt in Wien blühen soll. Unter den Ho- 
pfen, die auf die Prager Brücke genagelt wurden, war ein gräf- 
lich Schlick'scher, und ein Graf Schlick commandirte unter Wal- 
lenstein. Die Geschichte ist 1444 geschrieben, und hat im Ori- 
ginal den Titel: Historia de duobus amantibus Lucretia et Euryalo. 
Handschriften davon sind nicht selten. Eine derselben befindet 
sich auf der konigl. öffentlichen Bibliothek zu Stuttgart, MSS. 
poet. fol. No. 35; 18 Blätter. Der Schlufs lautet: »Habes amo- 
ris exitum, Mariane mi amantissime, non ficti neque felicis; quem_ 
qui legerint, periculum ex bis faciant , quod sibi ex usu fiet, nec 
amatorium bibere poculum studeant, quod longe plus alocs habet 
quam raellis. Vale ex Wienna. V Non. Jul. i444- Explicit hi. 
storia ipsi Casparo Schlick eventa et ob sui honorem ac preces 
quamvis mutatis edicta nominibus.« Eine andere Handschrift wird 
so eben in dem XI. Antiquariatscatalog von \V. Birett in Augs- 
burg S. 161 feilgeboten. Sie soll vor 147t von einem gewissen 
Haberling geschrieben seyn, und enthält aufser mehreren andern 
Schriften desselben Verfassers und dem Original unserer Ge- 
schichte auch die deutsche Übersetzung derselben, welche der 
als erster deutscher Bibelübersetzer berühmte Nicolaus von Wile, 
statscriber zu Eslingeu, »für die durchlüchtige bochgeborne für- 
stin vnd frow Katberinc hertzogin ?on Österrich vnd marggräün 
zu Baden im jar i4ta« verfafstc. Über Niklas von Wyle vergl. 

1 



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66<> K. v. Bälow: Ha« Novelleiibuih 

mau auch kafsbergs Liedersaal II, UBfm Seine Übersetzung 
ist nach Herrn v. Bulows Angabe an vielen Stellen fehlerhaft, 
vielleicht auch «ach einer mangelhalten Abschritt gefertigt. Ge- 
druckt findet sich da« Original in Aeneae Sylvii O. O. BaaiL S. 
622 Schon 149* wurde die Geschichte ins Italienische, «in Jahr 
spater ins Französische übersetzt. Vergl. Melange« tires d'une 
grande biblioth. II, 9. Das »Buch der Liebe« (Frankfurt t58y) 
enthält eine verkehrte und veränderte Bearbeitung der Geschichte 
als »Historien und geschiebt Camilli und Emilie«. In sehr ge- 
drängter Verdeutschung findet sie sich auch in dem Buche: »aoo 
der allerschonsten neuen Historien, hiebe vor durch den viel be- 
rühmten Bnccatium beschrieben, jetzt aber mit 100 vermehrt«, 
Frankfurt 1646. Sie findet sich ferner im dritten Band der Bi- 
bliothek der Romane. In Arnims Winterparten (Berlin 1809) 
steht die v Liebesgeschichte des Hanzier Schlich und der schonen 
Sienerin« gleich vorn, wie Arnim in der Einleitung sagt, »aus- 
gezogen«. Die vorliegende ist mit Gluck im Tone der altern 
des Niklas von Wyle gehalten , im Einzelnen abgekürzt und ge- 
mildert. 

Wenden wir um nun zu den italienischen Erzählungen, 
deren uns die vier Bände eine reiche Anzahl darbieten. Auf eine 
literarische Vollständigkeit macht der Vf. hierbei nicht Anspruch, 
wiewohl er sie in gewissem Betracht dennoch erreicht. Von den 
»Cento novelle antiehec linden wir keine unmittelbare Nachbil- 
dung. Der erste italienische Novellist Boccaccio bleibt ganz weg, 
weil dieser für sich eine eigene vollständige und treue Übersea- 
zung verdiene. Der älteste Italiener, von dem wir etwas erhal- 
ten, ist Franc o Sacchett i (geb. i335, gest. um 1410 — • nicht 
1400, wie Herr v. Bü low angiebt; in diese Zeit fällt erst seine 
Novellensammlung) aus Florenz, welcher in der Begel als der 
erste Nachahmer Boccaccio's aufgeführt wird. Schon in setner 
Jugend der Poesie ergeben, machte er in kaufmännischen Ange- 
legenheiten wette Reisen, und wurde nach seiner Rückkehr Po* 
desta von Faenza und endlich Statthalter einer florertinischen 
Provinz in der Romagna. Dessen ungeachtet lebte und starb er 
in Armut h; aber er hinterliefs den Ruf eines geistreichen, freund* 
liehen Mannes und witzigen Gesellschafters und eine grofse Sa mm- 1 
lung von Sonnetten und Canzoneo und dreihundert Novellen, die, 
aus der grofsen Menge und der Verschiedenheit der ManuscHpte 
zu urtheilen, sehr populär gewesen seyn müssen. Sie enthalten 
eine Menge Anekdoten, Fecetiae nach Art des Poggio, dann auch 



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K. V. Bülow ! dtti Novtllcnbucb. 



«67 



viele selbsterlebte Ereignisse, und gewinnen dadurch einen cul- 
targeschichtlichen Werth , während ihr poetischer, der fast durch- 
aas nur in einer leichten iliefsenden Form besteht, weit hinter 
den Boccaccischen Erzählungen zurückbleibt. Daher denn auch 
Herr v. Bülow nur zwei derselben raittheilt. Anfangs wollte 
er nur eine geben (I, xlii). Die Gesandten aus der Ca. 
seotiner Landschaft an den Bischof . von Arezzo, welche 
ihren Auftrag vergessen haben , aber doch zu dem Bischof gehen 
und freundlich von ihm entlassen werden — ist wirklich ein recht 
artiger Schwank (I, 357) — Die siebzehnte Novelle Wie zer- 
ronnen so gewonnen (Hl, 53i) erzählt von einem Jungling, 
der, weü er ein Bündel Acten von seinem Vater hat ins Wasser 
fallen lassen, davonläuft, auf eine wunderliche Weise einen Wolf 
todtet und dafür 5o Lire erhält, um welche der Vater die Acten 
wieder abschreiben lassen und weiter processiren kann. — Man- 
che Geschichten Saccbetti's sind von spätem Erzählern wiederholt 
worden und in die bekanntesten Novellensammlungen ubergegan- 
gen. Gerade von diesen aber hat Hr. v. Bülow, vielleicht vor- 
sätzlich, keine aasgehoben. 

Der nächste italienische Erzähler nach Sacchetti ist in, chro- 
nologischer Reihe Ser Giovanni aus Florenz. Er begann seine 
Novellen, welche, ihrer fünfzig, unter dem Titel 11 Pecorone 
(der grofse Tölpel) herausgekommen sind, wie das vorausgeschickte 
Sonnctt besagt, 1878, also drei Jahre nach Boccaccio's Tode; 
und zwar schrieb er sie in einem Dorfe in der Gegend von Forli. 
Gedruckt warde das Buch zuerst i558 in Mailand. Die angeb- 
lich i554 ebendaselbst erschienene Ausgabe, welche Hr. v. Bü. 
low benutzte, ist blos ein nach der Ausgabe von i56o oder 
i565 zu Lucca um 1740 oder 1757 durch den Abbate Bracci 
veranstalteter Nachdruck, was Dunlop (bistory of fiction II, 365 
f.) und Ebert (bibl. Lex. 055 1) weiter auseinandersetzen. Ser 
Giovanni hat nach dem Vorgang Boccaccio 's seinen Novellen auch 
einen Rahmen geben zu müssen geglaubt, der aber der Angemes- 
senheit seines Vorbilds noch weiter nachsteht, als die Erzählun- 
gen selbst denen des Decameron. Ein junger Mann aus Florenz, 
Namens AureUo, verliebt sich in eine Nonne in einem Kloster 
zu Forlk Um sie öfter zu sehen, zieht Auretto nach Forli und 
wird Mönch desselben Ordens. Bald wird er Kaplan des Klosters 
und bat nun Gelegenheit, seine Geliebte täglich zu besuchen. 
Sie kommen überein, dafs bei jeder Zusammenkunft jedes eine 
Geschichte erzählen soll , and hiernach wird das Werk in a5 Ta%t 



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668 E. r. BuIom . ,Lu Noreltenbuch 

abgetheilt. Jeder Tag enthält zwei Geschichten , und achliefst in 
der Rege! mit Canzonen, die die Liebenden in aller Heimlichkeit 
absingen. Nach dieser Zeit gehen die Liebenden aus einander — 
»senza alcuna dlsonesta; .cosi il detto fratre Auretto ebbe dalla 
Saturnina quelle consolazioni e quel diletto che onestamente si 
possono avere«. — Die Vergiftung (Novellenb. I, 58) ist 
die zweite Novelle des s3sten Tags. Sie scheint mit der Rahmen- 
crzahlung der weitverbreiteten Novellensammlung » Ton den sieben 
weisen Meistern« zusammenzuhängen, welche dem Dichter ent- 
weder in einer lateinischen oder franzosischen Bearbeitung be- 
kannt seyn konnte. Auf seine Bekanntschaft mit diesem Buche 
scheint auch die Erzählung von dem Schatzhause des Rhampsinit 
hinzudeuten, welche Ser Giovanni Giorn. IX, Nov. i erzählt, 
und welche auch in den Sieben Meistern sich findet. Man vergl. 
meine Ausgabe des Romans des sept sages Einl. S. cxcni. Die 
Frau eines Edelmanns in der Romagna fafst eine sträfliche Nei- 
gung zu ihrem Stiefsohn , der scheinbar auf ihre Vorschläge ein- 
geht, aber seine Noth seinem Erzieher anvertraut , der ihm zur 
Flucht räth. Die Frau , die die Nichtigkeit der Verzogerungs- 
gründe des Jünglings einsieht, verwandelt ihre Liebe in todtlichen 
Hafs und gewinnt einen Sclaven, dafs er ihm einen GifttranU be- 
reite. Dieser Trank geräth durch Unvorsichtigkeit dem jungen 
Sohne der Frau in die Hände, er leert den Becher bis auf den 
Boden und sinkt wie todt zur Erde. . Nuu sucht die Frau den 
Verdacht der Vergiftung auf ihren Stiefsohn zu wälzen, und be- 
schuldigt ihn auch bei ihrem Mann, er habe ihr unziemliche An- 
träge gemacht und sie auf ihre Weigerung mit dem Tode be- 
droht. Bei der sofort eingeleiteten gerichtlichen Verhandlung er- 
scheint der Arzt, dem der Sclave das Gift verkauft hatte, giebt 
den Schuldigen an, und eröffnet, das Kind werde nicht todt seyn, 
da es statt Gifts uur einen Schlaftrunk genommen. Alles erweist 
sich, und die Frau wird verbannt. Die weite Verbreitung der 
Sage im Orient wie in Europa hat Ref. in der angeführten Ein- 
leitung in den Roman des sept sages S. cxxxi und sonst nachge- 
wiesen. — Fast eben so verbreitet ist die Erzählung vom Kauf- 
mann von Venedig (III, 437. nach Giorn. IV, Nov. 1). Gia. 
notto, der Adoptivsohn des venezianischen Kaufmanns Ansaldo, 
erhält die Erlaubnifs, nach Alexandrien zu gehen. Auf der Reise 1 
besucht er den Hafen von Belmont, wo eine Dame von grofser 
Schönheit wohnte, die sich selbst demjenigen als Preis aussetzte, 
der ihrer geniefsen konnte. Gianotto unternimmt es, die Bedin« 



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K. v. Büluw : das Novellenbuch. 



dingung zu erfüllen, erhält aber im Weine einen Schlaf ti unl< , 
weshalb er am andern Morgen dem Vertrag gemäfs sein Schiff 
verliert. Er kehrt nach Venedig zurück, rüstet ein anderes 
Schirl aus, ist aber nicht glücklicher. Zu der dritten Ausrüstung 
raufs Ansaldo 10000 Ducaten von einem Juden borgen unter der 
Bedingung, dafs der Gläubiger, wenn die Summe nicht auf die 
bestimmte Zeit zurückbezahlt werde, ein Pfund Fleisch aus des 
Schuldners Leibe schneiden dürfe. Gianotto trinkt diesmal auf 
den Wink einer Magd den Schlaftrunk nicht und erhält die Dame 
zur Ehe, vergifst aber im Taumel der Freude seine Verbindlich- 
keit gegen Ansaldo, und als er nach Venedig zurückkehrt, ist 
der Zahlungstermin verstrichen, und der Jude weigert sich, das 
Geld jetzt noch zu nehmen. In dieser Noth kommt die Neuver- 
mählte als Doctor der Rechte verkleidet an, erbietet sich, schwere 
Rechtsfalle zu losen, und entscheidet nun auf die bekannte Weise, 
dafs dem Juden genau ein Pfund Fleisch , aber kein Tropfen Bluts 
gebühre. Hierauf überläfst Gianotto dem Richter den Ehering, 
woraus denn der Streit zwischen den Eheleuten entsteht. Die 
Geschichte ist aus zwei ursprünglich nicht zusammengehörigen 
Sagen aneinandergefügt, der einen von dem Rechtsstreit um das 
Fleisch, der andern von der Werbung um die Dame zu Belmont. 
Das Verdienst der Verschmelzung beider, das man lange Shak- 
speare zugeschrieben, gehört wohl Ser Giovanni J der auch wahr- 
scheinlich Shakspeare 's Quelle für seinen Marchant of Venice war, 
ungeachtet man eine englische Übersetzung oder Bearbeitung , die 
er zunächst hätte benutzen können, noch nicht aufzußnden ver- 
mochte. Dieselbe Novelle bat auch schon Simrock in den Quel- 
len des Shakspeare I, 141 mitgetheilt, und III, 1 83 die manch- 
faltige Verzweigung der Geschichte trefllich entwickelt. Man 
vergl. auch Eschenburgs kritischen Anhang zum dritten Bande 
des deutschen Shakspeare- Zur Ergänzung führen wir eine erst 
neulich von H. Hoffmann (Altd. Blätter I, 1 43) mitgetheiite, aus 
den Gesta Romanorum geflossene, deutsche Erzählung aus dem 
fünfzehnten Jahrhundert an: — Der belehrte Liebesschul- 
meister (IV, 27) ist nach Pecor. I, 2 gearbeitet. Ein Student 
in Bologna verlangt von seinem Lehrer Unterweisung in der Kunst 
zu lieben, und findet eine Frau, an der er die Vorschriften des 
Professors in Ausübung bringt, ohne zu wissen, Hals dies die Frau 
seines Meisters ist. Der Alte sucht ihn bei seiner Frau auf, die 
den Geliebten noch zeitig genug unter einen Haufen alte Wäsche 
versteckt. Der Jüngling vertraut des andern Tages sein Glück 



670 E. *. Bülov : daa Norcllenbnch. 

wie bisher seinem Lehrer, der in der folgenden Nacht von neuem 
ihm ohne Erfolg nachspurt, und nun von der Frau für verrückt 
ausgegeben wird. Die Geschichte ist vielleicht orientalisch; we- 
nigstens hat die Erzählung des zweiten Reisenden im Bahar Da* 
nusch und eine Erzählung in 1001 Nacht (Ausg. von Habicht, 
Hagen und Schall XIV, 18.) Ähnlichkeit Ähnliche Intrigaen fin- 
den sich sehr häufig. Verwandt, vielleicht Nachbildung ist die 
Erzählung in Strapparola's Notti piacevoli IV, 4« wo indefs eine 
alte Erzählung aus den Sieben Meistern (vergl. Rom. des sept 
sages S. ccxxvn und V. 4176 fl ) hereinzuspielen scheint Diese 
Erzählung Strapparola's findet sich ubersetzt bei Simrock a. a. O. 
I, a3i , wo auch S. 201 die Novelle Giovanni s mitgetheilt ist, 
und zwar aus Veranlassung der Lustigen Weiber von Windsor, 
welche Sbakspeare wohl aus Giovanni geschöpft hat Als nächste 
Quelle wird bekanntlich angegeben: Tarleton's » News out of Pur- 
gatorie« und »The fortunate deceiwed and unfortunated loversc. 
Vergl. Dunlop II, 371. Simrock HI, 271. Auch Moliere bat ia 
der »Ecole des femraes« eine ähnliche lntrigue, so wie ein von 
Dunlop angeführtes franzosisches Drama »Le maitre en droit c 
und die Erzählung La Fontaine*s unter demselben Titel. Endlich 
wird noch damit eine Episode des Gilblas von Le Sage vergli- 
chen, wo Don Raphael Balthasar die Portschritte seiner Liebe 
zu seiner Frau mittheilt und die Unterbrechungen derselben durch 
die Ankunft des Mannes auseinandersetzt. 

Der dritte Bildschnitzer, mit dem unsere ganze Samm- 
lung sich eröffnet, ist von einem unbekannten Verfasser aus dem 
fünfzehnten Jahrhundert, steht in der vRaccolta di novelte dalf 
origine della lingua itaüana fino al 1700« Vol. II. S. 58, und ist 
von Herrn v. Rumohr in den »Italienischen Novellen von histori- 
schem Interesse* S. 97 mit einigen Abweichungen behandelt. 
Filippo da Drunellesco macht den dicken Bildschnitzer glauben, 
er heifse Matteo; er wird als solcher ins Gefangnifs gesteckt und 
auf allerlei Weise mifshandelt. Als er wieder los wird, entflieht 
er % um dem tollen Spuk zu entgehen, eilig nach Ungarn. Vasart 
und Manni halten die Sache für historisch, und sie soll von den bei 
der Posse beteiligten Freunden aufgezeichnet worden seyn, nach 
Rumohrs Vermuthung von Brunellesco selbst. Nach einer Notiz 
in der angeführten Raccolta S.5t) wurde die Erzählung von Bar- 
tolommeo Davanzati in ottava rima gebracht und von ihm Gosino 
di Bernardo Rucellai dedicirt ' Auch sey sie am Anfang unsers Jahr- 
hunderts vom Senator Antonio del Rosso in Prosa dramatisirt worden. 



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£• i. Bülow i das NevtUeauucp. t|l 

Ton MachTaveUi erhalten wir (III, 3Ql) die Novelle BeU 
fagor. Der Erateufel dietes Namens wird ton Pluto auf die 
Oberwelt geschickt, mit der Verbindlichkeit, eine Frau zu neh- 
men, um su erfahren, ob wirklich alles Unheil auf Erden tou 
diesem Geschlechte herrühre, und kehrt nach vielfachem durch 
seine Frau erlittenen Ungemach in die Hölle zurück. Die Haupt- 
sache der Erzählung ist indefs die Episode von dem Bauern Gio- 
vanni Matteo, der Belfagor auf der Flucht aufnimmt, und dafür 
zur Belohnung ihn zweimal aus Besessenen austreiben darf, um 
dadurch Geld zu erhalten. Das dritte Mal will Belfagor nicht 
mehr gehorchen, und weicht nur auf die Drohung Matteos, sein 
Weib komme heran, um ihn wieder zu sich zu holen. Die Ge- , 
schichte von der Austreibung aus Besessenen ist indefs nicht von 
Macbiarelli's Erfindung. Wir treffen sie in der arabischen Er- 
zählung von den »Vierzig Vczieren« (Born, des sept sages S. 
qlixv) in etwas anderer Verbindung und einfacher. Aufser den 
vielfachen Nachbildungen der Macbiavellischen Behandlung, die 
Herr v. Bulow schon aufgeführt hat, erinnern wir noch au La 
Fontaine* »Belphegor« in den »Contes et Nouvelles«, Amsterd. 
1764. I, 169. Das Original steht auch in der schon genannten 
Baccolta di novelle II, t55- 

Matteo Bandello (geb. 1480) wurde von dem Herausgeber 
am meisten ausgebeutet; wir erhalten von ihm nicht weniger als 
vierzehn Novellen. Und wir dürfen ihn hierüber nicht schelten, 
den« Bandello ist unbestritten nach Boccaccio der bedeutendste 
italienische Novellist, und dazu, dafs er in Italien selbst weniger 
verbreitet und beliebt ist, als sein grofser Vorgänger, mag zum 
Tb eil die geringere Reinheit seiner Sprache Veranlassung seyn. 
Bandello ist, was er oft selbst in dieser Beziehung nicht ohne 
Schmerz gesteht, ein Lombarde. Dagegen war sein Einflufs auf 
das Ausbnd , namentlich auf Spanien und Frankreich , desto grös- 
ser. — Die erste Novelle (Th. I. No. a5.) nach Bandello I, 49. 
scheint kaum die Aufnahme verdient zu haben Die Unnatur, mit 
welcher Carlo Montanino seinem früheren Feinde Salimbene seine 
einzige Schwester Angelica nieht als BVau, sondern zur Enteh- 
rung anbietet, zum Dank dafür, dafs dieser Carlo aus geheimer 
Liehe zu Angelica vom Tode errettet, kann aueh die würdige 
Haltung Salimbene's in der Sache nicht vergüten. Allerdings ist 
das Stück für Bandello charakteristisch , der, wie Marguerite de 
Valois und andere aus dieser Zeit, in dergleichen Stoffen nicht 
selten an die Unnatur des neuern französischen Bomantismus er- 

» 

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«71 E. r. Hu low : riaa Novellenbach. 

innern — Weit lieblicher nnd werthvoller ist die Errettung 
aus dem Grabe (II. No. 7. nach Band. Ii, 41.), eine venezia- 
nische Geschichte yon einem Kaufmann Gerardo, der sieb heim- 
lieh mit einem jungen liebenswürdigen Kinde vermählt, und die 
er nach einer längern Abwesenheit in Handelsgeschäften in der 
Gruft wiederfindet, aus der er die Scheintodte noch zu rechter 
Zeit befreit, worauf denn Alles ein erwünschtes Ende nimmt. 
Schade, dafs Bandello vergessen hat, gehörig zu motiviren, war- 
um denn Gerardo nicht gleich ihre Liebe und Ehe offen behan- 
dele. — Der Hufs (II, 9. nach Band. III, 17.) enthält manche 
sagenhafte Züge. Bestrafung eines stolzen Weibes, die ihre An- 
beter verbindlich macht, drei Jahre stumm zu bleiben. Die Sache 
sieht einem Fabliau ähnlich, und dafs Bandeko hier und da nach 
solchen arbeitete, ist bekannt Ein nachweisbares Beispiel davon 
erhalten wir mit der Geschichte der Kastclianin von Vergy 
(II. No. 19. nach Band. II, 5.), deren Original nach drei Hand- 
schriften der Bibliotheque du roi gedruckt ist in Meon's Fabl. et 
Contes IV, 296: »Ci commence de la Chastelaine de Vergi, qui 
mori pur laialment amer son aini. « (Nicht zu verwechseln mit 
der Geschichte vom Castellan von Concy, dem Minnesänger , des- 
sen Lieder in dem Fabliau seihst citirt werden, und die neulich 
Fr. Michel vollständig edirt hat. Der Boman über ihn und # seine 
Liebe mit der dame de Fayel ist von Gräpel et herausgegeben. 
Deutsch in Lafsbergs Liedersaal II, 359, * n Müllers Sammlung I, 
308 und in Unlands Gedichten.) Es ist die Geschichte einer 
treuen stillen Liebe, die, sobald sie durch Mifsgunst und Verrath 
ans Licht gezogen wird, der Geliebten das Herz bricht; einer 
der zartesten Stoffe der Fabliauxliteratur. — Frauentreue,' 
Männertugend (II. No. 20. nach Band. 1, i5.) ist eine vene- 
zianische Gerichtsgeschichte. Zwei einander feindlich gesinnte 
Edelleute heirathen zwei befreundete Mädchen und verlieben sich 
bald einer in des andern Weib. Das Einverständnifs der Frauen 
bewahrt sie vor factischer Ausübung des Verbrechens, und be- 
wirkt endlich eine Versöhnung der Feinde. — Antonio Bo- 
logna (III. No. 2. nach Bund. 1, 26). Mit einem neapolitani- 
schen Edelmann dieses Namens vermählt sich die verwittwete 
Herzogin von A mal Ii, wird deshalb von ihren Brüdern verfolgt, 
und mit ihren Kindern und Gemahl ermordet. 

• 

(Die Fort sc (zun ff folgt.) 



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N°. 43. HEIDELBERGER i837. 



JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



E. v. Bülow: Das Novelfenbuch. 

(Fortsetzung.) 

Die blonde Ginevra (III, i55. nach Band. I t 27.) ent- 
zweit sich aus kindischer Eifersucht mit ihrem Geliebten, Don 
Diego, und weder vernünftige Worte, noch Drohungen, noch 
Todesgefahr können sie bewegen , ihm ihre Liebe wieder zuzu- 
wenden; aber Diego's Liebe uberwindet Alles. Hr. v. Bülow 
nennt diese Erzählung mit Recht »eine der schönsten und an 
Poesie reichsten, nicht blos dieses Autors, sondern der ganzen 
Novellcnliteratur«. — Balduin der eiserne von Flandern 
steht III, 32/*. nach Band. I, 7. Balduin wird von Karl dem 
Kahlen zum Waldmeister von Flandern ernannt, entfuhrt dessen 
Tochter Judith, die gegen ihren Willen an Honig Edelolfo von 
England vermählt worden war, nach dem Tode 'desselben, ver- 
söhnt sich aber mit seinem »Schwiegervater, und wird Graf von 
Flandern. Der Name des judischen Arztes Sedechia hätte, wie 
die andern italienisch zugeformten Fremdnamen, wohl in Zedekias 
verwandelt werden dürfen. Dieselbe Geschichte findet sich, wie 
es scheint, nach einer Ballade, mitgetheilt in den » Chroniques 
et traditiuns surnaturelles de la Flandre« par M r . S. Henry Bcr- 
thoud , publies par ,M. Ch. Lcmesle. Paris 1 83 1 . S. 1 11. Es wird 
dabei eine Stelle aus Le Qirpentier's Histoire de Cambrai ange- 
führt: »11 existe encore en patois flamand des chansons pleines 
d'originalite* et qui doivent remonter a Tepoque la plus reculee. 
* Teile est, entre autres, celle de Beauduin Bras-de- Fer. « Die 
Geschichto wird hier in das J. 81 1 versetzt. — Die Geschichte 
von Romeo und Julie, aus welcher Shakspcare den StofT für 
sein unsterbliches Drama genommen, steht b'ei Bandello II, g. 
und ist hiernach 111,538 übertragen. Girolamo della Corte nimmt 
die Sache historich und erzählt sie in seiner Istoria di Verona (I, 
589. Verona i5q,4-)i und Eschenburg hat in den seiner Ubersez- 
zung beigefügten Anmerkungen (erstes Stuck zum neunten Bande) 
die Stelle aus demselben ausgehoben. Indcfs macht Simrock a. a. 
O. III, 139. wahrscheinlich, dafs der Historiker eher aus der No- 
velle geschöpft habe. Das schon sehr reiche Verzeichnifs von 
XXX. Jahrg. 1. lieft. 43 



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674 



E. t. Hü low : dtt Novellcnbiich. 



Nachbildungen dieser Geschichte, das Eschenbarg, Simroch und 
Herr v. Bulow geben , liefse sich leicht noch ziemlich vermehren. 
Wir erwähnen nur die Erzählung in der Einleitung zu einer 
französischen Übersetzung des Filocopo von Boccaccio von Adrieo 
Sevin vom Jahre i54*. Die Geschichte ist hier von zwei SU70- 
niern erzählt, die zu Morea wohnen. Der Liebende töritet den 
Bruder der Geliebten; er ist genothigt zu entfliehen, verspricht 
aber zurückzukehren und sie zu entfuhren. Sie beredet indefs 
einen Geistlichen, ihr einen Schlaftrunk zu bereiten, um die Ent- 
weich ung zu begünstigen. Der Liebhaber bringt ein Schiff her- 
bei , aber unbekannt mit der List seiner Geliebten , geräth er in 
Verzweiflung, als er bei der Landung ihr LeichenbegängniTs er- 
blickt. Er folgt dem Geleite bis zum Orte der Bestattung und 
ersticht sich; als die Geliebte erwacht, thut sie dasselbe. Ein 
spanisches Drama von Fernando Roxas, einem Zeitgenossen Sbak- 
speare's, behandelt die Fabel ganz wie das englische Stuck. In 
dem Theatre complet de M. Mercier findet sich » Les tombeaux 
de Verone ou Romeo et Julielte , en 5 actes « ; vielleicht ist dies 
dasselbe, was Eschenburg auffuhrt, ohne den Namen des Verfas- 
sers zu kennen. Erst vor einigen Jahren brachte der Maestro 
Bellini eine italienische Oper »Montecchi e Capuletti* auf das 
Theatre Italien zu Paris, die nun auch über die deutschen Bret- 
ter wandelt. In dem alten italienischen Drama des Luigi da Gro- 
to, das Herr v. Bulow (III, vm ) erwähnt, und das der Verfas- 
ser aus den alten Geschichtbüchern seines Landes geschöpft haben 
will, steht die Prinzessin von Adria in einem Liebesverhältnifs 
zu Latinus, dem bittersten Feinde ihres Vaters, der ihren Bruder 
im Kampf erschlagen hat. Die Prinzessin wird dem Ronig der 
Sabiner zur Ehe angeboten. In dieser Noth zieht sie einen Zau- 
berer zu Rathe, der ihr einen Schlaftrunk bereitet. Bald darauf 
wird sie scheinbar todt gefunden und in der königlichen Gruft 
beigesetzt« Latinus, von ihrem Ende hörend, vergiftet sich selbst 
und kommt schon im Todeskampfe auf ihr Grab. Sie erwacht, 
und es folgt eine gräfsliche Scene. Latinus stirbt in den Armen 
seiner Geliebten. Auch in diesem Stucke tritt eine alte geschwäz- 
zige Amme auf, und Dunlop (II, 400) hält es nicht für unwahr- 
scheinlich, dafs Shakspeare dieses Stück gekannt habe. Über die 
»Historie nouellamente ritrouata di due nobili amanti « von Luigi 
da Porto, eine bibliographische Rarität, vergleiche man Eberls 
bibl. Lex. 17821 — 17825. Eine neuere Ausgabe von Alessandro 
Torri (Pisa i83i) konnte daselbst noch nicht erwähnt seyn. Die 



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E. r. Bülow : das Novellenbuch. 675 

Novelle Luigi's ist aufserdera auch abgedruckt in der mehrerwahn- 
ten Raccolta di novelle II, 177. — Das bezauberte Bild« 
nüs IV, 186 ist abgekürzt nach Bändelte I, 21 bearbeitet. Ein 
böhmischer Ritter gebt an den Hof des Königs Matthias Corvi- 
pus, und erklärt sich von der Treue seiner Frau so hinlänglich 
überzeugt, da Ts er mit zwei Ungarn, die ihre Treue zu Fall 
bringen wollen, Hab und Gut einsetzt, es werde ihnen nicht ge- 
lingen. Die Ungarn reisen beide nach einander auf das Schlofs 
der Dame ab, die sie aber, statt in ein Schlafgemach, ineinGe- 
fängnifs lockt, und daselbst verschlossen halt. Bandello will die 
Geschichte von seinem Oheim Niccold di Correggio gehört ha- 
ben, als dieser aus Ungarn vou einer diplomatischen Sendung zu- 
rückkehrte. Der Titel der Novelle schreibt sich von einem klei- 
nen Bildeben her, das der böhmische Bitter vor seiner Abreise 
von Hause von einem Polen sich fertigen läfst, und an dessen 
Farbe er beständig, auch in der Entfernung, den Stand der Treue 
seiner Frau erkennt Bleibt sie rein, so bleibt das Bild auch so; 
wird sie versucht, so wird es gelb; will sie nachgeben, so wird 
es trüb; und ist sie gefallen, so wird es ganz schwarz und stin- 
kend. Dergleichen Zauberbildnisse schreiben sich ursprunglich 
aus der Literatur des Orients her, wo die Portraitmalerei , alt 
von den religiösen Gesetzen proscribirt, sich in ein geheimnifs- 
volles Dunkel zieht, und wo die daraus folgende Seltenheit dieser 
Kunst, sobald sie sich irgendwo zeigt, aufs.ergewöhnliehe über- 
natürliche Kräfte und dann auch übernatürliche Wirkungen vor- 
auszusetzen auffordert. So kommt in der Erzählung von Zeyn 
Alasnam in 1001 Nacht ein Spiegel vor, den dieser Prinz von 
dem König der Genien erhält, und in dem er das Bild einer 
Frau dargestellt ündet, deren Keuschheit er sich versichern will. 
Blieb der Spiegel rein, so war sie unbefleckt; wurde er schmuz- 
zig, so war ihre Keuschheit in Zweifel gestellt. Vom Orient aus 
gieng dieses Zaubcrmittel in unzählige Dichtungen des Abendlands 
über, und war Bandello auf "diese Weise eine geläufige Sache. 
Die Erzählung Bandello s ist Quelle zu dem Drama vThepicture« 
von Massinger, nicht Beaumont and Iletcher, wie Herr v. Bü- 
low III, xv sagt. Vergl. Bouterwecks Gesch. der Poesie und 
Bereds. TU, 338. Duniop bist, of fict.-II, 455. Dort erhält Ma- 
thias, ein böhmischer Bitter, ein ähnliches Geschenk von dem 
Studenten Baplista. Weitere Beispiele von Zauberwesen mit Bil- 
dern werden uns später, namentlich bei spanischen Erzählern, 
begegnen. — Leonora Macedonia (IV, 287. nach Band. II, 



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8TI E. v. Bülow : ilas Novcllenbiich. 

22). Giovanni Ventimiglia verschwendet mehrere Jahre lang seine 
Liebe an Frau Leonora, ohne sie zur Gegenliebe zu bringen. 
Daher verläfst er sie und wendet sich zu einer andern. Nach- 
dem aber Giovanni Leonorens Gemahl einen wesentlichen Dienst 
erwiesen , erkennt diese ihr Unrecht , verliebt sich heftig in ibn , 
und stirbt, da er nun seinerseits nicht mehr zu bewegen ist. — 
Viel Lärmens um nichts (IV, 365. nach Band.J, 22.) ist 
die Quelle von Shahspeare's Much ado about nothing, die Ban- 
dello wohl aus der herrlichen Episode von Ginevra und dem 
Herzog von Albanien im fünften Gesang des Orlando furioso ent- 
lehnte. Weitere Nachweisungen über die Behandlungen dieser 
Sagen finden sich bei Dunlop a. a. O. II, 456, Eschenburg 
Shaksp X, 357, Simrock a. a. 0. III, 249. Auch ein deutsches 
Drama von Ayrer behandelt diesen Gegenstand Vgl. Tiecks deut- 
sches Theater I, 22. Diese Erzählung, die längste dos- Bandello, 
ist bei Bülow sehr verkürzt. Eben so die Verwechslungen 
(IV, 437. nach Band. II, 36.), die Shakspeare zu zweien seiner 
Dramen »Was ihr wollt« und »Die beiden Veroneser« benutzt 
hat. Die Grundzüge der Erzählung Bandello's finden sich in den 
Hecatommithi von Cinthio, womit indefs nicht behauptet weiden 
soll, dafs Bandello unmittelbar aus ihm geschupft habe, was im 
Gegentheil unwahrscheinlich ist. Die Tlecatommithi sind zwar 
früher geschrieben, als Bandello's Novellen, aber erst spater im 
Druck erschienen. Bei Cinthio verläfst ein Edelmann , der sich 
die Ungnade des Königs zugezogen, Neapel mit zwei Kindern, 
einem Knaben und einem Mädchen, welche einander auffallend 
ähnlich sehen. Sie leiden Schiffbruch, die Kinder werden abge- 
sondert von einander am üfer aufgenommen. Das Mädchen ver- 
liebt sich später in einen jungen Mann, und begleitet ihn durch 
Vermittlung einer alten Frau in männlicher Tracht als Page. Ihr 
Herr hält sie für ihren Bruder, der ihm früher gedient, aber 
auch wegen eines Liebesabenteuers in weiblicher Tracht ihn ver- 
lassen hatte. Bei Bandello sind die einzelnen Umstände ausge- 
führter, als bei Cinthio . und nähern sich mehr der Shakespeare'- 
schen Fabel. Die Geschichte spielt in Aix (Esi) in Savoyen. Die 
Verkleidung eines Mädchens in Männertracht, um ihrem Gelieb- 
ten als Page oder sonstwie im Interesse ihrer Liebe, zu dienen, 
finden wir in der romantischen Poesie häufig. Aufser Twelfth 
Night und den Two Gentlemen of Verona z. B. in Beaumont and 
Iletcbers Philaster, in Shirley's Grateful Servant, Schoo! of Cora- 
plinientv Maid's Kevenge, bei Moliere, Bürger u. s. f. Nament- 



* 

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K- v. Hül«w : das Nnvellcnhucli. 6H 

lieh ist aber hier noch der Episode des Romans Diana von Mon- 
temayor zu gedenken, welche unserer Novelle ihren Ursprung 
verdankt, und aus der eigentlich Shakspearc für die zwei Vero- 
neser geschöpft bat. Eschenburg III, 325 und Simrock No. XII 
theilen diese Geschichte mit. Zugleich hat der Letztere III, 254 
andere sagenhafte Züge der Novelle näher ins Auge gefafst, und 
mit dem ihm eigentümlichen Talent in weitgreifenden Verglei- 
•chungen ausgeführt. — Die letzte im Novellenbuch enthaltene 
Erzählung nach Bandello, die Herzogin von Savoyen (IV, 
520. nach Band. II, 44.), enthält' wieder viele sagenhafte Züge, 
wie wenn sie ganz aus einem Ritterroman entstanden wäre. Ban- 
dello fallt gerade in die Zeit, in welcher diese eigentümliche 
Mischung mittelalterlich ritterlicher und moderner Weltansicht sich 
der Poesie wie des Lebens bemächtigte. In Boccaccio ist das 
Mittelalter eine volle Wirklichkeit; in Bandello's Zeit ist es schon 
in die Ferne gerückt, ein der Wirklichkeit nach Vergangenes 
oder doch in vollem Vergehen Begriffenes , das blos noch in der 
Sage sein Leben hat. Ein Theil steht in geheimnifsvollem Dun- 
kel, auf den andern fallen um *o hellere zauberhafte Schlaglich- 
ter, die sich dann auf die verschiedensten Erscheinungen unzäh- 
lige Male reilectiren. Für die gegenwärtige Novelle wüfstc Ref. 
keine eigentliche Quelle anzuführen — Bandello giebt blos die 
mündliche Überlieferung eines Mailänders, Baldo, an — aber die 
einzelnen Züge üefsen sich mit Citaten und Parallelen in Menge 
belegen, welche zeigen könnten, wie diese Novelle, die deshalb 
zu den charakteristischsten gebort, aus einem ganz in alter Poesie 
getränkten Geiste hervorgehen mufste. Die Herzogin von Savoyen 
ist die schönste Frau unter den lebenden, und Giovanni Mendoza, 
ein spanischer Ritter, der schönste Jüngling. Die Herzogin er- 
fahrt das Letztere von einer aus Spanien kommenden Pilgerin, 
die bei ihrem Anblick sich nicht enthalten kann, sich die beiden 
Schönheiten als ein Paar zu denken. Die Entfernten, die sich 
nie gesehen, fassen Liebe für einander. Die Herzogin giebt eine 
Krankheit vor, und ein Gelübde, zu St. Jakob nach Galizien zu 
wallfahrten/ um den Geliebten sehen zu können. Dies geschieht, 
wiewohl nicht zur Genüge. Ihr Gemahl holt sie, noch ehe sie 
in ein näheres Verhältnifs zu Giovanni tritt, mit seinem Hofe 
von dem Wallfahrtsort ab, nimmt sie zum Besuche nach Eng- 
land, wo ihr Bruder König ist, und bringt sie dann nach Hause. 
Als französischer Lehnsmann in den Krieg ziehend, übet-lafst ei* 
Haus und Gemahlin seinem Marschall zur Verwahrung, der um 



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678 _ . £. v. Hü low : rfaa Novellenbuch 

der Schünen Liebe wirbt, und als er seinen Zweck nicht erreicht, 
den Verdacht des Ehebruchs auf sie wälzt. Sie wird gefangen 
gesetzt, aber Giovanni eilt herbei ihr zu Hülfe, sieht sie, erst 
als Mönch verkleidet, im Herher, wo sie ihm einen köstlichen 
Ring schenkt, kämpft hierauf glücklich gegen den treulosen Mar- 
schall, der sterbend den Betrug eingestehen mufs, und verschwin- 
det unerkannt. Nach des Herzogs Tode kehrt seine Frau nach 
England zurück, verschmäht erst den für treulos gehaltenen Gio- 
vanni, aber der Ring leitet das Erkennen ein, und die Liebenden 
treten in eine glückliche Ehe. 

Die Novellen des Giovanni Francesco Strapparola, 
die ungefähr um dieselbe Zeit mit denen -Bandello's (i55o ff.) 
unter dem Titel Piacevoli notti in zwei Theiicn in Venedig er- 
schienen, sind nicht von der Bedeutung, wie die seines grofsen 
Zeitgenossen. Auch sind deren nicht so viele ; Bandello hat 204 
grofse, Strapparola 74 meist kleinere Erzählungen. Auch er fand 
für gut, sie mit einem Rahmen nach Art des Decomeron zu um- 
geben, was Bandello nicht thut. Eine Prinzessin und ihr Vater 
ziehen sich in eine abgeschlossene Wohnung zurück, nehmen 
einige Freunde zu sich, und nun erzählt man sich während der 
kühlen Sommernächte die eingelegten Geschichten. Ein Theil 
derselben ist der deutschen Lesewelt durch Val. Schmidts Mär- 
chensaal hinlänglich bekannt. Die meisten sind nicht von Strap- 
parola 's Erfindung. Dies ist jedoch gewissermaßen der Fall mit 
den Liebenden in Dalmatien (11, 1. nach Notte VII, 3.), 
einem trefflichen Bilde sudlicher Liebes- und Rscheglut. Ein 
weiblicher Leander, schwimmt Margarita allnächtlich von einer 
in der Gegend von Ragusa gelegenen Insel auf eine Klippe zu 
Feodoro, der ihr ein Licht an sein Fenster stellt, und freut sieh 
seiner Liebe. Aber bald von Fischern entdeckt und ihren Brü- 
dern verrathen, wird sie von diesen durch ein falsches Lieht, 
das sie ihr auf ihrem Schiffe aufstecken , in die weite See hinaus 
gelockt, und kommt um. Eine ähnliche Geschichte erzählt Ber- 
nard le Gentil in dem Gedicht Euphrosine et Melidor. Weitere 
* verwandte Sagen entwickelt Valentin Schmidt in den Balladen 
und Romanzen der deutschen Dichter Bürger, Stollberg und 
Schiller S. 269. Einschlagende deutsche Volkslieder finden sich 
aufgeführt bei Simrock Quellen des Shaksp. III, 1 5a. — Die 
drei väterlichen Gebote sind die erste Erzählung der er- 
sten Nacht III, 027. Orientalische Erzählungen mit didaktischer 
Tendenz" kleiden ihre Lehren gerne in Vorschriften eines ster- 



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E. *. Ütilow: (tat NoTellenhucli. 61» 

# ^ 

i 

benden Vaters an die Sohne ein, und ihr Leben ist dann in der 
Regel die Lösung des rätselhaften Wortes. Diese Form finden 
wir auch in der angeführten Novelle und in unzähligen abend- 
ländischen Dichtungen. Vom Orient erwähnen wir nur die Ge- 
schichte von Jogru) 13 ey in den Vierzig Vezieren (Sept sages 
S. clxviii). Ferner finden sich ähnliche Geschichten in Lafsbergs 
Liedersaal, bei Florian: Baihmendi, nouvellc persane u. s f. 

Ungefähr in dieselbe Zeit, wie Bandello und Strapparola, 
vielleicht zwischen beide, fallt Luigi Alamanni (1495 — i556) 
aus Florenz, von dem blos die hier I, ai unter dem Titel Die 
Gräfin von Toulouse mitgetheilte Novelle bekannt ist. Sie 
steht in der angeführten Baccolta di novelle 11, 227. Die junge 
Tochter des Grafen von Toulouse soll dem Sohn des Grafen von 
Barcellona nach glücklich zwischen beiden Häusern abgeschlosse- 
nem Frieden vermählt werden. Der Bräutigam aber hebt bei der 
ersten Mahlzeit im Schlosse von Toulouse einen Kern (»un sol 
grano uscitogli della mano«; Herr v. Bülow macht daraus ein 
Stück) eines Granatapfels, der ihm aus der Hand entwischte, 
noch während des Fallens auf und führt ihn zum Munde, eine 
Handlung, die der Braut so gemein und schmutzig vorkommt, 
dafs sie seine Hand ausschlägt. Zur Bache kommt er bald darauf 
als Juwelenhändler verkleidet in das Schlofs zurück, gewinnt um 
einige Kostbarkeiten die Liebe der jungen Gräfin, die, sich schwan- 
ger fühlend, ibn nun als ihren Mann betrachtet, und ihm als Gat- 
tin folgt. Nach mehreren harten Büfsungen, die er ihr auflegt, 
giebt er sich endlich zu erkennen und heiratbet sie. Eine deut- 
sche Erzählung von Konrad von Würzburg, welche in manchen 
Punkten mit der unsrigen übereinstimmt, giebt Freiherr v. Lafs- 
berg im Liedersaal III, 1 4 3 unter dem Titel »der Ritter mit der 
Birne«, wobei zugleich bemerkt wird, dafs steh das Gedicht auch 
in Heidelberger Handschriften finde, und in einer Hdsch. bei Ober- 
lio (de Conrado Herbipolit. S. 12) einen andern Schlufs habe. 

Anton Francesco Grazzini, genannt il Lasca, geb. zu 
Florenz i5o3, dessen Leben von Dr. Anton Maria Biscioni be- 
schrieben ist, hat, aufser in lyrischen und dramatischen Dichtun- 
gen, sich, in der Novelle ausgezeichnet Von den tre cene, de- 
ren jede zehn Novellen enthält, sind nur noch die beiden ersten 
vollständig, von der dritten cena hat man nichts weiter, als die 
letzte Erzählung. Diese Novellen nehmen den dritten Band der 
oben erwähnten Baccolta di novelle ein. Nach Biscioni sind neun- 
zehn Novellen von ihm verloren. Man konnte Grazzini * Ei zäh. 



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680 E. v. Rülow: ilus Novcllcnburh. 

langen simplicianische Geschichten betiteln, denn die Intrigue ist 
in der Regel ein Streich, den ein o^oUatuo? spielt, oder der 
ihm gespielt wird. Verständig geträumt (I, in. nach Cena 
II, 3): Ein Mädchen bringt die Mutter durch Erdichtung eines 
artigen Traumes zur Einwilligung in eine bereits heimlich ge- 
schlossene eheliche Verbindung. — Der AI ehern ist (I, 175. 
nach I, 5.): Ein Grobschmied giebt sich für einen Alchemisten 
aus, um den Besitz einer grofsen durch Raub erlangten Geld* 
summe zu rechtfertigen, *ird aber durch seine eifersuchtige Frau 
verrathen. — Des Fischers Gl Geh und List (III, 5. nach 
II, 1.): Ein Fischer sieht einen Edelmann ertrinken, nimmt seine 
Kleider und tritt sofort in dessen Rolle ein. — Die bedeutendste 
und gröTste ist die Novelle der dritten Cena, die III, 5oi unter 
dem Titel: Die Birne, die der Vater ifst, macht zuwei- 
len dem Sohn die Zahne stumpf, mitgetheilt, und schon 
von Herrn v. Rumohr (Ital. Nov. S. 118) ubersetzt und bespro- 
chen ist. Es ist ein, wohl auf historischen Grundlagen beruhen- 
der, Schwank von Lorenzo de' Medici mit einem Arzte, den er 
Betrunken auf die Seite bringen und für todt ausgeben, aber nach 
einiger Zeit wieder zurückkehren läfst. Eine Menge ähnlicher 
Geschichten zählt Val. Schmidt in den Beitragen zur Gesch. der 
romant. Poesie zu Boccacc. Decam. III, 8 auf. 

Ein Jahr nach Grazzini ist Giraldi Cinthio zu Ferrara 
geboren. Wir erhalten hier von ihm im Ganzen neun Novellen, 
und der Herausgeber sucht ihn mit Recht gegen Bouferwecks und 
Anderer Geiingschätzung zu verlheidigep. Seine in früheren Jah- 
ren geschriebene, später zur Herausgabe uberarbeitete Novellen- 
Sammlung führt den Titel Hecatommithi und enthält 110 Erzäh- 
lungen. Die zehn ersten, die Einleitung bildenden, Geschichten 
geben Beispiele von dem Glucke der ehelichen und dem Unglück 
unerlaubter Liebe. Die erste Decas ist vermischten Inhalts, gleich 
der ersten des Decameron, die zweite giebt Geschichten von 
Liebschaften gegen den Willen der Eltern oder Vorgesetzten, 
die dritte von der Untreue der Weiber und Ehemänner, die 
vierte von solchen, die in Gruben, die sie andern gegraben, selbst 
hineinfallen, die fünfte von ehelicher Trene in verschiedenen 
Versuchungen, die sechste Handlungen des Edelmuths und der 
Artigkeit, die siebente Anekdoten und Witzworte, die neunte 
merkwürdige Glückswechsel, die zehnte atti di cavalleria. — 
Daphne und Delio (I,22o) schildert die Liebe eines fünfzehn- 
jährigen Jünglings zu einem cinundzwanzigjährigen Mädchen. Die 



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E. v. Bülowt das Novejienbuch. 681 

m 

Eltern willigen wegen der Altersverschiedenheit nicht in eine Ver- 
bindung, und Daphne wird anderwärts vermählt. Wöhrend der * 
Pest, die in Ferrara ausbricht, verlüfst sie ihr Mann, Delio er« 
fahrt es und eilt ihr zu Hülfe. Aber im Augenblick, als sie zu 
ihm aus dem Hause herabkommt, fallt sie todt nieder, Zwei 
Nelken, die er ihr an den Busen steckt, findet er nach einem 
Jahre, als er sie in ein besseres Grab bringen lafst, noch frisch 
wieder, und hält sie heilig, wie das Bild seiner Geliebten unver- 
loschlich in seinem Herzen lebt. — Signor Filippo und 
sein Herr (II, 290. nach Hecat. II, 6, 7.), eine wunderliche 
Geschichte von einem Ferraresen , dem eine Venezianer Courti- 
sanc nach Ferrara nachfolgt, und dem sein Herr, damit Filippo 
sie würdig empfangen könne, seinen Palast auf mehrere Tage 
uberlafst. Auf Seite des Weibes finden wir keine Spur von Hab- 
sucht, nichts als ein naives sinnliches Trachten nach dem Besitz 
des Mannes, und nachher befriedigtes, trauerloses Scheiden auf 
immer. Nirgends eine Spur von überwältigender Leidenschaft. — 
Des Vaters und der Tochter Schuld (II, 322. nach Hecat. 
I, 2, 5.) ist -eine alte Geschichte von zwei Liebenden, die sich 
ohne Wissen und gegen den Willen des Vaters vermählen. Dies 
ist die Schuld der Tochter. Der Vater dingt, als er ihre Schwan, 
gerschaft bemerkt, Morder für sie. Er soll eben dafür hinge- 
richtet werden, als die Tochter, die von den Mordern freigelas- 
sen worden , mit ihrem Kinde erscheint und dem Vater Verzei- 
hung erwirkt. — Trefflich ist die Erzählung von der Wittwe 
von Fondi (II, 30 1 . nach Hecat. II, 6, 6.), die, ohne es zu 
wissen, dem Morder ihres geliebten Sohnes, der zu ihr flieht, 
Schutz verspricht, und grofsmüthig auch, als sie ihn erkennt, 
ihn als ihren Sohn annimmt. ßeaumont und Iletcber haben diese 
Geschichte für ihr Drama »Custom of the country« verwendet, 
wo Guiomar, eine vornehme Wittwe in Lissabon, Butilio Schutz 
verleiht, der ihren Sohn Don Duarte nach einem Zweikampfe 
auf der Strafse für todt liegen lafst. Don Duarte erholt sich in- 
defs von seiner Wunde, und die Dame nimmt Butilio zum Ge- 
mahl. Ein Theil von Cibbers Komödie »Love makes a man« ist 
auf einen ähnlich gegründet. — Treulos doch getreu (III, 
100. nach Hecat. 5, 3.) giebt ein schönes Bild ehelicher Treue 
im Kampf mit einer heftigen Leidenschaft. Philotima, eine Grie- 
chin, verliebt sich bei einem Feste in einen Jüngling, und Isann 
diese Liebe nicht mehr bewältigen, zieht aber der Untreue gegen 
ihren Mann vor, sich in ihrem Kummer zu verzehren, erkrankt 



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682 



E. Bälow : ilns iNovellenbuch 



und stirbt — Der Gang nach der Lowengrube (III, 24*. 
nach 8, 61) ist die Geschichte von Schillers Gang nach dem Ei- 
senhammer unter etwas andern äufsern Verhältnissen, welche be- 
kanntlich auch in einem alten Fabliau Torkommt. Man vgl. Meon 
Nouv. Recueil II, 33 1 ; es ist auch abgedruckt hinter Greils alt- 
franzos. Grammat. S. 36i. — Der Mohr von Venedig (IV, 
120. nach Cintb. 3, 7.) ist die unmittelbare Quelle Shakspeare's 
zu seinem Othello, worüber Simrock I, 117. III, 181. und Dun- 
lop II, 424. nachzusehen sind. Auch an diesem Beispiele zeigt 
sich recht klar, wie grofsartig Shakespeare mit seinen Stoffen 
verfahren ist, und wie er sie zu benutzen und zu veredeln ver- 
stand. — Glück im Unglück (IV, 317. nach 7, 1.): Ein ve- 
nezianischer Kaufmann raufs sich wegen eines um die Ehre seiner 
Frau verübten Mordes flüchten, sein Vermögen wird eingezogen, 
und seine Frau geräth in Noth. Da kehrt er denn freiwillig 
heim, und verlangt, seine Tochter solle ihn den Gerichten aus- 
liefern, um den seinem Einbringer gesetzten Preis zu gewinnen, 
wird aber begnadigt. — Die letzte Erzählung, die wir von Gi- 
raldi erhalten, Mafs für Mafs (IV, 420. nach Hecat. 8, 5.) ist 
die Quelle von Shakspeare's gleichnamigem Drama. Man vergl. 
Simrock I, 95. HI, >73. 

Auch aus der zahllosen Schaar der spatern minder bedeuten- 
den italienischen Nove Ilatoren hat Herr v. Bülow mehrere aus- 
gehoben, und theilt uns darunter einige vortreffliche Erzählungen 
mit. Von Sebastiano Erizzo, einem Venezianer (i5a5 — 
i585) erhalten wir I, 76 eine Erzählung: Der Kaufmann aus 
Genua. Eine ordinäre Geschichte von zwei Eheleuten, die in 
einem Schiffbruche von einander entfernt werden und sich nach 
langer Zeit wiederfinden« Artig erzählt, aber doch fast su un- 
bedeutend, um eine Stelle in einer solchen Sammlung zu ver- 
dienen. 

Von grüTserem Interesse ist die Erzählung Wagen ge- 
winnt (III, 367) nach Mal espini, dem ersten Herausgeber von 
Tasso's Gerusalemme liberata und Verfasser von zweihundert No- 
vellen, die aber fast durchaus nicht selbst erfunden, sondern meist 
aus den Cent nouvelles, die er aufs er seebsen alle bearbeitet bat, 
aus Montemayor und aus früheren italienischen Novellisten, na- 
mentlich Boccaccio, entlehnt sind. Die vorliegende ist die 85s te 
des ersten Theils. Drei Freunde geben aus Arezzo nach Vene- 
dig, um die stolze Stadt zu sehen, treiben sich dort ohne Geld 
lustig umher, und Cechino, der eine derselben, geniefst durch 



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E. V. Ralow : da« Novellenbucb. 



Yerwechlung die Gunst einer reichen portugiesischen Haufmanns- 
toehter, die ihn endlich zum Mann nimmt. Eines der frischesten 
Stücke der ganzen Sammlang. 

Von Ascanio de' Mori sind fünfzehn Novellen bekannt. 
Ercole Torelli (I, 462) ist, wie der Übersetzer richtig be- 
merkt, in ihrer Herbheit eine der besten Erzählungen dieser Art. 
Indefs sind es nur wieder die alten in so unzähligen italienischen 
Novellen wiederkehrenden Motive von Familienfeindschaft, Mord 
und Verbannung, Aufenthalt bei einem Freunde, bei dem man 
des Ehebruchs verdachtigt wird, mifslingender Verrath und end. 
liehe glückliche Rückkehr ins Vaterland. 

Fast nichts wüfsten wir von Zartheit und frischem Duft der 
Erzählung von Ippolito und Gangenova (I, 59) zu verglei- 
chen, der einzigen, die von Scipio Bargagli mitgetheüt ist. 
Der Verfasser ist aus Siena, und 1612 in hohem Alter gestorben. 
Gangenova wird Ippolito nicht zur Ehe gegeben, weil noch äl- 
tere Schwestern als sie zu vermählen sind. Während daher Ip- 
polito, um die Wachsamkeit von Gangenova s Mutter zu täu- 
schen, eine Pilgerreise vorgiebt, zieht er in das Haus seiner Am. 
ine, Gangenoven gegenüber, bringt die Nächte auf dem Maul- 
beerbäume vor der Geliebten Fenster zu, um etwas von ihr zu 
erlauschen. In der Meinung, einen Fremden in ihrem Zimmer 
zu bemerken, stürzt er, von jähem Schmerz erfafst, zu Boden. 
Das Mädchen eilt ihm zu Hülfe, und bricht in endlose Klagen 
aus. Nachdem sie ihn wieder zu sich gebracht, glaubt sie im 
Hause Geräusch und ihren Namen rufen zu hören ; und das um 
ihre Ehre aufs Angstlichste besorgte Mädchen eilt weg, ist aber 
so sehr erschüttert, dafs sie bewufstlos auf ihr Bett sinkt und 
schwer erkrankt. Ippolito sieht sie noch einmal, als Pilger ver- 
kleidet; sie stirbt, als er von ihr geschieden. Ippolito sinkt bei 
ihrer Leiche nieder und wird neben sie in die Gruft versenkt 

Aus den Cento novelle amorose dei Sigri academici 
incogniti erhalten wir I, 38 die zehnte des zweiten Theils von 
einem gewissen Liberale Motense: ftorung zu rechter 
Zeit. Gustav Schwab behandelt in seinen Gedichten (II, 271) 
eine schwäbische Sage in vier Romanzen »der Moringer« von 
einem Ritter, der sieben Jahre auf die Pilgerschaft geht, bei der 
Rückkehr sein Weib im Begriff findet, sich einem Andern an- 
trauen zu lassen, diesem aber seine Tochter zur Ehe giebt. Die- 
selbe Geschichte in italienischen Verhältnissen, mit südlicher Son- 
nenglut gesch Udert, in Farben, die, wiewohl in der Übersetzung 



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684 E v. Bülow: da* Novellen buch. 

« 

hier und da abgeschwächt , doch noch fast zu grell für nordische 
Augen sind, ist die hier mitgetheilte. — Aus derselben Samm- 
lung ist die wunderliche Geschichte von Fürst Cantacuzeno 
(l, a34) von einem gewissen Torna jo Placido Tomas i, viel- 
leicht auf einem Factum der byzantinischen Geschichte beruhend, 
das sich aber der Herausgeber umsonst bemuht hat aufzufinden. 
Theodor Cantacuzeno, der letzte seines Geschlechts, wird von 
einer Zauberin Piatina berückt, mit ihr in die Welt zu ziehen, 
und in Sparta, seines Vaters Residenz, sein zauberhaftes Eben- 
bild als todt zurückzulassen. Die Liebenden lassen sich endlich 
in Irland nieder , aber durch den zufällig ausgesprochenen Namen 
Gottes vernichtet Theodor auf einmal alles zauberische Blend- 
werk, wandert zu Fufs in sein Reich zurück, wo er aber als Be- 
truger festgenommen wird und am Galgen sein Leben endet. 

Die »Novelle di alcuni autori fiorentini« enthalten eine No- 
velle von Giovanni Bottari (1689 — 1757), die hier I, 297 
unter dem Titel Der Mönch von Maronia gedruckt ist Bot- 
tari wollte ein religiöses Decameron schreiben, es ist aber nur 
dieses Stück davon bekannt geworden. Ein Jüngli 11g von Maro- 
nia bei Antiochia fühlt in sich den Trieb, Mönch zu werden, 
und geht trotz der Bitten seiner Eltern in ein Kloster in der 
steinigen Wüste, das er aber auf einige Zeit verlassen will, um 
seine nun verwittwete Mutter zu besuchen. Unterwegs wird er 
von Israaeliten gefangen und mufs als Hirte dienen. Eine mitge- 
fangene Christin wird ihm als Weib aufgedrungen , sie leben aber 
als Geschwister beisammen, und entfliehen endlich der Knecht- 
Schaft, um in Maronia ihr Leben in Frömmigkeit zu beschließen. 
Am Schlüsse wird bemerkt, dafs Hieronymus, den sie daselbst 
gekannt haben sollen , ihre Schicksale beschrieben habe. 

Auch aus dem Decameron des Bolognesers Francesco Ar- 
gelati, der 1761 erschien, erhalten wir I, 284 eine Probe: Das 
Luftschlofs Sonst ist dieser Erzähler meist sehr unerquick- 
lich; die gegenwärtige Novelle empfiehlt sich indefs durch ihre 
feine ironische Färbung Berlaceci, ein junger Mailänder, reist 
nach Petersburg, als der Czaar eben mit der Erbauung dieser 
Stadt beschäftigt ist, und hofft daselbst sein Glück zu machen 
durch eine grofse Maschine, mittels deren man ganze Gebäude 
unversehrt von einem Orte zum andern transportiren kann. Eine 
solche Maschine wollte nämlich sein Oheim erfunden haben, der 
ihm aber das Arcanum erst mitzutheilen versprach, wenn er die 
grofse Reise wirklich ausgeführt habe. Er tritt dann in die Dienste 



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R. v. Bülow : das Novcllenbuch. «85 

des Kaisers, erhält aber statt der gewünschten Miltheilung aus 
Mailand die Nachricht von dem Tode seines Oheims , und flüchtet 
sich eilends aus Furcht vor dem Zorne Peters. 

Der Gastwirth von Maderno (I, 161) nach Vincenso 
Rota ist die von Zacharias Werner im » Vierundzwanzigsten Fe- 
bruar« draraatisirte Geschichte. Die beiden Eheleute sind geizig 
und halten ihren Sohn Vico knapp, weshalb er im fünfzehnten 
Jahre ihnen entläuft. Nach langer Zeit kehrt er zurück, giebt 
sich seinem Pathen, dem Pfarrer, zu erkennen, und kehrt bei 
den Eltern als Fremdling ein, die ihn, um seines Geldes sich zu 
bemächtigen, in der Nacht ermorden. Eine ähnliche Geschichte 
wird von einem Wirthe in der Normandie erzählt in einer wenig 
bekannten englischen Zeitschrift »The Visitor«. Aucb bildet sie 
die Grundlage einer Tragödie in drei Acten von Lillo »The fatal 
curiosity«. Der Stoff dazu ist indefs von Lillo einem alten flie- 
genden Blatt entnommen . betitelt : Alews from Perin , in Corn- 
wall, of a most bloody and unexampled muriner very lately com- 
mitted by a father on bis owne sonne. Lillo's Stück wurde in 
einer neuern englischen Tragödie »The Shipwreck« nachgeahmt. 
Ref. erinnert sich, Vorjahren die Geschichte in Würtemberg von 
Bänkelsängern an Jahrmärkten vielfach gehört zu haben. 

Der von 171S bis 1786 lebende Graf Gasparo Gozzi, 
Bruder des, als dramatischer Dichter berühmten Carlo Gozzi, ist 
mehr als satyrischer und burlesker Dichter bekannt. Die zwei 
von ihm mitgetheilten Novellen sind nicht von grofser Bedeutung. 
Kunstkennerschaft (III, 334) verhöhnt die Krittelei des kunst- 
verständig seyn wollenden Publicums mit einer derben Intrigue. 
Ein Maler, der seine Bekannten nicht mit seinen Leistungen zu- 
frieden zu stellen im Stande ist, läfst endlich einen leibhaftigen 
Menschen, den er zu malen hatte, aus einem Rahmen heraus- 
sehen, und beschämt die noch immer Unzufriedenen auf eclatantc 
Weise. — Die Tochter des Visirs (IV, 109) ist angeblich 
aus einer orientalischen Quelle genommen. Ghulnaz mufs auf Be- 
fehl des Snltans von ihrem Vater dem Visir verkauft werden. 
Ihre Schönheit setzt sie allerlei Gefabren aus, denen sie durch 
List und Glück entgeht. Am Ende auf abenteuerliche Weise zu 
einem Throne gelangt, weifs sie alle ihre gefährlichen Liebhaber 
in ihre Gewalt zu bekommen, schreckt sie anfangs, wählt aber 
unter ihnen einen Gemahl, und entläfst die andern reichlich be- 
schenkt. 

Die reichste und originellste Novellistik haben nach den Ita- 



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686 E. v. Bülow : das Novellenbuch. . 

0 

lienern die Spanier aufzuweisen. Wiewohl viel faltig von Italien 
aus influenzirt, tragt sie doch namentlich in früheren Zeiten ein 
ganz reines nationales Gepräge , sofern wir die orientalischen Ein- 
flüsse, die in dss spanische Leben so tief eingedrungen sind, hier 
nicht als etwas Fremdartiges betrachten. Wie in Italien Boccac- 
cio, so steht hier Cervantes auf einer unerreichten Spitze der Er- 
zäblungskanst Nach ihm tritt indefs der italienische Einfluß im- 
mer überwältigender hervor, und die spanischen Erzähler verfal- 
len fast durchaus in eine kalte Schwülstigkeit und Einförmigkeit 
Ihre reiche dramatische Literatur versieht die Novellisten mit 
Stoffen, während sonst umgekehrt die Novelle es ist, die den 
Keim des Dramas in sich trögt, weshalb denn auch durch den 
Reiz zur Reproduction der ächten Novelle immer ein eigentüm- 
licher Zauber zuwächst. Weiter abwärts in der Zeit bemerken 
wir häufig eine immer grober werdende Breite der Erzähler, 
mehr Willkühr und Zufälligkeit in Znlassung von Zwischenereig- 
nissen , die sich nicht so fest um den Hauptkern der Erzählung 
herlagern, kurz, eine Hinneigung und Vermischung der Novelle 
mit dem Roman, der in Spanien frühe zu hoher Vollendung aus- 
gebildet worden. 

Besonders zum Danke sind wir dem Herausgeber verpflichtet 
für seine Hinweisung auf den alten spanischen Erzähler, den 
Prinzen Don Juan Manuel, Enkel Ferdinands III von Casti- 
lien, der vom Ende des dreizehnten bis in die zweite Hälfte des 
vierzehnten Jahrhunderts lebte, und in der Geschichte der No- 
vellenliteratur einen eben so ausgezeichneten Rang einnimmt, als 
ihm im politischen Leben einer angewiesen war. Sein Hauptwerk 
ist die »El conde Lucanor« betitelte Novellensammlung. Der 
Styl ist ausserordentlich einfach, mitunter selbst roh und unbe- 
hülflich. Dagegen ist bei ihm noch keine Spur der späteren 
Schwülstigkeit »Der Rahmen des Buchs, berichtet Hr. v. Bü- 
low (IV, vn), in den die 49 kurzen Geschichten, die es enthält, 
eingefafst sind, ist ein Dialog zwischen einem vornehmen Manne, 
dem Grafen Lucanor, und seinem Rathe Patronio, der ihm die 
Geschichten erzählt, und sie als Beispiele der Gegenstände ihres 
Gesprächs anführt, an die sich sodann am Schlüsse einer jeden 
wieder moralische Betrachtungen knüpfen. — Die siebente der- 
selben ist So ist der Lauf der Welt (IV, 40). Drei Schel- 
men machen dem Honig weifs, sie verstehen Kleider zu weben, 
welche der, der nicht der ächte Sohn seines Vaters sey, nicht 
sehe; und niemand wagt nun zu behaupten, er sehe die Kleider 



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E. v. Bülow : dai Novellenbuch. 68* 

nicht, obwohl sie keine weben. Charakteristisch ist es, dafs der 
Verfasser diese Geschichte einem Konig der Mauren begegnen 
ISfct, gegen die der Prinz selbst lange kämpfte, und ihm die 
Schmach anthut, ihn nackt durch die Stadt reiten zu lassen, bis 
endlich einer am den andern das Herz fafst, zu sagen, er sehe 
die Kleider des Königs nicht, und der Betrug entdeckt wird. 
Dieselbe Geschichte findet sich im deutschen Volksbuch yom 
Eulenspiegel. Tyll malt nämlich den Landgrafen von Hessen und 
beredet ihn, wer unehelich geboren wäre, der könne sein Ge- 
mälde nicht sehen. Wollte man einen äufsern Zusammenhang 
- zwischen beiden Geschichten aufsuchen, so könnte man etwa die 
Vermuthung aufstellen , der Conde Lucanor sey zur Zeit der spa- 
nischen Occupation in die Niederlande gekommen, und Ton dort 
aus sey die Geschichte in Niederdeutschland einheimisch gewor- 
den. Ohnehin verlegt man ja die Entstehung des Eulenspiegels 
in den Norden. — Der Mann (IV, 210. nach der sechsten No- 
velle) : Ein Graf von Provence geräth im heiligen Lande in Sa- 
ladins Gefangenschaft und verschafft sich Achtung und Vertrauen 
seines Feindes. Während der Zeit soll in der Heimath seine 
Tochter vermählt werden , und es ergeht an ihn die Anfrage über 
die Wahl ihres Gatten. Der Graf theilt seinen Plan dem Sultan 
mit, und dieser räth, man solle ihr einen Mann geben. Es wird 
nun wirklich ein tüchtiger Jüngling gewählt, der, um die Wahl 
zu rechtfertigen, gleich in das heilige Land zieht, den Sultan 
durch List zum Gefangenen macht, und nur unter der Bedin- 
gung frei giebt, dsfs dieser seinen Schwiegervater frei lasse. — 
Das Kostlichste im Menschen (IV, i38) ist die zwölfte 
Novelle des Originals. Wieder eine Geschichte von Saladin, der 
auch häufig in den Fabliaux bei Boccaccio auftritt , und welchem 
selbst Dante im Inferno seinen ruhmvollen Platz anweist. Auf 
einem Zuge durch sein Land verliebt er sich in die Frau eines 
Vasallen, und erhält von ihr das Versprechen der Gewährung 
seiner Wünsche, wenn er ihr sage, was das Kostlichste im Men- 
schen, die Mutter und Krone aller Tugenden sey. Er bringt ihr 
die Antwort: die Scham; und nun bittet sie ihn, der der Vor- 
züglichste der Menschen sey, auch das Kostlichste, was der Mensch 
hegen könne, in sich aufzunehmen, und sich über sein Begehren 
zu schämen. Hierauf läfst er von seinem Willen ab. Merkwür- 
dig ist die grofse Mühe, die sich Saladin giebt, die Lösung die- 
ser Frage zu erhalten. Er legt sie seinen Weisen vor, zieht mit 
zwei Jongleurs an den Hof des Pabstes und an alle Höfe der 



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688' E. v. Hu low. das Novellenbuch. 

Christenheit, und endlich erhält er die Antwort von einem gc- 
beimnifs vollen blinden Greise, der schon früher mit ihm in Be- 
rührung gestanden haben will. — Die letzte Nummer unseres 
Novellcnbucbs (IV, 56o) enthalt unter dem Titel Die -bezähmte 
Widerspenstige und das weise Weib mehrere kleinere 
Erzählungen von Bändigung starrsinniger Naturen. 1. Kaiser 
Friedrich der Zweite hat mit der Widerspenstigkeit seiner Frau 
viel auszustehen. Sie salbt sich erst ihren kranken Leib mit einer 
Salbe, vor welcher sie der Kaiser ausdrücklich gewarnt hat, und 
kommt Um. 2. Ein braver maurischer Jungling heirathet ein wi- 
derspenstiges Mädchen , schüchtert sie aber durch affectirte Bar- 
barei, die er an seinen Hausthieren u. dergl. ausübt, so ein, 
dafs sie ihren Starrsinn ablegt. 3. Don Alvar Fariez wählt unter 
drei Schwestern eine Frau. 2wei weisen ihn ab, weil er ihnen 
gräTsliche Schilderungen von seinem Jähzorn und seiner schlim- 
men Gemüthsart giebt. Man denkt dabei unwillkührlich an Shak- 
s speare's Malcolm im vierten Acte des Macbeth. Die dritte Schwe- 
ster Iäfst sich dadurch nicht schrecken, und ist so ergeben in 
seinen Willen, so voll Vertrauen auf seinen Verstand, dafs sie, 
wenn er es behauptet, Kühe für Ziegen und Ziegen für Kühe 
halt, ja nach dem spanischen Sprichwort, das von ihr hergeleitet 
wird, wenn der Mann sagt, das Wasser fliefse rückwärts zu sei- 
nem Quell empor, es glaubt und für wahr hält. In der romanti- 
schen Literatur sind diese Stoffe sehr häufig. Als die merk- 
würdigsten Beispiele erwähnen wir nur das Fabliau de la dame 
qui fu escoilliee (Meon IV, 365), die Geschichte vom Zorn- 
braten in Lafsbergs Liedersaa,! (II, 499), eine Reihe deutscher 
Märchen und besonders Sbakspeare's Jaming of the shrew; wozu 
die Commentatoren noch Parallelen aus Strapparola u. a. bei- 
bringen. Man vergl. Simrock III, 225. — Es ist bemerkens- 
wert, wie die älteste spanische Novellistik, wie die italienische 
in den Cento novelle antiche, noch nicht streng von der Anek- 
dote geschieden ist und sich vielfach dazu hinneigt. Es findet 
sich dieses namentlich auch bei dem Spanier Petrus Alfonsus, 
welcher noch lange vor Dun Manuel, aber lateinisch, seine Dis- 
eiplina clericalis geschrieben hat. 

(Der Rcichlufs folgt.) 



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N°. 44. HEIDELBERGER 1837 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



1 =gge 

E. v. Büloto: Das Novellenbuch. 

( Beschlufs.) 

Der Dichter Jorge von Montemor, einem portugiesichen 
Dorfe bei Coimbra, daher er sich de Montemayor nannte (von 
i5ao — i56a), ist durch den in castilischer Sprache geschriebe- 
nen Schauerroman Diana hinlänglich bekannt. Aus diesem Roman 
erhalten wir (IV, i) eine Episode , derAikalde von Alora 
und der Abencerage, eine Geschichte , die passend als Muster 
spanischer Bitterpoesie gegeben ist, da sie alle Hauptmotive die. 
ser Dichtungsart vereinigt. Der junge Abencerage, ein Abkömm- 
ling eines verfolgten, ehemals groben, maurischen Hauses, in 
einer Nacht dem Bescheid seiner Geliebten folgend, sie aufzu- 
suchen, wird von Christen nach tapferer Gegenwehr gefangen, 
auf Ehrenwort zu Vollziehung seines Geschäfts entlassen, ge- 
winnt die Jungfrau, entfuhrt sie und erlangt endlich Verzeihung 
ihres Vaters. 

Von Cervantes, dem Haupt der spanischen Novellisten, be- 
absichtigte anfangs Herr v. Hü low nichts mitzutheilen , weil seine 
Novellen, wie die des Boccaccio, säromtlich eine aparte Behand- 
lung verdienen. Wirklich bat auch, wenn wir nicht irren, die 
Verlagshaodlung des Novellenbuchs eine Übersetzung der Novelas 
exemplares von Herrn v. Bulow bereits angekündigt. Im vier- 
ten Bande (S. 85) erhalten wir indefs doch ein Stück, das der 
Herausgeber Cervantes zu vindiciren sucht, das aber unter die 
ov% 6po\o>yovtL$va gehört. Es ist Die vorgebliche Tante 
(la tia fingida), Welche einem Deutschen, dem Philologen F. A. 
Wolf, vorbehalten war, der gelehrten Welt mitzutheilen, der 
sie zuerst in seinen Analekten abdrucken liefs, nachdem sie unter 
die Novelas exemplarcs betitelte Novellensammlung des Cervantes 
vielleicht wegen des minder exemplarischen Stoffs bis dahin nicht 
aufgenommen war. Denn wenn auch streng genommen die poe- 
tische Justiz darin nicht fehlt, namentlich nicht die durch die 
Ironie exequirte, so bewegt sich doch die ganze Geschichte in 
ziemlich niedriger schmutziger Atmosphäre. Es ist die Schilde- 
rung des Studentenlebens in Salaroanca und die Bewerbung dor- 
XXX. Jahrg. 1. lieft. 44 



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690 



E. v. Bülow: das Novellcnbuch. 



tiger Studenten um eine verdächtige junge Person, Esperanza, 
die mit einer vorgeblichen Tante zusammenwohnt. Die erste 
deutsche Übersetzung dieser Novelle erschien vor der Bulow- 
schen in Stuttgart in einem einzelnen Hefte, dem eben so dio 
übrigen Novellen des Cervantes von derselben Hand ubertragen 
folgen sollten. Diese anonym erschienene Übersetzung ist mit un- 
zweifelhaftem Talente gefertigt, und in der Einleitung die Frage 
der Ächtbeit nach Innern Gründen ausreichend erörtert und auf 
die nationale Bedeutung der Erzählung aufmerksam gemacht. 
Bedauern mufs Ref. , dafs der anonyme Übersetzer seine Gewandt- 
heit in der Versification an den zwei in der Novelle enthaltenen 
Gedichten so glänzend erprobt hat, da es offenbar im Zusam- 
menhange darauf abgesehen ist, schlechte holperichte Verse zu 
geben , was auch die des Originals sind. Es wäre doch allzu fre- 
velhaft, das schöne Sonnett auf die holde Rose — so nennt er 
Esperanza des Reimes wegen — mit »einem halben Dutzend 
Knackwürsten aus Estreraadura c honoriren zu wollen. Herr 
r. Bülow verfallt dagegen fast in den entgegengesetzten Fehler, 
und bürdet dem Salamanker Poeten doch allzu schlechte Verse 
auf. Einzelne Unrichtigkeiten in beiden Obersetzungen dieser al- 
lerdings eigentümliche sprachliche Schwierigkeiten darbietenden 
Novelle nachweisen zu wollen, würde hier zu weit fuhren. Der 
Schlufs fehlt bei beiden Übersetzern. 

Der Fortsetzer des Don Quixote, der psendonyme Alonso 
Fernandez de Avellaneda, hat nach dem Vorgange des Cer- 
vantes in sein Werk Novellen einverwebt, deren eine III, 388 
Das gluckselige Liebespaar ist. Sie beruht auf einer be- 
kannten Legende der katholischen Kirche. Ref. fand die Ge- 
schichte in einem MS. des dreizehnten Jahrhunderts der Arsenal, 
bibliothek in Paris, Beiles - lettres No. 3*5. S. 74- Sie ist über- 
schrieben: De la nonain Kiala au siede et revint en sa maison 
par miracle. In der Echelle du paradis des Pere Crasset, eines 
Jesuiten, S. ia5, findet sich folgende Stelle: »Une certaine Bea- 
trix, portiere d'un couvent, s etant un jour debauchee avec un 
pretre, sortit du monastöre et courrut avec lui les bordels pen- 
dant i5 ans. Pendant ce long espace de temps la sainte Vierge 
prit la figure de cette prostituee et servit le couvent en son ab- 
sence, de peur que son honneur ne recut aueune atteinte, puisque 
cette fille avoit toujours conserve* une devotion particuliere pour 
la sainte Vierge. « Die Bearbeitung des Avellaneda ist, wenigstens 
wie sie hier mit einigen Veränderungen vorliegt, anziehend zu 



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. 

t 

• m 

E v. Bf, low: dat Novellcnbuch. 691 

lesen. Das Thema bat einige Ähnlichkeit mit dem bekannten Ro- 
man Leone Leoni yon Aarore Dudevant (George Sand). 

Nach Ceryantes ist Lope de Vega der erste spanische Er- 
zähler von Bedeutung. Wir haben von ihm sieben Novellen 
übrig, von denen ans im Novellenbuch drei mitgetheilt werden. 
Die erfüllte Weissagung (I, 1 43 ) ist des vernachlässigten 
Styte des Originals wegen ganz umgeschmolzen worden. Ein Ma- 
giker von Cypern stellt dem jungen Silvio, Sohn Fabrizios und 
Camillas aus Venedig, die Nativität. Der Vater, der sich durch 
das dem Sohn prophezeite Gluck beeinträchtigt glaubt, stürzt 
denselben während eines Sturms auf dem Buckwege ins Meer. 
Ein Schiff nimmt ihn auf und bringt ihn nach Messina, wo er 
sich durch ausgezeichneten Beistand im Kriege und andere Dienste 
die Dankbarkeit des Königs von Neapel in so hohem Grade er- 
wirbt, dafs er zu hohen Ehren gelangt, die Prinzessin heirathet 
and König wird. Fabrizio wird durch Hungersnoth in Venedig 
yeranlafst , nach Sicil ien zu kommen und dem König aufzuwarten , 
wo sich denn die Weissagung erfüllt. Die Grundzüge dieser Er- 
zählung sind nicht in der italienischen Novellistik (bei Sansovino) 
zu suchen, wie Herr v. Bülow S. xxxv annimmt Die Ge- 
schichte steht vielmehr schon Zug für Zug in dem französischen 
Gedichte von den sieben Meistern aus dem dreizehnten Jahrhun- 
hundert (yergl. Sept sages V. 4670 fT.) , und Bef. ist es sehr wahr- 
scheinlich, dafs Lope aus diesem Buche geschöpft hat, das unter 
dem Titel Historia del Principe Erasto zum erstenmal i573, also 
ziemlich lange vor Abfassung dieser Novelle, da Lope i56a ge- 
boren ist, aus dem Italienischen übersetzt gedruckt wurde. Man 
yergl. Sept sages S xxxvu. Was Lope vielleicht eigentümlich 
seyn möchte — Ref. kennt den spanischen Erasto nicht aus eige- 
ner Ansicht, wohl aber eine französische wortgetreue Übersetzung 
des italienischen Originals — ist der Zug, dafs sich am Ende aus 
der Beichte von Silvio's Mutter ergiebt, dafs Fabrizio nicht der 
1 Vater dieses Kindes ist. Vielleicht nahm indefs Lope diesen Zug 
ebenfalls aus Erasto, nämlich aus der Geschichte der beiden 
Ärzte. Vergl. Sept sages S. eexv. Die orientalische Art der 
Weissagung durch die Sprache der Vögel hat der Spanier in 
einen Magiker und Astrologen umgewandelt Bekanntlich ist es 
ein höchst gewöhnliches Motiv in den Erzählungen von Weissa- 
gungen, dafs derjenige, der ihrer Erfüllung zu entgehen sucht, 
derselben gerade entgegen eilt So im Alterthum die Sage von 
Ödipui o.a., in Syntipas »der zum Dieb Prädesticirte « , Sept 



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692 



E. v. Bülow: da« NovcUcöboch. 



sagcs S. clxxxvii , die Geschichte von Ibrahim in den Vierzig Ve- 
zicrcn , ebendas. S. clv, die Legende von St Julian, Acta Sanctor. 
II, 974 ed. Antv. Gesta Roman, c. 18. Jacob, de Voragine Anv. 
leg. 3a. Vincent. Bellovac. Spec. histor. IX, n5. Dafs die vor- 
liegende Geschichte nichts anderes, als eine andere Einkleidung 
der biblischen Geschichte von Joseph ist, hat Ref. schon bei den 
Sept sages erinnert. — Eifersucht bis in den Tod (II, 
«69) ist die Geschichte der Francesca di Rimini, wie sie uns 
Roccaccio und andere Coramentatoren Dantes erzählen, mit ho. 
mischem Schlufs. Marcela, eine schone Valencianerin , wird aus 
zeitlichen Ruchsichten an einen häfslichen tdlpischen Gebirgsedel- 
mann aus Gandia bei Rurgos vermählt, ohne dafs sie ihn zuvor 
gesehen. Derselbe quält sie mit der kleinlichsten Eifersucht, und 
wird dafür durch eine Mummerei bestraft, in welcher er, wie er 
meint, vor den Konig von Algier geführt, auf die Galeeren ver- 
ortheilt, und erst nach Ausstellung eines Reverses, in dem er 
seine Frau künftig mit seinen Eifersüchteleien zu verschonen ver- 
spricht, entlassen wird. — Die bei weitem schönste der Novel- 
len Lopes ist Dianens Schicksale III, 461. Ein vornehmes 
Mädchen von Toledo verabredet mit ihrem Geliebten Lelio zu 
fliehen, um der Schande zu entgehen, der sie ihr nicht mehr zu 
verbergendes Liebesverständnifs aussetzte. Während sie Nachts 
den Geliebten am Fenster erwartet, geht ein Mann vorüber, den 
sie für Lelio hält, der aber, als sie ihm ihre Juwelen hinabge- 
reicht hatte, mit denselben entflieht. Diana kommt indefs aus 
dem Hause, und eilt dem vermeintlichen Geliebten nach, findet 
ihn nicht, wagt nicht zurückzukehren und beschliefst nun allein 
zu fliehen. Nachdem sie von einem Sohne entbunden worden, 
legt sie männliche Tracht an und kummt in die Dienste des Kö- 
nigs. Lelio sucht Diana überall auf, sogar in Indien , wo er nicht 
sie, aber den Dieb ihrer Juwelen wiederfindet. Er ersticht diesen 
und wird ins Gefängnifs geworfen. Diana wird vom Konig zum 
Gouverneur von Indien ernannt, trifft dort mit Lelio zusammenj, 
und erhält endlich vom Konig die Begnadigung ihres Geliebten. 
Die eingestreuten Lieder sind vom Herausgeber ohne Assonanz, 
aber sehr lesbar übertragen. Bekanntlich hat Florian diese Er- 
zählung unter dem Titel Celestine verwässert nacherzählt. 

Don Juan Perez de Montalban aus Madrid, geb. i6o3, 
gest. 1639 als Gerichtsnotar der Inquisition, ist unter den Dich- 
tern im Fache der Boccaccisch - Bandellischen Novelle nach Cer- 
vantes einer der berühmtesten. Für die Mittheilung von vier 



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\ 



K. V. Hü low : (tat Novcllcnbuch. 693 

»einer Erzählungen sind wir dem Herausgeber um so mehr Dank 
schuldig, als seine zwei Werke vPara todos, exemplos morales 
humanos y divinos« und »Succcsos y prodigios de amor, en ocho 
novelas exemplares« sehr selten sind. In dem letzteren Werke 
steht Die allergröfste Verwirrung I, 83. Es ist die grafg- 
liche Geschichte von einer Mutter, die sich in ihren Sohn ver- 
liebt, mit diesem ohne sein Wissen eine Tochter zeugt, welche 
dann der Sohn selbst heirathet. Ob Montalban nach Bandello 
(II, 35) gearbeitet, wie Herr v. Bülow entschieden behauptet 
(L S. m), möchte Ref. bezweifeln. Nicht allein ist bei Mon- 
talban Alles viel genauer motivirt, vielmehr ins Detail ausgear- 
beitet, sondern die Motive sind wirklich auch in Hauptsachen 
ganz andere, als bei Bandello, und die äufsern Situationen sind 
verschieden. Montalban könnte die Erzählung auch aus Julio de 
Medrano haben, einem spanischen Schriftsteller des sechszchnten 
Jahrhunderts, der eine ähnliche Geschichte im Bourbonnois ge- 
bort haben will , wo ihm sogar die Einwohner das Haus zeigten , 
in welchem das unselige Paar lebte, und dessen Grabschrift her- 
sagten, welche so lautete: 

Cy — > gist la fille, cy — gitt le pere, 
Cy — gist la soeur, cy — gist le frere, 
Cy — eist la fernmc et le mary , 
Et si n r y a que deux corps icy. 

So viel ist gewifs, dafs die Erzählung Bandello's mehr dem Be- 
richt eines Factums, die Montalban's einer trefflichen, in allen 
Theilen vollendeten und abgerundeten Dichtung ähnlich sieht, 
und weit hoher als die Bandellische Novelle steht. Die älteste 
roheste Bearbeitung der Geschichte ist die bei Massuccio Nov. a3. 
Zu gleicher Zeit mit einander erzählten sie Bandello und die Kö- 
nigin Marguerite von Navarra, ohne dafs jedoch eines aus dem 
andern schöpfte. Wenigstens wurden Bandello's Novellen zuerst 
i554 gedruckt, und da die Konigin i54q starb, ist es nicht wahr- 
scheinlich, dafs sie dieselben zu Gesicht bekommen. Andererseits 
• wurde das Heptameron der Konigin erst i558, neun Jahre nach 
ihrem Tode, gedruckt, so dafs also Bandello dasselbe nicht zur 
Abfassung seiner Novellen benutzen konnte. Indefs scheint diese 
Geschichte, der wohl ein Factum zu Grunde liegen kann, sich 
ihrer Seltsamkeit wegen schnell überall hin verbreitet zu haben. 
Bandello erzählt in der Einleitung, sie habe sich in Navarra er- 
eignet, und sey ihm von einer Navarresin erzählt worden. In 
Luthers Tischreden wird bei dem Artikel von der Ohrenbeicbtc 
die Geschichte als zu Erfurt vorgefallen erzählt. Ferner wird 



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GH 



B. v. Bölow: das Novellenbuch. 



sie mitgetheiit in Byshop's Biosso ms cap. Ii, and in » L* incesto 
innocent«, einer Novelle von Des Fontaines, die i638 gedruckt 
worden. Horace Walpole, der ein Drama »The mysterious mo- 
tber« darüber schrieb, erklart, er habe zur Zeit der Abfassung 
desselben weder die Erzählung der Konigin noch Bandello'a ge- 
kannt, sondern die Geschichte in früher Jugend erzählen hören. 
Aach das Altcrthum hat seine Sagen dieser Art, Vergleichen wir 
indefs die Geschichte des Ödipos mit der unsern t so ist dort viel 
mehr unbewufste Schuld von Seiten des Menschen, viel mehr 
drängendes Factum von aufsen, als hier. Der eigentlich christ- 
liche Odipus ist indefs die deutsche Sage vom heiligen Gregor, 
die auch als prosaisches Volksbuch carsirt. Vergl. Go'rres S. 944. 
Mochte doch bald das Gedicht über diesen Gegenstand von einem 
unserer ersten mittelhochdeutschen Dichter, Hartmann von der 
Aue, eioen Herausgeber finden! +) — Nach tausend Jahren 
(I, 364) aus »Paratodos« nennt der Hesausgeber mit Recht eine 
der graziösesten und vortrefflichsten Novellen, die die spanische 
Literatur irgend aufzuweisen hat Der Titel ist das spanische 
Sprichwort: Nach tausend Jahren kehrt die Welle Wiederum zu 
ihrer Quelle. Sie erzählt die "Geschichte zweier Liebenden, die 
nach mehrjähriger Trennung durch Mifsverständnisse und Un- 
glücksfalle zu einem schonen häuslichen Glucke zurückkehren. 
Das Gsnze hat ein acht nationales Gepräge, und kann durch das 
Zusammentreffen vieler in unzähligen spanischen Novellen und 
ihren Nachbildungen sich wiederholenden Motive als ein Probe- 
stuck aus einer grofsen Masse gelten. — Die Kraft der Er* 
kenntnifs (III, 194) ist die zweite Novelle in den Succesos y 
prodigios de amor, wo sie »la fuerza del desengano« heifst, was 
entschieden bezeichnender ist, als der allzu schwebende deutsche 
Titel. Ein Student in Alcala fuhrt, da ihn Mißverhältnisse und 
Mifsverständnisse von Narcisa, der er in reiner Liebe zugethan 
war, trennen, ein wüstes Leben, und seine Neigung zu den Wei- 
bern verleitet ihn zu allerlei Unthat, ja zum Mord. Durch seit- 1 
tarne und wunderbare Erlebnisse wird er in einer Nacht theils 
auf die Hinfälligkeit irdischer Lust, theils auf die Treulosigkeit 
der Weiber kräftig hingewiesen, geht in sich und thut in einem 
Kloster Bufse. Ein ähnliches Zaubermittel, wie das, das Lucre* 
zia gegen den gegen sie erkalteten Teodoro anwendet, um seine 
Liebe wieder zu gewinnen , findet sich auch in einer chinesischen 



*) Eine in jeder Hinsicht befriedigende Ausgabe wird demnächst in der 
Schweiz von Herrn Greith erscheinen. Chr. ß. 



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E. w. Bölow : das Novcllenbnch. 695 

Erzählung, die Du Halde in der Description historique et geo- 
graphique de la Chine III, 4o5 mitteilt Wie Lucrezia Teodoro 
das Herz ihres ermordeten Geliebten zum Essen geben will, so 
hier die Frau ihrem Bohlen das Gehirn ihres verstorbenen Man- 
nes. In beiden Fallen aber können sie das Heilmittel nicht er- 
langen, da der Todte erwacht. Andreas Gryphius (1616 — 1664) 
behandelt in seinem Trauerspiel Cardenio und Celinde (Tiecks 
deutsches Theater III.) genau dieselbe Geschichte, wie der Spa- 
nier. — Die siebente der acht Novellen des besagten Werks ist 
Unverhofft kommt oft (IV, 47<>), eine Reihe unerwarteter 
Ereignisse zweier Liebenden, die einander nicht erhalten, des- 
halb jedes einzeln entfliehen, von einer Räuberbande aufgefan- 
gen, in den Herker gebracht, von dem Vater des Mädchens ver- 
folgt, aber endlich dennoch vereinigt werden. 

Ein nicht zu rechter Anerkennung gelangter fruchtbarer Dich- 
ter ist Don Alonso del Castillo Solorzano. Lope sagt im 
achten Gesang des Laurel de Apolo von ihm, seine Talente und 
Verdienste seyen viel grofser, als sein Gluck. Im Jahr i6»5 er- 
schienen von ihm in Mexico: Varios y honestos entretenimientos. 
Durch eine deutsche Übersetzung ist seine Garduna de Sevilla y 
Arzuela de las Bolsas bekannt , aus welcher 1 , 194 eine Episode 
Der grüne Graf mitgetheilt ist. So nennt sich ein angesehener 
Edelmann, der, um in der Nähe seiner Geliebten seyn zu können, 
die Maske einer possirlichen Verrücktheit annimmt , mittelst welcher 
es ihm denn auch gelingt, das Ziel seiner Wünsche zu erreichen. 
— Uber Blutsverwandtschaft Liebe (IV, «43), ein ähn- 
licher Stoff, wie Giraldi's Wittwe von Fondi, ist aus Le Sage 
bekannt, der die Erzählung in seinen Gii Blas eingewoben hat. 
Don Carlos sucht, nachdem er in Madrid einen Ca valier ermordet, 
auf der Flucht in einem Landhause Unterkunft , in dessen Besitze- 
rin er sich verliebt, und die sich ihm bald als die Schwester des 
Ermordeten ausweist. Sein Bruder hat indefs die andere Schwe- 
ster desTodten entführt, und die Liebe erwirkt die Begnadigung 
des Morders. 

Eine in der Literaturgeschichte wenig bekannte Dame, die 
Novellen schrieb, sucht Hr. v. Bülow von Neuem zu Ehren zu 
bringen, und theilt einige bibliographische Notizen über sie mit. 
Sie heilst Dona Maria de Zayas y Sotomayor, und ist, 
man weifs nicht genau wann, in Madrid geboren. Ihre a Theile 
Novelas amorosas y ejemplares erschienen zu Madrid i634 und 
später. Die Erkenntnifs durch die Liebe (II, 100. nach 
Novel. I, 6.) gehurt zu der Classe der von Liebeszauber handeln« 



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«96 K. v. Bölow: das Novcllcnbuch. 

den Novellen , wie wir deren schon mehrere im Novellenbuch ge- 
funden haben , Fürst Cantacuzeno , Cardenio and Celinde und das 
bezauberte Dildnifs. Ein sagenhafter Zug wird in der Novelle 
der Dona Maria nur halb deutlich, der nämlich, wie die Zauberin 
Lucrezia im Augenblick ihrer Entlarvung ein Wachsbild aus dem 
Schranke reifst (S. 128) und es mit einer Nadel durchsticht. Es 
ist damit der baldige Tod Don Fernandos als magische Folge in 
Verbindung zu setzen. Nach dem deutschen Aberglauben wirkt 
man namentlich auch auf abwesende Menschen durch Wachsbilder 
ein. Was das Wachsbild (»der Atzmann«) erleidet, das wider- 
fahrt auch dem Menschen , auf den es abgesehen ist. Belege giebt 
Grimm in der deutschen Mythologie S. 5i8 f. und im Anhang 
S. ni. lxii f. Eine ähnliche Sage findet sich, angeblich nach 
mündlicher Überlieferung aufgezeichnet, in der Zeitschrift Phönix 
i836. S. 869 ff. — Don Jaymc (II. 345. nach II, 5.) ist die 
Geschichte einer von ihrem Gemahl auf die Verleumdung einer 
Magd hin bis in den Tod grä'fslich gepeinigten Frau. Die Ein- 
leitung von Don Martins Schiffbruch und Don Jayme s Abenteuer 
in Flandern gehören eigentlich nicht zum Ganzen, und sind ein 
Beleg für den oben ausgesprochenen Satz , dafs die spanische No- 
velle um diese Zeit häufig in den Roman überspiele. Indefs ist 
die Geschichte von der Prinzessin Lucrezia tiefflich erzählt. — 
Der Liebe Kraft und Ende (II, 410. nach I, 5.): Ein unge- 
treuer Ehemann soll durch Zauber zu seiner Pflicht zurückgeführt 
werden. Da schon eine Zauberno?eIle von derselben Verfasserin 
mitgetheilt war, hätte diese ohnehin gedehnte wohl wegbleiben 
dürfen. Florians Rosalba , nouvelle sicilienne , ist dieselbe Ge schichte 
mit anderem Schlufs. — Bemerkenswerth ist, dafs die Zayas in 
allen drei vorliegenden Novellen unglückliche Gattinnen zu Haupt- 
figuren macht, und sie erinnert dadurch an eine jetzt beliebte Ro- 
manschreiberin, die sich dieselbe Aufgabe gesetzt zu haben scheint. 

Nicht eben bedeutend , aber recht artig erzählt und reinlicher 
ausgearbeitet als die der Zayas , sind" die zwei Novellen einer ihr 
gleichzeitigen Dame, Dona Mariana de Caravajal y Sanve- 
dra aus Granada, Mehr Glück als Verstand (IV, 397) und 
Der Sklave seines Sklaven (IV, 5oi). In der ersten ent- 
flieht Doristea aus unvorsichtiger Liebe mit einem Unwürdigen , 
der sie verhöhnt, wird aber durch einen edeln Ritter von dem* 
selben befreit und endlich glücklich mit ihm vermählt. Die zweite 
erzählt die Abenteuer mehrerer Catalonier, die in maurische Ge- 
fangenschaft gerat hen und daraus errettet werden. 



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E. v. Bülow: da« Novcllcnbuch. 



691 



Noch steht III, 1 eine sehr ergötzliche spanische Novelle, 
Studentengluch betitelt, die wahrscheinlich in die Mitte des 
siebzehnten Jahrhunderts lallt, und wohl Don Isidoro de Ro- 
bles, fielleicht auch Don Baltasar Mateo Velasquez zum 
Verfasser bat. Sie schildert die Geschichte eines Studenten , der 
sich durch thSrigten Aufwand in Schulden stürzt, und durch den 
Fund eines Schatzes aus der Noth befreit. 

Hiermit ist die Reihe der italienischen und spanischen Novel- 
len geschlossen, und es wird dabei nicht wohl ein in der Litera- 
tur bedeutendes Glied vermifst werden. Die Novelle ist ein Pro- 
duet des Sudens, und Italien und Spanien sind die einzigen Lan- 
der, in welchen sich diese Dichtgattung im eigentlichen Sinn aus- 
gebildet hat; daher denn auch in unserer Sammlung die aus die- 
sen beiden Ländern stammenden Novellen bei weitem den grofs- 
ten Raum einnehmen. Die erzählende Poesie der nördlichen Völ- 
ker Europa's ist anderer Art. Frühe schon nahmen hier die grofsen 
epischen Sagenkreise die Thätigkeit der Dichter und die Aufmerk- 
samheit des Publicums in Anspruch. Die erzählenden Gedichte 
waren Epopöen , romans , die im Verlauf der Zeit sich in die pro- 
saischen Romane, die noch jetzt gangbaren Volksbucher, umge- 
staltet haben. Nebenher ging dann, mehr den Novellen entspre- 
chend , die reiche Zahl der Schwanke und Fabliaux , und kleinere 
Rittergeschicbten (lais), welche — die franzosischen vor allen — 
wie schon erwähnt, vielfach die Quelle der italienischen Novelli- 
sten geworden sind , und zwar nicht allein der spätem, wie Herr 
v. Bülow (I, xxvn) angiebt, sondern schon Boccaccio entlehnte 
viele seiner Stoffe von dort, was auch bei seinem längern Aufent- 
halt in Frankreich sehr erklärlich ist ; ja in den Cento novelle an- 
tiche finden sich vielfach Bearbeitungen von Fabliaux In Frank- 
reich ging die Umwandlung der gereimten Erzählung in die pro- 
saische am frühesten vor sich; Frankreich liegt auch in dieser 
Beziehung zwischen dem Norden und dem Süden von Europa. 
, Schon aus dem dreizehnten Jahrhundert finden sich in den Pariser 
Bibliotheken mehrere dickleibige Sammlungen solcher Erzählungen 
in Prosa. In England hielt sich die durch die Ballads beliebte 
kürzere gereimte Erzählung weit länger. Chaucer brachte das 
novellenartige Gedicht in England eigentlich erst recht auf, als 
schon in Italien die prosaische Novelle in Boccaccio ihren Höhe- 
punkt erreicht hatte. In Deutschland geht jenes Genre noch bis 
auf H. Sachs und weiter herab , wiewohl sich auch schon lange 
vor ihm Versuche in ungebundener Erzählung kund geben. Was 



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E. v. Bülow : das Novcllenbu« h 



in spätem Zeiten in Frankreich, England^ und Deutschland von 
eigentlichen Novellen entstand, ist fast durchaus mehr oder min- 
der unmittelbar von Italien und Spanien angeregt. 

Herr v. Bulow wollte in dem Novellenbuche eine Blumen- 
lese der schönsten Erzählungen geben , nicht eine Mustersammlung 
der Novelle im strengen Sinn und in literaturgeschichtiicher Ab- 
sicht. Deshalb können wir ihm denn auch nicht verdenken, daf$ 
er unter den franzosischen Novellen Nachbildungen alter ge- 
reimter Fabliaux mittheilt, wiewohl diese, mit Ausnahme des 
literarisch rät hsel haften Stucks von Aocassin und Nicolette, aus 
den eben angeführten Gründen nicht eigentlich in die Novellen- 
literatur gehören. Wir wollen es ihm um so weniger zum Vor- 
wurf machen, als er, wiewohl er die Fabliaux nicht im Original 
zu kennen und die grofse Masse auch nur der bereits gedruckten 
nicht selbst durchmustert zu haben scheint, dennoch einige der 
schönsten derselben mittheilt. — Die Erzählung du vair pale, 
froy von Boos le roy steht nach Le Grand d'Aussy frei bear- 
beitet Th. I, 46. Das Original findet sich in den Fabliaux et 
Contes von Carba zan und Meon I, 164. — In derselben Samm- 
lung I, 38o steht die schon erwähnte Geschichte von Ancassin 
und Nicolette, welche Herr BülOw III, 3o. miltheilt. Im 
Original wechselt hier Prosa mit Versen ab. Den letztern sind 
im Manuscript und in Meons Abdruck die Noten beigesetzt Ist 
die Stanze zu Ende, so heilst es: Or dient et content et fabloient, 
und die Prosa beginnt. Der liebliche Inhalt dieser Erzählung ist 
durch manch fache Nachbildungen bekannt Erst in unserer Zeit 
hat ihn Graf Platen dramatisch verwendet. Eine franzosiche ko- 
mische Oper »Ancassin et Nicolette« ist schon älter. Vgl Roque- 
fort de 1* etat de la poesie franeoise dans les 12. et i3. siecles S. io5. 

Von den französischen Volksromanen erhalten wir (IV 9 »47) 
die Geschichte von Robert dem Teufel. Dafs auch dieser 
Prosaroman aus einem ältem versificirten entstanden, ist bekannt, 
und die vollständige Herausgabe des altfranzösischen Originals wird 
täglich erwartet. Aufserdem existirt in der Sprache des dreizehn- 
ten Jahrhunderts noch ein Dit de Robert le Diable and ein Miracle 
(nicht Moralite , wie IV. S. xir angegeben ist) , das seine Geschichte 
behandelt Das französische Volksbuch selbst wurde 1496 in Lyon 
zum erstenmal gedruckt, und circulirt noch jetzt namentlich in 
Nordfrankreicb vielfach unter dem Volke. Die älteste englische 
Übersetzung ist etwa von i5ao. Der versificirte englische Roman 
Robert the Deuyll erschien London 1798 und 1897. In Spanien 



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il. v« DU low . aus iioreiionDacn. 



wurde das Prosabach am i53o zuerst gedruckt, und wird noch 
jetzt neu wieder aufgelegt. Unter den neuern Bearbeitungen hatte 
Hr. v. Bulow den treulichen Bomanzencyclus von Gustav Schwab 
(Ged. II, 93) nicht vergessen sollen. Schwab bat zunächst aus 
dem französischen Volksbuch geschöpft 

Aus den Cent nouvelles nouvelles erhalten wir III, 3o6 
«ine artige Geschichte, Bestrafte Untreue. Ein Mädchen be- 
sucht in männlicher Tracht ihren abwesenden Geliebten, ist dort 
Zeuge seiner Untreue, und verbindet sich nun unbedenklich mit 
dem ihr angetragenen Manne. 

Aus dem Heptameron der Konigin Marguerite von Navarra 
enthält das Novellen buch keine Mittheilung, dagegen II, 49* *us 
dem sechszehnten Jahrhundert noch eine Novelle Die Flucht 
aus dem Vaterhause. Sie ist die 47&te aus Les comptes du 
monde avantureux, die i555 zuerst gedruckt wurden. Ein Mäd- 
chen entflieht mit ihrem Geliebten , um einer mißliebigen Verb in- 
dung zu entgehen. Ihr Geliebter wird von Trunkenbolden ange- 
fallen und ermordet. Sie selbst entkommt in ein Kloster. 

Die drei Geduld proben (III, 428) sind von dem Heraus- 
geber nach Les faveurs et disgraces de lamour u. s. f., also einer 
Bearbeitung des siebzehnten Jahrhunderts, gegeben. Es ist die 
bekannte Geschichte aus dem Boman von den sieben Meistern und 
steht in der franzosischen Dichtung von den Sept Sages aus dem 
dreizehnten Jahrhundert V. 3472 ff. in aller Ausführlichkeit. Die 
indefs nicht sehr wesentlichen Abweichungen der verschiedenen 
Becensionen des Buchs in Betreff dieser Erzählung habe ich in 
der Einl. zu den Sept sages S. cci ff. angegeben. Die Sage ist 
hier die umgekehrte von der, die wir bei der »Bezähmung der 
Widerspenstigen« erwähnt haben. Vergl. Simrock Quellen des 
Shaksp. III, 233. 

Ein leichtfertiger Scherz ist die letzte Erzählung des zweiten 
Bandes Der Chevalier auf den Knieen aus den Nouvelles 
i toutes nouvelles par M. D. L. C Paris 1708. 

Madame Madeleine Angelique de Gomez, geb. 1684 
zu Paris, gest. 1770 zu St Germain en Laye, ist als Novellistin 
weniger bekannt, als sie es zu seyn verdiente. Ihre Darstellung 
leidet freilich in der Begel an allzu grofser Breite, und, wie Hr. 
v. Bülow richtig bemerkt, wird sie, sobald sie sich zu den Tar- 
taren , Indiern , Türken und Spaniern versteigt , unausstehlich und 
flach, während sie in Darstellung franzosischer Verhältnisse mit- 
unter ausgezeichnet ist. Es sind zwei Sammlungen voo ihr be- 



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700 



E. v. Bülow: da« Novcllenbiieh. 



bannt, von denen die eine, Cent nouvelles nouvelles, 20 Bünde 
16 0 , bei weitem den Vorzug vor der andern, den 8 Bande star- 
ken Journeea amüsantes hat. Die i8te Novelle des ersten Werks 
steht I, 428: Die unterbrochene Hochzeit Einem jungen 
Manne wird durch Ränke ihres geizigen Vormunds unmittelbar 
nach der Trauung seine Frau entfuhrt. Er geht in ein Kloster, 
findet aber nach langer Zeit die Geliebte, die Gattin wieder. 
Vielleicht ist die Entführung Sophiens in dem berüchtigten Roman 
»La vie du che valier de Faublas« hieraus entstanden. — Das 
seltsame Mifs verstand nifs (II, 244) beruht auf der Ver- 
wechslung des Worts Galeerencapitän mit Galeerensclave, die sich 
ein alter Edelmann aus der Picardie beigehen läfst, und die ihn 
veranlafst, der Vermählung seiner Nichte mit dem Capitän Schwie- 
rigkeiten in den Weg zu legen. — Die s3ste und 24ste Novelle 
der Fr. v. Gomez, Der Genius (III, 111), erzählt die Geschichte 
eines gelehrten jungen Frauenzimmers, die durch cabbalistische 
Zaubereien ihren Genius an sich heranzuziehen sucht, aber durch 
die Liebe in ihrem verrückten Treiben geheilt wird. — Der 
* unverhoffte Glucksfall (IV, 58) giebt die 3oste Novelle der 
Verfasserin zusammengezogen. Häufig in Lustspielen vorkommende 
Motive, aber anmuthig verbunden. Ein Kaufmann mit Familie 
bufst sein Vermögen ein , daher er eine Tochter ins Kloster schic- 
ken will. Sie hat einen jungen Edelmann kennen gelernt, dessen 
Bewerbungen sie aber, von dem Sturz ihres Vermögens benach- 
richtigt, nicht anzunehmen wagt. Ein Graf will Juliens Vater 
durch Vermählung derselben mit seinem Sohne aufhelfen, der 
Contract wird abgeschlossen, und nun zeigt sich erst, dafs die 
Väter gerade die beiden Liebenden ohne ihr Wissen für einan- 
der bestimmt hatten. 

Der letzte französische Novellist, aus dem das Novellenbuch 
Proben mittheilt, ist der ungebührlich vergessene Vielschreiber 
Nicolas Anne Edme Augustin Retif von Sacy bei la Bre- 
tonne, geb. 1734, gest. 1806, eine der interessantesten Erschei- 
nungen in der franzosischen Literatur. Sein Leben ist von ihm 
selbst in 16 Bänden beschrieben unter dem Titel: Monsieur Nico- 
las ou le coeur bumain devoile. Er war Buchdrucker und lebte 
immer in dürftigen Umständen, da ihn sein unbändiger Hang für 
die Weiber nie zu einem geregelten Leben kommen liefs. Seine 
Biographie ist von frühester Jugend an voll von Liebesabenteuern, 
und wenn auch nur die Hälfte derselben wahr ist, so ist es zu 
verwundern, wie er noch so viel geistige Kraft und so viel Zeit 



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E. v. Bülow : da« Novellen buch. 701 

haben konnte, um ungefähr i5o Bande zu schreiben. Er wurde 
zu seiner Zeit von den Journalen und Literaten verfolgt, und ihm 
namentlich seine Sucht, J. J. Rousseau nachzuahmen, vorgeworfen. 
Schiller (Briefw. mit Göthe IV, 2) las ihn mit Interesse; Tiech 
mufs frühe aufmerksam auf ihn geworden seyn, wenigstens läfst 
sich nicht verkennen, dafs auf William Lovell Itätifs Roman Le 
paysan perverti in Form und Anlage vielfach Einflufs geübt hat. 
Auch erwähnt Tieck in der Vorrede zum Novellenbuch diesen Au- 
tor besonders und charakterisirt ihn ganz richtig so : »Er gehört 
zu jenen Autoren, die zu viel geschrieben haben, um sich einen 
dauernden Ruf zu erhalten. Wo er gut ist, ist er vortrefflich, 
und wo er schlecht wird, ist er vielleicht schlechter, als irgend 
ein Schriftsteller. Die sogenannte Wirklichkeit, das Leben der 
kleinen Gesellschaft, die Tugenden und Gebrechen dieser hat er 
sehr gut aufgefafst und dargestellt, üm 1780 ward er gepriesen, 
nachher vergessen, dann verachtet und geschmäht, und es wird 
die Zeit kommen, wo man seinen wahren Werth zu würdigen 
und sein Gutes von seinem Schlechten zu sondern weifs. « Die 
Bibliographie seiner Werke hat ihre eigentümlichen Schwierig- 
keiten. Relif arbeitete so schnell, dafs er sich oft nicht Zeit 
nahm , die Bücher erst zu schreiben , sondern sie gleich in Typen 
setzte. Daher er denn oft mitten in der Ausfuhrung eines Buchs 
den Plan zu ändern genothigt war, und der Inhalt nicht genau 
mit dem Titel stimmt. Namentlich seine Autobiographie scheint 
auf diese Art entstanden zu seyn, und ist ein Muster von typo- 
graphischer Häfslichkeit, da ohne alle Rucksicht gröTsere und 
kleinere Typen mit einander wechseln; und der Druckfehler, wenn 
man auch manches Abnorme auf die Rechnung der barocken Or- 
thographie, die er aflectirt, setzen will , sind unzählige. Die Auf- 
zählung seiner Schriften in der Biographie universelle ist theils 
unrichtig, theils unvollständig. Dasjenige seiner Werke, das hier 
vornehmlich in Betracht kommt, sind seine Contemporaines , eine 
1 Sammlung von Novellen in 4? Bänden. Die ersten 17 haben den 
Titel : Les contemporaines ou avantures des plus jolies femmes 
de T age present. Die folgenden : Les contemporaines du commun 
ou avantures des belles marebandes ouvrieres etc. de Tage pre- 
sent. Aus den Contemporaines hat Hr. v. Bulow sechs Novellen 
mitgctheilt. I, 124: Das Fräulein als Lakei. I, 265: Die 
Amazone. II, 9: Die beste Frau. II, 392: Die unüber- 
legte Vorsicht. III, 344: Der Bigamist. III, 509: Die 
naturliche Tochter. Die erste schildert die Abenteuer, die 



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1 




10* E. v. Bülow; das NoveUenbuch. 

tin schonet Mädchen, das sich genothigt sieht, als Lakei Dienste 
zu nehmen , in der sittenlosen Pariser Welt zu bestehen hat Eine 
Episode» die, wie der Herausgeber I. 8.mm sagt, offenbar einer 
alten Quelle, aber nicht Giraldt Cinthio, nacherzählt ist, enthalt 
wegen des vielfältigen wörtlichen Übereinstimmens anscheinend 
das Vorbild zu Schillers »Eisenhammer«. Die altfranzösische 
Quelle dieser Geschichte hat Ref. oben bei Gelegenheit der No- 
velle Giraldi's nachgewiesen. Dafs Schiller aus Betif selbst ge- 
schöpft, wird durch die oben angeführte Stelle aus dem Brief* 
Wechsel mit Göthe noch wahrscheinlicher. Die Abfassung der 
Ballade fallt in das Jahr 1797, der Brief an Göthe ist vom Ja- 
nuar 1798. — Dar Inhalt der übrigen Novellen ergiebt sich aus 
dem Titel. Die Amazone heifst: L* Amazone ou la falle qui veut 
faire un enfant. Die beste Frau, bei Betif die 86s te der ersten 
Abtheilung: Le bourru vaineu par l'amour. Die unüberlegte Vor- 
sicht, die 7iste: La fille entretenue. Le bigame ist die Oiste, 
die natürliche Tochter die a3ste. Alle mufsten mehr oder minder 

werden , um lesbar zu seyn ; jedoch geschah die 
ur in Bezug auf die Sprache, die Fabel ist die- 
»heben. 

T renn Herr v. Bülow uns bei den Franzosen unter den No- 
vellen auch Bearbeitungen älterer versificirter Dichtungen und 
eines Volksbuchs auffuhrt, so hätte er dies billig und vielleicht 
noch mehr bei Engländern und Deutschen thun sollen , da nament- 
lich die erstem gar armselig im Novellenbuch wegkommen. Der 
englischen Novellen sind im Ganzen nur vier. Von diesen ge- 
hört die erste allerdings gewissermafsen der Sagenpoesie an. Es 
ist Margarethe mit der lilien weifsen Hand IV, 219. Im 
Original lautet der Titel der Dichtung, deren Episode unsere No- 
velle bildet: The history of Thomas of Beading or the six wor- 
thy yeomen of the west. Der Verfasser ist Thomas Deloney, 
der die Geschichte schon vor 1600 herausgab und zu seiner Zeit 
als Balladenmacher berühmt war. Margarethe ist die Tochter des 
Grafen Shrewsbury, geht, als dieser bei Heinrich I in Ungnade 
fallt, als Magd in die Dienste dieses Pächters, wo sich der gefan- 
gene Bruder des Honigs Herzog Bichard in sie verliebt. Er flieht 
mit ihr, wird eingeholt und geblendet, und Margarethe geht ins 
Kloster. 

Aus den Nugae.venales or a pleasant companion von Bichard 
' Head (London 1686) ist der Selbstbetrüger (I, 418) aufge- 
nommen. Die Intrigue ist ungefähr dieselbe, wie in Theodor 
Horners Nachtwächter. 

Miranda und Tarquinius (II, 168) ist eine sehr interes- 
sante Darstellung einer verbrecherischen Liebe und ihrer Folgen, 
und beruht auf einem gleichzeitigen wirklichen Ereignisse. Die 
Verfasserin ist Aphra Behn, in Canterbury aus sehr guter Fa- 
milie geboren. Ueber ihre wunderliche schriftstellerische und di- 
plomatische Laufbahn werden IL S. ziv ff. Notizen beigebracht 
Sie starb 1689 un(1 wurde in der Westminsterabtei begraben. 



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E. Bülow : das NoYellenboch. 10» 

Die mitgetheilte Novelle, die der Verfasserin wohl eben deshalb 
besser als ihre übrigen gelang , weil sie Charaktere und Begeben, 
heiten nach dem Leben schilderte, sagt davon selbst, dafs ihre 
eigene diplomatische Anwesenheit in Antwerpen mit der ihres 
Helden zusammengetroffen sey. 

Verderbnifs aus Entehrung (II, 548), die Geschichte 
eines unglücklichen zur Entehrung gezwungenen Weibes, ist aus 
einer englischen Chronique scandaleuse, welche zu London 1716 
unter dem Titel erschien: The court of Venus or Cupid restoved 
to sight , being a history of Cuckolis and cuckoldsnakers etc. von 
Capt. Alexander Smith. 

Von deutschen Erzählungen aus dem Mittelalter erhalten 
wir nichts, wiewohl aus den Prosaromanen des fünfzehnten Jahr« 
hunderts Manches sich hatte aufrühren lassen. Namentlich hätten 
wir z.B. die Sage von Amicus und Amelius gerne in dieser Samm- 
lung gesehen , welche aus dem deutschen Volksbuch von den sieben 
Meistern — namentlich nach der Behandlung der Stuttgarter Hand- 
schrift; man vergl. Sept sages S. lxxxiv. ccxliu — fast unverän- 
dert hätte mitgetheilt werden können. Indefs sind die gewählten 
Erzählungen zur Charakterisirung der jeweiligen Culturznständo 
Deutschlands von der Reformationsperiode an sehr gut gewählt 

Aus der unter dem Titel Wendunmoth bekannten Historien- 
sammlung von Hans Wilhelm Kirchhof (zuerst i58i ce- 
gruckt) steht I, 475 die Geschiebte der vier Ketzermönche 
in Bern, welche einen einfältigen Schneiderknecht durch trug- 
liche Erscheinungen von heiligen Personen und an ihm verrichtete 
Wunder zur Unterstützung ihrer theologischen Streitigkeiten über 
die befleckte EmpfängmTs der Maria, das Ansehen des Prediger- 
ordens u.s. f. benutzen wollen, aber am Ende entlarvt und ver- 
brannt werden. 

Von Samuel Greiffenson aus Hirsch fei d (gest. 1668), dem 
Verfasser des Simplicissimus, steht U, 55a die Geschichte Der 
erste Bärenhäuter. Dies ist ein Landsunecht, der von einem 
Geiste das Versprechen des grSfsten Beichthums erhält, wenn er 
ihm sieben Jahre in ein Bärenfell gebullt und ohne irgend eine 
Reinigung des Körpers diene. Er thut es und schliefst am Ende 
eine erwünschte Ehe. Auch in neuerer Zeit wurde diese Sage 
mit ihren artigen Episoden wieder behandelt So von Arnim in 
einer Novelle, von Just in us Kerner dramatisch: » Der Bärenhäuter 
im Salzbad«. — Der stolze Melcher (III, 60), von demsel- 
ben Verfasser, spielt im Jahr 1 683 , wo Melcher, der Sohn eines 
Dorfschulzen am Oberrhein, der seinen Eltern entlaufen war, um 
unter dem Konig von Frankreich gegen Holland zu dienen, arm, 
krank und reuevoll ins Vaterhaus zurückkehrt. — Über den Pseu- 
donymen Verfasser der beiden Novellen finden sich beachtens- 
werthe Untersuchungen in der Zeitschrift »Spiegel« (1O37, Ja- 
nuar) aus Veranlassung der von Herrn t. Bülow herausgegebe- 
nen neuen Bearbeitung des Simplicissimus. 

Aus der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts erhalten 



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?»4 B. v. Bulow : das Novollcnbuch. 

wir zwei Erzählungen aus der sogenannten Insel Felsenbarg yon 
Joh. Friedr. Schnabel (Gisander) : II, 66: Der deutsche 
Hans; III, 257: Schmelzers Prüfungen — die Abenteuer 
eines weltlichen und die eines geistlichen deutschen Junglings. 
Hans ist der Sohn eines Dorfmusicanten, und will auch erst sich 
zu einem solchen heranbilden, ergreift aber aufzureden seines 
für sein Seelenheil besorgten Pfarrers das Tischlerhandwerk, zieht 
in die Welt, und langt nach mancherlei Begegnissen, in denen er 
sich stets heiter, besonnen und bieder zeigt, auf der Insel Felsen- 
bürg an. Schmelzer ist der Sohn eines Landpredigers, wird von 
den Jesuiten gequält und soll seinen lutherischen Glauben ab- 
schworen, wird aber von ihnen befreit, studirt Theologie, und 




pin 

Stube (IV, 45) aus dem ersten Theil der patriotischen Phanta- 
sieen von Justus Moser (1720 — 1794) wörtlich abgedruckt, 
eine anmuthige bürgerliche Familiengeschichte, welche für die 
Zeit, in der sie entstanden, höchst charakteristisch ist, und welche 
wie die übrigen angeführten deutschen Novellen, wie der Heraus- 

feber richtig bemerkt, beispielsweise darthun kann, warum frü- 
erhin keine eigentliche Novellistik bei uns aufkommen konnte. 
Die späteste deutsche Novelle unserer Sammlung, aus dem 
Ende des verflossenen Jahrhunderts, ist den »Komischen Erzäh- 
lungen im Geschmack des Boccaz« (Halle 1788 ff. 6 Bände) von 
Ursi... entnommen. II,3o6: Die alte Thorin, die Geschichte 
einer alten Kokette, die ihre Tochter ins Kloster sperrt, um keine 
Enkel zu bekommen , und um so länger selbst ihre lächerlichen 
Galanterien forttreiben zu können, die aber nachgiebt, als man 
ihr droht, ihr Alter zu veröffentlichen. 

Wir hoffen durch das Bisherige dargelegt zu haben, wie 
reich das Novellenbuch des Hrn. v. Bülow an trefflichen Stücken 
ist, und wie nur wenig zu wünschen übrig bliebe, um auch dem 
Gelehrten eine vollständige Mustersammlung für die ganze euro- 
päische Novellenliteratur zu werden. Die Ausfuhrung im Einzel- 
nen zeugt nicht allein von genauer Kcnntnifs der betreffenden 
fremden , sondern auch von freithätiger Handhabung und meister- 
hafter Gewandtheit in der Muttersprache. Einzelne Unebenheiten 
im Ausdrucke, einzelne zu gewagte Wortbildungen, die vielleicht 
zum Theil den schon angegebenen vielen Druckfehlern des Buchs 
noch beizuzählen sind, wollen wir nicht rügen. Neben so viel 
Trefflichem wäre es unbillig, um Kleines zu mäckeln. Und so 
scheiden wir denn mit aufrichtigem Danke für vielfältige Er- 
quickung und Belehrung von dem Buche. 

Dr. Keller in Tübingen. 



< 



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N°. 45. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



ÜBERSICHTEN und KURZE ANZEIGEN. 



M E D I C I N. 

Zur Vermittlung der Extreme in der Heilkunde, von Theodor St ürmer, 
med. et chir. Dr., russisch. Militärärzte etc. Leipzig, bei Ed. Kummer. 
1837. XVI und 448 S. 8. 

Alles Lob, das wir dieser Vermittlung spenden können, drän- 
gen wir in der Etinnerung an den Ausspruch zusammen, dafs kein 
Buch so gering sey, aus dem nicht etwas Gutes entnommen wer- 
den Könne. FallstafT wurde es vielleicht eine humoristische 
Schrift nennen, weil sie nichts als Variationen über ein abge- 
droschenes , vermoderndes Thema enthalt , vielleicht auch ein 
gelehrtes Buch, denn an Citaten aus Rotteck, Menzel, Shak- 
spearc, Ancillon, Seidlitz, Friedrich dem Grofscn, Drouineau, 
Benzel- Steinau, Herder, Borne, Göthe, Lichtenberg, Molicre, 
J.J.Rousseau, J.Paul, Voltaire, Lerminier, Jacobi , Ilaufr, 
Luther, Chateaubriand , St. Simon, Pascal, Hof mann, Fielding, 
Racine, Falk, Feuei bach , Montaigne, Dante, Balzac, Laroche- 
faucault, Rabener, Fichte, Lichtwer, Cabanis, Varnhagen v. Ense, 
Laharpe, Schiller, Heckcr, Byron, J. Moser, Wagner, Arndt, 
J. Kerner, Houwald , Montesquieu, Plato, Vetter, Vauvcnangues, 
Mirabeau, Bant, Jules Janin , Hebel, E. Burke, La Bruyere, 
Victor Hugo, J. Rieser etc. etc. hat es der Verf. nicht fehlen 
lassen, und diese literarische Mosaik S. III dadurch bevorwortet, 
dafs er nicht den poetischen Styl eines Heine, die Kraft eines 
Menzel und die Satyre eines Börne besitze, und, eben weil er 
diese nicht habe, citiren müsse. Aber bedarf es denn des Auf- 
wandes von Poesie, Satyre und Kraft, um ein Heer von Absur- 
ditäten der Hahnemann'schen Schule und einiger Allopathen (die 
hier Materialisten heifsen) zu widerlegen ? Bedarf es wirklich 
dazu einer 90 grofsen Nachlese bei den Schriftstellern aller Zei- 
ten und aller Völker , so dafs wir uns verführt sehen , ein vom 
Verf. gewähltes Citat auch auf ihn anzuwenden? 

Porzia. — ich glaube, er hat seinen Wamras in Italien, seine 
Hosen in Frankreich, seinen Hut in Deutschland und 

# • 

sein Betragen überall gekauft. 

Sbakspeare. 

Das Buch ist dem jetzigen Könige von Preufsen gewidmet, . 
und in fünfundzwanzig Briefen an einen lieben Leopold ge- 
schrieben, die vom Krankenexamen Hahnemanns und der Geg- 

XXX. Jahrg. I. Heft. 45 



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70o 



Median. 



ner, den Consultationeo a der Hahnemann'schen und Nichthahne- 
mann'schen Diagnostik, den Leichenöffnungen von Hahnemann (?) 
und den Gegnern, vom Wesen der Krankheit nach Hahnemann 
und den Gegnern, von der Hypothesensucht, von den Krankheits- 
ursachen nach Hahnemann und den Gegnern, von der Hahnemann*. 
sehen reinen Arzneimittellehre und den Arzneiprüfungen , von der 
allgemeinen und speciellen Therapie der Homöopathen und Allo- 
pathen, von den kleinen Arzneidosen Hahnemanns, den Compo- 
sitis und den grofsen Arzneigaben der Gegner, von der Chirur- 
gie Hahnemanns, von den Gegnern und Kritikern Hahnemanns, 
von dem Geiste der Lehre Hahnemanns, von den Ultrahomoo- 
palhen Hahnemanns und dem grofsen Charlatanismus in der Lehre 
Hahnemanns , von den Afternrztcn und Charlatans aus den Reiben 
der Gegner, von der wohlthätigen Reform in der Arzneikunde 
durch Hahnemann , von der Heilung einer merkwürdigen Hypo- 
chondrie nach den Grundsätzen Hahnemanns , von der Aftermystik 
und Afterskopsis in Hahnemann's Lehre, von medicinischen Ge- 
sellschaften und den Verhandlungen der Pariser medicinischen 
Akademie über Homöopathie , von dem Procefs des Dr. Thouret- 
Norroy mehr oder weniger weitläufig handeln. 

Im Allgemeinen können wir das Zeugnifs dem Verf. nicht 
versagen, dafs er die Schwächen und Absurditäten der Hahne- 
mannianer wie einiger Allopathen aufdeckt, aber Neues finden wir 
hier nicht, sondern nur Dinge, die in diesem Windmühlenkampfe 
schon tausendmal bis zum Ekel besprochen wurden. Von Nicht« 
Homöopathen bekrittelt er hauptsächlich Sachs in Königsberg, Ei- 
senmann, Schmalz, Hartmann, Jahn und Frank. Zugleich zeigt 
er sich als einen Gegner von Hahnemann, Hornig, Griefselich, 
Stapf, Grofs , und als ein Verehrer von Moritz Müller in Leipzig. 
»Ein wahrer Arzt ist, wie er S. 3i8 sich ausdrückt, derjenige, 
welcher die Kenntnisse eines Materialisten and Psychikers nach 
moralischen Grundsätzen in allen Lebensverhältnissen, wo es Hülfe 
bedarf, anwendet. Sein Schauplatz ist: die Erde, sein zu bear- 
beitender Stoff: die ganze Menschheit, sein Zweck: Glück und 
Zufriedenheit durch Korper- und Geistesgesundheit zu verbreiten. 
Beim Freiherrn von Knigge suchen wir vergebens die Regeln 
zur Bildung eines solchen Mannes ; die Kaltblütigkeit eines Fa- 
bricius, die Enthaltsamkeit eines Cajus, die Kraft und den Muth 
eines Gustav Adolph, die Klugheit eines Oxenstierna, die Gewandt- 
heit eines Talleyrand, den Edelmut h eines Fenelon, die Conse- 
quenz eines Richelieu liefern die Bestandtheile dieses Charakters.« 

Wie, Walantin, was für ein hochtrabender Gallimathias ist 
das ? Shakspeare. 

Einen psychischen Arzt nennt St. S. 18 denjenigen, welcher 
Geistiges (seine Aufmerksamkeit, Phantasie, Gedächtnifs, Ab- 
stractions- und Urtheilskraft , Vernunft) dazu anwendet, um im 
kranken Geiste, in der verstimmten Seele diejenigen wohlthätigen 
Veränderungen hervorzurufen, die ihm zum Heilzweck nothwen- 



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Med niri. 



707 



dig sind, der bei Geisteskrankheiten nur dann materielle Metho- 
den anwendet, wenn er sich von der materiellen Ursache des 
Übels überzeugt hat. 

Geisteskrankheiten sind (S. 67) Abweichungen der psy- 
chischen und moralischen Kräfte, deren verschiedenartiges We- 
sen wir nur durch äussere Zeichen entwirren und bestimmen 
können. 

Von der pathologischen Anatomie heifst es S. 5o, ; »Soll sie 
wahrhaften Nutzen der ganzen Arzneikunst bringen, SO müssen dip 
Leichenbefunde nicht, wie bisher, als Anhang den Krankbeits- 
beschreibungen beigefügt werden, sondern umgekehrt, gute Krank- 
heitsgeschienten müssen das Resultat von den genauesten Leichen- 
öffnungen seyn, und die pathologische Anatomie sey die Haupt- 
basis der Diagnostik und der Therapie der materiellen Krankhei- 
ten. (Gott versteht mich, sagt Sancho Pansq!) 

Wir könnten noch manche Stellen citiren, um darzuthun, 
dafs der Verf. , der als Vermittler der Extreme in der Heilkunde 
auftreten will , nicht immer mit sich vollkommen im Klaren zu 
seyn scheint. Doch, jam satis terrae nivis! Er ist ein beson- 
derer Verehrer von W. Menzel, weil dieser sich als ein uner- 
müdlicher Gegner des neuen Deutschlands gezeigt, und weil der 
Verf. in den Schriften des neuen Deutschlands eine Urquelle so 
vieler Krankheiten und Gebrechen der Psyche und des Sorna be- 
sonders in unserer vornehmen Damenwelt erblickt. 



Die Brunnen- und Molkenanstalt zu Salzbrunn, von Dr. Aug. Zemplin, 
erstem Brunnenarzte in Salzbrunn etc. Erstes Bändchen für die Brun- 
nengäste 159 S. 1835. Dritte Auflage. Zweites Bändchen für die Ärzte 
186 S. 1837. Breslau, bei J. Max $ Comp. 

Aliud est medici, aliud populariter loqui, dem geroäfs kön- 
nen wir es nur billigen , dafs Zemplin ein besonderes Hündchen 
für Laien und ein eigenes für Ärzte über Salzbrunn schrieb, was 
wir den Brunnenärzten zur Nachahmung empfehlen wollen. 

In dem für die Kurgäste bestimmten Baude handelt Z. in ei- 
ner dem Gegenstande angemessenen Sprache von der Lage und 
den Bewohnern Salzbrunnens, den dortigen Quellen, seiner Ge- 
schichte und Literatur, den bestehenden Einrichtungen, von der 
Versendung des Wassers, den Vorbereitungen zur Kur, der Jah- 
res- und Tageszeit der Kur, von der Methode und dem Maas des 
Trinkens, der Dauer der Kur, von den Wirkungen und den Nach- 
wirkungen des Wassers, den Brunnenkrisen, den Wirkungen der 
Milch und der Molke, der Nachkur, von den Umständen, die eine 
Unterbrechung der Kur fordern können, von dem Baden, von 
den Ursachen des Millingens einer Kur, der Lebensweise wäh- 
rend einer Kur, und schliefst mit der Flora, den Analysen und 
der Angabe der Höhen, — von dem allem aber nur das gebend, 
was für einen Kurgast zu wissen genügt. 



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.Miditin. 



Der Verf. gestaltet den Kurgästen während der Dauer der 
Hur, selbst beim Trinken, Erdbeeren und Hirschen, und weicht 
hierin von den gewöhnlichen Brunnenkur-Regeln ab, denen ge- 
mäfs aUe frischen, eine Pflanzensnure enthaltende Fruchte ver- 
pönt bleiben. Wir wollen über diesen Punkt indessen mit dem 
Verf. nicht rechten, da hierüber die Erfahrung allein entscheidet 
und die Individualitat der Quellen auch Abweichungen von der 
Regel gestattet und selbst fordert. So ist es Thatsache, dafs zu 
Niederbronn im Elsafs , das rucksichtlich seiner Bestandteile und 
seiner Wirkungen in der Reihe von Kissingen und Marienbad steht, 
jeder Salat sehr gut vertragen wird. 

Salzbrunn gehört zu den Kurorten, die, früher nicht nach 
Gebühr gewürdigt und vernachlässigt, unter den Auspicien Zem- 
plins innerhalb zweier Decenoien einen weltberühmten Namen 
erhalten haben. Im Sommer i8i5 zahlte mau hier nur 33, im 
folgenden 66, und im Sommer i833 über 1400 Kurgäste, und 
versandte 1 12,630 Flaschen Mineralwasser. Was Zemplin für die 
Emporbringung Salzbrunn's gethan, hat Wendt in einem Vor- 
trage über die Gesundbrunnen Schlesiens bei der Zusammenkunft 
der Naturforscher in Breslau ausgesprochen, zugleich aber auch 
angedeutet, welche Folgen der Rücktritt dieses thätigen Arztes 
für den Kurort haben konnte. 

In dem andern Bande für Ärzte handelt der Verf. zunächst 
von allgemeinen arzneilichen Wirkungen des Salzbrunner Ober- 
und Muhlbrunnens, welcher, wie alle salzsaures Natron enthalten- 
den Quellen (vermöge des damit verbundenen Jod- und Brom- 
gehaltes, Ref.), eine speeifische Wirkung auf das Pfortadersystem 
äussert und dadurch in die Reihe von Kissingen, Maiicnbad und 
Niederbronn tritt, gleich diesen die Darmausscheidungen ihrer 
Qualität und Quantität nach modificirend , die Gailenaussonderung 
reguliiend und die Thätigkeit der Haut und des Lymphsystems 
mächtig erregend. Die Molken betrachtet Z. als ein Corrigens 
des Salzbrunner Mineralwassers, und dieses als ein Corrigens der 
Molken , indem der Zusatz der Molken iJen nachtheiligen Einflufs 
des Kohlensäuregehalts im Mineralwasser bei reizbaren Lungen 
beschwichtigt und die Mischung des Mineralwassers die auf die 
Verdauung nachtheilig influirende Nebenwirkung der Molken auf- 
hebt. — Hülfe spendet Salzbrunn in den ersten Stadien der Lun- 
gensucht, in der Schleimschnindsucht , besonders wenn Stockun- 
gen im Pfortadersystem , impetiginöse und arthrotische Schärfen 
u. s. w. ihrp Entstehung vermittelten, in der Lufiröhrenschwind- 
sucht, in der Reconvalescenz nach überstandenen acuten und chro- 
nischen Brustaflectionen , in der Scrophelsucht , bei Abdominal- 
plethora, chronischen Leber- und Milzleiden, Melnna, bei Krank- 
heiten der Bauchspeichel- und Gekrösdrüsen , Gichtbeschwerden 
und Harngries , Hämorrhoiden , bei materiell begründeter Hypo- 
chondrie und Hysterie , bei Untcrleibsschwindsucht. 

Schwangere und Säugende vertragen den hiesigen Oberbrun, 
nen mit Milch vermischt sehr gut. In dieser Eigenthümlichkeit 



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Mtitidn. 



109 



des Salzbrunner Mineralwassers müssen wir einen grofsen Vorzug 
vor andern (Quellen anerkennen, und machen auf ihn besonders 
aufmerksam, da hierin die Möglichkeit gegeben ist, bei vorhan- 
dener Scrophel- und Tuberkelsucht und mithin bestehender Dis- 
position zur Langenich windsucht in der Mutter, durch einen lan- 
gen und umsichtigen Gebrauch dieses Brunnens von Seiten der 
Schwängern oder Säugenden, die Übertragung des Heimes dieser 
Krankheiten auf den Fötus und den Säugling abzuwenden. Ähn- 
liches würde man vielleicht auch durch andere alterirende Mine- 
ralwasser erzielen können , wenn nicht das Voi urtheil der Arzte 
und Laien und der gleich einer Krankheit sich forterbende Schlen- 
drian einem solchen Verfahren entgegenträte. Wir heilen von 
der Lustseuche ergriftene Kinder dadurch , dafs ihre Ammen 
Quecksilber nehmen müssen, und nehmen Anstand, tvn mildes, 
alterirendes Mineralwasser einer Schwängern oder einer Säugenden 
zu empfehlen ! Hinc diseimus, cjuantum possit praeoccupata 
opinio ! 

. Der Verf. hat es nicht verschmäht , bei jüngern Collegen 
praktische Belehrung über den Gebrauch des Stethoskopes nach- 
zusuchen, und bedauert diesen Schritt nicht, da er den grofsen 
Werth der Auscultation für die Diagnose der Brustkrankheiten, 
besonders der Lungenübel, würdigen leinte. Möge dieses Beispiel 
so manchen alten Pei rücken, die durch den Fluch des Schicksals 
und zum Hohne der Wissenschaft den klinischen Unterricht zum 
Theil auf unser n Hochschulen leiten und über den Gebrauch des 
Stethoskopes honigsüfs lächelnd hinwegsehen, als Aufmunterung 
erscheinen , einen ahnlichen Schritt zu wagen. Die Stethoscopie 
bat seit Lännec viel gewonnen und ist mannigfaltig vervollkomm- 
net , so dafs selbst im ersten Stadium der Lungensucht sie für 
die Diagnose und mithin auch für die Therapie dieses Übels grofse 
Vortheile bietet, wie M. M. Hittz, Hecherchcs clinirjues sur quel- 
ques points du diagnostic de la phthisie pulmonaire, Strasbourg 
1 836 , und desselben Recherches clinirjues sur quelques points du 
diagnostic de la pleuresie im Märzheft der Archives gene'rales de 
med. von diesem Jahre beweisen, welche beiden Abhandlungen 
wohl in einer Sammlung auserlesener Abhandlungen für Arzte 
eine Stelle verdienen. 

Im Entstehen begriffene Lungen- und Unterleibsübcl weichen 
häufig unter dem Gebrauche eines angemessenen Mineralwassers, 
während bei einem weitern Entwicklungsgrade die Hoffnung auf 
Bettung schwindet. Diese in neuester Zeit vielfältig ausgespro- 
chene und allgemein anerkannte Thatsache sollte jeden gewissen- 
haften Arzt bestimmen, sich mit einem Mittel vertraut zu ma- 
chen, das so grofse Vortheile für die Diagnose bietet, wie dies 
bei der Auseultation der Fall ist. 

Das Salzbrunner Mineralwasser vcranlafst häufig, nicht im- 
mer, Krisen durch den Darmkanal, durch die Blase oder durch 
die Haut, selten durch alle drei Wege, und in diesem Falle nie- 
mals auf einmal , sondern nach einander. Bei Untei leibskranken 



I 

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71U 



Mcdicin 



treten sie bestimmter hervor als bei Brustleiden , es sey denn , 
dafs diesen eine Abdominalkranhheit zum Grande liege. Was der 
Verf. über die Nachwirkung des Wassers, über Vor- und Nach- 
kuren sagt, unterschreibt im Ganzen Ref., besonders den Aus- 
spruch , dafs in der Regel eine sorgsame Fortsetzung der Brun- 
nendiät die sicherste Nachhur sey , dafs Brustkranke nicht zu früh 
des Morgens zum Brunnen gehen, immer den Anfang mit einer 
Tasse ebengemolkener Eselinn- oder Ziegenmilch machen und 
im Allgemeinen auf das Baden verzichten sollen. Das Baden und 
Trinken läfst Z. nie zu gleicher Zeit beginnen, und gewifs durfte 
dies nicht allein für Salzbrunn, sondern auch für andere Kur- 
orte , namentlich für eisenhaltige Säuerlinge gelten , wodurch eine 
Übersättigung am sichersten vermieden werden durfte. Den Kly- 
stieren aus Mineralwasser spricht Z. das Wort bei Unterleibs- 
öbeln , den Arzneigebrauch will er wahrem! einer Brunnenkur 
möglichst beschränkt wissen, in der frischen Buttermilch sieht er 
ein die Stuhlentleerungen beforderndes Mittel. Die beigegebenen 
pathologisch- therapeutischen Erfahrungen beziehen sich haupt- 
sächlich auf Lungenkranke und verdienen ihres innern Gehaltes 
wegen allgemeine Berücksichtigung. Quod vidit scripsir. 



Jahrbücher für Deutschlands Heilquellen und Seebäder, herausgegeben von 
C. v. Gräfe und Dr. Kaiisch. Zweiter Jahrgang. X und 438 & 
Berlin, Verlag von List $ Kiemann. 1857. 

Irren wir nicht, so besteht unter unsern medicis aquariis 
gegenwärtig ein doppelter Wettkampf. Einmal will jeder der 
(Quelle, an der und durch die er wirkt, den ersten Bang vindi- 
ciren , andern Theils soll die Welt glauben, dafs das Wasser, 
das unter seinen Auspicien getrunken, Und zum Baden, Klvsti- 
ren und Douchen benutzt wird, alle Eigenschaften besitze,' um 
alte Coquetten in junge, Thoren in Weise, diplomatische Lehr- 
linge in diplomatische Meister, welke Busen in strotzende, wurtn- 
frafsige Spindelbeine in Herkulesschenkel , ausgekochte Gestalten 
in üppige junonische Figuren zu verkehren. Doch alles Streben 
der Medici aquarii ist umsonst, die Langeweile und ihre Tochter, 
die Mode, befiehlt anders und stempelt heute diese, morgen jene 
Quelle als die allein heilbringende, so dafs mit Fug und Recht 
das Horazische 

Multa renascentur, quae jam cecidere, cadentque 
Quae nunc sunt in honorc 

hier gelten kann. 

Die vorliegenden Jahrbücher, die unter der Cooperation ei- 
nes berühmten chirurgischen Professors gedruckt werden, dür- 
fen in mancher Beziehung als Belege unserer Äusserung über den 
bestehenden Wettkampf angesehen werden. Nicht allein hysteri- 
sche Krämpfe, blinde und nichtblinde Hämorrhoiden, Gelb-, Bleich- 
und Kupfersuchten, Manien und Melancholien, Gicht und Nicht- 



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Medicia. 711 

gicht, Scropheln und Flechten werden weggebadet und wegge- 
trunken , sondern Taubstumme hier zum Reden und Hören ge- 
bracht, Sterilität in die üppigste Fruchtbarkeit verwandelt, certe 
rooritari in juvencs athleticos umgeschaffen. Der eine versi- 
chert, dafs von der Wahl eines auf diese oder jene Weise ge- 
formten Glases der Erfolg der Hur abhängig sey, der andere 
schwort, dafs sein Wasser namentlich solche Krankheiten heile, 
über deren Diagnose man noch nicht im Reinen sey; der dritte 
betheuert , dafs sein Mineralwasser da besonders an seinem Platze 
sich befinde, wo man weder auflosen, noch aufregen, noch stür- 
ben dürfe. An verschiedenen Orten werden Bubenquellen ge- 
schaffen und so eingerichtet, dafs sie auf eine ihrer eigentlichen 
Bestimmung mehr entsprechende Weise benutzt werden können. 
Non solum aegri , sed etiam sani sunt deeipiendi varietate , oovi- 
tate et multiplicitate remediorum! 



Die Heilkräfte des kalten Wasserstrahls , mit einem Rückblick auf die Ge- 
schichte und mit besonderer Rücksicht auf das Staubregenbad und kalte 
Bäder dargestellt von Ludw. Wilh. Mauthner, Dr. der Medicin etc. 
in Wien. Mit 4 Kupfertafeln. Wien, gedruckt bei A. Straufs sei. 
H'ittwe, in Commission bei C. Gerold. 1837. XI f u. 420 S. 8. 

Das Studium der Geschichte der Medicin fuhrt zu der Uber- 
zeugung, dafs alle heilwissenschaftlichen Systeme durch den all- 
gemeinen Hrankheitscharakter in's Leben gerufen werden. Die 
Uriegsslurme im letzten Decennium des verflossenen Jahrhunderts 
hatten typhöse Fieber mit gesunkener Lebenskraft erzeugt, wel- 
che eine reizende Behandlung erheischten. Mit dem allgemei- 
nen Frieden trat der entzündliche Charakter hervor und mit die- 
sem die Broussais'sche Schule. An seiner Stelle erschien der ge- 
genwartige Krankheitsgenius, der ein mildes, mehr exspectatives 
Verfahren forderte. Die heroischen Verfahrungsweisen sind ver- 
schwunden , die verheerendsten Krankheiten , wie Typhus und 
Cholera, weichen bei einem angemessenen Verhalten und dem 
indifferentesten Getränke, dem kalten Wasser, am sichersten. 
Den praktischen Werth des kalten Wassers wissenschaftlich zu 
begründen, ist der Zweck des vorliegenden Werkes, welches der 
Verf. auf dem vergleichenden und geschichtlichen Wege versucht. 

Nach Aufzählung der verschiedenen Arten kalter Bäder und 
ihrer Wirkung in therapeutischer und diätetischer Beziehung 
wendet der Vf. sich zur geschichtlichen Untersuchung, und zeigt, 
dafs Griechen und Romer zu den Begiefsungcn und Bespritzun- 
en leidender Theile vorzüglich gewöhnliches Wasser nahmen, 
essen Wirksamkeit hochachteten , auf diese Weise das Mineral- 
wasser aber nicht angewendet zu haben scheinen. Im Mittelalter 
gerieth die Anwendung des einfachen Wassers fast in Vergessen- 
heit, kalte Fallbäder wurden fast gefürchtet , wogegen fnst überall 
die Heilkraft fallend einwirkender warmer Flüssigkeit gepriesen 
ward. Zu diesem Zwecke benutzte man in Italien Röhren (Doc- 



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112 



Mcdicin. 



ciae), in Deutschland hölzerne Flaschen mit einer Bodenmündung, 
in England einfache Giefskannen und später Pumpen. Wiewohl 
einzelne sich auch in dieser iinstern Zeit tür die Anwendung des 
kalten Wassers aussprachen , so geschah es doch nicht nachdrück- 
lich genug, um das kalte Bad in seine Rechte einsetzen zu kön- 
nen , was der neuesten Zeit vorbehalten war , in welcher man 
wieder ins entgegengesetzte Extrem, zur Übertreibung, über- 
ging, welcher der Vf. mit wissenschaftlicher Waffe entgegentritt 
Ein Vorzog der neuesten Zeit ist der gröfsere Geschmack 
unter Deutschlands Ärzten für historische Forschungen. Wir 
ltünnen hierzu nur Glück wünschen, da diese besonders für die 
Staatsarzneikunde segensreiche Früchte tragen, und das Schiefsen 
von Bocken verhindern , die für den ärztlichen Stand ehrenrau- 
bend und für die Staaten millionenraubend werden. 

Heyfelder. 



Homburg und seine Heilquellen, von Dr. Eduard Christian Trapp, 
landgrdfl. hessischem Medicinalrathe. Darmstadt 1837. Druck u. Ver- 
lag von C. W. Leske 145 Ä*. Mit der Ansicht von Homburg, einer 
Specialkarte der Umgebung und einem Plane der ehemaligen Saline. 

Die Wichtigkeit und der Nutzen der Brunnenkuren im All- 
gemeinen , und insbesondere der Werth der Salzquellen werden 
täglich mehr anerkannt. Es verdienen daher die Mittheilungen 
der Ärzte, welche genaue Beobachtungen über die Wirksamkeit 
einer Quelle gemacht haben, unsern Dank, wenn sie mit vorur- 
teilsfreiem Auge und nicht pro domo, wie so viele Badschriften , 
geschrieben sind. 

Die vorliegende Schrift ist vorzugsweise dazu bestimmt, dem 
Publikum das Nothigstc über Homburg und seine Mineralquellen 
zu berichten. 

Das freundliche Städtchen Homburg mit /\ßoo Einwohnern, 
die Residenz der souverainen Landgrafen zu Hessen, ist grofs- 
tentheils auf einem Hügel erbaut, beinahe 3 /* Stunden vor dem 
östlichen Gebirgszuge des Taunus, und liegt 3 Stunden von Frank- 
furt, 4 St. von Friedberg, 9 St. von Mainz, 9 St. von Darmstadt 
und 6 St. von Weilburg entfernt, 600 Fufs über der Meeres- 
fläche, unter dem 5o", 14', 3o" der nordlichen Breite und unter 
dem 26°, 11', 21" der ostlichen Länge. 

Die Salzquellen Homburgs finden sich in einem freundlichen 
Wiesenthaie, welches gegen Südosten sich öffnet und gegen We- 
hten, Norden und Osten ziemlich geschützt ist, % Stunde von 
der Stadt entfernt. Die ersten Versuche , die Soole zu Bädern 
zu benutzen , machte ein franzosischer Regimentsarzt in den Jah- 
ren 1811 «und 1812. Später bediente man sich dieser Bäder nur 
selten. Erst im Jahre i833 wurden sie in der Hofapotheke des 
Herrn Thuquet, woselbst sein Vorfahre Müller Bäder angelegt 
hatte, Iiurmäfsig gebraucht. In dem darauf folgenden Sommer 



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Mcdicin. 713 



wurden mehrere Badanstalten errichtet, um welche sich Herr 
Apotheker Mathias , gegenwärtig in Mannheim , besondere Ver- 
dienste erworben. Ein innerlicher Gebrauch dieser Soole wurde 
nur versucht, aber bald aufgegeben, da der Geschmack zu widrig 
war und der Erlolg den Erwartungen keineswegs entsprach. — 
Noch im Sommer i834 glaubte der Herr Verf. in einem dritten 
Brunnen die Eigenschaften zu finden, welche die innere An. 
wendung eines solchen Wassers gestatten, neben reichlichem Ge- 
halte salinischer Bestandtheile viel Eisen und grofsen Reichthum 
an Kohlensäure. Nur wenige Kranke konnten indefs sich dieses 
Brunnens bedienen, weil er fast unzugänglich war. Da sich aber 
im folgenden Jahre die Heilkraft dieses Wassers bewährte, so 
Hefs die Landesregierung diesen Brunnen sorgfaltig fassen, und 
dieses ist nun der sogenannte Kurbrunnen. Er ist in Holz ge- 
fafst, 3 Fufs weit und 12 — i3 Fufs tief; der Abflufs beträgt in 
24 Stunden 50oo Mafs. Das Wasser ist klar und hell, in stets 
wallender Bewegung ?on der Menge Gasblasen, welche unter Ge- 
polter aus der Tiefe aufsteigen und mit knisterndem Geräusche 
an der Oberfläche zerplatzen. Man empfindet in der Nähe einen 
scharfen Geruch von der Kohlensäure, welche dem anfangs 4 salzig 
bittern, hintennach etwas eisenartig schmeckenden Wasser einen 
stark prickelnden, auf der Zunge stechenden Geschmack- giebt. 
Etwa 8 Zoll tief ist die Einfassung mit einem zimmtbraunen Nie- 
derschlage überzogen; in den Ablaufrohren setzt sich in kurzer 
Zeit eine gleiche, gelatinöse, erdige Masse ab, und das Wasser 
trübt sich unter Entwickelung unzähliger Luftperlen an der freien 
Luft im Glase, an dessen Wände sich eine feste, rothlich gelbe 
Kruste anlegt. Die Temperatur des Wassers ist, zu verschiede- 
nen Jahreszeiten gemessen, 8Va° R» — Bei schwerer Gewitter- 
luft ist die Entwickelung des Gases viel häufiger, sowie überhaupt 
der Brunnen in den frühen Morgenstunden und gegen Untergang 
der Sonne lebendiger ist. Die Gasentwickelung ist oft so stark, 
dafs die aus irgend einem Kitze in der Fassung entweichende 
Luft einen singenden Ton erzeugt, der halbe Stunden lang un- 
untci brochen fortdauert. 

Herr Prof. Liebig in Giefsen nahm wiederholt eine chemische 
Untersuchung des Wassers vor und erhielt folgendes Ergebnifs: 

100 Tbeile Mineral w asser enthalten: 

i,o3o66i Chlornatrium, 
0,004967 Schwefelsaures Natron, 
0,101029 Chlorcalcium , 
0,1014^7 Chlormagnesium, 
0,0041 12 Kieselerde ; 
0,1 43 106 Kohlensaure Kalkerde, 
0,026219 Kohlensaure Bittererde, 
0,006020 Kohlensaures Eisenoxydul , 
0,281000 Freie Kohlensäure. 

1,698071 fixe und flüchtige Bestandtheile. 



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114 

i Pfand Wasser ä 16 Unzen enthalt: 
79,1547 Gran Chlornatriura , 

0,3809 » Schwefelsaures Natron, 

7*7568 v Chlorcalcium, 

7,7670 » Chloi magnesium, 

o,3 1 57 *> Kieselerde, 

10*9824 r Kohlensauren Kalk, 

3,0111 » Kohlensaure - Bittererde, 

0,4608 1» Kohlensaures Eisenoxydul , 

21,4808 v freie Kohlensäure. 

i3o,3io2 » fixe und fluchtige Bestandteile. 

Ein Pfund Wasser entspricht aber genau dem Räume von 32 
Kubilizollen Wasser. In einem Pfund Kurbrunnenwasser sind im 
Ganzen 58,78 Kubikzoll, und als freie Kohlensäure 48,64 Kubik- 
zoll enthalten. Ausserdem enthält das Wasser einen geringen 
Antheil Jod. 

Es eignet sich das Wasser ganz gut zu Versendungen , in- 
dem es weder durch Zeit, noch Transport, noch Lagerung einen 
Theil seiner Wirksamkeit verliert. Am besten eignen sich dicke, 
starke Glasüaschen zur Versendung. 

Ausser diesem Kurbrunnen hat Homburg noch zwei Bad- 
brunncn. Diese zwei Salzbrunnen in alter Fassung, aus wel- 
chen die Soole zur Bereitung der Bäder genommen wird , genü- 
gen kaum dem jetzigen Bedarf , sind übrigens von beinahe glei- 
cher Stärke. — Nach der chemischen Analyse des Herrn Mathias 
enthält der grofse Brunnen in einem Pfunde zu 16 Unzen 

a) Feste Bestandteile : 

waMerfrei wasserfcell 

Schwefelsaurer Kalk . . 0,212 0,268 

Chlorcalcium 1 5,285 29,837 

Brommagnium .... 0,002 0,007 

Chlor magnium .... 5,904 n,5o9 

Chlorkalium o,384 o,384 

Chlornatrium 108,392 108,392 

Humus Spuren — 

Kieselerde 0,164 0,164 

Kohlensaures Eisenoxydul 0,480 0,480 

Thonerde o,o54 o,o54 

Kohlensaurer Kalk . . . 91698 9,698 

Kohlensaure Magnesia . . 2,485 2, 485 

Gran 143,069 = 163,278 
b) Gasformige Bestandtheile: 

Kohlensäuregas bei o° R. 28' Baromet. 2 2,0 3 7 Kbz. 
» bei 9 0 R. » » 22,728 Kbz. 

Das Wasser ist stets gelblich trübe von einem schwebenden 
Niederschlage 1 , für den Geschmack äusserst unangenehm. — Der 



uigitizeo Dy 



Mcdicin 



zweite Brtinneo ist weniger reich an fixen Bestandteilen , dage- 
gen reicher an Kohlensäure. Er ist noch nicht näher chemisch 
untersucht. Ausser diesen drei Brunnen besitzt Homburg noch 
einen angenehm schmeckenden Säuerling, der im Jahr 1809 ent- 
deckt wurde. 

Nachdem der Herr Verf. die nähern Umgebungen Homburgs 
beschrieben hat, «teilt er Betrachtungen an über die Wirkung 
der Mineralwasser im Allgemeinen und der Soolquellen Homburgs 
insbesondere. Wir stimmen der Behauptung des Herrn Verls, 
▼ollig bei, dafs die Wirkung der Mineralwasser zwar allerdings 
durch die Bestandtheile, die in vorwiegender Menge sich darin 
finden, bedingt werde, dafs aber Nebenbestandtheile die allgemeine 
Wirkung oft so modificiren , dafs die Bekanntschaft mit den Mi- 
schungsverhältnissen nie allein hinreicht, um die Natur eines 
Mineraiwassers zu beurtheilen. Die Beobachtung der Wirkungs- 
weise mufs die Natur der Quelle näher bezeichnen. Peez sagt 
mit Recht: »Der Mafsstab, welchen uns die Chemie zur Würdi- 
gung der Gröfse der Heilkraft der Mineralquellen darbietet, be- 
weist sich als völlig unzureichend und mangelhaft, wenn wir dio 
Wirkung der Bestandtheile ausser ihrer Verbindung mit dem 
Wasser, von welchem sie durch Kunst getrennt wurden, beob- 
achten. Ein Gran Eisen in Schwalbacher oder Pyrmonter Was- 
ser getrunken ist ungleich wirksamer, als wenn man 6 oder 10 
Gran von dem oflicinellen Präparat anwendet.« Dies fuhrt dar- 
auf hin, dafs den Quellen ein eigentbümliches Leben, ein begei- 
sterndes Princip inwohnt. Darum sind die Mineralwasser an der 
Quelle getrunken so wirksam ; darum können die^künstlich^berei- 
teten Mineralwasser die natürlichen nie ersetzen. 

Der Homburger Kurbrunnen gehört in die; Beihe der salini- 
schen Säuerlinge , und zwar zu den wenigen , welche Eisen in 
einer nicht geringen Menge enthalten. Am nächsten steht er dem 
Kissinger Hagozi. 

Die Wirkung des Homburger Kurbrunnens ist sanftjund doch 
tief eindringend , selten stürmisch und angreifend. Mit 2 bis 4 
Bechern voll angefangen, frisch aus der Quelle geschöpft, und 
bei leichter Bewegung , Morgens nüchtern getrunken gewohnt 
man sich bald an den bitterlich -salzigen Geschmack Der 4 Magen 
wird davon erwärmt; Schweifs und Urin werden reichlicher aus- 
geschieden. Gewöhnlich bewirkt die angegebene Quantität auch 
einige Stuhlentleerungen , Wenn auch erst nach/einigen Tagen des 
Gebrauchs. Ohne Aufblähen, ohne Leibschneiden erfolgen reich- 
lichere Ausleerungen von kothiger Beschaffenheit, 3 bis 4mal in 
den nächsten Stunden nach dem Genüsse ; im Verlaufe der Kur 
werden die Stuhlgänge schleimig- wässerig und; bei dem Genüsse 
einer gröfsern Menge nehmen sie eine grünliche, schleimige Be- 
schaffenheit an; es gehen gallertartige, in Schleim gehüllte Mem- 
branen , auch wohl eine tbeerartige , scharfe Materie ab. Harte 
Knollen von Excrementen , Würmer, blutgestreiften Schleim lee- 



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716 Mcüicin. 

reo viele Kranke mit sehr gunstigem Erfolge aus. Das Wasser 
reinigt von alten Versessenheiten (Infarcten) und stellt die natür- 
lichen Ausleerungen her. Es verdünnt die dicke, krankhafte 
Galle, hebt die Magensaure, belebt die Verdauung und vermehrt 
den Appetit. Durch den grofscn Reichthum des Wassers an Koh- 
lensaure wird es leicht vertragen; es durchdringt den Körper mit 
einer belebenden Wärme, regt die Gcfäfsthätigkcit auf, erhebt 
den Kreislauf, der Puls wird beschleunigter und votier. Mitunter 
wird in den ersten Tagen des Gebrauches der Kopf der Kranken 
etwas eingenommen; es entsteht Trägheit und Müdigkeit der Glie- 
der; allein dies verliert sich bald, und die Kurgäste werden be- 
lebter und heiterer. 

In dem Mafse, wie die gehemmten Ab- und Aussonderungen 
geregelter weiden, beginnt auch ein lebendigerer Stoffwechsel 
in den Drusen; die ganze Production des Organismus wird er- 
frischt. Ebenso bestimmt zeigt sich die Wirkung des Wassers 
auf die Schleimhaut der Nase und der Luftröhre, indem die Se- 
cretionen derselben vermehrt werden. 

Dieses Mineralwasser ist demnach vorzugsweise bei solchen 
Leiden angezeigt, welche primär in einer krankhaften Beschaffen- 
heit der bildenden Säfte, der Lymphe sowohl, wie des Blutes, 
secundär in krankhaft veränderter Structur einzelner Organe des 
Unterleibes und der Beckenhöhle begründet sind. Aber durch den 
reichen Gebalt an Kohlensäure und durch den Gehalt an Eisen 
wirkt es auch wohlthätig auf das Nervensystem. 

Der Herr Verf. sucht durch eine reiche Anzahl von Krank- 
heitsgeschichten sein Unheil über die Wirkung des Homburger 
Kurbrunnens zu begründen. 

Die Soolbäder zu Homburg fachen die Thätigkeit des Haut- 
gehildes aufs kräftigste an, vermehren die Assimilation, erregen 
die Nei venthätigkeit und bewirken einen lebendigem Stoffwechsel 
im Lymphsysteme , und somit eine gleichförmigere Vertheilung 
der Saite. Sehr bald erzeugen sie den bekannten Badausschlag. 
Die Körperfülle nimmt unter vermehrten Schweifsen und häufi- 
germ Urinabgang in der Regel während der Kur etwas ab. Sehr 
wirksam haben sie sich bei rheumatischen Ablagerungen, zurück- 
getretenen Ausschlägen u. s. w. , vorzugsweise aber bei Scropheln 
und den hartnäckigen Formen der chronischen Exantheme, zumal 
der Flechten, gezeigt. Dies weist der Herr Verf. durch Krank- 
heitsfälle nach. Es ist begreiÜich, dafs bei eingewurzelten Übeln 
eine Badkur nicht ausreicht. Mitunter ist es nothwendig , auf 
einige Zeit die Salzbäder auszusetzen. In solchen Fällen ist der 
Zusatz von Mutterlauge von ganz besonderm Nutzen. 

Bei wahrer Schwäche, herbeigeführt durch vorausgegangene 
schwächende Krankheiten, Säfteverluste jeder Art, durch hohes 
Alter u. s. w. ist der Gebrauch der lloinburger Quellen contra- 
indicirt. Nachlheilig kann er bei bösartiger Verhärtung des Ma- 
gens und Darmkanals, bei wahrer Schwäche der Lungen und 



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ftfcdicin. 



717 



entschiedener AnInge zur Lungensucht, bei organischen Fehlern 
des Herzens und der grofsen Blutgefafse werden. 

Mitunter erfolgt in den ersten Tagen des Wassergehl auches 
Stuhl Verstopfung, wahrscheinlich durch den Eisengehalt bewirkt. 
Giebt sich diese auf Klystiere nicht, so mufs dem Wasser ein 
gelind abführendes Salz zugesetzt werden. 

Mit einer genauen Angabc des diätetischen Verhaltens wäh- 
rend der Kur schliefst der Herr Verf. diese Schrift. Dieselbe 
verdient die Beachtung der Fachgenossen sowohl , als der Kur- 
gäste , wie. überhaupt die Hoinburger Quellen die Berücksichti- 
gung der Ärzte verdienen. 

Mochte uns der Herr Verf. seine weitern Erfahrungen über 
die Wirkung dieser Brunnen nicht vorenthalten ! 



Die Arzncikrüftt des Salmiaks. Eine Abhandlung für praktische Arzte von 
Dr. Carl Rösch , Untcramtsurzt in Schwenningen. Tübingen, bei 
Heinrich Laup. 1835. 8. X und 83 Seiten. 

In der Versammlung der Naturforscher und Arzte zu Heidel- 
berg im September 1829 äusserte der nun verstorbene, verdienst- 
volle v. Wedekind den motivirten Wunsch, jeder Arzt möge 
eins der gebräuchlichsten und gepriesensten Arzneimittel zum 
Gegenstande fortdauernder Forschung wählen, um durch Ver- 
suche und Beobachtungen zu reinen, ausnahmlosen Erfahrungen 
zu gelangen und durch Ausmittelung der Ursachen von diesen , 
die Wirkungsart des Mittels kennen zu lernen, und die not- 
wendigen Wirkungen desselben von den bedingten und zu- 
fälligen zu unterscheiden. Obgleich Wedekind's Aufforderung 
damals ziemlich allgemeinen Anklang fand, und obgleich die me- 
dicinische Abtheilung der Versammlung Commissarien aus den 
verschiedenen Gegenden Deutschlands wählte, welche ihre Col- 
legen zu solchen Untersuchungen einladen sollten ; so hat unsers 
Wissens diese Aufforderung dennoch zu keinem besondern Er- 
gebnisse geführt. Die Ursache davon mag vorzugsweise darin 
liegen, dafs das Versuchemachen am menschlichen Organismus an 
und für sich etwas Gehässiges an sich trägt, und dann, dafs durch 
Anwendung eines und desselben Mittels in verschiedenen Krank- 
heiten ein praktischer Arzt leicht in die Gefahr geräth , für einen 
Experimentator gehalten und als solcher verrufen zu werden. 
Übrigens läfst sich kaum bezweifeln, dafs eine solche Untersu- 
ehuugsweise der Wirksamkeit der Arzneimittel, wenn sie mit 
gehöriger Umsicht geschehe, zu sehr reichen Ergebnissen führen 
müsse. Die nothwendige (beständige) Wirkung des Arz- 
neimittels würde sich von der bedingten (unbeständigen) 
leicht unterscheiden lassen. Der Gewinn für die Praxis würde 
sehr grofs seyn, da wir durch das Erkennen der Wirkung ein- 



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118 



Medicin. 



facher Arzneimittel zur Einfachheit im Verordnen geführt wur- 
den, wodurch sich sicher das Feld der Erfahrung erweiterte. 

Der Herr Vf. der vorliegenden Schrift hat ohne Rücksichts- 
nahme auf Wedehinds Vorschlag ein Arzneimittel, den Salmiak, 
einer nähern Prüfung unterworfen. Seine Abhandlung zerfallt 
in fünf Kapitel. 

Im ersten Kapitel handelt derselbe von den Wirkungen 
des Salmiaks auf den thierischen Korper im Allgemeinen. Be- 
kanntlich haben Weinhold und spater Arnold Versuche an Thie- 
ren gemacht, um durch Analogie die Wirkung des Salmiaks auf 
den menschlichen Organismus zu bestimmen, Das Ergebnils die- 
ser Versuche kann als bekannt vorausgesetzt werden. 

Das zweite Kapitel untersucht die Wirkung des Salmiaks 
auf die Schleimhäute: 

1) auf die Schleimhaut des Darmkanals und Anwendung in 
Krankheiten derselben, — gastrisches Fieber; gastrisch -gal- 
liges Fieber; gastrisch- mucoses Fieber; typhus sporadicus 
abdominalis; enronische Magenverschleimung; 
fl) auf die Schleimbaut der Luftwege und Anwendung in Krank- 
heiten derselben, — Catarrb; Blutspeien; phthisis pituitosa, 
neripneumonia notba; chronische ßrustverschleimung ; Keuch- 
husten; Lungenentzündung; Typhus; Croup, tracheitis , 
bronebitis ; 

3) auf die Schleimhaut der Urin- und Geschlechtswerkzeuge 
und Anwendung in Krankheilen derselben , — Blasencatarrh ; 
fluor albus. 

Das dritte Kapitel befafst sich mit der Wirkung des Sal- 
miaks auf die Haut, und der Anwendung in Krankheiten, wo de- 
ren Secretion angetrieben werden soll. 

Das vierte Kapitel betrachtet den Salmiak als ein allge- 
mein verflüssigendes, die Ruckbildung beförderndes Mittel ; dem- 
nach wird hier untersucht: 

i) die Wirkung und Anwendung des Salmiaks bei Extravasat, 

— Apoplexie, äussere Verletzung; 
s) die Wirkung und Anwendung desselben in Krankheiten, die 
in UnthätigUeit des Venen- und Lymphsystems begründet 
sind, — Stockungen im Unterleibe überhaupt; intermitti- 
rendes Fieber (?); Fehler der Menstruation; 
3) die Wirkung und Anwendung desselben bei Degenerationen, 
und namentlich in der tuberculosen Schwindsucht ; — De* 
generation der Schleimhäute; Lungenschwindsucht; Harngries. 

Das fünfte Kapitel bespricht die äusserlichc Anwendung 
des Salmiaks. 

Die Ansicht des Herrn Rösch über die Wirkung des Salmiaks 
ist kurz zusammengefafst folgende: Der Salmiak befördert die Ab- 
sonderung der Schleimhäute, besonders des Darrakanals und der 
Luftwege, nur verträgt er sich nicht mit irgend bedeutender 



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* 



Mcriicin. 



719 



krankhafter Irritation derselben, ja er reizt selbst ziemlich bedeu- 
tend, und ist daher auch im Stande, den erschlafften Schleim- 
häuten den verlornen Tonus wiederzugeben. Er befördert gelinde 
die Hautausdunstung ; er wirkt auflösend , verflüssigend auf* den 
ganzen Organismus; er befördert die Ruchbildung der organischen 
Materie, daher seine Heilkraft bei Degenerationen, namentlich der 
Schleimhäute, bei Blutextravasat in Folge von Krankheit oder 
äusserer Verletzung; ja er ist im Stande, sogar feste, dem Un- 
organischen sich nähernde Concremente aufzulösen , daher seine 
Wirkung bei Harngries und Steinbildung in den Nieren und der 
Harnblase. Dies ist in nuce des Herrn Vis, Ansicht. 

Der Salmiak ist offenbar das Mittelglied zwischen der schwä- 
chenden und belebenden Kur, und er bildet, um mit Job. Adam 
Schmidt zu reden, gleichsam die Brücke, um mit Ehren über 
den breiten Graben zu kommen , der zwischen beiden Methoden 
liegt. Die Behauptungen über die Wirkungen des Salmiaks , ei- 
nerseits , dafs er in pharmakodjnamischcr Beziehung ganz wie die 
Neutralsalze sich verhalte, ja sogar dem Salpeter in der entzün- 
dungswidrigen Wirkung sehr nahe komme, und andrerseits, dafs 
er ein gelindes Reizmittel sey , welches gar keine Schwächung des 
irritabelu Lebens, sondern eine gelinde Erregung veranlasse, sind 
von der Wahrheit gleich weit entfernt. Es ist nicht zu verken- 
nen, dafs der Salmiak, wie die meisten Salze, erregend, reizend 
auf den Darmkanal und namentlich dessen Schleimhaut wirkt; 
allein — in die Säftemasse aufgenommen, vermindert er in ge- 
ringem Grade die Thätigkeit des Herzens und der grofsen Ge- 
fafse. In Bezug auf die Irritabilität verhält er sich demnach al- 
lerdings, wie ein schwaches Antiphlogisticum; wogegen er auf 
das vegetative Leben, und besonders auf die Darmschleimhaut, 
mehr erregend wirkt. Seine stärksten Wirkungen entfaltet er 
offenbar in der vegetativen Sphäre und namentlich in den Schleim- 
häuten , in welchen er nicht nur die absondernde Thätigkeit er- 
höhet , sondern auch die Metamorphose in denselben steigert und ' 
verbessert. Darum rühmen ihn die Praktiker bei chronischen 
Verschleimungen , bei Torpor und Atonie in den Schleimhäuten 
der Gedärme als das beste mocum incidens. 

Seine Wirkung verbreitet sich aber auch auf die serösen 
und fibrösen Gebilde, woselbst der vegetative Procefs ebenfalls, 
erhöhet und verbessert wird. 

Die Thätigkeit des Lymphsysteras wird durch ihn erregt, 
belebt, verstärkt; besonders werden die drusigen Gebilde des 
Unterleibes zu gröfserer Thätigkeit gereizt , die Resorption wird 
erhöhet, die Secretion der Nieren und der Haut vermehrt. Es 
würde hier zu weit führen, wenn Ree. die Wirkung des Salmiaks 
ins Einzelne verfolgen wollte. 

Mit gleich günstigem Erfolge , wie der Herr Verf., hat Ree. 
seit i3 Jahren den Salmiak bei gastrischen Fiebern, zumal wenn 
gleich anfangs schwächende Diarrhöen eingetreten waren ; bei 



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Mcdicin 



Typhus abdominalis, wenn gleich anfänglich die Zunge trocken, 
die Haut brennend, das Gesicht gelblichroth, der Puls frequent, 
Klein, härtlich, die Entkräftung grofs, übelriechende Diarrhoe 
vorhanden und der Bauch aufgetrieben war. Mit grofsem Nutzen 
hat Ree. ihn gegeben bei entzündlichen AfTectionen der Schleim- 
häute , besonders wenn ihnen eine causa rheumalica zu Grunde 
lag, z.B. bei Angina rheumatica, Catarrhus inflammatorius, Bron- 
chitis catarrhalis , Pneumonia rheumatica u. s. w. ; ebenso bei 
rheumatisch • entzündlichen AfTectionen der serösen und fibrösen 
Gebilde , als der Pleura , des Peritoneums , der Gelenkbänder 
u. s. w. 

Mit Recht empfiehlt der Herr Verf. mit Fischer die Anwen- 
dung des Salmiaks bei Blutspeien , zumal wenn der Gefäfserethis- 
mus durch stärkere Antiphlogistica aufgehoben ist. 

Bei acuten Exanthemen (namentlich bei Masern) sah Ree. 
günstige Wirkung des Salmiaks, wenn die Eruption sich verzö- 
gerte , oder wenn die Haut brennend heifs war , und die Farbe 
des Ausschlags ins Gelbliche, Grauliche oder Bläuliche spielte. 

Treffliche Dienste leistet der Salmiak bei Wassersuchten , 
entstanden durch rheumatische, arthritische oder exanthematische 
Metastase. 

Bei Degenerationen in den Schleimhäuten und drüsigen Ge- 
bilden, namentlich bei Tuberkeln in den Lungen, bei Anschwel- 
lungen der Gekrosedrüsen , bei Verhärtungen der Testikel , hat 
ihn Ree. ebenfalls mit gutem Erfolge gebraucht. 

Bei dem Wechsellieber leistet der Salmiak nur dann gute 
Dienste , wenn dasselbe auf gestörtem Vegctationsprocessc im 
Unterleibe beruht, oder mit Gastricismus complicirt ist. 

Eine directe Wirkung des Salmiaks auf das Nervensystem 
mochte Ree. nicht zugestehen. 

Hinsichtlich der Gaben mufs Ree. bemerken , dafs er den 
Salmiak in viel stärkern Dosen, als der Herr Verf., giebt. Ree. 
giebt selten unter 10 — i5 Gr. pro dosi; in einzelnen Fällen ist 
er schon bis zu 3 9 p. d. gestiegen. 

Übrigens enthält dieses Schrittchen das Wichtigere über die 
Anwendung und Wirkung des Salmiaks und verdient die Berück- 
sichtigung der Praktiker. 

Ungern vermifst man die Literatur. — Der S. 49 cititte 
Schriftsteller heifst nicht Mays, sondern Muys. 

Dr. Franz Lndic. Feist in Mainz. 



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V.46. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

GRIECHISCHE LITERATUR. — SCHULSCHRIFTEN. 

De Fnntibus HUtoriae Demonthenie. Scriptit Antonius Westermann. 
Aecedunt praeter Indicts Epimetra duo , quorum I. eontinet varictatem 
Leetionis in Zouimi et Anonymi f'itt. Demoith. ex cod. Rehdiger. ex- 
cerptam , //. adnot ai ioncs in Plutarchi vitus decem oratorum. Lipe. 
1837. Harth. 

Herr Prof. Westermann, dessen Verdienste um Deraosthenes 
hinlänglich anerkannt sind , theilt hier über die Quellen der Le- 
bensgeschichte des Demoslhenes eine Untersuchung mit, welche 
einen allgemeinen Nutzen hat sowohl für den wichtigen Zeitab- 
schnitt, in welchen das Leben des grofsen Staatsmannes lallt, als 
auch für die Erklärung aller der Schriftsteller, welche jene Ge- 
schichte und dieses Leben beseht icben haben. 

Ref. freut sich , dafs er sein im Commentar zu Dem. Phill. 
Vol. I. p. 4 sq. angefangenes Verzeichnifs von des Demosthenes 
Biographen nun so vermehit und ausgestattet siebt. Hinzugefugt 
konnte werden, dafs Joannes Philosophus in Anonymi Collectaneis 
De Antiqq. Ctpolit. im Corp. Byzant. Vol. 24. p. QO ed. Par. citirt 
A; uooSi vov$ avyyoäyLuoLXoi. Uber Dcmochares konnte noch 
verwiesen werden auf Heeren De Fontibus Plutarchi p. 93 , nicht 
als ob Herr YV. dieses Gelehrten und Anderer Schriften De Fon- 
tibus Plutarchi, Diodori, Arriani etc. nicht benutzt hätte, viel- 
mehr vervollständigt er sie mit grober Gelehrsamkeit und gesun- 
der Kritik. 

Die dem Ulpian zugeschriebene Biographie des Demosthenes, 
wovon S. 92 gehandelt wird, ist wahrscheinlich keine andere, als 
die des Zosimus, von welchem auch die Scholien grofsentheils 
herzurühren scheinen, welche unter dem Namen des Ulpian be- 
kannt sind und verschiedene Verfasser haben. Vom Rhetor Ul- 
pian rühren nur die Hpoktyopiva her, welche diesen Scholien 
voranstehen. Diese Behauptung wird ausgeführt werden in un- 
serer Notitia Codicum Part. VI zu Cod. Vatic. Nro. 68 nach den 
Mittheilungen des gelehrten Herrn Dr. Heyse. Dieselbe Vita steht 
auch im Cod. Urbinas Nro. 11 3. Siehe dagegen Job. Chapmanni 
Observationes in Ulpiani Commentarios §. i5 in Mounteney's Aus- 
gabe des Dem. 

Zu den S. 38 f. angeführten verschiedenen Personen des Na- 
mens Demosthenes können wir (vergl. unsern Comraent. a. a. O. 
S. 4 und Meurs. Bibl. Att. Lib. III. in Gronov. Thes. X. p. i353 F.) 
noch folgende nachtragen : Lacedaemonius Olympionica. Meurs. 
Miscell. Lib. IV. cap. 18. p. 33i in Gronov. Thes. V. p. 249»- 
AnpooSivnq <*i$ &vr}? dxdXaaxoq iv Aaxtdaipovi. Plutarch. Prae- 

XXX. Jahr K . 7. Heft. 46 



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722 Griechische Literatur. — Schulwhriften. 

ccpt. reip. gerend. p. 801 B. — II « oa <f> pa« t 15 {. Eustath. in 
Oa. A v. 268. p. i683, 35 Rom. — Ueber Aulus Demosthenes 
Praefectus Praetorio siebe auch Dig. Cod. VII. Tit. 62. Lex 34 
und 38. — Praefectus Caesareae p. Chr. n. 260. Cedrenus p. 3i3 
A. Yol. IX. Byzant. Parts. Verg). Gibbon, übers, v. Riemberg 
Cap. 10. Vol. I. p. 439 f. Wien. — Über A e p o <rS 4 v n q 6 ^1- 
xoöc siehe auch Cod. Augustanus, jetzt Monacensts Nro. 4 s 9i 7 
in Hardt. Catal. p. 322. — Agoranomos Selembriae im 3ten Jahr- 
hundert vor Chr. Böckh. Corp. Vol. IL Nro. 2. p. 76. — Der 
Vater des Zosimus Euonymensis. BoecUh. Corp. Vol. I. p. 5oo. 
«— Über den Ophthatmicus siehe auch Reinesü Var. Lect. p. 9. 
p. 389. p. 673. — Über den Bithjnus stehe auch Etym. M. p. 
437,48. Meineck. Euphorion. p. 3i. — Suniensis. Boeckb. Corp. 
Vol. I. p. 332. Nro. 140. aus der Zeit der Antonine. — Ein 
anderer ibid. Nro. 260. p. 368. in einer Inschr. des Tiberius 
Claudius. — Ein anderer Macrob. Saturn. Lib. L cap. 11. — 
Alhenis Praefectus zur Zeit des Libanius, ein Christ. Phot. Bibl. 
p. 79, n, 17 ßkk. — Über den Koch des Kaisers Valens stehe 
auch Theophan. p. 54 C. Paris, in Corp. Byz. Vol. VII. Theodo- 
re». Hist. IV, 19. — Patripolila, Nili Monachi Epist. II, 36. — 
Über Dem, Thrax siehe auch Suid. s. v. — Senator Conslantino* 
pol, bei Procopius , und ohnstreitig noch viele andere. 

Unter den Biographen des Demosthenes wird wegen des En- 
comium Demosthenis naturlich auch Lucian angeführt , dessen 
Glaubwürdigkeit aber dadurch verdächtigt , dafs er in seinem 
Herodotus, also in einer andern und unbedenklich ächten Schrift 
den Herodot zu Olympia seine !V|usen vorlesen läfst. Nach dem, 
was der auch vom Verf. citirte gelehrte Herr Hofrath Bahr dar- 
über zusammengestellt, hatten wir nicht gerade diese Beweisfüh- 
rung erwartet. Zu der Erörterung dieses Gegenstandes dient nun 
auch Ley De Tempore quo Herodotus mortem obierit. Coloniae 
ad Rh. i836. Ein Schulprogramm. 

Zu den Declamationen ist aber unbedingt zu rechnen die la- 
teinische Bede Aretin's , welche sich im College Lincolm. zu Ox- 
ford (s. unsrer Notitia Codd. P. V. p. 6), zu Rom, Padua und 
sonst öfter findet, wie wir zeigen werden in Notit. P. VI. zu 
Cod. Reginoe Nro. 102. 

Einen Hauptabschnitt des Buches macht die Widerlegung 
gegen Herrn Franke, welcher Herrn Westermanns Ausgabe der 
Vitae X Orat. angegriffen, namentlich die Behauptung verworfen 
hatte , dafs es Collectaneen seyen , welche sich Plutarch zur aus- 
führlichen Behandlung angelegt habe. Wir sahen die Sache als 
abgemacht an, so weit ein so schwieriger Punkt als vollständig 
erörtert angesehen werden kann , und freuten uns der glücklich 
durchgeführten Hypothese, hätten deswegen gewünscht, dafs obi- 

Ser Widerlegung nicht so viel Raum wäre gewidmet worden, so 
ankenswerth das Epimetrum ist, wodurch Commentar und Kri- 
tik dieses an historischen Notizen reichen Überrestes aus dem 
Alterthum immer mehr anfgeklärt wird. Um auch diesen Theil 



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Griechische Literatur — Sc hui Schriften. 125 

• 

des Baches nicht ohne einen wenn aoeh kleinen Beitrag zu las- 
sen, so erinnern wir an die Inschrift bei Böckh Vol. 1. p. i3o 
v. Olymp. CVI, 4, wo avxä *ai iyy6votq vorkommt, so dafs 
wir doch Bedenken tragen, in allen drei den Vitis X Oratoram 
angehängten Deereten tyy<Jvoi<; ohne Weiteres in i*y6voi<i zu 
corrigiren. Vergl. ad Phil. II. p. 44 unseres Commentars und 
Franke in Jahns Jahrbüchern i835, Heft II, p. 187. 

Dafs am Ende von Libanias Lebensbeschreibung des Demo- 
sthenes eine (grofse) Lücke sey , bemerkte auch Auger. 

Schließlich erlauben wir uns, den Wunsch auszusprechen, 
dafs es dem Herrn Verf. gefallen mochte, eine vollständige Ge- 
schichte des Demosthenes und seiner Zeit zu schreiben. Nach 
solchen Studien der Quellen und ihrer Kritik wäre Niemand ge- 
eigneter dazu. * 

Druckfehler: S. 18 gegen Ende: In Graecis enim historicts, 

3ui nuae inter se gregatim occuparunt Pom pejus , omissis quae 
ine t'ructu essent, omnia divisa temporibus — composuit, vitia 
cum repperisse — non est consentaneum. — - S. 54 : et Aescb. 
statt ex Aesch. — S. 77 Z. 10 lies p. 3 statt p. 6. Sonst ist 
das Buch correct gedruckt und iiieisend geschrieben. 

Körne /. 



Homert Carmina. Hccognovit et expUcuit Fridericu» Henricut Bot he, 
Ody$teae Volumen alterum. Lib. IX— XVI. Lip$iae. Sumtibue 
librariae Hahnianae MDCCCXXXIV. 211 S. in gr. 8. Volumen ter- 
tium, Lib. XVU- XXIV. B+trachomyomachia. Hymni. Kpi- 
grammata et Fragmenta Cor min um Fpicorum. Lipsiae , sumtib. 
iibr: Hahnianae MDCCCXXXV. 35 & in gr. 8 

Indem wir auf die früheren Anzeigen in diesen Blättern 
(Jhrgg. i834 p- 3y4 ff* '835 p. 196) verweisen, freuen wir uns, 
jetzt die Vollendung des Ganzen mit dem Erscheinen dieser bei- 
den Theile ankundigen zu können. Was beide enthalten, ist auf 
dem Titel angegeben; einiges Andere ist ausserdem am Schlufs 
des Ganzen hinzugekommen, pag. 3^3 ff. Discorso preliminare 
della Batracomiomachia , tradotta in italiano dal Conte Giacomo 
Leopardi, ein Abdruck einer sehr seltenen , wenig bei uns be- 
kannten Abhandlung, die der italienischen Übersetzung der Ba- 
trachomiomachia von dem als grundlichen Kenner der alten Lite- 
ratur und vorzüglichen Stylisten selbst in Italien sehr geschätzten 
Grafen Leopardi , beigefügt ist. Daran schliefen sich S. 383 ff. 
Addenda et Emendanda bis zu S. 408 über die Hins wie über 
die Odysse und die Hymnen , eine wohl zu beachtende Nachlese 
bietend , wozu auch die S. 409 f. abgedruckten Äusserungen und 
Urtheile Napoleons über Homer und Virgil (aus der unlängst 
bekannt gewordenen Schrift Precis des guerres de Cesar etc.) 
gehören. Dann folgt S. 41 1 ein vierfacher Index : ein Index Grae- 
cus, Latinus , Nominum propriorum et ab iis duetorum, und Scrip- 



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Griechische Literatur. — Scliultchriftcn. 



forum emendatorum vel laudatoruro , nebst einem Epilogus S. 
549 IV., manchen Recensenten zur wohl zu beherzigenden Lecture 
zu empfehlen. »Est genus hominum, so beginnt der Vf., simile 
atriensis Phaedriani , qui in oranes partes reipublicae literariae 
discuriunt multumque agendo nihil agunt, agentes impediunt, 
dicta eorum secus interpretantes , facta elegantes idque per omnia 
studentes, ut se meliores ad imos pedes Parnassi detrahant, ad 
quos ipsi , in vito Phoebo , obscura sua habent domicilia. Horum 
nonnulli etc.« Der Herausgeber vertheidigt sich in diesem Epi- ' 
log gegen ungerechte Angriffe und Ausfalle, die ihm von Seiten 
Solcher zu Theil wurden, die weder Kenntnisse noch Fähigkeit 
betalten , um sein Buch zu würdigen, noch die nothige Muhe und 
den nöthigen Fleifs anwendeten, es zu lesen. Leider sind bei 
dem heutigen Stande der Kritik, wieasie in so manchen Blattern 
in anonymer Weise von obscuren Personen auf eine so schamlose 
Weise geübt wird, solche Erscheinungen nicht selten geworden, 
und haben mit zu der' gerechten Verachtung beigetragen, in wel- 
che bei dem einsichtsvolleren und würdigeren Theile des Publi- 
kums solche Blätter jetzt allgemein gefallen sind. 

In der äusseren Einrichtung und Ausstattung sind diese Theile 
den früheren völlig gleich, sie sind es auch in der Behandlungs- 
weise und in dem , was für die Kritik , wie insbesondere für rich- 
tige Auffassung und für das bessere Verständnifs der Homerischen 
Dichtungen, also für die Erklärung, sachliche wie sprachliche, 
in den unter dem Text gedruckten Noten geleistet ist, welche 
eine passende Auswahl aus dem, was ältere und neuere Erklärer 
Erspriefsliches für das Verständnifs und die Erklärung beigebracht 
haben, durch zahlreiche eigene Bemerkungen vermehrt und ver- 
vollständigt, enthalten. 



Luciani S omni um. Graece. Cum selcctu aHorum suisque annotationi- 
bu$,8choliis Graccis, vocabulario, duplieique indiee copiositsimo in scho- 
larum usus edidit Frid. Andr. Christian. Grauff, philo», doctor , 
Graecarum et Latinarum professor , gymnasii Biennensis direetor. — 
"A 3' av luiSoi tcm;, TauTa aw^vBai QtXst icfa yij?a; oZrw ira?3a< «J 
rcat&MTi ! Eurip. Suppl. 926. — Bernae. Sumptibus librariae Dal- 
pianae. MDCCCXXXII. XVI und 517 S. in 8. 

Es ist bereits in andern Blättern diese auf dem schönsten 
Velinpapier und mit den schönsten Lettern gedruckte Ausgabe 
einer kleinen Schrift des Lucian als eine literarische Rarität oder 
Merkwürdigkeit bezeichnet und darnach mit mehr oder minder 
Becht auch gewürdigt worden. Der Grund davon liegt zunächst 
in der merkwürdigen Einrichtung dieser Ausgabe, deren Verfas- 
ser man gewifs nicht den Vorwurf machen kann, der so manche 
leichtsinnige Herausgeber ähnlicher Schriften des Alterthums in 
unsern Tagen treffen mag, dafs er nemlich in der Ausfuhrung 
nicht mit der gehörigen Sorgfalt und Ausdauer zu Werke gc- 



Gritcliisrhc Literatur. — Schulachriften. 725 

gangen und so eine ubereilte Ausgabe geliefert, da man am Ende 
den Herausgeber eher des Gegentheils bezüchtigen mochte, in- 
sofern er in Allem zu Viel zu geben bemuht war und darin al- 
lerdings ein Beispiel gegeben hat, das eben so wenig Nachahmung 
finden durfte, als das Beispiel derer, die sich die Herausgabe 
eines Autors oder einer Schrift so leicht machen und mit ein Paar 
Varianten oder einigen notulis adspersis ihren Ueruf erfüllt zu 
haben meinen. Auch bedarf es wohl kaum einer besonderen Er- 
innerung, da Ts bei jedem Unternehmen der Art ein bestimmter 
Plan zu Grunde liegen soll, der die Art und Weise der Behand- 
lung, je nachdem die Ausgabe für Lehrer oder für Schüler oder 
überhaupt für ein grofseres gebildetes Publikum bestimmt ist , 
gleichfalls bestimmen mufs. Inwiefern dies nun bei vorliegender 
Bearbeitung einer Schrift des Lucian , » in scbolarum usus « , wie 
der Titel sagt, geschehen ist, mag die folgende Angabe des In- 
halts derselben lehren. Auf die Vorrede folgt zuerst: Luciani 
V'üa, Mores, Libri ; eine nicht ganz drei Seiten einnehmende 
Notiz aus Ficker's Literaturgeschichte der Griechen und Romer, 
i835; wobei wir billig uns die Frage erlauben, ob dem Verf. 
keine andere bessere Quelle, kein besseres Hülfsmittel zu diesem 
Zweck zugänglich gewesen? Hätte sich nicht aus Jacobs aus- 
führlicher Charakteristik des Lucian oder auch nur aus der kur- 
zen aber treffenden Schilderung , die Pauly seiner in der Stutt- 
garter Sammlung erschienenen Ciebersetzung des Lucianus voran- 
gestellt hat (Bd. I > oder Nr. 3 der ganzen Sammlung) , etwas 
Besseres entnehmen lassen ? Dann lolgt ein Abdruck des lateini- 
schen Argumentum aus Schmieders Ausgabe, und nun der grie- 
chische Text von S. 3 — 38 mit grammatischen Nachweisungen, 
die am Anfange wirklich über jedes Wort sich erstrecken und 
weder Partikeln wie plv, 8k, xott, r t 8rj 9 noch irgend eine Ver- 
balform unberücksichtigt lassen, also die leichtesten, bei einem 
Schüler, welcher diese Schrift lesen soll, wohl als bekannt vor- 
auszusetzenden Gegenstände und Sprachformen eben so gut be- 
treffen, wie einigerroafsen schwierigere Punkte. Nun folgt S. 3<j 
— 67: Index I. Vtrborum et nominum secundum ordinem capilunu 
Hier wird wiederum jedes im Text vorkommende W 7 ort erklärt, 
und zwar, um aus den Anfangsworten des ersten Gapitels eine 
Probe zu geben, auf folgende Weise: 9 äfTi, adv. modo, nunc 
ipsum — M^*, cj.quidcm. u*v . . . 8k quidem . . . vero. — nava J. 
navow cessare facto ; ftnio. Med. desino , cesso c. partic. — tiq % 
praep, c. acc, in (c. acc.) — 8i8aoxa\tlov , tö , schola, ludus /«- 
terarius. — (poixda , frequento i impr. 8i8aoxaKtlov (tiq tft- 
SaoxäXovq) ludum literarium — ?oiJ, adv. jam. — i;Aixia, 17, 
aetas — n$6wfio{ a (*ißti) proximus puberlali; pubev. — eiui, 
sum — jiut^, tqq<; (rioo<;) 6, pater u. s. w. « Sonach wird es 
nicht befremden, wenn wir im Folgenden unter Ander« auch fin- 
den: 9 o$v adv. ergo, igilur* oder «xai cj. ei; xai — »al et — 
et* oder 9 ov seq. vocali cum spirilu Uni, ovx ; c. sp. aspero, ot>x, 
adv. non, fiaud * oder » ei cj. «« u. s. w. An dieses so duich- 



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«6 Griechische Literatur. — SctHiUchriftep. 

geführte lexikalische Verzeichnifs schliefst sich dann S. 68 — 348 
(also fest dreihundert Seiten): Index II. Addenda ei Emendanda, 
sive enarratio perpctua discipulis lilerarum Groecarum peritioribus 
destinata. Dies ist nun das, was wir eigentlich den Commentar 
nennen wurden , in welchem freilich eine Masse gelehrten Appa- 
rats angehäuft und ein Reichthum von Ci taten ausgeschüttet ist, 
bei denen selbst das Sanscrit nicht leer ausgeht, anderer orien- 
talischen Sprachen, der chaldäischen, hebräischen, arabischen, 
syrischen, äthiopischen nicht zu gedenken, und so ein freilich 
oft «ehr buntscheckig aussehendes Gemisch uns entgegentritt, da 
Alles, was Sprache und Grammatik, wie Inhalt und Sache be- 
trifft, in gleich ausführlicher Weise behandelt ist. Dafs der Vf., 
der uns diese Bemerkungen vorlegt, ein in allen möglichen Spra- 
chen der Erde und in fast allen Zweigen menschlichen Wissens 
wohl erfahrener und bewandter Mann ist, wird Niemand leugnen 
oder seiner Gelehrsamkeit die gebührende Anerkennung entziehen 
wollen; allein, was die Frage nach der Nützlichkeit und Zweck- 
mässigkeit der so angelegten oder vielmehr so ausgeschütteten 
Commentare io einer »in scholarum usus« gemachten Ausgabe 
betrifft, dürfte wohl die Beantwortung anders ausfallen. Nun 
erst folgt S. 349 — 4<>4 Index III, sive Graecitas Lucianea in Ute" 
ras digesia , wo jedes im Somnium vorkommende Wort alphabe- 
tisch aufgeführt und die Stelle, in der es vorkommt , ganz mit 
abgedruckt ist; zuletzt Index IV in Commenlaria S; 4°5 — 5 12, 
also wieder ein Register von mehr als hundert Seiten über das, 
was im Index II enthalten ist, freilich gemacht mit bewunderns- 
würdiger Genauigkeit, seltenem Fleifs und Ausdauer, da hier wie- 
der jedes Wort, jeder citirte Autor oder Gelehrte aufgeführt ist! 



Griechische Chrestomathie für die mittlem Clausen der Gymnasien, 
enthaltend Abschnitte aus Xcnophon , Herodot und Lucian. Herausge- 
geben von Dr. Eduard Geist, Gymnasiallehrer zu Darmstadt. — 
Main», Drtic* und Verlag von F. Kupferberg. 1831. XIV tu 336 S. 
in gr. 8. 

Der durch mehrere andere gelehrte , auch in diesen Blättern 
nach Verdienst gewürdigte , Leistungen rühmlichst bekannte Vf. 
übergiebt hier dem Publikum eine für die mittlem Gymnasial- 
blassen bestimmte griechische Chrestomathie, die, wie uns scheint, 
sich vor zahlreichen ähnlichen Produkten der Art vortheilhaft 
auszeichnet und in der Art der Behandlung wie in der Wahl des 
Einzelnen sich als ein zweckmäfsig angelegtes, für den Schul- 
unterricht nützliches Buch darstellt. » Bei der Auswahl der Ab- 
schnitte, schreibt der Verf. S. V der Vorrede, beabsichtigte ich, 
das Anziehendste und Anregendste aus jenen drei (auf dem Titel 
genannten) Schriftstellern , insofern es sich in andrer Beziehung 
für die Jugend eignete, aufzunehmen; ausserdem suchte ich hier- 
bei das Zusammentreffen mit andern ähnlichen, mir bekannt gc- 



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Griechische Literatur. — Schultchriflen. 



727 



wordenen Sammlungen möglichst zu vermeiden , um denjenigen 
Lehrern, welche mein Buch vielleicht an die Stelle eines andern, 
längere Zeit gebrauchten setzen wollten, eine wirkliche Abwechs- 
lung darbieten zu können.« Diesem Plane gemafs erhalten wir 
demnach aus Xenophons Anabasis das ganze vierte Buch, und 
aus der Cyropädie die Jugendjahre des alteren Cyrus (I, 2 — 4)$ 
dann folgen aus Herodotus die Erzählungen von Arion und Crö- 
tus (I, 23 IV.) , von der Schatzkammer des Rhampsinit u. s. w. 
(II, i2i — 125), von Cnmbyses Zügen (III, 17 — 3o), von Poly- 
krates (III, 3q ff. 120 ff.), von den Indern (HI, 98 flf.) und von 
dem Abi all- und der Wiedereinnähme Babylons (III, i5o ff.). 
Den Beschlufs machen drei Stücke aus Lucian : der Traum oder 
die Wahl des Lebensberufs, Timon oder der Menschenfeind und 
Prometheus. Der Text dieser Stücke ist nach den neuesten und 
besten Recensionen mit höchst wenigen Abweichungen geliefert; 
es ist dabei auch stets auf die Interpunction eine weise Rucksicht 
genommen, die das zu Viel eben so sorgfältig wie das zu Wenig 
zu vermeiden gesucht hat, und dadurch von dem in der neueren 
Zeit hier und dort eingeführten Sparsystem, das wir insbesondere 
bei Schulausgaben, Chrestomathien u. dgl. gar nicht billigen kön- 
nen , sich durchaus entfernt halt. Eine gute, zweckmäfsige In« 
terpunetion bewahrt den Schüler vor manchen Irrthümern , ohne 
auf der andern Seite sein Geschäft ihm zu leicht zu machen und 
die eigene Thäligkeit zu hemmen oder ganz zu unterdrücken. 
Die kurzen Anmerkungen, welche unter dem Text beigefugt sind, 
entsprechen der Bestimmung des Buchs und suchen dem Schüler 
eine zweckmäßige Nachhülfe bei der Präparation zu geben, die 
dem Lehrer sein Geschäft erleichtern, die Lehrstunde mehr in 
eine Prüfungsstunde umwandeln, und dadurch die Fortschritte des 
Lernenden beschleunigen soll. Es sind meist kurze grammatisch» 
sprachliche Bemerkungen oder vielmehr Verweisungen auf die 
Lehrbücher von Matthiä, ßuttmann, Rost u. s. w., oder auch 
treffende Parallelstellen , welche zu eigener Forschung anregen 
und die Sclbstthätigkeit fordern; indessen fehlen doch auch nicht 
da, wo es nothig war, die erforderlichen Sachbemerkungen, zu- 
mal da der Verf. seine Chrestomathie auch zugleich für den Pri- 
vatgebiauch nützlich zu machen suchte. Bei Herodot ist auf die 
jonischen Formen in diesen Anmerkungen keine Rücksicht ge- 
nommen, dagegen in einem eigenen Anhang S. 287 — 296 eine 
schatzbare Übersicht der Eigentümlichkeiten des jonischen Dia- 
lekts geliefert , die durch Zusammenstellung des Einzelnen unter 
bestimmte Ordnungen und Rubriken dem Schüler die Kenntnifs 
der einzelnen Formen sehr erleichtern wird. Ein zweiter An- 
hang giebt einige gut zusammengestellte Nachrichten über Leben 
und Schriften der drei Autoren , aus denen Abschnitte in diese 
Chrestomathie aufgenommen worden sind; genaue Register be- 
schliefsen das Ganze. — Druck und Papier sind sehr befriedigend. 
8. 122 in der Note ist irrthümlich der jetzige Name des llalya 
angegeben Uiul-lnnak statt Jtoil - Irmak : ein Versehen, dessen 



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728 



SchuUchrifteo. 



eigentlich Ref. sich selbst anklagen mag, da S. 17 des ersten 
Bandes seiner Ausgabe des Herodotus allerdings dieser Druckfeh- 
ler sich findet , den er späterhin zu verbesser» gesucht hat. Eben 
so wird es in der Nute S. 141 statt Schiwa, der jetzigen Benen- 
nung der Oase und des Tempels des Jupiter Amnion, wohl Sin ah 
heifsen müssen. So ist wenigstens der Name des Orts bei Minu- 
toli u. A., welche diese Oase besucht haben, stets geschrieben. — 
Von demselben Verfasser haben wir zugleich eine neue, durch 
zweckmafsige , der Bestimmung des Buchs entsprechende Ände- 
rungen mannichfach berichtigte Ausgabe eines in mehrern Anstal- 
ten eingeführten Schulbuches anzuführen, auf die wir bei dieser 
Gelegenheit aufmerksam machen wollen : 

Vorschule zu dem lateinischen Sprachunterricht für die ersten 
Anfänger, von Ehregott Johann Elieser Bagge, Rcctor der tat- 
Rathsschule zu Coburg. Dritte verbesserte Auflage, von Dr. Eduard 
Geist, Gymnasiallehrer zu Darmstadt. Coburg, bei J. D. Meusel u. 
Sohn. 18*7. MI und 130* & in 8. 



Die Alt er thums Wissenschaft. Ein Lehr- und Handbuch für Schüler 
höherer Gymnasialcia ssen und für Studirende. Bearbeitet von Dr. S. 
F. W. Hoff mann. Mit sechszehn mythologischen u. archäologischen 
Kupfertafeln , von Prof. Anton Krieger. Leipzig, Verlag der J. C. 
Hinrichs'schen Buchhandlung. 1835. Will u. 1113 S. in gr. 8. 

Wenn der gewaltige Umfang und die Ausdehnung dieses en- 
cyclopädischen Werkes uns nicht erlaubt, näher in das Detail 
desselben einzugehen, zumal da eine Prüfung des aus so man- 
chen 1 heilen Zusammengesetzten zugleich eine Prüfung aller 
der einzelnen in das Gebiet der Alterthumswisscnschaft einschlä- 
gigen Disciplinen, ihrem Stoff wie ihrem Inhalt nach, wie er in 
das vorliegende Werk aufgenommen ist , um in ein Ganzes ver- . 
arbeilet zu werden, mit sich führen würde; was hier nicht wohl 
möglich ist. Wir wollen daher, der an uns gestellten Aufforde- 
rung Genüge leistend, wenigstens über den Plan und die Anlage 
des Werkes, über Stoff und Inhalt desselben in der Kürze das 
Nothige bemerken, um so unsern Lesern einen Begriff von dem 
zu geben , was in diesem Handbuch enthalten ist und was sie 
zunächt darin zu suchen und zu erwarten haben. Etwas Anderes 
wäre es freilich, zu untersuchen, was zunächst in ein solches 
Handbuch gebore, und wie der demnach aufzunehmende Stoff 
überhaupt zu behandeln sey, der Bestimmung und dem Zweck 
eines Lehr- oder Handbuchs geraafs , das seiner Natur nach dazu 
bestimmt seyn soll, in das Studium der alten Literatur einzufüh- 
ren , auf die Bedeutsamkeit desselben und den geistigen Gewinn, 
den es bei richtiger Behandlung gewährt , hinzuweisen , und so 
insbesondere den Pi ivatstudien und dem Privatfleifs nachzuhelfen 
oder ihn vielmehr anzuregen, ohne eine umfassende und erscho- 



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Sc h Illach riften. 



729 



pfende Darstellung der gesammten Wissenschaft, nach Stoff und 
Material , in den einzelnen Theilen derselben liefern zu wollen. 
Es scheint uns fast, als habe der Verf. beide Büchsichten mög- 
lichst vereinigen wollen, da er uns von jeder einzelnen Wissen- 
schaft eine möglichst gedrängte übersichtliche Zusammenstellung 
in Verarbeitung des mehr oder minder reich vorliegenden Stoffs 
zu geben sucht und damit ein reichhaltiges Detail aller einzelnen 
dazu gehörigen Notizen und Angaben , sowie eine überaus reiche 
Literatur, verbindet, die eben zum Handgebrauch und zum Nach- 
schlagen , um über einzelne Punkte in dieser Hinsicht eine mög- 
lichst vollständige Vorlage zu finden , sehr brauchbar und als eine 
recht dankenswerthe Gabe anzunehmen ist. Die Schwierigkeit 
einer solchen übersichtlichen und doch alles Detail zugleich um- 
fassenden Darstellung liegt ebensowohl in der Verarbeitung des 
oft so verschiedenartig aufgefaßten , noch nicht von festen Prin- 
eipien durchdrungenen und darnach behandelten und geordneten 
Stofls. in der gewaltigen, auf diese Weise scheinbar nicht mit 
einander zu vereinigenden Masse , und in den Mangel eines streng 
vorwaltenden, mit wissenschaftlicher Strenge überall consequent 
durchgeführten Princips. Der Verf. scheint sich deshalb immer 
bei der Ubersiebt der einzelnen Disciplinen einen Hauptführer 
ausgewählt zu haben , nach dessen Ansichten er im Allgemeinen 
den Stoff auffassen und das Detail im Einzelnen zu behandeln 
suchte , ohne damit doch auch andere , damit in Widerspruch 
stehende Ansichten ganzlich zu übergehen und wegzulassen; er 
wollte auch diesen, zumal wenn sie von Männern, die in der 
Wissenschaft durch Lehre und Ansehen sich eine Stimme erwor- 
ben, herrühren, die gebührende Stelle nicht versagen, sondern 
sie vielmehr mit dem Ganzen verarbeiten, was bei Disciplinen, 
wo die wissenschaftliche Begründung und die Principien , von 
denen Alles ausgehen und auf die der ganze weitere Bau aufge- 
führt werden soll, noch gar nicht so fest gestellt und scharf ab- 
gegränzt sind und daher oft die grellsten Gegensätze hervortre- 
ten, gewifs nichts Leichtes, ja in manchen Fällen wohl etwas 
Unmögliches und Unausführbares seyn dürfte. Man denke z. B. 
nur an die Mythologie und Symbolik , um von Anderem gar nicht 
zu reden. Doch Ref. will über diese allgemeineren Gesichts- 
punkte, die freilich die Behandlung des Einzelnen bestimmen 
müssen, nicht weiter sich einlassen; er ist überzeugt, dal's der 
Herr Verf. bei seiner Arbeit diese Schwierigkeiten selbst hinrei- 
chend gefühlt und mehr gefühlt haben wird, als er wohl am 
Anfang gedacht haben mochte; aber es würde ungerecht seyn, 
wenn Ref. den Reichthum des mühevoll in allen einzelnen Thei- 
len des Werkes zusammengebrachten Details sammt allen den dazu 
gehörigen einzelnen Notizen , die Genauigkeit und Sorgfalt in 
allen diesen einzelnen Angaben, sowie die beigefügte, überaus 
reichhaltige, bis auf die älteren Dissertationen sich erstreckende 
und nicht blos mit Hauptwerken oder Hauptausgaben sich be- 
gnügende Literatur verkennen oder nicht, mit der gebührenden 

< 



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SchuUchriften. 



« 



Anerkennung als eine Haapteigenschaft des Werkes hervorheben 
wollte. 

Um nun noch eine kurze Übersicht des Inhalts zu geben , 
so bemerken wir, dafs eine Einleitung auf den ersten 37 Sei. 
ten vorausgeht, welche die allgemeinen Begriffe feststellt, den 
Kreis der Wissenschaft, ihre Glänzen und Beziehungen bestimmt, 
die Quellen, Benennungen und Schicksale u. A. bespricht, dann 
eine Uebersicbt und Anordnung der einzelnen Theile zu vermit- 
teln sucht, die neuern Werke darüber verzeichnet und über den 
Werth der Alterthumsstudien und die verschiedenen deshalb ent- 
standenen Streitigkeiten sich verbreitet, indem sie zugleich die 
Vorzüge derselben geltend zu maehen, sowie den Standpunkt oder 
vielmehr den Hauptgesichtspunkt einer gerechten und wissenschaft- 
lichen Würdigung des Alterthums wie der darauf bezuglichen 
Studien in ihrem Verhältnifs zur Gegenwart und zu unserer Bil- 
dung festzustellen bemüht ist. Die darauf im Allgemeinen wie 
im Einzelnen sich beziehenden Schriften neuer Zeit sind uberall 
angeführt. 

Nun folgt der erste Theil , die Grundwissenschaften; 
der zweite befaßt die Real Wissenschaften. Unter jene rech- 
net der Verfasser: Grammatik, Hermeneutik und Kritik; 
unter diese: alte Geographie, Chronologie, politische 
Geschichte, Antiquitäten, Mythologie, Literaturge- 
schichte und Archäologie. Diese einzelnen Wissenschaften 
werden nun in eben so vielen einzelnen Abschnitten oder Unter- 
abtheilungen des Werkes ausführlich behandelt. So wird 2. B. 
in dem ersten Abschnitte (Grammatik) nicht blos W T esen und 
Umfang und Behandlung weise dieser Wissenschaft besprochen, 
sondern auch eine historische Übersicht dessen , was in Griechen- 
land wie in Rom dafür geschehen , beigefügt ; es werden die ein- 
zelnen Theile der Grammatik durchgangen und alle einzelnen in 
das Gebiet der griechischen Grammatik und deren einzelne Dia- 
lekte , selbst das Neutestamentliche griechisch, das Neugriechische 
u. s. w. mit eingeschlossen , gehörigen Schriften und Abhandlun- 
gen angeführt, was ebenso bei der lateinischen Sprache der Fall 
ist. Dafs alle Grammatiken, alle Wörterbücher nnd Glossarien 
über griechische wie über lateinische Sprache angeführt sind, 
versteht sich ohnehin. 

Ebenso ist bei den Abschnitten über Hermeneutik und über 
Kritik nicht blos das berücksichtigt, was zunächst zu dem Begriff 
und Umfang dieser Wissenschaften, ihrer Natur nach, gehört und 
erörtert werden mufs, sondern es ist auch die historische Seite 
behaudelt, und sonach von der Alexand tinischen und selbst von 
der Vor- und Nach-Alexandrinischen Kritik die Rede , es wird 
die Untersuchung über Palä'ograpbie u. a. der Art damit in Ver- 
bindung gebracht und ebenfalls eine möglichst vollständige Lite- 
ratur£damit verbunden. 

Der Abschnitt: alte Geographie, scheint fast in seiner größe- 
ren Ausdehnung von S. 16t — 34i bestimmt, ein Handbuch der 



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Schalichriften. 181 

alten Geographie, wie es wohl fast jedem Schuler in die Hand 
gegeben wird, etwa ein Buch, wie das von Billerbeck , oder von 
Horcher, ersetzen zu wollen, da es eine zwar sehr gedrängte, 
und meist in blofsen Namen und Ortsverzeichnissen bestehende 
Übersicht der gesammten alten Geographie d. h. der ganzen, den 
Alten bebannten Welt liefert, wo wir denn auch freilich die neue- 
ren Namen wohl gern den altern beigesetzt wünschten , was die 
Brauchbarkeit dieses Abschnittes gewifs erhöhen würde , wenn 
man anders überhaupt der Meinung ist, dafs eine solche, fast al- 
lein in der blofsen Angabe einzelner Namen , auch bei aller Voll- 
ständigkeit derselben bestehende Geographie oder vielmehr eine 
solche Übersicht, in ein solches Handbuch gehöre und nicht viel- 
mehr den einzelnen, besondern Schriften darüber zu überlassen 
sey, so dafs blos die allgemeinen Punkte mit den betreffenden 
Erörterungen und Nachweisungen des Einzelnen, in ein allgemei- 
nes, alle Zweige der Alterthums Wissenschaft umfassendes Werk 
gezogen werden dürften. 

So sucht nun auch der Verf. in gleicher Weise, nachdem er 
in dem Abschnitt Chronologie eine Zusammenstellung der ver- 
schiedenen in Griechenland und Born üblichen Bechnungsweisen 
u. dgl. gegeben, in den folgenden Abtheilungen vollständige Ab- 
risse von der Geschichte der alten Welt, von dem, was 
man unter dem Namen der griechischen und römischen 
Antiquitäten ge wohnlich begreift, sowie eine gedrängte Über- 
sicht der gesammten griechischen und römischen Litera- 
tur, und zwar nach den einzelnen Disciplinen geordnet, und mit 
einer reichen Zugabe literarhistorischer Notizen begleitet in An- 
fuhrung der namhaftesten Ausgaben oder anderer dahin einschlä- 
gigen Schriften zu geben ; sie reicht bei dem engen und sehr öko- 
nomischen Druck doch von S. 639 bis 887. Zwischen den Antiqui- 
täten und der Literaturgeschichte ist die My thol ogie eingeschal- 
tet, die man vielleicht lieber nach der Literaturgeschichte, also 
unmittelbar vor die damit innig zusammenhängende Archäolo- 
gie, die den Schlufs des Ganzen bildet, gestellt sehen mochte. 

Der Druck ist zwar sehr compendids eingerichtet, um auf 
den gegebenen Baum möglichst Vieles zusammenzudrängen, indefs 
nicht undeutlich. Das ausführliche Register, durch die Beschaf- 
fenheit des Werkes freilich not h wendig geworden , geht von 
S. 1067 bis 1 1 13. 



Prodicus oder Lehrbuch der Hodegetik, mit der nöthigen Literatur 
eu Forträgen für Gymnasiasten vor ihrem Abgänge auf Univtrsitä'en, 
von Dr. C. CA. Gr. II' ife. Leipzig, in der ilahn'achen Verlagsbuch- 
handlung. 1836. VI und 72 Ä. in gr. 8. 

Eine kleine, aber nützliche Schrift, die man wohl gern in 
den Händen Aller derer sehen mochte, die im Begriff sieben, 
die akademische Lauibahn anzutreten oder dazu sich vorzuberci- 



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Schulichriften. 



ten. Der Vf. nemlich sucht in dieser Schrift nicht blos im All- 
gemeinen mit dem Stoff und Material jeder einzelnen Wissen- 
schaft bekannt zu machen , sondern er verbindet damit auch die 
nffthigen Nachweisungen, wie der Zweck des Studiums am besten 
erreicht werden könne, und wie deshalb zur Erreichung des vor- 
gesteckten Ziels die Studien einzurichten seyen , kurz: welcher 
Plan zu befolgen , um den Zweck des Universitätslcbens zu er- 
reichen und die schönsten Jahre des Lebens auf eine zweck» 
raäTsige , erspriefsiiche und wahrhaft fruchtbringende Weise zu 
' verwenden. Daher ist diese Hodegetik in zwei 'I heile gethcilt , 
einen theoretischen und einen praktischen. Jener gibt eine Über- 
sicht der allgemeinen wie der besondern Wissenschaften nach ih- 
ren einzelnen Abtbeilungen und Unterabtheilungen, und mit An- 
schlufs einer reichhaltigen Literatur, die, mit kleiner Schrift ge- 
druckt , in die Noten eines jeden Paragraphs aufgenommen , durch 
die zweckmässige Auswahl und Vollständigkeit einen wesentlichen 
Vorzug dieses Buchleins bildet. Unter die allgemeinen Wissen- 
schaften rechnet der Verl.: Philologie, Geographie, Historie, 
Mathematik, Physik und Philosophie; welchen die sechs beson- 
deren Wissenschaften: pädagogische, politische, juristische, ca- 
meralistische, medicinische und theologische entsprechen sollen; 
er giebt Begriff, Inhalt und Umfang, sowie die Unterabtheilun- 
en einer jeden Wissenschaft an und läfst darauf einen für jede 
ieser einzelnen Disciplinen eingerichteten Studienpian folgen, aus 
dem dann auch leicht diejenigen, die vor ihrem Übertritt zum 
eigentlichen Fachstudium sich eine allgemein wissenschaftliche, 
vorbereitende Bildung erwerben wollen , einen passenden Plan 
sich zusammensetzen können. An diese, im zweiten oder prak- 
tischen Theile enthaltenen Angaben reihen sich dann noch andere 
Bemerkungen in gleicher Zweckmässigkeit : über die Benutzung 
des Unterrichts und der Öffentlichen Vorträge , über Privatstu- 
dien , sowie über die ganze Art und Weise der Einrichtung des 
akademischen Lebens, in Bezug auf sich und Andere. Wir kön- 
nen nur wünschen , dafs die ernsten Mahnungen des Vfs. in Be- 
zug auf das moralische, sittliche Verhalten, mit dem allein der 
Geist wahrer Wissenschaft verbunden ist, wohl beherzigt werden 
und überall Eingang finden mochten , um vor Verirrungen zu 
warnen , die in ihren nachtheiligen Folgen oft so zerstörend auf 
das ganze Leben einwirken. — Druck und Papier ist sehr be- 
friedigend. 

Leitfaden für den Unterricht in der alten Geographie, von Dr. Sam. 
Christ. Schirlitz, Oberlehrer am königl. Gymnasium in Wetzlar und 
Mitglied des thüring. sächs. Vereins für Erforschung de» vaterl. Alter- 
thums. Zweite verbesserte u. vermehrte, auch mit einem Register ver- 
sehene Auflage. Halle, Druck und f erlag von Kart Gruncrt. 1833. 
VI und 192 Seiten in gr. 8. 

Ein, wie uns scheint, für den Schüler zweckmäfsig einge- 
richtetes und nützliches Hülfebuch , das in dem vei hältniTsmäUig 



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Sthulachriften 



733 



geringen Raum eine möglichst vollständige Übersicht der allen 
Geographie zu geben sucht. Die Einrichtung dieses Muchs, wor- 
nach auf einen allgemeinen Theil , welcher die mathematische, 
physische und historische Geographie enthält , ein besonderer 
folgt , der die specielle Geographie der einreinen Welttheile und 
Länder enthält, ist in der zweiten Auflage, wie zu erwarten war, 
mit Recht beibehalten worden; im Einzelnen aber, namentlich 
was die sogenannte vergleichende Geographie betrifft , Manches 
verändert oder vielmehr berichtigt worden: wie denn die Ergeb- 
nisse wissenschaftlicher Forschungen auf dem Gebiete der alten 
Geographie oder die neuen Entdeckungen stets sorgfältig benutzt 
worden sind. Aus gleichem Grunde Können wir auch den nach- 
folgenden , durch den reinen und netten Stich wie durch Genauig- 
keit sich auszeichnenden Atlas als eine brauchbare Zugabe em- 
pfehlen : 

Schulatlas der alten Geographie, zunächst zum Gebrauche der geo- 
graph. Lehrbücher von Dr. S. Chr. Schirlitz, entworfen und gezeich' 
net von Georg Gr äff, Oberlehrer am königl. Gymnasium zu Wetzlar. 
Halle. Verlag von Karl Grunert. kl. Fol. 

Es sind in Allem fünfzehn Blätter darin enthalten; zuerst 
eine Welttafel des Homer und Erdansicht des Herodotus, dann 
folgt auf dem zweiten Blatte die Erdtafel des Eratosthenes und 
die Charte des Ptolemäus, dann Griechenland, Mösien nebst Ma- 
cedonien u. s. w., Sartnatien nebst Dacien, Holchis u. s. w., Ita- 
lien, Gallien nebst Britannien und Hibernien, Hispania , Germa- 
nia, Kleinasien mit den Nachbarländern: Armenien, Mesopota- 
mien und Syrien, Asia major, Palästina nebst Phonicien , Ägypten 
u. s. w., Africa , Imperium Augusti, von Blatt III — XIV. Das 
letzte Blatt giebt nette Pläne von Athen, Rom, Ilium und Sparta 
nebst den Umgebungen dieser Städte. 



Beiträge zur Vermittlung widerstrebender Ansichten über Verfassung und 
Verwaltung deutscher Gymnasien. Zeitschrift in zwanglosen Heften , 
herausgegeben von Friedr. Traug. Friedemann, der Theol. u. der 
Philos. Doctor, herz vgl. nass. Obcrschulrathe und Director des Landes- 
gymnasiums zu Weilburg, Mitgl. etc. etc. Drittes Heft. Weilburg 
1836. Druck und Verlag von L. E. Lanz VIII und 355 S. in gr. 8. 

Auch mit dem bcnondern Titel: 

Zeitschrift für Verfassung und Verwaltung deutscher Gymnasien, von 
Fr. Tr. Friedemann. Erstes Heft. Weilburg etc. 

Die beiden ersten Hefte sind Jahrgg. i834- S. 198. 199 die- 
ser Blätter bereits angezeigt worden. Mit diesem dritten Hefte, 
das auch unter einem besondern Titel erschienen ist, hat diese 
Zeitschrift grofsere Ausdehnung und einen umfassenderen Cha- 
rakter angenommen , dadurch aber an Reichthum und Mannigfal- 
tigkeit des Inhalts vielfach gewonnen. Wir wollen, was Inhalt 



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734 



Schulschriften. 



und Umfang, sowie was die Bestimmung dieser periodischen Schrift 
betrifft, nicht wiederholen, was theils schon in der frühem An- 
zeige, theils auch in der auf dem Umschlage dieses dritten, 
oder wenn man will, ersten Heftes abgedruckten Ankündigung 
über die Erweiterung des ursprünglichen Planes bemerkt ist, son- 
dem lieber auf den Inhalt dieses Bandes selber verweisen, der 
Alles, was auf höhere Gymnasialbildung, auf Verwaltung und 
Verfassung deutscher Gymnasien sich bezieht, in seinen Kreis ge- 
zogen hat und damit zugleich die gesammte in diesen Kreis ein- 
schlägige Literatur verbindet, um so gewissermafsen »einen all- 
gemeinen Sprechsaal über Verfassung und Verwaltung deutscher 
Gymnasien« zu eröffnen. Es sind demnach nicht blos mehr oder 
minder ausfuhrliche theoretische und historische Aufsätze darin 
enthalten, Schulpläne, Verordnungen über das gesammte Schul- 
wesen u. dgl. m., statistische Zusammenstellungen u. s. w. oder 
einzelne Betracht ungen und Bemerkungen , wie wir sie aus der 
Feder des wohlerfahrenen und so vielseitig gebildeten Herausge- 
bers so gerne annehmen , sondern auch selbst kürzere Beurtei- 
lungen oder Hinweisungen auf Schriften, die in das weite Gebiet 
der höheren geistigen Bildung nach ihren verschiedenen Seiten 
und Bichtungen hin einschlagen , mit besonderer Rücksicht auf 
ihre Nützlichkeit oder Brauchbarkeit für die Bedürfnisse der 
Gymnasien. 

In der ersten Abtheilung sind Abhandlungen und andere grö* 
fsere Aufsätze vereinigt. Wir erhalten hier genaue und mit mehr 
oder minder ausführlichen , wichtigen Bemerkungen begleitete 
Abdrücke der Verordnungen, oder vielmehr der Entwürfe und 
Pläne, welche eine neue vei besserte Einrichtung der Gymnasien 
in Baden und Hessen beabsichtigen, dann die in Preufsen und 
Braunschweig erlassenen Reglements über die Abiturientenprüfun- 
gen , interessante statistische Übersichten und Zusammenstellungen 
über den Stand der Gymnasien in der preufsischen Monarchie und 
in Baiern. Daran schliefen sich einige rein wissenschaftliche Auf- 
sätze: Über die jetzige Aussprache der griechischen 
Sprache von Dr. Dieffenbach; dann einige interessante Be- 
merkungen des Herausgebers: über die antike Melodie zu 
sapphischen Strophen des Horatius, zumal da diese Vers- 
art auch in den christlichen Hymnen , neben den vierfüfsigen 
Jamben, vorkommt; desgleichen von Hofr. Andre: über hi- 
storisch - musikalische Kritik der Choralmelodien der 
christlichen Kirchen. 

In die andere Abtheilung fällt nun eine Übersicht der neue* 
sten Literatur aus dem oben bezeichneten Felde in ihren einzel- 
nen Erscheinungen, die hier in zum Theil ausführlichen, meist 
aber kürzere Beurtheilungen und Charakteristiken aufgeführt sind. 
So werden zuerst zwölf die Verfassung und Verwaltung der Gym- 
nasien betreffende Schriften durchgangen, von einigen derselben 
aber, z. B. von Schleiermachers Entwurf eines Lehrplans für 
Gymnasien, Tittmanns Schrift über die Bestimmung des Gelehr- 



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I 



Scliulschriftcn 735 

ten und seine Bildung durch Schule und Universität, ausführli- 
chere und durch ihren reichen Inhalt höchst wichtige Beurt hei- 
langen vom Herausgeber selbst gegeben, die vor Allem in einer 
Zeit, die sich noch vielfach mit besserer Gestaltung des höheren 
Unterrichtswesens beschäftigt, berücksichtigt und wohl beachtet 
zu werden verdienen. Daran reihen sich ähnliche , aber meist 
kürzere Beurtheilungen von zehn Schuften über Philosophie Und 
Religion , von mehr als zwanzig in das Gebiet der classischen 
Alterthumskunde einschlägigen Schriften, woran sich noch eine 
Reihe anderer Schulschritten über Geographie Und Geschichte, 
über neuere Sprachen, über Hodegetik und Parä'netik anschliefst. 
Eine dritte Abtheilung enthält Vermischtes, d. h. einzelne Bemer- 
kungen, Berichtigungen, Anfragen und Rügen, auch hier nicht 
ohne mannigfaches Interesse. Eine Kritik dieser Kritiken oder 
Bemerkungen zu liefern, wird man vom Ref. nicht erwarten, so 
angenehm und belehrend für ihn auch diese Durchsicht, nament- 
lich der vom Herausgeber selbst abgefafsten Kritiken und Auf- 
sätze, in mehr als einer Hinsicht war, und in gleichem Grade es 
auch für Andere seyn wird. 



Fr. Tr. Friedemanni, theolog. et philo*. Doet., Seren. Due. Saitov. in 
republ. reg. a consil. schal, euper. , Gymn. Weilburg. Direct. etc. ete. , 
Oratione* hatinae de ncholi» et eccleiiis regundis, quae spar- 
sae ferebantur , junctim editae. FaBticulus primu». Addita est cffigie* 
»criptoris. H'eilburgi, 1837. Sumtibu* et typie L. Ae. Lanzii. X und 
163 .V. in gr. 8. 

Der Herr Vf. hat in diesem Bande eine Reihe von Aufsätzen 
oder vielmehr Gelegenheitsschriften und Reden aus seiner frühe- 
ren amtlichen Thätigkeit zu einem Ganzen vereinigt, das nun ei- 
nem grösseren Kreise gebildeter Schulmänner und anderer Ge- 
lehrten zugänglicher geworden und dabei auch unter der unab- 
lässig nachbessernden Hand des Verfs., zunächst in den einer je- 
den Rede beigefügten Noten, mit neuen belehrenden und ver- 
vollständigenden Zusätzen bereichert worden ist, so dafs wir dem 
Verf. uns in jeder Hinsicht doppelt für diese Gabe verpflichtet 
fühlen, die sowohl in Absicht auf die Form wie auf den Inhalt 
gleich anziehend und wichtig ist. Was zuvorderst die Form be- 
trifft., so wird man gern und mit Vergnügen bei dem classischen 
und acht romischen Ausdruck, in welchem Alles gehalten ist, 
verweilen, zumal da bei aller Leichtigkeit und Gewandtheit der 
Darstellung, selbst bei dem Ausdruck neuerer Ideen und Gegen- 
stände , doch nirgends der der romischen Sprache eigene Ernst 
und die eigentümliche Würde veimifst wird; weshalb wir auch 
die liectüre dieser Schriften insbesondere jungen Leuten anem- 
fehlen mochten ; empfehlen wir ihnen doch , und was die Form 
etrifft , auch nicht mit Unrecht, Reden eines Muretus, Manutius, 
Perpinianus u. A. und suchen sie in erneuerten Abdrücken zu 



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736 



SrhuUchriTten. 



verbreiten, während diese Reden doch öfters, was ihren Inhalt 
betrifft, sehr schwach und mittelmhTsig zu nennen sind. Gerade 
in dieser Beziehung enthalten aber diese Reden, sowohl in dem 
Texte selber als in den beigefügten, erläuternden Anmerkungen, 
so viel Nutzliches und Ersprießliches , dnfs hier mit der schönen, 
nachahmungswiirdigcn Form auch der Reichthum des Inhalts sich 
verbindet. Auf Einzelnes in dem schon früher bekannten Texte 
oder in den mit neuen Zusätzen überall erweiterten Anmerkungen 
aufmerksam zu machen, liegt ausser dem Bereich dieser Anzeige, 
die blos den Zweck hat, auf eine Erscheinung aufmerksam zu machen, 
von der wir mannichfachen Nutzen und mannichfache Belehrung Al- 
len denen versprechen können, welche sich naher mit dem Inhalt 
dieses Bandes befreunden wollen. Wir finden in denselben fol- 
gende Stücke aufgenommen: 1. Oratio de ludis liier ariis regundis, 
ein Vortrag, gehalten bei Übernahme des Rectorats zu Witten- 
berg im Jahr 1820, begleitet mit Anmerkungen, die von S. 19 
— 36 reichen. II. Disputalio de summa christianae doctrinae atque 
Talionis humanae in. rebus necessariis ei immulabilibus consensione, 
optima diversarum partium evangelicarum conciliatricc , beim jähr- 
lichen Reformationsftsle zu Wittenberg 1821 geschrieben und 
ebenfalls mit ausfühi liehen , reichhaltigen Anmerkungen (von S. 
nj — 96) und einer neuen Vorrede (S. 3y — 48) ausgestattet. 
III. Disscrtatio de Phil. Melanthone , praeeipuo doctrinae evangelicac 
conditore, ebenfalls mit Anmerkungen (S. 111 — »24)« IV. Phil. 
Melanthonislhcolof>ica instilutio in epistolam Pauli ad Romanos; und 
daran schließen sich V. Inscriptiones sepulcrorum IVilienbergen- 
sium insigniorum, zum Theil schon früher bekannt gemacht , zum 
Theil hier zum erstenmalc abgedruckt. Den Beschlufs macht 
VI. eine bei Übernahme des Rectorats am Catharineum zu Braun- 
schweig im Jahr 1824 gehaltene Rede. 

Das wohlgetroftene Bild des Verfassers ziert diese auch von 
Seiten der äusseren Ausstattung sich empfehlende Ausgabe. Mit 
vielem Interesse hat Ref. die so anziehend geschriebene Vorrede 
gelesen. 

Chr. Bahr. 



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N\ 47. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Sanchuniathoni8 historiarum Phoenieiae Libros IX graece versus a Philonc 
Byblio edidit latinaque verstörte donavit F. H'agenfcld.' Bremae 1837. 
8. 205 S. 

Die phonizische Geschichte des Sanchu niathon soll, nach 
früheren Annahmen, von Philo ins Griechische übersetzt, gro- 
fsentheils verloren gewesen, jetzt aber wieder ganz aufgefunden 
worden seyn. Vgl. meine Ree. im Augustheft i836. Die Kritiker 
haben zwei Fragen wohl zu unterscheiden. Die erste ist : Hat 
Philo aus Byblus wirklich eine phünikische Geschichte übersetzt, 
oder nur erdichtet? Daron ist die zweite Frage noch immer sehr 
verschieden. Es fragt sich nämlich : Ist das jetzt bekanntgemachte 
wenigstens eben das, was Philo übersetzt zu haben behauptete? 
oder kommt hier zu einer alten Täuschung der Versuch einer 
neuen Täuschung hinzu , so dafs das jetzt edirte nur ein unter- 
geschobenes Machwerk ist? 

Unsere Leser fragen ohne Zweifel zuvörderst: ob das, was 
die Geschiebte der Juden betrifft {'lovSalot werden sie im Texte 
genannt) irgend für uns merkwürdige Aufschlüsse gewähre? 

Einiges von Andeutung des Auszugs aus Ägypten giebt im 
dritten Buch das Cap. i5 : 

»Nach dem Tode des Taaut und seiner Nachkommen (?) 
wurden die Agyptier , da sie gegen die am Meere wohnenden 
Hirten kriegten, von diesen besiegt. Sie il lichteten sich in eine 
grofse Stadt (?), wo sie von den Hirten belagert wurden. In 
dieser Bedrängnifs erfand ein Prieser die Sichelwagen (?), 
deren der Konig sogleich hundert anfertigen lief«, mit ihnen in 
Kurzem die Hirten besiegte und zurückwarf und die ganze Land- 
schaft bis auf eine am Meere gelegene Burg (?) eroberte. Hier- 
auf wanderten die Hirten aus und versetzten sich meist in die 
bisher unbewohnten Gegenden Arabiens. Ihre Anführer waren 
Omlakus [Amalek], Idumas [Edom], Amon und Mobos 
[Moab] , nach denen die Stämme benannt wurden. Zuletzt wan- 
derten auch Judas und Somyro (?) aus. Die Juden und So-, 
myräer nahmen die Gegend von Idumäa in Besitz.« 

Wie nichtssagend! Wie sichtbar alles Bestimmtere, alle 
Ortsnamen, vermeidend! Mehr sollte ein tyrischer Geschieht- 
XXX. Jabrg. 8. Heft 47 



138 Saocbuniath. bUt Poen. ed. Wagenfeld. 

Sammler und Archi?ar nach Salomos Zeit nicht zu erfragen ge- 
funden haben? Andere Bemerkungen sind: a) Kaum läfst uns 
dieses Gemisch von Erzählung an die bekannte geschichtliche 
Sage von den Hyksos oder Hirtenkonigen denken, die über 
Sues (um 1700) in Ägypten eingedrungen und bis Memphis 
gekommen, dann aber vom Könige von Theben, Tethraosis, 
vertrieben worden seyn sollen. — b) Nach dem Pentateuch durf- 
ten die Israeliten gerade Idumaa nicht in Besitz nehmen. Sie 
mufsten es umgehen, c) Saniarien wurde erst nach B. d. Kon- 
I, 16. vom Hßnig Amri erbaut und nach dem frühem Besitzer 
des Bergs, Semer, benannt. Nur eine viel spätere Zeit nannte 
das Volk des Reiches Israels Sa marier, als von den Joden ge- 
trennt. Bis zur Trennung unter Behabeam hiefs die Nation nicht 
Judaisch , sondern Juda und Israel, d) Wegen der Streitwa- 
gen macht Heeren in den G5ttinger gel. Anz. die Bemerkung, 
dafs die Agyptier Sichelwagen, die nur in Asien zu Hause 
waren (Diodor. II, 5. Arrian. III, 2.), nicht hatten, sondern 
nur Kriegswagen, von denen herab gestritten ward (1 Mos. 
1^, 7. Solche sind auch auf den grofsen Reliefs bei Rosellini.) 
e) Griechische und lateinische Geschichtschreiber geben gewöhn- 
lich den Aussatz als des Auszugs aus Ägypten Ursache an. Ju- \ 
Stin. 36, 2. Diodor. Sicul. 4o, 34. Tacit. histor. 5, 3. Abwei- 
chend Strabo 16, 2. 

Ein zweites Stück finden wir im Kap. 9. des siebenten Buchs. 

»Der Konig Joram von Tyrus, welchen die Tyrier Hier- 
kas nennen [biblisch: Hieram] versprach dem Juden Irenios: 
wenn er ihm einen Hafen am äthiopischen Meere geben wollte, 
ihm in Erbauung einer königlichen Burg zu helfen , und Cedern, 
Tannen und Quadern herbeizuschaffen. Irenius gab dem Joram 
die Stadt und den Hafen Ilotha, wo Joram 10 Schiffe bauen 
und die Küsten befahren liefs.« 

König Irenius ist offenbar Salomo [riöbtf 33 E*(»i>"°4 
soll den Friedlichen bedeuten? Dem Wort nach ist Schelomoh 
vielmehr: Heil Ihm!] Auch Ilotha finden wir. Salomo Uefa 
Schiffe bauen in »Ezion-Geber, das bei Eloth liegt, am Ufer 
des Schilfmeeres« (1 Kon. 9, 26 f.), und Hieram sandte seine Schif- 
fer mit Salomos Knechten. Die weitere Erzählung bei diesem 
Senchuntathon bemerkt nichts von judäischer Schiffsbemannung. 
* Nur dafs unter den Gestorbenen auch ein Jerusalemite gewesen 
sey, findet man im Kap. 12. gelcgcnhcitlich. 



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Sanchtiniath. hitt. Pboen. ed. Wagenfeld. 789 

Im sechsten Buche beschreibt Kap. 6 ff. einige Kriege der 
Jaden mit Onacynern [0*j?JlM1 Josua n, 21.]. 

»In dieser Zeit verjagte Dotrepes den Kalylops, den 
König derOnakyrer, und bemächtigte sich der Herrschaft. 
Kaljlops aber floh zu den Juden nach Idumäa (?) und blieb 
da lange Zeit, weshalb die Onakyner und Juden Streit bekamen. 
Bald darauf, als die jüdischen Hirten ihre Heerden auf die Wei- 
den mit Salzquellen trieben, überHelen selbige die Onakyner 
und Omlakyner [Amalekiter] des Nachts, todteten die Hirten 
und trieben die Heerden in ihre Städte. Übermüthig wegen die- 
ses Erfolges wollte Dotrepes sich ganz Idumäa unterwerfen, 
und sandte den Ismylimas [Ischmael?] mit einem Heere, das mit 
Hilfe der Omlakyner über die Juden siegte und mit grofser Beute 
zurückkehrte. Die Onakyner aber verfolgten die Juden. Diese 
erneuerten am folgenden Tage die Schlacht, todteten viele Feinde 
und fingen den Ismylimas lebendig. Die Feldherren der Juden 
liefsen diesen herbeiführen, reichten ihm frischen Hase und Kfeien- 
brod dar, und böten dem Unbekleideten ein Gewand. Er aber 
sagte, dafs er solcher Speise und Kleidung nicht gewohnt sey; 
nur Purpurkleider habe er bisher getragen. Da sagte der Älteste 
unter den Führern: »Er tadelt unser Brod, er schilt unsere 
Kleider. Was aber zu nehmen bist du denn hergekommen?« 
Als er dies gesagt hatte, führte man den Ismylimas zum Tode.« 
[Dotrepes und Kalylops sind Namen, welche keine orienta- 1 
lische Bildung haben!] 

»Nach diesem führten die Juden und Somyraer lange 
Krieg mit den Onakynern , Omlakynern und Keratern, konnten 
sich aber der Burgen der Kerater nicht bemächtigen. Die 
Somyraer brachen in Batanea ein, welche Landschaft den Bai- 
s am erzeugt.« [Wir bemerken, dafs i Sam. 3o, 14. Cereti 
erscheinen als Bewohner einer philistäischen Gegend.] 

• 

Kap. 7. »Die Juden hatten sich also der Gegend der Ona- 
liyner bemächtigt, das Land der Mobäa, der Omlakyner und Ba- 
tanäer besafsen die Somyraer, welche viel Hornvieh halten. Die 
Batanäer, die danach gelüsteten, schickten Gesandte zu den Mo- 
bilem , die Somyraer gemeinschaftlich zu vertreiben und zu be- 
v rauben. Sie kamen überein, dafs die Batanäer wenn die Somy- 
raer in Batania auf Heereszug wären , Holzstücke in den Jordan 
würfen, um ihnen [den Moabiten?] anzuzeigen, dafs die Somyraer 

entlernt waren und um die Mobäer herbeizurufen, damit sie ver- 

« 



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740 SanHioniath. bist Phoen. cd. Wagenfeld. 

einigt die. zurückgebliebenen Somyra'er desto leichter besiegen 
konnten. Als daher einst die Somyräer entfernt waren, sahen die 
Mobiler die Holzstucke im Flusse, kamen aufs schnellsc zur Hülfe . 
der Batanäer, t öd toten die zurückgebliebenen Somyra'er, und trie- 
ben grofse Heerden von Rindvieh, Schaafen und Ziegen -davon. 
Als die Somyräer im Mobäischen Lande [vielmehr die in Basan 
eingefallenen mufsten dies seyn!] den Unfall ihrer Bruder borten, 
flohen sie zuerst ohne alle Ordnung*). Bald darauf aber 
zurückkehrend besiegten sie die Mobäer, tödteten alle, konnten 
aber das Gebirge der Batanäer nicht in ihre Gewalt bekommen. 
Den Salzsee umwohnten daher die Somyra'er nach der Morgen- 
seite, die Juden aber nach Abend. Späterbin besiegten sie auch 
' die kleinen Honige der Harnäer (?) und die Fürsten des Binnen- 
landes, und unterwarfen sich diesen ganzen Landstiich. Von den 
am Meere gelegenen Städten aber bemächtigten sie sich keiner.« 

»Jetzt aber stellten sich ihnen die Phönizier entgegen, wes- 
halb sie von ihren Einfallen abstanden.« 

Dies ist alles, was ein tyrischer Archivar aus der Zeit, wo 
Tyrus noch Konige hatte, von den Nachbarstaaten Juda und Israel 
gewufst haben soll? Der Erdichter ist scheu vor Fehlgriffen. 
Dafür giebt er nichts als leere Worte von angeblichen Kriegen 
der Israeliten mit den Umwohnenden, die nichts Bestimmtes an- 
deuten. Ist aber eben dies nicht zugleich eine grofse Unklugheit? 

Nur fragt man wieder mit Erstaunen: Woher und wozu die 
inhaltlose Fiction? Wer mochte sich die Muhe geben, eine so 
zwecklose Erdichtung zu fabriziren? Nach einer vor lauft gen 
Beortheilung von Herrn Dr. Gesenius im April 1837. No. 21. des 
Intelligenzblatts der Allg. Lit. Ztg. ist sehr wahrscheinlich ein Anti- 
quitätenhändler aus Belgien, von jüdischer Abkunft, eine Haupt- 
person in diesem Spiele. Mein Argwohn ist fortdauernd, dafs Vieles 
von makkabäischen und ähnlichen bewunderten Seltenheiten von 
ähnlicher Abkunft stamme! — Die im Buch IX. Kap. 2 — 8 er- 
zählten Possen und Thor hei ten von Jünglingen aus einem Sidoni- 
sehen Institut — wie hätte sie Sanchuniathon oder Philo aufneh- 
men mögen ? Füllte etwa der Erdichter seine letzten Blätter um 
die Zeit, wo man der akademischen Jugend allerlei Unfug an- 
dichtete? 

« 

Nach Eusebius (s. auch Greils Abdruck der Fragmenta San- 
chuniathonis. Lips. 1826. 8. p. 8.) war es dem Philo BybI. darum 

*) Der Vf. hat oft die sonderbarste Gräcität. Hier steht ew ou3ivi xo*/um,. 



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Sanchuniiilli liitt. Pliocn. ed. Wagcnfeld. 741 

zu ihun , zu behaupten, dafs die meisten Götter Menschen ge- 
wesen seyen, die man wegen wohlfhätiger Erfindungen oder Un- 
ternehmungen vergöttert habe. Allein auch für diese Behaup- 
tung findet sich in dem von Herrn Wagenfeld gegebenen Texte 
nichts, als die einzige Vergötterung des Tyriers, der bis Cadix 
gekommen sey und dann als Malkert Götterehre erhalten habe. 
Der Erdicbter verstund demnach die Basis nicht, auf die er wei- 
ter zu bauen wagte. 

Mir scheint die Mythe von MeXtxafäot im Buch II. Kap. 9. 
und dem folg. schlecht verarbeitet. In der ächten phonizischen 
Mythologie ist unter diesem Namen zweierlei zusammengemischt. 

Die Tyrier nannten zuerst den Schutzgott ihrer Stadt TJ^Ü 

JPP Malckart. Die Weltdurch Wanderungen, welche die meer- 

beschiffende Nation ihm, als dem sie begluckenden und gleichsam 
begleitenden vaterländischen Hauptgott zuschrieben, veranlagten 
die Griechen, diesen tyrischen Handelsgott mit ihrem Herakles 
zu identificiren. Dies konnte um so eher geschehen , weil Char- 

cul, ^"O^n 1 = rüstig, behend, ein semitisch • phönizischer 

Beiname des Malchart seyn und so in den tyrischen Hymnen auf 
den Malckart gehört werden konnte. Später, je mehr der phö- 
nizische und karthagische Handel wie Welthandel sich aus- 
breitete, erhöhte der Nationalstolz den Stadtgott in einen Welt- 
gott S^IK !T^22 Malc-arta = König der Erde. Bekannt- 

-r ; — I ; — 

lieh ha} das 2£ Zade oft eine dem t sich nähernde Aussprache. 
So ist z. B. Tv<f>&v ss ]1BS Norden. Der Nordwind = ^£3 
]12X ist für Ägypten schädlich. 



So eben erhalte ich noch , zur Vervollständigung der Schrif- 
ten über den zum Problem gewordenen Sanchuniathon , auch eine 
deutsche Übersetzung : 



') Den Südwind nennt der Wagenfeldttche Sanchuniathon o?ßic{. Ver- 
mathlich nach dem hebr. Wort Din HiUe? Der Westwind wird 



p. 10 Vayjpei benannt.* Etwa = DTH mild. ^*sLp lenia ven 
tu«. Castcll.'Polvgl. fol 8568. nr. 38. 



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742 Sanchuniarhont Geschichte, über» von Cln.aen. 

Sanchuniathona Phonizitche Geschichte. Nach der griechischen 
Bearbeitung des Philo von Kyblos ins Deutsche übersetzt. Mit einer 
Vorrede. Lübeck 1837, bei von Kohden. XVI und 98 S. in 8. 

i 

Die Vorrede ist unterzeichnet aus Lübeck von J. Classen, 
Dr. Sie erzählt den bisherigen Verlauf der sonderbaren Erschei- 
nung. (Unsere Ree. im Augost i83ö scheint dem Vf. noch nicht 
bekannt gewesen zu sejn.) S. V macht aufmerksam auf Feh lei- 
der Wagenfeldischen Ausgabe, welche weder absichtlich 
gemacht, noch zufällig gelassen scheinen, wie S. 7a 
Zeile 10 ini^co^voai für tnixitprioai 9 gleich darauf eo*vXb>oav 
tfCr «ffxt>X«vaav u. dgl. m. Unbekannt ist mir geblieben, was S. 
VIII angibt, »dafs ein gelehrter Aufsatz von Prof. Petersen im 
Hamburger Corresp. 1837. Nr. 17. scharfsinnig eine bestimmte 
Aussicht angedeutet habe, dafs die Handschrift auf eine andere, 
als die von Herrn Wagenfeld erzählte Weise ihm zugekommen 
seyn könne.« (Dafs sich beim Nachfragen in Portugall nichts 
ergab, ist bei den dortigen Verwirrungen leicht zu begreifen. 
Nor dafs das als Ort des Funds angegebene Kloster Sta Maria 
de Merinhao, nahe bei Oporto, gar nicht existire, ist frei- 
lich sehr bedenklich. Ebenso die angenommene Leichtigkeit, mit 
welcher Wagenfeld in der kurzen Praefatro zur griechisch-latein. 
Ausgabe über alle gegen ihn erhobene öffentliche Fragen weg- 
tohreitet.) Sehr verrechnet mufs sich dieser Editor haben, wie 
schon eine Guttingische Ree. bemerkt hat. Nach Ws Angabe an 
Herrn Director Grotefend hatte seine Handschrift 127 Quartsei- 
ten mit je 25 bis 35 Zeilen. Im Durchschnitt war also ein grieeb. 
Text von etwa 38oo Zeilen in der Art zu erwarten , wie das dem 
Auszug angehängte Facsimile sie bestimmt bezeichnet. Nach 
dieser hätten im Druck etwa 5700 Zeilen erscheinen müssen. 
Der endlich gegebene griechische Text aber hat nur deren 2836. 
(Schien es dem Erfinder nicht mehr der Mühe werth, mehr griech. 
Material zu componiren ? So gehaltlos, wie das gegebene ist, 
hatte er, wenn ihm die Fabrikation der Gräcität nicht allzu be- 
schwerlich war, fast ins Unendliche fort erdichten können.) Ein 
grofser Unterschied der Gräcität in vielen neu gegebenen .Stellen 
gegen die l>ei Eusebius aufbewahrte des Philo Bybl. ist unver- 
kennbar. 

Schätzbar ist S. XVI des Herrn Übersetzers Bemerkung , dafs 
nach der Präparar. Evang. L. X. c. XL p. i83. Porphyr ius 
und Eusebius aus den 9 Buchern, welche sie als Phi Ionische 
Übersetzung des Sanchuniathon ?or sich hatten, annahmen: San- 



% 



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« 

Sanchuniathona Geschichte, über«, von Clauen. 143 

ebuniathon habe zur Zeit der Semiramis gerschrieben. AU 
Worte des Porphyrius giebt Eusebius den Satz: S^^möop 
Je, 6 xara tr;p tcöv (puivixov SiaXtKxov (ptXaXr^tjq naaav xr t v 
Ttukouav laxopiav ex tgbv xaru noXiv vnopvTmaxav xa* tov ev 

fAf<9$ yf'y 0 ** T3 ?S 'Aoavptav ßaat\L3o$. VYeon diese Behauptung 
des Porpbyrius , dafs der Sanchoniatbon, welcher wahrheitliebend *) 
die alte Geschichte in phönizischer Sprache gesammelt und ge- 
schrieben habe, ein Zeitgenosse der assyrischen Semiramis gewesen 
sey, mit dem Inhalt dieser Schrift selbst in offenbarem Widerspruch 
gestanden hätte, so wurde Eusebius, der dem Porphyrius gern 
heftig widerspricht, dies ohne Zweifel hervorgehoben haben. 
Vielmehr aber la'fst sich Eusebius weitläufig auf eine Berechnung 
ein, wie frühe demnach Sanchoniathon gelebt haben müfste. Hätte 
Porphyrius und Eusebius das vor sich gehabt, was uns jetzt in 
dem 2ten bis oten Buch als Sanchoniathonisch vorgelegt wird, 
so hätten beide klar gefunden, dafs dieser angebliche Sanchoniathon , 
von Salomo als Irenius erzähle. Hat doch Herr Wagenfeld in 
dem als Vorkost i836 gegebenen Auszuge S. 8 sehr leicht nach- 
gewiesen, dafs der durch ihn uns gegebene Sanchoniathon nach 
denen in ihm enthaltenen Anzeigen etwa um die Mitte des sechs- 
ten Jahrhunderts vor Christus geschrieben habe. Folgt also hier- 
aus nicht nothwendig, dafs — das uns jetzt vorgelegte nicht eben 
das ist-, was Porphyr, und Eusebius als Sanchoniathonisch lasen 
und worin sie nichts fanden , was die Behauptung : Sancb. sey ein 
Zeitgenosse der assyr. Semiramis gewesen, offenbar zernichtet 
hätte!? 

Mit diesem von Herrn Dr. Classen angedeuteten Entschei- 
dungsgrund verbinde ich das , worauf ich bereits aufmerksam 
machte, dafs nämlich nach Eusebius Philo aus seinen Sancho- 
niathonischen neun Buchern vornehmlich die Entstehung fieler 
Götter aus Vergötterung heroisch wohlthätiger Menschen nachzu- 
weisen beabsichtigte , dafs aber in dem allem , was wir nach Hrn. 
Wagenfeld für Philonische Übersetzung Sanchoniathons annehmen 
sollen , nur ein einziges Beispiel von Vergötterung eines mensch- 

*) Man dachte sich nach tyka^Sv^ ein Komma and verstund dann den 
Sata so, wie wenn Porpbyrius (der als Syrer Malchus hief«) die 
Kunde gäbe, data der Name Sanchoniathon einen Wahrbeits- 
freund bedeute. Dazu aber wäre in den semitischen Dialekten 
kein Grund, und die gajue Behauptung beruht auf — unrichtiger 
Internunction. 



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i 

144 Sanchuniathons Geschichte , über«, von Classcn. 

liehen Heros (des Malchart) vorkömmt. Folgt also nicht aus die- 
sen beiden Indicien noth wendig, dafs das von WagenFeld bekannt 
gemachte, mag dessen Entstehung noch so hartnäckig verhüllt 
werden, durchaus nicht zu dem gehört haben bann, woraus Eu- 
sebius Fragmente der ältesten phünizischen Theogonie and Men- 
schengeschichte als sanchoniathonisch genommen hat. Wer nun 
irgend Der seyn mag, welcher zu dem, was Eusebius conservirte, 
die Wagenfeldischen 8 Bücher hinzuzuthun versuchte; soviel ist 
War, dafs er uns einen Inhalt geben will, der weder nach der 
Chronologie, noch nach dem Zweck, die Gotter zu vermensch- 
lichen, sich an das anschliefst, was einst für Porphyrius und Eu- 
sebius philo - sanchoniathonisch gewesen ist. Auch ist zwischen 
dem, was Wagenfeld als den zweiten libellus giebt , und dem, 
was Eusebius als den ersten aufbewahrt hat, Kein Realzusammen- 
hang. 

Soweit, was die noch immer räthselhafte Entstehungsart des 
ebenso sonderbaren als unfruchtbaren Textes betrifft. — Hrn. Dr. 
Classens Übersetzung ist in dem, was aus Eusebius genommen 
ist, oft richtiger als die Wagenfcldische. Doch hätte auch sie 
hie und da wortgetreuer seyn sollen. Z. B. sagt bald anfangs 
der Text : Sanch. sey glücklicher Weise zusammengetroffen mit 
Töts ano top advt&v kv^i^etaev ajioxorepois Auovvccdp *) 
iii'^iuaji üYjXEiiitvQii 9 d dij nvx rv 7iaat yvoipipa. Cl. uber- 
setzt das letztere: »heilige Schriften, welche in der freilich 
nicht jedem verständlichen Sprache der Amuneer ab- 
gefafst waren. Deutsche Leser aber dürfen hieraus nicht folgern, 
dafs der griechische Text den Amuneern eine eigene Sprache 
zuschreibe. Dieser redet von verborgen gehaltenen Schriften = 
anoxpv<p 01$ , welche in den Geheimortern (der Tempel) gefun- 
den, auch aus der Tempelschrift der Amonsdiener bestan- 
den.* — S. 3 wird dem Philo Bybl. in den Mund gelegt , dafs er 
über die Widersprüche (Abweichungen) der Griechen (von der 
Geschichte der Orientalen) *in seinen drei Büchern seltsamer 
Geschichten besonder gehandelt habe. Der Text sagt viel- . 

*) In der OreUischen Aasgabe und Bearbeitung der Fragment a San- 
choniathnnift (Li)*«. 1826) wird, bei diesen Amuncrn p. 7 noch an 
D^wH (LXX r»fAiv>] t Hieron. Jana) als an Tera pel schri ft gedacht. 
Ohne Zweifel aber sollen die 'A/*/aouv*7;, welche Taants Schriften 
gehabt haben seilen , als Priester des ägypt. Gottes Aroon ge- 
dacht werden, welche Gchcimbüchcr gehobt haben sollen, die aus 
ihrer besondern Buchstabenschrift zusammengesetzt gewesen sejen. 



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Sanchuniathons Geschichte, übert. ron Clauen. 145 

■ 

mehr: über welche Nichtübereinstimmung mir drei Bucher, so 
die Inschrift Ua^ado^oq loxopia haben, lieb und schätzbar ge- 
worden sind = Tif^t qq {diatixavtaq) fiot T ( ua netpi'koxL privat 
jiißXia xr}v miyqacpr.v t%ovxa* Hapad6%ov lu-ro^uct^. Sehr un- 
sicher wäre es demnach, wenn man, wie gewohnlich, den Philo 
selbst als Verf. dieser Bucher, die für ihn nur m^k'kaxt^n 
Stvxa waren, in den Literärgescbichten beibehalten wollte. 

Schade, dafs Hr. Dr. Classen seiner Übersetzung nicht durch 
philologische und historische Anmerkungen einen eigenen Werth 
gegeben hat. Sogleich in dem nicht aus Eusebius genommenen 
Stuck des Proomium bemerkt er, da Ts der eingeflochtene Vers 
voovvxeq | aWy itagaxXtvovo t fiixaq | aus Hesiod. ip?« 
Vs 244 [vielmehr 259 u. 260] geborgt sey. Dabei ist sehr sonder- 
bar , dafs Hr. Wagenf. in seinem griech. Text "kvypat vooovvxeq 
[sie] drucken liefs und doch in der latein. Übers, den Sinn durch 
sein pravi evertant sententias soweit trifft, als er ihn aus der Lese- 
art voaovvxsq nicht hätte geschöpft werden können. So wechselt 
in dieser absichtlich verworrenen Sache bald ein Fünkchen Licht, 
bald wieder ein hineingeworfener Schlagschatten. 

Um in diesem Dunkel hie und da einige Erhellung zu ver- 
anlassen, giebt Ree. einige beiläufige kurze Bemerkungen zu dem 
bei Eusebius schon aufbewahrten alten Text, «Ter auf jeden Fall 
als eine alte Unterschiebung zu betrachten ist. S. 12 des jetzigen 
griech. Texrabdrucks ist für fi*n Eva gesetzt Akdv. War viel- 
leicht 'Aoa die ursprungliche Übertragung statt fvn ? — Dem 

ersten Sunden fall parallel wird gesetzt: Äon habe ange- 
fangen von den Bäumen zu essen und das erste Paar habe, in 
seiner Geistesschwäche, Gewächse vergöttert.— Auf dersel- 
ben Seite unten wird Ovaaoq und T^ov^avtoq mit dem Libanon 
in Verbindung gesetzt. Wahrscheinlich ist an die Landschaften 
Uz und Hoch-Chauran zudenken. — S. 14 ist Lin. 23 *a» vor 
puvxtiaq wegzulassen. Die beiden Worte : Xoyovq xat tnoBaq 
gehören zu pavxttaq wie S. 18. — S. 16 Lin. 16 wird Mtoooy 
durch EvXvxoq erklärt. Der Alte dachte also an "ip23 von 

nicht an D*^2R3 — S. 18 Lin. 10. 11. ist es passend, dafs Aa- 

yov durch Sitwv erklärt und also von fjH nicht von y] Fisch 

abgeleitet wird. — Nach S. 16 Lin. 7 soll man dem Ay$oq Tem- 
pel errichtet haben. Verwechselte der Grieche "HÜ mit HIÖ ? 

— - VT 

— S. 14 Lin. ult. habe man den kunstreichen Xpvawp [TS y*jn 



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746 Kreushage : Über den fiinflufe der Philosophie. 



= H(p aio-TO?] auch genannt Aia Mi^ioy. ^0 als partieip. Hiphil 

von I^Q ist fabricans. — S. 16 Lin. ult. ist Ovyavov in Verbindung 
mit ßvßXoc wahrscheinlich wieder = Cbauran. — Die Ka0ei?ot 
werden S. 16 Lin. 22 als Erfinder der Schifffahrt angegeben. 
Auf die gefährliche Schiff fahrt im Bosphorus und schwarzen Meere 
bezogen sich die Saroothrakischen Mjsterien als schützende Wei- 
hungen. !3n bezieht sich auf allerlei Arten von Kundig. 

keit. (In den ?erwandlen Namen Aurora;, Agtoxepaa u. dgl. 
ist das A{t wahrscheinlich nicht aus dem Griechischen , sondern 
= THIM prehendii, tenuil, polens reifuit. KaopiXot; ist höchst- 
wahrscheinlich ^XEDp augurii deus von DÖp) — Im zweiten 

Buch U. 6. S. 34 wird die Zerstörung Sodoms davon abgeleitet, 
dab ein Gott Feuer in die Asphaltquellen .(von denen man 

Gen. 14 « 10. beiläufig Hunde erhält) geworfen habe. 

Genug für diesmal. Um Bäthsel zu loten , mufs man auf allerlei 
gleichsam verlorene Data aufmerken. 

2a Juni 8i3 7 . Dr. Paulus. 



1) Mitteilungen über den Einßuf» der Philosophie auf die Entwicklung 

de» inneren Leben». Münster 1831. 
t) Über die Erkenntnif» der Wahrheit. Von Albert Kreuzhage. — 

Müntter 1836. 

Die Schrift No. 1. bann für die Entdeckungsreise des Verfs. 
gehalten werden, die No. 2. die Mittheilung und das Resultat 
derselben. Vorzüglich sind es Hegel , Baader und Gunther , auf 
die sich seine kritischen Betrachungen in der ersten Schrift er- 
strecken. Über Hegel spricht sich die Schrift besondert S. i*5 
— 136. 145 — 160. 226 — 229. 23i — 235 aut. Alt einen Vorläu- 
fer Hegels sieht der Verf. S olger an (S. i36 f.). Nachdem er 
dem Hegeischen System die gr5fste Anerkennung und Bedeutung 
zugesprochen hat , sucht er mit vielem Geist und Scharfsinn seine 
Blofsen aufzudecken. Das Absolute, wie et bei Hegel als Geist 
erkannt wird , ist ihm der allgemeine geistige Gebalt in der Welt, 
worin es sich vermittelt. Kreuzbage vergleicht S. 143 f. 148 — 
i52. das Hegeische System in dieser Beziehung mit dem Schell ing. 
tchen und findet jenes als eine consequ?nte Ausbildung dieses, 
und bezeichnet den Hegelscheo Pantheismus witzig und geistreich 
alt Superlativen Monotheismus. (S. i56 f.- 159.) Gott ist Hegel 
nur die höchste dialektische Einheit der Welt, also kein absolutes 



> 



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Kreushage: Über den Kinfitifc der Philosophie. HO 



Wesen. Daher erklärt Kreuzhage dieses System des Pantheismus 
für unvereinbar mit dem Christenthum und widerlegt seine fal- 
sche Ansicht von der Immanenz, welche dem Verf. das erkannte 
lnneseyn des Subjekts in seinem wahren Grunde ist. »Erst im 
vollendet hellen, weil sich in seiner ganzen Tiefe, und somit auch 
in dem, worin es begründet ist, erfafst habenden Selbstbewußt- 
seyn können Subjekt und Objekt, in dem, was sie sind, und dafs 
sie sind, aufgefafst werden.« S. i5c; f. Nicht idealistisch erschafft 
der Mensch denkend das Objekt, nicht pantheistisch sind Subjekt 
und Objekt als Besonderungen des Absoluten in diesem identisch, 
sondern die relativen Substanzen des relativen Seyns , Natur und 
Geist, sind Creation des göttlichen Geistes, tragen mithin das Ge- 
präge der Idee und des Geistes, und so kann auch der mensch- 
liche Geist sie in sich zum Wissen und zur Erkenntnifs erheben. 
In diesem Sinne ist der Begriff die Macht der Substanz, und in 
diesem Sinne wird im Begriffe das Wesen erkannt. An die Steile 
des Pantheismus oder des Superlativen Monotheismus tritt Spiri- 
tualismus in diesem Sinne. 

Günthers Lehre ist eine der vorzüglichsten Blüthen auf die- 
sem fruchtbaren Boden eines auf das durch Hegel tiefer ergrun- 
dete Selbstbewufstseyn und seine Trinitat basirten Spiritualismus, 
welcher, ohne pantheistisch aufzutreten, doch nach allen Seiten 
hin vordringt, die Wahrheit zum Wissen zu bringen, unter dem 
Panier des Satzes: dafi der Geist der Grund des relativen Seyns, 
der Welt sey, und der menschliche Geist den absoluten Geist, 
als den Grund und, in diesem Sinne, die Wahrheit des relativen 
Seyns, und somit auch dieses denkend erkennen könne, kraft der 
relativen Form des Geistes im Menschen , welche in Gott absolut 
ist. 8. 160 f. Gunther behauptet indefs eine absolute Verschie- 
denheit zwischen Geist und Gott, und will es nur gestatten, den 
Begriff des Geistes auf Gott uneigentlich zu ubertragen. Ureuz- 
hage zeigt , wie daher Gunther Pantheismus und Seraipantheismus 
oft da sehe, wo das Vcrhältnifs der Welt zu Gott das der Im- 
manenz sey (S. 219); erklärt, dafs selbst nach Gunthers Theorie 
Ton Gott derselbe höchste Geist sey (S. 162). 

Die Immanenz der Welt in Gott findet Kreuzhage nun in 
Franz Baader besonders tief und wahr entwickelt, und giebt 
S. 200 — 316. 241. eine kurze Übersicht, der Hauptmoraente die- 
ser Lehre nach Baader. — 



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74fr Kreuihajre: Über die Erkcnntnifa der Wahrheit. 



In der Schrift No. 2. beginnt der Vf. nach einer interessan- 
ten Einleitung seine Theorie der Selbsterkenntnifs. Das Grund- 
element der Gestaltung des Verhältnisses des Subjekts und Objekts 
in der Entwicklungssphäre des Geistes ist das Gefühl; in ihm 
der Gegensatz des Subjekts und Objekts noch nicht hervorgetreten. 
Es wird nach seiner intellectuellen , religiösen, moralischen und 
ästhetischen Seite betrachtet. Das Gefühl ist das Element, in 
welchem die Wahrheit zuerst als ein Lebendiges, ein Wirkliches, 
wenngleich noch im Endlichen sich manifestirt, und diese Manifesta- 
tion vollendet sich als ungetrübt auf der hohem Stufe der Entwick- 
lung des Geistes. Die Formen der Vermittlung des Subjekts und 
Objekts sind die Kategorien. Sie erscheinen auf der Stufe der 
Unmittelbarkeit in der Gestalt allgemeiner Vorstellungen, als die 
unmittelbaren Resultate des gemeinsamen in der Mannigfaltigkeit 
des Wahrgenommenen. Die zweite Stufe der Entwicklung des 
Geistes ist die Stufe des Verstandes. Hier tritt vor allem der 
Empirismus hervor. Er ist die erste Form, weiche das Verhält- 
nifs des Subjekts zum Objekt annimmt, nachdem es in die Sphäre 
der logiseben Entwicklung des Geistes übergegangen ist. Denn 
der Empirismus druckt die Notwendigkeit aus, dafs die Wahr- 
heit sich manifestiren, mit dem Geist in Verhältoifs treten müsse, 
um von ihm erkannt zu werden. Der Empirismus, weil er in 
der Sphäre des sich abstrakt in sich beschliefsenden Verstandes 
steht, geht im Widerspruche mit sich selbst in Scepticismus 
über. Der Geist setzt, um diesem zu entgehen, dem analysiren- 
den Verstand die Synthese des Gefühls entgegen, in der sich ein 
unmittelbares Verhältnis zur Wahrheit kund thut. Aber der so 
gewonnene Glaube an die Realität der Wahrheit ist nur der nicht 
zu vermittelnde Gegensatz gegen das Wissen. Hier tritt also der 
Widerspruch dieses Glaubens und des als Verstand entwickelten 
Geistes hervor. Weil der Geist durch die äusserliche Macht des 
Glaubens sich nicht beherrschen läfst, so geht der abstrakte Ge- 
gensatz des Glaubens und Wissens in den Unglauben, über , und 
es wird das seeptische Nichtwissen der Wahrheit zur positiven 
Verneinung jedes Verhältnisses zu ihr. Diese Verneinung ist aber 
die Verneinung des Geistes selbst, welche zum Atheismus fuhrt, 
welcher sich als Materialismus verwirklicht, und sich im Atomis- 
mus vollendet. Dieser Richtung, wohin der auf dem Stand- 
punkte des abstrakten Verstandes verharrende Geist in seiner 
Flacht vor dem Scepticismus geführt wird , tritt eine abstrakt 
spiritualistische entgegen, in der sich der Geist in seiner für sich 



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Kreuzhase: Über die Krkennlnil* der Wafcrbeit* 

seyenden Einzelheit als das Wahre in seiner höchsten Wirklich- 
keit auffafst. Diese Richtung wird von ihm bis zur äussersten 
Höhe ausgebildet, um den Scepticismus zu überwinden. Hiermit 
vollendet sich die Stufe des abstrakten Verstandes , indem der 
Geist das Objekt in seiner abstrakten Subjektivität aufgehen lä'fst. 
Er sieht die subjektive Vermittlung durch die abstrakten Ver- 
standeskategorien als die höchste geistige Wirklichkeit der Wahr- 
heit an. Diese abstrakte Subjectivität nennt daher ihre Gestaltung 
in der Sphäre des für sich abgeschlossenen Verstandes vorzugs- 
weise Vernunft. Aller Inhalt ist nur sein Inhalt, und jeder Be- 
weis und jedes Medium seiner Vermittlung mit der Ursache des 
Inhalts ist er nur selbst. So kommt er in Widerspruch, ein 
Medium zu seiner Vermittlung mit der Ursache des Inhalts sei- 
nes Bewufstseyns zu suchen und sich zugleich selbst als dieses 
Medium zu setzen. Um diesen Widerspruch zu losen , schreitet 
der Geist zur Verabsolutirung seiner abstrakten Subjektivität 
fort; er legt alle Realität in sich. So wird das Subjekt in sei- 
ner abstrakten Einzelheit zum unbedingt Allgemeinen metamor- 
phosirt und dieses Allgemeine als System realisirt. Gegen jenes 
abstrakte Wissen trat die Jacobische Philosophie auf. Aber 
seine Lehre ruhte in sofern auf derselben Grundlage, als die 
Wahrheit, welche für jenes Wissen nur in des Form subjektiver 
logischer Vermittlung existirt, für ihn nur in der Form der Sub- 
jektivität des Gefühls Geltung hat. 

Der Verf. entwirft S. 60—71 «in »ehr getreues, den Cha- 
rakter der Sache in scharfen und vielfach schattirten Zügen wie- 
dergebendes Bild dieser ganzen Stufe des abstrakten, sich für die 
Ternunft haltenden Standpunkts. Er findet das wahre Heilmittel 
gegen diese Erscheinung in der vollkommen durchgeführten Er- 
* lien ntnifs der Wahrheit. 

Die dritte Stufe des Verhältnisses des menschlichen Geistes 
zur Wahrheit ist die der Vernunft. In ihr tritt die Idee der 
Wahrheit im Bewufstseyn des Geistes in concreter Form hervor; 
in ihr ist Form und Inhalt Eins, daher ist die Vernunft schon 
auf den Stufen der Unmittelbarkeit und des für sich seyenden 
Verstandes vorhanden, ohne noch in ihrer Wahrheit begriffen 
zu werden. Die Vernunft erkennt das Allgemeine, wie es im 
denkenden Geiste sich darstellt. Das concret Allgemeine ist nicht 
vom Einzelnen abstrahirt , sondern umgekehrt. Das Einzelne ist 
ihm daher nicht adäquat. Daher mufs die starre Gegensätzlich, 
keit der Einzelheit aufgehoben werden , um das concret Allge- 



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750 Kreuzhagc : Über die Erkenntnis der Wahrheit. 



meine im Denken aufzufassen. Diese Erkenntnifs der Vernunft 
ist eine speculative und eine specalatiye Dialektik, in der sich 
das Allgemeine besondert und im Einzelnen verwirklicht und die- 
ses daher als Einzelnes aufhebt. Diese Dialektik hat ihre äussere 
Wirklichkeit in der Natur. Die Macht der Einheit dieser norma- 
len Beziehungen erscheint in der Natur als blinde Notwendig- 
keit« Im Subjekt wird die Dialektik des Äussern in geistiger 
Form gefafst und so überhaupt ihr Allgemeines im Selbstbewußt» 
seyn begriffen. So wird die Noth wendigkeit der Natur, als das 
Allgemeine derselben, in der ihr entsprechenden allgemeinen Form 
des Gesetzes gewufst, indem der Geist es so in einer von der 
Einzelheit unabhängigen Gestaltung erfafst." Der Geist erscheint 
daher als Trager des Allgemeinen, das in ihm eine Existenz in 
geistiger Form erreicht und so als die geistige Wirklichkeit des 
Einzelnen erscheint, in welcher dieses seine Wahrheit bat. So 
begreift der Geist das Allgemeine als seine wesentliche Form. 

So wird das Allgemeine als die Wahrheit ond Wirklichkeit 
gefafst, an welche der Einzelne seine abstrakte Subjektivität auf- 
geben mufs, um sich in der Wahrheit als in seinem Allgemeinen 
zu wissen , und so seine concrete Subjektivität und Persönlichkeit 
zu- erweisen , und sie im Guten, welches das Wahre ist , zu rea- 
lisiren. Das Gute objektiv gefafst , stellt die Einheit als das All- 
gemeine der normalen Verhältnisse der Einzelnen dar, subjektiv 
gefafst ist es die Verwirklichung im Subjekte und die Realisirung 
des Allgemeinen. Das Gute ist mit der wahren Freiheit eins, in 
welcher die subjektive und objektive Wirklichkeit des Guten ihre 
lebendige Einheit haben. Die Freiheit hebt die Nothwendigkeit 
auf, indem sie diese mit dem Geiste vermittelt. 

Die Stufe der Vernunft prägt sich in der Wissenschaft aus. 
Sie soll ihre Nothwendigkeit auch in der Methode manifestiren. 
Dadurch wird die Anwendung der mathematischen Methode auf 
die Philosophie veranlagst. Aber sie scheint dieser unangemessen. 
Diese Unangemessenheit zeigt sich im Spinozisraus. Sie wird auf. 
gehoben durch Kant, Fichte, Sendling und Hegel. Die Vernunft 
hat sich als alle Wahrheit , als sieh selbst wissende einzige Er- 
kenntnifsquelle , als Pantheismus erwiesen. Pantheismus ent- 
steht, wenn der Geist die Relativität seiner Airgemeinheit negirt 
und sie zum Absoluten macht. Der menschliche Geist, der sich 
als Vernunft entwickelt hat, kann, wenn er diese seine Entwick- 
lung aus sich allein vollenden will, dem Pantheismus nicht 
entgehen. 



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I 

Kreuibage : Über die Erkenntnif» der Wahrheit. 751 

■ 

Der Vf. schildert nun S. 108 — isa auf eine sehr geistvolle 
Weise die verschiedenen Formen des Pantheismus, und schliefst 
also: der Geist, der sich zur Vernunft entwickelt hat, ist dadurch 
also noch picht zur Erkenntnifs des Wahren gelangt. Er hat viel- 
mehr erst als Vernunft diejenige Stufe seiner Entwicklung er* 
reicht, welche die Erkenntnifs der Wahrheit, als die subjektive 
Grundlage dieser Erkenntnifs , bedingt. Die Vernunft ist für sich t 
allein keine vollkommene Erkenntnifsquelle der Wahrheit, und 
kann durch sich allein die Grenzen der Sphäre der Subjektivität 
und der Natur nicht uberschreiten, um die Wahrheit in ihrer 
absoluten Wirklichkeit selbst zu begreifen. Nur indem die Wahr- 
heit selbst sich offenbart, wird sie das Licht, in welchem der 
Mensch sie und sein wabfes Verhältnis zu ihr erblickt. So voll- 
endet sich der Geist als Vernunft in dem lebendigen Bewufstseyn 
seiner wesentlichen und wahrhaft wirklichen Beziehungen zur 
ewigen Wahrheit, zu Gott. Ohne Offenbarung der Wahrheit 
daher auch keine Erkenntnifs derselben, keine Gotteserkenntnifs. 
S. ia3 — ia5. 

Die Wahrheit offenbart sich als That, nicht als logischer 
Begriff. Sie war dem Menschen unmittelbar geoffenbart durch 
die wesentlichen Beziehungen, die er zu ihr hatte. Diese wur- 
den aber getrübt durch die Subjektivität im Heidenthum, erschie- 
nen im Judenthum nur abstrakt in Schrift und Tradition, und 
wurden erst lebendig und concret im Christen th um. S. 124 — >4 9 * 
In ihm wird Gott erkannt als Wahrheit in ihrer absoluten Wirk- 
lichkeit Gott wird als absoluter Geist, als Trinität offenbar. 
Gott ist Schopfer durch seine freien Gedanken, die Schöpfung 
ist seine bedingte Wirklichkeit. Sie ist daher einerseits der Not- 
wendigkeit alles Bedingten unterworfen , andererseits ist sie posi- 
tiv und frei. Jenes ist die Natur, dieses der Geist. Das Gesetz 
der Dialektik ist in der Schöpfung begründet und ist der Aus- 
druck des Bedingtseyns der Schöpfung. Die Natur steht ganz 
unter der Herrschaft der Dialektik, so dafs deren Form ihr Da- 
seyn bestimmt und sich in der andern Einheit des Dualismus von 
Geist und Natur im Geiste aufhebt, in welchem der dialektische 
Wechsel in das sich wissende Beharrende ubergeht. Das Ganze 
der Schöpfung ist erst durch die Erschaffung des Menschen voll- 
endet. Erst da hatte innerhalb der Schöpfung selbst der dialek- 
tische Wechsel sein wahrhaft Beharrliches, die Naturnotwendig- 
keit ihre Freiheit, das von sich nicht wissende Allgemeine der . 
Natur eine geistige Wirklichkeit im Selbstbewufstscyn des Men- 



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752 Kreuzhagc : Über die Krkenntnif« der Wahrheit. 

sehen erhalten ; die Schöpfung hat ihre relative Einheit im Men- 
schen erreicht. 

Nachdem nun der Vf. die Wahrheit in ihrer absoluten Wirk- 
lichkeit durch das Christenthum dargestellt hat, geht er zur gei- 
stigen Entwicklung des erlösten Menschen in seinem Verhältnifs 
zur geoffenbarten Wahrheit bahuf seiner Wiederherstellung zur 
reinen Ebenbiidlichkeit fort. Er stellt dar a) den Weg zur Wahr- 
heit innerhalb der Sphäre der Unmittelbarkeit des Geistes, b) die 
Gestaltung der vermittelten Erkenntnifs der Wahrheit in christ- 
lich speculativer Auffassung, c) das Leben in der Wahrheit. 

Die ausführliche Darlegung des Inhalts der vorliegenden 
Schrift fordert sowohl der gehaltvolle, interessante Inhalt der 
Schrift an sich, als auch besonders für die gegenwärtige Zeit. 
Wir finden hier einen der verschiedenen Versuche der gegenwär- 
tigen Zeit, aus dem Rationalismus zum Christentum zurückzu- 
kehren. Die Geschichte der neuern Philosophie hat alle Stadien 
der abstrakten Selbstvermittlung des menschlichen Geistes durch- 
laufen und ist an einem der bedeutendsten Wendepunkte ange- 
< langt, wo die Vernunft sich mit der Wirklichkeit versöhnen soll. 
Wie nun diese Versöhnung vermittelt wird, darauf kommt es 
eben an. 

Der geistreiche Verf. vorliegender Schrift weist im ersten 
Theile «ach , dafs die menschliche Vernunft auf allen Stufen ih- 
rer Selbsterkenntnifs nicht zur Wahrheit gelangen konnte, weil 
sie im abstrakten , negativen Verhältnifs zur Offenbarung getreten 
sey und sich nur in und aus sich begründen wollte. Er betrach- 
tet die (logische) Vernunft im Gegensatze zur Offenbarung und 
findet in dem negativen Selbstvermittlungsprocesse der Vernunft 
nicht den Übergang zu einer positiven Vermittlung und Versöh- 
nung derselben mit der Offenbarung. Man hat aus diesem Grunde 
dem Verf. den Vorwurf gemacht, dafs er die Vernunft blos als 
subjektive betrachte, welche die Wahrheit ausser sich habe, 
und hat darin einen Rückfall auf Erkenntnifsstufen der Vernunft, 
wie sie durch Kant begründet wurden, gesehen. Dieses ist aber 
schon deswegen nicht der Fall , weil der Vf. wesentlich auf der 
Grundlage einiger der neuesten Systeme der Philosophie steht, 
welche entschieden eine objective Erkenntnifs der Wahrheit 
dem menschlichen Geiste zusprechen. 

(Der Beschlufa folgt.) 



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N°.48. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

I -■=— =-^=- =— 5S3B 

Kreuzhagei Über die Erkenntnifs der Wahrheit. 

(Beschlufs.) 

Günther und Baader, deren Grundideen der Verf. auf 
eine gefallige, leicht fafsliche Weise zur Entwicklung bringt, be- 
haupten entschiedener, dafs der menschliche Geist die Wahrheit 
zu erkennen im Stande sey, freilich in der Immanenz des Gei- 
stes in der Wahrheit. Aber es kommen auch Stellen genug vor, 
wo diese Ansichten vom Vf- selbst bestimmt ausgesprochen sind. • 
Z. B. S. 278 f. 293. 296 fT. Zwar ist S. 3oo ausgesprochen , dafs 
der menschliche Geist die Wahrheit in ihrer absoluten Wirk- 
lichkeit nicht absolut mit sich vermitteln, mithin keine abso- 
lut vermittelte Erkenntnifs der Wahrheit erreichen könne. Aber 
der Vf. nimmt hier, wie sonst, den menschlichen Geist im Ge- 
gensatze zur Offenbarung nur als (logische) Vernunft, und raeint 
eine Erkenntnifs, wie sie der Rationalismus behauptet, nicht aber 
eine Erkenntnifs, wie sie die Systeme der Immanenz des erken- 
nenden Geiste« in Gott, z. B. F. Baader annimmt. Die Haupt- 
frage ist nämlich hier die : Ist die Erkenntnifs der Wahrheit eine 
absolute in dem Sinne, dafs, wie jener letztere Denker sagt, der 
Erkennende Alles durchschaut und Gott ausforscht, oder dafs 
wir eine wesentliche Erkenntnifs der Wahrheit haben in un- 
serm normalen Verhältnifs zur Wahrheit? Wird der Begriff des 
Menschen als des Ebenbildes Gottes eigentlich oder real genom- 
men, so mufs das Ebenbild das Urbild dem Wesen nach erken- 
nen oder oinc wahre, dem Urbilde entsprechende Erkenntnifs ha- 
ben, sonst ist das Ebenbild nur ein leeres Wort. Aber damit ist 
noch nicht gesagt, dafs das Uibiid in dem es bestimnienden Eben-, 
bilde ganz aufgeht oder der menschliche Geist alle Tiefen der 
Gottheit, die nur der Geist Gottes durchschaut, zu durchschauen 
vermag. Eine Erkenntnifs efer Wahrheit ist dem menschlichen 
Geiste nur möglich , wenn jene diesem wirklich oder real inwohnt, 
wenn sie ihm mithin wesentlich ist. Es giebt keine andere Form, 
die Wahrheit zu erkennen, als die Form des menschlichen Gei- 
stes selbst. Die Frage kann daher nur seyn: ist sie eine bloa 
subjektive, oder eine objektive Form der Wahrheit? Die- 
XXX. Jahrg. 8. Heft. 48 



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754 Kreuihagc: Über die Erkenntnis der Wahrheit. 

■ 



ses letzte bann nicht geleugnet werden ohne den Menschen, der 
nach einer objektiven Erkenntnifs der Wahrheit, wenn ersieh 
selbst begreift, unaufhörlich strebt, als den Widersprach der 
Schöpfung zu betrachten. In der Tbat fafst ihn auch Mephisto* 
phiiea in Göthes Faust also. Aber der Teufel ist ein Lugner von 
Anfang und die Wahrheit ist nicht in ihm. 

Wenn nun Kreuzhage den menschlichen Geist als subjektiv 
bestimmt und ihm nur eine analoge Erkenntnifs der Wahrheit zu- 
gesteht, » nämlich nach der Analogie der subjektiven Denkfor- 
mation« (S. 149)1 so ist dieses mindestens allerdings nicht die 
rechte Bezeichnung für die wahre Sache. Aber auch an dieser 
Stelle, sowie sonst uberall in der Schrift, hat der Verf. die lo- 
gische Vernunft im Auge und stellt ihr die Wahrheit und Offen- 
barung entgegen. Dieses ist denn auch die schwache Seite der 
Schrift, welche die Bedeutung derselben sehr herabsetzt und den 
sonst in ihr enthaltenen tiefen und bedeutungsvollen Wahrheiten 
den Haupteinflofs auf den gegenwärtigen Entwicklungsgang des 
Geistes entzieht. Denn der Geist hat bereits in den neuesten Sy- 
stemen der Philosophie ein Selbstbewufstseyn über diese falsche 
Ansicht, die Kreuzhage bestreitet, erlangt, und ist durch dieses 
Selbstbewufsteyn über sie hinaus zu einer nähern Vermittlung 
gegangen , die als unzureichend abermals über sieb hinaus getrie- 
ben wird. Der menschliche Geist hat bereits alle Stadien seiner 
negativen zu seinem Grunde aufsteigenden Dialektik der Selbst- 
erkenntnifs durchlaufen und ist als subjektiver und objektiver 
Geist über seine Verabsolutirung in beider Hinsicht zur Imma- 
nenz in Gott zurückgekehrt und hat diese so begründet. So ist 
die Philosophie selbst positiv geworden und hat sich mit der 
Wirklichkeit versöhnt. Dieses grofse Resultat, das zu den be- 
deutendsten in der Geschichte der Philosophie gehört, ist der 
bedeutende Wendepunkt der gegenwärtigen Zeit, wo die Philo- 
sophie mit der Offenbarung in Einheit tritt. 

Kreuzhage konnte nun nach seinen Grundprincipien zu die- 
sem Resultat nicht gelangen und so sieht er die Offenbarung nur 
noch im Gegensatz und im feindlichen Verhättnifs zur Vernunft; 
er zeigt, wie die Vernunft aus allen ihren Irrgängen nur die. 
Überzeugung von sich gewonnen habe, dofs sie ausser der Im- 
manenz der Wahrheit diese nicht zu erreichen im Stande sey, 
and dafs sie sich daher nur der Offenbarung in die Arme werfen 
müsse, wenn sie die Wahrheit erreichen wolle. 

Hiermit spricht der Vf. eine ziemlich herrschende Stimmung 



4 



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Krenshage« Über die Erkennt nife der Wahrheit 755 

der Zeit aas und wird daher bei sehr Vielen vollen Anklang fin- 
den.. Aber wäre das Resultat der ganzen neuern Philosophie kein 
anderes, als diese Verzweiflung des Geistes an sieb selbst, and 
hätte sie nicht die Selbsterkenntnifs des menschlichen Geistes ver- 
mittelt, wenn auch durch eine negative Dialektik desselben, und 
durch diese Vermittlung ein positives Resultat hervorgebracht; 
so wäre dieses eine trostlose Erscheinung der Entwicklung des 
menschlichen Geistes. Auch wäre alsdann die Anerkennung der 
Wahrheit der Offenbarung durch die Philosophie keine freie Be- 
währung der Wahrheit durch die Philosophie; und die Verbin* 
dung und Einheit beider keine innere, sondern blofs äussere, die 
daher von keiner Dauer ist. Hierüber hat indefs bereits die Ent- 
wicklung des menschlichen Geistes schon entschieden. 

Der positive Theil der vorliegenden Schrift hat mich auch 
weniger befriedigt, als der negative; der Vf. hat sich seine Auf- 
gabe in jenem zu leicht gemacht. Seine Entwicklung der geof- 
fenbarten Wahrheit ist zu allgemein und in wesentlichen Punkten 
nicht tief genug. Die schwierigen, die Gegenwart bewegenden 
Probleme finden keine bestimmte, positive Losung, sondern wer- 
den mehr allgemein berührt und angedeutet, als fest bestimmt 
und weiter entwickelt. Die Grundideen werden immer wieder- 
' holt, und dieses giebt der Darstellung etwas Ermüdendes bei 
aller sonstigen Frische und Lebendigkeit derselben. Der Verf. 
steht hier auch in dem, was er Positives giebt, auf- fremdem 
Boden; es sind meistens Ideen einiger der meisten Systeme, die 
er auf eine populäre , geistreiche und klare Weise entwickelt. 
Überall siebt man aber den geistreichen, gewandten Verfasser, 
in dem die fremden Ansichten zum Lebensbewufstseyn geworden 
sind. Daher auch die durchaus frische, von schülerhafter Pedan- 
terie und Nachbeterei lerne und daher anziehende Darstellung des 
Verfs. Ein inniges, tief nnd zart fühlendes, poetisches Gemüth 
spiegelt sich in beiden Schriften ab , und man gewinnt den Verf. 
lieb, weil er überall aus der tiefbewegten Seele und dabei doch 
stets mit Ruhe, Emst, Würde und Besonnenheit seine Aufgabe 
entwickelt: es ist mit Einem Worte die sittliche Schönheit 
seines Geistes , durch die er anzieht Bedenkt man , dafs der Vf. 
juristischer Geschäftsmann ist, so gewinnt er in der Hochachtung 
um so mehr, weil man die vollste Überzeugung gewinnt, dafs 
ihn nur der innerste Seelenzug, das tiefste Lebensbedürfnifs zur 
Verfassung dieser Schriften geführt hat, die auf jeden Fall ein 
höchst bedeutender Bereich für die Wissenschaft sind, und die 



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7WJ 



Tacitus Germania von Gerlach. 



dringendste Empfehlung besonders bei Allen verdienen, die sich 
in den grofsen Fragen der Menschheit und der gegenwärtigen 
Zeit der Krisis, ohne sich mühsam durch Systeme durchzuarbei« 
ten , auf eine leichte und anziehende Weise und doch tief orien- 
tiren wollen. 

8 e n g t e r. 



Tacitus Germania. Text, Übersetzung;, Erläuterung, ton Fr. Hör. 
Gerlach und Wilhelm Wackernagel. Zweite Abtheilung. Über- 
setzung und Erläuterung. Heft I. Hasel, in der Schweig häuser sehen 
Buchhandlung. 1837. XIV und 273 & in gr. 8 Auch mit dem be- 
sondern Titel: Tacitus Germania. Übersetzt und erläutert von 
Fr. Dor. Ger lach. Basel etc. 

Wir haben in Nr. 6. p. 87 ff. bereits der ersten Abtheilung 
dieser neuen Bearbeitung der Germania gedacht und deren Inhalt 
besprochen. Dem dort gelieferten revidirten Texte reiht sich in 
der zweiten Abtheilung die deutsche Übersetzung und der Com- 
mentar an, wenn man anders mit diesem Namen die der Über- 
setzung nachfolgenden, umfassenden Erörterungen, welche theils 
die Auflassung und das Verständnifs einzelner Stellen betreffen, 
grofsentheils aber über den Inhalt der Schrift in geographisch- 
historischer und antiquarischer Hinsicht sich verbreiten , bezeich- 
nen will; in einer weitern dritten Abtheilung soll die von ei- 
nem gelehrten Forscher deutscher Sprache und Literatur, dem 
Herrn Prof. Wachernagel, versprochene ausführliche Darstel- 
lung des Lebens und der Sitte der Germanen nachfolgen. 

Herr Prof. Gerlach hat eine Einleitung vorausgeschickt , die 
zwar nicht sehr ausgedehnt, noch mit gelehrtem Apparat, wie er 
in vielen Ausgaben angehäuft ist, ausgestattet ist, sondern nur 
auf das Notwendigste sich beschränkt, aber desto gewichtiger 
wird und dem, der mit den bisherigen Forschungen über die 
Germania einigermaßen bekannt ist, zur Genüge zeigt, wie tief 
durchdacht der Verf. seinen Gegenstand hat, wie ihm von allen 
den Forschungen der neueren Zeit , zum Theil freilich sehr ver- 
unglückten, die Tendenz und den Gehalt der Germania zu be- 
stimmen, Nichts fremd und unbekannt geblieben ist. Der Verf. 
nemlich sucht in dieser Einleitung den Standpunkt zu bestimmen, 
von welchem ans die Germania ihrem ganzen Inhalt sowie ihrer 
Bestimmung nach aufzufassen und zu betrachten ist, womit zu- 
gleich die schwierige , so vielfach und so höchst verschieden be- 



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Tacitu» Germania von Gerlacli. 157 

• 

antwortete Frage über die Absicht de* Tacilus bei Abfassung 
der Germania und die Veranlassung dazu auf eine Weise erörtert 
wird, die, weil sie auf der Natur der Verhältnisse und der Zeit- 
ansichten sowie auf der Persönlichkeit des Tacitus und seinem 
Standpunkt der Mit- und Nachwelt gegenüber beruht, nur befrie- 
digend ausfallen , zugleich aber auch die Nichtigkeit und Gehalt- 
losigkeit so mancher andern darüber aufgestellten Behauptungen 
herausstellen konnte. Tacitus wollte, wie der Herr Vf. sich aus- 
drückt, in der Germania weder ein diplomatisches Aktenstück 
Hefern, noch eine Satire auf Rom, wenn er auch gleich, ergrif- 
fen von der Bewunderung germanischer Seelengrofse und Sitten- 
reinheit, nicht selten unwillkührlich einen Blick des Unmuths und 
des Argers auf die gesunkene Sittlichkeit Roms wirft. »Nicht 
Germaniens weite Länderstrecken, sagt der Verf. S. VII, wollte 
er beschreiben , nicht von den Erzeugnissen berichten , welche 
dieses Land hervorbringt, auch nicht mit angstlicher Genauigkeit 
die einzelnen Völkerschaften namhaft machen nach ihren Gren- 
zen, nicht einmal deren Schicksale und frühere Geschichte wollte 
er den Romern offenbaren , sondern ein Bild wollte er entwerfen 
des Volks der Germanen und dessen Eigentümlichkeit in Sitte, 
Lebensweise, Glaube und Verfassung zum lebendigen Bewufstseyn 
bringen. Dazu trieb ihn die eigene Geisteshöbe, welche zu ver- 
wandter Erscheinung sich hingezogen fühlte; die äussere Auffor- 
derung, so wie den Stoff bot die Geschichte.« Vgl. damit auch 
die Bemerkungen S. 54. 55. — Und so unterläßt der Vf. nicht, 
auf die Bedeutsamkeit hinzuweisen, welche die Germanen in den 
Augen der Romer damals bereits gewonnen hatten, da die bis- 
herigen Ereignisse allerdings den Blick der Einsichtsvollen immer - 
mehr nach Germanien richten mufsten. » So waren (fahrt dann 
der Vf. fort S. VUI) Zorn und Hafs, Furcht und Bewunderung 
bei der Masse die treuesten Dolmetscher von den Thaten und 
dem Leben der Germanen, und von diesem Standpunkt aus er- 
griff Tacitus den Griffel der Geschichte, um die zerstreuten Be- 
richte, die Überlieferungen der Vergangenheit, die Kenntnisse der 
Gegenwart zu einer Gesammtanschauung des Volkes zu erheben. 
Diese Aufgabe konnte keiner der früheren sich weder stellen, 
noch viel weniger läsen,« u. s. w. Der Verf. gedenkt nun hier 
der verschiedenen Nachrichten, welche in römischen Geschichts- 
büchern über Germanien bereits verbreitet waren und allerdings 
Material und Stoff genug einem Tacitus liefern konnten, der nun 
von einem höheren Standpunkt ausgehend diese Einzelheiten zu 



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748 Tacitnt Germania von Gerlach. . 

verarbeiten und in seinem grofsartigen Bild« ihnen eine Stellung 
anzuweisen wollte. Eben diese Ausfuhrung des Einzelnen sowohl 
wie die Anlage des Ganzen laTst uns allerdings die Meisterschaft des 
geistvollen Mannes und die historische Honst desselben erkennen, 
vermöge der es ihm möglich war, ein solches Gesammtbild and 
eine solche Schilderong so entwerfen, die für die Mitwelt wie 
für die Nachwelt gleich wichtig und gleichbedeutend ward, da, 
wie aoeh unser Verf. S. XII richtig bemerkt, wir allerdings in 
den Worten des römischen Berichterstatters die Grundlage des- 
sen wieder erkennen, was durch das ganze Mittelalter hindurch 
und zum Theil bis auf die neuere Zeit das Leben deutscher Völ- 
ker bewegt und geleitet hat. Und dieses Vei hältnifs der Genna, 
nia zur Geschichte der deutschen Volker und deren geistiger, 
sittlicher und politischer Entwicklung darzulegen , betrachtet der 
Verf. als den vornehmsten Zweck seiner Erläuterung , die er des- 
halb auch in deutscher Sprache gegeben. Wir weiden auf diese 
Erläuterung weiter unten zurückkommen , nachdem wir zuvörderst 
der deutschen Übersetzung, welche auf die Einleitung zunächst 
folgt, gedacht haben. Diese liest sich gevrifs recht gut und kann 
fuglich fliehend genannt werden; sie sucht sich an die gehobene, 
freilich hie und da rhetorisch gefärbte Ausdiucks weise des Taci* 
tus anzuschliefsen , und diesen Charakter des Originals wiederzu- 
geben, ohne darum steif oder gezwungen und geschraubt zu wer- 
den , oder dem schönen Ausdruck die Treue aufzuopfern. Wenn 
wir nun aufs Geradewohl einige Stellen ausheben , in denen uns 
theilweise Bedenken aufgestoßen sind , so möge der Verf. darin 
nur ein Zeichen der wohlverdienten Aufmerksamkeit, die wir sei- 
ner Ubersetzung schenken mufsten, erkennen. So wird z. B. 
cap. I. am Schlufs : »septimum enim os paludibus hauritur* 
übersetzt: — » wird von Sümpfen eingesogen«. Hier hat der 
Verf., wie auch an andern Stellen seiner Übersetzung, den bild- 
lichen, ja poetischen Ausdruck des lateinischen Originals durch 
einen andern bildlichen deutschen, der jenem etwas nahe kommt, 
wiederzugeben versucht. Indessen durfte es ihm selbst schwer» 
lieh entgehen, dafs in dem deutschen Ausdruck etwas Seltsames 
und durchaus Ungewöhnliches liegt; ubersetzt man freilich mit 
Andern: »verliert sich in Sumpfe«, so ist das Bild verwischt, 
das, wenn man ubersetzt: »wird verschlungen«, schwerlich 
passender ausgedrückt sevn durfte. 

Cap. IL; »et immensos ultra utque sie dixerira, adversus 
Oceantu raris ab orbe nostro navibus aditur* ubersetzt der Vf.: 



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Tat hui Germania von Gerlach. N 159 



»und obendrein der unenncfsichc und, um so zu sagen, uns ent- 
gegengekehrte Ozean nur einzeln durch Schiffe von unserm Lan- 
der Preise begrüfst wird«. Hier können wir die Übersetzung des 
adversus Oceanus nur billigen ; aber warum wird aditur durch 
begrufst, und nicht vielmehr durch das einfache besucht oder 
einen ähnlichen Ausdruck wiedergegeben? 

Ob man von einem Lande sagen kann: unduldsam für 
Fr acht bäume (frugiferarum arborum impatiens cp. 5), möch- 
ten wir fast bezweifeln ; desgleichen cap. 7 : admiratione praesunt 
— (die Fuhrer) üben, durch Bewunderung den Vorstand. 
Dagegen die nicht leichte Stelle cap. 6: v Sed nec variare gyros 
in morem nostrum docentur: in rectum, aut uno flexu dextros 
agunt, ita conjuncto orbe, ut nemo posterior sit. « hat der Verf. 
gut in folgender Weise wiedergegeben : » Aber auch nicht in 
wechselnden Kreisen sich zu bewegen, werden sie nach unsrer 
Gewohnheit gelehrt; gerade aus oder mit einer einzigen Schwen- 
kung sprengen sie rechts ein , mit so geschlossenem Kreise , dafs 
keiner der letzte ist. « Eine ähnliche Stelle cp. 38 : » apud Suevos 
usque ad canitiem horrentem capillnm retro sequuntur ac saepe 
in ipso* solo vertice ligantc, wird folgendermafsen übersetzt: 
3 Die Sueven trachten , bis sie ergrauen , nach einem struppigen 
rückwärts gebogenen Haare , und binden es oft nur gerade auf 
dem Scheitel. « Roth hatte übersetzt .- » Bei den Sueven aber 
Jäfst man dem struppigen Haare bis ins graue Alter den Zug nach 
hinten, und fafst es manchmal gerade über dem Scheitel zusam- 
men.« Wir gestehen, dafs uns capillum sequi in dem Sinne von 
indulgere, nach Etwas trachten, streben, hier auffällt; der 
Vf. hat über diese Stelle in seinen Erörterungen S. aa3 ff. sich 
noch weiter ausgesprochen und darin unter andern auch vorge- 
schlagen, horrentem mit dem vorausgehenden canitiem zu verbin- 
den, analog einer Stelle des Ovid Metamorph. X. 4^5; es mifs- 
fällt ihm auch die Verbindung von horrentem — retro; er stellt 
es in Abrede, dafs sequi mit retro verbunden gedacht werden 
könne, und schlägt daher vor, als die einzig übrig bleibende 
Verbindungsweise capillum retro abgekürzt für capillum retro 
/lex um aufzufassen, nach der Analogie zweier Stellen bei Virgil 
Aen. II, 753 und IX, 39«, wo wenigstens der Verf. retro auf 
ähnliche Weise mit dem vorhergehenden Substantiv verbunden 
wissen will. Ref. gesteht , dafs ihm .diese Verbindungsweise noch 
gewagter vorkommt, als die Verbindung retro sequi, die, wenn 
man sequi nicht in dem Sinn von trachten, streben auffassen 



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Tacitus Germania von Gerlach. 



will, weniger auffallend erscheinen kann, wie dies auch in Rotb's 
Übersetzung angedeutet i$t. 

Hinsichtlich der Anmerkungen, die mit S. 33 beginnen und 
den Best des Bandes füllen, müssen wir auf die schon oben an. 
geführte Erklärung des Vfs verweisen, deiv es als einen Haupt- 
zweck seiner Erörterung betrachtete, das Veihältnifs der Ger- 
mania zur Geschichte der deutschen Volker und deren geistigen, 
sittlichen und politischen Entwicklung darzulegen, und sich des- 
halb (S. XU) auf Deutung des Wortsinns und auf die historische 
Erläuterung im strengen Sinne beschränkte , die weitere Ausfüh- 
rung und Darstellung des germanischen Lebens seinem Mitarbeiter 
überlassend. So bilden diese Anmerkungen nicht sowohl das, was 
man einen fortlaufenden, Stelle für Stelle behandelnden Commen- 
tar zu nennen pflegt, sondern mehr eine Reihe von einzelnen 
Abhandlungen und Erörterungen über die Beschaffenheit des äl- 
teren Germaniens, wie dies nach Tacitus Bericht in genauer Ver- 
gleich ung mit den Nachrichten anderer Autoren sich herausstellt, 
insbesondere über die einzelnen bei Tacitus vorkommenden Völ- 
kerschaften Germaniens , über welche uns der Vf. sehr ausführ- 
liche und genaue Untersuchungen, geographisch- historischer Art, 
vorgelegt hat. Ausserdem aber fehlt es nicht an einzelnen Be- 
merkungen über den Sinn und die Auffassung einzelner Worte 
und Stellen. Wir wollen von beiden einige Belege anführen. 
S. 34 zu cap. 1. sucht der Verf. zu beweisen, dafs latos sinus 
»grofse weite La nd erst rec Ii e n « heifsen müsse, und dals 
man dabei an die Halbinsel Jütland, vielleicht auch an die zwi- 
schen den Ems- Weser- und Elbmündungen ziemlich beträchtlich 
sich ausbeugenden Landstriche zu denken habe , sowie hei insulß- 
rum immensa spalia an Schweden und Finnland , obwohl auch 
Schonen, Fünen und Seeland nicht ausgeschlossen werden dürf- 
ten. Wir wollen dies nicht bestreiten, nur fällt es uns schwer 
zu glauben, dafs sinus hier Landstrecken bedeuten solle, und 
nicht vielmehr Buchten, Einbiegungen des Meeres, also 
Meerbusen, was uns ungezwungener und natürlicher erscheint. 
Die in demselben Cap. von dem Lauf des Rheins vorkommenden. 
Worte : medico Jlexu in occidentem versus versteht der Vf. nicht 
von der unbedeutenden Biegung des Rheins bei Basel, sondern 
mit Andern von der westlichen Beugung des Stroms bei Arnhetm. 
Die richtige Bemerkung des Verfs., dafs dieser untere Theil des 
Flufsbettes den Römern am bekanntesten war, und dafs sie auch 
dort die meiste Aufforderung gehabt, die Richtung des Laufes 



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Tacitus Germania von Gerlach. 761 

zu erforschen, ist hier von um so grofserem Gewicht, als die, 
Nachrichten des Tacitus bekanntlich über die nordwestlichen Stre- 
cken Deutschlands zunächst sich erstrecken , und dessen südliche 
Tbeile ihm durchaus fremd geblieben zu seyn scheinen. Dieser 
Umstand macht auch den Reh , der sich früher für die entgegen- 
gesetzte Meinung ausgesprochen hatte , jetzt bedenklich. 

* Cap. 3 wird Asciburgum, das im Text als richtig anerkannt 
wird, auf das am linken Rheinufer gelegene Asburg oder Es- 
senberg gedeutet; in den Worten aram quin eliam Ulixi con- 
secratam aber Ulixi als Dativ auctoris S. 5o aufgefafst; in der 
Übersetzung heifst es aber: »ja sogar ein Altar, dem Ulysses 
geweiht u. s. w. « 

Mit Cap. 5 S. 62 treten wir in eine übersichtliche Beschrei- 
bung und Darstellung der Beschaffenheit und des Zustandes des, 
alten Germaniens nach seinen klimatischen und physischen wie 
selbst politischen Verhältnissen ein. Es liegen dieser Darstellung!, 
die bis S. 88 reicht, allerdings die Worte des Tacitus zu Grun- 
de, allein es werden damit auch die Nachrichten und Zeugnisse 
anderer Autoren über das alte Germanien zusammengestellt, um 
so der Darstellung möglichste Vollständigkeit zu geben. So linden 
Vfcir denn hier eine ausführliche Erörterung über das Hercynische 
Waldgebirge und die anderen einzelnen germanischen Gebirgs- 
namen, die auf uns gekommen sind, desgleichen über Germaniens 
Flüsse und Sümpfe, über die Beschaffenheit des Klimas, des 
Bodens und seiner Productivität , über den Anbau des Landes 
und dessen Producte, über die gesammte Pflanzen- und Thier- 
welt, über die Beschäftigungen seiner Bewohner, also über Jagd, 
Viehzucht, Ackerbau, über die verschiedenen Nahrungsmittel u. 
dg!., über Besitzthum der Einzelnen wie der Gemeinschaften u. 
s. w. Wir können hier nicht näher in den reichen Inhalt dieser 
Untersuchung, den wir blos andeuten wollen, eingehen, und er- 
lauben uns nur Eine Bemerkung zu S. 64 , wo der Berg Abnoba 
auf den Schwarzwald bezogen wird , der sich vom Blauen bis 
zum Kinzigthale hinzieht. Da nun aber auch bei Pforzheim , also 
an der Porta Hercyniae, ein Denkstein mit der halb zerstörten, 
aber zum Theil noch deutlich erkennbaren Aufschrift NOBE auf- 
gefunden , so wird sich wohl der Möns Abnoba auf die ganze 
Bergkette vom Blauen bei Badenweiler an bis nach Pforzheim 
herab beziehen lassen. S. Wilhelmi Erster Jahresbericht der 
Sinsheimer Gesellschaft vom J. i83i p. 17; Dritter Jahresbericht 
(|833) p. 33. 34. — Eine ähnliche Untersuchung oder Abband- 

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762 TacittM Germania von Gerluch. 

lung über die Bewaffnung* weise der alten Germanen, über die 
eineeinen Waffen, deren sie sich beim Kampfe bedienten, und 
über die Art und Weise der Kampfliihrung selbst sowie über die 
ganze Kriegs Verfassung ist zu cap. 6 p. 88 — ioi gegeben; über 
die Gotter des alten Germaniens (zu cap. 9) fafst sich der Verf. 
hurz und begnügt sich mit einigen allgemeinen Andeutungen, 
verweilend auf die ausfuhrlichere Darstellung dieses Gegenstan- 
des durch seinen gelehrten Mitarbeiter in einem der nachfolgen- 
den Hefte ; ebenso auch bei cap. i3 über die Sitte des Gefolges, 
und bei cap. 17 über die Kleidung der alten Germanen (der Vf. 
. erläutert hier blos die Bedeutung der einzelnen dabei vorkom- 
menden Ausdrucke); ebenso bei cap. 21 über Blutrache und 
Wehrgeld o. s. w. 

Einen Hauptpunkt bilden , wie schon bemerkt worden , die 
Erörterungen über die einzelnen Yülkerstamme Germaniens , die 
uns Tacitus in seiner Beschreibung vorführt, wohin auch die aus- 
fuhrliche Abhandlung S. 146— 176 über die Grenzen der römi- 
schen Herrschaft in Germanien und die Ausdehnung derselben 
diesseits des Bheins gehört, zumal als der Vf. darin eine histo- 
rische Übersicht der verschiedenen Kriegsunternehmungen und 
Kriegszüge romischer Feldherren und Kaiser liefert und über die 
Anlage der zum Schutz der römischen Granze befestigten Linien 
(limites) , über die Zehntlande u. a. sich verbreitet. Als Resultat 
seiner Untersuchung ergiebt sich , dafs die Ausbreitung der Ru- 
mer in den oberen Donau* und Bheingegenden am ungestörtesten 
im ersten Jahrhundert statt fand, dafs sie durch den Bataverauf- 
stand augenblicklich unterbrochen bis auf Domitian wieder weiter 
schritt , und obwohl durch die unverstandigen Züge gegen die 
Chatten vielfach bedroht und gefährdet, unter Trajan und Ha- 
drian den weitesten Umfang sowie die gröTseste Blüthe gewann. 
In diese Zeit nun verlegt der Verf. die grofsartige Anlage der 
zum Schutz des eroberten Landes unternommenen zusammenhän- 
genden Kette von Verschanzungen , oder jener befestigten Linie, 
die von Regensburg aus über Eichstädt und das Hohen lohische , 
dann durch den Odenwald an den Main oberhalb Aschaffenburg 
und von da weiter über den Taunus und das Nassauische bis an 
den Niederrhein in die Gegend von Neuwied in ununterbrochener 
Folge sich erstreckte, unter sorgfältiger Beobachtung des Ter- 
rains und geschickter Benutzung der natürlichen Verhältnisse, 
welchen die Kunst da, wo es nothig war, nachhelfen mufste. S. 
insbes. S. 174. 175. Die Untersuchungen über die einzelnen Vol- 



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Muhrj : Dantellun-en und Ansichten. 7<iS 

* 

ker, deren erste Sitze und deren weitere Zuge sind nicht minder 
befriedigend ausgefallen. Ref. erinnert nur an die Erörterungen 
über die Ubier und über die Mattiaken, über die Chatten S. 177 
ff., über die Sigarobrier (S. 18a ff'.), über, die Bruoterer (S. 188 
ff.), über die Chamaven (S. 192 (f.), Cherusker (S. 201 ff.), 
Sueven (S. 210 ff.) und über den Suerenbund (vgl. S. 216 — 219), 
über die Loogobarden, Thüringer, Markomannen, Guaden , Ly- 
gier, Gothen, Vandalen u. s. Wir können dem Zweck und der 
Bestimmung dieser Anzeige gemaTs nicht weiter in das Einzelne 
dieser Untersuchungen eingeben, die für den Freund germanischen 
Altei thums eben so anziehend als belehrend seyn werden. Mit 
Vergnügen verweilte auch Ref. bei dem, was der Vf. S. 260 ff. 
gelegentlich über die Glaubwürdigkeit des Jornandes, und die 
Autorität seiner, nicht zu verachtenden, Quellen bemerkt hat, 
«weil er darin nur eine erfreuliche Bestätigung der eigenen An- 
sicht finden konnte, die er im Supplement der Rum. Lit. Gesch. 
I. p. 73. p. i33 ff. ausgesprochen hat. 

Chr. Bahr. 



■ 

Adolph Mühry, Darstellungen und Ansichten zur VergUichung der Me~ 
dicht in Frankreich, England und Deuteehland. /VocA einer Reise in 
diesen Ländern im Jahre 1835. Mit 2 Plänen. Hannover, Hahn'sche 
Hofbuehhandlung 1836. Vlll u. 283 Seiten in 8. 

Bei dem raschen Voranschreiten der Medicin in den letzten 
Oecennien, der verschiedenen Gestalt, die dieselbe hiebei durch 
die ungleiche Richtung der Tbätigkeit verschiedener Nationen 
angenommen , mufs uns ' eine Sammlung der neuesten Boreiche- 
rungen und eine vergleichende Schilderung des gegenwärtigen 
Zustandes der Medicin in den drei civilisirtesten Ländern Euro- 
pa 's willkommen seyn. Und dies ist es, was uns der Verfasser 
in den 10 Kapiteln seines Buches zu geben sich bestrebt 

Da» erste Kapitel enthält eine kurze, aber klare medicinisch- 
topographische und statistische Übersicht dessen, was in Paris und 
London für den fremden Arzt kennenswerth ist. Die wie die 
übrigen Schulen der Universität im quartier latin liegende ecole 
de medecine hat in neuerer Zeit durch das bei dem Jardin des 
plantes gelegene, zu Sectionsübungen bestimmte grofse Amphi- 
theater von Claraart, durch das Musee Dupuytren, sowie durch 
das der Ecole de medecine gegenüber erbaute Hopital de lecole, 



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764 Mühry: Ansichten und Darstellungen 

* 

wo von Rostan, J. Cloquct und P. Dubois eine Klinik nach Weise 
der deutschen (die übrigen Kliniken bestehen nur in einem fluch- 
tigen Krankenbesuche und freiem Vortrage des Professors über 
die vorliegenden Falle) gehalten wird, einen bedeutenden Zu- 
wachs erwalten. 

Die Lehrer und ihre Vortrage an der Ecole de medecine 
[wozu noch Breschet, seit Kurzem Professor der Anatomie, zu 
zählen ist, Ref.]; die Hospitäler und ihre Ärzte, statistische No- 
tizen darüber; die medicinischen Gesellschaften , Concurse und 
Einrichtung des Studienwesens werden angegeben. 

Ebenso detaillirt wird über London, welches nicht, wie Pa- 
ris, die Concentration des Landes genannt werden kann, auch 
Einiges über Irland und Schottland berichtet. Von den 20 iso- 
lirten medicinisch- chirurgischen Schulen wird unter den wichtig- 
sten der übrigen, der 9 Hospitalschulen , der 3 Hospitäler für 
Aogenkranke, der syphilitischen Hospitäler, Gebaranstalt, gleich- 
falls mit statistischen Bemerkungen erwähnt. Es fehlt eine ad- 
ministration generale. Die Unterhaltung und Administration der 
ineisten Hospitäler (mit Ausnahme von St. Bartholomey, Guy und 
St. Thomas Hospit.) geschieht- durch beisteuernde governors. Die 
Aufzählung der Lehrgegenstände einiger Schulen , sowie die Be- 
triebsweise des medicinischen Studiums, zeigt mehr die vorherr- 
schende praktische, besonders pathologisch - anatomische und chi- 
rurgische Tendenz d ersclben. Auch werden hier die gelehrten 
Gesellschaften, sowie die Anforderungen, welche die 3 ärztlichen 
Corporationen, sowje die Universität von Edinburg, an ihre Can- 
ditaten machen, angeführt. Referenten gewährten die Angaben 
über Paris eine angenehme Erinnerung, die über England inter- 
essante Belehrung. 

Die Wichtigkeit der Entzündung, die grolse Ausdehnung, 
die ihre Lehre in der letztverilossenen Zeit erfuhr, der Einflafs, 
den sie auf die gesammte Medicin übte, rechtfertigen es, dafa 
der Verfasser in dem sten Kapitel die Verschiedenheit der Ent- 
zündungslehre von England u/id Frankreich der vergleichenden 
Betrachtung der Medicin in beiden Ländern vorausschickt. In 
England ward die Entzündung durch die Chirurgie (Hunter), in 
Frankreich durch die Medicin zum Centraipunkte der Pathologie 
erhoben. Dort betrachtete man sie mehr anatomisch - patholo- 
gisch ; hier mehr physiologisch - pathologisch ; dort beobachtete 
man sie mehr an äussern Gebilden, hier mehr an den Organen 
der drei grofsen Hohlen und vorzugsweise an Schleimhäuten. 



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Mühry: Ansichten und Darstellungen. 



;o5 



Die englische Schule sieht nur Zertheilung , Verhältung, Ad- 
häsion, Eiterung, Ulceration und Brand, die franzosische aber 
ausserdem noch Erweichungen , Hypertrophie und die Legion ac- 
cidenteller Gebilde als Ausgänge der Entzündung an. England 
hat eine heilsame und unheilsame, Frankreich fast nur eine un- 
heilsame, durch die Kunst zu bekämpfende Entzündung. Wah- 
rend Englands Chirurgie auf solche Weise von dem Studium der 
Entzündung Nutzen zog, hat die Medicin den Einflufs desselben 
weniger empfunden ; ein entgegengesetztes Verhält nifs findet in 
Frankreich statt. Hierin liegt der Grund , dafs die Heilung durch 
erste Intention in Frankreich noch Streitfrage ist, während man 
in England längst dafür entschieden hat. [ Unter den Freunden 
der prima intentio hätte der geistreiche Delpech, der Vorgänger 
Serres, eines enthusiastischen Vertheid igers derselben, billig eine 
Stelle verdient. Wenn der Vf. den sinkenden Credit von Brous- 
sais Lehre als Folge der Blutverschwendung und der gegen sie 
in Frankreich und England seit einiger Zeit begonnenen Reaction 
betrachtet, so möchte Ref. dem rationellen Studium der patho- 
logischen Anatomie einen noch gröTsern Antheil vindicireo.] Eine 
weitere Umänderung der Entzündungslehre erwartet der Verf. 
von Anwendung der BeIrschen Nervenlefire auf dieselbe. 

Das 3te , » franzosische Medicin c überschriebene Capitel be- 
ginnt mit Broussais Theorie und deren Bekämpfung durch Andral. 
Lännec und Louis sind schon im 2. Capitel als Gegner erwähnt. 
Mit der Bemerkung , dafs die gegenwärtige Richtung der franzosi- 
schen Medicin schon durch Descartes, Condillac , Portal und Bi- 
chat eingeleitet worden, und auch ohne Broussais ihren jetzigen 
Standpunkt des Localismus erreicht haben würde , schliefst der 
Verf. diese Betrachtung , um zu einer etwas weitläufigen Erörte- 
rung über Auscultation und Percussion überzugehen. [Ref. , nach 
dessen Überzeugung der Vorwurf des Verfs, die geringe Aus- 
breitung dieser Methode in Deutschland betreffend, ein ungegrün- 
deter ist, glaubt das hier Gesagte als allgemein bekannt überge- 
hen zu dürfen.] 

Mit Recht ist ein Artikel dem gewissenhaften Beobachter 
Louis, Arzt an der Pitie, und dessen methode numerique gewid- 
met. Sein rastloses Bestreben ist nicht nur, durch scrupulose 
Sammlung von Krankengeschichten und Scctionsbefunden neue 
Wahrheiten zu finden, sondern noch weit mehr, angenommene 
Wahrheiten zu bestätigen oder zu zernichten, und hiezu bedient 
er sich der Zahlenverhältnisse. In grofsen Tabellen ist jedem 



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76G Mühry: Ansichten nnd Darstellungen. 

Symptome eine eigne Rubrik gewidmet, die Summe jeder Rubrik 
wird im Verhältnisse zur Gcsatnmtzahl der Kranken dargestellt 
Mittels dieser * Methode numerique « fand Louis , dafs Ph thisis 

' fast stets mit Tuberkeln in den obern Lungenlappen , Bronchitis 
dagegen in den untern Lungenlappen beginnt, dafs bei Tuberkeln 
in andern Körpertheilen fast immer in den Lungen welche vorhan- 
den sind, und andere ' interessante Facta. 'Aber sie schützte ihn 
nicht ror einzelnen Übersehen [noch vor einzelnen einseitigen 
Fehlschlüssen. Ref.]. 

In dem folgenden Artikel, »fievre typhoide«, ist vorzugs- 
weise Chomel, der dem typhus abdominalis, dothinenterite etc. 
diesen Namen gab, aber in der Beschreibung desselben fast die 
ganze Fieberlehre sieht, berücksichtigt Chomel 's anfangs gun- 
stige, spater bei größerer Krankenzahl weniger gluckliche Re- 
sultate durch die Behandlung mittels des Chlorure de Soude, Li- 
queur de Labarraque — sind vollständig, die angeblich sehr gluck- 

' liehen Behandlungsweisen von Piedagnel und Delaroque durch 
Abfuhrungsmittel, sowie die von Bouillaud unvollständig ange- 
geben. Fouquier giebt Alaun. [Louis wandte im J. i834 Ader- 
lafs und Scherserwasser bei allen seinen Kranken an. Bef.] Cho- 
mel , Gegner von Broussais , Vertheidiger der essentiellen Fieber, 
hält die Darmdrusenentzündung für secundäre Folge einer ver- 
borgenen Störung des Nervensystems oder der flüssigen Theile. 

Allgemeines, grofses Ansehen geniefst Andral*), und seine Lehre 
kann als eigne Schule gelten. Dieselbe berücksichtigt in ihrer 
Pathogenie die festen Theile und das Blut, sowie die Vitalität. 
Die Buckwirkung kranker Theile auf andere geschieht ihr theits 
durch Girkulattoo, theils durch Innerration, thcils durch Sympa- 
thie. Sie beschränkt die Entzundungskrankheiten , besonders des 
Darmkanales. Bei seinen zahlreichen Versuchen mit einfachen 
Arzneimitteln sahen seine Landsleute mit Staunen die ungestrafte 
Anwendung von Breeh- und Abfuhrungsmitteln [trotz dem, dafs 
sie selbst gegen Bleikolik die Pferdekur, genannt »traitement de 
la Gharitec seit langen Jahren täglich anwenden. Bef.]. 

In einem Überblicke der franzosischen Medicin wird das Vor- 
herrschen der pathologischen Anatomie, die grofse Vollkommen- 
heit der pathologisch - anatomischen Diagnose, dagegen die ge- 
ringe Berücksichtigung des Allgemeinzustandes und der tndiridua- 



*) Dna vom Vf. Andral zugeschriebene Werk, „Essai sur la vitalite*", 
ist von Rocquet, wie die cr.tc Seite desselben seifrt. 



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I 

Muhry: Anrichten und Darstellungen. 767 

lität hervorgehoben. Scharfblick im Einzelnen, Mangel an Um- 
sicht und Übersicht charakterisirt den französischen Arzt. Sehr 
vernachlässigt ist die an Arzneimitteln arme Therapie (hier hatte 
Trousseau, Arzt im Hotel dieu, der daselbst eine Klinik halt, 
als rationeller Therapeut eine ehrenrolle Erwähnung verdient, 
Ref.]; durch allzu grofse Diät und übermäfsig gereichte Tisanen 
wird nicht selten geschadet, Hivstiere aller Art werden häufig 
gegeben. — Der- französische Arzt sieht den Darrokanal gleich- 
sam in einem verwundeten Zustande. Ein thätiger und in seiner 
Sphäre vielversprechender Arzt ist Riccord , an dem Dop. des 
veneriens. Wichtig sind seine Inoculationsversucbe. Syphilitische 
Materie von primären Affectionen jeder Art erzeugte durch Im- 
pfung Papeln, die am /jten Tage zur Pustel, am 6ten zur Kruste 
wurden , nach deren Abfall ein Chanker blieb. Secundäre syphi- 
litische Geschwüre, GonnorrhÖen , die nicht Folge eines syphili- 
tischen Geschwürs- sind , lassen sich nicht durch Impfung auf der 
Haut fortpflanzen. Die Wichtigkeit dieses Mittels zur Unter- - 
Scheidung secundärer Ines von primärer, nicht syphilitischer Gon- 
norrhoe von syphilitischer ist einleuchtend. Ähnliche Resultate 
erhielt gleichzeitig, unabhängig von Riccord, Wallace in Dublin. 
[Schon Hunters Impf versuche zeigten, dafs die Impfung secun- 
därer Chanker erfolglos bleibt. — Bei Beschreibung des Specul. 
v. Riccord , einer Verbesserung des von Jobert , ist der Ligatu- 
renträger, sowie der zwischen den Handgriffen beßndliche Maß- 
stab nicht angegeben worden. Auch Emery und Lisfranc bieten 
reiche Gelegenheit, die Anwendung dieses Instruments zu beob- 
achten. Ref.] Nur bei secundärer Syphilis und hartnäckigen Pri- 
märaffectionen wendet Riccord Mercur, und zwar meist das 
Protojodür an, nur ausnahmsweise aber schweifstreibende Mittel 
[tisane de Feltz. Ref.], Blutentziehungen und revulsiva. — [Zur 
Behandlung der Bubonen durch Blasenpflaster hatte der damit 
verbundene Gebrauch von Sublimatuberscblägen , 20 Gr. auf 1 
Unze y, erwähnt werden sollen. Ref.] BlennorrhÖen der Frauen 
werden durch Injection salpetersauren Silbers, durch Einfuhrung 
von mit plumb. aceticum getränkten Charpiebäuschen , oder bei 
schlaffer Schleimhaut [und Ulcerationen oder Erosionen. Ref.] 
durch Betupfen mit Salpeters. Quecksilberlosung [und Einfuhrung 
mit Calomel bestreuter Charpie. Rpf.] behandelt. Wegen weite- 
rer interessanter Details müssen wir auf das Buch verweisen. 
Der Artikel »Phrenologie« erwähnt der grofsen Theilnahme an 
derselben, sowie des glucklichen Resultates, das Voisin in dem 



< 

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768 Mühry i Ansichten und Darrel hingen. 

Bagno zu Toulon erhielt , als er von 22 der Nothzucht wegen 
Vcrurtheilten, die unter 35o Verbrechern vertbeilt waren , i3 
durch Detasten erkannte. Auch des orthophrenischen Instituts 
Voisins ist gedacht. [Nirgends aber der psychischen Medicin. 
Ref.] 

4tes Cap. »Englische Medicin.« Die englischen Ärzte sind 
nüchterne Beobachter, jeder Theorie , deren die Anwendung nicht 
unmittelbar bedarf, abgeneigt. Keine herrschende Schule; zu den 
Vorträgen dient Cullens Eintheilung. Die Pathologie beruht auf 
Anatomie und Physiologie, mehr aber noch durch den beliebten 
Schlufs a juvantibus et nocentibus auf der Therapie. Casuistik 
und Monographien sind das Hauptverdienst der Engländer. »[Nur 
erscheinen häufig englische Krankengeschichten , den deutschen 
und französischen gegenüber, höchst mager. Ref.] Bei dieser 
empirischen Tendenz der englischen Medicin ist keine allgemeine 
Pathologie zu erläutern , wohl aber sind therapeutische Mittel zu 
nennen. Unter diesen sind nun 3 vorherrschende: 1) Mercur, 
in grofsen Dosen als Calomel — nach Blutentziehungen bis zur 
Salivation angewandt, nach Graves das erste Antiphlogisticum. 
Gegen ihn vertheidigt Wilson Philipp sehr kleine Gaben in der 
Form der blue pills, deren reizende Wirkung, besonders auf die 
Leber, hervorhebend. Auch Abernethy's Hauptmiltel waren diese 
blue pills [die aber, aus Quecksilber und Kreide bereitet, kein Prot- 
oxyd , sondern metallisches Quecksilber enthalten. Ref.]. 2) Die 
Purgiermethode, wobei Calomel wieder unter den übrigen Pur« 
gantien obenan steht. Das Klima Englands verlangt grofsere Ga- 
ben als der Continent. 4) Aderlafs — dnreh Armstrong, Wardrop 
und V* der englischen Praktiker in grofser Menge,, mit grofser 
Öffnung der Vene und bis zur Ohnmacht angewandt Die frü- 
her herrschende stärkende Methode ist verschwunden, sie ist durch 
kräftige Diät, die nie wie in Frankreich beschränkt .wird , ersetzt. 
Auch die englische Medicin legt dem Darmkanale vorzugliche 
Wichtigkeit bei, aber nicht als Sitz der Krankheiten , sondern als 
Hauptterrain seiner Therapie. Auscullation und Percussion, auch 
pathologische Anatomie werden ileifsig betrieben. Wie bei der 
französischen Medicin , wird hier auf den englischen Volkscbarak- . 
ter, sowie auf Loke, Bacon und Jerera. Bentham hingewiesen. 

(Der Ueachlufs folgt.) 



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N°. 49. HEIDELBERGER i837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Mühry: Ansichten und Darstellungen. 

(Beschlu/8.) 

Die Häufigkeit der Rheumatismen in England führte englische 
Schriftsteller, und zwar Pitcairn zuerst, auf Beobachtung der 
Coincidenz derselben mit Perikarditis und endocarditis. In Frank- 
reich machte erst kurzlich Bouillaud hierauf aufmerksam. [Unter 
den interessanten Details hierüber mufs Ref. der Angabe des Vfs., 
dafs das durch die Auscultation wahrzunehmende Zeichen ein 
constantes sey, widersprechen. Die Artikel Hay fever, Watering 
places, Afterarzte, Homöopathie, überläfst Ref. dem Leser. Die 
Artikel » Oxford, Briefliches u. Seekrankheit« scheinen ihm durch 
einen error loci in das Buch gerathen zu seyn.] 

5tes Capitel. Französische Chirurgie und Ophthalmologie. 
Durch Sorgfalt und Eleganz ihres Verbandes und durch operative 
Geschicklichkeit sind die franz5sischen Chirurgen aasgezeichnet. 
Neben dem schnell, gewandt und sicher operirenden , die altere 
Chirurgie repräsentirenden Roux sind Sanson, Velpeau, Lisfranc 
[warum nicht Blandin, Gerdy, Jobert ? Ref.] erwähnt. Sehr 
instructiv sind die zahlreichen Operationscurse. [Wenn der Vf. 
Mayors planchettes unbedingt verwirft, so wird er dadurch gleich- 
zeitig gegen die Schwebe, die trotz ihrer anerkannten Vortheile 
Ref. nie in Paris anwenden sah , ungerecht.] Sehr einfach ist 
meist die medicinische Behandlung; zur Operation wird gewöhn- 
lieh der Kranke durch Fufsbäder etc. vorbereitet. Die Behand- 
lung der Geschwüre ist bei verschiedenen Chirurgen, aber nicht 
nach Verschiedenheit ihres Charakters verschieden. Das Haschen 
nach Neuem, der Wetteifer in Erfindungen, das Vergessen des 
Neuaufgekommenen, sowie der Prioritätsstreit sind für die fran- 
zosischen Chirurgen charakteristisch. Bekanntlich haben die Harn- 
uhd Geschlechtswerkzeuge vorzugsweise einen grofsen Theil ihrer 
Aufmerksamkeit absorbirt. [Die Cauterisation bei Harnrohre- 
stricturen ist in neuerer Zeit selbst durch einige ihrer Vertheidi- 
ger sehr beschränkt worden. Ref.] Den Kampf zwischen Lithon- 
tritie vergleicht der Verf. treffend mit den Schlachtenbülletins , 
die von jeder der Kampfführenden Partheien übertrieben wer- 
XXX. Jahrg. 8. Heft. 49 



uigiiizeo 



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710 



Muhr/t Ansichten and Darstellungen 



den. Amntsat rühmt sich, gezeigt zu haben, dafs die anatomi- 
sche Beschaffenheit der Harnröhre gerade Katheder nicht ver- 
biete. Doch fand man zu Herculanum schon gerade Katheder 
[and Santarelli hat ebenfalls früher für diesen Gegenstand gespro- 
chen. Ref.]. Amussat hält wöchentlich einmal gelehrten Discus- 
sionen gewidmete Conferenzen. Ausser seinen bekannten Specia- 
lis ten, der Torsion, Strictur. uretbr. und Lithontritie beschäftigt 
er sich auch mit Operationscnrsen an lebenden Thieren. Die 
Plastik hat durch Diefenbachs Anwesenheit im J. 1 83 \ grössere 
Anregung und an Blandin einen Monographcn erhalten. Wenig 
[doch mehr bei kleinen Gefäfsen. Ref.] ist die Torsion angewandt. 
[Einer Erwähnung hätte wohl Breschet's Behandlung der Varico- 
cele, Joberts El) throplastik , die Versuche und Discussionen über 
Larrey s Appareil inammobile durch Berard , Breschet und Rog- 
netta , sowie die franzosische Orthopädie verdient. Ref.] Dafs man 
den Mangel pathologischer Sammlungen fühlt, beweist die Er* 
richtung des Musee Dupuytren sowie des in Clamart durch Orfila. 
[Den Vorwurf der Vernachlässigung der chirurgisch pathologi- 
schen Anatomie in Frankreich hält Ref. für unbegründet. 

Seit Demours ist ein Stillstand der franzosischen Ophthalmo- 
logie eingetreten; Gemeingut ist die meist dem Oculisten über- 
lassene nie geworden. Erst seit Kurzem wird gröfsere Theil- 
nabrae für sie rege, durch Sicheis and nach ihm durch Carron 
da Villards, Sanson's, Velpeau's Bemühungen veranlagt. Sicheis 
Augenklinik ist aasgezeichnet; auch Carron da Villards hält eine 
Klinik. [Bei Beschreibung der Staaroperation von Roux hätte 
statt des untern Hornhautschnitts der seitliche, statt der krum- 
men Nadel zu Eröffnung der Kapsel Boyers Cystitom angegeben 
werden sollen. Das Verfahren von Roux ist so roh, als die Aus- 
führung desselben gewandt. Ref.] Empfohlen wird Gensoul's Na- 
senkatheter. [Velpeaus Auflegen des Blasenpflasters auf entzün- 
dete Augen spricht durch die von ihm bekannt gemachten Fälle 
sich selbst das Urtheil. Ref.] Schön und treffend ist, was der 
Verf. über speeifische Entzündung, deren Abläugnong in Frank- 
reich, geringe Berücksichtigung in England und wahre Würdi- 
gung in Deutschland sagt. 

6tes Cap. Englische Chirurgie u. Ophthalmologie. Vorzüg- 
liche Ausbildung der chirurgisch pathologischen Anatomie, aus- 
gesprochene Tendenz zar Festhaltang des Bestehenden, weniger 
Erfindungssucht als in Frankreich , dagegen Bemühen , die bisher 
gesammelten Erfahrungen unter allgemeinen Gesichtspunkten zu- 



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Mühry; Ansichte« und Dan tri langen. rtl 

lammen zustellen , charakterisiren die englische Chirurgie. Bell 's 

Nervenlehre wird thätig bearbeitet. 

Von den zahlreichen pathologischen Museen werden Vorzug- 
lieh das des Coli, der Wundarzte , Hunters Sammlung enthaltend, 
von Guys Hospit., London university, Kings College, St. Geor- 
ges Hosp. und das Privatmuseum von LangstafX gerühmt. 

In Folge der neuen Parlamentsakte ist auch die Zahl der zu 
anatomischem Gebrauche bestimmten Leichen von 200 auf 600 
jährlich gestiegen. Durch Heurteloup, Castello, Combe u. Cramp- 
ton wird die sich jetzt verbreitende Lithontritie geübt. Die Ruhe 
und Sicherheit der englischen Operateurs wird sehr geruhrat. 
Ebenso Einfachheit des Verbandes, Heilung durch prima intentio, 1 
Heften durch Hausenblasenpllaster. Wenig berücksichtigt ist die 
Plastik. Die Nachtheile der noch allzu grofsen Trennung der 
Chirurgie und Medicin sind sehr fühlbar. Bei der innern Behand- 
lung wiederholt sich das bei der Medicin Gesagte. 

An den drei Hospitälern für Augenkranke sind Alexander, 
Haiford, Tyrrell und Guthrie angestellt Ausser ihnen widmen 
sich der Augenheilkunde auch Travers, Lawrence, Wardrop, 
Guthrie und Karle. Das neueste englische Handbuch, das auch 
die deutsche Ophthalmologie berücksichtigt, ist von Walker, i835. 
Die Ausbildung der Augenheilkunde in England ist noch lücken- 
haft. Ihre häufige Anwendung des Salpeters. Silbers ist bekannt. 

7tes Cap. Veränderungen im Medicinalwesen Frankreichs. 
Die im J. 1789 bestandenen 18 Collegien wurden 1794 auf die 
3 ecoles de Sante reducirt ; erst in ihnen ward Medicin und Chi- 
rurgie vereint. i8o3 ward durch Einführung der ofßciers de 
Sante ein Bückschritt gemacht. Sie werden meist auf den Se- 
cundärschulen gezogen; ein Examen von einer Provinzialjury ge- 
nügt. Doctor der Medicin kann nur ein Bachelier es letters und 
bachelier es sciences werden , der 4 Jahre auf einer ecole de me- 
decine studirt und 5 sehr oberflächliche exaroina gemacht hat. 
[Die Angabe des Verfs. über die franzosische Pharmacie ist ge- 
eignet, einen sehr günstigen aber falschen Begriff von derselben 
zu geben. Einige eminente Männer abgerechnet sind viele fran- 
zösische Apotheker nur Krämer , viele aber auch Pfuscher. Das 
Bestehen der herboristes öffnet der Pfuscherei alle Thore. Bef.] 
Der bekannte bedauernswerthe Zustand des französischen Medi- 
cinalwcsens macht die Ausführung der vom Verf. angeführten 
Verbesserungsvorschläge höchst wünsebenswertb. 



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712 Mührj i Ansichten und Darstellungen. 



Ötes Capitel. Medicinalwesen in England und dessen Reform. 
Das College of physicians, of surgeons und die Society of apotbe- 
caries sind die drei streng geschiedenen ärztlichen Corporationen 
Englands. Der Aufnahme in jeden dieser Körper geht ein Examen 
voraus. Die höchste Stellung nimmt das Coli, of phys. ein ; Mit- 
glieder können nur Arzte werden, welche zu Oxford , Cambridge 
oder Dublin Doctoren geworden sind ; Licenziaten aber auch sol- 
che , welche auf andern Universitäten doctorirt haben. Ihre Zahl 
ist die geringste. Die Mitglieder des College of surgeons, Zög- 
linge der inedicinisch- chirurgischen Schulen Londons, üben theils 
nur Chirurgie, pure surgeons, und sind dann hoher geachtet , 
meist aber auch Medicin und theils Pharmacie aus. Mit Erhöhung 
der Chirurgie stieg auch das jetzt grofse Ansehn dieses ColJe- 
giums und seiner Mitglieder. Die gröfste Anzahl enthält aber die 
Apotbecaries Company, welche die geringsten wissenschaftlichen 
Anforderungen an ihre Candidaten macht. Sie üben Medicin, 
Chirurgie und Pharmacie, sind vom Volke am meisten beschäf- 
tigt, aber am wenigsten geachtet. Ihre Arzneimittel beziehen sie 
aus der auf Rechnung der Gesellschaft arbeitenden Apotbecaries 
Hall. Geburtshülfe ist nur von wenigen geachteten Ärzten geübt; 
sie ist sehr vernachlässigt. Auch Droguislen und Chemisten 
prakticiren. 

Das Redürfnifs einer Änderung wird allgemein gefühlt, die 
Verschiedenheit der politischen Ansichten machte aber bis jetzt 
eine Vereinigung über das »Wie?« unausführbar. Schliesslich 
wird die von der Whigpartei gegründete London university , so- 
wie das von den Conservativen gestiftete Kings College erwähnt. 
Reiden fehlt noch die königliche Autorisation. 

qtes Cap. Rückblicke auf Deutschland. Mit dem Einflüsse 
beginnend, den die zu Ende des vorigen Jahrhunderts herrschende 
speculative Tendenz auf Naturwissenschaften übte , verfolgt der 
Verf. die unter Leitung der Naturphilosophie, des Brown'schen 
Systemcs und der Erregungstheorie sich entwickelnde Medicin , 
weist auf die durch Vernachlässigung <fes Objectiven, durch Ver- 
wischen der Unterschiede und Haschen nach Analogie, durch eine 
verwirrende Terminologie der Medicin und besonders der Patho- 
logie gebrachten Nachtheile. Dafs trotz dem gegenwärtig einge- 
schlagenen empirischen Wege Residuen jener poetischen Zeit in 
der Pathologie vorhanden sind , werden als Reweise Hofmanns 
Idealpathologie und Schonleins System angeführt. So viel Wahres 
an dieser schönen Darstellung ist, so scharfsinnig die Folgerungen 



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Histoir^dc la croisade eutitre lea nlbigeoi«, publice par Fauriel. 173 

und wohlgemeint die Rathschläge auch sind , so ist doch manche 
der Beschuldigungen übertrieben. Nicht gering ist die Zahl der 
Männer, die von jenem Treiben sich frei erhaltend, das Erfah- 
rungsgebiet der deutschen Median bearbeitet haben; so dafs wir 
den angeführten Arbeiten des Auslandes die der spec. Entzün- 
dungslehre , der Augenheilkunde, gerichtlichen Medicin und der 
Lehre von den Kinderkrankheiten in Deutschland entgegensetzen 
können. Wenn aber Herr Mühry zweimal der schützenden Kuh- 
pockenimpfung als einer englischen Entdeckung rühmend erwähnt, 
so hätte er als Hannoveraner der in Gottingen von J. C. Röder 
herausgegebenen allgemeinen Unterhandlungen gedenken sollen, 
in denen schon im Jahre 1769 von der Schlitzkraft der Vaccine 
deutlich die Rede ist. 

Was aber die poetische Seite in Schönleins System betrifft, 
scheint der Verf. in Übertreibung derselben selbst etwas poetisch 
geworden zu seyn. Die hie und da von Schönlein gebrauchten 
bildlichen Ausdrücke hindern nicht, dafs er aus voller und viel- 
seitiger Erfahrung schöpfe; sein System aber, als natürliche An- 
ordnung, mufs die allgemeinen Grundsätze der natürlichen Systeme 
theilen , und gerade dieser Vorwurf möchte ein Verdienst der 
Schönleinschen Schule seyn. Was die Anempfehlung der methode 
numerique betrifft , so kann Ref. nur beistimmen. 

Das loteCapitel enthält ein kurzes Resume und einige nicht 
uninteressante aphoristische Sätze. 

Reich an neuen Mittheilungen , zeugt das Buch von der De- 
lesenheit und dem umfassenden Überblicke des Verfassers. Einige 
Tiraden und Wiederholungen abgerechnet, ist die Sprache leben- 
dig und schön ; das Äussere ist elegant. Ref. glaubt den reisen- 
den Ärzten zu diesem geistreichen Führer Glück wünschen au 
dürfen. Karl Her g t. 



ilistoire de la croiaade contre h s heretiquea albigeois öcrite cn vera ;iro- 
vencaux par un poete contemporain , traduite et publice par W. C. Fau- 
riel, membre de V Institut de France profesaeur ü la facultc dea lettrea 
« Paria. Paria, imprimerie royale. 1837. CXXXIf und 738 & in 4. 
iVe&st einem Facaimilc einer Handschrift und einer Karte. 

Die Geschichte des Rreuzzugs gegen die Albigcnser, welche 
Herr Fauriel, der sich um die Geschichte von Frankreich viele 
Verdienste erworben und auch als Herausgeber der Gricchen- 
licder bei uns bekannt ist, hier zum erstenmal nebst einer fran- 



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774 Histoire de la crotatde contre lc« albigeoi», 

zösischen Übersetzung im Druck erscheinen laTst, gehört unter 
die Sammlung der unedirten Denkmale der französischen Ge- 
schichte, welche auf Befehl des Königs und auf Veranstaltung 
des Ministers des öffentlichen Unterrichts aus den Pressen der 
königlichen Druckerei in Paris hervorgeht. Wir lasen erst kurs- 
lich in der Revue des deux mondes (i5. Mai) bei Gelegenheit 
einer Anzeige der Ouvrages inedits d'Abeiard eine bittere Klage 
über diese ministeriellen Unterstutzungen der Wissenschaft Sie 
begünstigen, hiefs es dort, nur vorzugsweise die pedantische 
Buchstabengelehrsamkeit; unter dem Vorwand Materialien zu eU 
ner Nationalgeschichte zu sammeln , vervielfältige man nur eine 
Menge im Staub der Bibliotheken vergessener Schriften, über 
deren unbedeutenden Werth für die Wissenschaft schon längst 
sachkundige Männer entschieden hätten, und man verschleudere 
auf diese Weise ziemlich leichtsinnig die Mittel des Budgets. Auch 
das vorliegende Werk kann man in der That nicht ganz frei von 
dem Vorwurf sprechen , der dort das Sic et Non Abälards trifft, 
sobald man blos das handschriftliche Original im Verhältnis zu 
der bisherigen Kenntnifs der Albigenserkriege betrachtet. Die 
Ausbeute für die Wissenschaft ist im Ganzen ziemlich gering. 
Weder bis jetzt ganz unbekannte, für die Geschichte der Albi- 
genserkriege wichtige Thatsachen, noch neue Gesichtspunkte zur 
Beurtheilung derselben werden durch dieses neu aufgefundene 
Document gewonnen ; ebensowenig zeichnet es sich durch beson- 
dere Vorzüge in Hinsicht auf Form und Sprache aus , wodurch 
es für den Forscher der provenzalischen Sprache und Literatur 
einen besonderen Werth erhalten konnte ; vielmehr steht es in 
dieser Bücksiebt , selbst nach Herrn Fauriels Meinung , allen bes- 
seren Werken der Troubadours nach. Nur was der Fleifs und 
die Gelehrsamkeit des Herausgebers dafür getban, um dieser neu 
aufgefundenen Geschichte gröfseres Interesse und mehr wissen- 
schaftlichen Werth zu geben, ändert das Verhältnifs und ist im 
Stande, dieses historische Gedicht in Beziehung zu den schon 
früher vorhandenen Quellen der Geschichte des Albigenserkrieges 
in ein gunstigeres Licht zu setzen. Die Arbeit des Hrn. Fauriel 
besteht , um dies gleich hier zu bemerken , ausser der Herausgabe 
des provenzalischen Textes, in einer franzosischen Übersetzung 
in Prosa, die das Original mit der g reifsten Genauigkeit und, so- 
weit es nur immer thunlich war, wortlich treu wiedergiebt, was 
bei einem solchen Werke durchaus das Zweckmäfsigste ist; so- 
dann in einer Einleitung, durch welche der Herausgeber seine 



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publice par Fauricl 775 

» ♦ . 

Leser über alte das Werk betreffende Umstände unterrichtet. Dem 
Ganzen ist ein Glossarium und ein Register beigefugt. 

Um das richtige Vcrhältnifs dieses Werkes zu den bisher 
gekannten Quellen der Geschichten, von denen es bandelt, be- 
stimmter hervorzuheben , müssen wir Torzuglich einer dieser Quel- 
len eine etwas genauere Aufmerksamkeit schenken. 

Die Geschichte der Vertilgungskriege gegen die albigensische 
Ketzerei ist bekanntlich im dritten Theil der Histoire de Langue- 
doc von den Benediktinern der Congregation von St. Maur mit 
jener Vortrcfllichkeit und grundlichen Genauigkeit behandelt, 
welche man bei keiner der ausgezeichneten historischen Arbeiten 
dieser Congregation vermifst. Dom Vaissette, der Herausgeber, 
hat dort unter den pieces justificatives eine Geschichte des Albi- 
genserkriegs, von einem unbekannten Verfasser, wahrscheinlich 
in der ersten Hälfte des i4ten Jahrhunderts (bist, de Languedoc 
T. III. avertiss. p. IV.), in dem Languedocischen Idiom geschrie- 
ben , mitgetheilt Diese Geschichte in der Vulgarsprache beginnt 
aligemein einleitend über die albigensische Ketzerei mit dem Jahr 
1902, und sodann umständlicher mit dem Jahre 1208, wo der 
päpstliche Legat Peter von Castelnau in St. Gilles ermordet wur- 
de, und schliefst mit der Belagerung von Toulouse durch den 
Dauphin, nachher König Ludwig VIII. von Frankreich im J. 1219. 
Sie zeichnet sich durch Unparteilichkeit und einfache, treue Dar- 
stellung der einzelnen Umstände vor andern gleichzeitigen Schrift, 
stellern, namentlich vor der gegen die Albigenser höchst par- 
teiischen historia Albigensium des Peter von Vaux-Sarnay, der 
ganz denselben Zeitraum befafst , sehr vorteilhaft aus. Man hat 
davon zwei Handschriften (eine in der Bibliothek von Peiresc zu 
Carpentras , welche der zweiten, neueren, in der königlichen Bi- 
bliothek zu Paris als Text gedient hat), welche von verschiede- 
nen älteren Geschichtschreihern der Provence benutzt wurden 
und bisher eine der vorzuglichsten Quellen der Geschichte der 
Albigenserkriege waren. Beide Handschriften sind gleichlautend 
und enthalten nur eine Lücke bei dem Tod Simons von Montfort. 
Die Choix des monumens orig. de l'hist. de France, unter der Lei- 
tung von Guizot 1825 herausgegeben, enthält eine Übersetzung 
dieser Geschichte. Wir erwähnen derselben ausdrucklich so um« 
ständlich, nicht blos, weil wir immer gern dabei der classischen 
Arbeiten der Benediktiner von St. Maur gedenken , die in unserer 
jetzigen historischen Literatur fast wie die ausgestorbenen Thicr- 
arteo in der Naturgeschichte erscheinen, sondern hauptsächlich, 

* 

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116 



Histoire de la crotsade contre les albigeots , 



weil diese von ihnen zuerst herausgegebene prosaische Bearbei- 
tung der Geschichte des Albigenserkriegs mit der vorliegenden 
versificirten noch in einer näheren Beziehung steht, als Gleichheit 
des dargestellten Gegenstandes und Verwandtschaft des dabei ge- 
brauchten Sprachidioms darbieten. Durch dieses Verhältnifs bei- 
der Bearbeitungen zu einander wird die letztere allerdings der 
genaueren Aufmerksamkeit werlh , die ihr bis auf Herrn Fauriel 
verweigert wurde. 

Herr Daunou und Herr Naudet, welche nach dem Tod des 
Benediktiners Brial die Fortsetzung des Becueil des historiens des 
Gaules et de la France besorgten , kannten die Handschrift, die 
jetzt Herr Fauriel herausgegeben hat. Sie gaben im lojen Tbeil 
des Becueil, wo sich eine vollständige Sammlung der Quellen für 
die Geschichte des Albigenserkriegs ßndet, einen neuen Abdruck 
jener prosaischen Bearbeitung, und begnügten sich von dieser 
poetischen nur in einer Note eine kurze Anzeige zu machen, die 
das vorhin schon angedeutete ungünstige Urthcil bestätigt. In 
der That sind die erzahlten Thatsachen und einzelnen Umstände 
in beiden Bearbeitungen ganz dieselben , auch die poetische Dar- 
stellung beginnt mit der Kreuzpredigt des Abts von Citeaux und 
dem Tode Peters von Castelnau, und schliefst mit der Belage- 
rung von Toulouse im J. 1219, und es läfst sich mit Grund an- 
nehmen, dafs diese Beimchronik der ursprüngliche Text der Ge- 
schichte in Prosa war. Die Sprache der letzteren ist dieselbe, 
die man noch jetzt mit wenigen Veränderungen in der Gegend 
von Toulouse redet. Sie trat dort an die Stelle der älteren pro- 
venzalischen oder catalaniscben Sprache, als die Literatur und die 
fröhliche Kunst der Sänger durch die verheerenden Kreuzzüge 
Simons von Montfort unter die Trümmer der ritterlichen Cultur 
jenes blühenden Landes vergraben wurde. Denn seit jener Zeit 
schrieb man beinahe gar nicht mehr in provenzalischer Sprache, 
und in dem Wenigen, was anfangs noch der Verfolgung der In- 
quisition entkam , erkannte man kaum noch die alte gebildete 
Sprache der Troubadours, die einem Bertram von Born, einem 
Bernard von Ventadour und ihren sangreieben Genossen in Ten- 
zonen und Sirventes zu dqn künstlichsten und kühnsten Formen 
gedient hatte. Bald hernach verschwand sie gänzlich. Um diese 
Zeit entstand wahrscheinlich die prosaische Bearbeitung der ge- 
reimten Geschichte, die von dem beginnenden Hinsinken der pro- 
venzalischen Sprache und Literatur Zeugnifs gibt. Man begreift, 
wie die neue Bearbeitung in leichter, einfacher Prosa, wie Herr 



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publice par Fauriel. 



Fauriel passend bemerkt (lotroduct. p. XVI), Jedermann zugäng- 
lich , bald die alte Geschichte in Versen verdrängen mufste, die 
Niemand ohne besonderes Studium mehr verstehen konnte. Da- 
bei kann man nicht geradezu behaupten , dafs der Verfasser der 
prosaischen Geschichto nichts als eine blofse Umwandlung in die 
Prosa seiner Landessprache geliefert habe ; er scheint selbständi- 
ger gearbeitet zu haben und hat vielleicht noch andere Quellen 
verglichen. Dies beweist besonders der Umstand , der gerade 
nicht zum Vortheil des Vfs. der gereimten Geschichte spricht, dafs 
dieser im Anfang seiner Darstellung ganz auf Seiten der Kreuz- 
fahrer gegen die Hetzer erscheint , und wenn er auch ihre Grau- 
samkeiten und Ausschweifungen nicht billigt, die ganze Unter- 
nehmung selbst doch durchweg in der Ordnung findet, während er 
weiter gegen das Ende mehr im entgegengesetzten Sinne spricht. 
Dies ist so auffallend, dafs man leicht auf die Vermuthung gera« 
then konnte , Anfang und Ende hätten zwei verschiedene Verfas- 
ser, wenn nicht andere Grunde diese Annahme durchaus unhalt- 
bar machten. Styl , Ton, Manier, Charakter des Ganzen sind zu 
übereinstimmend. Der neuere Bearbeiter in Prosa dagegen er- 
scheint in seinem Urtheil gleichmäfsig , ruhig und unparteiisch 
die Begebenheiten darstellend. Der Zeit der Begebenheiten selbst 
entfernter lebend, betrachtete er diese leidenschaftlos, rein histo- 
risch und verständig , während der Verfasser der gereimten Ge- 
schichte mitten im Kampfe selbst stehend , noch während dessel- 
ben schreibend, von den aufgeregten Leidenschaften des Augen- 
blicks nicht unberührt bleiben kann. Nirgends indefs geschieht 
dies auf eine gehässige Art. Er bewundert die Helden des Kreuz- 
zugs und ihre Tapferkeit, aber er klagt, freilich zu spät, über 
den durch jene verursachten Jammer des verwüsteten Landes. 
Einige Stellen aus dem Werke selbst werden dies anschaulicher 
machen und zugleich von der ganzen Art und Weise, wie der 
Provenzale seinen Stoff behandelt und vorgetragen hat, eine ge- 
nauere Vonstellung geben. W 7 ir wollen deswegen auch hier, ehe 
wir das Übrige übersetzt anführen , erst einige Zeilen in der Ur- 
sprache anführen , die alle mit demselben Reim endigen. Ein 
solcher Reim geht oft durch hundert und mehr Verse hindurch, 
bis dann die Strophe durch einen kürzeren Vers schliefst, der 
den Reim der nächsten Strophe angiebt. 



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118 



Hiatoire de la croiaade cootre lea albigeoia, 



V. 28. (p. 4) beginnt die zweite Strophe so: 

Senhora, esta canao ca faita daitat guia 
Com sola dAntiocha c ayaaia veraifia 
E aa tot aital so qui deire lo eabia 
Ben avctz tug amit coment la eretgia 
Era tant fort munteia eni domni Dieua inaldiu 
Quo l raatot Alboges avia cn sa ballia 
Carcaeaea Lauraguea tot la maior partia 
De Hestert tro a Bördel ei col catni tenia 
A motx de lor crezena et de lor companhia 
Si de plua o dichea ja non mentria luia. etc. 

d. h.: »Herren, dieses Lied ist gemacht auf dieselbe Weise, wie 
das Lied von Antiochia, eben so in Verse gesetzt und wird nach 
derselben Weise recitirt , wer sie au sagen versteht. Wohl habt 
ihr gehört, wie die Ketzerei — die Gott der Herr verdamme — 
so weit gestiegen war, dafs sie ganz Albigeois, Carcassais und 
Lauragais in ihrer Gewalt hatte , und in dem gröfsten Theil des 
Landes von Beziers bis nach Bordeaux, soweit der Weg fuhrt, 
gab es eine Menge Leute von ihrem Glauben und ihrem Anhang, 
und wer mehr sagte, wurde nicht lugen. € — »Ais nun, heifst 
es weiter, der heilige Vater (lo rics Apostolis) und die übrige 
Geistlichkeit diese grofse Narrheit um sich greifen sahen, schickte 
jeder Orden von den Seinigen, um dagegen zu predigen«; aber 
die Kelzer gaben nicht das Geringste darauf (no prezan lo prezic 
una pnma porria). Nun folgt das Lob des Abts von Citeaux: 
»die ehrenwerthe Person, der nachher Erzbischof von Narbonne 
wurde, der beste und tüchtigste, der je Tonsur trug,« dem der 
Papst Vollmacht gab , uberall » das irrgläubige Volk (la mescre- 
zuda jant) zu unterdrucken.« » Dieser beilige Mann (aiceat san- 
times hom), den Gott so liebte (cui Dieus amuva tant), zog nun 
zu Fufs und zu Pferd aus, streitend' gegen »die meineidigen 
Ketzer,« die sich aber eben so wenig um seine Predigten be- 
kümmerten als vorher etc. Der Legat Peter von Castelnau wurde 
getödtet Da erzürnte der Papst (De mal talent que ac se tenc 
a la raaichela) »dafs er sich den Bart hielt» Der Abt von Ci- 
teaux hielt eine heftige Bede (V. ia3— 134) und der förmliche 
Kreuzzug wurde beschlossen. Als aber endlich in der Schlacht 
von Muret (12. Sept. 121 3) die Gegner des Kreuzheeres gänzlich 
vernichtet, der König von Aragonien, der Bundsgenosse des Gra- 
fen von Toulouse, umgekommen und das ganze Land verwüstet 
war, da begann der Dichter auf einmal in einem andern Ton zu 
reden, (p. 210. V. 2<)3i.) 



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publik par Fanricl. 119 

« 

Tots lo mons ne valg mens de Ter o tapjatx 
Car paradit ne fo destrnitz e riecasiatx 
E totz crcstlaneamca aonits e abasiats. 
Ära» aujats eenhora co fo e etcoutats. etc. 

»Die ganze Welt war nicht mehr werth, das wisset wahrhaftig. 
Denn das Paradies wurde dadurch zerstört und verwüstet, die 
ganze Christenheit beschimpft und herabgewürdigt. Doch hört, 
ihr Herren, wie es geschah, und vernehmt, etc.« Nach der Nie- 
derlage bei Muret ging der Graf von Toulouse mit seinem Sohn, 
dem jungen Baimon VL nach Rom, »um von dem Papst das 
Erbe seiner Vater wieder zu erlangen.« (per recobrar las terras 
que foroo dels paiios). »Der Papst, fährt die Erzählung fort, 
(p. 226. v. 3 180), betrachtete das Kind und seine Zuge, und er- 
kannte sein Geschlecht und wufste das Unrecht der Kirche und 
der Geistlichkeit , die seine Feinde waren ; vor Mitleid und Zorn 
wurde ihm das Herz so web, dafs er seufzte und weinte mit bei- 
den Augen. Aber hier half den Grafen weder Recht, noch Glau- 
be, noch Vernunft.« Es würde zu weit fuhren , hier umständ- 
licher mitzutheilen, wie dann der Graf von Foix für die Grafen 
von Toulouse sprach und zeigte, dafs diese an der Ketzerei gar 
beinen Theil genommen , wie sich dann heck der ErzbischofT von 
Toulouse dagegen erhob und das Resultat der ganzen Verhand- 
lung ebenso ungunstig für die Grafen von Toulouse blieb als 
vorher. 

Was die Person des Verfassers dieser poetischen Geschichte 
betrifft, so wird gleich im Anfang berichtet: »Im Namen des 
Vaters, des Sohnes und des heil. Geistes beginnt das Gedicht 
(la cansos), welches Meister W.(ilhelm) verfafste, ein Schreiber 
(clerc), der in Navarra zu Tudela erzogen war, ein gelehrter 
und verstandiger Mann (savis e pros), wie die Geschichte sagt.« 
»Er war von Geistlichen und Laien gern gesehen, von Grafen 
und Vizgrafen geliebt und geehrt.« Er sah, heifst es nachher, 
die ganze Geschichte voraus mit Hülfe der Geomancie , und ent- 
schlofs sich dann dieses Buch zu machen, »und er schrieb es 
selbst von Anfang bis zu Ende.« Später (p. 16. v. 202) heifst es: 
»Herren! (Senbors) jetzt werden die Verse des Gesanges beleb- 
ter , der angefangen wurde im Jahr unsers Herrn Jesu Christi 
1210; es war im Monat Mai, wenn die Blumen blühen, als Mei- 
ster W. ihn verfafste zu Montauban (Mont Alba). « Herr Fauriel 
nimmt ungeachtet dieser bestimmten Versicherung einen anonymen 
Verfasser an , der blos von Wilhelm von Tudela den Stoff erhal- 



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ISO Hittoirc de la croUaite contre lei albigcoi«, f 

ten habe. Er schliefst dies aus Stellen, wie schon oben eine vor- 
kam, »wie die Geschichte sagt«, und ähnlichen noch bezeich- 
nenderen. Schwankend ist die Sache, das mufs man zugeben. 
Ohne uns auf eine weitere Untersuchung über diese, im Grund 
gleichgültige, Frage einzulassen, bemerken wir, dafs er, wie auch 
Herr Fauriel annimmt , jedenfalls ein Troubadour gewesen zu 
seyn scheint, der an den Hofen der Grafen und Herren des Lan- 
des herumzog und die Begebenheiten des Krieges, die er gebort 
oder selbst gesehen , die sich zum Theil auch im Munde der San- 
ger zu romanzenartigen Erzählungen bildeten, recitirte. Man be- 
merkt dies schon aus der häufig wiederholten Anrede »Senhors, 
vernehmt etc.«, und in der citirten Stelle, wo des Lieds von 
Antiochia (wahrscheinlich ein ähnliches episches Gedicht über die 
Belagerung von Antiochia im ersten Kreuzzug) erwähnt wird. 
Überhaupt sieht man in dem ganzen Werk deutlich einen Über- 
gang von der traditionellen Volksromanze zu der geschriebenen 
und zusammenhängenden epischen Dichtung und eine beständige 
Mischung beider durcheinander. Der Verf. kannte den Sagenkreis 
von Karl dem Grofsen, er erwähnt Roland und Olivier häufiger, 
und deutet verschiedene dahin gehörige Geschichten an mehreren 
Stellen an. Sein eigenes Werk nennt er bald Gesang, bald Buch, 
und wenn es an der einen Stelle scheint, als ob es blos für den 
mündlichen Vortrag bestimmt sey, so spricht er an einer andern 
Stelle wieder davon als einem von Anfang an für die Schrift be- 
stimmten Werk, das »auf schönem Pergament« aufgezeichnet 
werden soll. Als Troubadour lobt er die Freigebigkeit seiner 
Gönner und tadelt die Kai gheit anderer Ritter ; er klagt »wie die 
Zeit sich zum Schlechten wendet und dafs die Mächtigen und 
Grofsen, die edelmüthig seyn sollten, nicht mehr den Werth 
eines Knopfes hergeben wollen.« Nicht so viel als eine Kohle, 
nicht die Asche auf dem Herd will er mehr verlangen. »Strafe 
sie, fügt er hinzu, der Herr Gott, der Himmel und Erde ge- 
macht, und die heilige Mutter Maria.« — Er scheint mit den 
Grafen von Toulouse, von Foix, von Beziers und anderen Herren 
bekannt gewesen zu seyn ; er bedient sich aber auch im Anfang 
oft, wenn er von den Kreuzfahrern redet, des Ausdrucks »die 
Unseren«; er erzählt häufig so, als ob er selbst den Ereignissen 
zugegen gewesen , bei anderen Gelegenheiten nennt er Diejenigen, 
von denen er den Hergang der Sache erfahren hat, und er schliefst 
seine Geschichte mitten im Lauf der Begebenheiten , noch unge- 
wifs und besorgt über den Ausgang der Belagerung von Toulouse. 



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pnbliee |»ar Fauricl. 



181 



» Mochte der Sohn der Jungfrau , der das Licht ist und die Herr, 
lichkeit , der sein kostbares Blut ,für den Sieg der Gnade gab , 
Vernunft und Hecht aufrecht halten und ihnen (den Delagerten) 
günstig seyn. « v Die heilige Jungfrau, heifst es zum Schlufs, 
yvird sie vor dem angedrohten Verderben bewahren; der heil. Ser- 
nin fuhrt sie und schützt vor Furcht; Gott, das Recht, die Kraft, 
die Heiligen und der junge Graf werden Toulouse retten. Ämeiu« 
Wir würden , wenn wir nicht durch den Raum einer blofsen 
Anzeige beschrankt wären, gern eine vollständige Analyse von 
dem Inhalt des ganzen YVerhs geben, und dabei noch mehrere 
einzelne Stellen ausheben, die sich durch Lebendigkeit und Naive- 
tat der Darstellung oder durch gelungene charakteristische Züge 
und Schilderungen von einzelnen Persönlichkeiten , vom Leben , 
von den Sitten und der Denkungsweise der Zeit auszeichnen und 
an denen das Gedicht, bei aller übrigen Unvollkommenheit der 
Form und eigenthümlichen Rauheit der Sprache, doch ziemlich 
reich ist. Auf der einen Seite erscheint die Ritterschaft und der 
Adel, Alles, was ihm Glanz und Werth gab, auf der andern 
Seite tritt das freie Leben und rege Streben der Städte, die in 
jenen Gegenden zu dieser Zeit einen hohen Grad bürgerlicher 
Freiheit und Selbständigkeit erlangt hatten, auch hier, wie in 
andern poetischen Werken des Mittelalters und gleichzeitigen 
Schilderungen, stark und glänzend hervor. Sie bilden vereinigt 
den Hern, um welchen sich das Leben und die Bildung der Zeit 
drehte. Die Kriege gegen die Albigenser machten dieser ganzen 
frei aufstrebenden Cultur ein Ende. Es war , wie Herr Fauriel 
dies sehr gut hervorgehoben hat in seiner Einleitung (p. LXUI), 
»ein Kampf zwischen der Barbarei und der Zivilisation.« Die 
Städte, die freier Municipal Verfassungen genossen und ihre Ma- 
gistrate selbst wählten , fühlten , dafs es mit dem Sieg Simons von 
Montfort und der Seinigen über die Albigenser auch um ihre Un- 
abhängigkeit gethan war. Diese zu erhalten, nicht um der Hetze« 
rei der Albigenser willen, erhoben sie sich zum Schatz der letz- 
teren gegen die Gewaltthätigkeiten der Orthodoxen. Die Mar. 
seiller nahmen die Grafen von Toulouse , als diese von ihrem 
Zuge nach Rom, wie schon vorhin erwähnt, unverrichtetersache 
zurückkehrten, mit Freuden auf (v. 3789. p. 264: e foro aculhit 
de joi e dalegratge) und unterstutzten sie. So heifst es bei Ge- 
legenheit der Belagerung von Beaucaire von dem Kreuzheer (p. 
284 etc. Ch. CLIX.): »Sie hielten gute Wache während der Nacht 
mit den Knappen, denn sie mifstrauten ihren erbitterten Feinden; 



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182 Histoire de U croiaadc contrc lea albigeoii, publice par Faaricl. 

denn Marseille Hebt sie nicht und Montpellier ist ihnen entgegen, 
Avignon und Beaucaire waren die ersten, sie anzugreifen.« Auch 
empfahl Graf Raymond V, als er nach Spanien reist, unter An- 
dern die Marseille!- besonders zu begünstigen zum Lohn ihrer 
Aufopferungen. An einer andern Stelle sehen wir das Verhält- 
nifs des Kreuzzugs zu dem Ritterwesen angedeutet. Die Grafen 
von Toulouse sind auf dem Wege von Marseille nach Avignon. 
»Die Barone, beifst es p. 268. v. 3787, ritten z*ei und zwei 
über die Au (per lerbos) und sprachen von Waffen und Waffen- 
thaten. Da sprach Herr Guy von Cavaillon von seinem rothbrau, 
nen Pferd herab zu dem jungen Grafen: »Jetzt ist der Augen- 
blick, wo Ritterlichkeit (paratge) sehr bedarf, dafs Ihr Euch bös 
und gut zeigt 5 denn durch den Grafen von Montfort, den Ver- 
derber der Barone, und durch die romische Kirche und die Pre- 
diger ist alles ritterliche Wesen beschimpft und mit Schmach 
bedeckt und der Adel so herabgedruckt, dafs wenn Ihr ihn nicht 
erhebt, er auf immer verloren ist.« u. s. w. Der junge Graf 
antwortete : » Mein Recht und meine Sache sind so grofs , dafs 
ich den schlimmsten und hochmuthigsten Feinden trotzen darf, 
und wer mir als Leopard begegnet, dem werde ich ein Lowe 
seyn.« 

In den Handschriften der prosaischen Bearbeitung unseres 
Werkes findet sich gegen das Ende eine nicht unbedeutende 
Lücke, welche in der poetischen Bearbeitung ausgefüllt ist. Es 
wird hier die Belagerung von Toulouse durch Simon von Montfort 
und der heftige Kampf , der sich dadurch vor Toulouse zwischen 
den Kreuzfahrern und den Toulousanern , die sich verzweifelt 
und tapfer wehrten und starke Ausfälle machten, umständlich er- 
zählt. Bei dieser Gelegenheit fand Simon von Montfort seinen Tod. 
Er wurde von einem grofsen Stein, der aus der Stadt geworfen 
wurde, getroffen (Ch. ao5. p. 571 etc.). Die Belagerung wurde 
aufgehoben, bis der Dauphin von Frankreich mit einem neuen 
Belagerungsheere heranzog. Hier treffen die beiden Bearbeitun- 
gen wieder zusammen. 

Von dem Original , welches der Arbeit des Herrn Fauriel 
zur Grundlage gedient hat, ist nur eine einzige Handschrift vor- 
handen. Sie scheint aus der zweiten Hälfte des i3ten Jahrhund, 
und kam im Jahr 1783 aus der Bibliothek des Herzogs von La 
Valliere in die königliche Bibliothek zu Paris. Herr Fauriel hat 
sehr genaue Untersuchungen darüber angestellt, wann und von 
woher sie in die Bibliothek des Herzogs gekommen und ob sie 



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Gaudy : Mein Ramertog. 783 

überboupt irgend früher gekannt war. Allein unter allen den ver- 
schiedenen Schriftstellern des sudlichen Frankreich , die auch von 
der Geschichte des Alhigeoserkriegs reden, sä'mmtlich, wie Herr 
Fauriel bemerkt, für ihre Zeit wohl unterrichtete Männer, be- 
findet sich nur ein einziger, der von diesem Gedicht eine stuck- 
weise und unvollkommene Kenntnifs gehabt zu haben scheint. Es 
war dieser Guion de Malleville, der um den Anfang des i7ten 
Jahrhunderts eine noch unedirte allgemeine Chronik der Provinz 
Ouercy schrieb. In diesem Buche stufst man auf mehrere Stel- 
len , die in dem Gedicht vorkommen. Die Handschrift des letz- 
teren ist jedenfalls älter als das Jahr 1 335 und hatte noch in je- 
ner Zeit einen bedeutenden Geldes wertb. Dieses geht aus einer 
Nota hervor, die sich am Band der Handschrift unter verschie- 
denen anderen unbedeutenden Anmerkungen befindet-, und die uns 
nicht un werth scheint, hier am Schlüsse noch erwähnt zu wer- 
den. Nach dieser Nota hatte der Besitzer der Handschrift im J. 
i3S6 dieselbe um i5 Li v res tournois verpfändet. — Die typo- 
graphische Ausstattung des Buchs ist kostbar und eine gute Karte 
des Kriegsschauplatzes hinzugefügt. 

Eduard Prätoriu*. 



Mein Römerzug. Federzeichnungen von Franz Freiherrn Gaudy. Berlin, 
BuUn. 8. 18S6. Erter T/teil 292 S. Zweiter Theü 814 S. Dritter 
Theil 276 S. 

Wir haben in diesem RSmerzug eigentlich zweierlei Bücher 
zu beurtheilen; das eine ist eine Reisebeschreibung in allerdings 
sehr poetischer Prose; das andere eine Sammlung durch Italien 
veranlagter Lieder und vermischter Gedichte, die, durch die 
drei Bände zerstreut, den zahlreichen Abschnitten zu Vorposten 
dienen. Ref. handelt zuerst von der Prose. Wenn uns Herr v. 
Gaudy auch nicht in der geschickt eingeflochtenen Vorreise durch 
Deutschland (I, 7) ausdrucklich sagte, dafs Jean Paul Deutsch- 
lands edelster Schriftsteller sey, so konnten wir, nach Durchlesung 
dieser Schrift , an seiner Bewunderung für diesen deutschen Clas- 
siker doch keinen Augenblick zweifeln, denn sein prosaischer Styl 
ist ganz von demselben getränkt, und wir finden bei ihm ganz 
dieselbe Zeichensprache, dieselbe Anschauung der Gegenstände 
durch endlose Bilderreihen und Vergleichungen , dieselbe durch 
Witz befruchtete Phantasie; nur die ausgebreitete Gelehrsamkeit 



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184 Gaudy: Mein Roiuerzug. 

Richters fehlt, und wir können nicht einmal sagen, dafs wir sie 
eben vermissen. Die Naturbilder und die acfs dem Kreise des 
geselligen Lebens und der Gegenwart entlehnten Witze genügen 
uns vollkommen. Der Verf. thut dem deutschen Publikum wohl 
Unrecht, wenn er behauptet, Jean Paul sey vergessen ; das aber 
ist wahr, dafs man auf einen Joh. Paulus redivivus nicht recht 
gefafst war, und dafs es einige Zeit bedarf, um sich an den Al- 
penübergang Jean Pauls zu gewöhnen , di r bei seines Leibes Le- 
ben bekanntlich die Alpen und das gelobte Land hinter ihnen 
nicht einmal von weitem, sondern nur im Traume — freilich im 
herrlichen Dichtertraume — gesehen hatte« Während Herr Nico- 
lai das eine Extrem ultraprosaischer, haus, und zwiebackener 
Darstellung italienischer Reiseerinnerungen bildet , stellt Herr v. 
Gaudy den andern Pol hyperpoetischer Auffassung dar, und wäh- 
rend jenem Sonne und Boden nicht gut genug in Hespericn sind, 
malt dieser, mit seines Vorbildes Pinsel, den Himmel blauer als blau 
und die Erde grüner als grün. Zwischen beiden in gerechter 
Mitte steht der unmittelbare Vorgänger unseres Reisebeschreibers, 
Wolfgang Menzel. Dieser kam weder mit prosaischen noch mit 
poetischen Präoccupationen nach Italien; er hat Auge und Ohr 
aufgethan, genossen, und in schlichter Schilderung giebt er es 
wieder zu sehen, zu hören und zu geniefsen. Unbesorgt spannt 
er die Netze seiner Prosa aus und fangt darin Anschauungen, 
Bilder und Gedanken, wie sie eben angeflogen kommen, seinem 
bekämpften Namensbrnder Wolfgang hierin ähnlicher als seinem 
von ihm so geliebten Jean Paul. Gaudy aber geht mit dem Letz- 
teren auf die stete Bilderjagd , und immer boren wir den Schufs 
vorher knallen , eb das Wild lallt. Hat man sich in dieses Treib* 
jagen indessen ein wenig gefunden , so unterscheidet man bald 
von der Manier den Gehalt, und während man die erstere all- 
mählig vergifst oder vielmehr sich angewohnt, zeigt sich hinter 
ihr ein Schatz von interessanten Wahrnehmungen, frappanten 
Wahrheiten und würdigen Gefühlen, und unter jenem Bilder- 
firnisse selbst schone, lebendige, in natürlichen Farben glän- 
zende Gemälde. Ree. wäre unwahr und undankbar, wenn er 
nicht gestände, dafs er die drei Bände mit nie sich verlierendem 
Interesse, mit Lust und selbst mit steigendem Appetit durch- 
mustert hat. 

(Der Bcschlufi folgt.) 



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N°.50. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



v. Gaudy: Mein Römerzug. 

(Beschlufs.) 

Nach einem Vorspiele fuhrt uns der Vf. an die Gränze Ita- 
liens, v Jean Pauls grofse Brust, sagt er, zerfiel in Staub, ehe 
sie vor Wonne über das Anschauen der Alpen und Italiens er- 
zitterte. Nur im Spiegel des Geistes erglänzten ihm diese leuch- 
tenden Bilder entgegen — nur seine Träume durfte er besingen. 
Und morgen in Mailand! — Mir war es, als sey ich dieser, dem 
edlen Todten versagten Seligkeit nicht würdig.« (S. i5.) Doch 
wird Mailand übergangen und der nächste Abschnitt führt uns' 
nach Mantua. Wenige Städte Italiens, wird bemerkt, haben 
nicht einen Heroen der Dichtkunst oder der bildenden Künste in 
ihrem Schoofse getragen. » Die über Mantua leuchtenden Ge- 
stirne sind Virgil und Giulio Romano — beides Planeten. Fern 
sey es von mir, die rein Ii eus che, jungfräuliche Muse des Sängers 
jener üppigen, sinnlich lechzenden Phryne, welche die Phantasie 
des Malers entzündete, die ihn auf seiner Künstlet bahn trügerisch 
umgaukelte und auf ihre lichtscheuen Irrwege verlockte, zur Seite 
zu stellen. Aber dem Dichter wie dem malenden Baukünstler 
war der freie gottkräftige Aufschwung zum Lichte versagt ; beide 
wurden erhoben ohne wieder zu erheben ; beide wurden nur dnreh 
ein fremdes Feuer erwärmt, geheiligt, und beide stockten im 
Fluge, sowie dieses ihren Bahnen nicht mehr vorleucbtete: Je- 
ner schwankend in eigener Ohnmacht, dieser von den Sirenen- 
strudeln niederer Sinnlichkeit in den Schlamm zurückgerissen. 
Jenem war Homer die Wunderlaropc Alladins, diesem Raphael. 
Um ihren Besitz betrogen, versanken Beide aus den Reihen der 
Halbgotter in die der Sterblichen zurück.« (S. 20 f.) Die Pa- 
rallele wird nun noch weiter fortgesetzt, an Giulio Romano durch 
Einzelheiten nachgewiesen, und zu bedenken gegeben (S. 34), 
dafs in unsre Museen nur solche seiner Werke dringen, welche 
den Jünger, den vom Blick seines Herrn geweihten, bekunden 
und unter dessen Augen erblühten , während in Mantua , seiner 
Taterstadt, in den Fresken des Pallastes del Te, Giulio die lä- 
stige Maske abwirft. Den übrigen Theil des Abschnitts füllt eine 
XXX. Jahrg. 8. Heft. 50 



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786 



v. Gaudy: Mein Römerang. 



angenehme Schilderung Mantua's. Nun folgt Carpi, was unsem 
Reisenden Gelegenheit giebt, das Unheimliche, Trostlose der klei- 
nen lombardiscben und modenesischen Städte mit grellen Farben 
zu schildern (S. 35 — 4a). Angehängt ist das meisterhafte Genre- 
bild dreier Lieutenants , die Einen Hund apportiren lassen (S. 4s 
— 44). »Arme Lieutenants, armer Hund!« schliefst die Schilde- 
rung, das malheureux roi, roalheureuse france der Debats unter 
Polignac lustig parodirend. 

Bologna bringt uns allerband Anekdoten und Witze (S. 46 
ff.) , aber auch eine geistreiche und poetische Abhandlung über 
die Arkaden des Nordens und die des Sudens (S. 5a — 55), »wo 
die lichte, räumige Arkade nur das verlängerte Wohnzimmer 
ist.« Dies giebt Veranlassung zu einem recht saftigen Gemälde 
des italienischen Strafsenlebens. Dann folgt die Erscheinung einer 
italischen Jungfrau, die sich leicht schwebend durch die Menge 
windet, mit dem Fächer den über den Nacken herabfallenden 
Schleier lüftet und im Vorüberstreifen dem Fremdem einen ra- 
schen ßlick aus dem seelenvollen, gluthathmenden Auge zu wir/r. 
Mit weit ausholendem Schritt erreicht er die Schone, eben als 
er die Kirche der Dominikaner betritt — und ein junger, stolzer 
Schwarzkopf steht schon am Pfeiler zum Stelldichein. »Hofftest 
du, die verlockenden Blicke galten dir? es genüge an deiner 
Erscheinung , um das empfängliche Herz der Südländerin zu ent- 
zünden? Getäuschter! Der lodernde Blitz des dunkeln Auges, 
das leichterblühende, schalkhafte Lächeln, die heitere, Zwang 
verschmähende Rede, selbst das leichtfertige Wort, zauberten 
wohl alle die in den italienischen Novellen gaukelnden , sinnglü- 
henden, Stilet- bereiten Schönheiten vor deine Seele — du folgst 
der holden Lockung , und aus dem noch eben schimmernden Auge 
blitzt dir der herbste, frostigste Stolz entgegen und die lächelnde 
Lippe schleudert dem Verwegenen das Wort des bittersten Hoh- 
nes zu. Italiens Blumen wenden ihre süfsen Kelche scheu von 
dem nordischen Zugvogel ab. « Jetzt fesselt ihn ein anderer En- 
gel, das Werk Michel Angelo's, auf dem Grabmal des h. Domi- 
nica. (S. 55 — 5 7 ff) 

Wir haben obige Stelle fast unverkürzt gegeben , zu einem 
rühmlichen Zeugnisse des Verfassers, dafs er es nicht mit den 
Reisenden hält, welche auf das Geschwätz der Handelsdiener, 
der Gastwirlhe und einiger Roues hin, die überall Verderben 
riechen, weil sie seine Atmosphäre mit sich tragen, die Unzucht 
unter dem weiblichen Geschlecht in Italien als eine Temperaments- 



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v. Gaudy: Mein Römerzng. 



787 



und Natur- Notwendigkeit bebandeln, und verheirathete Italie- 
nerinnen an den Kirchthüren sich umkehren lassen, and dem 
Fremden zuflüstern: volete far amore? Herr v. Gaudy hat den 
Ernst und den Glauben eines deutschen Dichters mit nach Ita- 
lien genommen , er sieht in den Schönheiten dieses Landes lieber 
Jungfrauen als Buhldirnen , und urtheilt nicht mit dem verdorbe- 
nen Geschmack , dem die goldenen Apfel Hesperiens nur beha- 
gen , wenn sie wurmstichig sind. 

Wir ubergehen den etwas geschraubten Scherz S. 73 ff. 

Das nächste Capitel »Santa - Annunziata in Florenz« 
S. 84 ff. enthält eine artig durchgeführte Mystifikation. Eine lau- 
nige Jeanpauliade über Augsburg schliefst nämlich mit der Schil- 
derung eines dem Doctor Werner zugehörigen, herrlichen Ge- 
mäldes der Verkündigung (S. 88 ff.), dessen Original der Verf. 
in Florenz aufsucht, und das wahrscheinlich von Pietri Cavallini 
aus Florenz, einem Schüler Giotto's, im 14. Jahrhundert gemalt 
ist. Schon steht der Ikonodul von einem Mönche geleitet vor 
der Kapelle der Jungfrau in der Kirche des Servitenklosters, wel- 
che das heilige Bild bewahrt, als er erfahren mufs, dafs es nur 
alle drei Jahre auf eine halbe Stande den Frauen zur Schau aus- 
gestellt wird, und der Servit ihm die Thüre weist. (S. 98.) 

Die folgenden Abschnitte verherrlichen Florenz (S. 99 ff.), 
das holde, glückselige, das nicht nur im October oder Februar, 
wie Rom, nicht nur im Sommer, wie Neapel, sondern immer 
schön ist. Ergreifend und natürlich ist die Extase, in welche 
unsere Reisenden die Procession der ehrwürdigen Bruderschaft 
des Erbarmens versetzt (S. 109—112). Einen wohlgewählten 
Gegensatz bildet der heitre Aufzug der Winzer (S. 118). Bei 
» Passignano « schildert der Verf. ein recht liebes, unschuldiges 
Jungfrauengesiebt (S. 1 ji). Laune und Ernst wechseln im »Fall 
des Velino«, den wir zu einem der gelungensten Abschnitte des 
Buches zählen. Hier nur die Schilderung des Falles (S. 157): 
»Der Velino donnerte 1000 Fufs vor mir herab. Ein wutschäu- 
mender Drache, bäumte sich der Flufs über dem Abgrund, als 
wolle er sich von Fels zu Felsen schwingen, stürzte mit Geheul 
in die Tiefe und zerschmetterte an den entgegenstarrenden Stein- 
blöcken. Die Kronen der Bäume zitterten bei dem Gebrüll des 
mit ewiger Todesqual ringenden Ungeheuers ; sein Geifer über- 
spritzte das Thal und feuchtete die Stirn des Staunenden. Schwere, 
mächtige Gewitterwolken senkten sich auf die Bergesgipfel und 
sandten der herabstürmenden Selbstmörderin ihre zuckenden Pfeile 



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787 v. Gaudy : Mein Römern!?. 

nach , aber ihre Donner verhallten in dem rauschenden Todes- 
ächzen der Silberschlange. « 

»OtricolU enthält eine meisterliche Schilderung des Vet- 
turinenwesens (S. 108—175), der Wirthsprellerei, der Bettelei 
in Italien (S. 175 — 188), in welcher das utile dulei rezeptgemäfs 
irc fl lieh gemischt ist. Wir übergehen den Lückenbüfser »Nepiec 
(S. 189 ff.) und eilen durch die »Campagna« dem Einzüge 
des Vfs. in Rom (S. 211) zu. Das erste unbekannte Denkmal 
am Weg in die gelobte Stadt entlockt ihm die Reflexion: »Jede 
Nation greift aus den Nebeln der Vergangenheit einen Namen, 
welchen sie zum Stifter aller grofsen , unbekannten Denkmale 
stempelt. In Rom ist Nero der Held der Fabel geworden; in 
Neapel macht ihm der Zauberer Virgil die Hälfte der Trummer- 
welt streitig. In England winkt die Hand des Honigs Artus von 
Thürmen und Bogen; in Deutschland hat der Teufel die seinige 
im Spiel gehabt, er, der seine Anhänglichkeit für unser Vater- 
land bis auf diese Stunde nicht verläugnen kann, und, obwohl 
selber schon langst pensionirt, doch seine Agnaten, die dummen 
Teufel, bei Bauten, zumal bei öffentlichen , eine gewichtige Rolle 
spielen läfst.« (S. 21 5.) 

»Der Wagen rollt durch die Porta del Popolo — ich bin 
in Rom!« ruft der Vf. endlich. »1 passaporti! kräht der Kor- 
poral. — Vor jedem italischen Stadlthor greift die Hand mecha- 
nisch in die Seitentasche, um das hundert- und aber hundertmal 
unterschriebene und bestempelte Diplom, welches mich zum ro- 
mischen Pflastertreter graduiren soll, hervorzuziehen.* 

»Rechts eingebogen, Vetturin, wo die Via de' Condotti sich in 
den Spanischen Platz ergiefst. Hier sey meine Ruhestätte. 1 « (S. 
217 — 221.) Dem Forum wird nun eine Poesie, seinem Zerr- 
bilde in jetziger Gestaltung dem Campo - vaccino und dessen be- 
weglichen Staffagen ein Abschnitt in Prose gewidmet (S. 222 ff*.), 
und zuerst der wahrhaft altrSraiscbe Gedanke, die versunkene 
Trümmerwelt aus der Last des Schuttes wieder auftauchen zu 
heifsen, beleuchtet, aber auch gezeigt, wie seine Ausführung 
scheitern mufste (S. 227 — 229). Die ganze Schilderung, zumal 
die des Mora-Spieles (S. 232 f.), ist höchst lebensvoll. 

Die »vormittäglichen Fensterbeobachtungen« ge- 
ben einen anschaulieben Begriff von Roms Strafsenleben (S. 236 
— 25 1). Beim »Corso« versinnlicbt sieb der Vf. recht lebhaft 
das verzweillungs volle Gesicht eines Reisebeschreibers , wenn er 
in seiner Relation auf einen jener weltbekannten Gegenstände 



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v. üaudy: Mein Konierzug. 789 

stufst, der vor ihm schon hunderte von malen lang und breit 
abgehandelt und erörtert worden ist, dessen Bild in jeder Boden- 
und Gehirnhammer hangt. Unser Verf. macht aber den Vortheil 
geltend, da Ts er blos supplementarische Skizzen zu geben sich 
vorgenommen, und gesteht, dafs er das Carneval nicht mitgemacht 
hat, somit dem Corso nur in seinem unscheinbaren, losen Sora- 
mernegligee kennt, in welchem er ihn uns immer noch lebhaft 
genug schildert (S. 267 — 392). 

Den zweiten Theil des Buches eröffnet die Schilderung des 
»Coliseo«. Die Trümmer fugen sich vor der traumenden Seele 
wieder zum harmonischen Ganzen. Er siebt die Marmorbänke im 
alten Schimmer, und das Volk durch die achtzig Pforten herein- 
flutheo. »Die Ritter in der Purpurtoga (?), die meisten Sena- 
toren lassen sich auf ihre Sitze nieder — würdige , feierliche Ge- 
stalten, unbewegliche [zu Domitians Zeit??]: nur das in Un- 
geduld sprühende Äuge wird an ihnen zum Verräther der wilden 
Leidenschaft für das erwartete Schauspiel. Die hunderttausende 
der Römer füllen die Räume, sie erheben sich, den eintretenden 
Kaiser zu begrüfsen. Ein Wink von seiner Hand , und aus den 
aufgesperrten Gattern stürzt der Lowe der Wüste und das ge- 
fleckte Pantherthier auf den lebenden Christensklaven, der in 
ohnmächtiger Hand das Schwert, das ungewohnte, schwingt, und 
es von sich schleudert, und sich, den Blick himmelwärts gewandt, 

ohne Klage von den Ungeheuern zerfleischen läfst. Da 

schallt aus der Ferne einförmiger Litaneien Trauermelodie, und 
zieht näher und näher, und vor diesen Tonen der Rache zerstäu- 
ben die Schatten der stolzen Heiren der Weit. Die Marmor- 
wände sinken wiederum in Schutt; statt der freudejauchzenden 
Römerinnen nicken Goldblumen und Asphodell von der Hübe; 
auf den Sitzen der purpurnen Ritter zittert die rothe Glocke des 
wilden Mohns; auf den Sesseln weifshäuptiger Senatoren wuchert 
der Schlehdorn und die blühende Jelängcrjelieberstaude , und 
dort, wo der Kaiser thronte, schlüpft die schüchterne Eidechse 
in den Mauerspalt. « Dann entfaltet der Verf. vor unsern Augen 
eine Procession der Barfufser, die ihren Einzug ins Colosseum 
hält, wo ein junger Münch donnernd predigt (S. 7 — 11). 

Der Abschnitt »Die Sixtinische Kapelle« (S. 27 fr.) ist 
zur Hälfte einer Phantasie über Michel Angelo gewidmet, in des- 
sen Gesichtszügen, so wie sich diese in allen bis auf uns gekom- 
menen Bildern mit wunderbarer Übereinstimmung abspiegeln , der 
Vf. deu Riesengeist, welcher den Künstler beseelte, die Geschichte 



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194) v. Gaudy : Mein Römeraug. 

seines Lebens, seiner Kunstwerke verziffert findet. > Lange Zeit 
stand ich vor dem Bilde Michel Angelog mid Hefs die Schöpfun- 
gen and Verheerungen dieses Ätna am Geiste voruberziehn, 
lauschte den Gesetzspruchen des greisen Kunsttyrannen , welche 
Stürme erregten, deren Wellen noch nach Jahrhunderten nicht 
ausgezittert haben.« Dann vergleicht er denselben mit einer 
Wunderblume, die sich, die ßtumennatur verläugnend, zu der 
Hohe der Baumeswipfel empor schwang — »aber die Natur 
rächte die Verletzung ihrer Gesetze, sie versagte der Titanen- 
blüthe die Gabe des Duftes — die Anrauth.« S. 3o.) In diesem 
Sinne wird denn auch Buonarotti in seinem Tempel , derSixtina, 
beurtheilt (S. 3a — 38). Dann wird ein Kirchenpomp in derSix- 
tina und das Collegium der Cardinäle »ein abgewelktes Tulpen- 
beet« geschildert, unter welchen sich nur der »Taschenkrebs« 
Doria, der Cardinal Fesch, und der General der Carmeliter,« 
ein hoher, eisgrauer, hartknochiger Mann auszeichnet, mit einem 
eisernen Maskengesicht und grofsen grauen Augen, welche die 
buschigen Augenbrauen uberschatteten. UnbeugsamkeiLr Unduld- 
samkeit und Fanatismus sprachen aus seinen versteinten Zügen 
und vergegenwärtigten mir den Grofsinquisitor im Don Carlos.« 
Der Papst wird beschrieben und gerühmt (S. 38 — 49). Ein et- 
was gewaltsamer Scherz in Jean Pauls, hier zur Nachahmung ge- 
wordenen, Manier beschliefst den Abschnitt (S. 49 — '33). 

»Tivoli« mit der Villa des Hadrian liest sich angenehm, 
obgleich Horaz unbillig behandelt und dem alten Irrthum gehul- 
digt ist, als hätte er hier eine Villa besessen (S. 57 — 79). Aber 
die Wasserfälle des Teverone nehmen sich doch unter Gmelins 
Grabstichel noch ganz anders aus, als in der Federzeichnung des 
Verfs. »Das Theater Fiano« übergehen wir. »Im Belve- 
dere des Vatikans« wird fluchtiger Witz verbraucht; aber 
die »Aphorismen über die Gemäldegal I erie des Vati- 
kans« (S. 111 — — is5) gehören zu dem Gehaltvollsten des Buches. 
Sie erlauben keinen Auszug. 

»Maler und Weine« (S. i3o ff.) mit ächter Jean Paul', 
scher Laune geschrieben. Der Verf. fuhrt uns in ein Weinhaus, 
voll von asthetisirenden Künstlern. Einer derselben, in Träume- 
reien versunken , fuhrt das Glas an den Mund , bewegt die Lippen 
wie kosend und schmeckend, und ruft endlich: »helft mir, ich 
bitte euch. An diesem Orvieto scheitert meine Combinations- 
gabe. Welchen Maler trinke ich.« Und nun wird, unter 
recht ernstlichen Disputen, dahin entschieden, dafs der Maler 



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Gaudy: Mein Römerzug. 791 



Sassoferrato = Orvietowein, Orgagna und Ghirlandajo 
= Chianti-Wein, Lenardo da Vinci — Monte -puleiano, Ra- 
phael — ächter Lacrymä- Christi sey, dem Michel Angelo aber 
der Henker in alle seine Heller folgen möge (S. 140 — 148). Die 
Venetianer repräsentirt der Cyperwein, den Albrecht Durer 
allenfalls der Stein wein, den Lucas Kranach alter Meifsner, 
den YVohlgemuth und Balthasar Grun der Ncckarweio; 
die Niederländer sind Branntwein aller Sorten, zum Theil 
Dessertliqueure ; die spätem deutschen Maler sinken zu Schnäp- 
sen und Bieren herab (S. i5o). # _ 

Nun folgen Wanderungen »durch die Region St. An- 
gelo« nach dem Grundsatz »in Italien gebe es keine Umwege«, 
über »die Piazza Nuova und ihre Umgebungen« (S. i52 
— 190), dann vor und ins »Pantheon« (S. 191 ff.). Der Vf. 
erklärt es für die einzige aller Bauten, die ihm reinen, völlig 
ungetrübten Genufs gewährt haben. »Jetzt erkannte ich, wie 
das vollendet Schöne durch die Masse roher Werkstücke verkör- 
pert werden könne, nachdem nur Gröfse bisher mir als deren 
Produkt erschienen war; jetzt sah ich ein, wie der Geist, auch 
ohne, von der vorbildenden Natur geleitet zu seyn, es zu erschaf- 
fen und sinnlich zu gestalten vermöge. « Im Innern des Tempels 
führt uns der muthwillige Freund des Contrastes zurück auf den 
Platz der Rotonda, wo ein öffentlicher Schreiber, mit dreiecki- 
gem Hut über den spärlichen, puderbestreuten Haaren und der 
Brille vor den hohlliegenden Augen sein Bureau hält. Er läfst 
von dem Zweifelnden in bester Form einen Liebesbrief an eine 
bejahrte, jungfräuliche, in unwandelbarer Schönheit blühende Ge- 
liebte ausstellen. »Und die Aufschrift?« fragt der Schreiber, 
den Brief in Falten legend. »An die Rotonda«, war die Ant- 
wort. (S. aoo.) 

Bei der »Piazza della bocca della verita« wird die 
Sage erzählt, die sich an jene kolossale Steinmasse knüpft, wel- 
che die rohen Züge eines menschlichen Antlitzes trägt. Ein Lüg- 
ner soll die Faust in ihre Mundöffnung gesteckt und sich ver- 
messen haben, dafs, wenn seine Rede eine unwahre, dieser Stein- 
rachen seine Hand zermalmen solle : — und der Schlund der 

■ 

Schlund der Masse schlofs sich rächend und brach die Glieder 
des Meineidigen. Der Erzähler wundert sich, bei dem sinnlichen 
Römer, der, seinem Zugthiere gleich, das durch den stets ge- 
schwungenen Stachel im Zaum gehalten und angespornt werden 
will , die Sorge für sein Seelenheil dem geistlichen Treiber über- 



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v. Gaudy: Meiu Römenog 



läfst, bei ihm, dem jeder Reflexion Abgeneigten, eine Sage vor- 
zufinden, welche ihn an Aufrechthaltung eines sittlichen Grund- 
satzes mahnt. (S. 210 f.) 

»Auf dem Monte Pincio« versagt sich der Verf. nicht, 
die oftangeführte Inschrift, welche den altern Eingang der borghe- 
sischen Villa schmückt, wieder anzuführen, die der Aufbewah- 
rung würdiger ist, als bemooste Grabschriften: »Quisquis es, 
ito quo voles, carpito quae voles: extero magis haec parantur, 
quam hero. « (S. 221.) 

Zu den lieblichsten Partieen des Werkes, in welchen wir 
recht unmittelbar das reine und unverdorbene Gemüth des Vfs. 
sprechen hören, ist der Abschnitt Nemi zu zählen, der auf den 
auch nicht zu verachtenden »Morgen in den Albanerber- 
gen« (S. 23 1 — 257) folgt (S. 262 ff.). Hier wird unserm lieben 
deutschen Dichter wohl unheimathlich zu Muthe. »Die stets 
machtlos bekämpfte, bei jedem Schritte durch die wenigen Auen 
Italiens sich neugebarende Klage (über die schneidenden Dissonan- 
zen seiner Bewohner) verstummte zum erstenmale in den Alba- 
ner Oergen. Auf ihren Hohen, in ihren frischen, quelligen Thä- 
lern trat mir ein frisches , wohlwollendes , sorgloses Volkchen 
entgegen, ein jederzeit dienstwilliges, ein fast durchgangig sogar 
von der häfslichen Erbsünde der Italiener, dem Eigennutz, freies 

— der seltenste Lobsprucb , den ein Transalpiner erringt 

Freundlich begrüfste das Landvolk den Wanderer, wies den Ir- 
renden willig zurecht, fragte wohl zutraulich: ob er ein Fremder 
scy? ob er gekommen, die schone Gegend zu beschauen? Und 
der Bejahung folgte dann ein lächelndes: Fate bene ! Buon 
viaggio ! <c 

Die Stadt Velletri aber (S. 28a ff.) kommt übel weg. 
»Italienische, und namentlich romische, Provinzialstädte sind 
schon , zauberisch schon — aus der Ferne betrachtet ; man ver- 
liebt sich in sie, wie in Mädchen, welche man am Fenster, halb 
von Bäumen versteckt, zwischen den Gardinen schelmisch bat 
hervorlauschen sehen. Ihr Inneres pflegt dagegen die auflodernde 
Flamme des Enthusiasmus fürchterlich schnell zu löschen: und 
Velletri theilt das Loos seiner Schwestern.« 

»Torre di mezza Via« schildert die Einode der Cam- 
pagoa und den »ernsten Zauber dieser steineruen Schädelstätte« 
(S. 3o2 — 309) , und damit schliefst die Prose des zweiten Bandes. 

Der dritte Band des Römerzugs eröffnet sich mit dem »Gar- 
ten der Passion isten«, von welchem aus der Verf. »das alte 



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v. Gnudy: Mein Romcrzug. 798 

Rom in einem Scheidebücke zusammenfaßt und noch einmal in 
den Zauberkreis der mächtigen, greisen Sibylle tritt« (S. 7). 
Die Weine Montefaccio's bekommen wir in Jamben zu ge- 
niefsen. Dann fuhrt uns Herr v. Gaudy zur »Peterskirche« 
(S. 27 ff.). »Sanct Peters Dom ist ein Epos, das, obschon aus 
dem herbstlichen Nachflor der Poesie , etwa einer Pharsalia ver- 
gleichbar, doch immer schon durch seine ungeheure Masse im- 
poniren würde, wenn nicht Scholastiker und Commentatorcn Al- 
les gethan hätten , um mit ihrem Noten- und Conjecturen-Wust 
den Michel- Angelogenen Mont-Blanc-Gedanken zu überbauen. Ein 
Carlo Maderoo, der seine Faschinen- gethürmte Facade vorschob, 
ein Marchioni , welcher der Kirche jene Finne von einer Sakristei 
anhing, und wie nun alle die unverantwortlichen Minister sich 
nennen mögen , widmeten ihr Leben dem Zwecke , die grofsartige 
Idee ihres Souveräns Buonarotti zu verhunzen, und die Unzufrie- 
denheit der beschauenden Volker zu erregen. Dennoch wurde 
Sanct Peter sein Recht behaupten und die ihm gebührende Be- 
wunderung erzwingen, wenn ein Standpunkt existirte, von wel- 
chem aus seine Grüfse übersehen werden könnte.« (S. 3i f.) 

Nach der Schilderung des Frohnleichnamsfestes (S. 40 — 5i) 
führt er uns am Feste San Pietro e Paolo noch einmal in die 
Peterskirche (S. 5i ff.), und schildert uns »die Transfiguration 
der Michel- Angelo'skirche « d. h. ihre Beleuchtung. »Aber die 
Magierin Roma begnügte sich nicht, dem Fremdling im höchsten 
Schimmer ihrer wunderbaren Reize zu erscheinen = derselbe 
Abend sollte sie ihm auch noch in ihrer furchtbarsten Gestalt 
enthüllen.« Und nun schildert unser Reisende einen Gattinmord, 
dessen Zeuge er war und zu dem die tausend Lampen leuchteten 
(S. 5o f.). Der nächste Abschnitt beschreibt das Feuerwerk der 
»Girandola« (S. 61—64), dann folgt (S. 65 — 76) der »Ab- 
schied von Rom.« 

Achtzehn Bilderkränze sind der Heimkehr gewidmet. Um 
noch Raum für ein Wort über die Poesie des Vf«. zu gewinnen, 
übergehen wir sie , die unter andern Pisa , Ferrara , Verona und 
Venedig berühren, mit Stillschweigen, obgleich sie hinter den 
übrigen Schilderungen nicht zurückstehen ; nur Eine mit ächt 
Jean Paul'schem Humor bebandelte Scene auf dem Dampfboote 
Sully (S. 88 ff.) können wir nicht verschweigen. Eingeschach- 
telt wie ein zur Versendung zugerichteter Ortolan liegt der Dich- 
ter auf seiner Schlafstelle gerade unter einer Dame, die unter 
den donnernden Wogen ächzet , aber deren Antlitz verhüllt bleibt. 



?»4 v. Gaudj; Mein Römertug. 

Endlich schnappt ihr nachbarliches Füfschen beklemmt nach Luft - 
ein allerliebster Philinenpantoffel kommt zum Vorschein; »dem 
Titelblatte des Fufses folgte eine der liebenswürdigsten, ein- 
schmeichelndsten Vorreden von der Welt; sie bezauberte mich 
Tollständig durch ihre leichten, graziösen Wendungen, durch Ele- 
ganz des Vortrags, durch Rundung des Periodenbau s. Aber mit 
dem Schlufsstreich eines himmelblauen Strumpfbandes schlofs sie 
ab « — hon y soit qui mal y pense. Und nun bemuht sich unsers 
Dichters Phantasie die lange Tantalusnacht hindurch aus diesem 
Torso die Statue zu restituiren, und wir furchten jeden Augen- 
blick eine frivole Losung. Aber er bleibt sich auch hier gleich 
und erzählt mit behaglicher Selbstironie die Nemesis , die ihn 
trifft. Am andern Morgen sieht und spricht er die ganze Schone 
un verhüll t. Es war keine decidirt häfsliche Schone , die interes- 
sant sc vn konnte , » wie ein seltsam gemaserter Ulmer Pfeifen- 
kopf « , es war eines der mit der Nase lächelnden , stirnglänzen- 
den , scheuerfestlich verklärten Butterbrodgesichter — von den 
Frauen der Landgeistlichen tragen sieben Achtel diesen Typus 
[so, Herr Baron?] — es war die Ehegattin eines Opticus, die 
ihm einen Tubus aufschwatzen wollte. (S. 96 — 107.) 

Der Schlufs des Ganzen (III, S. 276) lautet : » Einzelne GoldL 
körner nur waren es, welche ich dem übervollen Sehnt zge wölbe 
meiner Erinnerungen enthob. . . . Erblindete ihr Glanz nicht in 
meiner Hand . und bewegen diese Splitter erschauter Herrlichkeit 
nur Einen der Käufer in den unerschöpflichen Zauberschacht 
hinabzuklimmen — dann ward meinem ohnmächtigen Streben die 
ewigleuchtenden Sternbilder Hesperiens im geistigen Spiegel auf- 
zufangen , der reichste Kranz. & 

Nun noch einen Blick auf die eigentliche, auch formell so 
zu bezeichnende Poesie des Vfs. im Buche. Zwar hat sie seine 
gesammte Prosa überfluthet. Aber so interessant eine solche Über- 
schwemmung ist, ein wohlthätigerer Anblick ist doch ein inner* 
halb seiner naturgemäfsen Ufer bald in Frieden, bald in zornigen 
Fällen, immerdar aber begränzt, dahin wallender Strom. 

Unser Verf. fühlt sich als Dichter, und hat dies (II, *83), 
Veranlassung von einer Äusserung Brentano s nehmend, vdafs 
es ein verdächtig Ding urn einen Dichter von Profession sey , der 
es nicht nur nebenher ist, mit starken Worten ausgesprochen: 
vder Maler, der Architekt, der Componist durfte voll edlen Stol- 
zes auf seine geliebte Kunst sich Jünger der Muse nennen — und 
kein Schriftsteller sollte es? Dem Bauchredner wäre es vergöuot, 



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t. Gandy: Mein Röraersug. 



795 



sieb seines Talents zu rühmen, und Einem, der aus der Tiefe 
seines Herzens redet, nicht? Der Steuerrevisor , der Executor, 
jeder in der Tretmuhle der Verwaltung seufzende Packesel dürfte, 
ohne über sein Halfter zu errothen, sich zu seinem stumpfen 
Kreislauf bekennen — und der Dichter, er, der über die Dehlin- 
gen taosender Herzen gebietet , ihre Sturme erregt , und auf die 
empörten Wellen das lindernde Ol träufelt, die Mifsklänge der 
Erdenwelt in sufs schmeichelnde Akkorde auflost, er, dessen 
Seufzer, Klagen, Entzückungen von Jahrhunderten zu Jahrhun- 
derten zittern, er sollte blöde und verlegen die Augen nieder- 
schlagen, wenn man ihn fragt, was er sey, und sollte nicht mit 
laut jubelnder Stimme ausrufen dürfen: Heil, dreimal Heil mir, 
dafs ich ein Dichter bin! .... Mögen diejenigen, welche die 
Gottin schnöde verleugnen, wiederum von ihr verläugnet werden 
— ich kenne keinen höhern Stolz, als mich Dichter nennen zu 
hören, als mich selber einen zu nennen. Und ist es verdamm- 
liche Anmafsung, sich als Sänger zu verkundigen? Hiefse dies 
sich mit dem Lorbeerkranz, der nur dem Geweihten ziemet, 
schmücken, wenn ich, der Strebende, aufjauchze, dafs mir die 
Gabe des Gesanges verliehen ward? Ja, dann hätte ich freilich 
Unrecht, nicht zu warten, bis ich gestorben wäre und die Nach- 
welt mich als Dichter bestätige; noch gröTsere Schuld aber trägt 
die Sprache, die für den Lehrling und den Meister nur ein 
Wort schuf. « 

Diese Sprache steht einem Musenjunger wohl an, der seine 
heilige Kunst um ihrer selbst willen liebt, und in keinem Sinne 
je um Lohn zu üben entschlossen ist. Seinem Römerzuge hat 
Herr v. Gaudy über dreifsig Dichtungen einverleibt, darunter 
wenigstens zehn von beträchtlichem Umfange. Alle stehen in 
Zusammenhang mit der vorangehenden und nachfolgenden Prose, 
und doch konnten sie wieder eine für sich bestehende Sammlung, 
einen eignen Römeraug der Muse bilden. Fünf grofsere poeti- 
sche Gespräche bebandeln jene obenerwähnte Dissonanz der Ein- 
wohner mit der Natur Italiens. Der Fremde, der Wanderer, 
der Maler tritt hier bald in der Akademie der Künste, bald im 
Kloster, in der Vigne, auf dem Feldwege, im Gastbause mit sei- 
ner Bewunderung für Italiens Natur und Kunst dem Schlendrian, 
der Gewohnheit, der Dummheit, dem Aberglauben entgegen, die 
in den einheimischen Custodes, Mönchen, Winzern, Dirnen und 
Wirthen personificirt erscheinen. Beschreibende und meditirende 
Gedichte sind der Fontana dieTerni, der Piazza Barberini, dem 



v 



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796 



v. Gaudy: Mein Römerzug. 



Campo Santo gewidmet, in fluchtigern Liedern werden der Lago 
Maggiore, die Apenninen , die Campagna, Tivoli, Albano und 
andere Gegenden, als Volhsspiele and Sitten geschildert, und 
einige der zartesten Lieder sind dem Heimweh nach Deutschland 
und deutscher Liebe gewidmet. (So II, 172. 258 — 261.) Ein all- 
gemeiner Vorschritt des Dichters ist in den allermeisten fühlbar: 
ein Freiwerden von der ironischen Manier, die nur in einem 
einzigen Liedchen noch spuckt (2, 126). Herr v. Gaudy vertraut 
sich den eigenen Schwingen seiner Phantasie und seines Gefühls 
und übcrläfst die zugespitzten Pointen voll hoher Welt- und 
Selbst Verachtung den Poetastern unsrer Zeit, dem imitatorum 
servum pecus. Das schönste Gedicht der Sammlung ist nach un- 
ser m Dafürhalten Die Bettlerin auf dem Corso (I, 289 fl.), deren 
zarte Glieder wie ein griechisches Götterbild aus verblichenem 
Gewände tauchen, deren Antlitz wie ein Madonnenbild, von Spin- 
nenwebe umflort , aber unversehrt und rührend hold leuchtet : 

Also schaut aus dürftper Hülle 
Auch der Bettlerin Gesicht, 
Also glänzt die bleiche Stirne, 
Die das schwane Haar umflicht. 
Also sitzt sie auf den Platten 
Thränenlo« und matt und still, 
Harrend, ob ein menschlich Auge 
Stummen Jammer sehen will. 

Wagen rollen, Stutzer eilen zu Pferde vorüber. Niemand be- 
merkt das vergrämte Mädchen. 

Augengläser auf die Perte 
Richtet nur ein Dandy fest, 
Er, der schwere Sübermünze 
In den Teller gleiten läfst. 
Der sich lüstern lächelnd neiget 
Zu dem reisenden Gesicht, 
Und gewifs des leichten Sieges 
Leise, freche Worte spricht 

Und mit zornentflammter Wange 
Springt empor die röm'sche Maid ; 
Nach Verachtung sprüh'nden Worten 
Hascht dto glütTnde lange Zeit. 
Rasch vor des Versuchers Füfse 
Schleudert sie das Silberstück, 
Und dann sinkt sie auf die Stufen 
Von Sanct Carlo bleich zurück. 

G. Sckwa Ö. 



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Prieffcr: Kreuznach u. seine Heilquellen. 

Kreuznach und seine Brom- und Jode - haltigen Heilquellen in ihren wich- 
tigsten Beziehungen. Nach vieljährigen Erfahrungen für Ärzte und 
Kurgäste mitget heilt (?) von Dr. J. E. P. Prieger, königl. preufs. 
llofrathe und Krcisphysicus , dirig. Arzt und Operateur an dem Stadt- 
kospitale u. s. w. zu Kreuznach. Kreuznach 1837 , bei Ludw. Christian 
Kehr. gr. 8. XFUl und 271 Seiten. 

Es ist eine kaum zu losende Aufgabe, welche sich die mei- 
sten Baineographen stellen, nämlich: Ärzte und Kargäste 
gleichzeitig mit den Ortsverhältnissen, den Einrichtungen, 
den Anwendungsarten und den Heilkräften der Mineralquellen, 
und den Krankheiten, bei welchen, und den Bedingnissen, unter 
welchen diese in Anwendung kommen können, bekannt zu ma- 
chen. Der Arzt mufs wissenschaftliche Begründung aller Aus- 
spruche fordern; der Laie will leichthin belehrt und unterhalten 
seyn. Was demnach der Erste in Anspruch nehmen mufs , ist 
dem Letzten unverständlich und langweilig; was für den Letz- 
ten Interesse gewährt, ist im Durchschnitt ohne Nutzen für den 
Ersten. Daher kömmt es, dafs in den meisten* Badschriften ein- 
zelne Kapitel blos für den Arzt, andere blos für den Laien ge- 
schrieben sind und beide Theile demnach verschiedene Kapitel 
uberschlagen müssen. Zwischen diese Klippen ist auch der Herr 
Verf. der vorliegenden Schrift gerathen; allein wir dürfen ihm 
dieses nicht zu einem besondern Vorwurfe machen, da an diesem 
Gebrechen fast alle Werke über Heilquellen leiden. Aber wir 
müssen im Interesse der Sache den schon mehrmal ausgesproche- 
nen Wunsch, dafs solche Schriften entweder blos für Ärzte, dem- 
nach mit gehörig wissenschaftlicher Tiefe, oder blos für die 
Laien als einfache Belehrung und Unterhaltung geschrieben wer- 
den möchten, wiederholen. Der Standpunkt des Laien ist von 
dem des Arztes zu verschieden, als dafs die Aufgabe für Beide 
zugleich gelost werden könne. 

Kreuznachs Heilquellen haben schon einen sehr grofsen Ruf 
erlangt und denselben auch vielfach bewährt. Vor zehn Jahren 
hat der Herr Vf. in einer kleinen Schrift: » Kreuznach und seine 
Heilquellen, 1827.« die Aufmerksamkeit auf diese Quellen gelei- 
tet, und war bisher unermüdet thätig, dieselben zum Wohle der 
Leidenden in stets grofsere Aufnahme zu bringen. 

Kreuznach liegt an der Nahe unter dem 49° nordlicher Breite 
und dem 25 — 26° östlicher Länge, 286' über der Meeresfläche, 
3 Stunden von Bingen am Rhein, 4 Stunden von Rüdesheim, 8 
Standen von* Mainz, 16 Stunden von Heidelberg, 16 Stunden von 
Frankfurt a. M. entfernt. Das Nahethal ist durch seinen Reich- 
thum an Wein, Obstarten, Getreide, Salz- und Mineralquellen 
hinlänglich bekannt, und wird wegen seiner manchfachen Schön- 
heiten von Naturfreunden häufig besucht. Hie "Stadt umfaßt i352 
Feuerstellen mit 8082 Einwohnern, von welchen die Mehrzahl in 
sehr engen Räumen zusammengedrängt wohnt. Erst in der neuern 
Zeit sind vor den Thoren der Stadt einige geräumige, gesunde 



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798 



Prieger : Kreuznach u. «eine Heilquellen 



Wohnungen , massiv von Stein , umgeben von Garten , erbaut 
worden. In der Altstadt selbst sind nur zwei grö'fsere freie Plätze, 
der Frucht- und der Eiermarkt. In heifsen Sommertagen fehlt 
es nicht selten an gutem, süTsem Trinkwasser, obgleich man eine 
ziemlich grobe Anzahl von Brunnen, deren Mehrzahl aber nicht 
tief genug gebohrt zu seyn scheint, daselbst findet. Diesem Man- 
gel hätte von der städtischen Behörde längst abgeholfen werden 
müssen, da reines, gesundes Wasser zu den unentbehrlichsten 
Lebensbedurfnissen gehört. Ebenso fühlbar ist der Mangel an 
Reinlichkeit in den Strafsen, zumal in den Sommermonaten. Diese 
beiden Gebrechen , die einen so grofsen Einflufs auf die Gesund- 
heit haben, tragen wahrscheinlich die Schuld, dafs die meisten 
Kurgäste ihre Wohnungen ausserhalb der Stadt wählen. Es liegt 
demnach in dem Interesse der Bewohner Kreuznachs und in der 
Pflicht der Medicinalpolizei , dafs diesen gerechten Beschwerden 
in Bälde abgeholfen werde. Auch sollte die Anlegung eines all- 
gemeinen Schlachthauses nicht blos mehr ein frommer Wunsch 
sevn. Überhaupt lassen die Einrichtungen in Kreuznach noch 
sehr viel zu wünschen übrig: so können z. B. in den meisten 
Badhäusern die Badstuben gar nicht gewärmt werden , wodurch 
die Kurgäste in die Verlegenheit gesetzt werden, an kühlen Ta- 
gen nicht baden zu können. Selbst das allgemeine Badhaus hat 
nur eine heizbare Badstube. Die Erbauung eines neuen, geräu- 
migen, den jetzigen Bedürfnissen entsprechenden Badhauses ist 
dringend nothwendig. Für Bequemlichkeit der Fremden ist im 
Ganzen sehr wenig gesorgt. Glücklicher Weise entschädigt die 
herrliche Umgegend für manche Entbehrungen. 

In dem tief eingeschnittenen , von hohen Gebirgen umgebenen 
Tbeile des Nahethalcs entspringen Kreuznachs Mineralquellen. Sie 
kommen unmittelbar aus Porphyrfelsen in solchem Überflusse her- 
vor, dafs allein zum Betriebe der Salinen Karls- und Theodors- 
halle jährlich über 10 Millionen Kubikfufs Soole aus 8 Brunnen 
gefördert werden, welche leicht bei gehöriger Vorrichtung auf 
das Doppelte gesteigert werden k5nnen. 

Gegenwärtig werden die Brunnen- der Karls- und Theodors- 
halle, die Elisabethenquelle und die Quelle zu Münster am Stein 
zu Heilzwecken benutzt. Die Elisabethenquelle auf der Friedrich- 
Wilhelras-Insel , sowie eine nahe dabei liegende, in der Mitte der 
Nahe entspringende Quelle oberhalb der Stadt, sind durch den 
Salineninspector Schnödt gefafst und durch kräftige Wasserbau- 
ten gegen jede, im Winter daselbst nicht selten vorkommende, 
Überschwemmung geschützt, so dafs sie die dort neu begrün- 
dete (!!) Badanstalt nicht allein genügend mit Soole zu ver- 
sehen, sondern auch die in der Stadt zu gebenden Bäder reich- 
lich zu versorgen im Stande sind. 

Die Temperatur der einzelnen Quellen ist verschieden von 
0 i/ a °_ 2 3° R. Der Herr Verf. gibt tabellarisch den Gehalt an 
festen Bestandtheilen und die Temperatur der verschiedenen Quel- 
len an. Diese Beobachtongen worden von den Salinem nspectoren 



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Prieger: Kreuznach a. seine Heilquellen. 7*M> 



Geiger and Schnodt bei ganzlicher Leere der Brunnen an der 
den Bohrlöchern entströmenden Soole gemacht. Sie blieben in 
verschiedenen Jahren , bei jeder äussern Temperatur, sich immer 
gleich, wovon sich Herr Prieger oft selbst überzeugte. 

Zu Heilzwecken wurden die Kreuznacher Quellen erst seit 
1817 benutzt, und erst seit 1827 sind sie mehr bekannt. Anfangs 
hatte man nur auf den Salinen, der Theodors- und Karlshalle, 
Anstalten zur Aufnahme von Badgästen getroffen. Es dauerte 
eine geraume Zeit, bis man in der Stadt nur irgend einen Ver- 
such zum Fassen einer Quelle machte. Lorenzi brachte es im 
J. 1828 im Stadtrathe dahin , dafs unter seiner Leitung eine Quelle 
mitten in der Nahe gefafst werden sollte; allein die bewilligten 
Gelder reichten zur Vollendung nicht aus. Im Herbst 1 83 4 bildete 
sich eine Actiengesellschaft, welche den auf der Insel gelegenen 
Brunnen sammt der Quelle in der Nahe fassen liefs. — Im Jahr 
1826 überstieg die Zahl der genommenen Bäder noch nicht die 
Summe von 32 o; im J. i834 erreichte sie schon die Zahl von 
7970, und im J. i836 wurden 17,426 Bäder gegeben. Zu diesen 
17,426 Bädern wurden 70,080 Berliner Quart oder 584 Ohm 
Mutterlauge verwendet. G. Osanns Analyse der Mutterlauge 
lieferte folgendes Resultat; in 100 Theilen Mutterlauge sind ent- 
halten : 

Bromcalcium .... 24,12 
Cblorcalcium .... 9,20 
Brommagnium . . . 0^8 

Jodine 0,18 

Chlorkalium .... 0,80 
Sonstige Stoffe . . . 1,28 
Wasser und Verlu st . 63,8 5 

Summa 100 

Der Geruch der Mutterlauge ähnelt sehr dem der Seetang- 
Arten, nur dafs er viel stärker die Brom- und Jod- Verbindungen 
wahrnehmen läfst. Die Motterlauge ist dunkelgelblich, klar, dick- 
flüssig. Ihr Geschmack ist widerlich, bitter, salzig, zusammen- 
ziehend. Dem Gefühle nach ist sie glatt, weich, fettig. Kommt 
sie längere Zeit mit der Oberhaut in Berührung, so stirbt diese 
ab. Trotz der dicken Consistenz kann man sie auf längere Zeit 
nur in Gefäfsen von Glas oder gutem Steingut aufbewahren; höl- 
zerne Gefäfse durchdringt sie und macht die Holzfasern weich, 
mürbe und zerreiblich. 

Die groCse Menge von Brom verdient die ärztliche Beach- 
tung. Löwig will in 3o & eingedickter Mutterlauge 20 ^ Brom 
gefunden haben. Dietrich erhielt aus 3o nur 8 ^. 

Seit dem Jahre i836 sind auch einige Badanstalten in Privat- 
und Wirthshnusern errichtet worden ; allein diese entsprechen 
dem nicht, was man bei einem so starken Besuche dieses Bad. 
ortes und den hohen Preisen der Wohnungen hätte erwarten kön- 
nen. Auch die auf der Friedrich -Wilhelms -Insel angelegten 18 
Bäder lassen sehr viel zu wünschen übrig. Ebenso genügen die 



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800 Pricger: Kreuznach u «eint Heilquellen 

auf den Salinen eingerichteten Badanstalten den jetzigen Bedurf- 
nissen "nicht. Die zu Munster sind am zwechmafsigsten eingerichtet. 

Das speeiiische Gewicht der Kreuznacher Salzbrunnen ist et- 
was schwerer, als das des süTsen Wassers. Der Geruch der Brun- 
nen ist ahnlich dem des Meerwassers, dem der Seetang-Arten, 
was wohl von der Verdunstung von Brom und Jod herrühren mag. 
Auch riecht das Wasser etwas bituminös. Es ist hell, klar, vü?- 
lig farblos. In dem Glase entwickelt es viele kleine aufsteigende 
Bläschen von entweichendem kohlensaurem Gase. Bewahrt man 
es in verkorkten Flaschen auf, so wird es in den ersten 24 Stun- 
den weifslich getrübt, wobei sich ein bräunlich (lockiger Nieder- 
schlag absetzt. Derselbe besteht fast nur aus kohlensaurem Kalk 
und Eisenoxyd. Nach einigen Tagen hört d iese Ablagerung auf 
und das Wasser wird wieder klar. In einem Glase mit der at- 
mosphärischen Luft dauernd in Verbindung gesetzt, entsteht we- 
niger Trübung ; allein der braune flockige Niederschlag erzeugt 
sich viel schneller , so dafs bereits nach 2 » Stunden nichts mehr 
niederfallt. Nach dieser Zeit entwickeln sich auch keine Luft- 
blasen mehr. Kocht man aber das Wasser, so entweichen noch 
immer Gasblasen, und das Eisenoxyd setzt sich zu Boden. 

Der Geschmack des W 7 assers ist salzig, auf der Zunge etwas 
prickelnd und gelinde zusammenziehend. 

Die Ba'der geben ein angenehm wohlthuendes, und wenn sie 
mit etwas Mutterlauge verstärkt sind, ein fettiges, weiches, be- 
lebendes Gefühl. 

Nach G. Osanns ehem. Zerlegung enthält der Karlshaller 
Brunnen in 16 J Wasser folgende Bestand thei le : 

Cran 

Jodnatrium 0,0440 

Bromcalciura 6,6oa5 

Brommagnium 1,3672 

Chlornatrium 5o,,665i 

Chlormagnium 0,6786 

Chlorcalcium 2,5612 

Chlorkalium 0,4071 

Salzsaure Thonerde 0,43s 1 

Chlorlithium o,o566 

Manganchlorur o,6538 

Kohlensaurer Kalk 0,61 33 

Kohlensaure Bittererde o,473o 

Kohlensaures und quellsaures Eisenoxydul 0,3645 

Kieselerde « o,o3i3 

Quellsatzsäure u. ein eigenthtiml. harziger S toff 1,4717 

75,4220 

Gasförmige Bestandteile bei i5' R. u. 27", 3,3'" Barometerstand: 

Kohlensaures Gas 3,98 par. Zoll 

Atmosphärische Luft d. b. Stick, o. Sauerst offgas 0,93 » » 

4,91 par. Z. 

(Der Bcschlufs folgt.) 



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N°. 5i. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

0 



Prieger : Kreuznach und seine Heilquellen. 

(Betchlufs.) 

Die verschiedenen Quellen Kreuznachs tlifTeriren in chemi- 
scher Hinsicht nur sehr wenig. 

Die Heilkräfte der See- und Soolbäder müssen vorzugsweise 
in dem Vereine von Jod, Brom- und Chlorsalzen gesucht werden. 
Herr Prieger giebt eine dankenswerthe Zusammenstellung derje- 
nigen Mineralquellen, welche diese Bestandteile am reichlichsten 
enthalten. 

Bezüglich des Gebrauches dieser Quellen ist , wie bei An- 
wendung jedes Heilmittels, die Berücksichtigung der Individuali- 
tät, der Krankheit u. s. w. nothwendig. Sehr häufig wird in die- 
ser Hinsicht bei der Benutzung von Mineralquellen gefehlt. 

Vor Allem ist hier die Temperatur der Bäder zu bestimmen. 
Der Herr Verf. fand , dafs die Mehrzahl der nach Kreuznach ge- 
sandten Kranken lauwarme Bäder von 25 — 28° R. bedürfen. — 
Wärmere, an das Heifse grenzende, über 28' R. steigende Bä- 
der fand er in allen Fullen nachtheilig; ebenso schädlich aber 
auch den Gebrauch der kühlem oder kalten Bäder, nämlich un- 
ter 22" R. Die in solcher Wärme (zwischen 22 und 28 0 R.) ge- 
nommenen Soolbäder wirken angenehm beruhigend auf das Drü- 
sen-, Lymph-, Gefäfs- und Nervensystem. 

Die beste Zeit zum Gebrauche der Soolbäder ist die wär- 
mere Jahreszeit. Man bade, wenn man nicht trinkt und keines 
Frühstuckes bedarf, früh am Morgen, am besten nüchtern. Bei 
schwächlichen und sehr angegriffenen Kranken hat man ungemein 
ein- und durchdringende Wirkung von am Abend zwischen 6 — 8 
Uhr unmittelbar vor dem Schlafengehen genommenen Bädern ge- 
sehen. Herr Prieger läfst die ersten Bäder bei zarten Kindern 
nicht über 10, bei Erwachsenen nicht über i5 — 3o Minuten ge- 
brauchen, und alsdann allmälig, wenn es die Krankheit fordert 
und die Kräfte es zulassen, bis zu einer Stunde steigen. Nach 
dem Bade begebe sich der Kranke zur Ruhe. 

Die Quantität des Zusatzes von Mutterlauge zu den Bädern 
ist sehr verschieden von 1 Schoppen bis zu 3o — 40 ona< mehr 
Mals zu einem Bade. 

Zwischem 20Sten und 3osten Bade bemerkt man gewöhnlich 
den sogenannten Badausschlag. Er zeigt sich in Kreuznach 
vorzugsweise am Scrotum, am mons veneris, in den Achselhöh- 
len , an den behaarten Theilen des Halses u. s. f. Der Ausschlag 
ist critisch. Der Herr Verf. beobachtete 4 Arten desselben, die 
er genau beschreibt. 

XXX. Jahrg. 8. Heft. 51 



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802 Pricffcr: Kreuznach u. seine Heilquellen. 

Zum Trinken sind die Morgenstunden , wenn die Sonnenstrah- 
len die Luft schon erwärmt haben, am geeignetsten. Am zuträg- 
lichsten ist das Trinken bei leerem Magen; doch müssen auch 
hier Ausnahmen gemacht werden. — Wieviel, ob rein oder mit 
andern Substanzen gemischt, getrunken werden soll, hängt von 
der Individualität, von der Krankheit u. s. w. ab, wefshalb dies 
dem ärztlichen Ermessen uberlassen bleiben mufs. Gewöhnlich 
läfst man für Kinder, denen der unangenehme Geschmack nicht 
behagt, das Wasser mit Milch, Fleischbrühe oder irgend einem 
Schleime mischen. 

Die vollkommene Verdauung des Wassers wird am besten 
durch langsames Trinken — alle 10 — 15 Min., ein kleines Glas 
bei mäfsiger Bewegung — bewirkt. 

Die Wirkung der Jod- und Bromhaltigen Soolquellen , zum 
Trinken und Baden benutzt , ist kühlend , die Haut gelinde rei- 
zend , die Gefäfse und Nerven der Haut stärker anregend. Durch 
die lebhafte Einsaugung, welche diese Wasser durch ihre Rei- 
zung des Lymph- und Blutgefafssystems zu erregen im Stande 
sind, verbessern sie die Säftemasse, wirken eröffnend , zerthei- 
lend , auflösend und die Secretionen befördernd. Vorzugsweise 
bethätigen sie die Schleimhäute, die Drusen- und LyraphgefaTse. 
Herr Prieger beobachtete grofsen Nutzen bei Leiden des Halses, 
des Kehlkopfes , der Luftröhre , der Lungen , der Verdauungs- 
organe. Er sah bei scrophulösen Kranken , welche an Tuberkeln 
der Lungen, an chronischen Schleimsecretionen des Kehlkopfes, 
der Luftröhre und deren Verzweigungen mit Auflockerung der 
Schleimhäute und Anschwellung der in diesen befindlichen Drus- 
chen litten, trelllichen Erfolg von dem Einathmen der Baddämpfe. 
Die wohlthätige Wirkung des Einatfamens der Verdunstungen auf 
den Gradirwerken und an den Siedpfannen bei solchen Leiden ist 
bekannt. — Auf die Digestionsorgane wirken die Kreuznacher 
Wasser ebenfalls belebend, der Appetit wird verstärkt, die Ver- 
dauung erhöht , die Chylification umgeändert und gebessert. . Des- 
halb leisten sie gute Dienste bei Verstopfungen, Verdickungen, 
Verhärtungen , Anschoppungen und Trägheit der drusigen Organe 
des Unterleibes, der Leber, der Gekrösedrusen, der BauchspeU 
cheldruse , bei Verhärtungen' der Prostata, als Folge scrophulo- 
ser, schlecht oder unvorsichtig geheilter Gonorrhöen , sowie ähn- 
licher Leiden der Testikel. Hier wirken sie auflösend , die Mi- 
schung der Säfte umstimmend, die Resorption verstärkend. Auf 
die Harnwerkzeuge wirken sie ebenfalls gelinde reizend und be- 
lebend, und sind bei Leiden derselben, wenn diesen eine scro- 
phulöse, art britische , herpetische oder syphilitische Ursache zu 
Grunde liegt , mit sehr gunstigem Erfolge gebraucht worden. — - 
Auch auf das Uterinsystem haben sie eine wohlthätige Einwirkung; 
sie reguliren und befordern die schmerzhafte und stockende Men- 
struation, zumal wenn diesen Störungen Scrophulosis zu Grunde 
liegt. Ebenso wirksam haben sie sich bei Fluor albus und bei 
Chlorosis gezeigt. — Mit gleichem Vortheile bedient man sich 



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Pfleger: Kreuznach ti. seine Heilquellen. 



803 



auch derselben bei alten rheumatischen und gichtischen Ablage- 
rungen, bei Ausschwitzungen, Verhärtungen und Verdickungen 
der Muskelscheiden, der Gelenkbänder und der Knochenhäute, ja 
selbst bei Auftreibungen der Knochen , besonders wenn diese gich- 
tiseber, scrophuloser oder syphilitisch - rnercurieller tfatur sind. — 
Auch bei Störungen in den serösen Gebilden haben sie sich gleich 
heilkräftig bewiesen. Bei Aussen witzun^en in das Zellgewebe, in 
die Bauchbohle, ja selbst bei Exsudationen in die Kopfhohle ha- 
ben sie Resorption bewirkt. — Ferner haben sie sich einen Ruf 
erworben bei Leiden des Gefnfs-, besonders des Venensystems, 
bei Unordnung, Trägheit, Stockungen in den grofsern Gefafsen 
der Unterleibsorgane, bei erhöhter Venosität, Plethora abdomina- 
lis, Hämorrboidalbesch werden, Hypertrophie und Verhärtung der 
Leber, hartnäckiger Gelbsucht, Hypochondrie und selbst Melan- 
cholie, wenn diese durch Stockungen im Unterleibe begründet sind. 
Hier thun Klystiere von Kreuznacher Wasser gute Dienste. 

Im Allgemeinen haben sich die Kreuznacher Mineralquellen 
beilbringend bewiesen: bei Scrophulosis in ihren verschiedenen 
Formen; bei Stockungen, Anschwellungen und Verhärtungen in 
den Geschlechtsorganen; bei geschwächten Geschlechtsfunctionen ; 
bei syphilitischen und mercuriellen Dyscrasien ; bei gonorrhoischer 
Tuberkelbildung; bei Leiden der Nieren und der Harnblase; bei 
chronischen Hautkrankheiten, vorzuglich bei Flechten in ihren 
manch fachen Formen; bei Krankheiten der Gelenke und Knochen; 
bei Rhachitis ; bei Rheumatismus; bei Gicht und Hämorrhoiden; 
bei Hysterie und Hypochondrie u. s. w. — Dagegen dürfen diese 
Mineralquellen nicht gebraucht werden bei allen neftigen Entzün- 
dungen; bei allen Arten von Vereiterungen der Lungen, des Kehl- 
kopfes, der Luftröhre; bei Neigung zu activen Blutflüssen aus den 
Lungen; bei Anlage zu Scorbut oder bei wirklichem Vorhanden- 
seyn desselben ; bei allgemeiner Colliquation ; bei allgemeiner 
Schwache nach grofsen Säfteverlusten. 

Das diätetische Verhalten der Kurgäste ist genau angegeben. 
Durch viele, gedrängt erzählte, Krankheitsgeschichten sucht der 
Herr Verf. seine Angaben zu bewahrheiten. Mit der Aufzählung 
der Unterhaltungsplätze, Promenaden und Lustparthieen der Um- 
gegend schliefst Herr Prieger diese gehaltreiche und beachtungs- 
werthe Schrift. Es wäre wünschenswerth gewesen, wenn der 
Herr Verf. sich mitunter etwas schärfer und kürzer gefafst, und 
manches nicht Hiehergehorige, z. B. die chemische Analyse der 
Soole und der Lauge in franzosischer Sprache, die Beschreibung 
der Haut und ihrer Functionen (S. 100 — 108), Beaumonts Beob- 
achtungen über die Verdauung einzelner Speisen (S. 196 — 198) 
u. s. w. weggelassen und dafür angegeben hätte, welche Krank- 
heiten in Kreuznach und der Umgegend endemisch herrschen. — 
Das Werk ist in typographischer Hinsicht gut ausgestattet und mit 
einer schon lithographirtcn Ansicht des Elisenbrunnens geziert. 

Dr. Fran% Ludw. Feist in Mainz. 



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804 



ÜBERSICHTEN und KURZE ANZEIGEN. 



RÖMISCHE LITERATUR. 

Vorschule zum Cicero. Ein Handbuch für angehende Leser dieses 
Schriftstellers. Von Dr. S. Chr. Schirlitz. Wetzlar 1836. Verlag 
von Carl Wigand. Zweite bis fünfte Lieferung inclus. oder S. 65 
bis 320 im gr. 8. 

Wir freuen uns , den raschen Fortgang eines Unternehmens 
ankündigen zu können, das wir schon in der Anzeige der ersten 
Lieferung (Jahrbb. i836. S. 936 ff.) als ein recht nützliches be- 
zeichnen zu Können glaubten. In den vi er. Lieferungen, welche 
ans vorliegen, ist die Schilderung der Lebensverhältnisse Cicero' s 
— der erste Abschnitt des Ganzen — fortgesetzt und auch be- 
endet S. 227. Auch hier sind, wie bei der ersten Lieferung, in 
zahlreichen und zum Theil ausfuhrlichen Noten unter dem Texte 
weitere Erörterungen oder Nachweisungen über das gegeben, was 
im Texte selber nur kurz berührt oder angedeutet werden konnte, 
wobei neben Middleton insbesondere die Briefe Cicero's sowie die 
brauchbare Schrift von Abeken (s. diese Jahrbb. i036. S. 283 ff.) 
und die Bemerkungen Wielands vielfach benutzt sind, letztere 
vielleicht mehr als Mancher wünschen mochte, obwohl der Verf. 
gewifs wohl daran gethan hat, manche unrichtige oder unwahre 
Bemerkung des geistreichen Mannes in ihre gebührenden Grenzen 
einzuweisen , wie dies an mehr als einer Stelle geschehen ist. 
Auch Drumanns einseitige und ungerechte Urtheile werden an 
mehrern Stellen berichtigt. Ausführlichere , mehr antiquarische 
Bemerkungen, wie wir deren in der ersten Lieferung einige be- 
merkten, sind dagegen hier weniger anzutreffen, sie liegen auch 
allerdings dem eigentlichen Gegenstand der Schrift und ihrer Be- 
stimmung schon ferner; wie denn ein gröfseres Mafs in solchen 
Noten dem Werke nur zum Vortheil werden konnte. Mit vieler 
Umsicht ist aber auch der Inhalt des Buches selbst abgefafst und 
die darin aufgestellten und ausgesprochenen Urtheile in einer 
Mäfsigung gehalten , wie billig bei allen Hand- und Lesebüchern 
der Art herrschen sollte. Daher der Stellen, in welchen Bef. 
dem Unheil des Verfs. nicht beizutreten wa^t, im Ganzen nur 
wenige sind, wie S. 164, wo es uns doch zu Viel gesagt scheint, 
dafs Dolabella, Cicero's Schwiegersohn, so ziemlich in die Kate- 
gorie eines Catilina gesetzt zu werden verdiene. 

Die nothigen literarhistorischen Notizen werden in den Noten 
nirgends vermifst. So z. B. S. 160 über Cicero's Bede pro Mar- 
cello, wo in einer ausführlichen Note die ganze Streitfrage über 
die Aechtheit dieser Bede besprochen and das dahin Gehörige 
angeführt wird. Reg. wenigstens , der mit Aufmerksamkeit diesem 



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Komische Literatur. 



805 



Gegenstande gefolgt ist and Alles, was ihm seit i832 darüber vor- 
kam, sorgfältig an den Band seines Exemplares der Rum, Litera- 
turgeschichte S. 526 — 529 sich bemerkt halte, fand hier nichts 
Wesentliches übergangen; man müfste denn dahin etwa rechnen 
Steinmetz in seiner Ausgabe mehrer Heden des Cicero (Mainz 1832) 
p. XIV sq., wo er die Aechtheit dieser Rede nach den Zeugnissen 
der Alten über dieselbe in Schutz nimmt, indefs doch auch an- 
erkennt, dafs dieselbe, gleich der Rede Pro Archia , sehr ver- 
derbt in den Handschriften erscheine. Eine Abhandlung von Bar- 
bier. Vcmars : De Marcelliana contra F. A. Wolf., welche in des- 
sen Mercur Latin (Paris 1 8 13. T. V. p. i385 und daraus in See- v 
bode Archiv 1824. p. 47^ — 48*) stehen soll, Kennt Ref. nur aus 
Anzeigen. Zur Rede Pro Ligario, über welche der Verf. S. 169 
in der Note die nothigen Nach Weisungen giebt, kann noch die in 
Leiden 1826 erschienene Inauguralschrift P. II. A. Zullesen: De 
oralione pro Q. Ligario verglichen werden. Auch über die Ca- 
tilinnrischen Reden und deren Veranlassung und Folge wird io 
der Note S. 79 das Nöthige in befriedigender Weise bemerkt; an 
ihrer Achtheit scheint der Verf. nicht zu zweifeln , da er S. 252 
in der not. 28 ganz richtig bemerkt, dafs, wenn die drei letzten 
v ihl in irischen Reden angegriffen würden , dann auch die Stelle 
in dem Briefe ad Attic. II, 1. 3, in welcher die gesammten vier 
Catilinarischen Heden angezeigt werden , für untergeschoben er- 
klärt werden müsse. Diefs letztere ist nun freilich seitdem von 
Orelli , der die Catilinarischen Reden mit Ausnahme der ersten 
für unciceronianisch halt, etwa für Produkte eines Tiro oder ei- 
nes andern Rhetors , der sich auch, um seinen Betrug desto glaub- 
würdiger zu machen, das andere Einschiebsel in der Stelle des 
Briefes ad Atticum erlaubt (Oratt. selectt. Ciceronis p. 176 — 182), 
geschehen, während auch von Ahrens in diesem Sinne geschrie- 
ben worden ist (s. diese Jahrbb. i836. p. 94 — 96); ohne dafs 
jedoch Ref. von dem Einen wie von dem Andern wäre überzeugt 
worden, da ihm durch die vorgebrachten Gründe die AchtheU 
der Reden noch keineswegs erschüttert scheint. Mit gleicher 
Sorgfalt hat der Verf. die Verhältnisse entwickelt , unter welchen 
die mit Recht so berühmten und noch im christlichen Alterthum 
so hochgefeierten Philippischen Reden (man vergl. z. B. Lactant. 
Div. Inst. VI, 18. §.27.) gehalten worden sind, er hat überhaupt 
die letzten Lebensmomente Cicero's auf eine lebendige Weise ge- 
schildert. Wir fügen dieser Schilderung S. 224 — 227 noch die 
Notiz bei, die wir einem griechischen Schriftsteller der späteren 
Zeit, dem Ptolemäus Ilephaestio V. p. 3i ed. Roulez entnehmen, 
wornach Cicero in den letzten Augenbicken seines Lebens , ehe 
ihm von den nacheilenden Verfolgern das Haupt abgeschlagen wor- 
den, in der Sänfte von seinen treuen Sclaven getragen, die Medea 
des Euripides durchlesen. Der Ort, wo Cicero ermorden wurde, 
ist wahrscheinlich unfern des heutigen Kastells von Astura , wo 
auch viele andere römische Grofsen ihre Villen hatten ; s. West- 
phal Rom. Carapagna S. 56. — Noch bemerken wir zu S. 171, 



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806 



Römische Literatur. 



wo von der verlorenen Consolatio des Cicero geredet und zugleich 
vor der Verwechslung mit einer unter Cicero's Namen verbreite- 
ten, aber in neuerer Zeit von Sigonius, wie man glaubt, verfer- 
tigten Consolatio gewarnt wird , dafs dieses Machwerk keineswegs 
ein Produkt des Sigonius ist Man sieht dies jetzt klar aus der 

genauen Relation über diesen Gegenstand bei Krebs: Vita Can 
igonii (Wejlburg i83 7 ) pag. 23 vergl. p. 42. Weil Sigonius 
eifrigst die Achtheit dieser Consolatio gegen seinen Feind Ricco- 
bonus , der dieselbe für unächt erklärt hatte, verteidigte, zog 
er sich dadurch den Verdacht zu, selbst Verfasser dieser Schrift 
zu seyn , obwohl er sich gegen einen solchen Verdacht ausdruck- 
lichst verwahrte. Über die achte aber verlorene Consolatio des 
Cicero ist jetzt das Programm von Fr. Schneider: De Consola- 
tione Ciceronis, Vratislav. i835. 8. zu vergleichen. 

Mit S. 227 ff. gelangen wir zu dem zweiten Abschnitt: »Ci- 
cero als Burger und Staatsmann.« Der Verf. sucht hier 
Cicero's politische Ansichten , soweit sie sich aus den (unterlasse- 
nen Schriften, insbesondere aus der Schrift De republica, aus* 
mittein lassen, anzugeben, und die öffentliche Laufbahn dessel- 
ben, die verschiedenen von ihm bekleideten Staatsämter zu durch- 
gehen ; worauf im nächsten dritten Abschnitt S. 243 fF. »Cicero 
als Redner« gewürdigt wird. Ganz wahr ist es, was der Vrf. 
am Anfang seiner Darstellung bemerkt : » Diese Materie kann nur 
dann vollständig erörtert werden , wenn sie in Verbindung mit 
einer Geschichte der romischen Beredsamkeit gebracht, und so- 
dann an den einzelnen Beden Cicero's nachgewiesen wird , worin 
die Eigentümlichkeiten derselben liegen. Auch ist dabei vielfal- 
tig auf die Studien Bucksicht zu nehmen, welche Cicero machte, 
um sein angebornes Talent auszubilden. Wir können hier zu 
Allem diesem nur Winke und Nachweisungen geben. Auch ist 
der Gegenstand von Andern schon hinlänglich besprochen wor- 
den et (die in der Note S. 244 und 245 angeführt werden; wir 
wurden auch Westermann 's Gesch. d. Beredtsamkeit hinzugesetzt 
haben). — » Daher werden wir bei Beurtheilung der Cice roni- 
schen Beredsamkeit nicht sowohl auf die allgemeinen, jedem gu- 
ten Börner zukommenden Eigenschaften Bucksicht zu nehmen ha- 
ben, sondern mehr auf das, was ihm, dem gröTsesten unter seinen 
Zeitgenossen, besonders eigentümlich ist, mit der Bemerkung, 
dafs der Unterschied jener Eigenschaften mehr ein gradueller als 
genereller ist. « 

Mit diesen Worten hat der Vf. ganz richtig den Standpunkt 
bezeichnet, von welchem seine Darstellung ausgehen mufste, und 
demgemäfs hat er auch in befriedigender Weise das Wesentlich- 
ste von Dem zusammengestellt, was über den Charakter und die 
Eigentümlichkeiten der Ciceronianiscben Beredsamkeit, über ihre 
Bedeutung und ihren mächtigen Einflufs hier zu sagen war. Eine 
Übersicht der einzelnen Beden Cicero's, der erhaltenen wie der 
verlorenen , ist am Schlüsse beigefügt , desgleichen eine ähnliche 
Übersicht der rhetorischen Schriften Cicero 's mit weiteren zweck- 



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Römische Literatur. 



mKfsigen Nach Weisungen. Der vierte Abschnitt stellt Cicero als 
Philosophen dar S. 258 IT. Der Verf. geht hier auf die be- 
kannte Gesandtschaft der drei griechischen Philosophen zurück, 
weil durch sie eigentlich zuerst die Beschäftigung mit der Philo- 
sophie in Born angeregt wurde, und knüpft daran eine kurze 
Darstellung der verschiedenen in Bora bekannten Systeme grie- 
chischer Philosophie , was allerdings schon aus dem Grunde no- 
thig war, als Cicero bei aller Vorliebe und Anhänglichkeit an die 
akademische Schule doch gleich den meisten Romern seiner Zeit 
einem gewissen Eklekticismus huldigte, der dem romischen Cha- 
rakter überhaupt mehr zusagte, als ein festes Anschliefsen an ein 
bestimmtes System in allen seinen einzelnen Zweigen und Seiten. 
Dann kommt der Verf. auf Cicero; man wird hier ein ruhiges 
und besonnenes ürtheil und eine gerechte Würdigung dessen, 
was Cicero auf diesem Gebiete geleistet hat, durchgängig finden; 
indem der Veif. sich eben so sehr von ungemessenen Lobeserhe- 
bungen, wie von ungerechtem und unbilligem Tadel fern hält, 
hat er die Abwege vermieden, auf welche noch in der neuesten 
Zeit selbst berühmte Philosophen und Kritiker gerathen sind, 
eben weil sie nach andern Bücksichten Cicero's Leistungen be- 
urtheilten und den Standpunkt verkannten, nach welchem allein 
seine Thätigkeit auf dem Gebiete der Philosophie zu beurtheilen 
und zu würdigen ist. Der Vf. bat am Schlüsse des Abschnittes 
auch dieses Tadels gedacht; Bef. konnte noch Manches der Art 
beifügen, wenn er überhaupt glaubte, dafs es sich der Mühe ver- 
lohnen könnte. Ks werden auch hier, wie bei dem vorhergehen- 
den Abschnitt, die verschiedenen philosophischen Schriften Cice- 
ro's übersichtlich aufgeführt, und auch die verloren gegangenen 
möglichst genau verzeichnet. Die in diesen ganzen Abschnitt 
wohl einschlägige, auch in diesen Blättern besprochene Schrift 
von J. A. C. van Heusde : M. Tullius Cicero ^O.onXdrav. Dis- 
quisitio de philosopbiae Ciceronianae fönte praeeipuo etc. Trajecti 
ad Bhen. MDCCCXXXVI. , konnte dem Verf. bei Abfassung der 
seinigen wohl noch nicht zugekommen seyn; s. diese Jahrbb. 1837. 
p. 93 ff. Der fünfte Abschnitt: »Cicero als Dichter, Histo- 
riker, Geograph und Natur kundiger« S. 283 ff. gibt eine 
gleich befriedigende Übersicht und unter Anderm am Schlufs 
in der Note 85 eine schätzbare Zusammenstellung aller der 
Stellen, welche in Cicero's Schriften über Gegenstände der Phy- 
sik vorkommen. Die sechste Abtheilung: Cicero als Gelehr- 
ter und Schriftsteller oder Cicero's Werke S. 299 ff. 
erscheint in der fünften Lieferung noch nicht vollendet. Es wird 
hier eine literarhistorische Übersicht der Bemühungen der neuern 
Zeit, seit dem Wiederaufblühen der Wissenschaften, über Cicero 
gegeben; es werden daher alle Diejenigen aufgeführt, die mehr 
oder minder mit Cicero und seinen Schriften sich beschäftigt und 
durch Herausgabe oder Erklärung derselben sich verdient gemacht 
haben ; daran schliefst sich dann ein genaues Verzeichnifs der Aus- 
gabe der Werke Cicero s sowie der einzelnen Schriften desselben. 



808 



Römische Literatur 



Nach dem Plane des Werkes haben wir nun noch einige Ab- 
schnitte über Cicero, als Privatmann, über seine Verhältnisse zu 
seinen berühmten Zeitgenossen wie zu seinen Gegnern, über die 
Urtheile der Mit- und Nachwelt, über Cicero's Latinilät, als em- 
pfehlenswertbes Muster, zu erwarten nebst besonderen Einleitungen 
über die auf Schulen hauptsächlich gelesenen Schriften Cicero 's, 
und mehreren Beilagen genealogischen und chronologischen Inhalts. 



M. T. Cieeronis Epistolae ad Atticum, ad Quint um fr atr cm et 
quae vulgo ad familiäres dicuntur, temporis erdinc dispositae. Zum 
Gebrauche für Schulen mit den nothwendigsten Wort- und Sacherkld- 
rungen ausgestattet von Dr. Julius Billerbeck. Hannover 1836. 
Im Verlage der Hahn'schen Hofbuchhandlung. Zweiter Theil 565 S. 
Dritter Theil 438 & Vierter Theil 413 S. in gr. 8. 

Der erste Band ist bereits in diesen Blättern Jahrgg. i836. 
p. 623 und 624 von einem andern Ree. angezeigt worden. Mit 
den vorliegenden drei weiteren Bänden ist das ganze Unterneh- 
men beendigt und damit eine neue, vollständige Ausgabe sämmt- 
licber Briefe des Cicero , d. h. der ächten und unbestrittenen — 
in Allem achthundert zwei und sechzig Nummern — geliefert, 
welche, ohne Rücksicht auf die Personen, blos nach der Folge 
der Zeit, in der sie geschrieben sind, soweit dies anders sich 
ausmitteln läfst, hier geordnet erscheinen. Was die auf dem Ti- 
tel genannten Wort- und Sacherklärungen betrifft , die meist in 
deutscher Sprache — einzelne Ausdrücke finden sich auch durch 
entsprechende lateinische erläutert — unter dem Text stehen, so 
mochte freilich nicht sowohl in der Sacherklärung, die meist recht 
befriedigend ausgefallen, als vielmehr in der Wortei hlärung Man- 
ches gegeben seyn, was der Schüler, der diese Ausgabe benutzen 
soll, entweder selbst schon wissen oder in seinem Wörterbuche 
nachschlagen sollte : wefshalb diese Bearbeitung vielleicht mehr 
für solche sich eignet, die privatim, für sich diese Episteln durch- 
lesen und bei ihrer cursorischen Lectüre gern einen solchen Füh- 
rer gebrauchen wollen, der sie mit Leichtigkeit über die schwie- 
rigen Stellen wegführen kann. Und da auf Schulen neben der 
statarischen Lectüre eine solche cursorische für das häusliche Stu- 
dium gern empfohlen wird , so wird dazu eher die vorliegende 
Ausgabe mit Nutzen gebraucht werden können. 

Das Ganze ist nach sechszehn Abschnitten abgetheilt , von 
welchen die vier ersten, welche Cicero's Briefe bis aufsein Ci- 
lieisches Proconsulat enthalten, also bis 703 u. 'c. auf den ersten 
Band fallen. Der zweite Band enthält die drei nächten Abihei- 
lungen, von Cicero's proconsularischer Verwaltung in Cilicien an 
bis zur Rückkehr in die Heimath nach der Schlacht bei Pharsa- 
lus; der dritte Band umfafst in vier Abschnitten die Briefe von 
Ende 706 und Anfang 707 an bis zu Ende von 709; der vierte 
Band in fünf Abschnitten die übrigen Briefe aus den Jahren 710 



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Römische Literatur. 809 

und 711, sowie (in dem letzten Abschnitt) die Briefe aus unbe- 
stimmbarer Zeit. Obwohl bei jeder Nummer genau die Stelle 
nachgewiesen, wo der Brief in den Sammlungen der Briefe ad 
Alticura , ad Famiiiares und ad Quintum fratrem steht , so ist 
doch am Schlüsse des vierten Bandes eine Ubersichtstafel , die 
eine vergleichende Zusammenstellung der Briefe, wie sie in die- 
ser Ausgabe geordnet sind, mit ihrer Stellung in den genannten 
Sammlungen enthält , beigefügt, was wir sehr zweckmäfsig finden. 
Dafs bei jedem Briefe die Jahrszahl und das Datum möglichst 
genau sind, wird wohl kaum zu bemerken notbig seyn. Auch 
ist überall eine kurze Inhaltsangabe vorausgeschickt. 



Phaedri, Auguiti liberti, Fabularum Aesopearum Libri quin- 
que. Emendatiore» tertium edidit , adjecti* fabuli* Uli*, quae Julii 
Phaedri nomine intcriptae sunt, Fr id. Henr. Bot he. Schaffhtuac, 
eumtu Conradi Seileri, 1837. Vlll et 91 pagg. 8. 

Die neuerlich durch Jannelli, Angelo Majo, v. Orelli und Zell 
bekannt gewordenen Hülfsmittel zur Verbesserung dieser belieb- 
ten Fabeln veranlagten den Herausgeber , die letzte Hand an sie 
zu legen, indem er, besonders auf dem Wege der kritischen Di- 
vination , das etwa noch Fehlende , aus Handschriften nicht zu 
Bessernde, zu ergänzen suchte, um so einen möglichst correcten 
Text dem Lehrer wie dem Schüler in die Hände zu geben. Und 
dafs es ihm auch gelungen ist, auf diesem Wege eine namhafte 
Reihe von dunkeln und schwierigen Stellen aufzuhellen, kann 
selbst ein flüchtiger Blick in das Buch lehren. Wir bemerken 
einige der auf diesem Wege von dem Verfasser geänderten oder 
bestätigten Lesarten. I, 4, 4: Aliaraque ab alio" ferrier praedam 
putans. 5, 7: Ego primam tollo, nominor quoniam Leo. 21 , 12: 
Quod ferre insertum cogor. 25,7: Accede, pota sedulo ac tute; 
dolum Noli vereri. 29, 3: Et sibi vaeivum concitant periculum, 
3o, 2: Rana e palude pugnam Taurorum intuens. II, 2, 5: Ani- 
mumque ejusdem pulcra juvenis eeperat. 4, 11: Terrore offuso 
pertuibatae sensibus. 5, 10: Pro specula Siculum et prospicit 
Tuscum mare. (Auch P. sp. Sic. prospicit et T. m. hätte nichts 
Sonderliches gegen sich.) 18. Praecurrit alio in xystum. 21. Id 
ut putarit. 8, 12: homines ruslici. Epilog. 17: Nil quidquam ut 
possint III, Prolog. 18: In quo tonanti sanetum Mneinosyne Jovi, 
Fecunda novies, Artium peperit chorum. Fab. 5, 9: impruden- 
tem audariam. 7, 3: dum salhtant se invicem , Et restiterunt. 
10, 32: Rcpraesentavit ipse poenam facinoris. 47« tam vana. 
11,4: Knim, air. 12,4: Hic si. 17,8: Ad quae Ergane. IV, 
1, i: Est sane leve. Dum etc. 6, 14: nialis. 7, 7: Homini 
adsuevi. 10, 16: auxeris. 14, 3: Olim Prometheus. 17, 3i: 
cruciarim. 12, 1: Quo. 6. responso mero. 21 , c: egregic. i5: 
Complures. 23, 18: Aestate nicla lacessis. 24, 18. demessam. 
V, Pro!., 12: Quia paucis illc ostendit, ego plus dissero. i4 = 



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810 Römische Literatur 

Quarto libellum addendum Variae perleges. Fab. i , 28 : Homo, 
inquit, fieri non potest famosior. 3, 11: Hoc argumentum tum 
dari veniam docct. 5,^5: tarn fa vor mentes tenet. 9,3: quo 
se pacto flecteret. Und bei Julius Phädrus (d. h. bei den in 
neuerer und neuester Zeit durch Cassiti und Jannelli und dann 
besser durch A. Mai bekannt gewordenen Fabeln, über deren 
Ächtheit seitdem 10 viel gestritten [s. uns. Rom. Lit. Gescb. §. 137 
nebst den Nachtrügen] ; der Verf. sagt in der Vorrede über diese 
mit dem Namen eines Julius Phädrus bezeichneten Fabeln — 
»errare arbitror nec alia ratione appellatum puto Julium Phae- 
drura quam Julium Hyginum i. e. Augusti libertum. Excerpta 
esse haec carmina ex opere Phaedriano, inde co lligas, quod 5, 
quibus id constat, libri valde sunt dissimiles numero fabularum; 
quibus Ii bris, praesertim secundo, tertio et quinto si qois illa 
inseruerit , fere aequabuntur.« ) Fab. 2,0: sunpliciter rogat. 
it. Volo, ait Mercurius. i3: Id quoniam forte. 3, lt: festinan- 
ter. 30 : Hinc falsa. a3: vitin. 4; Utilia nobis quae sint. 5,8: 
»Quid?« ait. 6, 2 : causam. 5: cassa. 7, 10: dueo. 10, 24: 
Hic dum consumit miles noctem indiligens. i5, i3: Et Semper. 
16, 3: quum, forte. 23, 1 : celeripea. 25, 8: Omittit ipse per- 
sequi, et revocat canes. — Unter dem Texte befinden sieb kurze 
Noten, in welchen die bedeutendem Varianten verzeichnet sind. 

Da das Büchlein auch von Seiten des Verlegers gut ausge- 
stattet und wohlfeil ist, so verdient es wohl insbesondere die 
Aufmerksamkeit der Lehrer und Schuler, deren Geschäft bisher 
öfters durch fehlerhafte Ausgaben erschwert wurde. 



I'cllcji Fat er r uli Historiarum ad M tinieium Cot. Libri duo. 
Rmendavit Fr id. llenr. Bot he. Sdre bonum est, nisi quo nimio ob- 
tundatur acumen. Ö docti , doctis parette guisquiliis t Turici, apud 
J. C. F. Wirtium-Widmcrum. 1837. Vi und 152 m gr. 8. 

An die eben erwähnte Ausgabe der Fabeln des Pbädros reiht 
sich diese von derselben Hand ausgegangene neue Bearbeitung 
eines Schriftstellers, bei dem wir, da handschriftliche HülUmittel 
bekanntermafsen uns abgehen, zur Wiederherstellung des Textes 
hauptsächlich auf Conjecturalkritik hingewiesen oder vielmehr be- 
schränkt sind , um so wenigstens mit Hülfe der Divination die zahl- 
reichen verdorbenen oder lückenhaften Stellen , welche in dem 
Texte dieses Autors vorkommen, einigermafsen auf ihre Ursprung- 
liehe Gestalt, so weit als möglich, zurückzuführen. Ein neuer 
Herausgeber dieses Autors, zumal nach dem, was in der neueren 
Zeit zunächst durch Orelli für die diplomatische Grundlage des 
Textes geschehen war, konnte daher nur diesen Standpunkt wäh- 
len, wenn er anders seinen Zweck, der doch nur in der Wieder- 
herstellung des Textes und möglichster Annäherung desselben an 
das ursprüngliche Original bestehen kann, erreichen wollte. Und 
so wird es nicht befremden, wenn wir unsero Herausgeber auf 



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Römische Literatur. 811 

eben diesem Standpunkte erblicken , am auf diesem Wege einen 
möglich reinen Text wieder zu gewinnen. »Nihil magis studui, 
schreibt er S. V der Vorrede, quam, quid tot in locis obscuriS 
partemque conclamatis, reponendum foret , ut conjectura perspi- 
terera , sed ea , quae praesidio tuta esset cum aliarum rerum , tum 
inprimis palaeographiae ; cumque constaret, imperitos omissiores- 
que a negotio suo fuisse librarios Vellejanos, male aeeeptas ab 
Ulis voces ac literas revocare ad fidem autographi , quod inspicere 
mihi animo yidebar. Id recte an secus fecerim, non est meum 
existimare; sed illud liquido afßrmare possum , jam multa apud 
hunc nostrum sine offensione legi, in cjuibus vel doctissimi olim 
haeserunt, cum aut codieibus adulteratis nimium tribuerent aut 
ingenio et doctrina freti licentius grassarentur. « 

Wir konnten nun auch hier, wie eben bei Phadrus, eine 
Reihe oder vielmehr ein Verzeichnifs von wohl dreihundert Stel- 
len aus den beiden Buchern des Vellejus anfuhren, welche in 
dieser Ausgabe verändert und berichtigt erscheinen, unterlassen 
dies aber, da wir hier doch nicht in die Deurtheilung des Ein- 
seinen eingehen können und für die , welche eine solche Prüfung 
zu unternehmen gesonnen sind, dadurch schon gesorgt ist, daß 
in dem ersten der angehängten Indices, dem Index Persona™ m, 
unter dem Worte Vellejus eine solche übersichtliche Zusammen- 
stellung der einzelnen Stellen geliefert ist, welche in dieser neuen 
Becensio anders gestaltet erscheinen. Übrigens sind auch in den 
unter dem Texte befindlichen kurzen Anmerkungen diese und 
andere Abweichungen sorgfaltig bemerkt. Druck und Papier sind 
in jeder Hinsicht sehr befriedigend und sichern auch von dieser 
Seite dieser neuen Bearbeitung des Vellejus die wohlverdiente 
Aufnahme und die gerechte Anerkennung des Publikums. 



06er die Kritik des Plaut us. , Von Friedrich Ritschi. Besonder* 
abgedruckt au» dem Rheinischen Museum für Philologie. Erste Ab' 
theilung. Bonn 1836. & 153 - 21Ü und 485 - 570 in gr. 8. 

Wir haben der verdienstlichen Bemühungen des Herrn Prof. 
Bitsehl um die Kritik des Plautus schon früher in diesen Blättern 
mehrfach gedacht (s. Jahrgg. 1 036. S. 164 ff. und 720 ff.)« und 
glauben darum auch die vorliegende, wichtige Untersuchung nicht 
unerwähnt lassen zu dürfen , weil sie einerseits zur Erläuterung 
und Vervollständigung der von dem Herrn Verf. schon früher 
aufgestellten und bei seiner Bearbeitung der Bacchides in Anwen- 
ching gebrachten Sätze über die kritische Behandlung des Plautus 
dient, dann aber auch zugleich, durch die genaue Untersuchung 
über die uns bekannten Handschriften und Ausgaben des Plautus, 
der in dieser Hinsicht bisher fast ganz willkührlicb geübten Kri- 
tik dieses Autors eine sichere und feste Grundlage giebt, die uns 
für die Wiederherstellung des Textes genügendere Besultate ver- 
spricht , als der schwankende und unsichere Zustand , der bisher 



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812 Römische Lileralur 

hier herrschte , es möglich machen konnte. Ist nur einmal mit- 
telst der richtigen Würdigung der bekannten Hülfsmittel ein si- 
cherer, ihre Benutzung leitender Doden gewonnen, so werden 
grofse Vortheile für die Behandlung des Textes daraus hervor- 
gehen, mannichfache Irrthümer verschwinden und ein sicherer, 
von unnöthigen Verbesserungen wie yon offenbaren Fehlern freier 
Text des Plautus eher möglich werden: kurz dem Willkührlichen 
in der Kritik des Plautus wird ein Ende gemacht und eine si- 
chere, diplomatische Basis zur Texteswiederherstellung gelegt seyn. 

Die Schrift des Herrn Prof. Ritsehl zerfällt in zwei Abthei- 
lungen , von welchen die erste mit einer Untersuchung der Hand- 
scbriften # des Plautus, soweit sie bekannt sind, sich beschäftigt 
und ihren Innern Zusammenhang, ihren Ursprung und ihre Ab- 
leitung von einander auszumitteln und darnach dann auch ihren 
Werth und ihre Bedeutung zu bestimmen versucht. Ohne uns 
in das Einzelne einzulassen, was man in der Schrift selbst nach- 
lesen mufs, bemerken wir nur soviel aus den vom Verf. gewon- 
nenen Resultaten, dafs hiernach, soweit wir mit Sicherheit rück- 
wärts gehen können , mehrere , vielleicht aus einer gemeinsamen 
Urquelle abzuleitende Handschriften des Plautus anzunehmen sind, 
die auf gleicher Linie miteinander stehend , also auch an Werth 
ziemlich gleich und gegenseitig von einander unabhängig, im Gan- 
zen doch meist sehr miteinander übereinstimmen. Aus einer die- 
ser vier oder fünf Originalhandschriften stammen alle übrigen 
uns bekannten Handschriften des Plautus, etwa mit einziger Aus- 
nahme des Mailänder Palimpsest's , aber, wie nun Herr Ritsehl 
näher nachzuweisen bemüht ist, durch das Mittelglied einer eigen- 
mächtigen Recension und Interpolation, auf welcher auch die 
ältesten Drucke eines beträchtlichen Theils Plautinischer Komö- 
dien beruhen. 

Dio andere Abtheilung enthält eine sehr umfassende Darstel- 
lung dessen, was in der Kritik des Plautus seit dem ersten Er- 
scheinen desselben im Drucke geleistet worden ist. Die verschie- 
denen Ausgaben desselben, von der Editio prineeps an bis auf 
Bothe herab, werden unter einigen fünfzig Nummern aufs ge- 
naueste durchgangen und charakterisii t , so dafs auch in dieser 
Beziehung nun der Werth einer jeden Ausgabe , namentlich der 
älteren, in Absieht auf den kritischen Gebrauch, ihr Verbältnifs 
zu einander u. dgl. m. , sorgfältig bestimmt und damit für die 
Bahn, welche jetzt die Kritik des Plautus einzuschlagen hat, eine 
eben so sichere Grundlage gewonnen worden ist, wie dies hin- 
sichtlich der Handschriften durch die vorhergehende Untersuchung 
geschehen ist. — Ref. sieht verlangend den weiteren Forschun- 
gen des Verfs. über Plautus und deren Ergebnissen entgegen. 



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Komische Literatur 



813 



lllustri Moldani dedicati anlc hos CCLXXXf annoa memoriamianniver- 
sariam d. XIV. Septembris pie cclebrandam indieit M. Jugustus 
U'eichert. Commentatio /. De Imperatoria Caesaris}4ug^usti 
acriptis eorumque reliquiis. Grimmae, in sumptibua J. M. Geb- 
hardt 1835. 30 Ä in gr. <]. Commentatio IL Grimmae. Rx ofßcina 
Reimeria 1836. 50 & in gr. 4. 

Es schliefst sich diese Schrift den ähnlichen Bearbeitungen 
an , welche Herr Weichert über einzelne , insbesonders verlorene 
Dichter des Augusteischen Zeitalters seit einer Reihe von Jahren 
geliefert hat. Wir werden uns daher billig freuen , über den 
Kaiser Augustus selbst eine ähnliche Darstellung seiner wissen- 
schaftlichen Bestrebungen und Leistungen , soweit eine Hunde da- 
von uns zugekommen , in gleicher Vollständigheit and in einer 
gleich umfassenden Behandlungswcise zu erhalten , um dadurch 
in den Stand gesetzt zu seyn, über diesen Kaiser, unter dem rö- 
mische Wissenschaft und Poesie gewisse! mafsen ihren Höhepunkt 
erreicht hat, ein richtiges und wohlbegründetes Urtheil zu fallen. 
Wenn nun in dieser Hinsicht der Verf. an Rutgersius und Fabri- 
cius allerdings Vorgänger hatte, die den gröfsten Theil des hier 
zu berücksichtigenden Materials schon einigermaßen zusammen- 
gebracht hatten , so war doch die ganze Art und Weise ihres 
Verfahrens von der Art, dafs eine neue Untersuchung des Ge- 
genstandes, sollte anders der eben bezeichnete Zweck erreicht 
werden, insbesondere eine kritische Sichtung, Prüfung und Anord- 
nung der vorhandenen Data, vor Allem nö'thig war. Wir erhalten 
sie in vorliegender Schrift , bei der wir wohl es bedauern , noch 
nicht ihre Vollendung anzeigen zu können, die bei dem Umfang 
und der Wichtigkeit des Gegenstandes in eine allerdings weitere 
Ferne gestellt ist, da von den vierzehn Capiteln, nach welchen 
der Verf. das Ganze abzuhandeln gedenkt, in diesen beiden Ab- 
bandlungen nur die beiden ersten Capitel enthalten sind, frei- 
lich in einer Vollständigkeit , die nicht leicht Etwas vermissen 
läfst, und mit vielen und mannigfachen Detailnotizen über eben-' 
soviele Nebenpunkte, die allerdings nicht ohne Beziehung auf den 
Hauptgegenstand sind und diesen theilweise beleuchten. Die erste 
Abhandlung oder das erste Capitel enthält: De Cacsaris Augusli 
juvenlule, magistris ac Hudiii; wir finden darin eine sehr genaue 
Darstellung der ganzen Erziehung und Bildung Augusts von den 
frühesten Jahren an, seiner wissenschaftlichen Studien, seiner Leh- 
rer, welche zuletzt §. 8 der Reihe nach aufgeführt werden. Un- 
ter diesen wird zuerst Sphärus genannt, ein griechischer Sclave, 
dann folgte bei heranwachsendem Alter der Stoiker Areus und 
neben ihm noch ein anderer Stoiker Athcnodorus aus Tarsus, 
lauter Männer , denen Augustus auch in späteren Jahren noch mit 
dankbarer Liebe zugethan war. Dann , nach Ablegung der Prä- 
texta , scheinen zwei Rhetoren, ein lateinischer, Epidius, und ein 
griechischer, Apollodorus, die weitere Ausbildung geleitet zu haben. 

Die andere Abtheilung befafst das zweite Capitel: Do Cacsaris 



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r 

814 Römische Literatur. 

Augusli apophthegmatis , jocis et Strategemalis t ; es enthält eine 
Zusammenstellung aller der einzelnen Äusserungen , der witzigen 
Einfalle u. dgl. m. , welche von Augustus bei den Alten, zunächst 
bei Plutarch, Tacitus, Suetonius, Macrobius u. A. vorkommen, 
sämmtlich wohlgeordnet und mit ausfuhrlichen Erklärungen jeder 
Art, welche unter dem Texte stehen, begleitet. Vorangeht die- 
ser Zusammenstellung eine Untersuchung über den Charakter des 
Augustus im Allgemeinen, indem die eben erwähnte Zusammen- 
stellung mit in der Absicht unternommen und dämm auch gleich 
nach nach den Angaben über Erziehung und Jugendbildung des 
Augustus, also vor die Aufzählung der eigentlichen wissenschaft- 
lichen Leistungen desselben, gestellt worden ist, um den Cha- 
rakter des so verschieden beurtbeilten Mannes desto eher und 
desto sicherer aus diesen seinen Äusserungen und Gedanken im 
wahren Lichte erkennen zu lassen. Es ist diese Untersuchung mit 
der Unparteilichkeit unternommen , die man von einem so grund- 
lichen und besonnenen Forscher, wie der Vf. ist, wohl erwarten 
konnte , 10 wenig erfreulich auch das Resultat in den Augen Al- 
ler derer ausgefallen seyn mag , die sich in unsern Tagen berufen 
glauben , zum Schutze des monarchischen Princips das Patronat 
Aller derer zu übernehmen , die in diesen Zeiten der sinkenden 
romischen Bepublik durch die niedrigsten Künste der Demagogie, 
durch Gemeinheit und Schlauheit , verbunden mit kaltblütiger 
Grausamkeit, mitten unter einer sittlich entarteten und verdorbe- 
nen Welt , ihre Herrschbegierde oder ihren ungemessenen Ehr* 
geiz oder ihre schmutzigen Laster — man denke an Antonius — 
zu befriedigen suchten und darum als die edelsten und ehren« 
•wertheiten Charaktere uns erscheinen sollen. Es bedarf in der 
That nur eines Blicks in die hier geführte Untersuchung und in 
die darin vorgebrachten Stellen eines Tacitus u. A. , um über ei- 
nen Augustus (denn von Antonius ist hier nicht weiter die Rede) 
auf andere Ansichten geführt zu werden. Herr Weichcrt gehört, 
um es gleich zu bemerken, nicht zu den blinden Lobrednern und 
Verehrern dieses Herrschers , namentlich von Seiten seines per. 
sehnlichen Charakters, der freilich auch auf seine politische Hand- 
lungsweise nicht ohne Einflufs bleiben konnte, obwohl die letztere 
und deren Würdigung ausserhalb des Kreises dieser Darstellung 
liegt. Sie mag vielleicht anders ausfallen und den Augustus selbst 
über einen Cäsar stellen, der als Charakter, als Mensch, und zwar 
als edler Mensch, so hoch über Augustus steht, dem, wie unser 
Verf. irgendwo in dieser Abhandlung bemerkt, die Milde und 
Herzensgüte eines Cäsar und selbst seines Vaters fehlte, während 
er an kaltblütiger Grausamkeit eher einem Sylla ähnlich war, da- 
bei aber doch genug Schlauheit und Lebenserfahrung besafs, um 
Männer wie einen Mäcenas und Agrippa für seine Zwecke zu ge- 
winnen und zu gebrauchen und darum auch stets in Ansehen und 
Ehre zu erhalten, während er zugleich alte seine Handlungen in 
einem beschönigenden Lichte darzustellen wufste. Herr Weichcrt, 
nachdem er zuerst ein sehr hartes und ungünstiges Urtheil über 



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Römische' Literatur. 815 

Augustus 8. 5 aasgesprochen (»At si ex eo , quo modo qaisque 
natas est et institutus, exquiriraus, quid deceat ac quid sit lau- 
dabile, Augustus, spectata maxima vilae ejus parte, dicendus est 
multum degenerasse a parentibus neque se com domestica disci- 
plina, tum etiam natura Ii quodam booo defendisse. Neque enim 
puto quemquam tanto tllius studio et amore captum teneri, quin 
eum Triumvirum, multorum scelerum non suspicione sed infamia 
commaculatum , detestetur et quae tum ediderit haud fallacia aniroi 
inhumanissimi et improbissimi documenta toto animo perhorrescat, 
etiamsi nonnullorum gratiam facinorom vel juventuti ejus faciamus 
yel temporum necessitati condonemus « ) , sucht deshalb vor Allem 
die eigenen Ansichten der Römer nach dem Tode Augusts, ihre 
Urtheile über seinen Charakter u. s. w. auszumitteln , in welcher 
Beziehung denn die Äusserungen eines wahrheitliebenden und 
ebenso strengen Forschers, des Tacitus Annall. I, 9. 10. einer 
näheren Untersuchung S. m ff. unterworfen werden, deren Re- 
sultat dahin ausfällt, dafs auch Tacitus keine vortheil hafte Ansicht 
von der Persönlichkeit und dem Charakter eines Mannes gehabt 
hatte, dessen verstecktes, schlaues, zweideutiges Wesen in der 
Seele eines- Tacitus nur Widerwillen erregen und in ihm auch 
den Glauben an das, was so Manche der Zeitgenossen dem Au« 
gustus vorwarfen , an seine ungemessene Herrschbegierde , an die 
Heuchelet, Verstellung, Grausamkeit u. s. w. erzeugen mufste. 
Was zur Entschuldigung oder Rechtfertigung des Augustus oder 
überhaupt zu seinem Lobe in politischen Beziehungen sich anf uh- 
ren läfst, ist ebenfalls schon als Stimme der Zeitgenossen von 
Tacitus in kurzen aber treffenden Zügen auf eine Weise darge- 
stellt worden, der schwerlich noch Viel weiteres hinzuzufügen 
wäre. Wie der Verf. der Torliegenden Schrift darüber denkt, 
mag ausser der eben angeführten Stelle noch eine andere , die 
wir aus 8. i5 entnehmen, andeuten: »Atque Omnibus, quae scrip- 
tores de vita Augusti cum publica tum privata memoriae prodi- 
derunt, compositis eisque sine cupiditate consideratis , ingenue fa- 
teamur necesse est, illura Principem ne ;in medio qoidem vitae 
actu neque factis suis neque dictis ita in vigi lasse, ut ne hpmo 
esse existimaretur ex contrariis diversisque atque inter se pugnan- 
tibus naturae studiis cupiditatibusque conflatus et omnes aut bene 
aut male agenti rationes extrinsecus suspensas habens.« Diesen 
Charakter glaubt auch Herr Weichert in den von den Alten uns 
aufbewahrten Einfällen, Scherzen o. s. w. , wie sie von S. 18 an 
zusammengestellt und erörtert sind, zu entdecken, da in ihnen 
theilweise Menschenfreundlichkeit und eine gewisse Humanität 
nicht zu verkennen ist, während andrerseits auch Manches darun- 
ter vorkommt, was Stolz und Grausamkeit und ein Wegsetzen 
über Alles, was bei Gott und Menschen heilig ist, nur zu sehr 
verräth. — Dafs Herr Weichert auch abweichende Urtheile nicht 
übersehen, sondern mit gleicher Sorgfalt in den Noten aufgeführt 
hat, bedarf wohl kaum einer besondern Anzeige. 

Scblüfslich bemerken wir noch nach S. 6 die übrigen, dera- 



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Römische Literatur. 



nächst zu erwartenden Abschnitte der Schrift: Cap. III. De A. 
poematis, Latinis et Graecis. IV. De A. rescriptis Bruto de Ca- 
tone. V. De epistolis itemque Codicillit. VL De serraonibus et 
orationibus. VH. De edictis. VIII. De legibus ac constitutionibus. 
IX. De descriptione terrarum. X. De hortationibus ad philoso- 
phiam. XI. De Coramentariis, quos de sua vita scripsit. XII. De 
ejus operibus postremis : i. Monumentum Ancyranum. 2. Ratio- 
mir mm et Breviarium imperü. 3. Mandata de administranda re- 
publica. 4. Mandata de funere suo. XIII. De Testamento. XIV. 
De ejus in Hieras artesque liberales meritis. 



Solennia examinis publici vernali» — in auditorio gymnasii Scnatorii Osna- 
brugensis celebranda — indicit J. H. B. Fortlage, gymna*. director. — 
Praemissa sunt nonnulta ad historiam belli Punici secundi 
spectantia. Scripsit C. G. A, Struve, conrector. Osnabrugi, typis 
Kisslingianis. MDCCCXXXM. 15 S. in gr. 4. 

Der Gegenstand dieser Schrift, die als ein schätzbarer Bei- 
trag zu der Geschichte des zweiten punischen Kriegs sowie zur 
Kriegsgeschichte der Römer überhaupt zu betrachten ist, besteht 
in der Nachweisung, dafs eine Hauptursache der Niederlagen, 
welche die Romer im Laufe dieses Kriegs gegen Hannibal erlit- 
ten, in dem jMangel an Reiterei gelegen. Es werden deshalb die 
Schilderungen, welche Polybius und Livius von diesen einzelnen 
Treffen und Schlachten uns liefern, durchgangen, und daraus 
nachgewiesen , wie insbesondere die Numidische Reiterei des Han- 
nibal den Römern stets so furchtbar gewesen, so dafs selbst Li- 
vius, als nach der Einnahme von Sellasia fünfhundert numidische 
Reiter in die Gewalt der Römer gekommen* waren, ausrufen 
konnte: »nec deinde Poenus, quo longe valuerat , equitatu supe- 
rior fuit« (XXVI , 38). Die Einrichtung der Velitcs hätte, wenn 
man früher dazu geschritten wäre , den Römern manche Nieder- 
lage ersparen können , wie der Verf. S. i3 annimmt. Erst unter 
Scipio, der den Krieg nach Afrika spielte und der Bildung einer 
guten Reiterei besondere Aufmerksamkeit zuwendete, änderten 
sich diese Verhältnisse, die selbst schon in der Schlacht bei 
Zama , der ersten, in der Hannibal, mit den eigenen "Waffen an- 
gegriffen, besiegt worden, ihren Einflufs äusserten. 



(Der neschlufs folgt.) 



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* 



N°.52. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

■ 

Römische Liter ata r. 

(Betchluft.) 

Solcnnia anniversaria in gymnasio regio Baruthino — rite eelebranda reo- * 
torii collegiique nomine indicit Dr. Henr. Guil. Ileerwagen. 
Praemittitur de P. et L. Scipionum accusatione quaestio. 
Baruthi MDCCCXXXPL Et officina Hoerethiana. 19 & in gr. 4. 

Den Inhalt dieses Programms bildet eine sehr genaue Erör- 
terung der berühmten, aber von den Alten auf verschiedene Weise 
erzählten Anklage, welche 565 u. c. gegen die beiden Scipionen, 
den Africanus und den Asiaticus erhoben wurde. Zeit der Klage 
sowie die letztere selbst , dann die Person der Ankläger und an- 
dere Nebenumstände werden auf verschiedene und von einander 
abweichende Weise berichtet. Livius (XXXVIII, 5o — 6o), aller- 
dings die Hauptquelle, und wie der Verlauf dieser Untersuchung 
zeigt, auch die zuverlässigste, folgt, wie der Vf. nachzuweisen 
im Stande war, hier zunächst dem älteren Annalisten Valerius 
von Antium; Gellius (Noct. Att. IV, 18), der mit ihm in Wider- 
spruch steht, beruft sich gleichfalls auf ältere Quellen. Darum 
hat der Vf. hier zuvorderst eine genaue Üntersuchung über die 
einzelnen Punkte des Widerspruchs eingeleitet, um so aus der 
gegenseitigen Vergleichung den Grund und die letzte Quelle der 
abweichenden Nachrichten auszumitteln um darnach den Grad 
der Glaubwürdigkeit bestimmen zu können, den die eine Nach- 
richt vor der andern verdient. So wird zugleich die Schrift ein. 
neuer Beleg für die wichtige Frage über die Quellen des Livius, 
die Kritik und Auswahl sowie die sorgfaltige Benutzung derselben, 
und die darnach zu bestimmende Glaubwürdigkeit des Livius selbst. 
Wir (reuen uns, zu sehen, wie günstig für Livius sich das "Re- 
sultat dieser mit oben so vieler Genauigkeit als Unbefangenheit 
angestellten kritischen Untersuchung herausstellt, da seine Nach- 
richten hier im Ganzen den Vorzug verdienen; sein Anschliefsen 
an Valerius wird aber hier um so bedeutender und wesentlicher 
erscheinen, wenn man weifs , mit welcher grofsen Vorsicht Li- 
vius diesen Annalisten überhaupt benutzt hat, wie er ihm keines- 
wegs blindlings folgt, sondern selbst zum öfteren auf Übertrei- 
bungen desselben oder Leichtgläubigkeit uns hinweist. (Vgl. z. B. 
die Stellen p. i3.) Die abweichenden Angaben des Gellius haben 
keineswegs den Gehalt und verdienen nicht den Grad der Glaub- 
würdigkeit, den die Erzählung des Livius, oder vielmehr seines 
Gewährsmanns, des Valerius, auch dadurch gewinnt, dafs die 
späteren Schriftsteller (mit einziger Ausnahme des Seneca), da 

XXX. Jahrg. 8. Heft. 52 



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818 



Romiichc Literatur. 



wo sie dieses Vorfalls gedenken, an Livlus und dessen Bericht 
zunächst sich halten, Tgl. p. i5 — 18, wo die Zeugnisse dieser 
Autoren zusammengestellt sind. Gern unterschreiben wir auch, 
was S. 5 im Allgemeinen über des Livius Sitte bemerkt wird, 
verschiedenartige Nachrichten, die er vorfand, zusammenzustellen 
und so dem Leser selbst die Prüfung und Entscheidung der grösse- 
ren Glaubwürdigkeit der einen Nachricht vor der andern zu uber- 
lassen, obwohl wir auch nirgends in solchen Fällen die ruhige 
und vorsichtige, daher auch leidenschaftslose Kritik vermissen 
werden , die der Schriftsteller selbst augenscheinlich überall , zum 
grofsen Vortheil der Sache, angewendet hat 



Rudim en t a linguac Vmbricae ex inseriptionibne nntiquit enodata. 
Pvrtirula IV, Iguvinarvm tabularum preecs i n t c r p r c t a n s, 
Scripsit O. F. Grotefend t lycci Hannover ani Director. — „Set qua- 
dam prodirc tenu* , ei non datur ultra." Borat, — Hannoverae. 
MDCCCXXXril. In Hbraria aulica HaknU. 28 A in gr. 4. 

Unter Verweisung auf die früheren Anzeigen der vorher- 
gehenden Hefte (Jahrgg. i836. p. 86. 83 1. 1217 ff.) freuen wir 
uns die rasche Fortsetzung dieses Unternehmens mit dem Erschei- 
nen dieses vierten Heftes ankündigen zu können. Sein lohalt be- 
zieht sich , nachdem in den früheren Heften die Erklärung der 
in den ombrischen Inschriften vorkommenden Eigennamen beendigt 
war, auf die übrigen Worter und deren Beugung;' und so ver- 
sucht der Verf. eine Deutung der in den drei letzten Tafeln be- 
findlichen Gebetsformeln, wie sie sich mehrmals daselbst wieder- 
holen. Zwar hatte schon Lassen einen ähnlichen Versuch in dem 
Rhein. Museum gemacht, allein der Vf. fand darin Manches ganz 



neuen Weg einschlagen zu müssen , der die Grundlage einer rich- 
tigen Auslegung bilde: wobei er, den eigenen Weg einschlagend, 
keine weitere Rücksicht auf andere Deutungsversuche nahm; wohl 
aber fand er es dabei für nothig , zur richtigen Auffassung und 
zum Verstand nifs dieser Gebetsformeln die ähnlichen, welche bei 
dem altern Cato , dessen Lebensperiode nicht sehr fern von der 
Zeit der Abfassung dieser Tafeln fallen durfte, vorkommen, zu 
benutzen und zu vergleichen : ein Verfahren , welches , wie man 
an mehr als einer Stelle sieht, dem Ganzen sehr erspriefslich ge- 
wesen ist, da wirklich die Gebete bei Cato so auffallend ähnlich 
den auf diesen Tafeln vorkommenden sind. Vgl. z. B. pag. 8. 14« 
Wir können natürlich hier nicht in das Einzelne der von dem 
Vf. angegebenen Deutungen und Erklärungen eingehen, die Ge- 
genstand eines besonderen Studiums seyn müssen, konneu aber 
nicht umhin noch darauf aufmerksam zu machen, wie nach den 
hier vorgelegten Daten es mit ziemlicher Sicherheit sich heraus- 
stellen läfst, dafs die umbrische Declination, in Vielem (»in plu- 
rimis«) ganz ahnlich der griechischen und lateinischen, zugleich 




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Römische Literatur. 81V 

- 

manche Eigentümlichkeiten besafs; dafs ferner die Zahl der De- 
clinationen der der romischen Sprache auch gleich gewesen- zu 
seyn scheint, obwohl von der fünften Declination kein Wort, von 
der vierten nur ein einziges vorhanden ist , die Mehrzahl der vor- 
handenen Worter nach den drei ersten Deciinationen geht, deren 
Schema der Verf. aaszumitteln so glücklich war; s. pag. 24 ff. 
Aber auch von dem Pronomen demonstrativen erur und eiur, in 
Verbindung mit dem Adjectiv totur, wird S. 27 ein Schema auf* 
gestellt, das der ersten und zweiten Declination entspricht, des* 
gleichen ein anderes S. 28 der Adjective der dritten Declination. 
Wir dürfen demnach wohl hoffen , dafs ei dem Scharfsinn und 
der Gelehrsamkeit des Vfs. gelingen werde , uns ein , soweit die 
Quellen reichen , möglichst vollständiges System der Grammatik 
und des Baues dieser Sprache vorzulegen, und dürfen dann auch 
hoffen , nähere Einsicht in das Wesen dieser ältesten Sprache 
Italiens und damit auch in die alt -romische zu gewinnen. 



Dt repttitionc voeum in kermone Gmeto ac Latino »criptit 11. Paldamut. 
Greift walde 1886. (Programm, mit den Schulnachrichtcn. 18 5. in 
gr. 4-; 

Eine kurze, aber gewifs recht interessante Abhandlung über 
einen Gegenstand , der zur richtigen Würdigung der Sprache 
selbst sowie zur richtigen Handhabung der Hritik in vielen 
einzelnen Stellen von nicht geringer Wichtigkeit ist. Der 
Verfasser nemlich sucht die bei den alten Schriftstellern ver- 
schiedentlich vorkommenden Wiederholungen eines und desselben 
Worts auf bestimmte Grundsätze Zurückzuführen , und demnach 
gewissermafsen eine Theorie über diesen Gegenstand aufzustellen. 
In gerechtem Widerspruch mit früheren Bestimmungen darüber, 
macht er eine, in der Natur der Sache selbst wohl begründete 
Unterscheidung zwischen Wiederholungen , die durch den Cha. 
rakter der Rede, den Sinn und Ausdruck nothwendig geboten 
erscheinen, mithin rein objectiver Art sind, und zwischen solchen, 
die einen absichtlichen , künstlichen Zweck errathen lassen , mit- 
hin mehr subjectiver Art sind und in den subjectiven Ansichten 
und Absichten des Schriftstellers oder Dichters begründet sind. 
Der Vf. nimmt dabei besonders auf die lateinische Sprache Rück- 
sicht; er hat uberdem hier seine Belege und Beispiele meistens 
aus Dichtern und Rednern entlehnt, weil hier besonders im Ge- 
gensatz gegen den freieren , kunstloseren Gang der griechischen 
Sprache , mehr Kunst und Studium , sowie der Einflufs gelehrter 
Schulstudien, die zumal in der späteren Periode Roms den Red- 
ner wie den Dichter bildeten, der aus ihnen hervorgieng, be- 
merklich wird. In der ersten Classe der notwendigen Wieder- 
holungen unterscheidet der Vf. nun wieder solche, die aus Grün- 
den der gravitas und des ornatus, oder der perspieuitas oder der 
simplicitas statt finden, wohl bemerkend, dafs diese Unterschiede 



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820 Römische Literatur 

insofern oftmals zusammenfallen, als was uro der perspieoitas wil- 
len wiederholt wird , es auch im Sinne der simplicitas ist u. s. w. 
Alle diese einzelnen Fälle werden sorgfältig mit Beispielen be- 
legt, insbesondere finden sich darunter viele, deren Lesart un- 
sicher oder Anstois erregend, nun auf eine oder die andere Weise 
sicher gestellt wird. Ein schätzbares Corollarium verbreitet sich 
über die Verbindung eines Substantivs , meistens in Accusativ oder 
auch im Ablativ mit einem Verbum gleichen Sinns ; auch diese 
Verbindungsweise wird hier auf bestimmte Fälle restringirt und 
damit zugleich nachgewiesen, dafs sie durchaus keine willkühr- 
liche Verbindungsweise ist. Zahlreiche, aber wohl ausgewählte 
Belegstellen fehlen auch hier nicht. 



Rpistolae Petri Hundt i , Paulli Manutii, Christophori Longolii, 
Petri Bembi, Jaeobi Sa (Inlett, Aonii Palearii V er u\ani partim st ~ 
lectae partim integrae. Brevem narrationem de VP. DD. f itis prae- 
misit , annotatione pet petita in Bunelli Rpistolas instruxit et indicem 
dupHcem adjecit Frid. Andr. Christ. Grauff, Hclveto-Bernensis , 
philo». Dr. et gymnasii Bitnnensis Director. (Mit dem Motto: „Tu, 
quae mox imitere, legas : nee desinet unquam Teeum Graia loqui, tc- 
cum Romana vttustas.) Bemae , Curiae Rhaet. et Lipsiac. Sumptus 
fecit ac venundat J. F. J. Dalp. MDCCCXXXVII. XIV und 840 S. 
In gr. 8. 

Eine Sammlung von Briefen ausgezeichneter Humanisten des 
fünfzehnten und sechszebnten Jahrhunderts, die durch die reine 
lateinische Sprache und den Ciceroniamschen Ausdruck in jener 
Zeit vor Andern ausgezeichnet, als wohl zu beachtende Muster 
im lateinischen Vortrage auch heut zu Tage noch immer empfoh- 
len werden können, zumal da der Ideenkreis, in dem sie sich 
bewegen, unserer Zeit und unsern Ansichten weit näher liegt, so 
dafs die fleifsige Leetüre solcher Muster am besten uns anleiten 
und gewohnen kann , auch über Gegenstände unserer Zeit und 
der Wissenschaft unserer Tage in gutem, elegantem Latein sich 
auszudrücken. Ref. hat auch in seinem Kreise zu viele Erfah- 
rungen von der Nützlichkeit dieser Leetüre gemacht, als dafs er 
nicht lebhaft dieselbe Allen denen empfehlen sollte, welche einen 
fliefsenden und reinen Vortrag in lateinischer Sprache zu erlan- 
gen wünschen. Dafs er daher, von diesem Gesichtspunkte aus, 
ein Unternehmen wie das vorliegende, das ähnlichen Sammlungen 
von Friedemann, Kr aft u. A. sich würdig anschliefst, nur billigen 
kann, ist leicht ersichtlich, weil er sich davon eine Forderung 
des bemerkten Zweckes verspricht und in solchen erneuerten 
Abdrücken, die eine Auswahl des für unsere Zeit mehr Passen- 
den und Geeigneten enthalten , nur neue Mittel zur leichteren 
Erreichung dieses Zwecks finden kann. 

Was nun die hier gegebene Wahl betrifft, so erstreckt sich 
dieselbe über die Briefe einer Anzahl von Humanisten, welche 
in ähnlichen Sammlungen, die wir theils von. den vorher genann- 



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Pädagogik. 821 

tcn Männern , theils ?on Andern in Deutschland besitzen , weni- 
ger berücksichtigt sind; die Gesanirotzahl der in diese Sammlung 
aufgenommenen Briefe betrügt an vierhundert, von welchen 
auf Petrus Bunellus 56, auf Paulus Manutius 95, auf 
Longolius 63, auf Bembus und Sadolctus in Allem 89, auf 
Palearius und einige Andere 86 nebst einer Accessio von 7 
Briefen kommen. Der Abdruck dieser Briefe reicht bis S. 56a; 
dann folgt bis S. 632 die brevis narratio de vitis der genannten 
Verfasser dieser Briefe, mehr wohl für den Gelehrten bestimmt, 
der durch die reichlich mitgetbeilten literarischen Nachweisungen 
in den Stand gesetzt ist, den Gegenstand noch weiter zu verfol- 
gen , wenn er sich dazu \ cranial st sieht. Daran reiht sich dann 
die auf dem Titel genannte annotatio perpetua in Bunelli Epistolas 
von S. 649 bis 776, was schon hinreichend die Ausführlichkeit 
derselben beurkunden kann; auch sie erscheint uns aber ihrem 

Sanzcn Inhalt nach nicht sowohl für Schüler geeignet, als für 
en Gelehrten, da der Veif. in ihr über eine Menge, die Sache 
wie die Sprache betreffenden , bald näher bald ferner liegenden 
Gegenstände sich ausspricht und hier allerdings eine Fülle von 
gelehrten Kenntnissen entwickelt, die seine Bekanntschaft mit der 
gesammten altern und neuern Literatur sowie seine gründlichen 
und umfassenden Studien hinlänglich beurkunden, schwerlich aber 
von denjenigen , für welche doch zunächst diese Briefsammlung 
bestimmt ist , gehörig gewürdigt und benutzt werden können. 
Solchen Lesern dürften kurze Bemerkungen , wo sie durchaus 
nothwendig sind , um MifsgrifTe oder Berufung auf falsche Auto- 
ritäten zu verhüten, ohne weiteren gelehrten Apparat, jeher ge- 
nügen. Durch diese gelehrte Beigabe sind denn auch ausführliche 
Register (S. 777 — 837) nothwendig geworden, die mit muster- 
hafter Genauigkeit abgefafst sind. — Druck und Papier kann in 
jeder Hinsicht als vorzüglich bezeichnet werden. 



PÄDAGOGIK. 

1) Bemerkungen über den Einflufa der jetzigen Gymnasialbildung auf den 

Gesundheitszustand ; in der Berl med. Zeitung 1836. A ? . 21. von Dr. 

med. Ebermaier in Cleve, 
t) Dr. B. K. A. Grathofe Programm, durch welches zur öffentlichen 

Prüfung des Friedr. Wilhelms Öymnasium in Köln eingeladen wird. 

Köln 1836. 4. 

3) Bemerkungen zum Sehutze der Gesundheit auf Schulen von Dr. J. G. 
Hoff mann, Staatsrath ete. in der Berlin, medic. Zeitung 1836. 2V. 16. 

4) Über H. Lorinsers Schrift t „Zum Schutze der Gesundheit auf Schu- 
len.* 1 Ein Gutachten von Dr. S. Imanucl , Director des Gymnas. in 
Minden. Bielefeld u. s. w. 1836. 46 $. 8. 

5) Ober einen neuen Entdeckungsversuch in der Pudagogik. Abhandlung 
in dem Programm des Gymn. in Stralsund von Dr. E. yizze, Dir 
Stralsund in der Löfflcr'schen Buchhandl. 1836. 22 5. 4. 



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* 

822 Pädagogik. 

6) Eine Beurtheilung des Hoff mann' sehen Aufsätze*, sowie der Schriften 
von Mutzet, Ueinsius und Ilagemann , von Dr. Fr. Hciche in Bran- 
denburg, kameral. Zeitung 1836. V 20 u. d. f 

7) Verhandlungen des pädagogischen Vereine zur Geselligkeit über die 
Lorinser'sche Frage. Zum Drucke befördert durch Prätoriu* , den 
Schulfreund. Berlin , bei öhmigke 1836. 56 & gr. 8. 

8) Über die Entwickelung und den gegenwärtigen Zustand des höheren 
Schulwesens in Preufsen. Ein Beitrag zur Würdigung der Schrift 
des H. Lorintcr etc. von P. J. Seul, Oberlehreram Gymn. zu Koblenz 
Koblenz bei Hölscher 1836. VI und 125 A gr. 8. 

9) Die Organisation der Gymnasien nach Lorinsers Ansichten von Dr. 
Beruh. Thier seh, Direct. des Gymn. zu Dortmund. Da*, hei Krie- 
ger 1836. 70 & gr. 8. 

10) Die Schulfrage der gegenwärtigen Zeit | ein Dialeg. Berlin, hei Lo- 
gier 1836. 60 Seiten gr. 8. 

I|) Beitrag *u den Streitfrage über die jetzige Gymnasialbildung; neu 
angeregt von Dr. Lorinser in der Schrift : „ Über den Schutz der Ge- 
sundheit auf Gymnasien * 1 Leipzig bei Nauck. 1836. 24 V gr. 8. 

12) Bemerkungen über den Einßufs der Verstandesbildung und geistigen 
Aufregung auf die Gesundheit von Amariah Brigham , mit Anmerkun- 
gen von Hob. Macinsh , au* d. Engl, übersetzt von Dr. A. Hildebrant. 
Berlin bei F.nslin lHo(>. 123 S. gr. 8. 

13) Lorinser und die Gelehrtenschulen. Ein Berieht über die Schriften 
von Lorinser, Hoff mann, Mützel, Ileinsius und Froriep ; in den Blät- 
tern für liter. Unterhaltung 1836. JV. 173 bis 176. 

Bei der Aufmerksamkeit, womit man in unsern Tagen das 
Erziehung!- und Unterricbtswesen in allen deutschen Staaten be- 
handelt ; bei der geistigen Ausbildung unserer Jugend, welche 
gegen die frühere grofse Vorzuge hat, und bei dem Umstände, 
dafs man im Allgemeinen eine Verweichlichung der Menschen und 
eine theüweise physische Entkräftung der Jugend beobachtet, war 
zu erwarten, dafs die bekannte Anklage Lorinsers, wornach die 
jetzige Einrichtung der preufsischen Gymnasien wegen der vielen 
Unterrichtsgegenstande, der dafür geforderten Stunden, häus- 
lichen Arbeiten u. dgl. die Gesundheit der Jugend sehr gefährdet 
werde, die jetige Erziehung einseitig und mit vielen Mängeln und 
Gebrechen behaftet sey, viele Bemerkungen für und gegen die 
ausgesprochenen Behauptungen veranlassen werde. Ein ganzer 
Schwärm von Schriften und Aufsätzen erschien und suchte für 
oder gegen jene Anklage Beweise zu fuhren ; einige derselben 
stellt Bef. hier zusammen, hebt ihre Hauptgedanken hervor und 
fugt über diese seine etwaigen abweichenden Ansichten kurz bei, 
woraus hervorgehen durfte, dafs man im Streite nicht immer die 
erforderliche Buhe und Besonnenheit beobachtete, sondern oft 
mit Waffen kämpfte, die man nicht recht zu fuhren verstand. 

Obgleich alle Schriften und Aufsätze dieselbe Sache betref- 
fen, so ist doch die Kenntnifs der einzelnen Grunde für und ge- 
gen jene Anklage in pädagogischer Hinsicht um so wichtiger, als 



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Pädagogik. 



der Staat selbst in das Schulwesen tief eingreift und uberall grobe 
Aufmerksamkeit erregte. In Folge desselben werden z. B. in 
Baiern die Schuler an gelehrten Schulen zwischen 10 und i| Uhr 
V* Stunde ins Freie gelassen, wornach dtr Unterricht bis H Uhr 
fortgesetzt wird; ist den vielen häuslichen Arbeiten und Schul- 
scriptionen Granze gesetzt, dem vielen Abschreiben und den an- 
strengenden Belästigungen begegnet und soll für gymnastische 
Übungen bei schlechtem und gutem Wetter durch einen jedes- 
mal passenden Ort gesorgt werden. Schulmänner und Ärzte ste- 
hen in ähnlichem Streite, wie Humanisten und Realisten, welcher 
darum sehr interessant wird , weil sich Schulmänner nicht selten 
widersprechen und Ärzte der Lorinserschen Anklage nicht unbe- 
dingt beitreten. In besondere Beurteilungen kann sich Ref. nicht 
einlassen, obgleich viel zu bemerken wäre, da die Jugend oft zu 
wenig an freie und selbständige Arbeit gewohnt, mehr das ge- 
dächtnifsmäfsige Auswendiglernen als Verarbeiten der Materialien 
beabsichtigt, das Einpfropfen von Gelehrsamkeit auf Kosten des 
gesunden Verstandes befördert wird , manche Lehrgegenstände 
ubertrieben und die Schuler mit grammatischen und mathemati- 
schen Spitzfindigkeiten überhäuft werden u. dgl. Er hebt nur 
einige Gesichtspunkte heraus, um eine kürzere Übersicht zu 
verschaffen. 

Der Verfasser des Aufsatzes N. 1 gesteht die Gültigkeit der 
Lorinserschen Anklage nicht unbedingt zu, indem er in seiner 
Amtspraxis keine Erfahrungen gemacht haben will, welche die- 
selbe bestätigen konnten. Diese Erklärung eines Arztes erregt 
um so mehr Bedenken , als sie mit einer gewissen Bube und Über- 
legung niedergeschrieben zu seyn scheint. Ob jedoch der Verf. 
auf diese Sache vorher aufmerksam war, geht aus seiner Dar- 
stellung nicht direct hervor, weswegen sein Urtheil nicht ganz 
unbedingt als zureichend begründet anzusehen ist. Er sagt unter 
Anderm : » In meinem Wirkungskreise müfste ich es doch auch 
erfahren haben , wenn die gewöhnlichen Anstrengungen körper- 
lich und geistig gesunde Schüler wirklich und wesentlich benach- 
teiligten. Bei einer kritischen Beleuchtung der Fälle, in wel- 
chen erfabrungsmäfsig erst durch die Schulen Körper und Geist 
für immer zerrüttet seyn sollen, mochte aber leicht ein ganz an- 
deres Besultat herauskommen. Nach den Erfahrungen vieler Leh- 
rer sind im Gegentheil die fleifsigen und ausgezeichneten Schüler 
nicht gerade die schwächlichen, sondern sie bleiben auch kör- 
perlich frisch und gesund.« 

Ref. ist kein Arzt, aber Schulmann, der viele Jahre diese 
Verhältnisse beobachtet hat und darauf um so aufmerksamer war, 
je mehr er sich überzeugt hat, wie zu grofse Anstrengungen 
auch die physisch starken Jünglinge niederbeugten und Schwäche 
nach sich zogen; er will nicht gerade von einem Zerrütten des 
Korpers und Geistes , aber doch von einem Schwächen und häu- 
figen Abstumpfen reden, welches fast immer dann erfolgt, wenn 
auf Kosteu aes Verstandes das Gedächtnifs überladen und die 



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824 Pädagogik. 

Hauptstärke des Unterrichtes in einen verderblichen Gedächtnifs- 
liram gesetzt wird. Hierzu kommen die zahllosen Schreibereien 
von Correctheften , Zusätzen, Aufgaben und ein oft sehr gebeug- 
tes Sitzen in den Schulbänken , welche meistens zweckwidrig für 
Knaben wie für Jünglinge eingerichtet sind : dafs hierdurch der 
Organismus des Korpers beeinträchtigt wird , kann der Verf. ge- 
wifs nicht bezweifeln , zumal bei einem schnell emporwachsenden 
Junglinge. Dafs das bleiche und sieche Aussehen vieler Knaben 
und Jünglinge auch noch in mancherlei andern Umständen zu su- 
chen ist , läugnet Ref. gar nicht ; er rechnet gar viel auf die 
heimlichen Sünden, welche Geist und Korper zerrütten. 

N. 2 widerspricht die Lorinser'sche Anklage nicht, vielmehr 
gesteht ihr Vf. offen zu, dafs sich die ihr zum Grunde liegende 
Tbatsache für die preufs. Gymnasien nicht läugnen lasse und na- 
mentlich in den obern Klassen auf eine sehr betrübende Weise 
zu erkennen gebe. Er selbst will das Wesentliche des Inhalts 
der Lorinser'scben Schrift schon in seinem Programme v.J. i83o: 
»Über künftige Reformen in den Lehr- und Lectionsplänen un- 
serer Zeit« bewährt habevi. Wenn er hier gesteht, »dafs es 
um die Gesundheit eines grofsen, fast grofsten Theiles der heran- 
reifenden Jünglinge, ob mifslicher als je stehe, wolle er nicht 
behaupten, indem die Anstalt, wovon er Vorstand sey, als Gym- 
nasium erst 12 Jahre wirke und noch nicht auf eine längere Reihe 
von Jahren sich stützen könne«, so mufs man doch traurig ge- 
stimmt werden, so sehr er auch von der Schule die Anklage ab- 
zuwälzen und auf das häusliche Leben zu übertragen sucht. Nur 
im Allgemeinen spricht er übrigens von der Sache und rügt vor 
Allem Manches als Übertreibung, was auch schon von andern Schul- 
männern und einem oder dem andern Arzte nicht anerkannt wurde. 
Da man in der neuesten Zei> für das Gewerbswesen, für die 
technische Ausbildung überhaupt, einen weit höheren Grad von 
Entwicklung fordert und in kleineren Städten meistens die Mittel 
nicht vorhanden sind, sowohl für die gelehrte als technische Aus- 
bildung besondere Anstalten zu errichten , so werden beide oft 
vereinigt, wodurch notwendig eine Überladung entstehen mufs. 
Sowohl auf die stets grofsere Nothwendigkeit der technischen 
Anstalten als auf die Schwierigkeiten ihrer Vereinigung mit den 
gelehrten macht der Verf. aufmerksam , wobei er jedoch wenig 
in das Wesen der Sache sich einläfst. 

Der Aufsatz Nr. 3 rührt wieder von einem Arzte her, ent- 
hält ein Gutachten über die Lor. Streitfrage und erklärt Vieles 
für Übertreibungen, indem in ihm durch urkundliche Erörterun- 
gen aus Lehrplänen und Schulakten dargelhan werden will, dafs 
in den preufs. Elementarschulen weder Lehrgegenstände, noch 
Lehrstunden, noch häusliche Arbeiten die Kraft und Gesundheit der 
Jugend überspannen und schwächen; vielmehr dürften schlechte 
Schulstuben, zu sehr beschränkte Räume, zu lange und anhaltend 
gebeugtes, die Brust zusammenpressendes Sitzen und andere Um- 
stände die Hauptursachcn von Schwächungen und Krankheiten 



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■ 



Pädagogik. 825 

• 

seyen, weswegen die Bildungsanstalten nicht sorgfältig genug ihre 
Pflicht erfüllen und alle nachtheiligen Verhaltnisse nebst Hinder- 
nissen Tür das physische Gedeihen vermeiden könnten. 

Die geistige Übertreibung an Gymnasien bestätigt er, sucht 
aber den Grund nicht da, wo ihn Lorinser finden will, sondern 
in dem Conflihte, in welchen die Sprach- und Realstudien, na- 
mentlich Mathematik , Naturwissenschaften und Geschichte unter 
einander gerathen seyen. Zugleich sey dieser Conflikt so lange 
nicht zu beseitigen , als der bei weitem geringste Theil der Gym- 
nasialschüler für gelehrte Studien, die übrigen aber für bürger- 
liches Leben bestimmt seyen und als darum die Gymnasien für 
beide ziemlich heterogene Bildungsweisen sorgen mufsten. Dafs 
man in dem mathematischen Fache an den preufs. Gymnasien zu 
weit geht, ist nicht zu läugnen; dafs man davon die erwarteten 
Vortheile nicht arntet , zeigt die Erfahrung. Man übertreibt die- 
ses Fach und vernachlässigt häufig die Elemente wegen des Stre- 
bens, recht bald zur höheren Mathematik übergehen, die combi- 
natorisebe Analysis, die höhere Curvenlehre, den Diflerenzial- 
und Integralkalkul u. s. w. vortragen zu können. Auch die Na- 
turwissenschaften werden zu weit getrieben : der Schüler kann 
die Masse der Lehrzweige nicht bewältigen und richtet entweder 
seinen Korper und Geist theil weise zu Grunde oder stumpft ihn 
ab: die Jahresberichte liefern den Beweis, wie sehr man diese 
Fächer übertreibt, den Jüngling im Vergleich mit seinen Jahren 
' und Kräften überladet und Veranlassung zur Zerrüttung der Ge- 
sundheit giebt. 

Zur Vereinfachung des Gymnasialunterrichtes, ohne die alten 
Sprachen zu beeinträchtigen, schlägt er die Errichtung* von so- 
genannten Realschulen vor, um die Schüler, welche zu den ge- 
lehrten Studien übergehen wollen, genau von denen, welche sich 
für ein technisches Fach, ausbilden wollen, zu trennen. Um aber 
die Gründung von jenen Realschulen dem Staate oder den ein- 
zelnen Städten zu erleichtern , schlägt er die Einziehung von man- 
chen Gymnasien vor und begründet seinen Vorschlag aus einer 
annähernden Berechnung der Anzahl von Beamten, welche Preus- 
sen jährlich für seine Stellen verwenden könne. Wollte man auch 
zugeben, dafs dieser Vorschlag einigen Übeln abhelfe, so bleibt 
an den vorhandenen Gymnasien doch derselbe Übelstand und die 
nachteiligen Folgen werden keineswegs gehoben. Auch ist der 
Vorschlag darum gehaltlos, weil viele Schüler in das Gymnasium 
übertreten, in der bestimmten Absicht, sich den gelehrten Stu- 
dien zu widmen, aber erst spät zu irgend einem Gewerbe oder 
einem höheren technischen Fache sich wenden , also immerhin 
eine gewisse Summe von Realkenntnissen auf dem Gymnasium 
sich erwerben müssen. Nebstdem bedarf auch der Beamte einen 
groben Theil dieser Kenntnisse , um nicht von dem gemeinen 
Manne übertrofTeh und von dem Techniker oder Gewerbsmanne 
sich gar verlachen zu lassen. Der Verf. scheint übrigens den 
Zusammenbang der Sprachstudien oder deren Ergänzung durch 

» 



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826 



Pädagogik 



Mathematik, Geschichte, Geographie und Religion nicht genau 
ins Auge gefafst zu haben, da seine Ansichten hierüber ziemlich 
gehaltlos sind. 

Der Verf, der Schrift N. 4 theilweise ein Zweifler, der 
mit sich selbst nicht einig und zugleich der Sache nicht recht 
auf den Grund gekommen ist, indem er schwankt zwischen Vor- 
worts und Rückwärts, zwischen positiven und negativen Ansichten, 
und in einer gewissen Ängstlichkeit seine oberflächliche Kenntnifs 
von der Sache zu erkennen giebt. Seine ganze Darstellung leidet 
an Unbestimmtheit und Unentschiedenheit, wodurch der Sache 
mehr geschadet als genutzt wird. Er bemüht sich zwar, durch 
mancherlei haltbare, oft unhaltbare Grunde die Lorinser'schen 
Ansichten als ubertrieben darzustellen und die Schule selbst als 
schuldlos an der Kränklichkeit der Jugend zu erklären; allein er 
will doch zum Bchufe einer unparteiischen Prüfung der Be- 
schuldigungen acht Jahre lang durch Ärzte und Direktoren der 
Gymnasien (dafs doch stets nur die Direktoren oder andere Schul- 
vorstände die alleinigen Verständigen und glucklieben Beobachter 
seyn wollen u. s. w.) unter gemeinsamer Mitwirkung über den 
Gesundheitszustand der Schüler an Gymnasien und per anderen 
Berufsarten angestellt wissen. 

Wie wenig der Vf. mit der Sache ins Klare gekommen ist, 

feht aus diesen wenigen Gedanken hervor : obgleich er die An- 
lagen für übertrieben hält , so will er doch noch eine Zeit hin- 
durch beobachten und sich erst Notizen sammeln, ob er mit Recht 
oder Unrecht dem H. Lorinser widersprochen habe ; er hat daher 
für seine Behauptungen und Widerlegungen keine Gründe und 
giebt eben darin eine bedeutende Blöfse bei den denkenden Schul- 
männern. Dafs es ihm nicht gelingen wird, den ruhigen Beob- 
achter und vernünftigen Lehrer, der die Sache unpartheiisch er- 
wäget, von der Schuldlosigkeit der Schule an der Kränklichkeit 
der Jugend zu überzeugen , kann Bef. aus seiner vieljährigen Er- 
fahrung mit aller Bestimmtheit behaupten, obgleich er nicht alle 
Ansiebten des H. Lorinser unbedingt billigt 

Während Andere den Sitz des Übels, wenn es denn ange- 
nommen wird« in den oberen Klassen suchen, will er ihn in den 
unteren finden, wobei er wieder den rechten Weg nicht getrof- 
fen haben mag, da gerade in den oberen Klassen wegen Ausdeh- 
nung der Lehrgegenstände u. s. w. die physische und geistige 
Kraft des Jünglings im Durchschnitte mehr in Anspruch genom- 
men wird , als ihren Jahren entsprechend ist. Dadurch , dafs er 
in dem Lehrplane Verminderungen vorschlägt, welche alle Klas- 
sen treffen , giebt er zu erkennen , dafs die Schule wenigstens 
einen T heil 4er Schuld , welche ihr zugeschrieben wird , auch nach 
seiner Ansicht zu tragen hat. wodurch er seiner früheren Be- 
hauptung theilweise widerspricht. Er will im Lateinischen weni- 
ger geschrieben aber mehr gelesen und namentlich auch den Un- 
terricht in der Geographie beschränkt haben. Hierdurch , sowie 
durch Entfernung des Zeichnens und Singens aus der Zahl der 




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Pädagogik. 



bindenden Unterrichtsgegenstände und durch Dispensiren vom 
Franzosischen für diejenigen Schuler, welche Hebräisch lernen, 
will er den Übeln begegnen, verfehlt jedoch Mehrfach die Sache 
und gelangt selten zu innerer und reiner Überzeugung von der 
Zweckmässigkeit und Ausführbarkeit der Vorschläge, Möge er 
die Geographie nicht zu sehr beschränken, da sie zu denjenigen 
Lehrgegenständen gehurt , welche Herz und Geist gleich stark 
bilden und ausser dem formellen Nutzen einen ebenso ausgedehn- 
ten materiellen verschaffen. An gymnastischen Übungen wünscht 
'er allgemeine Theilnabme zu erwecken, um den Korper zu star- 
ken, zu kräftigen und für die geistigen Anstrengungen geeignet 
zu machen. 

N. 5 spricht sich unbedingt gegen die Anklage Lorinsers aus, 
hält sie für durchaus ungegründet und führt dafür mancherlei 
Erfahrungen und Tbatsacben an, welche jedoch nicht allgemein 
gültig sind und dem ruhigen Beobachter zu erkennen geben , dafs 
manche nicht einmal wirklich vorhanden, sondern vom Verf. blos 
in Worten beigezogen sind. Will er sich auch auf a5 jährige 
Beobachtungen berufen, so will es doch dem Ref. scheinen« als 
habe jener auf die Sache selbst früher gar nicht gesehen, wo- 
durch der Verdacht der Unwahrscheinlichkeit sich aufdringt, der 
durch viele entweder übertriebene oder falsche Forderungen sehr 
bestärkt wird. Zudem benimmt der Verf. durch letztere seinen 
gegen jene Anklage beigebrachten Erfahrungen und Thatsachen 
oft alle Kraf t , ja hebt dieselben ganz auf und geräth mit seinen 
eigenen Darstellungen mehrfach in Widerspruch. Die Zeusnisse 
Anderer, z. B. Frorieps, durch eigene Erfahrung vermehrend 
behauptet er, dafs er am Stralsunder Gymnasium weder eine Ver- 
mehrung der Zahl von Kranken, noch eine Abnahme der Munter- 
keit und Frische der Knaben und Jünglinge bemerkt habe. Die. 
»er Beweis ist ortlich, enthält nichts Allgeroeines und wirkt ge- 
gen die Streitfrage um so weniger entscheidend , als der Verf. 
von einem norddeutschen Gymnasium, Lorinscr aber mehr von 
süddeutschen spricht« Zudem mag es örtlich der Fall seyn, dafs 
die Schwächung der physischen und geistigen Kraft der Jugend 
nicht so auffallend erscheint; dieses hebt die Allgemeinheit der 
Sache nicht auf. Und da es unwahrscheinlich ist, dafs der Verf. 
mit unbefangenen Augen gesehen habe, so hat sein Beweis keine 
volle Gültigkeit , ja ist derselbe nicht einmal auf die Sache selbst 
gerichtet. 

Durch die von Gotthold, Mütze 11 und Anderen, beson- 
ders aber von Heinsius angeführten Beispiele will er die zu 
grofse Ausdehnung der Lehrgegenstände und Lehrpläne, welche 
Lorinser tadelt, beseitigen und den Tadel des Letzteren als grund- 
los darthun. Ref. bezieht sich hinsichtlich dieser Beispiele auf 
die Bemerkungen, welche er bei Anzeige der Schriften genannter 
Schulmänner später machen wird , vorläufig in Betreff der Aus- 
serungen des Verfs. bemerkend, dafs die von jenen angeführten 
Beispiele, namentlich die von Heinsius, gerade gegen seine Be- 



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Pädagogik. 



hauptungen sprechen. Wie der Verf. die Meinung hegen bann , 
der intensive Umfang der Lehrgegenstnnde sey vor etwa 5o Jah- 
ren derselbe gewesen, wie jetzt, begreift Ref. nicht. Jener raufs 
von seinen Studienjahren entweder wenig mehr wissen, oder nichts 
davon wissen wollen. Möge er doch nur den Unterricht in den 
klassischen Sprachen berücksichtigen und selbst aus Ausgaben von 
Klassikern einen Beweis gegen sich führen. Wie wurde das 
mathematische Fach damals und wie wird es jetzt betrieben ? 
Sollte er gerade aus diesem • das er so sehr in Schutz nimmt, 
nicht viele Ueweise von Übertreibungen entnehmen können ? 
Welche Ausdehnung hat nicht z. B. das griechische Sprachstu- 
dium erhalten ; sollte der Vf. hiervon gar keine Ahnung haben ? 
Dann müfste er mit dem Encyklopädismus der Gymnasialstodiea 
wenig bekannt seyn. Dieser Umstand beweist offenbar, dafs er 
zwischen dem früheren und dem jetzigen Standpunkte der Gym- 
nasialstudien entweder keinen Vergleich angestellt hat, oder ihn 
anzustellen nicht geeignet ist. Es klingt sonderbar, wenn Schul- 
männer von diesem grofsen Umfange der Lehrgegenstände in ex- 
tensiver und intensiver Hinsicht die deutlichsten Beweise liefein 
und einer oder der andere auftritt, der das Gegcntheil darthun 
will. Wenn man jedoch selbst Schulmann ist, und die Forde- 
rungen kennt, welche man in fast allen deutschen Staaten an die 
Gymnasien macht, so kann man nicht begreifen, wie die Schul- 
männer sich so sehr widersprechen können , und namentlich scheint 
der Vf. zu den kurzsichtigeren zu gehören, und von einer eben 
so grofsen geistigen Kurzsichtigkeit befangen zu seyn, als er eine 
physische bei den Schülern wahrgenommen haben will. Er hätte 
den Standpunkt der jetzigen Gymnasialstudien mit dem vor 3o 
bis 5o Jahren zuerst verständig vergleichen und nicht grundlos 
in den Wind reden sollen. Jeder erfahrene Schulmann raufs ihm 
widersprechen, weswegen' seine Beweise alle Kraft verloren ha- 
ben. So sehr er gegen die Lorinserscbe Anklage eifert, so ge- 
steht er doch zu , dafs die Gymnasien an vielen Gebrechen lei- 
den, deren ihm vier als die wichtigsten erscheinen, die er darum 
zu beseitigen sucht; dahin rechnet er die in die Gymnasien her- 
eingezogene philosophische Propädeutik; den Mangel an regel- 
mäßigen Leibesübungen; die Überfüllung der unteren und mitt- 
leren Klassen mit Individuen , die nicht studiren wollen und ge- 
wifs in sogenannte Realschulen übergehen würden , um sich für 
irgend ein gewerbliches und technisches Fach auszubilden, wenn 
sie nicht noch ziemlich allgemein fehlten, und endlich eine zu 
strenge Beaufsichtigung des Privatfleifses und der Privatlectüre 
der Schüler. 

(Die Fortsetzung folgt im nächsten Hefte.) 

Reut e r. 



ORIENTALISCHE LITERATUR. 

Antwort auf die Aufforderung Herrn Weil'* im April- 
Hefte der Jalirbücher der Literatur 8. 388 *J 

Herr Weil »erklärt sich bereit, auf immer seine Feder 
»niederzulegen, wenn Jemand durch eine Citation aus dem Ka- 
ymus seine Behauptung, dafs im ganzen Karaus keine Spur des 
»Unterschieds zwischen Adab und Edeb zu finden sey , Luge 
»straft.« Hier folgt die Citation, welche Herrn Weils Behaup- 
tung Luge straft aus der grofsen Konstantinopolitaner- Ausgabe 
des Kamtifl in drei Folioba'nden , I. Bd. S. 72 : 



C^mä j (jjb <j\ oof *J JUü j^jaJO ^Oj^i 5<A^jAi 



^K)f ^ - jJ^OU ^y* 3 ^ ^ wX^VS 

W VjftM 3^ ^AX^C W>*^> 

\Q*jJ\ üuc j 3fof V^Xr JtscJf üÜa j^Uc ^oäaLIj 

jso£+o C>\S^j^ (j^yo 

* 

*) Der Grundsatz strenger Unpartheilichkeit macht es der Rcdaction 
d. Jhrbb. zur Pflicht, diese von einem ihrer früheren Mitarbeiter 
ihr zugegangene Bemerkung ebenso wie die Erwiederung des Dr. 
Weil in diese Blätter aufzunehmen, ohne damit auf irgend cino 
Weise in den Streit sich einmischen oder selbst ein Urtheil sich 
erlauben zu wollen. 

Die Hcdaction der Ihiddb Jahrbücher. 



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Orientalische Literatur. 



Aussprache: 



d-Edeb fethelein ile tarafei u ußhtluk ki natiU kawlen we ßlcn 
lutß muaamele We husni munawcU eile.mekden ibaretdur farside 
ferheng dcnür jukale bihi edebon ei sareje we hutn lena- 
wcle — we ulumi aarebije we eschaare Edeb itlak eilediler batst 
ieedib oldighi ilschun we mclek elon teaafseme men kämet 
bihi aamma j etchi nehu ibareti ilc taarff eilediler — we 
Edeb iki newidur biri Edebon-nefsi we birisi Edebod-ders i 
dar dedükleri taarifi meskurun ßkirei achiresine nasir olmisch olur 
we ßkirei ulasi ißiilahi urefade hifsi hududi scherije we suluki ta- 
rikaü meriije dar ki achlaki hasenei bathineden ibareldur torokol- 
hakki kulluha Ad ab we andel-fukeha sunnele mubni olan he- 



el-Edeb mit zwei Feth heifst Zartheit und verständiges Urtheil , 
wodurch man die Menschen so in Wort als That gutig behandelt 
und schon mit ihnen verkehrt, auf persisch Ferheng: man 
sagt, er besitzt Edeb, das heifst Zartheit und schonen 
Verkehr, Humanität, Erziehung. — Man bat die arabischen 
Wissenschaften und die Gedichte auch Edeb (Philologie) be- 
nennt, weil dieselben eine Ursache der Erziehung : ein Besitz, 
durch welchen der, dem er eigen, von Allem, was ihn 
schändet, rein. — Wenn man sagt: die Erziehung (Edeb) 
ist zweifach, die eine die Erziehung der Seele und die an- 
dere die Erziehung des Unterrichts, so bezieht sich dies 
auf die zweite Phrase der obgedachten Erklärung, die erste Phrase 
bezieht sich aber in der Terminologie der Sachkundigen auf die 
Bewahrung der gesetzlichen Grenzen und den Wandel des be- 
schaulichen Weges, worunter die schonen inneren sittlichen Ei- 
genschaften verstanden werden: die Wege der Wahrheit 
sind alle Sittsamheit (Adab), bei den Rechtsgelehrten werden 
darunter die Handlungen, welche sich auf die Sünna gründen, 
verstanden. 

Wenn diese an und für sich klare Stelle desKamus, welche 



ren, Methode unterscheidet, noch eines Commentars bedurfte, 
so findet sich derselbe in Hadschi Chalfas, durch Herrn Professor 
Flügel herausgegebenen bibliographischem Wörterbuche, wo die 



rekjal dehiekdur. 



Übersetzung: 





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Orientalische Literatur. 



KU 



nieren als ganz verschiedene Wissenschaften mit ihren verschie- 
denen Werken aufgeführt sind. — Herr Weil lege also auf 
immer seine Feder nieder! 

el - Edib. 



Erwiederung des Dr. Weil. 

So ungern auch Unterzeichneter sich in eine weitere Pole- 
mik über einen Artikel einläfst, der, wie der Erfolg zeigen wird, 
nur Nichtorientalisten zu verblenden bestimmt ist, will er doch, 
da sein Schweigen raifsdeutet werden konnte , gegen den Wunsch 
des votstehenden Einsenders die Feder aufnehmen, um den in 
seiner Citation verborgenen Kunstgriff aufzudecken. Der Ver- 
theid iger des Unterschieds zwischen Adab und Edeb, den Jeder- 
mann leicht errathen wird , fuhrt eine Stelle aus dem Kamus an, 
die Ref., der auch den gedruckten türkischen Kamus in 3 Folio- 
bänden besitzt , . schon als er seine Vorrede zu Saraachschan • 
goldnen Halsbändern schrieb, gelesen hatte. Nun werden alle 
Nichtorientalisten sagen: wenn diese Stelle wirklich So lautet 
and auch richtig ubersetzt ist, wie läfst sich die Identität von 
Adab und Edeb vert heidigen ? Aber der Kunstgriff, durch den 
der Unterzeichnete in den Augen der grofsen des Arabischen un- 
kundigen Menge um seinen Ruf gebracht und zur Niederlegung 
seiner Feder veranlafst werden sollte, besteht erstens darin, dafs 
der Besitzer des grofsen Konstantinopolitanischen Kamus nicht 

treu citirt, indem er nach JJj^> folgende entscheidende Worte 
ausgelassen : t \^>>> f *A&ÄJ-*3 &f ^JJ f^J** 

ty*Ü> ^ UftfeJ r4W ÜOft£ js> Uijlc jw> 

d. h. s <^>of begreift euch die Kennt- jO (J&Jbf T* - ** 3 *bf 

nifs alles dessen, was uns vor Sunden bewahrt (s. unten Freitags 
Artikel), sowie auch ein schönes äusseres sittliches Beneh- 
men«, und zweitens dafs er nach Willkuhr, weil es seiner fal- 
schen Behauptung anpafste, im Anfange Edeb und erst zuletzt 

Adab schrieb, während im Kamus das Wort immer Adab 

und am Schlüsse ofot adab (mit zwei langen a) zu lesen ilt. 
Man mufs nemlich wissen, dafs der Kamus, wie die meisten 
arabischen , persischen und türkischen Werke , keine Vocale 

hat. Das Wort Oüf kann also Adab, Idib und Udub gelesen 
werden; wo es aber auf eine bestimmte Leseart ankömmt, ist 
diese durch Worte angegeben. So beifst es im Anfange des 
Artikels : L^üf mit zwei Fatha ( die der Übersetzer nach turki- 




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Orientalische Literatur. 

scher Aussprache Feth nennt) d. h. mit zwei a , also Adab ; es 
werden dann die verschiedenen Bedeutungen des Wortes 
aufgezählt, darunter auch die guter Sitten, für welche dann als 

Beispiel angeführt wird v^fof l$X> UUsnJf \J} Jb , die Wege 

der Wahrheit sind alle Sittlichkeit. Aber selbst in der Über. 
Setzung ist von keiner andern Lesehestimmung mehr die Bede, 
und die Definition ÄaIAj &am*ä. vjt^la.f schöne innere sitt- 
liche Eigenschaften bezieht sich doch auch immer auf das 
erste i^JO», das der Beschützer des H. v. Hammer (?) Edeb 
schreibt. Wer noch nähere Beweise will, der schlage nur Me- 
ninski's Thesaurus S. 110 nach, er findet dort als Bedeutungen 
des Singul. »i^jof huraanitas, honestas, civilitas, elegaritia mo- 
rum et doctrinae, boni mores doctrina , 'scientia , modestia, vere- 
cundia et regula lex jus.« Bei Golius ed. Freytag heifst es: 

V_>jf (adabun) plur. ^fof (ädäbun) omnium rerum scientia qua 
a'vitiis omnis generis cavere possumus , vel omne id quod scitu 
homini opus est ad suo statui convenienter agendum ^xl£-/f ^Jo\ 
(adabusch schäiri) ea res quarum scientia poeta instruetus esse 

debet k^aSSX^J) (_£fc>f (ädäbul bahtbi) scientia quae nos condi- 

tiones^et leges docet , quas in rebus investigandis sequi debemus 

^j*3\jL/f (^£üf (adabul kadhi) Status judicis quo ad summam ju- 

stitiara omnibus exercendam impellitur, humanitas, eleganlia mo- 
rum et doctrinae, agilitas, gratia in aeeipiendo vef sumendo, lit- 
terae humaniores. « Aus der Citation des Kamus sowohl wie aus 
Meninskis und Freytags Wörterbüchern geht also klar hervor 

dafs dasselbe Wort (^*>f, man lese es Adab oder Edeb, sowohl 

Philologie als Sittlichkeit bedeutet. Bei Hadji Chalfa ist ebenfalls 
einmal adab und das anderemal adab im plur. zu lesen. Aber 
von einem Unterschiede zwischen Adab und Edeb ist nirgends 
eine Spur zu finden als in H. v. Hammers Vorrede zu seinen 
goldnen Halsbändern und in seinem gegen Unterzeichneten ge- 
richteten Aufsatze der Wiener Jahrbücher. 

Ref. kann daher nur seine frühere Bemerkung wiederholen , 
dafs er seine Feder auf immer niederzulegen bereit ist, wenn ir- 
gend ein anerkannter Orientalist ihn durch eine vollständige 
und treu wiedergegebene Citation aus dem Kamus Lüge 
straft, und beschwört jeden competenten Richter im Namen der 
heiligen Wahrheit und der auf diese Weise entweihten Wissen- 
schaft, bei einem so unredlich geführten Kampfe nicht länger zu 
schweigen. 

Dr. Weil. 



uigitiz&u uy 



N*. 53. HEIDELBERGER i837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte. Zugleich 
eine Kritik des Leben» Jesu von Straufs Für theologische und 
nicht theologische Leser dargestellt von Dr. A. Tholuck. (Motti: 
Tencamus, quod Semper, quod ubique, quod ab omnibus credit um est, 
Vincent. Lirin. To dvaa-Hava^tiv svrt rov v vxt 10 v.aua^irv pjtov. Arist.) 
Hamburg bei Perthes 1837. XVI u. 463 S. in 8. 

H orr Dr. Tholuck empfiehlt S. 38 in dieser, durch eine gewisse 
Art von homiletischer Kathederberedsamkeit , meist auf nicht- 
theologische Leser berechneten, Schrift den unevangeli- 
schen und antiprotestantischen Vorschlag: dafs »vor 
den (sogenannten) Laien jede theologische Hypothese so lange 
verborgen gehalten und deswegen so lange höchstens nur in la- 
teinischer Sprache behandelt werden sollte, als dieselbe unter 
den Theologen selbst nicht allgemeine Überzeugung 
geworden sey. « Hütte Jesus nicht in aramäischer und vulgär- 
griechischer Sprache in Palästina reden dürfen, sondern abwarten 
müssen , bis er in einem nichtpopulären Dialekt erst unter den 
Babbinen, als den Theologen seiner Zeit, eine allgemeine Über- 
zeugung bewirkt hätte, wann wurde das Urchristenthura eine 
Volksreligion geworden seyn ? 

Jede verkünstelte Orthodoxie (die althergebrachte sowohl als 
die neumodische, durch welche Herr Th. — statt des von ihm 
perhorrescirten » steifen Supernaturalismus « — laut der Beilage I. 
zu seinem Commentar über den Hebräerbrief S. 18 einen freie- 
ren, das ist, willkühl lieberen , durch einen nur den Geweiheten 
gegebenen Takt entdeckbaren, also desto mystischeren, Bi- 
bel- Auslegungsglauben zu ersetzen unternehmen will) ist 
gar nicht unklug, wenn sie vor nichts so sehr als davor sich 
furchtet, dafs uneingenommene Laien ihren an andern wis- 
senswerthen Gegenständen geübten Verstand endlich auf jene 
scholastisch mystische Verkünstelungen richten und sie, wie Spin- 
nengewebe, durchschauen mochten. 

In keinem andern Fach menschlicher Kenntnisse ist es Einem ein- 
zelnen Stande gelungen, alle andere als Laien zu bebandeln und sie 
zu bereden, dafs nur in ihm die Geistiggeweiheten seyen, die das über 
das Unsichtbare geoffenbarte und dennoch nichtoffenbare infallibel 
XXX. Jahrg. 9. Heft. 53 



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8*4 TholucW Glaubwürdigkeit d. CTftng. Geschichte, 

auszulegen und anzuwenden wüfsten. Daher in keinem andern 
Fach Normen des Denkens und symbolische Glaubensvorschriften. 
Aber endlich , wenn die Ausleger des Infalliblen allzu weit hinter 
dem Verstand der Zeitgenossen zurückbleiben , sind es dann doch 
eben diese denkenden Laien, welche zu Reformen voranschrei, 
ten und antreiben. So bei der evangel. Kirchenreformation, so 
bei der endlich mehr durch Nichttheologen als durch die Geist- 
lichkeit verwirklichten Kirchen-Ünion. Schon Luther baute, anders 
als der protestantische Doctor Theologiae zu Halle , seine Refor- 
mation meist auf den erwachten gesunden (nicht dialektisch und 
sophistisch verkrüppelten) Laienverstand. Wie kraftig deutete 
er seinem Churfursten schon i5ao hin auf » Germanorum lerocia 
iftgenia, quae, nisi capto, sint Scripturis et Rötione (!) non est vet 
muitU Papis uritare tutum ; praesertim hoc tempore, ubi in Ger- 
mania regnaht Hterae et linguae , et — - sapere ineipiunt laicu 
(Epa 239 im 1. Th. der de Wetteschen Sammlung S. 464.) 
Nichts klügeres dagegen oder wenigstens nichts schlaueres konnte 
auch von der neumodificirten Paläodoxie den Dogmengebietenden 
Gewalthabern oder dem Caesareopapatas vorgeschlagen und ein- 
geredet werden, als das Tholuckische Strategem S. 37 — 39, 
dafs den Laien alle Aufmerksamkeit auf Abänderung der Ver- 
künstelungen in der Theologie durch Wiedereinführung der la- 
teinischen (bekanntlich so geschmackvollen) theologischen Kunst- 
sprache so lange erschwert werden solle, bis — das an sich Un- 
mögliche! — eine allgemeine Überzeugung unter den 
Theologen selbst eingetreten seyn würde. 

Ganz richtig. Was würde aus der ganzen deutschen Kirchen- 
reformation geworden seyn , wenn der mächtige Kaiser Carl V. , 
nachdem er im Wormser Edier Luther für den in Monchsgestatt 
eingefleischten Teufel erklärt und somit auf ewige Zeiten hinan» 
die Fähigkeit nnd das Recht der äussern Gewalt, über gei- 
•tige Dinge äbzuurtheilen , glänzend gerechtfertigt hatte, wenig- 
stens einen solchen indirect wirkenden Rath erhalten nnd durch- 
gesetzt hätte , dafs statt der denkkräftigen durch ganz Deutsch- 
land fliegenden deutschen Schriften Luthers und seiner nur 
mittels der Volkssprache den Volksverstand überzeugenden Mit- 
arbeiter überall jene Neuerungen nur im alt beliebten Kir- 
chenlatein so lauge debattirt werden dürfen, bis Papst, Bischöfe 
Und Inquisitoren eine allgemeine theologische Überzeugung unter 
sien bewirkt und alsdann den Laien, sie anzunehmen, erlaubt 
haben würden. 




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gegen St rauft. 835 

Allerdings wurden die irrationalsten Dogmen unter den Ge- 
meinden ewig fortdauern und die als Ausleger des Infalliblen be- 
schützten Theologen als die Kirchen* unten (wie die Schlcier- 
macher'sche Encyklopädie §. 9. 25i. 329. sie dazu bestimmt er- 
klärte) auch die christliche Laienwelt immerfort gängeln und be- 
herrschen können , wenn nur zwei Mittel wieder geltend gemacht 
würden ; nämlich zuvorderst jene Entwürdigung der menschlichen 
Geisteskräfte , laut welcher der Menschenverstand nur alles andere, 
weltlich genannte Wilsbare, durchaus aber nicht »gottliche« 
Dinge, das heifst hier, die kunstreichen Ausdeutungen der theo- 
logischen Geheimaifskenner, zu beurtheilen vermögen; und dann 
zweitens , dafs ebendeswegen die Nichttheologen schon durch den 
Gebrauch einer gelehrten Sprache vom ürtheilen über all jene 
Subtilitäten des theologischen Alleinwissens abgehalten werden 
sollten. Alsdann wären auch in den evangelischen Kirchen die 
Laien wieder die blos zum Glauben angewiesene und bevormun- 
dete Heerde, welche erwarten müftte , was die theologischen 
Lateinschreiber, mit Genehmigung der die Symbole als Gesetze 
bewachenden Gewalthaber, ihnen als verfeinerten Super- 
naturalismus hinauszugeben je und je für gut fänden. 

Der Tholuckische fein eingeleitete Vorschlag erschien 
mir, da ohnehin ein Ca Innren und Niederhalten des Laien Verstan- 
des durch mancherlei indirecte Mittel zeitgemäß* erscheint, sehr 
bedenklich. Weil er die Gewalt der Stimmenmehrheit, welche 
über das durch die Mehrheit zu beschützende äussere Recht 
und Eigenthum gelten mufs, auch auf das Eigenthum der Gei- 
ster, auf die gemüthJichen , nur aus ungestörtem Nachdenken rich- 
tig erwachsenden Überzeugungen, ausdehnen würde, ist er so anti- 
protestantisch , dafs ich gegen denselben sogleich im Mai d. J. in 
Nro. 53. 54. des theolog. Literaturblatts der Allgem. Kirchenzei- 
tung meine protestantischen Gründe zu veröffentlichen für gut 
hielt , ohne zugleich mich auf den übrigen Inhalt der Tholucki- 
seben Schrift einzulassen. Aber auch dieser ist es, was mich noch 
zu einigen Beleuchtungen auffordert. 

Herr Dr. Tholuck hatte bekanntlich vorerst , in seinem leicht 
allzeit fertigen Anzeiger, einen der Straufsischen Mythik nicht 
ungünstigen, philosopbirenden Aufsatz i836. Nr. 20. aufgenom- 
men. Dies erregte Verwunderung. Sollte denn, riefen mauebe 
der Autoritätsglaubigen , sogar unser Schöpfer eines feineren, 
zeitgemäßeren Supernaturalismus doch jener kühnen Verwandlung 
der uns zur Infcllibilität so unentbehrliche« Wundei geschiebten in 



1 



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b&i Tholucks Glaubwürdigkeit d. cvang. Geschichte, 

Mythen, nachzugeben in aller Stille sich genothigt fühlen? Dadurch 
erhielt Hr. Th. Veranlassung, gleichsam wie genothigt sich auch 
auf diese Frage des Tags als Vorkämpfer einzulassen. Er gab 
öffentliche Vorlesungen darüber. Die Erwartung, dal s dadurch 
ein Meisterwerk gegen das den (gemeinen?) Rationalismus nieder- 
kämpfende und zugleich überbietende Extrem des Antisupernatu- 
ralismus vorbereitet werde, verbreitete sich; wahrend aus den 
Rüstkammern des » steifen« Supernaturalismus so manche andere 
Lanze dagegen fast ganz umsonst erhoben wurde. 

Zeigen sollte es sich dadurch, wie gegen die mythische Weg- 
nahme fast aller für historisch gehaltener Grundlagen , welphe 
dem patristischen und scholastischen alten und gleichsam gemei- 
nen Supernaturalismus so nöthig sind, sich nunmehr der insge- 
heim neuverfeinerte ^u verhalten wissen werde? Läfst die- 
ser doch von sich merken, dafs er, wie durch eine neue Inspi- 
ration oder eigenen Takt, -wissen und neuevangelisch entdecken 
könne , was der immer gleich sehr wirksame (aber lange das Be- 
ste zurückhaltende?) heilige Geist dem prophetischen Alterthum 
unbewufstes in den Sinn gelegt, erst aber wie etwas in einem 
ewigen, geheimen Gottesplan vorbereitetes endlich in dem Got- 
tesbewufstseyn besonders der Apostel Petrus und Paulus, bewufst 
und für das Urchristenthum anwendbar gemacht habe. 

Die hochgespannte Erwartung ist erfüllt. Das Werk liegt vor 
und zum Gluck nicht in theologisch lateinischer Geheimsprache, 
sondern mit vieler , die nichttheologischen Leser ansprechender 
Wohlredenheit und Gewandtheit, auch, wie es scheinen soll, mit 
einer eigentümlichen Fülle von Gelehrsamkeit. Fragen sich nuo 
aber die denkenden Nichttheologen nach dem Resultat und wagen 
sie, trotz dem immer aufs neue für die Geweiheten und Begna- 
digten allein vorbehaltenen Privilegium, auch über diese »geisti- 
gen« (vielmehr für die Geistlichkeit ausgesonderten) Dinge mit 
der sonst überall anwendbaren Rationalitat (vulgo: Denkkraft and 
Menschenverstand) zu urtheilen , so werden sie zuvörderst S. 39 
— 5i. 9a. 127. als Angriffs walle ein bitteres Verdäcbtigmacben des 
Charakters und der Gesinnung des Gegners, antreffen. Sogar die 
Conseqaenzmacherei erlaubt sich Dr. Tholuck, dafs zwar Straufs 
(S. 43) nicht bis zur letzten Consequenz vorgedrungen 
sey, diese ihm aber S. 47 dennoch, wie eine Sunde, die er be- 
gehen müfste, imputirt wird. Dies ist denn die immer noch 
auf die Mengeso leicht anwendbare captatio mafcvolentiae, welche 
Polemiker, denen es nur um das Besiegen des Gegners, nicht um 



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gegen Strauft. 



837 



das Ausscheiden des Wabren, als uro den Gewinn des Hampfes 
zu tbun ist, so gern in ihrer Schlachtordnung vorausschicken. 

Das (moralisch?) christliche Bewufstseyn aber in unserm Po- 
lemiker schreitet in dieser rhetorischen Kunst, Voreingenommene 
zumachen, zusehends weiter. Nicht genug , dafs er Den, dessen 
Gründe er prüfen sollte, S. 88 durch das gehässigste Paralleli- 
siren mit »weiland Voltaire« und S. 93 mit Julian »als 
Apostaten« zum voraus verwerilich zu machen sucht. Er, als 
Herzensrichter, bereitet sich dadurch nur vor, um sein eigenes 
Endurlheil seinen Lesern S. 114 wie das ihrige in folgenden 
daherschleichenden Worten zu unterschieben : » Es habe sich 
Uns (!) zugleich ergeben, dafs der Zweifel an dem histori- 
schen Beweis für Wunder, in der Ausdehnung, in welcher er 
sich in dem St r aufs is che n Werke findet, nicht einmal auf 
wissenschaftlichem Boden entsprungen seyn kann (!), sondern 
[man höre den inquisitorischen Mifsbraucb der nicht von Meinun- 
gen redenden Bibelstelle!] — nur aus der Quelle, aus wel- 
cher Christus Matth. i5, 19. alle »arge Gedanken« ab- 
1 eitet. « 

Allein dem bösen Willen also, aus welchem jene Schrift- 
steile Mord, Ehebruch, Gotteslästerung etc. ableitet, setzt dieser 
neuevangelische Kanzelrcdncr den gelehrten Skepticismus eines 
theologislrenden Philosophen gleich. Solche Gewissensrichterei 
verzeiht sich ein in seinen eigenen Schriften immer hin und her 
schwankender Schriftsteller gegen einen freien Mitbürger der ge- 
lehrten Welt, welcher überall nur seine Grunde mit unermude- 
ter, kenntnisreicher , nicht blos auf sophistisches beschwatzen 
der Leser berechneter Exposition darlegt, die Wahrheit der Ideen 
und Lehren des Urchristenthums respectirt und nur der verkehr- 
ten Methode , das an sich wahre von traditionellen Persönlichkei- 
ten und wundersamen Nebenumständen abhängig zu machen, mit 
Ernst entgegenarbeitet. 

Schon das erkünstelte Umschreiben und die Verkleisterung, 
womit die oben wörtlich angegebene gehässigste Beschuldigung 
umgeben ist, zeigt, wie sehr sich der Verf. bewufst war, dafs 
er etwas, das zu argwohnen er sich als christlicher Lehrer nicht 
erlauben sollte , den Lesern versteckt in den Sinn zu bringen 
versucht. Wozu aber, werden gevtifs alle achtsame Beuttheiler, 
als Laien und als Nichtlaien , dagegen sagen , wozu dieser in er- 
baulich schlängelnden Windungen daherschleichende Iromme An- 
griff auf Charakter , Herz und Gcmüth eines dissentirenden Kri- 



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838 Tbolnckt Glaubwürdigkeit d. evang. Geschichte, 



tihers, welcher sich äusserst selten aach nor einen satyrischen 

Wink gegen sopernaturalistische Übertreibangen erlaubt hat. Solche 
»Injurien« [denn unerweisliche Anschuldigungen arger Gedan- 
ken und die Behauptung, dafs vorliegende äussere Handlongen 
sich nur aus solchen argen Gedanken ableiten lassen, ge- 
hören sogar unter die gerichtlich strafbaren Injurien] 
mochten nur Dominikaner Prä'dicanten einst gegen Verketzerte 
fTir ein Vorrecht der Meinungs-Inquisitoren gehalten haben. Be- 
sonders unsere jetzige Zeit und ihr Hang zur Verdächtigungssucht 
mufste jedem nicht blos rechtgläubigen (alt- oder neumo- 
disch orthodoxen), sondern auch wahrhaft rechtsinnigen 
Schriftsteller diese Beargwohnungskunst doppelt verabscheuungs- 
wurdig machen. Und besonders der Verf., der so oft, als auf- 
geklärter, nicht mehr steifer Supernaturalist* mit Reminiscenzen 
aus Göthc*) spielt, hätte sich wenigstens an das längst bekannte 
Xenion erinnern sollen: 

»Dacht' ich's doch! Wissen die Herren nichts vernunf- 
tiges mehr zu erwidern, 
schieben sie einem das Ding schlau ins Gewissen 

hinein. 

Nicht zufrieden mit der Consequenzmacherei S. 42 — 47 , was 
alles zu behaupten Straufs noch fortschreiten müsse, gefallt sich 
Dr. Th. S. 59 darin, sogar wortreich zu erfinden, wie ein künf- 
tiger Mythiker die Geschichte des auf dem W T ege nach Damaskus 



•) Dagegen ist es desto lächerlicher und ein Beweis , wie wenig Herr 
Th. die nahe Zeitgeschichte kennt, wenn er S. 103 über Jünger 
aus der Weimarischen Schule, über genuine Weimera- 
ner zu witzeln sich anstrengt, als über solche, welche die Gränz- 
steine der Denkbarkeit überall da hingestellt hätten , wo 
ihnen der Verstand still in stehen angefangen habe! 
auch als solche, denen der Verstand bei allen Erscheinungen des 
Somnambul inmus bi sh er noch immer still gestanden sey ! — 
Was für eine mystische Phantasie hat Hrn. Th. eine Weimari- 
sche Schule dieser Art vorgespiegelt? Hier hätte er wenig- 
stens seiner eilenden Feder und lustigmacherischen Redseligkeit 
ein Stillstehen gebieten und seinen Verstand mehr zur Wahr- 
heitsliebe antreiben sollen. Aber freilich, Hrn. Tholucks Verstand 
überspringt so übermüthig alle Gränzsteinc auch der Wohlanstän- 
digkeit, dnfs er S. 328 sogar namentlich gegen seinen Colle- 
gen, Dr. Wcgscheider, Ton — argen G c sch m ac ks f c hlern 
schwatzt. Qui proHcit in literis, et deficit in moribui, plus etc. 
staud sonst wohl an den schwarzen Tafeln der Lchrsäle. 



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gegen Straqfi. 83<J 

erschütterten Sauius und des durch den gewaltsamen Tod des 
Begleiters Alexis erschütterten Luthers so recht busartig in 
einen Mythos verwandeln konnte. Er unterschiebt dem künftig 
möglichen Gegner, wie wenn derselbe diese beiden edelkräftigen 
Männer unbedenklich nicht blos arger Gedanken, sondern so- 
gar verdammlicher Thaten verdächtig machen wurde. 
»Wenn dort, lädt Th. den Mvthiker sagen, die Anklage des Ge- 
wissens über den Mord des Stephanus die subjective Veran- 
lassung der himmlischen Vision (Apg. 9, 3 — 9) war, wer weif«, 
weiches ahnungsschwangere Räthsel über dem Alexis 
ruht, von dessen Unfall auch selbst Melanchtbon so dunkel re- 
det, dafs wohl eine geheime Schuld daran zu haften scheint, 
die den schuldbeladenen Luther in die Mönchszelle trieb.« 
So Tholuck. Bekanntlich aber war der junge, noch pharisäisch 
überzeugte Sauius an dem Morde des Stephanus nicht schuld. 
Er freute sich nur dessen, weil er ihn damals für gerecht hielt. 
Noch weniger giebt es eine Spur, dafs der gewissenhaft ängstliche 
Luther an dem Alexis ein schuldbeladener geworden sej. 
Nur Dr. Th. ist — auf fremde Rechnung hin — so erfinderisch, 
solche arge Gedanken einem möglichen Gegner anzudich- 
ten. Ist es denn aber mit dem christlichen »Gottesbewufstseyn « 
des verfeinerten Supernatural ist en so leicht vereinbar, den Ketzern 
dergleichen arge Gedanken zu unterlegen? Hein Mythi- 
ker wird so leichtsinnig üngiren , dafs der junge Luther an jenem 
Freunde ein Schuldbeladener geworden sey? Nicht einmal 
Casp. Ulenberg (neu ubersetzt, Mainz i836) hat S. 4 so etwas 
zu ersinnen sich erlaubt. Und wie? Wenn man dem Gegner 
arge Gedanken dieser Art in den Sinn zu legen vermag, 
schöpft man dieselben wohl aus einem reinen, guten Herzen? 
Oder will etwa mitunter der verfeinerte Supernaturalismus einen 
Beweis von der doch auch in seinen beredtesten Apologeten fort- 
dauernden Erbsünde gegeben haben? 

* 

Endlich, nachdem der Vf. durch dergleichen Scharmützel 
(Ree. darf wohl einmal diese Metapher borgen, da Herrn Th.s 
Rhetorik zehnmal sein Polemisiren bald mit den altrömischen bald 
mit modernen Kriegskünsten in witzige Vergleichungen gestellt 
hat!) die Zuschauer lange genug — bis S. 1S6 — wie Laien 
behandelt und gleichsam als Tiraiileur nur harcelirt bat , unter- 
nimmt er, zur Hauptsache vorzurücken: »Erweis der (histori- 
schen) Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte 



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840 Tholncka Glaubwürdigkeit d. evang. Geschichte, 

■ 

aus dem Evangelium Lucae. « Und in der That. In dieser 
ganzen Ausführung schien dem Ree. manches so recht ordentlich 
begründet. 

Dahin rechnet er freilich nicht solche eigentümliche Ent- 
deckungen des Vfs, wie dafs nach S. i45 jenes Luk. 
1,4. von einem katechetischen Unterricht der ersten 
Christen zu deuten sey, worin ihnen eine kurze histori- 
sche Skizze (vom Leben Jesu) mitgetheilt worden sey; auch 
nicht dafs . nach S. 1Ö0 er das Kunstwort Kataster und kata. 
striren (mit welchem Hr. Th. wie ein Kundiger um sich wirft, 
ungeachtet es da, wo es sich nicht von Guterausmessung und 
Gewerbsabschätzung handelt, nicht einmal anwendbar ist) aus 
*capitasttum* abzuleiten wisse; noch weniger aber, dafs nach 
8. 182 Luk. 2, 2. die Worte: arrij jj aTroypuepij npärq tyevtxo 
iiytpovivopxo$ ttiq £rpta$ Rvpnuov ubersetzt werden können: 
r Diese Schätzung geschah bevor Qu. Prätor in S. war.« 
TTproTj; 77/Efiovf i'oj'io, kann nie seyn = »po tov fyepovtveiv. 
Eine schon bei Griesbach angeführte Conjectur: %ytv$xo wp6 xov 
iiytpovivovToq wäre wenigstens spracht ichtiger. Selbst wenn 
-juwTepa statt n?arr t stünde, wurde zu ubersetzen seyn: Diese 
frühere Aufzeichnung geschah, als Qu. Prätor über S. war. 
Ebensowenig wäre philologisch möglich, wie S. 1 85 will , zu 
übersetzen: Diese Schätzung trat zuerst oder erst unter 
Qu. ein. 

Abgerechnet aber derlei Eigentümlichkeiten der ThoJucki- 
schen Sprachkenntnisse, war es mir in den bedeutenderen Nach- 
weisungen dieses Hauptabschnitts gar zu oft so , wie wenn ich 
meine eigene Gedanken etwas durchwässert zu lesen bekäme. 
Ich lasse es gerne darauf ankommen, ob Herr Straufs, wenn 
er in seinen Streitschriften auch auf die Tholuckische Polemik 
kommt, nicht kurzweg zu bemerken haben wird : Was mir Hr.. 
Tholuck über den Anfang des Evangeliums Lukä S. 145, über 
den Schlufs vom Ende der Apostelgeschichte auf die Entstehungs- 
zeit dieses Evangeliums S. 140 über die Censusgeschäfte des Au- 
gustus S. 192, über Ly.anias S. 109 u. dgl. zur Rechtfertigung 
des dritten Evangeliums vorhält, das hatte ich lange schon aus 
Dr. Paulus Exegetischem Handbuch über die drei ersten 
Evangelien in Überlegung genommen ; nur mit dem Unterschied , 
dafs ich dieses Werk, welches sogleich im Anfang S. 1 — 28 wie 
ahnungsweise, schon i83o gegen die Umdeutung der evang. Ge- 
schichte in Mithcn, bes. aus Lukas, argumentirt hat, gewohnlich 



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gegen Siran*. 841 



citire, wahrend Herr Tholacb darauf irgendwo, wemS er ihm 
beistimmt, nach der dankbaren Sitte anderer Gelehrten zu ver- 
weisen, wahrscheinlich aus Pastoralklugheit unterla'fst. Der gute 
Hirte verzeiht sich nämlich diese Unterlassungssünde wahrschein- 
lich deswegen, weil es eine noch gefährlichere Sünde wäre, wenn 
er durch anerkennende Citatiooen selbst etwa seine Glaubigen 
auf die dort durchgeführte rationalistisch-exegetische 
Metbode, sich nach der alleingültigen - historischen Interpreta- 
tion, soviel es philologisch und psychologisch möglich ist, in die 
biblischo Alterthümlichkeit zurückzuversetzen, zum Schaden des 
zu modernisirenden Supernaturalismus aufmerksam machte. S. i55 
werden sogar die Glaubigen versichert, dafs überhaupt die neuern 
rationalistischen Kritiker die historischen Verhältnisse 
der ersten christlichen Zeit so ganz aus den Augen 
rücken. Herr Tb. nennt dies unverzeihlich, während doch 
nur Rationalisten den Supernaturalismus genöthigt haben, die bei 
allen Autoren nothwendige historische und zeitgemäfse 
Auslegung auch bei den biblischen Überlieferungen allmählig 
zuzulassen und während er selbst solche rationalistische Vorarbei- 
ten ausbeutet, sich aber es gerne verzeiht, sie den Seinigen 
möglichst aus den Augen zu rucken. 

Schade nur, dafs auch dieses Stratagem, das von dort- 
her anwendbare lieber unvermerkt auf eigene Rechnung zu neh- 
men, übrigens aber die Unschuld und Credulita't der Leser und 
Zuhörer durch ein heilsames Ignoriren der Fundgrube ungefähr- 
det zu bewahren und überhaupt was von einem Rationalen kommt, 
nie, als wo es bespöttelt*) werden zu können scheint, nament- 



*) Etliche Proben von dieser Thol uckischen Widerlegungskunst müs- 
sen wir wenigstens in einer Note zur Unterhaltung vorlegen. Er 
meint sur Warnung ror Rationalismus (S. 80) nichts schlagenderes 
sagen zu können , als dafs man sich nicht in das Gebiet der — Pau- 
lus'schcn Exegese zurückführen lassen aolle, wo der „Scheintod 
und die Blitze ihre reichlichen Con tri bu ti onen lief rn müls- 
ten und mau bei dem allem doch nicht über das Wunder-' 
bare hinauskomme. Denn welch wunderbares Ereignifs, 
fragt er, dftfs gerade jedesmal dann Schcintodte auf der 
Bahre liegen, sobald Jesus sich herannaht und (S. 107) gerade 
beabsichtigt, einen Todten aufzuwecken.* 4 — Da der Erfindungs- 
reiche denselben Gedanken S. 374 zum drittenmal wieder bringt, 
übersprudelt er gar von Witz: „Was sollte hindern, zuzugeben, 
dnfs jene gute Mutter Vorsehung gerade um die Zeit Jesu die 
Gewitter und den Scheintod in Palästina mit so besonderer 



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642 Tholockt Glaubwürdigkeit d. evang. Geschichte , 

lieh anzuführen , gerade für den Hauptzweck der Tholuckiachen 
Schrift bei aller zum Borgen und rhetorischen Ausachmücken an- 
gewandten Muhe im Resultat wenig wirken kann. 



Fruchtbarkeit segnete, da r« Jene (ungeachtet es nach 8.80 be* 
kanutlicb ia Palästina im Sommer nie gewittert) in jedem be- 
deutenden Momente de« Leben« Jesu ein Detaschement ihrer 
Blitze lieferten, und Dieser «ich mit seinen Starrkrämpfen 
einstellte, so oft der Menschenfreund eine Todtenerweckung 
angekündigt hatte. M — Hat der Redselige dieses mit der gehö- 
hörigen Mimik so vom Katheder herab declaroirt, wie frohlockend 
mag danu der demüthig ergebenste Theil der Auditoren den schnell 
verfliegenden Redeblilzcn applnudirt haben. Aber dafs er solches 
Gerede drucken liefs, ist mehr al« unklug. Hielt er denn selbst die 
lesenden Laien für so glaub süchtig, dafs sie sich nicht besinnen 
würden: wie oft denn Jesus Todtgcglaubte erweckte? (Die histo- 
rische Antwort ist: zweimall) Ferner: wie oft er denn Todten- 
erwecknngen vorher angekündigt habe? (Die Antwort ist: nie- 
mals! Bei Luk. 7, 19. tröstet er die Mutier. Aber ein: Weine 
nicht! sagte doch nicht: Ich erwecke dir deinen Sohn! Und zum 
Jüngling redete er doch nach Vs 14 erst, nachdem er ihn im Sarge 
betrachtet und gesehen hatte, dsfr er Ihn anreden könne. Einen 
wirklich Todten anzureden, aufzufordern , wäre widersinnig. Erat, 
seit Jesus sah, da r s der Jüngling sich aufzuraffen vermöge, konnte 
er ihm zurufen, dafs er es tbun solle.— Bei Lazarus aber kündigte 
Jesus so gewifs nicht an, dafs er ihn sofort erwecken könne , dafs er 
vielmehr nach Joh. 11, 35. 38. seinetwegen wiederholt und heftig 
weint, alsdann aber, da er erst in die geöffnete Gruft hineinsehen 
konnte, nicht sieh, auch nicht dem Logos, sondern Gott dem 
Vater das Wiederleben des Freundes und zwar als eine G e be tsv- 
er hörung nach Vs «1 verdankt. Wer nun aber, seit wir endlich 
soviel an die Notwendigkeit der Leichenbewahrangshäuser und die 
unsichern Kennzeichen des Todes auch bei Spätbegrabenen — durch 
den leidigen Rationalismus! — schauerlich erinnert worden sind, 
gar noch weiter zu denken denkglaubig genug ist, der wird viel- 
leicht mit Schrecken begreifen, dafs in einem Lande, wo der Aber- 
glaube so schnell wie möglich den alles unreinmachenden Leib weg- 
schaffte, die Wiederbelebungen viel häufiger gewesen seyn mühten, 
wenn nicht die meisten durch die Ucgräbnirsart erstickt worden wä- 
ren, weil sie in Gräbern ohne Sarg verscharrt, in den Grüften aber 
oft sogleich in die engen Felslöcher auf den Seiten gesteckt wur- 
den. Diese Localumstände überspringt freilich der W undergierige, 
und barst dio historisch rationale Interpretation, welchre darauf 
hinweist. — 

Nebenher ist statt dessen die Meteorologie des Vielgelebrten zu 
bewundern, welcher so sicher weifs, dafs es in Palästina im Som- 
mer niemals Gewitter gebo. Hat er irgendwoher zusammen- 
hängende Wetterbeobachtungen über Palästina? Zur Paschazeit 



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gegen Strub. 84» 

Mit diesen fremden Federn einhertretend , mit wiederholtem 
Ausruf: dafs Er die Beden klicbkeiten befriedigend lösen zu Irin- 
nen glaube (S. 180), dafs er am Ziel seiner Hauptunter. 



meinte doch das umstehende Volk Joh. 12, 29. ßpnmjv ytyovavai. 
Im April toaitrua audiuntur. Im Mai tonitrua sunt frcqucntissiraa. 
a. Walch Calendar. Palaest. 1785. §. XXV. XXX. Die« anauneh- 
raen war also bei Matth. 28, 2. 3. nicht ausser der Zeit. Dafs meine 
rationale Exegese irgend ein Gewitter im Sommer bedurft hätte, 
weirs ich mich nicht an erinnern. 

S. 107 witzelt der Verf. in seiner würdigen Vulgärsprache dar- 
über, dafs „das Erwachen Jesu zum rechten tempo eingetre- 
ten sej", weil die Frauen sich bereits zum Einbalsarairen näher- 
ten, wo dann Gehirn und Eingeweide herausgenommen zu werden 
pflegten. Ich will nicht fragen : ob Th. wirklich glaube, der Leichnam 
würde alsdann doch ohne Eingeweide noch lebendig geworden seynf 
Auch der Wunderglaube möchte doch immer noch gerne der Na- 
turmöglichkeit nahe bleiben. — Th. fragt mich: „Wie mag es dann 
nur dem armen Lazarus bekommen seyn, als er bald nach sei- 
ner Auferwcckung ohne Eingeweide sich Joh. 12, 2. zu Tischo 
gesetzt hat?" Der Ingeniöse! Hätte er nicht sich selbst fragen 
sollen: weifs ich denn nicht, daTs Lazarus auch nicht einbalsamirt 
worden war. Habe ich dort meinen Wunderglauben nicht selbst 
anf das Wort der Martha gebaut, dafs die Leiche schon stinke, 
also nicht einbalsamirt war. MufsV ich nicht daraus wenigstens 
soviel merken, dafs mein Witz gegen den Rationalisten auf mich 
selbst und mein Nichterwägen des Textes zurückfällt? - Andere 
Witzeleien, dafs er mir, dein nach Menschenkenntnis gerne Prü- 
fenden, S. 391 „eine inquisitorische Gemüthaart' 1 andichtet 
[er dachte wohl an das, was der Engländer inquisitif nennt und was, 
wer nicht leichtsinnig glauben will , immer seyn soll], dafs er, der 
grofte Orientalist, S. 428 „die Heidelberger Denkglaubig- 
keit w mit dem Widersprechcr Muhammcds Abudschahal pa- 
rallel stellt und diesen Namen zugleich Dummkopf übersetzt; 
dafs er überhaupt den Rationalisten immerhin wie ein neckender 
bouffon herbeizerrt , . . . dies alles mag zu seinen ansiehenden linthe- 
derspATscn gehören. Was er S. 374 durch „denkglaubige Astro- 
logie u und S. 402 durch „Heidelberger Pontificat" gesagt 
haben wolle, mag er wohl selbst nicht wissen. S. 105 setzt eine 
Stärke des Geistes darein, ohne Krittelei und Erklärungssucht 
Wunder zu glauben. Ich beneide niemand um diese Geistes- 
stärke, fühle mich aber doch Stork genug, um auch nicht wund er- 
sehen zu seyn, soweit ich ein Factum finden kann. Abe> das 
nnerklärtc Factum ist dann noch lange nicht ein theologisches Wun- 
der, ein um der Infalliblcn Offenbarung willen durch die ultima 
causa geschehenes. Wenn ich also , weil Dämonische wirklich 
gegen ihren und aller Volksgenossen Wahn gerettet wurden, als- 
dann deswegen auch glauben soll, dafs Dämonen existiren, die in 



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844 Tholucka Glaubwürdigkeit d evanp. Geschichte, 



suchung sey (S. 184)1 dafs er am Schlüsse seiner Unter- 
suchung angelangt scy (S. 197), sich alles bei Andern Tor- 
gefundene durch blofse Rhetorkunste aneignend, vergifst die- 
ser polemische Apologete, dem Verstand zum Trotz, ganz 
den Standpunkt, welchen er zu vertheidigen hätte. 

Als Verkundiger seines verfeinerten Supernaturalismus will 
Hr. Th. den Straufsischen Versuch, das, Wunderbare in den Evan- 
geliea von Jesus daraus erklären , dafs es im Enthusiasmus der 
Glaubigen entstanden, den Ekstasirten nachgeglaubt und als glaub- 
würdig auch von den Evangelisten geschichtlich zurückgetragen 
worden sey , dadurch kritisiren und widerlegen, dafs er durch 
die Redseligkeit seines ganzen Buchs erwiesen haben will, die 
Evangelisten hätten keinen Verstofs gegen die anderswoher be- 
bannte Historie und Chronologie begangen. Mit Umgehung der 
Inspirationslehre (S. 439) sucht er vielmehr Rechtfertigungsgrunde 
dafür, dafs sie, was sie als geschehen gehört und geglaubt, ebenso 
wie andere glaubwürdige Geschichtscbreiber uberliefert hätten , 
nämlich so, wie sie es, zum Theil nicht miteinander bormonirend 



Menschen und in Säue fahren dürfen, so bin ich lieber wio 
Abudschahal gegen dai dem Moli am cd angedichtete , und traue 
cb selbst Herrn Tholock zu, dafs er hierin lieber dein Araber, als 
Grcgorius dein Grofscn ähnlich seyn mochte. Nur sehe seinerseits 
der verfeinerte Supernaturaliunus wohl zu, wie er, wenn er einmal 
nn dem Besessenseyn von dämonischen Legionen doch 
Htrauehelt, im übrigen die Geislcss tärke des Wunderglau- 
bens consequent behaupten werde. 

Für das mehr als rühmliche Stichwort S. 11, dafs der Rationa- 
lismus sich in Dr. Paulos zu Heidelberg vollendet habe, kann 
ich nicht danken, weil es unwahr wäre. Oer Rationalismus voll- 
endet sich nie, so lange immer aufs neue rationale Menschen ge- 
boren werden, welche auf der Rationalität der früheren Bessern 
stehend, weher in das, was war und ist, hineinsehen. Aber eben 
deswegen endet er auch nicht; und Hr. Th. v ird sein Progno- 
sticon nicht erleben, dafs der Rationalismus mit mir begraben 
werde. Dieser Jünger ists , der nicht stirbt! Oder sagt deun nicht 
auch dem Hrn. Th. die ganze sogenannte Profangesc hichte, ja sogar 
auch die Kirchengcschichte , dafs die Tendenz des Mcnschon- 
gCMchlechts immer dahin geht, vom Irrationalen weg allge- 
meiner rational zu werden. Selbst der verfeinerte Super- 
naturalismus würde nicht versucht, wenn er nicht gegeu den star- 
ren Orthodoxismuti' 4 und gegen „den gemeinen [und bereits allzu 
gemtineaf ] Rationalismus noch rationaler zu seyu, die Glaubi- 
gen zu bereden hoffte. 



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Regen Straofs. 845 

(S. 429 — 463) aüfgefafst und nach Reminiscenzcn in ihrer eige-^ 
nen Einkleidung (S. 3 17 — 347) zu g eDen vermocht hätten. 

Was aber beweist alsdann das ganze Buch des Verls.? was 
nutzt diese ganze verschwendete Prunkgelehrsamkeit gegen Straufs? 
Nur ein Nebengedanke ists, dafs Str. vermeintliche Verstofse ge- 
gen die Zeitgeschichte bei Lukas als Zeichen einer spätem Ent-, 
stehung der Apostelgeschichte und des dritten Evangelium her- 
vorhebt. Er kann gegen all die selbstgefällige Tholuckische Ab- 
wendung jener Schwierigkeiten ohne weiteres zugeben , die 'Evan- 
gelien seyen mit der sonsther constatirten Zeitgeschichte in keiner 
Collision ! Was folgt anders auf seinem Standpunkte daraus , als 
dies, dafs die Evangelisten auch als Mythograpben , indem sie, 
was die Glaubigen als wunderbar geschehen glaubten, nieder- 
schrieben, gegen die übrige Zeitgeschichte Fehler zu begehen 
vermieden und dafs sie sich also durch ihre Akribie vor mehre- 
ren , deswegen apokryphischen Evangelien auszeichnen. Folgt 
denn aber, wenn die Tholuckische Schrift von S. i36 — 396 die 
beredteste Wiederholung der von Andern solid vertheidigten Har- 
monie der 4 Evangelien mit der übrigen Geschichte wäre , dar- 
aus ein Beweis gegen Straufs, dafs dasjenige, was die Christen- 
gcmcinden als wunderbare Theile des Messiaslebens glaubten, 
nicht erst später glaublich gewordene Mythen? nicht in der Be- 
geisterung ihrer prophetischen Gemeinderedner (Ephes. 4, 11.) 
aus höherstrebender Bewunderung und aus jüdischen Vorbildern 
entstandene Erzählungen dessen, was der Messias gethan und ge- 
redet haben könne und müsse, gewesen seyen? 

Für uns folgt vielmehr aus dem vorliegenden nur dies, dafs 
Th. zu seiner Rettung des Wunderbaren in der evangeli- 
schen Geschichterzählung sich einen Pran gemacht hat, der, 
wenn er auch auf das befriedigendste und selbstständigste ausge- 
führt wäre, das Wesentliche dessen, was zu widerle- 
gen er sich in eine schimmernde Rüstung gesteckt hat, 
gar nicht trifft und nicht treffen konnte. 

Soweit als die Th. Schrift führt , gehen der historisch ideale 
Rationalismus und der Supernaturalismus immer noch miteinan- 
der. Deswegen konnte auch der Herabwürdiger des starren, 
aber bisher allein orthodoxen Supernaturalismus soviel aus den 
gelehrten und protestantisch freisinnigen Beweisführungen des 
Rationalismus borgen. Aber für sich und seinen eigentümlichen 
Standpunkt hat auch der verfeinerte Supernaturalist dadurch nichts 
zu gewinnen. 



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846 Tbolucka Glaubwürdigkeit d. evang. Geschichte, 

Wenn ans acht rationalen Gründen gezeigt ist, dafs die Evan- 
gelien eben so weit historisch glaubwürdig, wie irgend an» 
dere glaubwürdige Historiker, das was sie nach ihrem Cr- 
kenntnifs kreise als geschehen glaubten, ohne Verstofe 
mit der übrigen Historie überlieferten, so beginnen als- 
dann erst die Scheidewege! Denn non erheben sich die Fra- 
gen: Wie kommt's, dafs sie die wunderbaren Ausnahmen von 
den gewöhnlichen Naturwirkungen, nebst den Reden von Über- 
natürlichkeitder Person dei Messias, glauben konnten ? Kommt 
all diese Wunderbarkeit aus vorgefafsten Meinungen der Zeit 
und vornehmlich der ersten Beobachter und Erzähler? oder 
erst, wie ein opus posthumum, aus einem Zurücktragen der gern 
mythisirenden glaubigen Bewunderung und erbaulichen Selbst- 
tröstung der Hinterbliebenen? oder aber wirklich nur daraus, 
dafs das geglaubte Wunderbare ein wahres Wunder, eine Wir- 
kung des lnfelliblen zum Beweis seiner infalliblen Mittheilungen 
gewesen ist? Das letztere bedarf, nicht die christliche Religion 
(S. 4^ 3 )i aber der dogmatische Supernaturafismus ? 

Auch der versprochene nicht starre, sondern zeitgemaTs ver- 
feinerte Supernaturaltsmus will doch infallible Offenbarungen 
von Gebei mnifslehren über das Wesen der Gottheit, über 
die, sonst unerforschlichen, positiven Bedingungen der Rechtfer- 
tigung und des Seligwerdens, über das erbsündliche Verderbnils 
der menschlichen Natur u.dgl. den Glaubigen, sey es symbolisch- 
kirchlich oder speculativ, gewifs raachen und auslegen kennen. 
Dies sind die ihm charakteristisch eigentümlichen Bestandtheile. 
Der Streit ist nicht, ob sie ihm durch Naturkrafte oder, was 
man nie w aasen konnte , ohne Zwischenmittel bekannt worden 
Seyen. Die zwei Hauptpunkte sind, dafs er Geheimnisse und 
dafs er diese auf infallible Weise wisse und lehre. Dafür 
bedarf er nicht blos der Beweise, dafs die Evangelien nicht 
historische und chronologische Fehler enthalten, dafa 
ihre Urheber so gut, wie andere historische Überlieferer, auf 
ihrem hisorischen Boden standen und nur das, was sie 
als geschehen -und als Lehre erfuhren , aufsammelten. Bis dahin 
geht gerade der Rationalismus auch , und er ist , wenn ich für 
»ich zunächst nur auf mein exegetisches Handbuch verweisen 
darf, dem aus ihm borgenden Verfasser durch Untersuchungen, 
wie sie die, welche immer nur mit dem Glauben anzufangen ra. 
then, selten unternehmen, unläugbar vorangegangen. Alsdann 
aber beginnen erst die Unterscheidungsfragen. 



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gegen StrauU. 



84? 



Wenn auch der verfeinerte Supernaturalismus doch super* 
natural bleiben will, also solche unentbehrliche 11 eligions Wahrhei- 
ten über das Verhältnifs zwischen Gott und Meuschen zu wissen 
behauptet, welche nur Gott selbst hatte kund machen können, 
so genügt durchaus nicht die blos historische Glaubwürdig, 
keit der evangelischen Überlieferer; für das Übernatürliche müßte 
ihnen eine übernatürliche (hyperphysische) Glaub Wür- 
digkeit vindicirt worden seyn. Deswegen ist der ganze Plan 
der Tholuckischen Schrift nichts als ein Fehlgang, der, im 
.besten Fall, nicht zu einem Supernaturalismus oder zu einer 
infalliblen Offenbarung von Geheimnifslehren der 
Religion führen kann. Wenn Hr. Hj. nicht redselig und blos 
stückweise, sondern überweisend und nach allen Theilen die hi- 
storische Glaubwürdigkeit und besonders die Zeitnähe der 
Tier Evangelisten neu dargestellt hätte, so -würde dadurch das 
Vertrauen, dafs sie selbst das, was sie als wunderbar geschehen 
oder als infallibel gelehrt angeben, als etwas durch den in* 
falliblen Willen Gottes (sey es ohne Naturmittel oder durch 
unbekanntes Zusammenwirken körperlicher und geistiger Kräfte 
des Natarganzen) entstandenes redlich und zettgemäfs glaub- 
ten , von Einwendungen befreit worden seyn. Soweit ist alles 
dies nach dem für das Gewöhnlich - geschichtliche hinreichenden 
Maasstab (S. 142) vom historischen Wahrheitgeben w ollen 
und kon nen auszumessen. Aber wenn sie überliefern, was 
sie als Wirkungen der höchsten Ursache und zwar als zum 
Beweis infallibler Religionsgeheimnisse geschehene Wirkungen, 
d. h. als Wunder, sich erklären zu müssen glaubten, ist denn 
alsdann das, was für sie anders nicht erklärbar war, wirklich 
unerklärbar? Und wäre sogar alles, was sie, als von ihnen ge- 
glaubt, erzählen , immerfort auch für uns nach Ursache und 
Absicht unerklärbar, würde dann aus der historischen Glaub- 
würdigkeit der Erzähler auch die metaphysische und hy- 
perphysische Glaubwürdigkeit des Inhalts zu folgern 
seyn? Ist denn, was sie weit über die historisch e Glaubwür- 
digkeit hinaus hyperphysisch über die Entstehungsursache und 
Absicht des historisch überlieferten glaubten (d. i. aus Vertrauen 
annahmen), ebenso von uns aus Vertrauen zu ihrem, nicht mehr 
historischen, sondern transcendenten Glaubensur th eil immer- 
bin zu glauben? 

Mit einem Wort : Auch der sich in diesem Verfasser zum 
voraus als verfeinert rühmende Supernaturalismus bleibt in der 



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848 Tholucks Glaubwürdig*, d. evang Gesch., gegen Straub. 

alten enormen Begriffsverwechslung befangen , durch eine Be- 
weisführung für den wahrheitliebenden Willen jener Schrift- 
steller und für ihre Empfänglichkeit im Auffassen der Erfah- 
rung, auch die Richtigkeit ihres Wissens, Urtheilens 
und Lehrglaubens bewiesen zu haben. 

So berufen sich gegenwärtig die mancherlei im Absoluten 
und Übernatürlichen wohnenden , entweder durch Gefühl oder 
durch geistige Anschauung der Speculation Gott erkennenden Re- 
formatoren der Orthodoxie auf ihr philosophisch oder christlich, 
absolutes Bewufstseyn; sie fragen sich aber nicht, woher 
und wodurch sie erst ihr an sich leeres Bewufstseyn mit solchen 
Übernatürlichkeiten vollgefüllt haben. Die absolute Wahrheit 
auch über die religiösen Verbältnisse des Menschen zur Gottheit 
ist freilich in Gott, weil nur der vollkommene Geist als Gott 
zu denken ist. Aber der unvollkommene Geist jedes Menschen 
kann denn doch, ohne die Abläugnung seiner Nicht Vollkommen- 
heit und also ohne offenbare Selbsttäuschung, sich nicht bereden, 
dafs er von der absoluten und vollen Wahrheit mehr 
fasse , als seine Kräfte , nach ihrer Qualität und Quantität , zu 
fassen und zu verarbeiten vermögen. Das Wissen des Menschen- 
geistes von Gott ist somit gewifs nicht das Wissen Gottes von 
sich selbst im Menschen. Nicht Deus Deum Dco , id est, semet 
sibi manifestat. Vielmehr denkt sich der unvollkommene Geist 
von dem vollkommenen soviel als er nach dem Grad seiner Voll- 
kommenheit zu erreichen vermag; und so hat jeder alsdann dieses 
ihm denkbar gewordene in seinem sonst davon nicht erfüllten 
Bewufstseyn. Woher denn sonst die so grofse Verschiedenheit 
des Inhalts ? sieht denn wohl die absolute Wahrheit sich selbst 
in Jedem nur von Einer, nichtabsoluten Seite, als nichtvoll- 
kommen ? 

(Der Rcschlufs folgt.) 



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N°.54. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Tholuck* Glaubioürdigkcit der evangelischen Geschichte, 
gegen Struuf*. 

(Be$ehlu/$.) 

Der die Erscheinungen der geistigen and körperlichen Natur 
nach der innerhalb derselben selbst erkennbaren Regelmäßig* 
keit genau prüfende Rationalismus kann alles in der Geschichte 
Jesu als geschehen beglaubigte Wunderbare nach der histo- 
rischen Glaubwürdigkeit anerkennen, weil er die Thatsachen 
yon den darüber theils sogleich, theils wohl auch späterhin ent- 
standenen Bewunderungsur t heilen unterscheidet und dort, wie 
verständiger Weise bei allen Erfolgen in der Welt, immer unter- 
scheiden mufs. Dem historisch kritischen Rationalismus sind sogar 
dergleichen bewunderte Erfolge als solche historisch gewifs, weil 
der übrigens so unscheinbar und so kurz hervorgetretene Eroffner 
eines auf gottlichgewollte Rechtschaffenheit zu gründenden Got- 
tesreichs (Matth. 6, 33.) gewifs die Volksmenge von Zuhörern 
für seine gottliche, aber nicht erwünschte Moral nicht hätte zu- 
sammenbringen können, wenn nicht unerklärt bewunderte, be- 
sonders über Dämonen und Satane ihn erhebende Gesundmachun- 
gen (Mt. 5, 23 — 25.) und andere verwandte »Paradoxa« (Luk. 
5, 26.) erst die Zuhörer für sein kraftvolles Lehren (Matth. 7, 
28. 29) herbeigezogen hätten. Aber für irgend einen dogma- 
tischen Supernaturalismus kann dieses nicht genügen, und mehr 
hat auch Jesus selbst als Zweck seiner Wunder nicht angegeben. 
Dem , der Infallibilitätsbeweise darin finden mochte und müßte, 
kann es nicht genügen, dafs Jesus auf seine Heilungsthätigkeit nur 
als auf einen Beweis dafür hinweist, dafs er zu Beschleuni- 
gung des Messiasreichs, welche der im Gefängnifs harrende 
Johannes sehnlich erwarten mufste (Matth. 1 1 , 3.) , alles mögliche 
(nach Ys. 5. 6.) thue. Für jeden 8upernaturalismus, welcher in- 
fallible Religionsgeheimnisse dogmatisch alleinrechthabend 
auszulegen haben will, kann es nicht genügen, dafs Jesus die yon 
ihm gewünschte, aber (Joh. 11, 33 — 38.) kurz vor dem Erfolg 
noch nicht vorhergewufste Wiedererstehung seines Freundes als 
eine Gebetserhörung bei »Gott dem Vater« (V«. 4*-)» nicht 
aber als Beweis einer ihm selbst innwobneoden oder auch nur 
XXX. Jahrg. 9. Heft. 54 



1 

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Tholucks Glaubwürdigkeit d. evang. Gcichicbte, 



ihm mitgetheilten Lehrinfallibiiität und übernatürlichen Kraft be- 
trachtet hat. Wer bann sagen , daf$ irgend eine neutestameut« 
liehe nicht aas geistigen und körperlichen Naturkräften mögliche 
Erscheinung in der Natur (also: irgend ein Wunder) als etwas 
zum Beweis eines Lehrgeheimnisses geschehenes, also 
zum Beweis für das, was im Supernaturalismus das Eigentüm- 
liche ist , geschehen sey ? 

Wer demnach wie der Vf. für infallihle und doch positive 
Dogmen als supernaturalistischer Vertheidiger der Wundertradi- 
tion auftreten will , der hat, wenu er dies durch Beweise, die 
nur historische Glaubwürdigkeit erkennbar machen, geleistet zu 
haben die vornehmste und gelehrteste Miene annimmt, doch nur 
zwischen einem Dilemma zu wählen. Er hat, da er seinen Plan 
machte, entweder, was er für seinen Standpunkt zu erweisen no- 
thig hätte, nicht rationell genug begriffen! oder es zu leisten sich 
unvermögend gezeigt! 

Wenn der alte, in sich consequente, von den alles besser- 
wissenden Verfeinern aber seit Kurzem undankbar herabgewür- 
digte Supernaturalismus infallibel mitgetheilte Lehrge- 
heimnissse zu besitzen behauptete, so sah er recht wohl ein, 
dafs Zeichen der Infallibilität, gewisse Wirkungen , die nur 
von dem Infallibeln und nur aus der Absicht, den infallibeln 
Ursprung jener Lehrgeheimnisse zü zeigen, gekommen seyen, 
damit verbunden gewesen seyn mufsten. Wenn irgend ein ver- 
feinerter Supernaturalismus, ausser den ewigwahren und den 
historisch nachweisbaren Religionskenntnissen , die er mit dem 
Rationalismus gemeinschaftlich hat, noch andere infallibel mitge- 
theilte Bestandtheile der Religionswahrheit erhalten zu haben be- 
hauptet, so mufste auch er sichere Indicien, dafs der einzig -infal- 
Uble Geist. sie gegeben habe, nachweisen können. Wäre dann 
auch von denen in der geistigen und körperlichen Natur unerklärt 
erschienenen Wunderfolgen anzunehmen, dafs sie nur durch eine 
solche Gotteskraft, welche Ausnahmen von der Naturordnung 
wollte, verwirklicht seyen, so ist doch immer noch zwischen der 
Behauptung: gewisse Verbesserungen in der Religion sind durch 
ausserordentliche äussere Erfolge begleitet, begünstigt und 
be fordert worden! und der gewagten Folgerung: sie sind also 
auch an sich als geistige Vorstellungen in allen ihren Th eilen 
infallibel - wahr! eine unausfälJbare Kluft. 

Auch bleibt der Schlufs : Dieser sittlich kraftvolle und im 
Gottvertrauen erhabene Mensch hat in der körperlichen Natur 



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gegen Straub. 



651 



einiges unerklärliche und ungewöhnliche theiis bewirkt, theils an 
lieh selbst erfahren ; folglich sind alle seine »Einsichten im 
Geistigen« infallibel ! — ein Übersprung von einer Gattung der 
Gegenstände in die andere, und zwar vom Verschiedensten in 
das Verschiedenste; gesetzt, dafs von uns wirklich für jene Na- 
turerscheinungen durchaus keine Naturursachen zu finden wären. 
Wer z. B. durch seinen Willensausspruch alle, die durch Dämone 
krank zu seyn meinten, in ganz Palästina von dieser antiphysio- 
logischen Meinung frei und insoweit gesund gemacht hätte, der 
wurde dadurch doch nicht beweisen, dafs die Meinung selbst 
richtig war und Dämonen als für sich bestehende bose Geister 
wirklich die für andere Geister bestimmte Organismen sich gewalt- 
sam zueignen konnten. 

Kurz; Alles kommt für den Supernaturalismus auf den über 
die historische Glaubwürdigkeit hinausgehenden Beweis an , dafs 
die nichtmenschlichen Einsichten von dem Infalliblen selbst 
raitgetheilt seyen. Dafür aber wäre nie das Nebeneinanderstehen 
von wunderbaren Natur Veränderungen und von natürlich nicht- 
erweislichen Lehrmeinungen beweisend. 

Es möchte wohl nur die Vereinigung zweier Kriterien 
menschlich genügend werden können. Das Negative wäre: 
Jede als infallibel gegebene Mitlheilung darf mit nichts vermischt 
seyn, was die menschliche Erkenntnifs und Urtheilskraft immer 
mehr als fallibel und unrichtig entdeckt, nachdem ihr diese Ent- 
deckung durch jene Voraussetzung der Infallibilität gar lange er- 
schwert worden ist. Das Infallible kann nicht so erscheinen , dafs 
es erst wieder des nicht infalliblen, menschlichen Rationalismas 
bedarf, um von dem damit araalgamirten Nichtrichtigen gereinigt 
zu werden. Denn was wahrhaft infallibel wäre, dagegen müfste 
alles Rationalisiren, alles Scbeiden des Irrthums von der Wahr- 
heit) verstummen. Das gewifs vom Infalliblen gegebene müfste 
sogar immer gerade nur so, wie es mitgetheilt ist, erfafst und 
festgehalten bleiben. (Z. B. eine geoffenbarte Schöpfungs- 
geschichte kann nicht behaupten wollen , dafs der vollkommene 
Geist als Schopfer zuerst alles in einer allgemeinen Unordnung und 
Verwirrung chaotisch hervorgebracht und sodann allmählig 
erst die gemischten Elemento ins Gleichgewicht geordnet habe 



•) Vgl. Meine Abh. gegen die Fiction eines Chaos in der «wei- 
ten Auflage Meiner „ Aufklarenden Beiträge zur Dogmen- , Kirchen- 
und Rellgionsgeschicbte. (Bremen 1837.) 6. 891-898. 



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852 Tholttckt Glaubwürdigkeit d. cvang. Geschichte, 

Ferner: Die fortdauernden Menschengeister müfsten nicht nach 
der Einen älteren Offenbarung ein schattenartiges Leben 
im Scheol, nach der andern aber entweder in einem Himmel, 
zu dem man hinauffahren könne , oder in dem Abgrund (Luk. 8, 
3i .) ihre Bestimmung zu erwarten haben. Auch müfste wohl der 
Himmel Gottes nicht lange Zeit blos als der Wolkenhimmel 
and das über der flachen Erde ausgespannte Firmament beschrie- 
ben und dahin ein besonderer Thron oder Aufenthaltsort des all- 
gegenwärtigen Gottes gesetzt worden seyn u. dgl. m. Wer ein. 
sieht, dafs dergleichen alte Lehren nicht infallibel waren, sondern 
etwas wahres mit langgeglaubtem Irrthum vermischtes enthielten, 
der mufs einsehen, dafs nur das, woran die Rationalität keinen 
Irrthum entdeckt, das negative Merkmal der infalliblen Offenba- 
rung hätte. 

Das andere, affirmativ immer mehr befriedigende, Krite- 
rium der Infallibilität eines mitgetheilten religiösen Lehrgeheim- 
nisses wurde seyn , wenn die Entdeckung desselben mit verwand- 
ten Kenntnissen verbunden wäre, welche zu jener Zeit noch uber- 
menschlich waren, allmählig aber auch von den Menschen als 
richtig gefunden werden konnten. Dafs der Lehrer das Richtige 
besser als der Lehrling wufste, davon wird dieser nur dadurch 
überzeugt, dafs er, je mehr er selbst beobachten und verstehen 
lernt, das vom Lehrer zuvor mitgethcilte richtig findet. Wenn, 
ehe die Menschen dies durch Nachdenken einsahen, im ersten 
Schopfungslied nicht behauptet wäre, dafs Sonne und Sterne 
hauptsächlich um Erleuchtung der Erde und um der Festabthei- 
lung willen da seyen, wenn vielmehr entdeckt worden wäre, dafs 
die Erde beweglich und von der Sonne abhängig, nicht aber wie 
das Centrum von Allem sey , so würden die Späterforschenden 
sich überzeugt haben, dafs in jenem Liede ein Mehrwissender 
gesprochen habe. Das Gegentheil aber mufs je und je zum ge- 
genteiligen Schlufs fuhren. 

Hat demnach Dr. Tholuck als verfeinerter Supernaturalist 
gegen Herrn Straufs sich Siegeszeichen erbeuten wollen , so hätte 
er ganz etwas anderes als das, was zunächst zum Rationalismus 
fuhrt, nämlich nicht blos historische Glaubwürdigkeit der Evan- 
gelien , welche alsdann auch das Wunderbare aus historischen 
Verhältnissen zu erklären auffordert, zum Hauptinhalt seiner apo- 
logetischen Polemik machen müssen. Vielmehr aber, indem er 
in der geborgten nnd für einen ganz andern Zweck passenden 
Waüenrüstung sich lange Zeit sehr heroisch umherbewegt, zer- 



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gegen StrauU. 



853 



stört er, äusserst anbedachtsam, sich und seinen Glau« 
bigen die ganze Möglichkeit eines Supernaturalismus, 
als eines hauptsächlich auf Lehrgeheimnissen, die nur durch 
infallible Mittheilung infallibel bekannt seyn konnten, beruhenden 
Religionssystems. 

Dahin fuhren mehrere Nachgiebigkeiten, die er, um die 
historische Glaubwürdigkeit zu retten, nicht vermeiden kann. 
Diese Verwicklungen aber verwandeln ihm sein Buch, gleich- 
sam unter den Händen , in etwas antisupernaturalistisches ! Ver- 
gleichen wir den Standpunkt des ächten, im Glauben consequen- 
ten Supernaturalisten mit dem Präcipiz, auf welches den Herrn 
Th. seine Vielgelahrtheit gefuhrt hat. 

Was die Menschheit nicht durch ihre Erkenntnifs- und Ur- 
teilskräfte sich selbst offenbaren kann, das soll sie unstreitig, 
wenn es ibr von einer hobern Kraft unfehlbar ausgesprochen und 
kund gemacht ist, auf das genaueste und strengste nur so, wie 
es ihr mitgethcilt wurde, nehmen und als das Infallible sich un- 
abänderlich einprägen. Der infallible Mittheiler mufste ja unfehl- 
bar auch am besten auszusprechen wissen, wie sein Infallibles 
menschlich zu fassen sey. Dadurch ginge freilich den dialekti- 
schen, wie den speculativen und sogar den blos rhetorischen 
Theologen alle ihre supernaturalistisch. theoretische Kunst und 
Muhe verloren. Es konnte ihnen nur die wortgetreue Anwendung 
des infallibel gesagten auf das praktische Leben in der Religiosi- 
tät, als ihr Geschäft, übrig bleiben. Ja, da die infallibel mit- 
geteilten Lehrgeheimnisse dennoch Mysterien, d. i. Kenntnisse 
menschlich unbegreiflicher, ubermenschlicher Wirkungen, blei- 
ben müfsten, so sind gewifs gerade die kunstreichsten unter jenen 
angestaunten Dialektikern, Speculanten und Declamatoren , wenn 
sie nicht an das infallible Oftenbarungswort allein sich halten , am 
meisten in Gefahr, das infallible zu verlieren oder wenigstens, 
wenn auch nicht durch den (an sich unmöglichen) Selbstbetrug, 
doch durch unbewufste Selbsttäuschungen sehr zu entstellen, in- 
dem sie es noch angemessener, oder gar » wissenschaftlich« reiner 
und höher, als der infallible Offenbarer selbst wollte, sich und 
andern offenbaren zu können die Miene raachen. Was war für 
Kirchenväter und Theologen aller Religionsarten täuschender, als 
die Einbildung, dafs sie sich wie die eigentlichen Offenbarer des 
zu dunkel geoffenbarten Gottesworts substituiren und aufdringen 
dürften ? 

Eben dieses jedem mysteriösen Supernaturalismus unentbehr- 



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854 Tholuckp Glaubwürdigkeit d. cvang. Geschichte, 

liehe Festhaltenkönnen der infalliblen Mittheilungen aber macht 
sich unser, über die rationale Auslegung triumphi rentier, uber- 
feiner Supernaturalist seinerseits, unmöglich , indem er in seiner 
Vielredenheit über den grofsen Unterschied zwischen den Reden 
Jesu im Johannesevangelium und den andern Überlieferern unter 
allerlei Windungen dennoch zugiebt, dafs (nach S. 3 j i — 343) 
in dem Ton und der Einkleidung der Heden des Meisters man- 
ches auf Rechnung des Jüngers zu setzen, also das best- 
möglich Vom Infalliblen geoflenbarte selbst nicht rein historisch 
gegeben sey. Somit wäre es denn bei jeder Zeile, aus welcher 
etwas übermenschliches folgen könnte, ungewifs, ob wir Jesus, 
den Offenbarer, oder nur den Sinn des (persönlich unbekannten 
und dubiösen) Oberlieferers , so wie dieser ihn nach vielen Jahren 
haben mochte , vor uns haben. Da nun aber das meiste myste- 
riöse über Jesu Person und Verhalt nifs zu dem Vater, als dem 
alleinigen Gott, zu welchem der Messias selbst um eine vorher- 
gehabte Herrlichkeit betet (17, 3. 5.) gerade aus diesem Evan- 
gelium supernaturalistisch geschöpft wird , und da auch nach den 
Johanneiscb tradirten Reden Jesu dieser selbst sich nie als den 
Weltschaftenden Logos, nie als den Monogenes, sondern nur nach 
denen menschlich erhebenden Prä'dicaten dargestellt hat, die man 
damals dem Messias in Palastina zuzuschreiben pflegte; wie 
kann der Gewissenhafte, welcher des Infalliblen zu viel oder 
zu wenig zu glauben, für gleich sehr verfänglich halten mufs, 
genau wissen, welcher Satz von Jesu und was davon nur Modi- 
fication der Überlieferer (S. 439) «eyn möge? 

Nur der nichtmysteriöse Rationalist kann damit befriedigt 
seyn, dafs wohl die Fassungskraft der Apostel (wie bei Platö und 
Xenophon gegen Sokrates) sehr verschieden war und jeder den 
Sinn Jesu so, wie ef ihn erreichte und sich selbst anbildete, ge- 
geben habe, oder dafs auch sie, wie Thukydides mit der ratio- 
nellsten Aufrichtigkeit (I, 22. vom pelopon. Krieg) dies von sich 
als das alleinglaubliche angiebt, sich so nahe, als sie noch 
konnten (ü), an das wirklich gesagte gehalten haben« 
Aber für alle Mysterienlehren, welche aus einzelnen tiefbedeutsamen 
Worten und Sätzen geschöpft und aus mehreren Stellen musi- 
visch zusammengefügt und erprefst zu werden pflegen, 
hat der, Verfeinerer des Supernaturalismus die für ihn unentbehr- 
liche Basis aufgegeben, indem er — in seiner geistigen Laune von 
Liberalität — die Zuverlässigkeit, das in fall ible Wort zu haben, 
hingab. Wo es sich um Lehrgeheimnisse handelt , da ist auch 



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gegen Strauiü. 850 

der Geiit derselben gar nicht anders als nur in und mit dem 
infalliblen, allein passendsten Offen bar HB gl wort zu erhalten. 
Wenn der unbekannte Ordner des Johannes-Evangelium in seinem 
eigenen Namen von einem Logos spricht, dieses Wort aber 
nicht erklärt , so bann es nicht als ein vom Infalliblen mitgeteil- 
tes Zeichen eines göttlichen Lehrgebeimnisses behauptet, sondern 
nur angenommen werden, dafs es als bekannt nach dem Sprach- 
gebrauch der Zeit zu verstehen sey. 

Die Nothhülfe (S. 347), dafs man dennoch den Geist des 
Meisters ohne seine Worte erhalte, kann bei denen nur aus 
den infalliblen Worten wörtlich erkennbaren Übernaturlichkeiten 
durchaus nicht statt linden. Hatte Luther nicht gewifs geglaubt, 
dafs Jesus jenes «<r«i ausgesprochen habe und dafs ein »ist« in 
Jesu Mund ein reelles Daseyn bedeuten müsse, so waren nicht 
indefs dreihundert Jahre erforderlich gewesen, bis endlich der 
Geist in den beiden Kirchen rational genug wurde, um, 
trotz der von oben weltlich gebotenen Concordienformel , sich zu 
einer die manchfach mögliche Deutung des Worts freilassen- 
den Union zu verstehen. 

Wie oft dagegen hat man , um Mysterienlehren durch Deu- 
tungen über das biblische Wort hinaus bestimmter zu offenbaren, 
das veni creaior Spiritus ! gesungen , auf welches nach S. 346 die 
Hircblichglaubigen so sehr hoffen und bauen sollen; und wie oft 
wurde dann doch supernaturalistisch nur creirt und den Laien, 
so lange sie es duldeten, aufgedrungen, was weder historisch, 
noch spirituell zur Religion und in das christliche Bewufst- 
seyn gebort; wenn gleich die Conciliendecrete anmafslich genug 
aussprachen: es hat Uns und dem h eiligen Geiste gutgedünkt! 

Diesem so willkührlich ausfüllbaren Bewufstseyn aber entreifst 
Herr Tb. vollends alles, was zur Grundlage supernaturalistischer 
Infallibilitä'tslehren unentbehrlich ist, indem ihn endlich die Lust, 
mit noch mehr gelehrten Parallelen zu schimmern, bis zu dem 
Wagstück verleitet , von S. 429 aQ se >° Declamatorium mit der 
Behauptung zu scbliefsen , dafs, auch wenn die Evangelien in 
Widersprüchen gegen einander wären oder hie und da erweisliche 
Unrichtigkeiten überlieferten, er ihnen doch historische Glaub. 
Würdigkeit genug, nämlich soviel als je andere Autoren hätten, 
vindicirt habe. 

Gerade hier ist wieder der Anfang des Scheidewegs! 

Der biblisch - christliche Bationalismus bedarf allerdings mehr 
nicht, als die historische, menschlich glaubliche Glaubwürdigkeit 

* 

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TholucU Glaubwürdigkeit d. cvang. Geschichte , 



der Evangelien -Tradition. Denn der gewifs infalliblen Worte 
dessen, der allein Infallibles über die Menschheit hinaus entdecken 
könnte, bedarf er nicht, weil er keine Entdeckung von Über- 
natürlichkeiten, aber desto mehr menschlich glaubliche and an. 
wendbar gemachte Religions Wahrheiten Torfindet und in Jesu Le- 
ben zugleich ein Beispiel anerkennt, wie ein solcher Mensch für 
gottgetreue Überzeugung das Unglaubliche zu thun und zu leiden 
vermöge, alsdann aber auch daraus unübersehbar große, gute 
Folgen entstehen können. Für dieses Geisterhebende und doch nur 
acht Historische des N. Ts. genügt rationell der Totaleindruck und 
der ineinandergreifende Zusammenhang zwischen den unleugbar 
bewirkten welthistorischen Folgen und den dafür angegebenen facti* 
sehen Ursachen und Vorgängen. Aber worauf baut dagegen der 
verfeinerte S upernaturalismus das ihn unterscheidende Ultra 
Ton nichtbistorischen Lebrangaben? Wenn, wie Th. zugestehen 
will, sogar das Historische Labiiitat, Unrichtigkeiten und Wider- 
spruche haben kann, wie viel schwieriger, wie viel unsicherer 
wäre dann die Überlieferung überverständiger und uber- 
yernunftiger Begriffe, Ideen, Mysterienlehren? An- 
schauungen, Facta, richtig zu überliefern, wäre doch weit leich- 
ter gewesen, als ubersteigende Lehren. Hat der Junger diese 
in andere Sätze, als der Lehrer gesprochen hatte, verwandelt, 
wie kann das supernaturalistisch infallibie darauf sicher gebaut 
werden ? 

Mag demnach dem Verf. der Supernaturalismus , wenn er je 
in der versprochenen modernisirten Gestalt noch erscheinen kann, 
für die Eloquenz danken, durch welche er ihn aus der überna- 
türlichen infalliblen Hohe ins allgemeine Rationalistische' hinein- 
geschwatzt , seine Eigentümlichkeiten und lnfallibilitäten aber 
eben dadurch sehr unsicher gemacht hat! Dafs' ihm der Ratio, 
nalismus, von dem er das, meiste dazu borgte, dafür danke, kann 
er nicht erwarten, weil dieser seiner Hülfe zum Leben oder 
Sterben nicht bedurfte. Mag alles und noch mehr als der red- 
selige Compilator für die historische Glaubwürdigkeit der 
Evangelisten gesagt hat, wahr seyn, so ist für den alten, wenig- 
stens sobald die Prämissen zugegeben sind, folgerichtigen Super- 
naturalismus als Sammlung von Geheimnifslehren nichts gewon- 
nen, was er nicht sich selbst schon besser vertheidigt bat, für 
den modernisirten hingegen ist die Festigkeit der für 
ihn unentbehrlichen In fallibilitäts - Ue berl ief erung 
durch Hrn. Th. verloren. Was aber das, wofür er doch seine 



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gegen Straufs. 



Kritik geschrieben haben will, betrifft, so steht, nachdem er den 
Supernaturalismns selbst so schwankend und bodenlos gemacht 
hat, der mit einer den Historikern überhaupt möglichen Glaub. 
Würdigkeit zufriedene Rationalismus«, nach wie vor, allein auf dem 
Feld der Untersuchung, ohne dafs durch das planlose Thol. Werk 
die Entscheidung des Streits gefordert werden konnte. Das For- 
tchen nach natürlichen Ursachen steht immer noch bei der jetzt 
in Untersuchung gestellten Frage, die der Verf., statt zu losen, 
kaum angerShrt hat: Ob das, was in der evangelischen histo- 
risch glaub würdigen Überlieferung von Erfolgen und Beden das 
Wunderbare ist, hauptsächlich schon durch die Meinungen der 
ersten Beobachter und Erzähler die Form des ursächlich un- 
erklärbaren erhalten habe? oder ob Stoff und Form erst durch 
spätere Bewunderer ekstatisch entstanden und als historisch ge- 
glaubt in die schnell verflossene Zeit der Erscheinung Jesu zu- 
rückgetragen worden sey ? 

Beides ist Rationalismus. Jenes ist die fast bei allen alten und 
neuen Überlieferungen anwendbare und von allen Beurtheilern tag- 
täglich angewendete historisch-kritisch und psychologisch- 
rationelle Enträthselong des mit dem Glaubwürdigen fast bei je- 
der Erzählung sich unvermerkt vermischenden Unglaublichen. Die 
andere, die mythisch-kritische rationelle Auflösung, ist an 
sich die in selteneren Fällen anwendbare. Sie ist aber, wenn sie 
nur nicht einseitig und als das alleinige Mittel, die Entstehung des 
Wunderbaren zu entdecken, angewendet wird, mit der ersteren, 
sich häufigst aufnothigenden , deswegen leicht zu vereinigen, weil 
in das , was die aus Vormeinungen und aus dem Anstaunen ent- 
stehenden Crtheile der Näheren schon in die erzählten Erfolge 
hineingelegt oder davon wegglassen haben mögen, unstreitig auch 
noch die aufgeregte Einbildungskraft der Späteren bald mehr bald 
weniger beigemischt oder davon verwischt haben kann. 

Diese Probleme und Dissonanzen bat demnach der Rationalis- 
mus rein unter sich nach Menschenkenntnis und wissenschaftlich 
erweislicher Methodik auszumachen oder wenigstens weiter zu 
beleuchten , da der Sprecher des verfeinerten Supernatural ismus 
diesem seinem vermeintlichen System von seiner unentbehrlichen 
Begründung so viel entzogen hat, dafs es erst sich selbst aufs 
neue feststellen mGfste , ehe es zum Urtheilen über etwas ande- 
res, auf die Natur der geistigen und leiblichen Erscheinungen 
gegründetes, zugelassen werden dürfte. 

Das letzte, was wir für diesmal anzumerken haben, ist, dafs 



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858 Tholttckt Glaubwürdigkeit d. evanp. Geschichte 



Herr Tb. selbst, wie wenig er durch seine Schrift für seinen 
Supernaturalismus leiste und gegen den Rationalismus gewinne, 
wenigstens geahnet zu haben scheint. Deswegen beginnt er 
schon S. 11 sein ganzes »Gefecht« mit der Kriegslist, dafs er 
seinen eigentlichen Gegner, den Rationalismus, das ist, die wis- 
senschaftliche Methode und Lehre: das .innerhalb der geistigen 
und materiellen Natur Erscheinende mufs auch als Wirkung 
dieser Naturkräfte betrachtet und begreiflich gemacht werden ! 
sehr tapfer zum voraus für gar nicht mehr existirend und ver- 
schollen erklärt. Glaubige Leser sollen zuvorderst die frohe Bot- 
schaft annehmen, dafs der historisch - kritische Rationalismus, weil 
er noch nicht alle über alles befriedigt, gar nicht existire. Alsdann 
freilich wäre gegen den mythischhritischen Rationalismus in seiner 
furchtbaren Ausdehnung nur noch bei einem rationalisirten Super, 
naturalismus eine GlaubensZuflucht zu suchen. Daher soll es sieb 
denn von selbst verstehen, dafs alles, was Th. blos für die hi- 
storische Glaubwürdigkeit der Evangelien zu sagen weifs, nur sei- 
nem modernen, das ist dem, seit die Deutschheit Gotteswunder 
gegen Napoleon erbeten and erfahren hat, wieder geglaubten — 
Supernaturalismus zugut komme und genüge. Daher scheint er 
auch von der dem Supernaturalismus unentbehrlichen wortlich in- 
falliblen Basis sorglos so vieles dahingegeben zu haben, wie wenn 
er von dem als todt proclamirten Rationalismus keine Hinweisun- 
gen mehr auf jene sichtbarer werdende Grundlosigkeit des Myste- 
riösen zu scheuen hätte. 

Todt aber und abgethan soll der Rationalismus, (d. i. das Be- 
streben , von Naturerscheinungen in der geistigen und sinnlichen 
Menschen weit die ratio sufficiens in Naturkräften, aber in den 
zusammenwirkenden Kräften der geistigen und körperlichen Na- 
tur zu suchen) deswegen seyn , weil diese ratio sufficiens zwar, 
seit der freieren protestantischen Untersuchungszeit, die sich von 
Friedrich dem Grofsen in Deutschland datirt, weit öfter als zu- 
vor in den 17 Jahrhunderten , aber doch nicht schon durchgängig 
gefunden ist. Sein Todesurtheil beruht darauf, dafs vielmehr 
bei manchen Causalerforschungen auch in der Geschichte der 
allmähligen Religionsoffenbarungen, wie überall sonst, ein »non 
liquet« (S. 14), ein x (S. 80) übrig geblieben ist, das Herr Tb. 
sehr unmathematisch einen Bruch zu nennen liebt« Welch ein 
(so recht übernatürliches) Argument, durch welches zunächst die 
ganze mit so vielen Non liquet beschäftigte Physik für todt und 
abgethan zu erklären seyn würde. 



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gegen Straufs. 



Wie aber, wenn dagegen alle andere menschenmögliche 
Kenntnifs Fächer, welche immer mehr rationell zu seyn streben, 
•wohl die umgewendete Frage machen mochten: woher denn die 
doch auch nur als Menschen denkende Theologen allein über- 
all eine Classe von Mitgliedern unter sich haben, die über das 
menschlich denkbare hinaus zu denken das Privilegium behauptet ? 
oder gar durch Wenigdenken und durch das Glauben , dafs An- 
dere für sie das Unfehlbare gedacht haben, das Gewisseste. zu 
erhalten versichert ? Mögen die Infallibilitätsglaubigen vom Gan- 
ges an bis an den Tajo dieses ihr Privilegium beurkunden. Jede 
allein recht haben de Part hie widerlegt das Princip der andern. Al- 
ler Rationalismus aber kann nur über Anwendungen seines Prin- 
cips, also nicht über eine Lebensfrage, differiren. 

Wir erlassen die Beantwortung dieser Frage gerne, wenn 
nur der Ver feinerer des Supernaturalismus zeigen mochte, wie 
seine Art, die historistorische Glaubwürdigkeit der Evangelien zu 
modificirea, für den mysteriösen Theil des Supernaturalismus 
and nicht vielmehr geradezu für den christlichen Rationalismus 
erweisend sey? Wo nicht, so ist der Haupttheil des ganzen 
Werks von S. 85 an gegen den kritisch - historischen und psycho- 
logischen Rationalismus gar nicht , gegen den kritisch-mythischen 
nur selten treffend, und der Verf. ist zu bedauern, dafs er sich 
durch eine planlose, zweckwidrige, prunkende Arbeit vielerlei 
Mühe gemacht hat. 

Dafs er in den 3 Einleitungsabhandlungen noch weit heftiger 
und anmalslicbcr ist, auf ruhige Erforschung und Prüfung der 
leitenden Principien des Rationalismus sich nicht einläfst, sondern 
nur Nebengedanken wie charakteristisch herausreifst (S. n), auf 
das Nachgeben der Kirchenbehörden gegen die Untersuchungs- 
freiheit der ungefähr seit 1770 angestellten theologischen und phi- 
losophischen Universitätslehrer S. 10 mit Unwillen zurückblickt, 
gegen Männer in schwarzen Rocken, die ihrer! Rationalismus über 
die Lippen kommen zu lassen sich scheuen , als gegen einen Strom 
der Zeit S. 33 Argwohn erregt, kaum den Lateinlesern Winke 
über die Unsicherheiten der durch allgemeine Überzeugung der 
Theologen infallibel werdenden Theologie S. 38 zukommen las- 
sen will, durch verdammliche Consecjuenzmacherei seinem frei- 
mütigen Gegner das Gehässigste als nöthwendige Folgerungen 
S. 43.47. aulbürdet, — darüber mag der Vf. sich damit, dafs er 
schnell wie zur Nothhülfe schrieb und anfangs nur ReceWonen (für 



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860 Biewer : Über die Vcrhältniwe der Juden. 

seinen Anzeiger) zu schreiben meinte, zu entschuldigen suchen. 
S. IX. X. 

Aber das Unerträglichste ist der Obermath 8. 9, womit 
er sich über Männer, wie Zachariä, den Verf. der so nöthigen 
Biblischen Theologie, Morus und die Tübinger Schule, da* 
Keifst, Reufs, Storr, Flatt, Süskind, Bengel etc. als über 
solche erhebt, die » als Supernatural isten doch eine Interpretation 
» getrieben hätten, welche durch eine flache Exegese mehr 
»und mehr das Überschwängliche (!) aus den Ideen und aus der 
»Geschichte des Christenthums eliminirt habe, so dafs, was sie 
» stehen lassen, sich, von dem historischen Gerüste abgesehen, 
»auf dürftige Locos communes des sogenannten gesunden Men- 
» schenverstands reducire.c Wie würde der Exegete Tho- 
lack vor diesen Männern bestanden seyn, wenn sie über seine 
Vielschreiberei ein mundliches Examen mit ihm anzustellen ge- 
habt hätten ? Wie sie seinen verfeinerten Supernaturaüsmus be- 
urtheilt haben würden, den er jetzt noch klüglich in einer schwe- 
benden Nebulosität den Glaubigen vorhält, sieht man daraus, dafs 
er jene Zeit darüber beklagt, weil in ihr Mangel an mysti- 
scher und speculativer Richtung in der Theologie ge- 
herrscht habe. Wohlan! Möge die mystische und speculati?e 
Phantasie des Vfs. einen die Lebensfülle noch viel weni- 
ger entbehrenden Supernaturaüsmus ausgebähren, als 
der ist, womit er in seinem »Uber Sünde und Versöhner« de- 
bütirte, um am Ende die in Gefühlen des Versöhntseyus , man 
weifs nicht warum , zeriliefsende Jünger in der Hingebung an 
einen überheiligen, angestaunten Gewissensleiter erstarren und 
unmündig werden zu lassen. 

38. Juli 1837. Dr- Paulus. 



Betrachtungen über die Verhältnisse der jüdischen Unterthanen der preus- 
sischen Monarchie. Von Dr. G. Riesser. Altona, bei J. F. Hümme- 
rich. 1804. 487 & 8. 

Der Jude. Rin Journal für Gewissensfreiheit ; in zwanglosen Heften her- 
ausgegeben von Dr. G. Ries s er. Erstes Heft. Altona, bei de ms. Ver- 
leger. 1835. 108 & 8. 

Die erst er e Schrift enthält, (wie auch auf dem Titel der- 
selben angezeigt ist,) einen mit Zusätzen bereicherten Abdruck 
mehrerer Aufsätze , welche bereits in der (auch in diesen Blät- 
tern mit dem gebührenden Lobe angezeigten) Zeitung oder Zeit- 



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Riester: Über die Verhältnisse der Juden. 801 

schrift : Der Jade, erschienen sind, deren Herausgeber der Vf. 
war. Sie bat zwar hauptsächlich die Rechtsverhältnisse der ju- 
dischen Unterthanen der preu falschen Monarchie zum Gegen- 
stande; sie verbreitet sich jedoch gelegentlich auch über das, 
was in einigen andern Staaten , z. B. in Kurhessen , über die Stel- 
lung des judischen Volkes zum Staate verhandelt oder beschlos- 
sen worden ist. — Die andere Schrift ist eine Fortsetzung der 
so eben erwähnten Zeitung oder Zeitschrift; jedoch nach einem 
in so fern veränderten Plane , dafs Erörterungen über die judische 
Theologie von dem Plane der neuen Zeitschrift ausgeschlossen 
sind. Das erste Heft beschäftigt sich mit der Prüfung der Grun- 
de, welche auf dem Landlage des Grofsherzogthums Baden vom 
J. i833 gegen die vollständige Gleichstellung der Juden mit den 
christlichen Staatsbürgern geltend gemacht worden sind, und ins- 
besondere mit den von dem Herrn v. Rotteck gegen die gänzliche 
Emancipation der Juden erhobenen Einwendungen. — In beiden 
Schriften beweist sich der Verf. als ein scharfsinniger, einsichts- 
voller und beredter Vertheidiger des Volkes, welchem er selbst 
angehört. Er fuhrt diese Vertheidigung hauptsächlich aus dem 
Standpunkte des Rechts. An Veranlassung und Stoff der begon- 
nenen Zeitschrift kann es dem Verf. nicht fehlen. Noch hat er 
nicht die neuesten Verhandlungen, welche in Preufsen über den 
Rechtszustand der Juden stattgefunden haben, und eben so wenig 
die Resultate des noch fortdauernden Landtages des Königreichs 
Sachsen über denselben Gegenstand in den Bereich seiner kriti- 
schen Erörterungen gezogen. Auch auf dem jüngsten Landtage 
des Grofsherzogthums Baden ist derselbe Gegenstand von neuem 
in Berathung gekommen. 

Da die Gründe, welche für und wider die Emancipation an- 
geführt werden können , im Allgemeinen bekannt genug sind, da 
also in den Schriften über diese Streitfrage hauptsächlich die Dar- 
stellung und die Einzelheiten anziehend sind , so wird man eine 
genauere Anzeige des Inhalts der obigen beiden Schriften von 
diesen Blättern weder ewarten noch verlangen. (Womit jedoch 
jenen Schriften ihr Werth keineswegs abgesprochen werden soll. 
In gewissen Fällen kann man auf den Angriff nicht oft genug 
zurückkommen.) Dagegen erlaubt sieb Ref. , der übrigens in der 
Haupsache mit dem Verf. jener Schriften vollkommen überein- 
stimmt, mit zwei Worten anzudeuten, wo und wie sein Weg 
von dem des Vis. abweicht. 

Ref. ist in allen den Vorurtheilen erzogen worden, welche 



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862 



Rieiaer : Über die Verhältnisse der Jaden. 



man in seiner Jagendzeit gegen die Jaden hegte. Sogar von ge- 
schlachteten Christenbindern hat er noch die fromme Sage gehört 
Als er anfing zu denken , (und das geschah ehemals nicht so früh 
als jetzt,) als er seine Aufmerksamkeit auch auf jene Streitfrage 
richtete, so schwankte er lange, nicht zwischen den Vorurt heilen 
der Kindheit, (diese hatte der Jugendmuth langst abgeworfen,) 
und den Ansichten des reiferen Alters, sondern über die Wahl 
unter den Grundsätzen , nach welchen die Frage beurtheilt wer- 
den kann. Das Endresultat, zu welchem er (für jetzt) gelangt 
ist, lautet so: Alles, was sich gegen die vollständige Gleichstel- 
lung der Juden mit den Christen sagen läfst , kann auf den Satz 
zurückgeführt werden: Die Juden leben unter uns nicht als ein 
Verein, der eines besonderen Glaubens ist, sondern als ein be- 
sonderes Volk. Dieser Satz läfst sich schwerlich wegstreiten. 
(Ja man kann behaupten , dafs ihn der Verfasser der angezeigten 
Schriften und die ihm Gleichgesinnten selbst stillschweigend an- 
erkennen. Denn ihr — übrigens höchst achtungswertbes — Stre- 
ben geht dahin, das talmudistische Judenthum in eine monotheisti- 
sche Religion oder, was nach der Meinung einer nicht kleinen 
Parthei unter den Christen dasselbe ist, in das Urchristenthum zu 
verwandeln.) Aus jenem Satze folgert man nun, dafs die Juden 
nicht auf Gleichheit des Rechts, sondern nur auf das Gastrecht 
in denjenigen Landern Anspruch machen können, in welchen sich 
die grofse Mehrzahl der Einwohner zum Christenthume bekennt. 
Aber aus demselben Satze kann eben sowohl, und wenigstens io 
einem menschlicheren und christlicheren Geiste, die gerade ent- 
gegengesetzte Folgerung gezogen werden. Denn die vollständige 
Emancipation würde das beste Mittel seyn, die Juden mit der Zeit 
zu entnationalisit en , d. i. nach der so eben angedeuteten Ansicht, 
sie zum Christenthume zu bekehren; und zwar, einzelner That- 
sachen nicht zu gedenken, um deswillen, weil eine jede Parthei, 
je mehr sie wegen ihrer Meinungen gedrückt wird, desto hart- 
nackiger bei denselben beharrt. Übrigens erstreckt sich dieser 
Grand nicht so weit, dafs die Mafsregel ihrem ganzen Umfange 
nach auf einmal ausgeführt werden konnte oder müfste. 

Woher mag es wohl kommen, dafs über die Emancipation 
der Juden in einem gewissen Lager Zwiespalt herrscht? die 
Frage wäre der Erörterung vielleicht nicht unwerth. 

Zachariä d. ä. 



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Ritgen: Erkenntnis u. Behandlang d. FertonlichkeiUkrankheiten. 863 

Leitfaden für die Erkenntnifs und Behandlung der Personlichkeitskrank- 
hexten, entworfen von Dr. Ferd. Aug. Ritgen, Bd. I. die erste Ab- 
theilung enthaltend. Gießen. J. Rickersehe Buchhandlung. 1837. 

Die Tielerlei Gestalten , denen man auf der literarischen Wan- 
derung begegnet, erscheinen uns fast ebenso, wie die Menschen, 
anter dreifacher Form. Die meisten mit gewohnlichem Äussern 
und von gewöhnlichem Gehalte; die wenigsten mit gewöhn- 
lichem Äussern und von ungewöhnlichem Gehalte; die Mittelzahl 
mit ungewöhnlichem Äussern und von ungewöhnlichem Gehalte. 
Trifft man auf die erste Art, so pflegt man wobl nach kurzem 
Beschauen weiter zu gehen; der zweiten Art steht das Schicksal 
der ersten bevor; allein, wenn sie ihm entgangen ist, wird sie 
uns um so lieber, wie das edlere Herz unter dem schlichten Roche. 
Die letztere Art — und zu ihr gehört das vorliegende Werk — 
hat neben dem Verdienste der zweiten, auch noch das Glück 
schnellerer Beachtung, und gewinnt durch sein Auftreten, indem 
mit dem Titel zugleich ein Besonderes des Inhalts angekün- 
digt wird. 

Von einer Lehre der Persönlichkeitskrankheiten ist 
die Rede. Was ist denn aber Persönlichkeit? was Person? 
Wir wollen den Versuch wagen, uns zuvorderst den Sinn dieser 
Ausdrücke klar zu machen, und dann sehen, ob wir mit unserm 
Autor zuletzt zusammenstimmen. Was ist: Person? Wir nen- 
nen einen Menschen Person, wenn wir ihn als ein für sich seyen- 
des und handelndes Wesen bezeichnen wollen. In dieser Bezie- 
hung reden wir von guten und von schlechten Menschen. Reden 
wir in andrer Beziehung von ihm, als einem so und so organi- 
sirten, oder so und so geistig thütigen, denkenden Wesen, so 
gebrauchen wir diese Bezeichnung nicht. In jener Beziehung ist 
Person der Ausdruck für Charakter, und, indem dieser sich 
auf die ganze Art, wie sich derselbe in der äusserlichen Erschei- 
nung ausdrückt, bezieht, der für die ganze sichtbare Erscheinung 
des bestimmten Individuums in 'der ethischen Welt, die Persön- 
lichkeit. Also drücken wir uns aus, wenn wir von den Indi- 
viduen .fremder Nationen, von Unbekannten , nachdem wir ihre 
Natur als eingreifend in die Verhältnisse der Gesellschaft, in der 
sie leben, betrachten; so reden wir auch von Gesellschaften, Ver- 
bindungen Einzelner, von Gemeinden, Völkern, als von Perso- 
nen. Reden wir von der menschlichen Seele, etwa wie von Seelen- 
zahl eines Staates, so bezeichnen wir damit die Zahl der Men- 
schen , als in der Gemeinschaftlichkeit befangener , rationaler We- 



I 



864 Rilgeoi Erkenntnis u. Behandlung d. PertönUchkciUknuikhelten. 

• 

sen. Seele umschliefst einen Inbegriff mannigfacher , Vielen ge- 
raeinsamer, Geistesthätigheiten ; Person und Persönlichkeit 
schliefst dies Geraeinsame aus, und giebt nur den Begriff des 
Individuellsten, eines aus einem innern Motive selbstständig Han- 
delnden. Auch verstehen wir unter dem Ausdruck Person nicht 
das Zusammen von Seele und Leib, nicht das Individuelle eines 
so und so in sich geschlossenen Organismus in seiner höchsten 
Gestaltung als menschliches Individuum; das In- und Durchein- 
ander von Seele und Leib, die Einheit des menschlichen Organis- 
mus, ist ein organisch und geistig thätiges Wesen, in seiner Über- 
einstimmung mit den zahllosen verwandten Wesen seiner Art: nur 
im Handeln wird er zur Person d. b. wirklich wahre Einheit. Das 
Denken ist nach dem richtigen Postolate, ist es anders ein rech, 
tes Denken , ein allen denkenden Wesen Gemeinsames ; das Han- 
deln ist ein jedem denkenden Wesen ganz individuell Eigentüm- 
liches, und nur im gemeinsamem Princip gestaltet sich das ver- 
knüpfende Band zwischen der Menge handelnder Personen. Es 
giebt mithin nur die moralische Person, d. i. der wollende und 
handelnde Mensch, entweder allein, oder in seiner Sammlung zu 
moralischen Zwecken als ethische Einheiten, die eine industrielle 
Beziehung gar nicht ausschliefsen. 

Betrachten wir diesen Begriff von Person und Persönlichkeit 
in seiner wahren Innerlichkeit, so liegt ihm einzig die Thatsache 
der Freiheit zu Grunde. Ein moralisches Handeln macht das 
Wesen der Person , und das Handeln in Freiheit das Wesen des 
moralischen Handelns nach seiner Licht- wie nach seiner Schat- 
tenseite. Das allgemeine Schema jeder Thätigkeit ist Bewegung, 
in ihren zwei Directionen von und hin. Wird diese Bewegung 
von Kräften hervorgebracht , die wir in der allgemeinen Materie 
herrschen sehen, so nennen wir sie \Yahlanziehung, Gravitation 
etc. und schreiben ihr weder Freiheit noch Unfreiheit zu, sondern 
nennen die Kräfte gebunden oder wirksam, gelost (sagen 
hier auch wohl frei, z. B. der Wärmestoff wird frei). 

(Der Beschlufs folgt.) 



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N°. 65- HEIDELBERGER 1837 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Hilgen: Erkennbüfs und Behandlung der Persönlichkeils- 
krankheilen. 

(Beschlufs.) 

Sehen wir innerliche oder ausserliche Bewegungen (chemische 
oder mechanische Wahlanziehungen und Ortsveränderungen)], die 
wir nicht aus den Wechselwirkungen jener Naturkräfte allein zu 
erklären vermögen, und ahnen wir in diesen die Wirksamkeit 
eines höheren, jene Kräfte uberwaltenden Principes , so nennen 
wir dies Leben. Hier fangeu wir schon an, häufiger den Aus- 
druck frei und unfrei zu gebrauchen; besonders sprechen wir 
den höheren Sinnesgeschöpfen Willkühr zu. Indessen reden wir 
noch immer von der Freiheit als blofser Bestimmungslosigkeit 
durch Äusseres (s. Oken's Naturgeschichte, von der Freiheit). 
In diesem Sinne nennen wir den Baum frei, der ungehemmt durch 
äussere Einflüsse sich seiner Natur gemäfs entwickelt. In diesem 
Sinne spricht ' denn auch die dogmatische Philosophie von der 
Freiheit*). Allein wir reden noch nicht von einem handeln« 
den Wesen, sondern nur immer von einem Instinkte. Diesem 
gemäfs legen wir auch in dieser Beziehung dem entwickeltsten 
Thiere, dem Menschen, Freiheit bei, wenn er sich der natürlichen 
Idee gemäfs, d. i. in dem allgemeinen Vorbilde, das dem Ge- 
schlechte: Mensch, zu Grunde liegt, ungehemmt entwickelt, wenn 
er seine inneren Functionen sowohl als die äussere Gestaltung 
nach dem Canon seiner Natur vollendet. Allein in dieser Sphäre 
haben wir noch kein handelndes Wesen bezeichnet, sondern nur 
ein lebendig freitbatiges ; wir haben noch kein Individuum, son- 
dern nur einen vereinzelten Abdruck seines Collectivbegriffs in 
möglichster Vollendung. Es ist daher nüthig, noch einen andern 
Ausdruck für das handelnde Individuum, für den Menschen, als 
moralisches Wesen, für seine ethische Freiheit zu finden. 
Diesen aber gewinnen wir, wenn wir von diesem höchsten Aus- 
drucke, von der moralischen Freiheit, Alles aussondern, was von 
ihr herunter bis zum Naturmechanismus eine Gebundenheit mit 



') Fichte (J. G.), Bestimmung des Menschen. 
XXX. Jahrg. 9. Heft. 55 



8<ki Ritgen : Erkcnntnifs u. Behandl. der Persönlichkciukrankheitcn. 



einschliefst. Diese Gebundenheit, oder die physische Freiheit, 
ist die freie GesetzmaTsigkeit entweder der mechanischen and che- 
mischen Bewegungen , oder auch des Instinktes und der Will- 
kuhr*), and diese bildet eine Vorstufe zu jener absoluten, jener 
Freiheit ohne Vorbehalt, insoweit der Mensch nur dann möglicher 
Weise wahrhaft Mensch, d. i. ethisch handelndes Wesen werden 
kann, wenn er sich organisch frei vorher entwickelt hat, wenn 
er sich nach innerlicher GesetzmaTsigkeit seiner Natur in der 
Welt ausserlich vollendet dargestellt hat. Die mens sana in cor- 
pore sano ist das alte heidnische Gebet; und in dieser Beziehung 
hat es seine Wahrheit. Ein Cretin ist nicht moralisch frei, weil 
er zuvor nicht physisch frei, d. i. der. menschlichen Organisation 
geraä'fs, nach dem Gesetze der lebendigen Zweckmäßigkeit, sich 
entwickelt hat. Handelnde Freiheit, Kants Sittengesetz (die so- 
genannte transcendentale Freiheit , weil sie. über die Gebundenheit 
ans Physische hinausragt), setzt diese letzte als Bedingung vor- 
aus, ist aber an sich das höhere Geistesprincip und die Negation 
aller jener sogenannten Freiheitsstufen unterhalb ihrer selbst, so- 
wohl der Willkuhr, als auch des Instinkts, als endlich der Wahl- 
anzieh ungs- und Gravitationskräfte. . Und nur in diesem Sinne 
gebrauche man den Aasdruck Freiheit, 1) hertas indifferentiae der 
Schola , und so konnte man die drei Stufen des Wirkens bezeich- 
nen durch Gesetz, Willkuhr und Freiheit, oder durch 
Wirken, Thun und Handeln; Krystall, Organismus, 
Mensch, in bestehender Form. 

Was wäre denn ferner Personlichkeitskrankheit? — 
Doch es ist die Schlufsreihe des Berichterstalters schon weit ge- 
nug hinausgeruckt, und es ist nachgerade Zeit, sie mit dem Sy- 
steme unseres hochgeehrten Verfassers zu vergleichen. Lais uns 
also in gedrängter Kurze an der Hand des Vfs. die Construction 
von Person, Persönlichkeit und Personlichkeitskrankheit von vorn 
wieder anfangen und ans Ende fuhren, um das, vom Ref. Gefun- 
dene daran zu messen, und es darauf anzusehn, ob nicht mit an- 
derer Darstellungsweise das Gleiche in ihm ausgesprochen sey. 
Denn die Wahrheit im Menschenworte ist ein Diamant, der auf 
mannigfachen Facetten das Eine weifse Sonnenlicht in anmuthigem 

') Die vergleichende Psychologie, deren Entwicklung vielleicht mit 
der Zeit auch der Thierwelt , wenigsten! der höheren, eine gröTsero 
Würde, als wir noch sur Zeit ahnden, vindiciren dürfte, ist ein 
tiefea Bedürfnis der fortschreitenden humanen Bildung; denn jede 
Creatirr seufzt nach Erlösung. 



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Ritgen : Erkenntnis u. BehandL. d. rcrsönlicbkeitskrankheiten. 867 



Farbenspiele uns entgegenstrahlt, und ist in seiner höchsten Füllt 
des Schliffe« ein Brillant, mit einer ebenen Flache auf dem Gi- 
pfel w die nur weifse s Licht strahlt. 

Unser Autor geht im Geiste ächter Forschung und nach dem 
alten Grundsatze: quod nihil sit in intellectu quod non anterius 
fuerit in sensu, Ton einem Gegebenen aus. Seinen ersten Ab- 
schnitt überschreibt er: Begriff und Entstehung der Per* 
• 5nlichkeitskrankheiften, und das erste Capitel desselben: 
Von den Geisteskrankheiten. Nach den drei ersten ein. 
leitenden Paragraphen , yon welchen der letzte nur eine nähere 
Bestimmung der Geistesverrichtungen als Thätigkeiten eines In- 
dividuums ausspricht , hebt der vierte alsobsld an und redet von 
dem, was die Beobachtung lehrt Sie lehrt uns nur zweierlei 
Arten von Individuen kennen : i) Himmelskörper, a) ihre Bewoh- 
ner. Er theilt letztere Individuen nach der Beobachtung ein in 
ö) Menschen, b) Thiere, c) Pflanzen, d) Kry stalle und e) noch 
einige andere Geschöpfe *). 

Individuum ist ihm eine bestimmte, gesonderte Art — zu — 
seyn, die ihren Grund zunächst in sich selber hat, ein Selbst, 
ein Selbstgeschopf. Im Raum erscheint es als Körper, und in der 
Zeit als ruhend oder bewegt. Dieser Körper wird von ibm selbst 
gebildet. Dies Selbst ist also vor»*) seinem Korper da, und 
deshalb in einem Grade unabhängig von diesem Körper; daher 
heifst ihm jedes Individuum als Leibgestaltungskraft: Seele. Sie 
ist das eigentliche Wesen, oder die Grundkraft, aus welcher alle 
andern Kräfte hervorgehn. Ihr Substrat , das sinnlich Wahrnehm- 
bare, ist der Stoff. Diesen schafft sich die Seele nicht neu, son- 
dern nimmt ihn von den Korpern anderer Einzelwesen , von ihren 
Trümmern, wohin er Luft, Wasser, Erd wärme oder Licht (von 
himmlischen Körpern) rechnet; dieses Thun ist Ernähren; die 
Verschmelzung verschiedener Stoffe Ernährungs kraft. Auch 
die Sterne ernähren eich, entweder von zertrümmerten andern, 
oder vom allgemeinen Stoffe, den er Äther nennt, der einst, 
der Bildung aller Himmelskörper vorangehend, als Chaos zu 
denken ist ***). Sterne sind also Äthercondensate, geschaffen durch 

•) Ref. getraut sich nicht zu lagen, welche gemeint sind. 
••) Die« vor wird manchem als Zeitbestimmung beschwerlich fallen. 
Es ist indefr dem Verf. in doppelter Beziehung , als Ausdruck einer 
Zeitfolge und einer Priorität der Würde, gültig. 
***) Der Weg einer unmittelbaren, kräftigen Kataranschauung liegt in 
derselben Ebne , in welcher dereinst die Jooier gingen , d. h. die 



868 Ritgen: Erkennt ni Ii n. Behandl. d. Pertonlichkcitskrankheiten. 

Gravitationsmittelpunkte. Der regelmäfsige Bildungsproeefs ist 
Gesundheit, derjenige aber, der von der Gesetzmäßigkeit der 
Leibgestaltungskraft abweicht, Krankheit. Da nun beim* Vor- 
gange des Leibgestaltens ein Zweifaches, nämlich die gestaltende 
Kraft und der gestaltet werdende Stoff in Betracht kommen , so 
kann man das krankhafte Leibbilden in Kraftkrankheit and Stoff- 
Krankheit des Leibbildens theilen *). — Die Leibgestaltungskraft 
bezieht sich auf das ganze Individuum, ist Seele im weitesten 
Sinne, und geht bei der Zertrümmerung des Individuums nicht 
an die einzelnen Theile desselben über. Aber aus ihr hervor 
geht eine Partialkraft, Gliedkraft, welche die einzelnen Trümmer 
noch einige Zeit vor gänzlichem Zerfallen schützt. Das Bei- 
spiel vom Aste eines Baumes konnte leicht durch ein glückliche- 
res ersetzt werden. Die dritte in Betracht zu ziehende Kraft ist 
die fremde Kraft; so die der zeugenden Eltern, der Naturkräfte 
überhaupt. Unserm Autor gebührt die Ehre, jene unstatthafte 
Idee eines ewigen Kampfes mit der Aussenwelt in ihrer Einseitig- 
keit entfernt gehalten zu haben. Bei der Betrachtung der kran- 
ken Leibbildung müssen wir mithin 1) Fehler der Gesammtkraft, 
a) der Giiederkräfte, 3) der Einflüsse von aussen berücksichtigen. 
Was die StofTkrankheit betrifft: 1) den eigenen Stoff, 2) den 
aussenher gebotenen. Hier ist nur von Stoff allgemein die Bede, 
von Trümmern der Organismen und von chaotischem Äther; be- 
sondere Stoffe sind nichts als besondere Kräfte **). Es können 
Kräfte aus Einem Stoffe in einen andern übergehen, so aus der 
anschlagenden Billardkugel in die ruhende. Der Aggregations- 
zustand des Stoffes ist Folge seiner Kraft. Wohl der darin herr- 
schenden ; denn für sich ist Stoff die Negation der Kraft , Buh- 
kraft, vis inertiae. So auch die Schwere, die Gravitation. Man 
muPs die Leiden der Gesammtkraft, Seele, von dem der Glied- 
kräfte unterscheiden; ebenfalls, wie weit diese noch im Keime 
ruhend oder bereits ausgebildet da sind. Die Leibgestaltungskraft 
der Himmelskörper, Krystalle und Pflanzen kann sich auf ihre 



Grundansicht des Anaxagoras bildet den Ausgangspunkt in einer 
etwas gehobenem Stellung: die ifxoifx^tia und den veu; als Welt- 
bilder anzuschauen. 

•) Ref. hat diesen §. wörtlich hergesetzt, eben weil er ihn zum Ver- 
ständnisse des Ganzen entscheidend scheint 

••) Was durchaus an die antike Lehre von den spermatischen HomoV 
merien erinnert 



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Ki Igen I Erkcnntnif. u. Wü d. Per.ün lichkt-i Uk rankheiten . 869 

Trümmer fortpflanzen *). Es giebt auch Gesammtbildungskräfte, 
die ausser dem Vermögen des Leib- und Leibgliederbildens auch 
noch das des Bildbildens besitzen. Leib ist efer Verein vom 
Stoffe, welcher rom Einzelwesen als nächstes Äusserungsmittel sei- 
ner Art — zu — seyn zusammengefügt ist; Bild ein Verein eben 
solchen Stoffes, welcher von demselben Individuum, als weiteres 
Äusserungsmittel der Gestaltungskraft, gebraucht wird. Das Ge- 
meinsame von Leib und Bild ist Gestalt **). Gestalt ist das 
stoflige Bestehn in einer äusserlich abgeschlossenen Weise. Leib 
ist das unmittelbar-, Bild das mittelbar Gestaltete. Alle Bilder 
haben entweder Übereinstimmung mit Leibern oder mit Bildern, 
oder diese fehlt ihnen. Die ersten nenne man Übereinstimmungs- 
bilder; sie treten früher oder später als diese Leiber oder Bilder 
auf, und man nenne sie demnach entweder Vorbilder oder Nach- 
bilder. Bildträger ist der sie tragende Stoff. Äussere, wenn 
sie auf der Oberfläche erscheinen; innere, wenn sie von andern 
Theilen getragen werden. Beiderlei sind entweder äusserlich ge- 
duldete, Spiegelbilder, oder geschaffene; und diese entweder zu- 
fällig oder zweckmäfsig geschaffene. Zufällige schafft der Leib 
fSr sich allein, zwecktnafsige schafft die Seele vermittelst des 
Leibes. Die geduldeten Bilder können durch eigne Stoffzuströ- 
mungen von den äussern Leibestheilen nachgeahmt werden, und 
diese nenne man Hückwirkungsbilder. Alle aber sind entweder 
central oder periphereal. Auch giebt es Urwirkungsbilder der 
Seele***). Diese sind immer central, können sich aber periphe- 
real wiederholen. » §. a5. Das Vermögen jedes Einzelnwesens, 
Rück- und Einwirkungsbilder, kurz: bezweckte innere Bilder 
zu bilden, erlauben wir uns Geist f) zu nennen. Dieser ist 

•) Ununtersehiedenheit der Gesammtkraft — Seele — und der Partial- 
kräfte. Das Blatt der Pflanze iat wiederum in der Knospe ganze 
Pflanze; bei Thieren tritt ein anderes Verbal tnifa zwischen dem 
Ganzen und seinen Theilen ein. • 
**) Die fortschreitende Betrachtung der organischen Thätigkeit ergiebi 
diese Anschauung in Parallele mit der des Stagiritcn von /xo^<p»y , 
tlio; und 9VT»Xtygta t mit dem altern Begriffe der Ilomöomertcn , und 
dem späteren der Selbstigkeit des Eidos als Idee (Platous) , nur in 
umgekehrter Zeitfolge ihror Existenz, da sie nach Plato dem Wer- 
den vorangeht. 

*"*) Ref. weife nicht anzudeuten , wie sich der Herr Verf. diese Bilder 
mit ihren Stoffen, in Verbindung mit der Gesaniiutbildungskraft , 
der Seele , denkt. 

vow« im etwas veränderten Sinne des Aristoteles, welcher ihn auch 
tou der Seele unterscheidet. 



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Ausflufs aus der Seele.« Es giebt, wie ein krankes Leib«, so 
auch ein krankes Bildbilden. Da aber die Krankheit des Stoffes 
in beiden gleich ist , so habe man nur die Krankheit der Kraft 
zu berücksichtigen. Hier kommt das früher hier angegebene 
dreifache Verhaltnifs der Kräfte, als Gesammtkraft , Gliedkraft 
und Ein Wirkungskräfte von aussen, in Betracht. Der Begriff 
Seelenkrankheit schliefst die Gliedkräfte aus , und so unterschei- 
det der Verf. unmittelbare und mittelbare Seelenkrankheit, wobei 
nur das gesetzwidrige Wirken der Leibest heile in Betracht kommt, 
und wozu der $>'3i ein Beispiel liefert Mittelbare Geisteskrank- 
hett ist, wenn die bildbildenden Organe krankhaft tbätig sind; 
unmittelbare, wenn es die Grundkraft selber ist. Von einer kran- 
ken, unmittelbar oder mittelbar kranken, Seele sollte nur dann 
gesprochen werden, wenn von einem Kraftspiele die Rede ist, 
das sieh sowohl auf das Leib- wie auf das Bildbilden bezieht; 
also Tom krankhaften Handeln überhaupt, und daher auch vom 
krankhaften Wollen, wenn sich dies Handeln nicht ausdrücklich 
aufs Bildbilden, sondern aufs Gestalten (s. oben) bezieht Dafs 
beim Handeln, als einem Handeln mit Bewufstseyn und Abnagen 
der Gründe, stets vielfache Bildbitdungen vorkommen, ändert 
überhaupt nicht das Verhaltnifs des Handelns als eines Gestaltens, 
wefshalb denn krankhafter Wille als Seelenkrankheit, nicht als 
Geisteskrankheit (einem blos bildbildenden Vermögen der Seele 
nach unser rn Autor) bezeichnet werden mufs. 

Im zweiten Capitel führt uns der Verf. der Lehre von den 
Seelenk ran Uheiten überhaupt näher. I. Alles Wirken be- 
steht in Leib- oder Bildgestalten , also überhaupt im Gestalten. 
So wird jede Bewegung eines Gliedes nur möglich durch eine 
veränderte Gestaltung, z. B. der Muskeln, als Folge der verän- 
derten Erzeugung und Anhäufung eines Nervenfluid ums *). Eis 
wird das Verhaltnifs der äussern Bilder zu den innern angegeben, 
als das des Abbildlichen; so Sprache, Gebärde, Schrift. II. Daa 
Regulativ dieses Gestaltens ist die Seele, mittel- oder unmittel- 
bar, und zwar nach Zwecken **). Es existirt eine Zweckmäfsig- 



*) Wir kommen zur antiken Lehre Tom mijfAa , wie sie zuerst vom 
Apolloniaten Diogenes eingeführt und später von den Stoikern ent- 
wickelt worden ist 

"*) Die teleologische Anschauungsweise ist ein Correlat aller u poste- 
riorischen Naturlehre, und hat nur in der ä priorischen ihre Stelle 
verloren. 



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BiUr cn i Erkenntnift u. öehandl. d. Perioiilichkeitskranklieitcn. 871 



keit oder Individualitätseeraäfsheit Jedes Handeln ist nrsnrunff- 
lieh zweckmäTsig [jedes organische Thun]. III. Es gibt eine Ver- 
schiedenheit der* Zwecke in Beziehung auf das Höhere und Nie- 
dere sowohl der Sammlung von Individuen, als auch dieser In- 
dividuen für sich *). IV. Die Erfüllung des Zweckes ist die Be- 
dingung zur Möglichkeit der Existenz. Die Zweckerfullung zer- 
legt der Autor in drei Momente : a) das Bedürfnifs , gleich dem 
Zweckgebote, b) die Zweckerfassung und c) Zweckauafubrung. 
y, und dies Zusammen (a, b, c) erfolgt mit oder ohne Wahr- 
nehmung des Individuums. Leben, Lebensform, Lebens vertauf 
(a , b , c). Auf höherer Stufe ohne Buckschritt, der auf niederer 
möglich ist [daher die E- und Involution]. Daraus folgt, dafs, 
nach menschlicher +*) Ausdrucksweise, der Bildkraft im Gedränge 
anderer Wesen ein bestimmtes Maafs von Kraft vom Schopfer 
mitgegeben sey. Der Schein des Bcrechnens nimmt dann den 
Schein der Vorhersieht an [eine Art heidnischer w^övoia oder die 
tfi xaioci v vr t der (p »a** , nach Galen]. VI. Mit Wahrnehmung ver- 
bundene Zweckerfullung , ohne , oder mit Bewufstseyn , d. i. die 
Wahrnehmung selbst wird wahrgenommen, oder nicht [Beilection?] ; 
die Wahrnehmung in zweiter Potenz ist Bewufstseyn, das sich 
beim Menschen noch weiter potenzirt VII« Auf Wahrnehmung 
beruhende Zweckerfullung ist die Stufe, die das Thier, mit Sin- 
nen und Willkühr, vor dem Pflanzenthome au zeichnet. Von 
Berechnung ist in dieser Sphäre nichts als der Schein derselben 
vorhanden ***). VIII. Auf Berechnung beruhende Zweckerfullung 
ist die Stufe des Menschen; nicht allein ein Bildbilden, sondern 
ein Zusammenfassen derselben zu AMgemeiobiidern findet hier 
statt, mit Einem Wort: Begriffe, Urt heile und Schlüsse; das 
höhere Thier handelt noch unmittelbar; der Mensch nach vermit- 
telter Kraft, das ist der Nus, die Vernunft in concreto. Daher 
sind die Voraussetzungen, als gäbe es angeborene Ideen des Hechts, 
des Guten und Schonen, unstatthaft. IX. Unterschied des blos 
augenblicklich und des durchlaufend Zweckmäfsigen. Da dieser 
Punkt einen Übergang zur eigentlichen Pathologie bildet, so 



•) Des Bienenkorbes, wie der Biene, all Einseinen. 
*\) Sollte dies sich nicht besser umkehren laiscn, so dafs man dieser 
Ansicht, der teleologischen, den Charakter antropomorphislisch 
versagt und ihn dafür der NothweudigkeiUlehre philo.ophi«cher 
Dogniatik vindicirt? Wer beides vermischt, fällt bald hier bald 
dort aus der Rollo und in lobenswerthe Inconsequeus. 
— ) Vielleicht lehrt hier eine vergleichende Ethik ein Mehres. 



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872 Rügen : Erkenntnis u. Bchandl. der 



werde er besonders hervorgehoben: die Lebensgestaltung besteht 
aus einer Reihe von Augenblicken ; soll sie zweckmaTsig seyn , so 
darf in keinem der einzelnen Augenblicke etwas* liegen, das mit 
der ganzen Reihe nicht harmonirt. Auf je niedrigerer Stufe der 
Organismus steht, desto weniger findet sich eine solche Dishar- 
monie, weil eben hier noch der Schöpfer die Sorge der Berech* 
nang [fast?] allein ubernimmt. Die Wahlfähigst aber bedingt 
nothwendig eine Möglichkeit jenes Widerspruchs (einzelner Mo. 
mente gegen die Gesamratreihe). Der Nachtheil wird durch den 
grofsern Vorth eil [Wurde genannt] aufgehoben. Bei einem wahl- 
fähigen Geschöpfe wirken also zwei Gestaltungsprincipe: a) das 
unfreie, b) das freie, als Gestaltung des Schöpfers, als eine 
Gabe *). X. Wie kommt der Widerspruch zwischen jenen zwei 
Principen zu Stande? A. Der Mensch hat einen Dräng zu han- 
deln: a) nach einem unbestimmten Thätigkeitstriebe, b) nach einer 
bestimmten Thätigkeitsari , c) zum Suchen der Mittel, d) sie an- 
zuwenden und damit seinen Trieb zu befriedigen, e) alles Ent- 
gegenstrebende zu besiegen, also zu kämpfen und Ruhe zu ge- 
winnen, wie auch eine Kraftzunahme zu erwerben, was der Vf. 
in 12 Punkte zerlegt hat. Im folgenden (47.) §. bezeichnet er 
als Folge der Wahrnehmung des Gelingens und der Kraftzunahme 
das Angenehme überhaupt. Da das Wesen der Seele in einer 
bedingten [beschränkten] Machtvollkommenheit besteht und un- 
bedingte Vollkommenheit der Grundquell ihrer Wesenheit ist: 
so kann auch das Angenehme als die Anschauung des Vollkom- 
menen bezeichnet werden, die darin besteht, dafs die Anschauung 
im bilde gestaltet werde. Bedingt vollkommenes Handeln ist da- 
her Zweck der Person, und ist im Angenehmen Zweck und Mo- 
tir**) des Daseyns. Nun hat auch das Angenehme eben die zwei- 
fache Eintheilung wie das Zweckmäßige, nämlich des augenblick- 



°) In ihm iat vollendet, was wir mit dem Wort Person bezeichnen 
(S. 0) , und hier treffen die einleitenden Voraussetzungen mit des 
Verfs. Lehre wieder zusammen. Der Znsatz im Texte zur Hczcich- 
nung Gabe „somit als unfrei zu betrachten ", gleicht einer Hy- 
perkritik der Freihcitslehre, einem pourquoi du pourquoi. 

'*) Es wird hier einer Lehre vom Eudämonismus gehuldigt, die eben- 
sosehr vom Pflichtgebote Kants als 1011 der Lustlchre seit Epikur 
bis auf die Dcontologie Benthams abweicht. Wer die verschiede- 
nen Moralsysteme bis anf Kant einfach dargestellt lesen will , der 
nehme Garvu'n Übersetzung von dem Buche der Pflichten drs Ari- 
stoteles zur Hand. 



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Rügen : Erkenntnis u. Behandl. d. Pertönlicbkeittkrankneiten. 873 



liehen und des durchlaufenden [perpetuirlichen] j hiermit aber ist 
schon die Frage : » Wie kommt es zum Widerspruche unter dem 
durchlaufend Zweckmäfsigen und dem augenblicklich Zweckmässi- 
gen ? « (§. 49) sJs© die Dedaction der Persönlichkeitskrankheit 
gelost und beantwortet. Es ist » der Widerspruch des äugen- 
• blicklich gegen das durchlaufend Zweckmässige selbst.« — Ref. 
mufs hier besonders darum bitten , dafs die Bestimmung des Worts 
Person an dieser Stelle festgehalten werde, damit nicht das 
Yollkommenheitsprincip in die tiefe Luftschichte des organisch 
Vollendeten, dem höchsten Standpunkte des philosophirenden Ver- 
standes bis auf Aristoteles — die Stoa ausgenommen — herab- 
sinke. Auch giebt sich unser geistvolle Autor alle erdenkliche 
Muhe, seine »Vollkommenheit« und das daraus sich ergebende 
Gefühl des »Angenehmen« vor dieser Ablenkung und Erniedri- 
gung zu sichern. Gefahrlich bleibt diese Stelle immer! (§. 52. 
53. 54 ) Im letzteren §. wendet sich nun seine Denkweise ganz 
und gar dem Principe der Heiligung , dem Offenbarungsprincipe 
zu, nur mit der naturgemäfsen , also im Sinken begriflenen , Er- 
klärung der Einerleiheit desselben mit dem durchlaufenden Zweck- 
mäfsigkeitsprineipe , das dem einer organischen Zweckmäfsigkeit 
gleicht , und höchstens in dem Glauben an einen freithä'tigen 
Schöpfungsaht Gottes sich wiederum vom Platonischen und über- 
haupt philosophischen Zweckmäfsigkeitsorganismus ablöst und los- 
sagt. Ist nun einmal eine Doppelnatur und eine Wahlfähigkeit 
gegeben; ist Freiheit, sowohl im Sinne der Natürlichkeit, nämlich 
Zweckmäfsigkeit, als auch im Sinne des ethischen Principes, d. i. 
die, durch welche das nöthigende der ersteren Zweckmäfsigkeit 
aufgehoben wird , also moralische Selbstbestimmung , als Factum, 
vorhanden; so ist auch die Möglichkeit eines momentan Ange- 
nehmen , der Wahl des augenblicklich Zweckmäfsigen zum Nach- 
theil des durchlaufend Zweckmäfsigen, das sich in der Person 
zum Sittengesetz verklärt hat, also Persönlichkeitskrankheit zu- 
gleich als Möglichkeit mit vorhanden. Die Lehre, wie jener Dop- 
pelwille im Menschen zur Vereinigung zu bringen sey, geben uns 
die §§. 60 — 70, auf welche wir späterhin zurückkommen wer- 
den , wenn über die Ausführung dieses Grundrisses berichtet wer- 
den wird, wo dann auch die dreizehnte Frage: Was ist der 
Wille? ihre besondere Beachtung finden mag. 

Nach dieser vorläufigen Erörterung über den eigentümlichen 
Gedankengang eines in selbstständiger Gedankcnkraffc sich bewe- 
genden trefflichen Gelehrten sey es gestattet, an einige sich an- 



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-> 



schliefsende Momente einer langstvergangenen Epoche and ihrer 
Denkweise zu mahnen. Schon Zamolxis soll die Fehler des 
Leibes^ als Ton der Seele ausgehend dargestellt haben : nawxa 
7*Pp *fl> ^»Xn« «ffiijoSflu, xal %ä nana nal %ä dyaSa 

awuau xal nävxi tw ävSouSny. Er hat sieh indefs wohl 
die ganze Psyche etwas derberer Natur gedacht, als Spatere, be. 
sonders Stahl; und wenn jener lehrte, dafs man jene zuerst 
heilen müsse, so war sein Sepanevuv wohl ein andres als Hei- 
lung dnrch »jene Heiligung«, die ihm noch nicht offenbart war 
Steigen wir bis auf die neueste Zeit herab , so finden wir den 
betrübten Zwiespalt zwischen den zwei Grundlehren der Philo- 
sophie, dem Idealismus und Materialismus, und manche unange- 
messene Versohnungsversucbc zwischen diesem Feuer und Wae* 
ser des Gedankens , welche jedoch nur durch ein über beiden 
stehendes höchstes Princip zu dauerndem und wahren Frieden 
in ihre Nichtigkeit versinken werden. - 

Steinheim. 



Jacobi und die Philosophie »einer Zeit. Ksn Versuch , doe wissenschaftliche 
Fundament der Philosophie historisch zu erörtern, t'on Dr. Kuhn, 
Prof. der Theologie su Gießen (jetzt in Tübingen). Mains, bei Ku- 
pferberg. 1834. 

Die Philosophie Jacobi's hat in unserer Zeit ein besonderes 
Interesse, und zwar sowohl ihre kritische als positive Seite. In 
ersterer Hinsicht hat sie die Gebrechen mancher philosophischen 
Systeme , welche jetzt noch die Grundlage der gegenwärtig herr- 
schenden Philosophie sind, mit vielem Geiste, Scharfsinne und 
Divination aufgedeckt und ans Licht gestellt. Man darf hier nur 
an Kant, Fichte und Spinoza erinnern. In letzter Hinsicht 
hat sie wahrhaft prophetische Blicke in die Zukunft gethan und 
diese in vieler Hinsicht antieipirt. 

Der Grundcharakter der neuern Philosophie ist der logi- 
sche; die logische subjektive und objektive Vernunft ist für das 
Wesen, die Idee des Geistes genommen, und zum Absoluten ge- 
' macht worden. Dagegen ist nun die Polemik Jacobi's fort und 
fort gerichtet. Es beweist mehr als Scharfsinn , sondern vielmehr 
Divination des Geistes, wenn Jaeobi das Grundgebreeben der blos 
logischen Philosophie darin findet, dafs ihre Substanz des Geistes 
die Natur sey, die im logischen Begriff nur ideal geworden und 
die logische Vernunft nur die ideelle Naturnotwendigkeit des 



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Jacobi o. die Philosophie •. Zeit, von Kuhn. 



Geistes ist. Diese Einsicht, welche jetzt die Philosophie durch 
eine longe Vermittlang selbst erlangt und einen Wendepunkt her- 
beige fuhrt hat, der zu den bedeutendsten in der Geschichte der 
Philosophie gehört, hat Jacobi in einer Zeit ausgesprochen, die 
ihn in dieser Beziehung nicht verstanden hat, weil sie noch nicht 
zum Selbstbewufstseyn über ihren Irrthum gekommen war. Er 
datirt diesen Irrthum von Aristoteles her, der die ursprüngliche, 
unmittelbare Erkenntnifs (die Idee), das Urbild, dem Abbild (Be- 
griff) untergeordnet habe. 

Wae nun die positive Seile seiner Philosophie betrifft, so 
hat er eben so divinatorisch eine Philosophie verkündet, die sich 
im Gegensatze zu dem logischen Vernunftsysteuie die positive 

Wenn Jacobi freilich aller speculativen Philosophie den Rucken 
zukehrt, und weder Krücken noch Flügel hat, und sich durch 
einen salto mortale aus der Noth hilft, wenn er in seiner spätem 
Zeit selbst in den gemeinen Rationalismus fällt; so bat er nur 
hiermit den Tribut seiner Zeit bezahlt. Aber er hat auch ihre 
ganze Noth und Verzweiflung in sich empfunden, wie Wenige. 
Es ist wahrhaft herzzerreißend , wie er seine philosophische Noth 
end Verzweiflung seinen Freunden Herder und Hamann klagt, 
und wie ihn »der Mensch mit ganzem Jammer erfafst, und es 
ihm schier das Hers verbrennen will , dafs wir die Wahrheit 
nicht wissen können. « v Ich habe mich , sagt er , bis zur Ver- 
zweiflung versucht, die Erscheinungen zu entkleiden und das an 
sich Wirkliche zu betrachten und jedesmal nur ein neues Räth- 
sel, das Räthsel meiner unheilbaren Unwissenheit dabei zuletzt 
erbeutst. Konnte der Mensch seine Ansprüche an wirkliches Da- 
seyn , an Freiheit und Erkenntnifs fahren lassen , längst hätte ich 
die meinigen über allen den hart abschlägigen Antworten, die 
mir von der Natur , von der Geschichte , von meiner Vernunft 
Zu Theil wurden , aufgegeben. Liebt ist in meinem Herzen ; so 
wie ich es in den Verstand bringen will, erlischt es. O! dafs 
mein Aug einfältig wäre, damit Licht in meine Finsternifs dränge 
und sie erleuchte. Ein reines Herz, ein gewisser Geist, — Gott 
weifs es , wie ich darum mit ihm ringe. Der Eingang ins Aller. 
heiligste ist im Menschen selbst oder nirgends. Ich liege vor der 
Decke dieses AI ler hei linsten mit dem Angesichte zur Erde, ahnde 
und hoffe.« 

Die Philosophie Jacobi's beweist mehr als andere, dafs es 
eine Erkenntnifs der Wahrheit für den menschlichen Geist geben 



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876 Jacobi u. die Philosophie e. Zeit, Von Kuhn. 

muff. Denn sie offenbart die Verzweiflung, in welcher der 
menschliche Geist sich befindet, wenn es für ihn nar ein Nicht, 
wissen der Wahrheit giebt. Jacobi verkündet den tiefsten Schmers- 
ruf der Menschheit auf einer ihrer Entwicklungsstufen, wo es ihr 
zweifelhalt wurde , ob es eine Erkenntnifs der Wahrheit gebe. 
Aber so sehr ihn die Philosophie rathlos läfst, so weifs er doch 
keinen andern Rath, als nur immer eifriger fortzuphilosopbiren. 
• In die Klagen über die Unzulänglichkeit alles unseres Philoso- 
phil ens stimme ich leider von ganzem Herzen ein, weifs aber 
doch keinen andern Rath , als nur immer eifriger fortzuphiloso- 
pbiren. Dies oder katholisch werden: es giebt kein Drittes. c 

Der scharfsinnige Verfasser der vorliegenden Schrift stellt 
vor Allem die wesentlichen Momente der Speculation dar, welche 
der Darstellung und Beurtheilung der Jacobi'schen Philosophie 
zu Grunde liegen. Nachdem die Philosophie Piatons und Aristo* 
teles commentirt und im Mittelalter den scholastisch. christlichen 
Lehrbegriff zu begründen gesucht hat, sagt der Verf., geht sie 
in sich selbst zurück und construirte sich nach ihren zwei Grund- 
richtungen der Wissenschaftslehre und Metaphysik S. ia. 
Die Metaphysik vollendet die übrigen philosophischen Wissen- 
schaften, sie hat die Erscheinungen, Veränderung, Gesetze des 
Daseyenden auf ihre Ursachen und Grunde zurückzuführen , also 
das Erste und Letzte in allem Bestimmbaren darzulegen. Die 
Wissenschaftslehre ist die Seele aller Wissenschaften und daher 
keine besondere Disciplin , als vielmehr die nothwendige Voraus- 
setzung aller besondern Wissenschaften. Sie ist die Lehre vom 
ßewufstseyn überhaupt, sofern es die Quelle alles Wissens und 
Erkennens ist Sie stellt den Umfang, Inhalt, Zusammenbang 
und die Grenzen des menschlichen Bewufstseyns dar, aber nicht 
insofern man es blos formal und von allen Objekten abgesehen 
betrachtet, so wenig als in Bezug auf ein bestimmtes Objekt, 
sondern in Bezug auf das Objekt überhaupt Ihre Hauptartikel 
sind: i) die Wahrnehmung und zwar die sinnliche und übersinn- 
liche = Grundbewufstseyn ; 2) a. Vorstellung, b. Begriff, c. Sy- 
stem = abgeleitetes ßewufstseyn. Die Wissenschaftslehre stellt 
das in der Reflexion oder dem secundären ßewufstseyn sich ab. 
spiegelnde Grundbewufstseyn objektiv bin und entwickelt daraus 
den Ursprung, Wahrheit, Gewifsheit und Gränze der Erkenntnifs 
S. 19.31. Die philosophischen Systeme der neuern und neuesten 
Zeit , Spinoza , Sendling zum Theil j Jacobi ganz ausgenommen , 
nahmen an, dafs unsere Erkenntnifs schlechthin durch Vorstellung 



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■ 



Jarohi u. die Philosophie i. Zeit, von Kuhn. 877 

vermittelt sey. Dieses ist das Einzige, was sich aus der Wissen- . 
schaftslehre dieser Zeit erkennen läfst. Ktnt erklärt ausdrücklich 
die Objekte für blofse Verteilungen , und Fichte vollendet es. 
Auch Spinoza und Scbelling lassen alles Erkennen aus lauter Vor- 
stellungen besteben, nur dafs sie nur Vernunftvorstellungen zu- 
geben, deren reale Beziehung in dem Begriffe zu suchen ist; 
der einzige Unterschied ist, dafs diese ihren philosophischen Pro- 
cefs von oben, jene von unten beginnen. 

Was aber die Vorstellung erklären soll, kann nicht wieder 
eine Vorstellung seyn; denn sie ist ein Bedingtes, dessen Bedin- 
gung man eben finden will. Die blofse Vorstellung, als nichts 
Wirkliches, weist daher auf dieses bin als Grund jener. Der 
Grund der Vorstellung ist nothwendig ein Bewufstseyn, weil wir 
darüber nicht hinausgehen können. Das Grundbewufstseyn ist 
daher ein solches, in dem Wissen und Seyn schlechthin eins, mit- 
hin kein Unterschied zwischen Vorgestelltem, Vorstellenden und 
Vorstellung. Das Beale selber , das an die Stelle des blos Vor- 
gestellten tritt, das Ich und die unerklärliche Verschmolzt uh ei t 
beider ist hier im Grundbewufstseyn das Eins und Alles. Diese 
Einheit druckt das Wort »Bewufstseyn« aus, welches ein Wis- 
sen und Seyn vermittelt durch die Activität des Ich oder des 
Wissenden. Diese Einheit ist aber keine Wesenseinheit, sie will 
nur ausdrucken , dafs jene Trennung zwischen Objectiven und 
Subjectiven dort gar nicht vorkommt, sondern erst mit dem re- 
fiectiven Bewufstseyn, mit der Vorstellung eintritt, d. b. wir un- 
terscheiden Objektives und Subjektives nicht primitiv, sondern 
secundär, sofern wir reilectiren oder vorstellen. Dafs aber im 
primitiven Bewufstseyn Vorstellung, Vorstellendes und Vorgestell- 
tes zusammenfallen, geht am besten aus dem Selbstbewufstseyn 
d. h. aus dem Wissen um das Seyn seiner selbst hervor , wo die 
Vorstellung — Ich , das Vorgestellte — Ich und das Vorstellende 
— Ich ist , ohne dafs darum das Ich nichts andres wäre, als eben 
dieser Akt des Grundbewufstseyns. Dasselbe gilt von dem mehr 
bestimmten Grundbewufstseyn der Dinge ausser uns. Auch diese 
sind in ihm mit dem Wissenden eins, ohne es selber oder ihm 
gleich zu seyn; woraus hervorgeht, dafs im Grundbewufstseyn 
nur die gleiche Gewifsheit des Ich und Nicht -Ich des Wissens 
und Seyns gegeben ist, ohne eine Wesenseinheit oder Unzertrenn- 
keit anzuzeigen. Das Grundbewufstseyn erscheint in dem abge- 
leiteten in einem unendlichen Gegensatze des Subjektiven und 
Objektiven. Den dunklen Grund des Grundbewufstseyns und die 



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618 Jacobi u die Philosophie .. Zeit, von Kuh.. 

in ihm schlummernden zwei groben Welten kann niemand erklä- 
ren ; er ist in letzter Instanz ein Geheim nifs , der geheime Kunst, 
griff des Schöpfers S. 23 — 3 9 . 

Der Vf. hat hier mit grofser Klarheit und Bestimmtheit den 
Cardinalpunkt hervorgehoben, von dem aas die neuere Philoso* 
phie in ihrem Gegensatze zu Jacobi betrachtet werden mufs. Jene 
hat den Geist nur nach den Naturverhältnissen aufgefafst 
und bestimmt, und so die logische Vernunft für das Wesen des 
Geistes gehalten. Sie hat damit das Pries, das wirklich Sey ende 
nicht als den Grund des Denkens und Erkennens, und den Be- 
griff, die allgemeine abstracto Form des wirklich Seyenden, als 
das Posterius verkehrt, und so das Primitive mit dem Secundä- 
ren verwechselt. Das reine, abstracte Denken ohne ein Denken- 
des hat sie zum Princip gemacht Der Verf. zeigt nun, wie dio 
Erkeontnifs ohne Grundbewufstseyn wesenlos ist und zum Mate* 
rialtsmus fuhrt. Jacobi hatte dieses schon auf das bestimmteste 
erkannt , und bierin bat He f. eine Seite seiner grofsen Bedeutung 
auch noch für die Gegenwart erkannt. Das Grundbewufstseyn ist 
die Idee des Geistes, deren abstracte Form der Begriff ist. Sie 
geht in der Wirklichkeit nie auf, sondern ist die über weltliche 
Macht in der Welt. Könnte sich der menschliche Geist über sie 
absolut erheben, so wGrde er Herr seines Grundes werden. Die- 
ses hst die neuere Philosophie wirklich auch angestrebt. Indem 
sie nun die Idee zur Vorstellung und zum Angriff degradirt bat, 
ist ihr diese Verabsolutirung der menschlichen Vernunft gelungen. 

Der Verf. fahrt fort: Man hat nun das abgeleitete Bewufst- 
seyn von der blos psychologischen statt philosophischen Seite auf- 
gefafst oder man hat für das Grundbewufstseyn einen transcen- 
denten Standpunkt genommen. Das Psychologische ist das Ver- 
änderliche, die Erscheinung, das Philosophische das Constaute, 
das Wesen in unserer Erhenntnifs. Der ganze Streit in der Phi- 
losophie besteht darin, ob man in der Gesammtäusserung der 
menschlichen Seele bloe ein Veränderliches (Empirismus) oder 
blos ein Unveränderliches (die angebomen Ideen, Aphorismus) 
oder beides zugleich , und wie man sich in letzterm Falle das 
Beisammenseyn des Veränderlichen und Unveränderlichen denke. 
Dieses kann man auch das Unmittelbare , jenes das Mittelbare oder 
Bedingte nennen. Hier erklärt sich der Verf. gegen Jacobi s ab- 
solute Trennung beider Erkenntnifsweisen ; denn das Unveränder- 
liche bestehe ja nicht schlechtbin för sich , sondern an dem Ver- 
änderlichen und die Nachweif ung desselben an diesem sey zwar 



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Jacobi u. die Philosophie •. Seit, von Kuhn. 879 

nur durch einen salto, also gleichfalls unmittelbar möglich, aber 
darum noch nicht durch einen salto aus dem Leeren, sondern 
Gegebenen. Darin setzt der Verf. das Wesen der Specnlation 
gegenüber der Demonstration: aus einem gegebenen Mittelbaren 
nicht in ununterbrochener Schlufsreihe , also auf mittelbare Weise, 
sondern in einer freiem , aber gleichfalls bestimmten Weise zum 
Unmittelbaren zu gelangen. Wir begreifen ans der bis ins Un- 
endliche entwickelten Reihe das wahre Wesen der Einheit nicht 
durch ununterbrochenes, an ihren Gliedern fortgesetztes discur- 
sives Denken, sondern zuletzt durch einen unmittelbaren, ruck. 
sichtlich des demonstrativen Erkennens einen salto einschliefsen- 
den Erkenntnifsakt. Das Bewufstseyn erfafst sich zuerst und not- 
wendig auf dem Standpunkt der Erfahrung, d. h. des mittelbaren 
Denkens und Erkennens. Von da aus ist nach allen Seiten hin 
ein unendlicher Progrefs bis zu den Grenzen des menschlichen 
Bewufstseyns eröffnet. Das Fortscbreiten geschieht im Mittelba- 
ren durch Demonstration , d. b. durch Auffindung von Bedingun- 
gen und bedingter Wechselweise. Die Art, in welcher das Be- 
dingte mit dem Unbedingten im menschlichen Bewufstseyn sich 
einigt und trennt, geschieht durch Vollendung und Ergänzung 
der Erfahrung. Durch diese Verbindung des Unmittelbaren mit 
dem Mittelbaren ist das Bewufstseyn erst abgeschlossen, in sich, 
▼ollendet und total. S. 4a — 5o. 

Nach dieser Darstellung erklärt der Verf., dafs die neuere 
und neueste Philosophie die Aufgabe der Wissenschaftslehre, dss 
wahre Verha'ltnifs des Grund bewufstseyns zu dem abgeleiteten zu 
bestimmen, nicht zu I5sen vermocht habe. Sonach habe sich 
auch die Metaphysik dieser Grundlage gemäfs gestaltet, auf ver- 
schiedene Weise zwar, aber immer nicht befriedigend. 

Hierin mufs ich dem Verf. allerdings beistimmen. Wahr ist 
es 1) dafs die ganze neuere Philosophie nur die Vorhalle zum 
Eintritt ins Allerheiligste , wie Leibnitz die Philosophie des Car- 
tesius nennt , d. h. die subjektive Begründung der Metaphysik als 
der eigentlichen oder positiven Wissenschalt ist. Sie ist Theorie 
oder Dialektik des Selbstbewufstseyns. 2) dafs die Metaphysik 
jedesmal bedingt ist von dieser negativen oder regressiven d. h. 
zum Grunde aufsteigenden Dialektik des Selbstbewufstseyns ; die- 
ses Kann bis ins Einzelste nachgewiesen werden. Dafs es daher 
auch 3) so lange kein objektives, die Ordnung der Dinge her- 
stellendes System der Philosophie giebt , bis die wahre YVissen- 
schaftslehre gefunden d. b. bis die Selbsterkenntnifs des roenseb- 



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880 Jacobi n. die Philosophie t, Zeit, von Kahn. 

liehen Geistes in seinem Aufsteigen zu seinem Grunde sich voll- 
endet hat. Denn nur dann können Selbstbewufstseyn und Erfah- 
rung oder Philosophie und Wirklichkeit in Einheit treten. Diese» 
ist aber nun durch die Geschichte der neuem Philosophie bis 
jetzt wirklich vollbracht worden. Die Selbsterkenntnifs in diesem 
Sinne hat sich nun durch die neuere Philosophie in allen ihren 
Momenten vollendet und hat die Metaphysik wirklich begründet. 
Hierauf mufs Ref. indefs später zurückkommen , wenn er das Re- 
sultat des Verfs. , welches er aus der Betrachtung der neuern 
Philosophie zieht, betrachtet 

Der Verf. geht nun zur Darstellung der Philosophie Jacobi'* 
im Verhältnifs zur Philosophie des Gartesius, Spinoza und zum 
Leibnitz- Wolfischen System über, dann folgt die innere Geschichte 
der Jacobi'schen Philosophie. In der Schlufsbetrachtung hebt der 
Vf. das ewige Moment und fortdauernde Verdienst dieser Philo- 
sophie hervor , welches darin besteht , dafs sie das Problem der 
Philosophie oder der Metaphysik von seiner materiellen Seite rich- 
tig gelöst habe, auf die formelle Auflösung dieses Problems müsse 
sie dagegen verzichten und habe es immer gethan. S. 377. 

Der zweite Theil der vorliegenden Schrift enthält die Be- 
urtheilung der Jacobi'schen Philosophie und eine. Kritik der 
Systeme Kants, Fichte's und Sendlings in Beziehung auf die Ja- 
cobi'sche Philosophie. Hier stellt der Verf. die Frage: welche 
Fortschritte hat die Philosophie in formaler und materialer Be- 
ziehung durch diese Männer gemacht ? Diese Frage bestimmt sich 
nun aber zu der: In wieweit ist die Philosophie überhaupt ihrem 
mehr als zweitausendjahrigen Vorhaben, Wissenschaft zu werden, 
durch die neueste Epoche der Geschichte der Philosophie näher 
gekommen ? Die Antwort wird in Bezug auf die zwei Cardinal- 
wissenschaften : die Wissenschaftslehre und Metaphysik, gegeben. 
Da die erstere noch gar nicht wahrhaft existire, so könne auch 
bis jetzt keine Bede von ihrer Anwendung auf das Objekt der 
Metaphysik seyn. » Die Philosophie steht überhaupt noch in ihren 
Vorhallen, und wie sich ein Franzose richtig ausgedruckt hat, 
ging die ganze neueste Philosophie besonders darauf aus, die 
grofse Vorrede zur Philosophie als Wissenschaft zu schreiben, 
ohne dafs es zum Buche selbst gekommen wäre.« 

(Der Begchlufs folgt.) 



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N°.56. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

Jacobi tmd die Philosophie seiner Zeil, von Kuhn. 

■ 

(Be$chluf$.) 

Hiermit hat der scharfsinnige Verf. über die Aufgabe der 
Philosophie überhaupt und deren bisherige Lösung trcfllich seine 
Ansicht ausgesprochen, und hier ist denn auch der Standpunkt, 
wo sich Ref. über die Schrift aussprechen kann. 

Vollkommen einverstanden mit dem Verfasser ist Ref. darin, 
i) dafs die ganze Philosophie sich nur um die zwei Grundwissen- 
schaften, die Wissenschaftslehre und Metaphysik, bewegt; 2) dafs 
die Geschichte der neuern Philosophie die Wissenschaftslehre zur 
Vollendung zu bringen und durch sie die Metaphysik zu begrün- 
den bemüht ist; 3) dafs sie in den vom Verf. angegebenen Sy- 
stemen der neuern Philosophie nicht zu Ende mit der Wissen- 
scbaftslehre, oder von der grofsen Vorrede noch nicht zum Ru- 
che selbst gekommen ist ; 4) dafs es sich um die Einheit und Ver- 
mittlung des unmittelbaren mit dem mittelbaren Wissen in der 
Wissenschaftslehre handelt , und dafs nur mit dieser Vermittlung 
die Metaphysik begründet ist. Diese Vermittlung ist die Versöh- 
nung der Vernunft mit der Erfahrung, wodurch allein ein ob- 
jektives, die Wirklichkeit in ihrer wahren Ordnung und Methode 
wiedererzeugendes W T issen oder eine Metaphysik der Natur im 
allgemeinem und höhern Sinne, d. h. der ewigen Wesenheiten 
und der Sitten, in der jene Natur freie That der Menschheit 
wird, möglich ist; 5) dafs die neuere Philosophie nach dieser 
doppelten Seite des Rationalismus und Empirismus, oder wie es 
der Verf. nennt, des Apriorismus oder Transcendentalismus und 
Dogmatismus zu beurtheilen ist. Ref. hat aber durch Darstellung 
der Geschichte der neuern Philosophie dargethan*), dafs diese 
die Wissenschaftslehre oder Dialektik des Selbstbewufstseyns voll- 
endet and die Metaphysik begründet hat. Die Geschichte der 
■■■ • 

') In seiner eben erschienenen Schrift : Über das Wesen und die Be- 
deutung der speculativen Philosophie und Theologie in gegenwär- 
tiger Zeit« mit besonderer Rucksicht unf die Religionsphilosnphic. 
Spezielle Einleitung in die Philosophie und apeculative Theologie. 
Heidelberg, bei Mohr 1837. 
XXX. Jahrg. ö. Heft. 56 



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882 



Jttcobi n. die Philosophie •. Zeit, von Kahn. 



neuern Philosophie ist fast durchweg logischer Natur. Die sub- 
jektive und objective Vernunft hat sieb zum Wesen des Geistes 
gemacht und terabsolutirt. Das Wesen der Freiheit ist ganz in 
der blinden oder Naturnotwendigkeit aufgegangen; der Unter- 
schied beider ist nur ein formeller; die praktische Vernunft ist 
nur die Objektivirung der theoretischen, deren Substanz eben 
jene Natur notbwendigkeit ist. Wille, Freiheit, That ist 
hier ganz ausgeschlossen ; es ist überall nur die blinde Folge eines 
logischen Mechanismus. Diesem logischen Rationalismus trat 
der Empirismus in verschiedener Form entgegen, bis dieser Ge- 
gensatz seinen Kulminationspunkt erreicht und damit zur Versöh- 
nung geführt hat Damit ist das objektive System der Philosophie 
begründet, welches die Wirklichkeit in ihrer wahren', Ursprung, 
lieben Ordnung herstellt. 

Mit grofser Klarheit und eindringender Bestimmtheit zeigt der 
Verf., dafs das mittelbare und unmittelbare Wissen Factoren des 
Bewufstseyns seyen , und dafs die Wissenschaftslehre die Aufgabe 
habe, die Einheit beider herzustellen. Der Transcendentalismus, 
welcher von den Systemen Kants, Fichte« und Sendlings, und 
der Dogmatismus des unmittelbaren Wissens, welcher von Jacobi 
vertreten werde , hätten , was an dem Bewufstseyn nur Moment 
ist, verkannt und als Elemente aufgefafst, jener dadurch, dafs er 
den Begriff für das einzige, ursprüngliche und wesentliche Ele- 
ment alles wahren Wissens darstelle, dieser dadurch, dafs er die 
Idee dafür erkläre. Die Wahrheit beider Systeme sey, dafs mau 
beide Elemente als Momente des Bewufstseyns erfasse. »Es liegt, 
heilst es S. 4*4, in dem Wesen der Idee, dafs sie unmittelbares 
Wissen oder Anschauung und als solche dem Reflexionswissen 
entgegengesetzt ist. Aber die Reflexion und das mittelbare Wis- 
sen sind der eigentliche Boden der Wissenschaft. Indem man also 
die Idee als das einzige und ursprüngliche Element der Wahr- 
heit betrachtet, geht die Gewifsheit, die Allgemeinheit und Not- 
wendigkeit des Wissens oder Wissenschaft verloren. In dem 
Wesen des Begriffs liegt es, dafs er Vorstellung oder mittel- 
bares Wissen ist. « Es wird ferner gezeigt , dafs das ausschließ- 
liche Festhalten an dem letzten zum Nihilismus führe , weil dem 
Erkennen die Objektivität und Wahrheit fehle. Das absolute 
Gleichgewicht beider Momente könne der individuelle Geist, der 
doch bei jeder Wissenschaft in Betracht komme, nicht erreichen. 

Hier mufs nun dem Vf. eingewandt werden , dafs die blofse 
Begriffserkenntoifs nur in dem Sinne Nihilismus genannt weiden 

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I — * 



Jaoobi u . die Philosoph ic t. Zelt , von Kahn. 883 

könne, als sie keinen positiven Inhalt, nicht aber inwiefern 
sie einen negativen oder rein formellen Inhalt hat. Der Geist 
hat einen positiven Und negativen Inhalt: der erstere ist die Idee, 
der letztere der reine Begriff oder die reine Vernunft. Die neuere 
Philosophie hat allerdings m den meisten Systemen die Vernunft 
für das Wesen des Geistes selbst genommen und so das Negative 
zum Positiven gemacht. Aber sie hat doch das grofse Verdienst, 
dafs sie das Wesen der Vernunft vermittelt und die Transcenden- 
. tal philosophie, zu der Kants Kritik der reinen Vernunft nur die 
Propädeutik geliefert hat, zur Ausfuhrung, wenn auch nicht zur 
Vollendung gebracht bat. Dieses positive Resultat der negativen 
Systeme der neuern Philosophie mufs erkannt werden, wenn man 
dieselbe in ihrer wahren Bedeutung erkennen will. Der achtungs- 
werthe Vf. hat aber . die neuere Philosophie nach dem angege- 
benen Gegensatze des unmittelbaren und mittelbaren Wissens zu 
eng und daher einseitig aufgefafst. Denn sowohl die Formen des 
nnmittelbaren als auch mittelbaren Wissens sind mannigfacher 
and reicher und haben in sich selbst eine concrete Bestimmtheit 
und Gliederung. So giebt es subjektiv und objektiv realistische 
und idealistische Systeme, von denen jedes unter sich sowohl, als 
auch zu dem ihm entgegenstehenden die vielfache und engste 
Beziehung hat. Die Formen des Rationalismus und Empirismus 
sind in jeder Beziehung und Vermittlung , deren sie fähig waren, 
hervorgetreten und haben so die Erkcnntnifstheorie vermittelt. 

Der Vf. hat nun mit Absicht seinen Plan in der gegenwärti- 
gen Schrift nicht so weit ausgedehnt, sondern er hat sich nur 
auf eine Anzahl Systeme der neuern Philosophie beschrankt. Des- 
halb sind freilich aber auch seine Grundzüge zur Wissenschafts- 
lehre, die er durch die Erkenntnifs der Grundcleracnte der neuern 
Philosophie, um deren Losung sich diese bewegt hat, ohne ans 
Ziel gekommen zu seyn, zu vermitteln gesucht hat, ungenügend 
nnd besonders auch zu formell. 

Daraus ist nun ersichtlich , in wieweit die vorliegende Schrift 
ihre Aufgabe, »das wissenschaftliche Fundament der Philosophie 
historisch za erörtern « , gelost hat und in wie weit nicht. Der 
Zweck dieser Anzeige war aber, auf die Bedeutung und Wich- 
tigkeit dieser Schrift in Bezug auf das Hauptproblem der Philo- 
sophie der gegenwärtigen Zeit aufmerksam zu machen und das 
Interesse für sie Zu erwecken. Sie ist ein höchst verdienstvoller 
Beitrag zur Losung des gedachten Problems, den Ref. ganz an- 
erkannt wünscht. Za wünschen wäre freilich, dafs die Darstel- 



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884 lbjei Reliqq ed. Schneidern 

lung and Form der Schrift hier nicht ein sich selbst im Wege 
stehendes Hindernifs wäre. Die Darstellung ist nämlich zu breit, 
die Materie ist zu sehr auseinandergerissen und zersplittert, die 
Verdeutlichungsmittel, die gewählt sind aus der Mathematik, er- 
reichen nicht ihren Zweck , sondern verdunkeln bei vielen Lesern 
sogar die Sache, nehmen aber jedenfalls zu viel Raum ein. Es 
konnte die Schrift füglich ihre Resultate durch den halben Um- 
fang erreichen und würde alsdann ein weit gröfseres Interesse 
für sich gewinnen. Auch wäre zu wünschen, dafs das Urtheil 
über grofse Männer oft nicht so schroff und schulmeisternd wäre. 

Sengler. 



Ibyei Rhegini Carminum Reliquiae. Quaettionum lyricarum Lib. I. 
Scriptit Fr. Guilh. Sehne idew in , Phil. Dr. Hclmstadiensis. Prae- 
fixa est Rputola Cor. Odofredi Müllcri. Gottingae, iumpt. G. Küblcri, 
1833. JLXir et 232 pagg. 8. 

Wir eilen, diese Anzeige, die zufällig verspätet ist, nach- 
zuholen, da wir es für Pflicht halten, das Verdienst des talent- 
vollen und fleifsigen Verfassers öffentlich anzuerkennen. Hr. 8., 
trüber Mitglied des philologischen Seminars in Gottingen , jetzt, 
soviel wir wissen, dort Professor, und schon durch die i83a 
herausgekommene Commentatio de Diana Phaselitide et Oreste 
apud Rheginos et Siculos vortheilhaft bekannt, bat die gegenwar- 
tige Schrift seinen Universitätslehrern, Mitscherlich , Dissen und 
Hock , gewidmet , denen er mit Recht ebenso werth zu seyn 
scheint, als dem Herrn Prof. Müller, der die Arbeit des Jüngers 
durch sein Vorwort ehrt. 

In der That verdient sie diese Auszeichnung wegen des Ei- 
fert für die Wissenschaft, der daraus hervorleuchtet, wegen der 
ausgebreiteten Belesenheit, wovon jede Seite zeugt, und wegen 
des im Ganzen sehr gesunden Urtheils: Eigenschaften, die dep 
guten Erfolg sicherten. Man findet hier nämlich, geschickt zu- 
sammengestellt, geordnet und erklärt, Alles, was theils von Iby- 
kos' Gedichten selbst übrig ist, theils in den Werken Anderer 
dazu dienen kann , sein Leben , seine Leistungen und den Charak- 
ter der Dichterperiode, welcher er angehört, in ein helleres Licht 
als bisher zu setzen. Herr S. benutzte hierzu die Schätze , auch 
handschriftliche , der Bibliotheken zu Göttingen und Wolfenbüt- 
tel, sowie alle andern Vortheile, die ihm der Aufenthalt in einer 
der ersten Musenstädte Europas in reicher Fülle darbot ; und 



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Ibyci Reliqq. Schneidewin. 885 

wenn die Ausbeute seines Fleifses den Hoffnungen, die er viel- 
leicht gefafst hatte, nicht ganz entsprach, so hat man blos die 
Mifsgunst der Zeit anzuklagen. 

Wir glauben den Lesern dieser Jahrbucher gefällig zu seyn, 
und zugleich dem Verfasser unsere Achtung zu bezeugen, wenn 
wir jetzt die einzelnen Abschnitte seiner Schrift durcbgehn und 
manches Dunkle mit der Fackel der Kritik beleuchten. 

Merkwürdig ist gleich zuerst die Variation des Namens im 
grofsen Etymologikon p. 273 , 24 , wo unser Dichter heifst, 
sowie man ein sicilisches Städtchen "Ivvxoq and "lvv$ (Plato Hipp, 
maj. p. 282, E, Valck. und Bahr zu Herod. 6, 23), und den 
berühmten Berg *Ept>$ und "E^xog (Welcker an Schwenk, My- 
thol. Andeut. S. 336) genannt findet. 

Mehr Anstofs giebt der Name des Vaters. Saidas schreibt: 
"Ißvxoq <bmiov • oi St IloXvfäXov rov Mtooriviov, tov luTOpio- 
ypd(pov oi 6*k KigdavToq. Hier ist est es nicht allein die Ver- 
schiedenheit der Angaben, welche Aufmerksamkeit erregt: denn 
im Leben der Sappho, des Stesichorus und Anderer bemerkt man 
Gleiches; weit auffallender ist ein messenischer Geschichtschrei- 
ber zu jener Zeit, d. h. um die 5o. Olympiade, oder 58o vor 
Christus. Hr. S. äussert sich hierüber so, S. 5: »Polyzelus qui- 
dera Messenius uno hoc Suidae testimonio consecutus est, ut in 
Historicorora ordinem insereretur a Vossio de Hist. graec. p. 196, 
Clintone Fast. hell. p. 38i , 4. Krueg. aliis. Qui si fuit Historicus 
ideraque pater Ibyci, in eam necesse est inciderit aetatem, qua in 
Asia minore et in insulis maris Ionii historiae conscribendae ru- 
dimenta posuerunt Cadmus Milesius , Eugeon Samtus , Deiochus 
Proconnesius (nam de Tbeagene Bhegino incerta fama est), Logo- 
graph i. Seil hoc novum plane et inauditum, in Gracca Messenin, 
qunc Vorica civil as Juit , Sparlanorum imperio subdiia, circa Olymp, 
guinguagesimam fere extitisse, qui historiam periclitarelur. * — Er 
vermuthet daher, dafs sich unter den messenischen Flüchtlingen, 
die sich den, zufolge eines delphischen Orakelspruchs, nach Bhe- 
giura auswandernden Chalcidensern zugesellten (Strabo 6, p. 258 
Cas.), ein Vorfahr des Ibykos, Namens Polyzelus, befand, den 
nachlässige Grammatiker zu seinem Vater umschufen. Allein so 
möglich dies an sich wäre , so vermehrt es doch nnr die vom 
Verf. angedeutete Schwierigkeit, indem so der dorische Geschicht- 
schreiber in noch höhere Zeit hinaufrückt. Sehen wir daher, ob 
nicht vielmehr die Abschreiber hier fehlten. Wir glauben es, 
- und schreiben: oi dt TIoXv^ov %ov Msaonvlov, ov %ov loxo- 

1 

. • - - ■ 

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lbyci Ueliqq ? ed Schneide win. 



fiondtpov Polyzelus von Rhodus ist bekannt durch seine *Po- 
diaxa , die Athenäus 36 1 , c erwähnt und ohne- Zweifel auch 3i 9 e 
im Auge bat. Diesen Historiker unterscheidet Suidas von dem 
gleichnamigen Messenier, den Einige für Ibyhos' Vater hielten. 
Die gleiche Endung von Mtaa^viov war Sebald daran, dafs die 
Negation übersehen wurde. , 

Einen vierten Namen, 'HcXt&a, verändert Hr. S. «ehr wahr- 
scheinlich in 'Hevt&a. Übrigens lese man: 

"Sßvxoq ai 'XxaXbq ix 'Pi^tot» Mtoqvni- 
Das handschriftliche *lßvxo< r UaX6q ai verstöfst wider den poeti- 
schen Numerus, und rührt vermuthlich von einem Metrikaster 
her, dem die, ächtepisch gehobene, Endsylbe von 'IraXöq ein 
Ärgernifs war. r,t£ für r,l achrieb schon Ursin us (Fragm. poet 
lyr. p. 6*), dem unser Verf. beistimmt und diese Verbesserung 
gelehrt begründet ' ✓ 

Wir fahren fort im Suidas. 

Tivti, 'PfiYlvos- MM$ ti* Zapov $&*p 9 ort atk« fori 
UoXvxQdxrtf, ö xov xvodvvov naxrjo 

Wie? Potykiales hiefs auch der Vater des Tyrannen Poljr- 
hrates? Nicht doch! Äakes war sein Name nach Herodot 3, 
i39, vor weichem Suidas, wenn er wirklich so schrieb , verstum- 
men müTste. Aber er ist eines so groben Versehens nicht schal- 
dig, sondern wir haben auch hier mit einem Quiproquo der Ab- 
Schreiber zu thun. Dies fühlte Panofka (Res Satn. p. 3o), und 
schlag for, n uir,xr t q anstatt «arfyi tm lesen, so dafs die Worte 
b xov xvodvvov otst**fc auf lbykoa bezogen, dieser als samischer 
Höfpoet aufträte; eine moderne Idee, die Hr. S. belächelt, and 
mit Recht. Was er indefs selbst vorscMägt ( p . 19), 6 xov xv- 
pawixov Ti {f , (» id est nouxoq , tyrannorum Sa mior um prinoeps , 
ut suppleatur cogitatione xodxovq sive mavis aliud,«) oder 6 t»v 
xvodvv&v 7tüo)Toc, , ist ebenso gewaltsam. Vielmehr mufs man 
lesen: oxt avv^ r^^t lluXvxpdxovq , tov ivyäwov, nari^ Die 
Verwechselung von rj ov a in den Uandscbriiften ist schon öfter 
bemerkt, and nachdem einmal Uo\vxpdxr t <; geschrieben war, schien 
die Sprache den Artikel 6 zu fordern. Das Wort ftp*' bedeutet 
nicht Tyrannenherrschaft, sondern nur die Wurde eines Archon 
oder obersten Magistrats, welche der wohlhabende Vater des Po* 
lykrates allerdings mag bekleidet haben. 

ZvXXrjfötlc, äl V7i6 Xrfoxav Ini tfpqpt'ac, xdv rag ytpdvovq, 
ä<; txv^iv vmonLnxaofbai , ix9inovq yeriaSai. 

Auch diese Stelle ist verderbt, und wir wundern uns über 



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Ibyci Reliqq. ed. Schncirtewin. 88? 

das Stillschweigen der Gelehrten. Oder verstanden sie die Worte 

xav TGL4 yepdvovq Ixdlxovq ytvioSai? Was uns betrifft, so 
schreiben wir unbedenklich: xaXiaat xäq ytpdvavq u. s. w. , da 
der Sinn ein Wort wie x?Xeaa$ verlangt, und es bekannt ist, 
dafs die Buchslaben X und v, sowie a und t, nicht selten ver- 
wechselt wurden. Übrigens ist der Zusammenhang dieser Worte 
mit dem Vorhergehenden so locker, als er bei Schriftstellern die- 
ser Art zu seyn pflegt , und man bedarf keines verbi finiti , so 
nahe es auch liegt , das gleichfolgende dp^e^n bieher zu ziehea, 
indem man so läse: — fwtoSou, av^, utv dvift&n. Vielmehr 
gebt .die Construction auf yiyovt 9 Tjtötv u. s. w. zurück , und 
jene Anschliefsuog der Worte av%b$ uty dv. wäre gezwungen. 

Wir verweilen noch bei Ibykos' Tode, den Schiller verherr- 
licht hat, und können nicht umhin, trotz der Gegengrunde des 
scharfsinnigen Welcher (Über die Kraniche des Ibykoe, Rhein. 
Blas. i832, 3. Heft, B. 401 bis 410), diese Erzählung für etwas 
mehr als blofse Anpassung einer ähnlichen Volkssage aus älterer 
Zeit zu halten \ welche Ansicht auch die des Vfs. ist. Überhaupt 
scheint man aus dergleichen Ähnlichkeiten öfters zuviel zu schlies- 
sen. Wer mochte z. B. Iphygenia's Errettung in Aul* darum 
bezweifeln, weil sich die des Isaak bei Moses damit vergleichen 
läfst? oder warum soll Teil nicht den berühmten Schüfe gethan 
haben wegen gleicher Geschicklichkeit des Königs Kambyses , des 
Dänen Toko bei Saxo dem Grammatiker, des Schützen Eigil in 
der Wilkinasaga, der Britten Clym of the Clough , Adam Bell, 
William of Cloudesly, und Anderer? Alte Zeit, kriegerisch und 
das Leben gering achtend , liebt so gefährliche Wagstucke. Bei 
dieser Gelegenheit erwähnen wir Antipaters von Sidon bekanntes 
Epigramm auf Ibykos' Tod, Anthol. Palat. VII, 745, das in den 
Buchern so anfangt: 

"Ißvxe, X r; terra t af xarexravor, Ix ttOTS vflQQV 
ßdv%' i; tpqpatqv daxißov riiova. 
Des Hrn. von Orelli Emendation ipqpaciK bei Jacobs, Nott crit. 
p. 4i3, mildert die Tautologie der Worte ipizu-. äoxißov, und 
bat eine Wahrscheinlichkeit, die an Gewifsheit gränzt. Dem Epi« 
grammatisten zufolge stieg der unglückliche Dichter einst auf ein 
wüstes Eiland aus, und ward dort von Ilaubern überlallen. Schil- 
ler, der wahrscheinlich diesen Umstand für unwesentlich hielt, 
▼erlegt den Schauplatz des Mordes in die Nähe von Korinth, wo- 
hin er Ibykos zu den isthmischen Festspielen wandern läfst; eine 
Dichterfreiheit , über die wir gleicher Meinung sind mit Hrn. S. 



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886 Ibyci Reliqq. ed. Schneidewio. ' 

and mit Meinehe, Euphor. p. n3. Denn dafs Antipater nicht an 
Korintb dachte, fallt in die Augen: der grofsen Handelsstadt 
Ufer, die besuchtesten in ganz Griechenland, konnte er unmög- 
lich wüst nennen. Wegen lbykos' Grabmal bei Rhegium, wovon 
in einem anonymen Gedicht der Anthologie (Anthol. Pal. VII, 714) 
die Rede ist, denkt Hr. S. an jene Gegend. Allein wir finden 
es wahrscheinlicher, dafs dieses Grabmal ein blofses Kenotaph 
war , das die Rheginer ihrem berühmten Landsmann errichtet 
hatten. Aus edlem Ehrgeiz prahlten so manche Städte in Hellas 
mit den Gräbern, wie mit den Geburtsstätten, grofser Dichter, 
ohne eben selbst die Musenkunst sonderlich zu üben ; oder man 
xnüfste dies z. B. von Salamis und Argos darum glauben, weil 
diese Örter unter denen genannt werden, die sich Homer zu- 
eigneten. 

Doch es ist Zeit, zu Ibykos' Werken selbst uberzugehn, und, 
nach Anleitung dieser Schrift, die Stelle zu bezeichnen, die er 
in der Dichterreihe seines Jahrhunderts einnimmt. 

Nachdem die Epik in ihren Hauptzweigen, dem Homerischen 
und Hesiodischen , diesseits und jenseits des griechischen Meers , 
verblüht war, brach, etwa 7 Menschenalter darauf, um die 24* 
Olympiade, 70 Jahre nach der Erbauung Roms, 683 v. Christus, 
der grofse Meister Archilochus eine neue Bahn, indem er den 
Quell der Dichtkunst aus der Vorzeit in die Gegenwart leitete, 
und Frischempfundenes an die Stelle alter GStter- und Helden- 
sagen setzte. Wie der Inhalt seiner Gedichte, so war auch ihr 
Sylbcnmaafs neu; der wuthähnlichen Leidenschaft, die darin ath- 
mete, entsprach nur der stürmische Jambus, nicht der erhaben, 
aber ruhig, hinströmende Hexameter. Wie im Sprung hatte der 
parische Poet die äusserste Gränze der Lyrik erreicht; fast 100 
Jahre ruhete die Kunst von der grofsen Anstrengung aus. Ver- 
einzelt und zerstreut glänzen die Namen Terpandros und, weni- 
ger gewifs, Alkman. Dann endlich erscheinen mehr neue Dichter 
derselben Gattung; aber sie gehn einen Tbeil des Weges zurück, 
indem sie in Stoff und Form sich wieder den Epikern nähern, 
in den lyrischen Aufzug Fäden des Mythus weben, und geselligere 
Gefühle in lieblichem Versbildungen darlegen. Stesichorus und 
Ibykus treten auf ; dann Alcäus und Sappho ; dann Simonides und 
Baccbylides, und weit nach allen Seiten verbreitet sich die Zahl 
ihrer Nacheiferer, sowie vormals die der epischen Sänger und 
Rhapsoden. Griechenland hatte lange Kriegszeiten überstanden; 
es bildete und befestigte sich 'jetzt im Schoofs des Friedens, und 



< 

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t 

Ibyci Reliqq. ed. Schneidewin. 889 

Festgesänge, Trink- und Liebeslieder erschallten, roll von An- 
klangen der romantischen Sagenzeit. 

Dies ist das Bild , was ans besonders Stesichorus' und Ibykus' 
Gedichte zeigen, so wenig davon auch Zeit und Barbarei ver- 
schont hat. So verwebte Ibykus in seine Ode an Gorgias den 
Baub des Ganymedes und des Tithonus, um an diesen Beispielen 
die Allgewalt der Liebe zu zeigen, der selbst der Gott und die 
Göttin nicht widerstand. So sang Stesicborus grofse Kriege und 
berühmte Heroen, überströmend in epischlyrischer Fülle, wie 
Quintilian 10, i. sagt. Und wenn solchergestalt ihre Werke, 
dem Inhalt nach, gleichsam Bruchstucke Homers, Hesiods und 
der eyklischen Dichter waren , so bewegten auch ihre Verse sich 
in den Kreisen epischer Bildungen, besonders daktylischer Art. 

Ein Aushub der Fragmente unsers Lyrikers und des Stesi- 
cborus wird dies veranschaulichen. Wir setzen sie auch deshalb 
her, weil wir in Lesung und Anordnung derselben hier und da 
Ton Hrn. S. abweichen. 

Ibykus galt lange Zeit für einen blofsen Erotiker. Vornehm- 
lich der Vf. hat ihn in seine poetische Ehren und Wurden wie- 
der eingesetzt, wiewohl er auch, als Erotiker betrachtet, den 
- Ruf hatte, der feurigste von allen zu seyn. »Maxime omnium 
flagrasse amore R heg in um Ibycum, apparet ex scriptis , c sagt 
Cicero Tuscul. Quaest. 4, 33, 71. Hr. S. hebt mit Recht die 
Worte »apparet ex scriptis« hervor. Ihre Schriften hauptsach- 
lich waren es, aus welchen man die Ibykus, Alcäus, Anakreon, 
bcurtheilte, und wie unsicher ist dieser Maafsstab ! wie gewagt 
der Schlufs von dem Walten der Phantasie in Kunstwerken auf 
die gemeine Wirklichkeit! wie unbillig Forderungen des Chri- 
stenthums an jene Vorzeit, schonungslose Verdammung eines, 
allerdingt ubermäfsigen, Gefühls der Schönheit, dem wir aber 
doch das Herrlichste verdanken, was Menschengeist je hervor- 
gebracht hat! Und gar die dreiste Beschuldigung eines groben 
Lasters, womit beweist man sie? Etwa mit Zeugnissen leicht« 
sinniger Epigrammatisten aus später Zeit ? oder mit des noch 
spätem Compilators Suidas 9 Tiyovt dl i^oro^avioxaroq Ttepl tb. 
gitipfsxi« ? Cicero, ein alter achtungswurdiger Zeuge, beschul- 
digt dieser Ausschweifung, oder vielmehr ihrer sorglosen Kund- 
gebung in Schriften, allein Alcäus; Anakreons Muse ist ihm nur 
überhaupt »araatoria«, und Ibykus belächelt er ebenso wegen 
unmäfsiger Verliebtheit. So tadelt Kritias bei Älian JIoix. laro ? . 
so, i3. Arcbilocbos, dafs er sich selbst Übles nachrede. »AUiora* 



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890 Ibyti Reliqq. ed. Schoeidewin. 

KpiT Las 'Aqx&oxov , ort xdxiaxa lavxbv tlntv. ti ydn pit , (f>*- 
olv, ixtlvos xoiavx^v dö^av vnkp kavxov elf to*$ ^EKXfjvaq 
i^veyxev, ovx ay inv§6pt$a /; p c I <j , ovte, 6t l 'Evmov$ vibq ifr t 
tr^ SovXr^' ov&' 9 oxi xaxukmdiv lld^ov dia ntviav xa\ dno- 
olay >;/3tv et, Qdoov ov^', üti iXSwy toI$ ivxavSa 
iysMro* ovdk OTt i'uo;.. , xov$ tpiXovq xal xoh{ lyS^ovq 

xaxac lAsy«. wpo; d£ tovtoi( 9 % d* 6$ 9 o$x§ 9 Sxi poigöc 
$b*ttptv d*s», et pjj sof avTov pa$6yxi$* a. s. w. 
Man lese Rutgcrsius' interessante Erläuterung dieser Stelle im ib. 
Kapitel der Venusinae Lectiones, und anstatt über Aleaus, Luci- 
llas, August in, Rousseau, wegen menschlicher, und mit grofsen 
Vorzügen verwandter Schwachheiten den Stab zu brechen, be- 
wandere man vielmehr ihre Offenherzigkeit. Nur die Strato ver- 
dienen den Abscheu der Rechtschaffenen. Hingegen IbyUus, ge- 
setzt, dafs man auch ihm mille puellarum, puerorum mille furo- 
res nachsagen konnte, war er nicht vielleicht so unschuldig wie 
Sokrates, and steht es uns besser an, auf die Seite der Hofstede 
als der Eberhard zu treten ? Sogar Kynnlkos bei Athenaus , S. 
697. b, nennt die lokrischen Lieder, ©Jas Aox^ixä; , die wahr- 
scheinlich unter Ibykus' MeXq — vormals in 7 Bücher vertheilt 

— einen bedeutenden Platz einnahmen, er sogar, sag' ich, ein 
bissiger Murrkopf, nennt doch diese Lieder nur bulerische, uoi- 
X*xa{, und das Prob che n davon, das er auftischt, klingt fürwahr 
nicht schlimmer als manches altdeutsche Lied, worin der Wäch- 
ter warnt, oder Göthe's Lieder von der schönen Müllerin. Mao 
höre : 

KaX' föiov 9 %L TtdayEM, } anacr. 

M>2 itpodäQ ctufi', ixtxMval asyn., cret. et chor. hyp. 
IIplv xat poklv xtlvov , avtaxat, asyn., iamb. et chor. hyp. 
fiifc xaxbv fii]r0 »ougaijs xäv b*nXdxgay 9 asyn., pher. et 

cret. dim. 

due'pa <b{ ijdril tö <p©$ diä xdq Svpläoq ovx laoof^j aayn M 

chor. dim. et glyc. pol. 
(So lesen wir. In den Handschriften steht: Kai tflmw 9 xl ; 

— noiriar^ xai pe ttjv 6". äpioa xal r^n u. S. W. KaV r^iav , 
form ose juvenum , wie b*la Stdav u. dgl. xat hinter 710*1*0775 
scheint aus dem vorhergehenden £ entstanden, womit \ 9 die Ab- 
breviatur von xal, manchmal verwechselt ist. M. s. Jacobs. An- 
tbol.|Palat. 3. p. 378. Dafs auch xal und a>{ verwechselt wer- 
den, ist bekannt.) Und jenes Bruchstuck ans Ibykus selbst, das 
ebenfalls Athenaus (S. 664 , f ) gerettet hat — aus den "Tpvoif 



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Ibyci Reliqq. ed. Schoeidewin. 891 

i 

natBiHolf, nach Hrn. S., Seite 79 — dies ist vollends ohne den 
geringsten Anstofs; daher auch der Erzbiscbof Eustathius (Odyss. 
p. i558, 17, ed. Horn.) kein Bedenken trug, es abzuschreiben. 
Wahrscheinlich lautete es im Original so : 

JLvpvaXe , yXvxewy Xapixoiv &d\oq 9 dochm. 

naXKixopov [iiXi^r^a al utv K r 71 p k dact. t. 

ä t' &yavoß'ki<{>aQo<; lletSa; dact. tr. h, 

poJeWiv ev dv$Boi Spi^av. anap. paroem. 
Die Bucher bieten uns hier yXavximv und xa\lix6pap. Jenes 
ist vermuthlich ein blofser Irrthum, der durch die Ähnlichkeit 
der Bachstaben a und v entstand; Jacobs* yXvxtmv f für yXt> 
xei&v , fand allgemeinen Beifall, und mit Recht. xoXXtxouoy 
fordert der Zusammenhang. Euryalus ist schongelockt , wie Apoll 
bei Ennius, Cic Acad. Qu. 4 * 28, Ioxas bei Virgil Än. 1, 740. 
Hr. S. hat die zwei letzten Verse verbunden, aus Vorliebe für 
ungewöhnlich lange metrische Zusammensetzungen, besondert 
daktylische, deren häufiger Gebrauch in den Werken dieser Dich- 
ter mehr als zweifelhaft ist. Denn Nachrichten später, oft un- 
wissender, Grammatiker (S. 73, 74) beweisen wenig, und die 
Hauptstelle bei Dionysius von Halikarnafs (De comp. verh. 19.: 
Ol KCpl Sti;o^opv TS xai YlivSapov 9 ^.EL^ovq Epj ao äpevoi tgc<; 
ntqiodovi, TioXXd ut tya xal xaXa Siivu^av aüxäq , ovx 
äXXov rivö$ $ %th ^exaßoXr^ Ipori ) beweist eher des Gegen- 
theil, indem Dionys die längern Strophen des Stesichoros und 
Pindar daraus erklart, dafs sie dieselben, der Abwechselung we, 
gen , in mehr Verse gliederten , als die frühem Lyriker zu thun 
pflegten. In der That konnten diese Dichter unmöglich hoffen, 
durch grofsere Ausdehnung des hexametrischen Versmafses zu 
gefallen. Die Erfinder desselben, wer sie auch 6eyn mögen , wa- 
ren von einem so richtigen Gefühl geleitet, dafs mau die von 
ihnen bestimmte Gränze schwerlich überschreiten darf, ohne ins 
Unfafirfiche zu verfallen. Fafslichkeit aber ist eine Bedingung der 
Schönheit, die für alle Werke der Kunst gilt, und blofse An- 
häufungen von Bestandtheilen ohne Symmetrie sind niemals rei- 
zend. Daher schlug man den bessern Weg ein: man zerlegte 
die epischen Versmafse, und erhielt so allerlei daktylische Sylben- 
maafse von geringerem Umfang ; man sanftigte den Gang des Dak- 
tylus zum Trochäus, und es entstanden daktylischlogaodische Verse, 
dergleichen der sapphische unn glykonische ist; man kehrte den 
Daktylus um, und erfand anapästische Zusammensetzungen, deren 
heftiger Ansprang bald zum Jambus gemildert ward. (Homers 



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892 Ibyci Reliqq. ed Schneiderin. 

Margites, wenn er wirklich ein solches Werk dichtete, enthielt 
schwerlich Jamben.) Dies sind die machtigen Hebel der lyrischen 
Technik , and späterhin der dramatischen. Jenseits dieses Kreises 
bort das Gebiet des Dichters auf, and die Prosa beginnt, deren 
Abstufungen alle Arten des Styls umfassen. Nur asynai tetische 
Versbildungen bedingen gröfsere Aasdehnung, die aber der Fafs- 
lichkeit keinen Abbrach that, weil diese Sylbenmaafse, ihrer Na- 
tur nach, in 2 oder gar 3 Theile zerfallen, die das Ähnlichkeits- 
prineip vereinigt. 

Diesen Bemerkungen gemäfs fassen wir auch sonst Manches 
anders als Hr. S. So gleich im 1. Fragment, aus Athen. S. 601, 
b, wo wir die 2 Anfangsverse in Einen (asyn., 2 glyc.) zusara- 
menziehn, und dagegen Vers 4. and 5. in 3 daktylische Tetra* 
meter zerlegen , deren Reihe ein archilochischer Vers analog 
schliefst. Dann schreiben wir so: 

— "il rxe o" vnb QTSponäq (pXiyav 0p>jtxio£ ßopiaq, as., glyc. 

et da. hyp. 

dicracov naydi Kvitpidoq &(aXiaq paviaiatv priap. 
Ipepvbg, Öaji^a* xpaTaiuf , glyc. hyp. 

neflöStv dt (pvXdaasi, iJfieTipat (f^ivaq. asyn. anap. hyp. et 

chor. dim. brach. 

Die Wortbrechung in igt^vbq ist wahrscheinlich übersehn wor- 
den. Sdp^ai xpaTGuoK scheint der Sinn zu fordern, und d&dp- 
ßnae, oder £&du07?oe, was Handschriften und alte Ausgaben dar» 
bieten , deutet auf Sdpßriat , die leicht mifs verstandene rhegini- 
sehe Verbalform. Die Verbesserung des Schreibfehlers »atdöSev 
▼erdankt man Hrn. Näke, Choril. p. 107. Auch Dissen schenkte 
ihr verdienten Beifall. Man vergleiche Odyssee v\ 2o5, und da- 
bei Eustathius. Die Idee von naidoSev liegt in dieser Schilde- 
rung gegenwärtig überwallender Gefühle zu fern. 

Im 2. Fragment aus Plato's Parmenides, p. 137, ist ßdXket 
unverdächtig, auch metrisch betrachtet ohne Anstofs, wenn man 
nur Kvnpidoq vor 3e1tf.17u.aa* stellt, und dadurch diesen Vers- 
klampen in den schönsten anapaest. Aristopb. umwandelt. Ktmoi* 
doq verkürzt die Anfangssylbe, wie in den Thesmophoriazusen , 
V. 204 (xXeTTTEiv, vcpapna&iv ts ^iqXtiav nvifpiv) und an an- 
dern Orten. Das handschriftliche Tooufop tv verändert der Vf. 
höchst wahrscheinlich in rfoueo tv, Hesychius : Hv 9 avibv , 
avT^v, KvttptOf. »Mi» accusativus est a nominativo t (tq) 9 avxbq, 
Latinorum i$, ea, id. Accusat. respondet veteri Latio. formae 



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Ibyci Reliqq. cd. Schneidern. 893 

im t nostro in. Quae forma Pindaro aliquoties reddita, aliquot ies 
praeterea, ut viris doctis placet, reddenda« etc. So Hr. S. Seite io3«- 
Hieher gehört die Stelle aus Stesichorus' Orestea, die Ari- 
stophanes' Scholiast bei Pac 797 erwähnt Der Verf. schreibt 
sie so , S. 52 : 

Totale xfii XotpUav ^auÄfiaxa xaXXixopav vpvüv , *&pvyiov 

pftoq i%%vq6vxct 

Aber wo fand er einen Vers, gleich dem ersten von diesen? 
Und warum l^tv^ovia , da die Bücher l$ivp6v& haben, das, ganz 
naturlich an dß^ag angeschlossen, den Pentameter vervollstän- 
digt? So findet sich am Schlafs des vorhergehenden Fragments 
auch ein epischer Hexameter (&<rxe (pt^vyoq tnnoq deSXotpopoc 
itoxl 7>ip<?), und überhaupt benutzen diese Lyriker frei alles vor- 
gefundene Dichtermaterial. Wie von selbst ordnen sich gleicher- 
gestalt die Worte ToiaJ« — piXog in 2 daktylische Tetrameter, 
eins der gewöhnlichsten Sylbenmaafse sowohl in dieser Klasse, 
als bei den Dramatikern. 

Sowie unförmliche Versbildungen , wehren wir auch von un- 
serra Dichter, wie von Homer, matte Versfüfse ab, vornehmlich 
amphibrachische, die sich Hr. S. hat verleiten lassen, in das 
Bruchstück bei Athen, p. 17a, d einzusch würzen. Hafötvodafa 
wäre bedenklich, wenn es sich in den Handschriften fände; allein 
in diesen steht 4>£pe<r&£ tt? naföiva 3a>pa, ein asynartetus, wie 
jener bei Äschylus, Agam. 217 : "EpsX^sy • äyva S* äxavQ&xoq. 

Ebenda ist Stesichorus' Vers 
QqJhtxqv yaQ 'Afi<£tapao$ t Äxovxt, Bh vixaaev MtXeay^ot; 

vollkommen richtig , und keineswegs mit dem englischen Kritiker 
(Gass. Rev. i8a3, 2. p. 216) \ilv yäp zu streichen, wodurch die 
nicht seltne Zusammensetzung aus 2 überzähligen Glykoniern in 

polyschematistischer Form ( v — vv — wo || — vv — — - 

— vv — v) zerstört wird. Durch die Auflösung der als Lange ge- 
dachten Endsylbe des vordem Verses ist die Commissur gleich« 
sam versteckt, wie man auch anderswo Verse dieser Art schSn 
in einander verschmolzen findet; z. B. bei Äschylus Ag. 646 

(*E$p£\)/ev 3k Xiovxa oiviv oop<U{ äyaXanxov , vv — 

|| — v — vv — v j. 

Der Kürze wegen müssen wir es uns versagen , diese Kriti- 
ken fortzusetzen; sowie auch manche schätzbare Bemerkung, 
manche gelehrte Auseinandersetzung, bei dem Verf. selbst nach- 



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804 



Ibyci Reliqq. td. Schneiderin. 



zulcscn ist. So handelt er 8. 5i ff. Ton den festlichen Chorge. 
sängen, in phrygischer Tonart, mit Begleitung der Leier, um 
Fröhlingsaofang, zu Ehren der Gotter, vornehmlich der unter- 
irdischen und der Heroen, deren manche ah Städtegrunder in 
Grofsgricchenland und Sicilien gefeiert wurden. < Weiterhin wer* 
den Eigenheiten dieser Lyriker in Rucksicht auf Mythenbildung 
berührt, z. B. Ibykos' Dichtung von Achilles, als Gemal Medea's 
in Elysium (S. 1 53). Desgleichen erörtert Hr. S. ausführlich den 
rheginischen Dialekt, wobei die Namenbildungen 0£Xi(ik'(S. i3^) 
und "Oytpnq (16a) zur Sprache kommen, u. s. w. Auch andre 
Schriftsteller werden, wie sich von selbst versteht, häußg ange- 
fuhrt und verbessert« Doch giebt es da auch wohl Schlimmbes- 
serungen, wie das S. 99 bei Sophokles Ant. 778 vorgeschlagene 
w "Ep©$, 6 xqXifuacrt pinxai, Amor, qui demulcimenlU jacis , (/) 
h. e. qui homines demulees. « 

Erwägt man den von Hrn. S. , sowie neuerlich von manchen 
Andern auf solche Monographien verwandten Fleifs^ so mufs man 
den Verlust so vieler herrlichen Denkmäler jener Zeit doppelt 
bedauern. Von Ibykos z. B. ist nicht ein einziges Gedicht voll- 
ständig gerettet; ja nicht einmal ihre Titel kennt man (S. 5o). 

Das ist das Loos des Schonen auf der Erden. Des- 
halb verdient aber der ehren werthe Kreis dieser Gelehrten nicht 
weniger Dank, ja vielmehr um so gröfsern, je kärglicher ihre 
Ausbeute aus diesen verfallenen Schachten ist. Nur gröfsere Kurze 
wäre vielleicht Darstellungen dieser Art zu wünschen, da einmal 
ihr Stoff nicht das Interesse einer llias, einer Tragödie, und an- 
derer vollständig vorhandener Werke des Alterthums, erregen 
kann. Allein da die Verfasser meist Junglinge sind, so ist dieser 
anscheinende Fehler wenigstens sehr verzeihlich. Der geistreiche 
Vorredner sagt hierüber S. XX: »In hoc commentandi genere si 
quibusdam videberis *<5 SuXax» ontlyai 9 communem habebis 
juventutts, sie fere in Htteris exultantis, excusationem. Sero dis- 
eimus, devitata omni amhagum et divertieoiorum amoeniute, bre- 
vissimo itinere eo, quo perveniendum est, tendere. Ac vero si 
tibi objicietor, te etiam ex Grammaticorum tri eis cormptisque 
narratiun culis u t sani aliquid et fruetuosi ext underes , nimio int er- 
dum labore contendisse : mihi quidem minus placent ii, qui ob- 
tusa ingenii acie de vero extricando cito desperant, quam qui in 
scrutando omnem movent lapidem , et interdum etiam, ut Varro 
scribit , scienliam ad opinionem aueupantur. * 



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Nauwerk i Über das Buch Tohfat ichwao attafa. . 895 

Wir sind über diesen Punkt derselben Meinung, und rech- 
nen dahin auch den harten Widerspruch und die zu grofse Zu* 
Yersichtlichkeit, die man zuweilen in Herrn Schneide win's Schrift 
bemerkt. Da sie indefs nicht allein durch Reichthum des Inhalts, 
sondern auch durch den, zwar nicht eleganten, aber doch im 
Ganzen korrekten Styl sich empfiehlt, so kann man sie mit Tol- 
lem Recht zu den Bereicherungen dieser Literatur zählen. 

B o t h e. 



Notis über das Buch Tohfat ichwan aasafa , d.h. Gabe der aufrich- 
tigen Freunde nebet Proben desselben, arabisch und deutsch von K. 
Nauwerk, Dr. phil. Berlin, bei G. Reimer. 1837. 55 S. Test und 
96 S. Noten und Übersetzung. 8. 

Vorliegendes Werkchen giebt einen Auszug aus dem Werke 
tohfat ichwan assafa , das im J. 1812 der gelehrte Scheich Ahmed 
ibu Muhammed as Schirwani in Calcutta herausgab. Der Verfasser 
dieses Werks ist nach einer Note des Scheich Ahmed ein gewis- 
ser Ibn Aldjaldi, und dieses Werk bildet nur einen Theil von ei- 
ner Encyclopädie in fünfzig Abhandlungen , an denen eine Gesell- 
schaft von Gelehrten in Bafsra gemeinschaftlich arbeitete. Der 
wesentliche Inhalt dieses Buches ist folgender: Die Thiere und 
die Menschen streiten miteinander um die Oberherrschaft und 
bringen ihre gegenseitigen Klagen vor den König der Genien. 
Die Hausthiere beschweren sich über die Härte und Grausamkeit 
der Menschen, diese über den Ungehorsam der Thiere. Der Ge- 
nienkonig setzt einen Gerichtshot aus den Weisen und Rechts- 
kundigen der Genien zusammen. Die Thiere schicken Gesandt- 
schaften an die Vogel , Insekten , Reptilien und Fische. Nachdem 
von allen Gattungen Gesandte eintreffen , beginnt die Sitzung. 
Der Mensch stellt alle seine Wissenschaften und Kenntnisse, kör- 
perliche und geistige Vorzuge, als Grunde für sein Herrschafts- 
reebt über die Thiere auf. Diese beantworten alle einzelnen 
Punkte, und vergessen nicht, dem Menschen alle seine Mängel 
und Schwächen vorzuwerfen. Die Unsterblichkeit und das künf- 
tige Leben, die nur dem Menschen zu Theil werden, bewegen 
endlich die Richter, mit Zustimmung der Thiere, diese als dem 
Menschen untergeordnet zu erklären. 

Über dieses Werk giebt nun Herr Dr. Nauwerk einige sehr 
interessante historische Notizen, denen dann mehrere Abschnitte 



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886 Nauwcrk : Über dat Bach Tohfat ichwan atiafa. 

des arabischen Textes mit einer Tortrefi liehen , wörtlich treuen 
Übersetzung und sehr gelehrten Anmerkungen folgen. — Im 
ganzen Texte hat Referent nur drei ganz unbedeutende Fehler, 
von denen zwei gewifs nur Druckfehler sind, bemerkt. Io der 
Vorrede S. 8 mufs ala anna nubajjina, nubajjinu heifsen. S. 39 
mufs für Uchiarukum Achjarukum , und Seite 54 statt mausiun 
maudhiun (mit Dhad) gelesen werden. Wir können daher dieses 
Werkchen jungen Orientalisten , die darin einen grofsen Schatz 
Ton Kunstausdrucken und synonymischen Redensarten finden , so- 
wohl der Correkthcit des Textes , als der gewissenhaften Treue 
der Übersetzung willen , nicht genug empfehlen. Nur zwei Stel- 
len müssen wir hier, um ganz unpartbeiisch zu sevn , als etwas 
frei wiedergegeben, anfuhren. S. 36 sind die Worte Ihdsar aJ- 
bala, welche: »fürchte den Untergang!« bedeuten v für dich dat 
Unglück wacht« ubersetzt, und S. 5i heifsen Alfazh musaddjaah 
glatte statt gereimte Worte. Denn gereimte Prosa heifst im Ara- 
bischen Sadjun, nicht Taurieh, wie der Verf. in der Vorrede 
S. 4* glaubt. 

Zum Schlüsse erlauben wir uns noch, -über die Schreibung 
orientalischer Buchstaben mit occidentalischen dem gelehrten Vf. 
zu bemerken, dafs das kein weiches sondern ein hartes t ist, 
dafs / ww ein gewöhnliches einfaches, nicht doppeltes s ist, dafs 
der Verf. also ganz unrichtig Ssultan schreibt Noch viel weni- 
ger aber ist das <j<3 ein hartes d oder zwei dd, wie der Verf. 
Kaddi für Kadbi schreibt; denn dieser Buchstabe ist nichts an- 
dres als ein aspirirtes dal , wie ein aspirirtes t , und Jb ein 
aspirirtes franz. z, nicht wie der Vf. glaubt, ein hartes t und ts. 
Endlich wundern wir uns, dafs der Vf. das starke gutturale ^j) 
durch k und das weichere nicht aspirirte \^ durch kh wie* 
dergibt, da das Umgekehrte expressiver wäre. Abgesehen von 
dieser kleinen Un Vollkommenheit, die ja gar nichts zur Sache 
thut, verdient dieses Werkchen in jeder Beziehung das höchste 
Lob. 

Dr. Gr. Weil. 



s 

■ 



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N°. 57. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Geschichte de» achtzehnten Jahrhunderte und de» neunzehnten bis zum 
Sturz de» französischen Kauerreich». Mit besonderer Rücksicht auf 
geistige Bildung. Von F. Ch. Schlosser, Geheimenrath u. Professor 
der Geschichte zu Heidelberg. Zweiter Rand. Di» zum allgemeinen 
Frieden um 1763. Heidelberg, hei Mohr. 1837. 

Der Verfasser hat bei der Ausarbeitung des vorliegenden 
Bandes seiner Geschichte [des achtzehnten Jahrhunderts, nach dem 
gleich zu Anfang des Werks angegebenen Plan, den dort betre- 
tenen Weg durchaus in derselben Weise, wie im ersten Bande, 
fortgesetzt. Er hält es für überflussig, noch etwas Weiteres dar- 
über zu sagen, indem er hier, der in diesen Blattern herkömm- 
lichen Sitte gemäfs , von dem Erscheinen seines Buchs selbst die 
Anzeige macht. Er will daher nur einige Bemerkungen wieder- 
holen, die er statt der Vorrede diesem zweiten Bande voraus- 
geschickt hat. Dort sagt er: 

» Der Verfasser glaubt in der Vorrede und Dedication des 
ersten Theils dieses Werks Alles gesagt zu haben, was er per- 
sönlich den Lesern desselben zusagen hat; er setzt daher diesem 
Tbeile nur wenige Worte vor, um eine Übereilung im ersten 
Theile zu berichtigen. 

Es steht nämlich im ersten Theile S. 567, Z. 3 v. u., Tho- 
masius sey als Leibnitz' Lehrer bekannt Das ist ein 
grober Anachronismus. In seinem Collegienhefte , woraus der 
Abschnitt über Literatur genommen ist, findet er: Thomasius, 
dessen Vater als Leibnitz* Lehrer u. s. w. Damit will er 
sich indessen durchaus nicht entschuldigen , eine Gedankenlosig- 
keit des Augenblicks war es immer. Eins tröstet ihn, dafs er 
vielleicht dadurch irgend jemand auf seine Kosten eine unschul- . 
dige Freude gemacht bat Dies soll wenigstens bei der ersten 
Ausgabe der Fall gewesen seyn. Er hatte nämlich im ersten 
Tbeile der ersten Ausgabe einen ähnlichen groben Fehler in 
Rucksicht einer Schlacht begangen, dafür soll er (denn er selbst 
lieset die Blätter des Tages nicht) fünfzehn ganzer Jahre lang 
immer aufs neue a^ufs gemeinste geschimpft seyn und noch von 
Zeit zu Zeit geschimpft werden. 

Wenn dergleichen Armseligkeiten ihm in seiner völligen Zu- 
rückgezogenheit von der Welt im geringsten empfindlich wären, 
XXX. Jahrg. 9. Heft. 5T 



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898 Schlosser: Geschichte d. achtzehnten Jahrhunderte. 

wie sie es einem jungen Mann oder einem , der in der Welt lebt, 
allerdings oft seyn lwinnen , ja, wenn er es nur für auffallend 
oder unerlaubt hielte, dafs jedermann über ein Buch, das er ge- 
kauft bat, oder über des Verfassers Person urtbeile, wie er es 
versteht und w ie er es seiner selbst würdig halt, dann hätte er, 
nachdem er sechzig Jahre uberschritten, ein Werk wie das ge- 
genwärtige nicht unternommen. Er kann indessen seinen Lands- 
leuten die Versicherung geben, dafs keine Art von Hoffnung oder 
Eitelkeit, kein Anspruch auf Gewicht, Ansehen oder Unfehlbar- 
heit, sondern nur ein Gefühl der heiligsteu Pflicht, über 
deren Natur er sich hier zu erklären nicht berufen fühlt, ihn am 
Abend seines Lehens zu einer so schwierigen Aufgabe trieb (me 
nolenti animo volentem). 

Es freut ihn, dafs das grofsere Publikum und alle Manner 
des Fachs, auf deren Urtheil er Werth legt, seinen guten Wil- 
len mit Gute erkannt haben. Er dankt daher allen Freunden der 
Menschheit, der Wahrheit und des Vaterlandes, für ihre Nach- 
sicht bei einer Arbeit, die, wenn sie etwas taugen soll, nicht 
zusammengetragen werden, sondern ganz eigentlich aus der Seele 
hervorgehn mufs. Er hofft, dafs das Publikum ihm diese Nach- 
sicht auch ferner gewähren wird , da die umfassende Natur der 
Arbeit Fehler ganz unvermeidlich macht, jemehr der Verfasser 
seine Materialien durchdacht und das Erlernte verdaut hat Übri- 
gens versichert er, dafs ihm immer unangenehm ist, wenn Ver- 
sehen sich finden, und dafs er sich keine Muhe verdriefsen läfst, 
sie zu vermeiden; er dankt daher auch dem Herrn Häusser, der 
die Cnrrektur besorgte, dafs er ihn einige Mal aufmerksam ge- 
macht hat. Er tröstet sich, wenn er Unvollkommenbeiten wahr- 
nimmt, mit dem bekannten lateinischen Spruch, dafs bei sehr 
schwierigen Dingen der Wille für die That gilt. (Ceterum in 
magnis voluisse sat est.)« 

Im Übrigen kann er, Sie. Grenzen einer Selbstanzeige be- 
rücksichtigend, sich darauf beschränken, den Inhalt dieses zwei- 
ten Theils kurz anzugeben. Die Periode, die hier behandelt wird f 
geht von dem Belgrader Frieden oder von der Thronbesteigung 
Friedrichs IL bis zu dem Ende des siebenjährigen Kriegs. Wie 
der erste Band zerfällt auch der vorliegende in zwei Hauptab- 
schnitte , von denen der eine die Geschichte der Staatsverä'nde- 
rungen, des bürgerlichen und häuslichen Lebens in dem angege- 
benen Zeitraum enthält. Der andere , der die Literatur der Zeit 
begreift, das heifst, die Geschichte des Fortgangs und der Ent- 



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TScHower: Geschichte d. achtzehnten Jahrhundert«. 899 



Wickelung der Bildung und Aufklärung des achtzehnten Jahrhun- 
derts, wie sie sieb in der Literatur darstellt, überschreitet, wie 
das auch sebon im ersten Band geschehen ist, diesen Zeitraum 
um einige Jahre, weil sich natürlich hier die Gränzen nicht so 
genau wie in der politischen Geschichte und mit ihr gerade über- 
einkommend bestimmen lassen. Das erste Capitel beginnt mit 
Friedrichs II. erstem Auftreten, Carl Alberts Ansprüchen und dem 
Nymphenburger Traktat; es folgt der österreichische Erbfolge- 
krieg und der erste scblesische Krieg; Schweden, Rufsland, Eli- 
sabeths Thronbesteigung, England unter Robert Wal pol es Lei- 
tung; der aweite schlesiscbe Krieg, Preufsen, Baiern, Sachsen, 
Frankreich, Spanien, England, Osterreich, Holland bis auf den 
Frieden von Aachen. Das zweite Capitel schildert die innere Ge- 
schichte der verschiedenen europäischen Staaten in Beziehung auf 
Leben, Sitten und Verwaltung. Das dritte Capitel beginnt mit 
Preufsen und Friedrich IL bis auf den Anfang des 7jährigen Kriegs. 
Hierauf ist die Rede von den ersten Veranlassungen zum Kriege, 
von den Streitigkeiten zwischen England und Frankreich in Nord- 
amerika; es folgt dann die Geschichte des allgemeinen Kriegs, mit 
den die einzelnen Staaten betreffenden Verhältnissen und Begeben- 
heiten bis auf den Pariser und Hubertsburger Frieden. Im zweiten 
Abschnitt, der von der Literatur handelt, beschäftigt sich das 
erste Capitel nach wenigen einleitenden Bemerkungen über einige 
Erscheinungen der englischen Literatur, Chestertield, Hume, 
Fielding , Ricbardaoo , mit Frankreich. Hier ist zuerst von Vol- 
taire in seiner ganzen Wirksamkeit, dann von Montesquieu, als 
Verfasser des Geistes der Gesetze , und sodann von Rousseau , in 
besonderen Paragraphen die Rede. Hierauf folgen Diderot, Hol- 
bach, das Natursystem, Helvetius, d'Alembert. Das Capitel schliefst 
mit dem Streit zwischen d'Alembert und Rousseau, über den 
Artikel Genf in der Encyclopädie. Einige andere Männer, die 
sich an die genannten mehr oder weniger anschlössen , werden 
im nächsten Band dargestellt werden. Das zweite Capitel handelt 
von Deutschland bis auf die ersten Jahre des siebenten Jahrzehnts 
des achtzehnten Jahrhunderts. Zuerst wird hier von den ersten 
Spuren des Einflusses des neuen Zeitgeistes auf Beamte, auf Uni- 
versitäten , auf Theologie und Gelehrsamkeit geredet. Die Män- 
ner, deren hier besondere Erwähnung geschieht, sind zuvorderst 
Spalding und Reimarus; sodann Justus Moser und F. C. v. Moser; 
Michaelis und Seraler. Der Verfasser geht im aten Paragraph auf 
die Literaturbriefe und auf die ersten Jahre der allgemeinen deut- 



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900 Baco'a Versuche moral., okon. u. polit Inhalte 

sehen Bibliothek über; hieran reiht sich deren Gegner Herder; 
dann folgt Wieland und M. von Thummel. Der 3te Paragraph 
ist Lavater und Basedow gewidmet Der 4te Paragraph handelt 
von dem, was Lesssing in dem Zeitraum von 1756 — 1771 gelei- 
stet hat; hiermit schliefst diese Periode. 

Schlotte r. 



Versuche moralischen, ökonomischen und politischen Inhalts. Von Fr an* 
Baco, Baron von Pension, Burggraf von St. Man und Orofskanzler 
von England. Aus dem Englischen übersetzt von Anton Günther Bru- 
sehius, Doctor d. Philosophie. Leipzig, in Commission bei R. F. St ein - 
acker. 1836. 16. Fl und 264 S. 

Baco , der grofse Denker , hat durch seine beiden Hauptwerke 
» novum Organum « und » De augmentis scientiarum « seinen Ruhm 
in der ganzen gebildeten Welt für ewige Zeiten gesichert Das 
ist ganz wahr. Und doch, die Hand aufs Herz, wie viele Gebil- 
dete sehen sich heutzutage in jenen Meisterwerken um , und be- 
gnügen sich nicht damit, Baco's grofsen Namen, von dem noch 
hier und da ein Motto vor einer philosophischen Schrift, oder 
ein Feilspann in einer Gedankensammlung prangt, auf Treu und 
Glauben hinzunehmen? Indessen ist dies der Lauf der Welt. 
Tiefsinnige Werke grofser Geister wirken auf Zeit und Nachwelt 
gewöhnlich nur dadurch, dafs sie wieder einzelne Genien wecken 
und erziehen; durch deren Vermittlang breitet sich die Saat ih- 
rer Gedanken allmählig weiter aus, und am Ende geht sie doch 
im Volke auf, ohne dafs dieses unmittelbar davon Notiz genom- 
men hat, und wenn auch der Name eines grofsen Mannes nur 
wie ein Schemen durch die Masse der Nachwelt geht, so darf 
daraus doch nicht gefolgert werden , dafs der Reichthum seines 
Geistes ein verschlossener Schatz für die Menschheit geblieben 
sey, und diese nicht, ohne es zu wissen, von ihm zehre. Doch 
giebt es für hohe Geister ein Mittel , auch unmittelbar und für 
lange Zeiten unter dem Volke selbst fortzuleben und eine ge- 
nauere Bekanntschaft mit ihrer Persönlichkeit zu erhalten : dies 
ist der Fall, wenn sie die Gabe und die Herablassung gehabt 
haben, neben den tieferen Forschungen, durch welche sie nur in 
verwandten Geistern fortwirken wollen, auch etwas aus dem Le- 
ben Gegriffenes und fürs Leben Bestimmtes in populärer und 



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von Uruichim. 



901 



gemeinfafalicher Form zu hinterlassen, and ihre Löwonzche in 
, die gemeine Welt hinauszustrecken. Dies ist von Baco in dem 
vorliegenden Buche geschehen. Unter allen seinen Schriften, 
sagt das Vorwort des Übersetzers, ist keine, sowohl durch ihren 
mannichfaltigen Inhalt, als durch die Form ihrer Abfassung, für 
den Freund einer gediegenen und zugleich unterhaltenden Lek- 
türe so anziehend, als seine »Essays moral, economical and po- 
litical. « In England findet man das Buch bei Jedem , der nur 
einige Bildung hat; namentlich ist es das Lieblingsbuch des be- 
rühmten Lord Brougham , der auch mehrmals Stellen daraus in 
seinen Parlamentsreden angeführt hat. Wir hegen keinen Zwei- 
fel, dafs die Bekanntschaft mit Baco's Geiste durch dieses äus- 
serst populäre und in vielen Stücken wie für unsre Zeit geschrie- 
bene Buch, das bei uns durch eine sehr fliefsende und elegante 
Übersetzung durch Herrn Bruschius eingeführt wird , auch unter 
dem deutschen Publikum zu einer genaueren werden, und mit 
dem Respekte vor diesem grofsen Namen sich die gehörige Werth- 
schätzung und selbst Zuneigung verbinden werde. 

Aus der literarhistorischen Notiz des Vorworts entlehnen wir 
noch folgendes. In Baco's eigenen Augen halte das Buch einen 
hohen Werth. Er übersetzte es (zum Theil mit Beibülfe Ande- 
rer unter seiner Aufsicht) in das Lateinische, um ihm dadurch 
eine Dauer zu sichern, welche sogar über die der englischen 
Sprache hinausreichen würde. Der Titel dieser Übersetzung ist: 
» Sermones fideles , ethici, politici, oeconomici.« Es fehlen darin 
die Nummern 14« 36, 38 und 60; dagegen enthält sie sechs neue 
Artikel in etwas steiferer Form. Diese Übersetzung kam dem 
deutschen Bearbeiter sehr zu statten , weil in dem englischen 
Original eine altertbümliche und oft lakonische Schreibart herrscht 
und manche Worter und Redensarten in einer Baco ganz eigen- 
tümlichen Bedeutung gebraucht sind, so dafs selbst Engländer 
von gelehrter Bildung über den wahren Sinn einiger Stellen zwei- 
felhaft waren; Zweifel, die durch das Lateinische vollkommen 
gelost wurden. Seit der Übersetzung dieses Buches aus dem La- 
teinischen durch »den Unglückseligen*«, ein Mitglied der frucht- 
bringenden Gesellschaft (Nürnberg 1654), ist, bis auf die jetzige, 
keine Übertragung des Weihs ins Deutsche erschienen. Jener 
Unglückselige ist Job. Willi. Herr von Stubenberg; sie ist, nach 
dem Zeugnisse des Herrn Bruschius, fast wortlich aus dem La- 
teinischen übergetragen , und daher in vielen Stellen ganz unver- 



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902 



Baco'a Versuche moral., ökon. u polit. Inhalt« , 



ständlich. Wahrscheinlich hat der Unglückselige das englische 

Original gar nicht gekannt. 

Um auf den Inhalt des Buches selbst zu kommen , so enthalt 
dieses sechzig abgerissene und in keine geordnete Reihenfolge 

gestellte Betrachtungen über Gegenstände, die in den Bereich der 
auf dem Titel genannten „Wissenschaften gehören. Aus ihrer Ge- 
8ammtheit tritt in grofsem Glänze das Charakterbild des prakti- 
schen Philosophen , des gewandten Staatsmannes , mit einem selt- 
samen aber leicht erklärlichen Gemische von Redlichkeit und 
Schlauheit, voll genialen Blickes für Krankheit und Gesundheit 
in allen öffentlichen Verhältnissen , begleitet von einem sehr ge- 
schärften Tastsinn für die Sondirung aller wunden Stellen im 
menschlichen Herzen und Verstände, hervor. Der Gerouthsmensch 
abe/ tritt bei Baco sehr in den Hintergrund, und, wenn er ei- 
nen Abscheu gegen alle Laster zur Schau tragt, selbst gegen das 
der Bestechlichkeit, dem er bekanntlich im eigenen Leben unter- 
legen sey'n soll, so hat er es doch in diesem Buche nicht bis zur 
warmen Schilderung und Empfehlung aller Tugenden nnd ed/eren 
Neigungen gebracht , und was er z. B. über Eltern und Kinder (Nr. 
7.), Ehe und ledigen Stand (8), Liebe (10), Freundschaft (a8), 
Jugend und Alter (43), Lob (54) 1 Ehre und Ruf (56) sagt, ist 
lochst lückenhaft, kalt und mit der Behandlung anderer Materien 
▼erglichen, obgleich von manchem guten Gedanken durchwirkt, 
doch im Ganzen unbedeutend. Diese Mängel verschwinden aber 
gegen das viele Treffende , ' was in den andern Capiteln zusam- 
mengedrängt ist, und wovon wir ia diesen Blattern gern einen 
Vorschmack geben mochten. 

Das Buch eröffnet sich mit einem Versuche über die Wahr- 
heit. Die Abneigung gegen sie wird in einem natürlichen, ob- 
gleich verderbten Hange zur Lüge selbst gesucht: »Ich weifs 
nicht, die Wahrheit kommt mir vor, wie das blofse, klare Ta- 
geslicht, welches die Masken- und Larvenspiele und Prachtzuge 
der Welt nicht halb so stattlich und prunkvoll erscheinen läfst, 
als das Kerzenlicht. Die Wahrheit mag im Preise wohl einer 
Perle gleichkommen, die bei Tage am besten kleidet; aber nie 
wird sie bis zum Diamant oder Karfunkel steigen , die sich bei 
wechselnden Lichtern am besten ausnehmen. . . . Entzöge man 
den Menschen alle ihre eitlen Meinungen , was würden dann die 
Seelen vieler wohl anders seyn, als arme zusammengeschrumpfte 



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von Brutcbiut 



Wesen voll trübsinnigen Mifsbehagens , die sogar an sich selbst 
keine Freude haben könnten ? » 

Baco erwähnt sodann den strengen Ausspruch eines Kirchen- 
vaters, der die Poesie » Teufelswein « nannte, weil sie der Phan- 
tasie lauter eitle Dinge eiuflofse ; und doch finde sich hier von 
Luge nichts als der Schatten. Verderblich aber sey nicht die 
Luge , welche durch das Gemuth nur hindurchgeht , sondern die, 
welche sich darin ansiedelt. Diese Bemerkung wird nicht weiter 
verfolgt , und es ist nicht zu laugnen , dafs das Thema von Jean 
Jacques Rousseau in seinen Beveriee d*un promeneur solitaire 
(IVieme promenade) weit eindringlicher und erschöpfender behan- 
delt worden ist. Was bei Baco über die positive Pflicht der 
Wahrheit folgt, ist gering. Interessanter äussert er sich noch 
einmal über die Lüge: »dafs ein Zusatz von Falschheit dem Le- 
giren der Gold- und Silbernlünzen gleicht, wodurch das Metall 
»war brauchbarer, aber auch schlechter wird.« 

In der Betrachtung über den Tod (Nr. 2) findet sich die 
Bemerkung : » dafs sich in dem menschlichen Gemütbe keine so 
schwache Leidenschaft findet , die es nicht mit dem Tode auf- 
nähme und ihn (d. b. die Furcht vor ihm) bemeisterte. Der Tod 
ist also kein so furchtbarer Feind , da die Menschen so viele Die- 
ner haben, die ihn im Kampfe besiegen können. « 

Von der Hache sagt die 4te Abhandlung: »Sie ist eine Art 
wilder Justiz, ein Unkraut, dessen Ausrottung die Gesetze mit 
desto mehr Sorgfalt betreiben sollten , je üppiger es in der mensch, 
liehen Natur wuchert; denn durch die erste Beleidigung werden 
die Gesetze blos übertreten , aber die Bache für jene Beleidigung 
bringt die Gesetze um ihren Dienst. « 

Die Verstellung (Nr. 6) nennt der Verf. »nur eine matte 
Art von Klugheit; denn es erfordere einen starken Geist und ein 
starkes Herz, zu wissen, wann man die Wahrheit reden und der 
Wahrheit gemäfs handeln soll. Daher sind es immer nur die 
schwächsten Staatsmänner, die sich am meisten verstellen.« Im 
Verbergen oder Verschleiern seiner selbst unterscheidet Baco drei 
Grade; der erste ist das Geheimhalten, was eigentlich die Tugend 
des Beichtvaters ist- Hier wird bemerkt , dafs Geheimnisse der 
Verschwiegenheit gehören ; dafs sich Nacktheit so wenig für die 
Seele als für den Leib gezieme, und dafs es sowohl der Klugheit 
als der Sittlichkeit gemäfs sey , sich Verschwiegenheit anzugewöh. 
nen. Den zweiten Grad, die Verstellung im negativen Sinne, 



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904 Baco'a Versuche mural , ökon. u. polit. Inhalts, 

wenn Jemand Andeutungen und Beweisgrunde fallen lüfst , welche 
die Meinung erregen, er sey das nicht, was er doch ist, — die* 
sen erklärt B. für eine häufige Folge des Gebeimhaltens; diese 
Art von Verstellung ist gleichsam der Saum oder die Schleppe 
der Verschlossenheit. So weit gestattet, wenn nicht der Philo- 
soph, doch der rechtliche Staatsmann, die Verstellung. Den drit- 
ten Grad aber, die positive Verstellung, oder lugenhafte Erklä- 
rungen, hält er nicht nur für strafbarer, sondern auch für weni- 
ger staatsklug. Als durchgangige Gewohnheit ist sie ein Laster. 
Aber leider ist sie der beste Weg, etwas zu entdecken. »Sage 
eine Luge, und du findest eine Wahrheit«, heifst das schlaue 
Sprichwort der Spanier. Endresultat: »Man erhalte sich den Ruf 
eines offenen Charakters, gewöhne sich bei Geheimnissen an Ver- 
schlossenheit, wisse die Nachforschungen über seine wahre Ge- 
sinnung zu rechter Zeit abzulenken , und habe endlich das Vermö- 
gen, sich anders zu stellen, als man ist, wenn sonst kein Mittel 
helfen will.« (S. 31 — 28.) 

In der fruchtbaren Betrachtung über den Neid (Nr. 9) wird 
die feine Beobachtung mitgetheilt, dafs keine Leidenschaft leich- 
ter ins Auge trete, und so der biblische Ausdruck »ein übles 
Auge« erläutert. Dann wird bemerkt, dafs ein Mensch, der sich 
gern in fremde Sachen mischt und Alles ausforschen will, ge- 
wöhnlich auch neidisch ist. »Der Neid ist gleichsam ein Land- 
streicher oder Pflastertreter, der es daheim nicht aushalten kann.« 
Menschen , die nach erlittenen Drangsalen sich wieder erholt ha- 
ben, sind, nach Baco's Beobachtung, auch gemeiniglich neidisch. 
Sie sind mit dem Schicksal zerfallen, und meinen in dem Scha- 
den, der Ändere trifft, Ersatz für ihre eigenen Leiden zu finden. 
Auch Leichtsinnige und Ruhmsüchtige sind nach ihm neidisch. 
Nachdem noch diejenigen Zustande und Personen aufgeführt wor- 
den, die der Neid am wenigsten trifft, schliefst der Aufsatz, ge- 
wissermafsen der Tugend zum Tröste, dafs der Neid unter allen 
Leidenschaften diejenige ist, die allein keine Feiertage hat, und 
erklärt ihn ohne Weiteres für die niedertrachtigste Leidenschaft. 

(S. 34—41) 

Merkwürdig sind die Bekenntnisse des Grofskanzlers von Eng- 
land über hohe Ämter und Würden (Nr. 11). »Männer in 
hohen Ämtern, sagt er, sind dreifache Sklaven: nämlich Sklaven 
des Landesherrn oder des Staates, Sklaven des Ruhms und Skla- 
ven der Geschäfte. Seltsames Verlangen, nach Gewalt zu stre- 



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ben, und die Freiheit zu verlieren, oder sich Gewalt über An. 
dere zu erwerben , um die Gewalt über sich selbst einzubüßen ! 
Das Aufsteigen zum Amte ist mühsam , und mit aller der Muhe 
gelangen die Menschen doch nur zu gröfserer Muhe; zuweilen 
ist es auch niederträchtig, und dann gelangen sie durch Un Wür- 
digkeiten zu Wurden. Schlüpfrig ist es, droben zu stehen, und 
das Zurücktreten entweder Untergang oder wenigstens Verdun- 
kelung , also immer etwas Trübseliges.« Und doch kann Baco 
nicht begreifen, dafs so manche Minister, sogar im Alter und in 
Krankheiten, wo der Schatten doch Bedürfnifs wird, sich nicht in 
den Privatstand zurückziehen wollen. »So sitzen oft alte Leute 
in Städten immerfort vor ihrer Haasthür, obgleich sie das Alter 
dadurch dem Spott preisgeben, c 

» Ohne Zweifel pflegten hohe Staatsdiener ihre Meinung an- 
derswoher zu entlehnen , wenn sie sich für glücklich halten ; denn 
dieses können sie unmöglich, sobald sie nach ihrem eigenen Ge- 
fühl urtheilen. Denken sie aber bei sich selbst, was Andere von 
ihnen denken, und dafs diese Andern gern an ihrer Stelle seyn 
möchten, dann sind sie gleichsam dem Bufe nach (um ihres Hu- 
fes willen) glücklich.« Baco giebt sofort Verhaltungsregeln bei 
der Verwaltung eines Amtes , und warnt vor den Hauptfehlern 
der Machthaber: Verzögerung, Bestechlichkeit, rauhem Beneh- 
men und zu grofser Beredsamkeit. Gegen Bestechung binde 
nicht nur dir selbst und deinen Dienern die Hände , sondern auch 
den Bittstellern. « ( Dafs der Verf. dieser Zeilen , wegen förm- 
lichen Ämterverkaufs von der Pairskaramer nach eingestan- 
denem Verbrechen, trotz der Verwendung des Königs, ver- 
urteilt , seiner hohen Würde entsetzt wurde und, vom Hofe 
verbannt, starb, ist bekannt.) 

In der nächsten Betrachtung »Dreistigkeit« entwirft Baco 
ein Portrait, für das jede Zeit ihre Originale aufzuweisen hat. 
Wie Demosthenes für die drei Haupteigenschaften des Bedners 
die Action , und wieder die Action , und zum dritten die Action 
erklärte, derselbe Fall ists, nach ihm, mit der Dreistigkeit im 
bürgerlichen Geschäfte. »Was ist das Erste? Dreistigkeit. Was 
das Zweite und Dritte ? Dreistigkeit. Und doch ist die Dreistig. 
keit nur eine Tochter der Unwissenheit und eines niedrigen Ge» 
xnüthes. Dessenungeachtet bezaubert sie diejenigen, welche ent- 
weder seicht im Urlbeilen oder von schwachem Muthe sind , also 
den gröfsten Theil der Menschen ; ja sie gewinnt sogar über weise 



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906 Baco'i Versuche morai., ökon. u. polit. Inhalt« . 



Männer in schwachen Augenblicken die Oberhand. Man kann 
annehmen , so wie es Marktschreier giebt in Beziehung auf den 
physischen Leib; so giebt es deren auch in Beziehung auf den 
Staatskorper; Menschen , die grofse Heilungen unternehmen, und 
vielleicht in zwei oder drei Versuchen glücklich gewesen sind, 
aber keine gründlichen Kenntnisse besitzen, und daher auf die 
Dauer nicht Stich halten. Zu Zeiten wird man immer sehen , wie 
ein dreister Mensch das Wunder Mohammeds verrichtet (d. h. zu 
dem Hügel geht, wenn der Hügel nick« zu ihm kommen will). 
Er wird die Sache auf die leichte Achsel nehmen , eine Wendung 
machen, und damit gut. Wahrlich, für Männer von scharfem 
L'rtheile sind dreiste Menschen spafsnaft anzusehen. . . . Beson- 
ders macht es Spafs, wenn man sieht, wie ein dreister Mensch 
die Fassung verliert; seine Gesichtszuge werden dann wie einge- 
schrumpft nnd ganz steif. 80 mufs es auch kommen : denn bei 
<3er Blodigkeit wechselt doch einigermafsen der Muth zwischen 
Steigen und Fallen ; ist aber hei dreisten Menschen der Muth ein- 
mal gesanken, so stockt er völlig.« 

Der Aufsatz über Güte und Gutmütigkeit (N. i3) tritt 
mit gerechtem Unwillen der Behauptung Macchiavclls entgegen, 
vdafs der christliche Glaube die guten Menschen den tyranni- 
schen und ungerechten zum Raube preisgegeben habe. Dagegen 
erklärt Baco die Gute für die grofste von allen würdigen Eigen- 
schaften des Gemüths; ohne die der Mensch nur ein geschäfti- 
ges, schädliches, elendes Ding ist, nicht besser als eine Art von 
Gewännen. 

Kecke Gedanken enthält die Betrachtung mit der Überschrift 
ein König (Nr. 14). »Unter allen Menschenklassen, beifst es 
hier, sind es die Könige, denen Gott am wenigsten verbunden 
ist; denn er thut am meisten für sie, und sie thun in der Regel 
am wenigsten für ihn. — Ein Konig , der seine Krone nicht zu 
schwer fühlen will, mufs sie jeden Tag tragen; hält er sie aber 
für zu leicht, so weifs er nicht von welchem Metali sie gemacht ist« 

Die kleine Betrachtung über den Adel (Nr. i5) bat nur für 
die Zeit Werth, in welcher der Verf. schrieb. Noch fühlbarer, 
dafs such das gröTste Genie gewisse Schranken seines Jahrhunderts 
nicht überspringt, wird uns in den Worten über Aufruhr und 
Empörungen (Nr. 16, S. 64 — 76). Hier sieht der grofse Mann 
nur Partialursachen und weifs nur Palliativmittel. Von einer Auf- 
regung der Völker durch Ideen wufste er so wenig, als er über 



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van Bruichiui. 107 

Mittel nachdachte, wie eine solche zu beschwichtigen wäre. Sei. 
*em durch das Alterthum tiefgebildete n Geiste konnte diese 
Materie doch nicht ganz fremd seyn; seiner Zeit war sie fremd; 
für diese lag die Reformation schon zu weit hinten , und die idea- 
len Kiemente, welche der religiös-politischen Revolution Englands 
unter Carl 1. zu Grunde lagen, waren noch nicht entwickelt. So 
fuhrt er wohl als Ursachen der Empörungen an« Neuerung in der 
Religion, Änderung von Gesetzen u. s. w. f aber er behandelt 
diese Beweggrunde ganz wie andere, gemeinere, materiellere 
Ursachen, und seine Vorkehrungen und Gegenmittel sind ganz 
empirischer Natur. Auch er wufste nicht: »was der Kalender 
über Sturme im Staate schreibt.« — 

Vom Atheismus sagt Baco (Nr. 17): »Lieber wollte ich 
alle die Fabeln in den Legenden , im Talmud und im Koran glau- 
ben , als annehmen , dafs dieses Weltall ohne eine Seele sey. « 
Vom Aberglauben aber, mit dieser Äusserung etwas im Wi- 
derspruch (Nr. 18): »Es wäre besser, gar keine Meinung von 
Gott zu haben, als eine solche, die seiner unwürdig ist; denn 
das Eine ist Unglaube, das Andere hingegen ist Schimpf.« 

Der Abschnitt »Reisen« (Nr. 19) erscheint in unser m wan- 
derhundigen Jahrhundert gar altgebacken ; und zur sosten Be- 
trachtung »Oberherrschaft« gilt, was zur i6ten gesagt wor- 
den ist. Doch bleibt merkwürdig , was Baco über den Gemüths- 
zustand der Konige schreibt. Er findet den Ausspruch der Schrift: 
» Das Herz der Ronige ist unerforschlich « , sehr naturlich. »Denn 
wo es eine Menge eifersuchtiger Besorgnisse giebt, und kein vor- 
herrschendes Verlangen , welches die übrigen alle leiten und ord- 
nen könnte, da wird jedes Herz schwer auszuforschen und zu 
ergründen. Daher kommt es auch, dafs die Fürsten sich manch- 
mal selbst Wünsche schaffen und ihr Herz an allerlei Tand han- 
gen. Bald ist es ein Bau, bald die Stiftung eines Ordens, bald 
die Beförderung einer Person, bald das Streben naoh Auszeich- 
nung in irgend einer Kunst oder in einer Fertigkeit der Hand.... 
Dies scheint nur denen unglaublich, welche die Grundwahrheit 
nicht kennen, dafs es den menschlichen Geist mehr freut und 
erquickt, wenn er in kleinen Dingen Fortschritte macht, als wenn 
er in grofsen Dingen stehen bleibt.« Daraus erklärt es sich ihm 
auch, warum glückliche Eroberer, da sie doch nicht ins Unend- 
liche fortfahren können, am Ende abergläubisch und melancholisch 
werden. Auch aus dem Aufsatze »Rath« (Nr. 31) pafst nur noch 



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Baco'a Versuche moral., ökon. o. polit. Inhalt«, 



Einzelnes auf die Gegenwart. Hingegen sind die Capitel aa — 24 
Aufschub, Verschlagenheit, selbstsuchtige Klugheit 
(S. io3 — "3)i wo es der Verf. mit der gemeinen Klugheit und 
der Schwäche des menschlichen Herzens zu thun hat, leider für 
alle Zeiten gerecht. Da heifst es z. B. : »Eis giebt Menschen , 
welche die Karten mischen können , and doch nicht gut zu spie* 
len verstehen ; ebenso findet man einige , die zu heimlicheu Wer- 
bungen und bei Parteien gut zu brauchen , aber sonst nur schwa- 
che Menschen sind. « — • Eine von den Künsten der List besteht 
darin, demjenigen, mit welchem man spricht, mit den Augen 
aufzulauern, wie die Jesuiten vorschreiben; denn mancher weise 
Mann hat ein verschlossenes Herz und ein offenes durchsichtiges 
Antlitz.« — »Ein listiger Streich ist es, aus eignem Antriebe 
solche Worte fallen zu lassen , die eiuen Andern reizen sollen , 
dafs er sie gebrauche, um ihm dadurch den Vortheil abzugewin- 
nen.« — So kannte Baco zwei Männer, die sich beide um eine 
Staatssecretärsstelle bei der Konigin Elisabeth bewarben und äus- 
. scdich gut mit eioander standen. Der listigere äusserte bei einer 
Geschäftbesprechung wie zufällig: »Secretär (Minister) zu seyn 
während des Verfalls einer Monarchie sey doch eine lutz- 
liche Sache ; er selbst sehne sich gar nicht darnach. Dem dum- 
mem und arglosen leuchtete diese Ansicht sogleich em und er 
wiederholte sie, als seine eigene, vor mehrern Freunden. Das 
war es, was der Erstere wollte; er sorgte dafür, dafs die un- 
vorsichtige Äusserung seines Freundes, die doch er ihm in den 
Mund gelegt hatte, der Königin hinterbracht wurde. Als diese 
von » Verfall der Monarchie « hörte , nahm sie das so übel , dafs 
sie von der Bewerbung des Dummen nichts mehr hören wollte. 
(S. 108.) Ob der Listige die Stelle erhalten habe, und wer er 
war, sagt Baco nicht. 

Egoismus an einem Fürsten ist Baco verhafst , doch erträg- 
lich. »Aber ein verzweifeltes Übel ist es an dem Untertban ei- 
nes Fürsten , oder an dem Burger in einem Freistaate ; denn was 
immer für Geschäfte einem solchen Menschen in die Hände kom- 
men, er dreht und wendet sie nach seinen eigenen Absichten, 
und es kann nicht fehlen , dafs diese Absichten oft sehr weit von 
denen seines Herrn oder Staates abweichen. Mögen daher Fürsten 
oder Staaten nicht solche von Gott gezeichnete Diener wählen. « 

In der Betrachtung »Neuerungen« (Nr. 25.) zeigt sich 
Baco besonders grofs und vorurtheilsfrei. »Wie die Jungen al- 



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909 



ler lebenden Geschöpfe anfangs ungestaltet sind , so auch die Neue- 
rungen, als Kinder der Zeit.« ... »Jede Arznei ist ohne Zwei- 
fel eine Neuerung. Wer aber kein neues Heilmittel anwenden 
will, mufs neue Übel erwarten. Denn die Zeit ist der gröfste 
Neuerer.... Zwar, was durch Gewohnheit festgestellt worden, 
das ist, wenn auch nicht gut, doch passend; und Dinge, die 
lange zusammen ihren Fortgang gehabt haben, sind gleichsam in 
sich selbst verbündet ; neue Dinge fugen sich nicht eben so gut... 
Alles wahr und richtig, wenn nur die Zeit still stände; die aber 
bewegt sich so merklich, dafs ein eigensinniges Festhalten an 
Gebrauchen eben so ungestüm ist als eine Neuerung.« (S. n4») 

»Schnelle Geschäftsführung« (Nr. 26) und »Schein* 
Weisheit« (Nr. 27) enthalten goldene Canzleiregeln. »Freund- 
schaft« (Nr. 28) ubergehen wir aus schon berührten Gründen. 
Der kleine Aufsatz »Ausgaben« (Nr. 29) verschmäht auch die 
Weisheit im Kleinen nicht. Die Betrachtung über »wahre 
Grofse der Reiche und Staaten« (Nr. 3o. S. 134—148) 
enthält noch immer viel Wahres und Anwendbares. » Der Segen 
des Judas, hei Pst es hier, und der des Isaschar werden nie zu- 
sammenkommen ; nie wird man sehen , dafs ein Volk oder eine 
Nation zugleich ein junger Löwe und ein lastbarer Esel sey; 
auch nicht, dafs ein mit Steuern überladenes Volk tapfer und 
kriegerisch werde.« — »Staaten, die nach Grofse streben, mö- 
gen wohl auf der Hut seyn, dafs ihr Adel und vornehmer Bür- 
gerstand sich nicht zu schnell vermehre, denn dadurch wird aus 
dem gemeinen Manne nur ein elender Bauerbursche, dermafsen 
gehetzt, dafs ihm aller Muth entsinkt, und dafs er im Grunde 
nichts ist, als der Arbeiter des Edelmannes. Läfst man in Wäl- 
dern das Pfahlbolz zu dicht wachsen, so wird msn nie sauberes 
Unterholz haben, sondern nur Stauden und Gesträuch.« — »Kein 
Körper, weder ein physischer, noch ein Staatskörper, kann ge- 
sund seyn ohne Bewegung; die wahre Bewegung aber für ein 
Reich oder einen Staat ist ein gerechter und ehrenvoller Krieg. 
Ein Bürgerkrieg freilich gleicht einem hitzigen Fieber; aber ein 
auswärtiger Krieg gleicht der durch Bewegung erzeugten Wär- 
me, welche dazu dient, den ganzen Korper gesund zu erhalten.« 

Nr. 3i behandelt die Gesundheitspflege; Nr. 32 den 
Argwohn, von dem Baco sagt, er sey unter den Gedanken, 
was die Fledermaus unter den Vögeln , beide fliegen nur während 
der Dämmerung umher. Doch »der Argwohn, den das Geraüth 



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910 Baco'i Versuche moral., dkoo. u. polit. Inhalta , 

» - ' 

aus «ich selber schöpft, ist nur ein Gesumse; aber der künstlich 
genährte Argwohn , den Andere durch Erzählungen und Einflü- 
sterungen uns in den Hopf setzen , hat einen Stachel. « Der Auf- 
satz über das Gespräch (Nr. 33) giebt empirische , aber noch im« 
mer gültige Regeln. 

Wir eilen über den Aufsatz Nr. 33 (Colonien) hin, und 
entlehnen aas der Betrachtang über den Reicht hu in (Nr. 34) 
nur das schöne Thema : »der Reichthum ist das Gepäck der Tu- 
gend«, und aus der Abhandlung über Prophezeihungen (Nr. 
36) nur Baco's Rath, alle zu verachten, und sie nur als Winter, 
mährchen am Kamin zu benutzen. Merkwürdig ist jedoch die 
Vorhersagung des Regiomontanus, die er ganz arglos anfuhrt: 
dafs dafs Jahr 88 ein wunderbares sey. Baco ahnte nicht, dafs 
diese Prophezei hung das Jahr 1 688 für sein englisches Vaterland 
erfüllen wurde. — Den Ehrgeiz (Nr. 37) erklärt er f?r die 
schlimmste Gerautbsart, die ein Fürsten- oder Staatsdiener haben 
kann. — 

Nr. 35 — 40 (Buhnenspiele; die Natur in dem Menschen; 
Gewohnheit und Erziehung) geben für das jetzige Leben weniger 
Ausbeute, als man erwarten könnte. Interessanter ist der Aufsatz 
über das Glück (Nr. 41), wo es unter Anderm heifst: »Ein 
übereiltes Gluck bildet den Planmacher und Aufruttier; aber das 
gehörig verarbeitete Glück bildet den geschickten Mann.« 

Der Abschnitt Wucher (Nr. 42) ist ganz abhängig von des 
Verfassers Zeit. »Jugend und Alter« enthält treffende Be- 
merkungen. Z. B. »Junge Leute eignen sich besser zum Erfin- 
den als zum Urtheilen; sie passen mehr für die Ausführung, als 
für den Rath; mehr für neue Entwürfe, als für schon geregelte 
Geschäfte. Denn die Erfahrung des Alters leitet die Menschen 
zwar richtig in dem, was innerhalb des Kreises der Erfahrung 
liegt; aber in Allem, was neu ist, fuhrt sie dieselben irre.« 

Die Betrachtungen über Schönheit, ü n gestal theit , 
Gebäude, Gärten (Nr. 44 — 47) sind ron einem durch die 
Gegenstände beschränkten Interesse. In den folgenden Abschnit- 
ten : Unterhandeln, Schützlinge und fremde Gesuche, 
Stadien (Nr. 48 — £2) finden sich interessante Spezialitäten, das 
Beste in den Studien (bes. S. 228. 22g.)» Wichtiger ist der Ar- 
tikel Parteien. Der gewichtigste Satz steht hier an der Spitze: 
»Viele haben die unkluge Meioung, für einen Fürsten bei der 
Leitung der Staatsgeschäfte, oder für einen Grofsen bei der Lei- 



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von Bruichiua. 911 

tung seiner Handlungen, sey die Rücklicht auf Parteien eine 
Hauptregel der Politik ; da doch im Gegentheil die Klugheit haupt- 
sachlich darin besteht, entweder solche Anordnungen zu treffen, 
die zwar allgemein sind, worin aber dennoch Menschen von ver- 
schiedenen Parteien übereinstimmen ; oder jeden Einzelnen so zu 
bebandeln, wie es ihm angemessen ist.« 

Man sollte kaum glauben, dafs die Abhandlung über Com- 
plimente und Ehrenbezeugungen, Dinge, die so sehr von 
der Mode abhangig sind, noch einiges Interesse haben könne, 
aber gerade aus ihr wird man sehen, dafs selbst die modernste 
Mode nichts Neues unter der Sonne ist. »Lob; Eitler Ruhm; 
Ehre, Ruf« (Nr. 54 — 56) enthalten viel Beherzigens werthes, 
und manche schmerzende Wahrheiten. Z. B. »Der Ruhm der 
Gelehrsamkeit hat nur einen langsamen Flug, wenn er nicht ei« 
nige Federn von der Prahlerei borgt. « — » Die Tugend hatte 
von jeher ihren vollen Werth (die volle Anerkennung ihres Wer- 
thes) nur selten der menschlichen Natur zu verdanken ; sie erhielt 
ihn vielmehr fast immer aus der zweiten Hand.« 

In dem Aufsatze »Richteramt« (Nr/ 57) wird nachdrück- 
lich vor dem Radebrechen der Gesetze gewarnt: »denn wenn 
Strafgesetze mit Schärfe angewendet werden , so ist das soviel 
als regnete es Schlingen über das Volk.« 

Die letzten Abschnitte, Zorn, Wechsel der Dinge, Ge- 
rüchte (Nr. 58 — 60) zeigen den Verfasser (wenn es nicht viel- 
mehr Referent ist) etwas ermüdet. Doch entlehnen wir aus der 
5o,sten Betrachtung noch folgenden Satz : » Wenn die herrschende 
Religion durch Zwietracht zerrissen wird , wenn die Heiligkeit 
der Religionslebrer in Verfall gerathen und zum Skandal gewor- 
den ist, wenn dabei die Zeiten dumm, unwissend und roh sind; 
dann darf man vermuthen , dafs irgend eine neue Sekte empor- 
spriefsen wird , besonders wenn zugleich ein schwärmerischer und 
wunderlicher Geist aufsteht, um sich zum Urheber derselben zu 
machen. « Alles dieses traf bei Mohammed zusammen. Vor den 
speculativen Ketzern ist dem Verf. dabei nicht bange, diese 
haben zwar einen mächtigen Einflufs auf den Verstand der Men- 
schen, bringen aber keine grofse Veränderung in dem Staate her- 
vor, wenn nicht die bürgerlichen Verhältnisse sie unterstützen. 
(S. 25 7 .) 

Die Betrachtungen Baco's sind mit mancherlei Citaten aus 
dem classischen Alterthum belegt, die nicht immer genau sind, 



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912 Baco'« Vcmuche moral. , ökon. u polit Inhalts , von Brotebios. 



denn für absolute Pünktlichkeit war Baco zu bequem , zu 
vielleicht sogar zu gelehrt. So ist das Citat von Galbas letztem 
Worte (S. n) ungenau. Er sagte nicht: »Feri, si ex re si't po~ 
poli Romani«, sondern: »agerent ac ferirent, si id e Rep. tide- 
retor. < (Tac. Hist » , 4« ; und ähnlich Soet. Galb. 20. Baco 
setzte sein Dictum aus Tacitus und Plutarch, Galb. c. 27 zusam- 
men.) Irrig ist es, dafs Tiberius dem Galba die Herrschaft 
prophezei In (S. 169); Augustus war es (vergl. Suet. Galb. 4.). 
Einmal (S. 11 3) citirt Baco den Cicero, wo er den Horas 
(A. 34. poet. 444.) citiren sollte; und wenn er von einem Manne 
tagt, der, wenn er den Zorn kommen fühlte, das Alphabet ge- 
sprochen habe , so schwebte ihm Plotarchs Erzählung (Reg. et 
Imperator. Apophthegmm. Ed. Hütt VIII. p. 169) nur sehr dun- 
kel vor. 

Doch, was thut dies zur Sache? — Die Aphorismen Ba- 
co's, von denen wir nicht den hundertsten Tbeil der besten hier 
hier mittheilen konnten, sind um so gewichtiger, als sie von kei- 
ner Parteiabsicht eingegeben sind, und das Bittere, das Viele 
charakterisirt , nicht aus dem Munde eines Oppositionsmannes, 
sondern aus dem eines Regierungsmannes kommt, der im vollen 
Besitze der Macht schrieb. Im Ganzen entsprechen sie aueb dem 
Charakter ihres Verfassers. Und dafs er seinen Vorschriften im 
Leben zuletzt untreu geworden ist, das bewährt nur den Spruch 
jenes Alten: Satis compertum, cohibendae cupidini, ingenium ni 
juvet, eruditionem irabecillem esse. (Aurel. Victor de Caes. c. 19.) 

G. Schwab. 



• 



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* 



N". 58. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



ÜBERSICHTEN und KURZE ANZEIGEN. 

m 



STA ATS WISSENSCHAFT. 

Untersuchung der Frage, ob die kurhessischen Kapitalschuldner durch die 
ihnen in Napoleon'» Auftrage eriheilte Quittung von ihrer Schuld be- 
freit worden. Mit besonderer Berücksichtigung der Schrift: Napoleon 
und die kurhessischen Kapitalschuldner von F. C. Schweikart. Königs- 
berg 1833. Von Dr. G. Riesser. Frankfurt a. M. Verlag von S. 
Schmerber. 1831. 260 S. 8. 

Der nun verstorbene Kurfürst von Hessen hatte mehrere sehr 
bedeutende Kapitalien theils an andere regierende Herren theils 
an Privatpersonen ausgeliehen. Napoleon zog diese Kapitalien ein, 
nachdem er das Kurlürstenthum Hessen milität isch beseur hatte. 
Die Schuldner wurden aufgefordert und genothigt, Zahlung zu 
leisten. Sie zahlten zwar, zu Folge eines mit den französischen 
Behörden getroffenen Abkommens, nicht die ganze Schuld, wur- 
den aber von denselben Behörden über die ganze Summe quit- 
tirt. Der Kurfürst, in seine Staaten zurückgekehrt , bestritt die 
Gültigkeit dieser Zahlungen und Quittungen, in wiefern sie Ihm 
entgegengesetzt wurden. Es entstand daher die Frage : Haben 
die geleisteten Zahlungen und die darüber ausgestellten Quittun- 
gen die Schuldner im Verhiiltnifs zu dem Darleiher der Kapitalien 
— schlechthin oder wenigstens bis zu dem Betrage der wirklich 
geleisteten Zahlungen — befreit ? In der (schon in diesen Blät- 
tern angezeigten) Schrift des Herrn Prof. Schweikart wurde, mit 
Rucksicht auf einen einzelnen von der Juristenfakultät zu Königs- 
berg abgeurteilten Fall, die Meinung vertheidigt, dafs zu Folge 
jener Quittungen der Darleiher der Kapitalien schlechthin 
nicht berechtiget sey , von den Schuldnerin Zahlung zu fordern. 
Herr Dr. Riesser gelangt dagegen in der oben bezeichneten Schrift 
zu einem für den Darleiher weniger ungunstigen Resultate. Ec 
selbst fafst dieses Resultat (S. 260) in folgende Säte zusammen: 
»Waren die Kapitalien Staatsgut , so konnten die Schuldner freilich 
an eine den kurhessischen Staat, wenn auch ohne genügenden 
Rechtsgrund, doch in unbestrittener faktischer Wirksamkeit, ver- 
tretende, mit ihm eine und dieselbe rechtliche Persönlichkeit bil- 
dende Regierung gültiger Weise zahlen, nicht aber an einen 
Dritten, der die Kapitalien, sie vom Staatsvermögen lostrennend, 
in eignem Namen und zu eignem Vortheil in Anspruch nahm. 
Gehörten die Kapitalien zum Privatvermögen des Kurfürsten, so 

XXX. Jahrg. 9. Heft. 58 



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9U 



Pädagogik. 



waren sie schon an sich dem Erwerb durch Regicrungsnachfolge 
nicht unterworfen, und das Kriegsrecht allein konnte den Vor- 
wand zu einem Anspruch auf dieselben an die Hand geben. In 
beiden Fällen also können sich die Schuldner gegen den An* 
Spruch ihres wahren Gläubigers nur durch Berufung auf Zwang 
und auf wirkliche Zahlung schützen; in beiden Fallen können sie 
nur Hülfe gegen einen Schaden, der sie treffen wurde, nicht 
Bereicherung auf Kosten ihres Gläubigers in Anspruch nehmen. 
Es braucht kaum bemerkt zu werden, wie sehr dieses im positi- 
ven Rechte begründete Resultat zugleich dem natürlichen Rechts« 
gefühle und der Billigkeit entspricht, die es hart finden mögen, 
wenn der Schuldner Schaden leiden sollte durch einen ihm allein 
zum Nachtheil des Gläubigers zugefügten Zwang, die sich aber 
weit mehr dagegen sträuben , dafs der Schuldner die Lage seines 
Gläubigers solle benutzen dürfen , um sich zu seinem Nachtheil 
durch eine Abfindung mit dem Feinde zu bereichern, « Es ist 
hier nicht der Ort , auf die in diesen Schriften erörterte Frage 
tiefer einzugehen, und die drei Meinungen, welche über diese 
Frage überhaupt aufgestellt werden können, mit ihren Gründen 
gegen einander abzuwägen. Aber das kann Ref. versichern, dafs 
Herr Dr. R. den Gegenstand seiner Schrift mit gründlicher Ge- 
lehrsamkeit und mit grofsem Scharfsinne behandelt hat. 

Zachariä d. ä. 



PÄDAGOGIK. 

i 

(Siehe Nr. 52.) 

5) Über einen neuen Entdeckungsversuck in der Pädagogik. Abhandlung 
in dem Programm des Gymn. in Stralsund von Dr. E. .\n:c, Dir. 
Stralsund in der Löffler*schen Buchhandl 1836. 22 S. 4. 

6) JEine Beurtheilung des Hoff mann' sehen Aufsatzes, sowie der Schriften 
von Mutzet, Heinsius und Hagemann, von Dr. Fr. Reiche in Bran- 
denburg , kamcraL Zeitung 1836. N. 20 u. d. f 

Verhandlungen des pädagogischen Vereins zur Geselligkeit über die 
Lorinser'sche Frage. Zum Drucke befördert durch Prätor ins , den 
Schulfreund. Berlin , bei öhmigke 1836. 56 S, gr. 8. 

8) Über die Entwicklung und den gegenwärtigen Zustand des höheren 
Schulwesens in Preufsen. Ein Beitrag zur Würdigung der Schrift 
de» H» Lorinser etc. von P. J. Seut, Oberlehrer am Gymn. zu Koblenz* 
Koblenz bei Hölscher 1836. VI und 125 & gr. 8. 

9) . Die Organisation der Gymnasien nach Lorinscra Ansichten von Dr, 

Bemh. Thier seh, Direct. des Gymn. zu Dortmund. Das. bei Krie- 
ger 1836. 70 & gr. 8. 

10) Die Schulfrage der gegenwärtigen Zeit; ein Dialog. Berlin, bei Lo- 
gier 1886. 60 Seiten gr. 8. 



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• Pädagogik. 915 

11) Beitrag au den Streit/raffe über die jetzige Oymnasialbildung ; neu 
angeregt von Dr. Lorinser in der Schrift ; „ Über den .Schutz der Ge~ 
tundheit auf Gymnasien.« Leipzig bei Nauck. 1836. 24 S. gr. 8. 

12) Bemerkungen Uber den Einßufs der Verstandesbildung und geistigen 
Aufregung auf die Gesundheit von Amariah Brigham, mit Anmerkun- 
gen von Bob. Macinsh , aus d. Engl, übersetzt von Dr. A. Hildebrant. 
Berlin bei Enslin 1836. 12S Ä. gr. 8. 

15) Lorinser und die Gclehrtenschulen. Ein Bericht über die Schriften 
von Lorinser, Hoffmann, Mutzet, Beinsius und Froriep; in den Blat- 
tern für Uter. Unterhaltung 1836. N. 1U bis 116. 

• In Betreff der ausgedehnten Vortröge über Philosophie und 
des Hereinziehens einer der Universität angehörenden Wissenschaft 
in die Gymnasien stimmt Ref. dem Verf. nei, aber nicht in An- 
sehung eines tüchtigen und schulgerechten Unterrichtes in den 
Gesetzen der Logik. Gewöhnlich wird diese an den Universitä- 
ten nur im Vorbeigehen berührt; die Studenten selbst aber re- 
nommircn durchgehends im ersten Jahre; lassen sich die Studien 
nicht so sehr angelegen seyn und versäumen dadurch einen Un- 
terricht, dessen Inhalt die Grundlage für alle Wissenschaften aus- 
macht. Ein umfassender und grundlicher Unterricht in den Ge- 
setzen der Logik an Gymnasien erscheint dem Ref. als unent- 
behrlich. 

Da die Errichtung von Realschulen oft zu kostspielig ist, so 
schlägt der Verf. vor, bei allen Gymnasien, welche uoer 200 
Schüler zählen , besondere Realsectionen zu errichten. Hiermit 
ist nicht geholfen ; in vielen grofseren Städten belauft sich die 
Anzahl der Schüler eines Gymnasiums gewifs über jene Zahl, 
und es bestehen vielleicht Realschulen, z. B. in Berlin. Die Lehr- 
gegenstände bleiben dort nachher wie vorher ; wo wenigere Schü- 
ler die Anstalten bilden, bleiben jene ebenfalls, mithin ist weder 
der Überfüllung von Lehrgegenständen, noch der oft überraäfsi- 
gen Anstrengung begegnet. Herr Lorinser verlangt wenigere 
Lehrstunden und geringere Ausdehnung der Gymnasialstudien, 
um der nach seiner Ansicht dadurch veranlafsten Schwächung des 
Geistes und Körpers zu begegnen. Gegen die Verminderung des 
Umfanges des Unterrichts erklärt sich der Verf. direkt, hat aber 
in Bezug auf Naturwissenschaften, Mathematik und selbst auf 
Sprachstudien keine zureichende Gründe für seine Behauptungen, 
und reicht mit seinen Angaben am wenigsten da aus, wo er an- 
nimmt, die Ausdehnung der Lehrobjekte sey nicht übertrieben. 
Ein unbefangener und wahrhaft humaner Blick in die verschiede- 
nen Jahresberichte hatte ihn eines Besseren belehrt, wenn er ihn 
nüchtern und wohl überlegt gethan haben würde. 

Nicht viel glücklicher ist er bei Erörterung des vierten Man- 
gels; es ist nicht zu läugnen, daß eine ängstlich controlirte und 
in vielen Vorschriften bestehende Beaufsichtigung, wie sie der 
Verf. kurz schildert, und wie er sie daher beachtet haben raufs, 
zu vielen Widersprüchen und Verkehrtheiten fuhrt, weil sie na- 



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'racntlich die Selbsttätigkeit beeinträchtigt und zu mancherlei 
Täuschungen veranlafst; allein damit ist nicht gesagt, dafs eine 
in humanem Sinne vorgenommene Beaufsichtigung schädlich zu 
nennen sey. Vielmehr führt sie zu sehr vielem Guten und trägt 
zur geistigen Ausbildung, zur moralischen Veredlung und zur 
physischen Kräftigung wesentlich bei ; ja sie hilft den Charakter 
des Jünglings wahrhaft veredeln. Der Lehrer giebt Winke über 
zweckmäfsige Einrichtung der Privatstudien, über Behandlung 
der verschiedenen Bearbeitungen, über dunkle oder zweideutige 
Verhältnisse, über Verwendung der geistigen Thätigkeit u. s. w. T 
und veranlafst häufig durch seinen freundlichen Rath den zweck- 
dienlichsten Übergang von niederen zu höheren Studien. Der 
Verf. hat daher sehr Unrecht, sich unbedingt gegen solche Be- 
aufsichtigung zu erklären ; er verwechselt die inhumane Behand- 
lung der Jünglinge mit der humanen, und giebt abermals zu er- 
kennen, dafs er die Sache nicht klar durchdacht bat. Würde er 
mit Ruhe die Verhältnisse überlegt haben, so hätte ihn die Pä- 
dagogik zu gehaltvolleren Darstellungen geführt. Er würde man- 
che Blofse nicht gegeben und seine vielen gehaltlosen Ansichten 
nicht veröffentlicht haben. 

In dem Aufsatze N. 6 findet man wieder eine unbedingte 
Bestätigung der Lorinserschen Anklage, welche gegen die be- 
zeichneten Schulmänner in Schutz genommen wird. Ob der Vf. 
berufen und geeignet ist , in einen pädagogisch • medicinischen 
Streit sich eiomiseben und darüber ein gegründetes Urtheil ab- 
geben zu können , bezweifelt Ref. um so mehr , als ihm die von 
jenem versuchte Beurtheilung keinen Anhaltspunkt giebt, sich von 
der klaren Einsicht des Verfs. in die Sache zu überzeugen. Er 
halt ihn vielmehr für einen unberufenen Gast, der sich in eine 
Sache einmischt, deren Wesen er nicht kennt. Den Beweis für 
diese Behauptung entnimmt Ref. aus der verworrenen und oft in 
pomphaften Ausdrücken versuchten Darstellung; aus den theil- 
weise lächerlichen Vorschlägen für die Verbesserung der Gymna- 
sien ; aus den oft einseitigen und fast allem gesunden Verstände 
widersprechenden Ansichten über Zweck der Gymnasialstudien , 
und aus Äusserungen, welche man nur einem gewissen Grade von 
Unkenntnifs in der Sache zuschreiben kann. Zu solchen gehalt- 
losen Gedanken gehören unter andern : » dafs das Erziehen kein 
Amt seyn dürfe ; dafs die Fähigkeit hierzu nicht erlernt werden 
könne; dafs die höhere geistige Kultur der Moralität schade; dafs 
der Lehrer im Freien beim Herumgehen, also ambulando, unter- 
richten müsse ; dafs überhaupt die vielen alten Einseitigkeiten wie- 
der hervorgeholt werden sollen, kann man kurz sagen. Solche 
Erörterungen sprechen für die Anklage Lorinsers nicht, vielmehr 
machen sie die Vorschläge für ihre Beseitigung lächerlich, sie 
haben daher weder wissenschaftlichen noch pädagogischen Werth 
und wären besser gar nicht geschrieben. 

Die Schrift N. 7 hat mit der von N. 10 gleiche Form , die 
dialogische, möchte ober in der zweckmäfsigea Behandlung der 



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Pädagogik. 



917 



Sache hinter ihr zurückbleiben, wenn man den Charakter des 
Dialogs ins Auge fafst und die Darstellungen selbst miteinander 
vergleicht Während N. 10 die Streitfrage von einer eben so 
interessanten als praktischen Seite auffafst, und namentlich dem 
Laien die Klagen recht verständlicht, bewegt sich N. 7 etwas 
schwerfallig , kommt am Ende durch gezwungenere Weise zu 
ähnlichen Resultaten und erörtert nur einige Momente auf eine 
gewandte und zweckmäTsige Weise. Der erste Hauptgedanke der 
dialogischen Erörterungen geht darauf hinaus , dafs weder die 
vermeintliche physische und intellektuelle Schwächung der studi- 
renden Junglinge erwiesen sey, noch die besprochene Entkräftung 
der Jugend in allen Schulen ohne Unterschied wirklich stattlinde. 
Hierin stimmt Ref. dem Verf. nicht unbedingt bei, da er seit 16 
Jahren vorzuglich eine stets zunehmende Schwäche des Geistes 
beobachtet hat. Ob diese Erscheinung einer Überladung der 
jugendlichen Anlagen, oder einer zu starken Beschäftigung des 
Gedächtnisses auf Kosten des Verstandes zugeschrieben werden 
müsse , will er nicht entscheiden , obwohl ihm ein Grund hiervon 
in jener Überladung zu liegen scheint. Er ist von einer physi- 
schen und intellektuellen Entkräftung vollkommen überzeugt und 
kennt ausser jener Ursache freilich noch manche andere, die je- 
doch nicht hierher gehören. In Elementarschulen sind diese Er- 
scheinungen nicht so sichtbar, wozu mancherlei Verhältnisse bei- 
tragen. 

Um die Übclstande und Mifsbra'uchc in Gymnasien zu besei- 
tigen , schlagt der Verf. eine planmäfsige Vorbereitung der Leh- 
rer und eine bessere Einrichtung der Prüfungen vor, welche die 
Schuler zu bestehen haben, die zur Universität ubergehen wollen. 
In beiden Beziehungen ist der Verf. nicht recht mit der Sache 
im Beinen. Dafs die Lehrer für die Gymnasien namentlich seit 
den letzten 10 bis i5 Jahren planmäfsig vorbereitet werden, be- 
zweifelt gewifs kein Sachverständiger, nur mag es ihnen nicht 
selten an der erforderlichen Lehrgeschicklichkeit fehlen, wodurch 
der Jugend das Studiren sehr erschwert wird. Hierin liegt frei- 
lich ein Hauptgrund des Übels, der sich nicht selten auf eine 
übertrieben planmäfsige und geschraubte Vorbereitung der Lehrer 
bezieht. Zugleich sind manche Lehrer zu bequem , sich auf ihren 
Unterricht vorzubereiten, oder über die Zweckmäfsigkeit ihres 
Unterricbtens nachzudenken , um mit weniger Kraft und: Zeit das- 
selbe zu erreichen , wozu sie oft zu ihrer und der Schüler Qual 
gelangen. Hinsichtlich der Abgangsprüfungen stimmen ihm die 
meisten Gegner der Lorinser'schen Anklage bei; Ref. könnte noch 
manche Nachtheile berühren, welche jene bringen, wenn der Ort 
hier dazu wäre. Dafs man die frühere Strenge und zu grofse 
Ausdehnung von Seiten der obersten Studienbeborde eingesehen 
hat, scheinen die mancherlei Nachlassungen und Erleichterungen 
zu beweisen, welche man in der jüngsten Zeit vorgenommen hat. 
Obgleich das, worauf der Verf. bei diesen Prüfungen hinweiset, 
nämlich der Unterschied zwischen den Bestrebungen der Lehrer 



918 



Pädagogik. 



und den Forderungen der Examinatoren wohl zu beachten sey, 
seine Richtigkeit hat, so fehit ihm doch die nüthige Klarheit, 
welche den Leser manchmal in Zweifel läfst, and ihn nicht damit 
vertraut werden läfst, was der Verf. an und für sich wilL Es 
wäre zu wünschen, es hätte sich der Schulfreund durch seinen 
Prätorius deutlicher erklärt und den Darstellungen selbst eine 
mehr populäre Richtung gegeben» 

Aus der Beantwortung weiterer Fragen oder aus den ferne- 
ren Erörterungen geht hervor, dafs durch vorhandene Verord- 
nungen eine Verminderung von Schulstunden und häuslichen Ar- 
beiten schon geboten sey und dieselben nur genau zu befolgen 
seyen. Hier tbeilen die Verf. nichts Neues mit; den Überladun- 
gen ist jedoch nicht begegnet , da sie noch immer eine zu grobe 
Anzahl von Stunden fordern und von fast allen bedächtigen Schul- 
männern anerkannt weiden. Wenn sie sich wirklich gegen die 
Errichtung von Realschulen erklären, und sie für solche Jüng- 
linge von i5 bis 16 Jahren, welche nicht zu den höheren gelehr- 
ten Studien übergehen, für unnothig halten, so sind sie sehr im 
Irrthum. Durch eine Vereinigung beider Zwecke, der Vorberei- 
tung zu jenen Studien und der technischen Ausbildung, wird den 
Gymnasien der wahre Charakter entzogen und ihnen eine Masse 
yon Lehrgegenständen überwiesen, welche die physische und in* 
tellektuelle Kraft der Schüler erdrücken mufs. Zugleich werden 
die für irgend ein Gewerb sich Ausbildenden mit Lebrgegenstän- 
den geplagt, welche ihnen für ihren künftigen Beruf wenig oder 
gar keinen materiellen Nutzen bringen, z. B. die griechische und 
theilweise die lateinische Sprache. Nebstdem erfordert die Ma- 
thematik für beide Ausbildungsstufen ganz verschiedene Behand- 
lung; für die gelehrten Studien ist vorzüglich auf den formellen, 
für die realen auf den materiellen Nutzen zu sehen. Für jene 
ist der Unterricht in der Chemie entbehrlich, für diese macht er 
einen wichtigen Theil der Ausbildung. Für jene ist die Physik 
nur in ihren ersten Elementen erforderlich, für diese mufs sie 
in weit grüfscrer Ausdehnung gelehrt werden u. s. w. Die Verf. 
scheinen es mit ihren Bemerkungen nicht ernstlich zu nehmen, 
da die Nothwendigkeit von Anstalten für reale Ausbildung allge- 
mein anerkannt ist. 

Die gymnastischen Übungen sollen nicht geboten, sondern 
der Jugend blos als Spiel erlaubt werden. Diese Bemerkung ist 
siebt erheblich; sorgt man für regelmäfsige Leitung der Übun- 
gen, so ist ihr Anbefehlen nicht nothwendig, die Jugend wendet 
sich meistens von selbst zu ihnen. Da Prof. Leo in Halle die 
Gymnasien sehr tadelte, so wird er am Ende der Schrift noch 
ziemlich derb abgefertigt und mitunter ziemlich satyrisch behan- 
delt, indem der Vers Horazens: Fertur Prometheus insani Leonis 
vim stomacho apposuisse nostro , auf ihn spottweise angewendet 
wird. 

Die Schrift N. 8 bespricht die Sache umständlicher und viel- 
seitiger als jede andere, welche dem Ref. darüber zur Hand ge- 



• 

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Pädagogik. 



kommen ist , zieht viele nicht wesentlich zn jener gehörige Punkte 
in ihre Entwicklung, wird darum oft weitschweifig und verliert 
nicht selten die Hauptsache aus dem Auge. Sie verliert sich häufig 
in theoretische Darstellungen , ubergeht die Erfahrung und Be- 
obachtung, schlägt Sich mit Ideen herum und vergißt die prak- 
tische Richtung ganz, welche doch in solchen pädagogischen Strei- 
tigheiten eine Hauptrolle spielt. Beobachtungen und Erfahrungen 
müssen hier gefragt werden ; das Theoretisiren f ührt nicht zum 
Ziele, vielmehr zieht es den Laien von der Sache ab, weil ihm 
die Darstellungen zu abstrakt sind. Gerade für ihn sollen der- 
gleichen Schriften wirksam werden ; für den Mann vom Fache 
sind die meisten überflüssig, da ihm der grofsere Theil der all- 
gemeinen Verhältnisse bekannt ist. Manche Erörterungen der 
Schrift sind weder klar, noch überzeugen sie von dem, was der 
Verf. will , widerlegen daher verschiedene Punkte der Lorinser- 
scben Anklage gar nicht, obgleich sie gegen dieselbe gerichtet 
Sind. Manche Vorschläge sind unausführbar, weil sie der Pratis 
völlig zuwider laufen und mit dem verschiedenen Bildungsgrade 
der einzelnen Individuen disharmoniren. 

Zuerst weiset der Verf. nach , dafs eine absolut medicinische 
Ansicht über die Schule darum nicht gelten könne , weil der Ge- 
sundheitszustand jedes einzelnen Standes stets ein relativer sey. 
In der Theorie ist demselben dieses zuzugestehen, in der Praxis 
aber begegnen ihm viele Widersprüche. Mag nun gleich der 
Arzt nicht berufen seyn, in Schulangelegcnheiten sich einzumi- 
schen , so fallen doch die physischen Beziehungen der Jugend fast 
ganz in seinen Bereich ; sein Gutachten mufs daher gehört wer- 
den, Geltung erhalten, und wird auch in allen civilisirten Staaten 
berücksichtigt, mithin kann es von den Schulen nicht weggewie- 
sen werden ; ja es ist für die Gesundheitsverhältnisse derselben 
um so noth wendiger, als von dem gesunden Korper ein gleicher 
Zustand des Geistes in der Begel abhängt und beide in Harmonie 
fortschreitend Sich entwickeln müssen, wenn keine Störung statt- 
finden soll. Gesteht man auch das Belative der gesundheitlichen 
Verhältnisse jedes einzelnen Standes zu, so bleibt doch immer 
jene Geltung der medicinischen Ansicht, weil sie den Körper zu 
besorgen und alle Gefahren zu beseitigen hat, welche ihm drohen 
können. Diese drohenden Gefahren sind von Herrn Lorinser als 
vorhanden, ja die Übel selbst als wirklich bestehend dargethan 
und fast allgemein bestätigt worden , mithin haben ärztliche Un- 
tersuchungen über die Ursachen das erste Recht und die Päda- 
gogik hat mit ihnen gemeinsam zu wirken, um sowohl diese Ubel- 
stände als auch weitere Gefahren zu beseitigen. 

Über die Behauptung Lorinsers, dafs die Schüler der Gym- 
nasien gegenwärtig an Leib und Seele leiden und die physische 
Constitution derselben mehrfach gefährdet werde, führt der Vf. 
noch mehrere Beweise an und bestätigt dadurch die Lorinserschc 
Anklage , welche andere Schulmänner geradezu verwerfen wollen. 
Obgleich die hier beigebrachten und mit grofser Ausführlichkeit 



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920 Pädagogik. 



• 

beschriebenen Verhältnisse nach des Ref. Ansicht für die Ent- 
scheidung über die Streitfrage selbst keinen besonderen und nur 
relativen Werth haben , so geben sie doch zu erkennen , dafs der 
Verf. jene Anklage richtig ins Auge gefafst bat und die Schule 
nicht ganz frei spricht. Die Mittheilungen enthalten zugleich Be- 
weisgründe gegen jene, welche die Anklage unbedingt verwerfen 
oder ihr verschiedene Absichten unterschieben, die dem H. Lo- 
rinser unfelbar fremd sind und nur von blinden Verfechtern der 
humanistischen Studien in ihr gesucht werden können. 

Die Behauptung , dafs nicht allein in den von H. L. ange- 
führten Ursachen , sondern noch in manchen andern der Grund 
des von jenem beklagungswerth dargestellten Übels gesucht wer- 
den müsse, sucht der Verf. auf mehrfache Weise und aus ver- 
schiedenen Verhältnissen zu bekräftigen. Gegen jenen spricht er 
sich nur in so fern aus, dafs nicht in dem von ihm berührten, 
sondern in seinen (des Verfs.) beigebrachten Ursachen der wahre 
Grund des Übels liege. Sieht man jedoch den Darstellungen recht 
auf den Grund , so liegen in H. Lorinsers Bemerkungen die wich- 
tigsten Beziehungen, welche der Verf. hervorhebt. Jener hat in 
seinem ganz kurzen Aufsatze durch Hauptideen ein Ganzes be- 
rührt und sich in das Einzelne gar nicht eingelassen , was dage- 
gen von Seiten 'des Verfs. mit der gröfsten Umständlichkeit ge- 
schieht. Er verbreitet sich über den organischen Zusammenbang 
der Lehrgegenstände; über die für ihre Behandlung zu beobach- 
tende Methode ; über die notbigen Correkturen der Hefte ; über 
die Censuren ; über die Art und Weise , Zweckmäfsigkeit und 
Nützlichkeit der Schulprüfungen, endlich über die Ausbildung der 
Lehrer selbst während ihres Amtes und über das Klassen- nebst 
Fachsystem, und entwickelt die meisten dieser Punkte mit Ein« 
sieht, der jedoch die Klarheit der Darstellung und Zweckmäßig- 
keit der Anwendung . nicht selten abgehen. Er verhehlt keinen 
Mangel, welcher entweder in der Organisation der Anstalten liegt, 
oder von Vorstehern und Lehrern herbeigeführt wird, und ver- 
schallt dadurch seinen Erörterungen einen gewissen Grad von 
Unparteilichkeit. Wegen der Methode bei einzelnen Lehrgegen- 
ständen und des Zusammenhanges der letzteren Helsen sich man- 
che Einwendungen maehen , wenn der Raum es gestattete. Die 
gerügten Mängel selbst verdienen von Seiten der obersten Stu- 
dienbehorden , Vorstände von Gymnasien und deren Lehrer sorg- 
fältige Beachtung; zugleich wäre zu wünschen, dafs sie mehr im 
Allgemeinen nachgewiesen und durch verschiedene Beispiele be- 
legt würden, um ihnen mehr Einilufs bei den oberen Behörden 
zu verschaffen. 

Den Übergang zu den eigenen Vorschlägen für die Beseiti- 
gung der Mängel und für die Verbesserung des gelehrten Unter- 
richts wesens überhaupt bildet eine ziemlich umständliche Bespre- 
chung des Schulwesens im Allgemeinen und des Zweckes der Gym- 
nasien im Besonderen. Gröfsere Kürze und consequentere Dar- 
stellungen würden zu demselben Ziele geführt und für die Sache 



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Pädagogik. 



921 



besser gewirkt haben. Gegen die Errichtung von Realschulen 
erklärt er sich, aber mit Unrecht, und beweist, dafs ihm der 
Charakter der technischen Ausbildung nicht klar ist Die Gyra- 
nasien mit ihrem überwiegenden Studium der alten Sprachen und 
der formellen Richtung des mathematischen Unterrichts können 
für diejenigen , welche nicht zu den gelehrten Studien übergehen, 
sondern für ein technisches Fach, z. B. für das Forst- und Bau- 
> wesen , für Cameral- und Hüttenwesen u. dgl. sich ausbilden wol- 
len , nicht eingerichtet werden , ohne ihren Charakter und mit 
diesem ihren Bestand zu verlieren. Die Meinung des Vfs. , data 
die vielen Realschulen die höhere Bildung des Volkes herabdrücken, 
hat Manches für sich, noch mehr aber gegen sieb, wenn die Schu- 
len selbst gut und ihrem Zwecke entsprechend eingerichtet sind. 

Der ganze Plan des Vfs. will von allen Realien , welche in 
die Gymnasien jetzt eingeführt sind r nichts weggelassen , den 

Srachunterricbt selbst eher erweitert als eingeschränkt, aber 
►sen weniger abstrakt, dagegen mehr geistbildend bebandelt 
und endlich alle Realien in besondere Klassen verwiesen haben, 
um sie in diesen nach demjenigen Zusammenhange und nach der- 
jenigen Ausführlichkeit zu behandeln, wie sie für allgemeine Vor- 
bereitungsschulen erforderlich sind. In Quarta und Unterprima 
sollen jene Realklassen seyn, in denen der Sprachunterricht nur 
mittelst einiger Stunden nebenherlaufe ; alle anderen Klassen da- 
gegen sollen vorzugsweise für sprachliche Bildung bestimmt seyn. 
Der Yf. stellt die Sache in der Idee ziemlich plausibel dar, sagt 
euch über den Charakter der einzelnen wissenschaftlichen Zweige 
manches Halt bare, fallt aber mit der Ausführung selbst in die 
Brüche. Es liefse sich über das Einzelne sehr viel sagen und 
Ref. ist niebt ganz abgeneigt, manche Gedanken für gründlich 
und ausführbar zu halten; ja er ist selbst der Ansicht, dafs die 
separat stehenden Realklassen keinen festen Bestand erhalten kön- 
nen, da ihnen meistens eine gediegene Einrichtung und Grund- 
bildung abgeht; aber er verkennt ihren Einflufs und ihre Wich- 
tigkeit nicht. 

In N. 9 werden vor den eigenen Darstellungen zuerst die 
Hauptgedanken der Bemerkungen von August, Bach, Froriep, 
Groke, Hege mann, Heinsius, Hoff mann, Jahn, Röpke, 
Müller, Mützell, Niemeycr und Reiche .zusammengestellt 
und entweder gebilligt oder theilweise bestritten. Sie nehmen 
die Hälfte der Schrift ein und gewähren in so fern einigen Vor- 
tbeil, als man von den Streitpunkten eine allgemeine Uebersicht 
erhalt und vorher manche Beziehungen näher kennen lernt, wel- 
che bei späteren Erörterungen eher stören als nützen würden. Der 
Verf. verschalt «einer Schrift eine doppelte Grundlage ; einmal 
hat er es mit der Lorinserschen Anklage, das andre Mal mit obi- 
gen Gedanken zu thun , denen er später die seinigen beifügt. Er 
beabsichtigt, die Geschichte des Streitet kurz darzustellen, das 
Unrichtige zu berichtigen, das Übersehene nachzutragen und die 
Organisation eines Gymnasiums nach den entwickelten Grundsätzen 



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922 



Pädagogik. 



mit Bezog auf die Aufgabe zu entwerfen, den ganzenfMenscheo 

geistig und leiblich gesund zu erziehen. Er weiset darauf hin , 
mit welchem Enthusiasmus man früher die Gymnastik begrubt, 
wie man aber bald die Turnplätze zu schliefen für nSthig ge- 
funden , aber in der neuesten Zeit die gymnastischen Übungen als 
einen wesentlichen Theil der Erziehung empfohlen und ihre Pflege 
den Gymnasien wiederholt zur Pflicht gemacht habe, und be- 
merkt, dafs Lorinser den Dank der Mitwelt sich erworben und 
ein kraftiges Wort zur rechten Zeit gesprochen, welches selbst 
da Anklang gefunden habe, von wo aus ernste Hülfe zu hoffen 
wäre. Treffend fugt er noch bei, dafs diejenigen, welche in ih- 
rem gewohnten Kreise auf Mängel aufmerksam gemacht werden , 
welche sie vorher nicht sahen , den wohlmeinenden Rath von 
Aussen nicht immer mit gleicher Gesinnung aufnehmen; dafs da- 
her manche in den hergebrachten Formen Befangene oder aus 
andern Gründen sich den alten Gewohnheiten nicht auf Einmal 
zu entfremden Vermögende sich gegen die Anklage erklärten! 
manche andere vorurteilsfreie Männer, das Übel kennend, den 
wackeren Vorkämpfer mit Beifall begrüfsten. 

Die den beiden Parteien huldigenden Schriften und Aufsätze 
der oben genannten Männer geht er daher im Einzelnen sehr 
kurz durch, und zieht endlich aus dem Gesagten den Schlafs, 
dafs II. Lorinser, möge er auch die Sache, vielleicht absichtlich, 
etwas schroff und grell dargestellt haben y wirkliche Gebrechen 
der Erziehung an Gelehrtenschulen aufgedeckt hat und dafs die 
Schule, wenn auch noch andere Ursachen von aussenher mitwir- 
ken, von der Mitschuld nicht freigesprochen werden kann. Die 
Hauptgedanken der Schriften genannter Männer kann Ref. nicht 
im Besonderen herausheben, ohne seine Anzeige weit auszudeh- 
nen und mehreres Fremdartige einzumischen , weswegen er über 
den ersten Theil der Thiersch schen Schrift mit dem Bemerken 
hinweggeht, dafs sich H. Bach über den gerügten Mifsstand der 

Ereufsischen Gymnasien mit H. Lorinser oft mundlich unterhalten 
abe und sich frei und unumwunden zu den nunmehr veröffent- 
lichten Grundsätzen bekenne und schon i83o in einem zu Bres- 
lau erschienenen Programme die dringende Notwendigkeit gleich- 
mäfsiger Entwickelung der körperlichen Kräfte der den Gymnasien 
anvertrauten Jugend redlich und offen gezeigt und seine desfal- 
sige Überzeugung erst kürzlich in einem Berichte über den Zu- 
stand des Gymnasiums in Fulda an das kurhess. Ministerium des 
- Innern wiederholt habe. 

Nachdem der Verf. über die Vielheit der Lehrobjekte, über 
den Gesundheitszustand der Gymnasiasten, über die Verminde- 
rung der Lebensenergie ohne Lebensverkürzung , über das Prü- 
fungswesen, über den Realismus und Humanismus, über die Not- 
wendigkeiten der Klausurarbeiten, über die Dauer der Ferien, 
über die Zeit des Eintritts in das Gymnasium, über die Ernäh- 
rungsweise der Schüler , über das Tabakraucben , über die Theil- 
nahme an Bällen, über den Privatunterricht der Gymnasiasten, 



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Pädagogik. 



über den Einilufs der Leihbibliotheken , über das sittliche und 
wissenschaftliche Princip der Erziehung und über das Übermaafs 
der häuslichen Arbeiten mehr mittelbar seine Ansichten ausgespro- 
chen bat, erwägt er noch Einzelnes, das entweder nur obenbin 
oder gar nicht berührt wurde. Er tritt der Ansicht bei, dafs die 
jetzige Erziehungs- und Unterrichtsweise an den Gymnasien der 
Gesundheit der Schuler in mancherlei Hinsicht gefährlich werden 
könne, und bemerkt, dafs bei den allgemeinen Klagen über das 
Siechthum der studirenden Jugend die besonderen Gebrechen nicht 
alle gehörig hervorgehoben worden seyen. Daher bespricht er 
zuerst die Sorge für die Erhaltung gesunder Augen , weil nirgends 
davon die Bede sey, wie den stets häufiger werdenden Augen- 
übeln abgeholfen werden solle , obgleich dieser Krankbeitszostand 
bedenklich sich steigere. Er betrachtet dieses Übel nach der 
bekannten Schwach-, Matt- und Kurzsichtigkeit, und giebt beson- 
dere Mittel an, wodurch den jedesmaligen Übeln begeg ;net wer- 
den könne. Dann wendet er sich zu den gymnastischen Übungen, 



körperlichen Übungen auf dem Schulhofe während der zwischen 
die Lektionen fallenden Pausen; denn jede Lehrstunde soll nach 
seinen späteren Erörterungen nur % Stunden dauern , so dafs am 
Vormittage % und am Nachmittage in der Zwischenzeit % Stunde 
zu körperlichen Übungen verwendet werden könne. Zu diesem 
Behufe theilt er den Umfang und die Zeit des Unterrichtes ein, 
will zwischen 9 3 /* bis 10% die erste, zwischen 11 und 11Y4 die 
zweite, und Nachmittags zwischen 2% bis 3 1 /» die dritte Pause 
zu körperlichen Übungen verwendet wissen. Das Störende in der 
Ausführung seheint der Verf. bei seiner Lieblingsidee nicht ein- 
zusehen ; nicht blos um die Zeit handelt es sich , sondern um die 
Zerstreuung selbst, welche erfolgt, bis sich die Schuler in den 
Schulzimmern und geistig wieder sammeln; dadurch wird noch 
\k Stunde verloren und der Zweck der Leibesübungen doch nicht 
erreicht. Der Zerstreuung werden Thore und Thüre geöffnet 
und jedes ernste Studiren vereitelt. 

Für einen ganz übersehenen Vorwurf erklärt er den Mangel 
des Zusammenlebens der Schüler und Lehrer , und will dieses 
dadurch erwirken, dafs die Lehrer bei jenen Übungen gegenwär- 
tig sind , das strenge Schulceremoniell einem vertraulichen Be- 
nehmen Platz mache, der ernste Lehrer mit den Schülern über 
den Ungeschickten herzlich lache u. dgl. Hierzu dürften öftere 
Spaziergänge mehr beitragen, als die theilweise eigensinnige und 
störende Eiritheilung des Schultages des \ Ts. So wenig Ref. in 
jenen Unterbrechungen dem Vf. beistimmt, ebenso wenig billigt 
er dessen Vertbeilung der Lehrgegenslände in den verschiedenen 
Bildungsstufen , in deren untersten er z. B. 4 Stunden für Beck, 
nen und 4 St. für Kalligraphie ansetzt, wofür dort drei und hier 
a St. völlig hinreichen. Ganz zerhackt und benntnifslos ist der 
arithmetische und geometrische Unterricht angeordnet; in den drei 




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934 Pädagogik. 

untersten Klassen sollen sich die zu irgend einem technischen Ge- 
werbe Übergehenden mit 10 bis 1a Standen wöchentlich Latein 
herumplagen u. s. w. Diese und manche andere Mifsgrifte des 
Verfs. können keinen Beifall finden; sie dehnen hier und da die 
Lehrstoffe noch weiter aus als bisher und begegnen der Überla- 
dung keineswegs, vielmehr vergrofsern sie dieselbe. In der Idee 
liegt wohl manches Gute, in der Praxis aber geht es wieder 
TerJoren. 

Zu den unhaltbaren Ansichten gehurt im Besonderen noch 
die Verteidigung der sogenannten Abiturientenprüfungen in ihrer 
ganzen Strenge, welche andere Schulmänner mehrfach abgeändert 
wissen wollen. Um sie dreht sich ein Hauptpunkt des Streites , 
weswegen sie auch von allen Gegnern und Vertheidigern der Lo- 
rinser sehen Anklage vielseitig besprochen wurden. Da sie sowohl 
yon Seiten des Staates als von Seiten der Schule zu betrachten 
sind , so haben sich die Ansichten des Vfs. um beide zu bewegen. 
Er stellt sie als wesentliches Bedürfnifs der Schule dar und wi- 
derspricht hierdurch unfehlbar seiner inneren besseren Überzeu- 
gung. Ref. hält sie wohl nothwendig für den Staat, aber nicht 
für die Schule, für welche sie weit mehr Nachtheile als Vortheile 
bringen. Die Erörterungen beider geboren nicht hierher. Was 
der Verf. beibringt , wird durch viel gewichtvollere Gegengrunde 
widerlegt. Wissenschaften, Pädagogik, Schuler und Lehrer ge- 
winnen durch eine zweckraäfsige Einrichtung dieser Prüfungen, 
und der Staat könnte durch andere Anordnungen eine weit bes- 
sere Controle erhalten, als durch die jetzige Form jener, wie 
Niemeyer, Froriep, Jahn und Andere nachgewiesen haben. 

Die Schrift N. io hat sowohl wegen iht^r Form als auch 
wegen der praktischen Seite , mit welcher sie die Streitfrage be- 
handelt , wesentliche Vorzüge und übertrifft in der Darstellung 
und Begründung verschiedener Gedanken die meisten anderen 
Schulten. In der Form eines Gespräches zwischen einem Rent- 
beamten, einem Universitäts-Professor, einnm Gymnasiallehrer und 
einem Geistlichen läTst sie jeden Stand seine Interessen vertbeidi- 
gen, indem sie dasjenige beibringt, was jeder über die Streit- 
frage zu sagen für nöthig hält. Ref. bat die Erörterungen , wel- 
che in der Hauptsache nichts Neues "darbieten, aber doch einen 
besonderen Reiz verschaffen und vor Allem den Laien ganz zu- 
gänglich sind , mit -grofsem Vergnügen gelesen , tritt jedoch nicht 
allen geäusserten Ansichten unbedingt bei. Aus einem Vergleiche 
zwischen dem früheren und gegenwärtigen Zustande der Gymna- 
rien folgert der Verf., dafs jetzt für das Wohl des Körpers weit 
mehr und zweckmäfsiger gesorgt sey als früher. Wahr ist diese 
Folgerung, aber sie hebt die Klage wegen Schwächung des Gei- 
stes und Körpers nicht auf. Weder die formelle noch materielle 
Ausdehnung der Unterrichtsweise bedrohete den Körper; die 
Schüler blieben meistens frisch und gesund, während sie jetzt 
häufig siech werden und frühzeitig kränkeln. Diese Thatsache 
wird nicht poaitiv widersprochen. 



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Pädagogik. 



925 



Die Erfahrung zeigt uns zwar , wie vieler Mittel die Jugend 
sich bedient, um das Studiren sich zu erleichtern, und wie sehr 
im jugendlichen Charakter die Unaufmerksamkeit herrschend ist; 
allein sie belehrt uns auch, dafs bei diesen Umständen die über- 
mäfsigen Anstrengungen der geistigen Anlagen den Körper mehr 
in Anspruch nehmen , als seine kräftige Entwickelung es gestatten 
bann ; und da jene nun wirklich von Schule und Staat gefordert 
werden, so ist die Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes 
nicht zu läugnen. Richtig ist die Behauptung, dafs unsere Zeit 
die Jugend vielfach verzärtelt und dafs fast alle Pietät für die 
Schule verschwunden ist; dafs man überall hofineistern und nie- 
derreifsen, organisiren und reorganisiren , revidiren und super« 
revidiren will; dafs sich Verständige, Berufene und Unberufene 
u. s. w. in das Erziehungs- und Unterrichtswesen einmischen und 
oft oberflächlich aburtheilen; allein Ref. glaubt niebt, dafs Herr 
Lorinser mit seiner Anklage viele Andere repräsentirt , welche 
ohne zureichende Kenntnifs der Sache voreilig in pädagogische 
Dinge sich einmischen und vom Einzelnen auf das Ganze schlies- 
sen. Er hält diesen für den ruhigen und besonnenen Arzt, dem 
das Wohl und Wehe der Jugend und künftigen Generation am 
Herzen liegt , und der eben darum obne besondere Absicht seine 
Überzeugung ausgesprochen bat. 

Dafs einzelne Schüler von Gymnasien von jeher gestorben 
sind , weil sie den Keim der Krankheit mitbrachten , und dafs 
überhaupt schwächliche Kinder nicht zum Studiren bestimmt wer- 
den sollten (und doch hat Ref. schon oft Eltern sagen huren: 
»zu einem Gewerbe ist uns der Junge zu schwächlich u. dgl. «) t 
ist nicht zu läugnen; aber dieses widerlegt die Anklage Lorinsers 
keineswegs , weil der physisch Geschwächte nicht auch gleich 
vom Tode hingerafft wird, sondern sich spater oft in kurzer Zeit 
wieder erholt, welches bei solidem Leben an den Universitäten 
stets der Fall ist, worüber Ref. sehr viele Beispiele aufweisen 
kann. Ebenso wenig entkräftigt jene die Angabe, dafs 16- bis 
20jährige Jünglinge von Städten gegen die Landjugend meistens 
blafs und hohläugig aussehen, aber nach beendigter Wachsthums- 
zeit kräftige Männer werden , und dafs das Vorkommen einzelner 
Kränklichkeiten weniger von Studien, als vielmehr von Aus- 
schweifungen oder körperlichen Verhältnissen abhängt ; denn es 
ist hiermit nicht bewiesen, dafs geistige Anstrengungen , wenn sie 
die physische Kraft übersteigen, den Korper schwächen, wie H. 
Lorinser auf psychologische und medicinische Weise dargethan 
hat Hier wären die von diesem berührten Gefahren für den 
Organismus des Korpers zu widerlegen gewesen, allein keiner der 
am Gespräche Theilnehmcnden ist ein Arzt, mithin bleiben die 
Darstellungen in vielen Punkten einseitig. 

Unerwiesen, sagt das Gespräch, ist die Behauptung, dafs die 
Gymnasialschüler beim Eintritt in das Staatsleben oft sehr unge- 
schickt sind. Hierüber stimmt Ref. mehr für H. Lorinser, weil 
er schon oft beobachtet hat , wie sehr es jenen an der klaren 



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926 Pädagogik. 

Einsiebt in Lebensverhältnisse fehlt , und wieviel Schuld die Gym- 
nasien besonders früher daran hatten. Recht gründlich wird dar- 
gethan, inwiefern für den Erfolg der Erziehung änd des Unter- 
richts die wahre Tüchtigkeit der Lehrer die Hauptsache ist und 
jener weder durch fiele Verordnungen noch durch Reglements 
erstrebt werden kann. Zu wünschen wäre, jeder Lehrer besäfse 
jene Tüchtigkeit; leider aber ist sie seltener als man glaubt; im 
Dunkel und in der Aufgeblasenheit, in lächerlich pathetischem 
Gebehrden und stolzem Absprechen besteht sie nicht, wie so 
manche eitle junge Lehrer meinen. Bei den jetzigen Forderun- 
gen an Schüler der Gymnasien lassen sich die Lehrstunden für 
die Lehrzweige nicht vermindern ; der tüchtige Lehrer mufs al- 
lein helfen und durch seine Methode mit wenigeren Stunden das- 
selbe Resultat erzielen, wie mit mehr Stunden. Aber hier fragt 
es sich, wie dieses zu machen sey ; mit blofsen Worten ist nicht 
geholfen; es sollte die Art und Weise erörtert seyn, wie diese 
Vortheile durch den Lehrer errungen werden können , damit sich 
dieser darnach fugen könne. Die Schrift schweigt hierüber und 
läfst eben darum eine grofse Lücke , welche nicht zu ihren Vor- 
zügen gehört. 

Die gröfsere Ökonomie im Lehrstoffe hängt zwar wieder 
meistens vom Lehrer ab ; allein es werden doch manche Realien 
bezeichnet, welche man nur beiläufig lehren solle, und Gegen- 
stände genannt, z. B. philosophische Propädeutik , Geschichte der 
deutseben Literatur, die hebräische Sprache, welche man vom 
Lektionspinne ganz entfernen müsse. Insofern hierbei Logik ge- 
meint ist, stimmt Ref. nicht bei, wie er schon früher erwähnt 
hat; wohl aber bestätigt er Alles, was zum Behufe der Begrün- 
dung der Wahrheit gesagt wird , dafs das Studium der alten Spra- 
chen durch nichts Anderes, am wenigsten durch die» neueren 
Sprachen, ersetzt werden könne; was für die Entkräftigung der 
realistischen Frage: »Wozu braucht mein Sohn das Lateinisch 
und Grieschisch ? « mittelst lächerlicher Anwendungen beigebracht 
und wodurch nachgewiesen wird, wie die meisten Gewerbsleute 
mit ihren chemischen und anderen Kenntnissen eitle Gecken und 
elende Stümper, wahre Charlatans und charakterlose Menschen 
werden, die im bürgerlichen Leben mehr verkehren als sie gut 
machen. Am rechten Orte ist hier die Bemerkung wegen der 
so oft gewünschten frühzeitigen Trennung des Unterrichts für 
bestimmte praktische Zwecke; doch kann sich Ref. nicht entschie- 
den für die grofse Ausdehnung der lateinischen Sprache für die 
Knaben von 9 bis 12 oder 1 \ Jahren erklären. Für diese sollten 
allgemeine Vorbereitungsschulen bestehen , um nach Vollendung 
derselben mehr auszuscheiden. Durch das Zerreifsen der Bildungs- 
anstalten wird das gesellschaftliche Band im öffentlichen Leben 
stets lockerer und 3er Kastengeist sehr befördert u. s. w. Die 
Anstalten für eine höhere Ausbildung sollten daher bis za einem 
gewissen Punkte vereinigt bleiben, und erst dann sich trennen, 
wenn der Charakter des Jünglings sich bestimmter ausgeprägt hat. 



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Pädagogik. 921 

Allein hier ist der Knoten , dessen Lösung nach vielen Versuchen 
noch nicht gelungen ist. Auch in dieser Schrift ist er nicht ge- 
löst, obwohl mancherlei Materialien zusammengetragen sind, wel- 
che zu jener verhelfen können. Der bisher bezeichnete Ideen- 
gang der Schrift deutet darauf hin, läfst aber in der Begründung 
mancher Gesichtspunkte noch Vieles zu wünschen übrig. Viel 
Vortreffliches theilt sie mit, viel Haltbares ist der besonderen 
Berücksichtigung werth und manche Idee veranlafst zu weiterem 
Nachdenken. Manche Ansichten sind jedoch nicht begründet, ge- 
hen der Hauptsache nicht auf den Grund , widerlegen die Streit- 
frage nicht und bewegen sich in den gewöhnlichen Verhältnissen, 
von denen man sich ungern losreifsen kann. 

Die Schrift N. 1 1 hat eine doppelte Richtung , indem sie 
Einmal die Lorinser'sche Anklage widerlegen j. das Andremal ver- 
schiedene Ansichten, welche die Herren Bach und Jahn in den 
Jahrbüchern der Philologie von Seebode, i6; Bd. S. 448 flf. aus- 
gesprochen haben , bekämpfen und diese beiden eines Bessern 
belehren soll. Ob dem Vf. jenes und dieses gelungen ist, wird 
Ref. aus einigen Darstellungen desselben darthun. Die Gründe, 
welche die Lorinsersche Anklage beseitigen sollen , sind schon 
vielfach wiederholt worden , enthalten daher nichts Neues ; die 
meisten sind unhaltbar, wenig auf Erfahrung und Beobachtung 
gegründet und gehen nicht direkt gegen jene Anklage; denn der 
Vf. beweist nur, dafs die Schule nicht alle Schuld tragen könne, 
sondern der Einflufs des elterlichen Hauses auf die Gesundheit 
vorzüglich zu berücksichtigen sey. Allerdings wirkt dieses oft 
sehr nachtheilig auf Korper und Geist und sendet nicht selten an 
beiden kranke Knaben und Jünglinge zur Schule; aber diese ist 
darum von der Schuld nicht frei , wie der Verf. selbst zugesteht, 
nur dürfte sie nicht in so hohem Grade zu belasten seyn, wie 
H. Lorinser meint. 

Der Vielheit begegnet der Vf. dadurch, dafs für den Unter- 
richt wöchentlich nur 32 Lehrstunden, ajso doch täglich 5 und 
zweimal 6 Stunden verwendet würden. Bei dieser Anzahl von 
Stunden konnte er freilich alle bisherigen Lebrobjekte beibehält 
ten ; allein sowohl das Vielerlei als auch die zu grofse Ausdeh- 
nung jener werden von H. Lorinser als nachtheilig wirkend be- 
zeichnet, wogegen der Verf. wenig einzuwenden weifs; vielmehr 
V£rtheidigt er die von Manchen angefochtene Mathematik, Natur« 

Seschichte, Physik und Chemie, die philosophische Propädeutik, 
as Hebräische und selbst das Französische, aber mit solchen 
Waffen, die sogleich zu erkennen geben, dafs sie nicht zu füi 
ten sind, die der Verf. nicht zu führen versteht und von deren, 
innerer Einrichtung er keine klare Kenntnifs hat. Über die zu 
grofse Ausdehnung sagt er nur Weniges, weil er es wohl nicht 
mit seiner Ansicht vereinigen konnte , gegen dieselbe mit wichti- 

geren Gründen aufzutreten. Weder das Franzosische noch He- 
räische würde Kef. als bindend betrachten, weil beide nicht zu 
den allgemeinen Bildungsmitteln geboren Über sie und die an- 
deren Lehrzweige hat er sich schon weitläufiger ausgesprochen. 



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»28 



Pädagogik. 



Die von Mehreren getadelten Abiturienten-Prüfungen nimmt 
er in Schutz, fuhrt aber dafür so unbedeutende Grunde an, wel- 
che wenig oder gar nichts beweisen. Dafs sie sowohl von Sei- 
ten des Staates als der Schule besprochen werden sollten, hat 
Ref. gerührt ; diesem Unterschiede schenkt der Vf. jedoch keine 
Aufmerksamkeit. In diesem Falle mufste er die Materie ganz an- 
ders bebandeln. Ausführlicher bespricht er die gymnasiischen 
Übungen und ihre Einrichtung ; jedoch zeigt er weder die Schwie- 
rigkeit ihrer Einfuhrung, noch die Nachtheile, welche aus ihnen 
sich ergeben können. Daher bat auch dieser Theil der Schrift 
keinen besonderen Werth und die Zahl der gegen die Lorinser- ' 
sehe Anklage gerichteten Schriften ohne besonderen Gewinn ver- 
mehrt. Ihre Schreibart empfiehlt sie gleichfalls nicht sehr, da sie 
oft gesucht, geschraubt und manchmal nachlässig gehandhabt ist. 

Die Schrift N. 12 interessirte den Ref. darum, weil sie mit 
der Lorinser'schen in mehrfacher Beziehung auf gleiche Richtung 
hinausgeht und von der medicinischen Seite die Wirkungen der 
geistigen Aufregung und Überladung für den Gesundheitszustand 
der Jugend bespricht. Gerade dieser Umstand ist für den von 
Lorinser angeregten Streit von besonderer Bedeutung , welche 
den Übersetzer bewogen haben mag, die Übertragung des Ori- 
ginals dem H. Lorinser zu widmen. Die Schrift hat eine dop- 
pelte Seite: die eine berührt den Pädagogen, die andere den Arzt; 
jene ist die kürzere und am wenigsten wissenschaftlich begrün- 
dete, diese aber dürfte für jeden Arzt von besonderem Interesse 
seyn. Von Beobachtungen und Erfahrungen geht der Verf. aus, 
und sucht durch ihre Thatsachen die Wahrheiten zu bekräftigen, 
inwiefern ein zu frühes Befördern der geistigen Ausbildung für 
den Korper eine wahre Folter ist, und Blödsinn, Wahnwitz oder 
Siechthum des Körpers hervorbringt. Wenn man den Darstellun- 
gen genau folgt, so erkennt man bald, dafs sie vorzugsweise ge- 
gen die Sucht gehen, sogenannte frühe Genie's zu erziehen. Ref. 
könnte aus Erfahrung mehrere Beispiele aufzählen , in welchen 
sich jene frühzeitige und übereilte Entwickelung an Kindern und 
Eltern schmerzlich rächte , indem entweder diese ihre Kinder 
frühzeitig dahinsterben sahen , oder jene nach einiger Zeit ganz 
stumpf gegen jede geistige Entwickelung wurden. Wegen der 
zu frühen und übereilten Ausbildung des Geistes der Jugend ist 
daher diese Abhandlung allen denen zu empfehlen , welche mit 
diesem Geschäfte sich zu befassen haben. Diese Ansichten stim- 
men mit denen Frorieps in seiner über die Lorinser'sche Anklage 
herausgegebenen Schrift ziemlich überein , indem derselbe in dem 
ersten seiner 8 Vorschläge fordert, es sey zu verhindern, dafs 
die jungen Leute nicht zu früh in die Schule eintreten, oder in 
Klassen vorrücken, welche ihrem Alter noch nicht angemessen 
sind u. s. w. 

(Der Beschlufi folgt.) 



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N°.Ö9. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Pädagogik. 

(B e» chlufs.) 

Interessant ist die Tabelle von ausgezeichneten Gelehrten al- 
ter und neuer Zeit, welche ein hohes Lebensalter erreicht ha- 
ben, weil sie einen Beleg liefern soll, dafs grofse geistige Tbä- 
tigkeit an sich auf die Gesundheit und Lebensdauer nicht nach- 
theilig wirkt. Es wäre übrigens für die Streitfrage von Wichtig- 
keit, zu erfahren, ob diese Gelehrten schon in ihrer frühen Ju- 
gend dieselben Anstrengungen ertrugen, als die Jünglinge an den 
preufsischen Gymnasien. Ref. ist überzeugt, dafs mehr als V* der 
genannten Gelehrten v or der gehörigen Reife der Jahre sich nicht 
über ihre Kräfte angestrengt , aber nachher um so mehr Tha'tig- 
keit gezeigt haben. Ihm stehen viele Beispiele zu Gebote. Die 
Schrift liest man mit sehr viel Interesse und theilweiser Belehrung. 

Der Aufsatz N. i3 spricht sich im Eingange dahin aus, dals 
es heutzutage um das Erziehungs. nnd Schulwesen in Deutschland 
eine eigene Sache sey, die Meinungen und Ansichten sich schroff 
gegenüberstehen und es bäum möglich sey, die goldne Mittelstrafsc 
zu halten, oder die stürmischen Gemüther von der Zweckmässig- 
keit ruhiger und überlegter Maafsregeln zu überzeugen ; auf der 
einen Seite die Philologen mit allem Eifer für das humanistische 
Element kämpften, auf der andern die Realisten es für unverant- 
wortlich hielten, im 19. Jahrb. den auf den Gymnasien empfange- 
nen Unterricht als die einzig zulässige Vorbereitung zu den Uni- 
versitätsstudien zu betrachten ; die Philologen die Bevorzugung 
der mathematischen und physikalischen Wissenschaften für einen 
Verrath an der wahren Jugendbildung erklärten, die Realisten 
dagegen fragten, wie der Unterricht in der lateinischen und grie- 
chischen Sprache eine Vorbildung für Mathematik , Naturwissen- 
schaften u. s. w. bei den so ganz veränderten Zeitverhältnissen 
seyn konnte; dafs auf einer dritten Seite die theologischen Eiferer 
standen, welche es beklagten, dafs das Christenthum durch das 
Heidenthum verschlechtert sey , dafs man zur Verbesserung in 
den Schulen Kirchenväter statt der alten Klassiker lesen sollte, 
und dafs endlich die sogenannten Utilitarier und Anhänger von 
Benthams Theorie es am schlimmsten machten, indem sie alle 
grundliche Wissenschaftlichkeit verwürfen, nur das belobten, was 
unmittelbaren Nutzen und schnellen Gewinn brächte und von de- 
nen hinsichtlich des Unterrichtes und der Beziehung das Horazi- 
sche Wort gelte: Romani pueri longis rationibus assero Discunt 
in partes centum diducere. 

Der Verf. bezeichnet die verschiedenen Parteien kurz und 
gut, welche sich recht charakteristisch bei dem bekannten Thiersch- 

XXX, Jahrg. 0. Heft. 59 



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9*0 Fädagogik. 

sehen Schulplane zu erkennen gaben ; er hält es übrigens mit der 
humanistischen Partei, indem er bemerkt, es sey nicht genug, 
dafs die geistige Bildung in unsern gelehrten Schulen von Vielen 
angefeindet oder doch für das Fortscbreiten einer so regsamen 
Zeit als unzweckmäßig bezeichnet werde, sondern man verdäch- 
tige auch die körperliche Erziehung in ihnen, worauf er zu den 
Anklagen Lorinsers übergeht, und die in der Überschrift genann- 
ten vier Schriften im Auge hält. Vier Hauptpunkte machen nach 
dem kurzen Berühren jener Ansichten die Darstellungen des Vfs. 
aus. Nach dem ersten dürfen die klassischen Studien den Gym- 
nasien nicht entzogenn werden, so sehr auch die grofse Mehrzahl 
gebildeter Geschäfts- und Gewerbsleute gegen sie eingenommen 
sind , weil sie die Grundlage der tüchtigsten Geistesbildung blei- 
ben ; wobei jedoch die Gymnasien nicht vergessen dürfen, dafs 
nicht jeder Schüler Philologie studiren soll. Nach dem zweiten 
darf sich kein Gymnasium einer vernünftigen Beschränkung des 
Unterrichts weigern und kein Lehrer dahin streben, seine Schüler 
mit allen denjenigen Kenntnissen zu überfüllen, durch welche seit 
3o Jahren das Gebiet der einzelnen Wissenschaften so sehr er- 
weitert ist, dafs fast jede ein Menschenalter erfordert > wenn sie 
gründlich erlernt werden soll. Jene Beschränkung dürfte in schrift- 
lichen Arbeiten , in der Mathematik und Philosophie und in der 
Ilerabstimraung der Forderungen an die Abiturienten bestehen. 
Mit Becht wird das Erweitern des mathematischen Lehrkurses bis 
zur .Differenzialrechnung für bedenklich [vom Ref. für übertrie- 
ben, gefahrvoll und nutzlos] erklärt. Nach dem dritten wird nä- 
her beleuchtet , inwiefern die Bemerkung gegründet sey, dafs die 
gesteigerten Anforderungen bei den Prüfungen für die Tiefe und 
Gründlichkeit wissenschaftlicher Bildung nicht gleich erspriefslich 
gewesen sey. Nach dem vierten erfahrt man, dafs die von Lo- 
rinser gefürchtete Abnahme der Gesundheit bei den Schülern 
schon seit längerer Zeit ein Gegenstand der Aufmerksamkeit wei- 
ser Behörden gewesen sey. 

Am Schlüsse bemerkt der Verf. noch , dafs den deutschen 
Gymnasien , vorzugsweise in den protestantischen Ländern , der 
grüfste Dienst erwiesen würde, wenn die Mittel- und jetzt so- 
genannten höheren Bürgerschulen alle diejenigen Schüler in sieh 
aufnähmen , welche nicht zum Studium der eigentlichen Fakultäts- 
wissenschaften bestimmt sind. Wie sehr man sich die Errichtung 
solcher Anstalten, welche die Kenntnifs des klassischen Altert hu ms 
keineswegs ganz ausschliefsen, sondern nur auf das Bedürfniff 
ihrer Bildungsstufe beschränken sollten, in mehreren Staaten 
Deutschlands angelegen seyn läfst , hat vor allen Baiern durch 
die That bewiesen , indem es in seinen Gewerb- und polytech- 
nischen Schulen für den künftigen Ökonomen, Fabrikunterneh- 
mer, Kaufmann, Baumeister u. s. w. gesorgt hat. Lassen diese 
Anstalten auch noch ausserordentlich viel zu wünschen übrig, so 
sind sie doch einmal in das Leben gerufen und werden vorsichtig 
behandelt mehr und mehr vorwärts schreiten. 



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Altcrthumsknnrte. 



981 



Aas allen diesen Schriften entnimmt Ref. die rolle Überzeu- 
gung, dafs die neueste Zeit ihren Charakter der fast stürmischen 
Uebereilung an diesem ron Lorinser atigeregten Streite ebenso 
sehr zu erkennen gegeben hat, als vor 8 Jahren an der Schrift 
von Thiersch über gelehrte Schulen, und dafs man in der Hitze 
des Streitens oft äffe Ruhe und Gesetzlichkeit, alles Maafs und 
Ziel gerne aus dem Auge verloren bat. Einige allgemeine Be- 
merkungen wird er später beifugen , da ihm unfehlbar noch an- 
dere Schriften uber*die Streitfrage zur Hand kommen. 

H e u4 e r. 



ALTERTHUMSKUNDE. 

1) Römisch« Alterthümer in der Umgegend von Kottweil am Neckar. 
Erlte Abtheilung. — Zweiter Bericht des Rottweiler archäologischen 
Vereine. Mit 1 Steintafel. Stuttgart , gedruckt bei Carl Hoffmann. 
18«J5. 24 Ä. in gr. 8. 

Z) Die Grabhügel, Vitrinen und Opferpldtse der Heiden im 
Orlagau und in den schaurigen (schauerigen) Thälern des Sorbitz- 
baches, beschrieben von Dr. Wilhelm Adler. Mit 40 Abbildungen. 
Saalfeld 1837. Im Verlag bei Constantin Mese. XU u. 76 S. in 8. 

3) Kähmens heidnische Opferplätze, Gr aber und Alterthümer. 
Von Dr. Mathias Kaiina zon Jäthenstein, beeideten Landes- 
Advocaten, Budweiser bischöfl. Consistorialrathe , Serretär der k. böhnu 
Gesellschaft der Wissenschaften u. des Privat- Humanitätsvereins etc. 
Mit 35 Steindrucktafeln. Aus den Abhandl. der k. böhm. Gesellschaft 
d. Wissenschaften. Prag 1836. Druck u. Papier von Gottlieb Ha ose 
Söhne. XVI und 252 Seiten gr. 8. 

Wir stellen hier zusammen drei ihrem Inhalte nach sehr ver- 
schiedene, aber nichtsdestoweniger gleich interessante Schriften. 

Nr. i ist die Fortsetzung der »Alterthümer in der Um- 
gegend von Rottweil am Neckar«, deren wir bereits in 
diesen Jahrbuchern (i834, Nr. 33. S. 5i6 ff.) gedacht haben. 
Rottweil, — wohl unstreitig das alte Äris flavis der Peutinger- 
schen Tafel, gleichwie Rottenburg das Samulocenis oder vielmehr 
Sumalocennis ist, wie sich durch die neuesten Untersuchungen % 
besonders des Herrn A. Pauly, Professors der alten Literatur am 
konigl. Ober-Gymnasium in Stuttgart (über den Strafsenzug der 
Peutinger sehen Tafel etc. S. 3o), und des Herrn Topographen 
Paulus (Wurtemberg. Jahrbucher i835, Heft 2, S. 383) heraus- 
gestellt hat, — Rottweil hat nämlich nicht blos reiche germa- 
nische, sondern noch reichere römische Alterthümer in seiner 
Nähe , ja die letzteren zu seiner Unterlage. Es ist in dieser Hin- 
sicht einer der' ersten Punkte in de*n alten Decumaten-Ländern. 
Und wie der erste Jahresbericht des sehr verdienstvollen Rott- 
weiler archäologischen Vereins von jenen deutschen, so gibt 



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Altcrthumikunric 



der vorliegende zweite von diesen romischen höchst wichtige 
Hunde. 

Wie die Römer überhaupt sieb gern an Thalaus- und Flufs. 
einmündungen befestigten und anbaueten, so hatten sie auch hier 
an der Einmündung der Prim in den Neckar sehr bedeutende und 
glänzende Niederlassungen. Nicht nur auf dem rechten Ufer des 
Neckars, auf welchem ein Theil der Altstadt von Rottweil gebaut 
ist, finden sich besonders die Fundamente und Trümmer römi- 
scher Gebäude und verbreiten sich dieselben über die Höhe, auf 
welcher der Centraipunkt derselben, der verschiedenen Privaten 
gehörende Hof Hoch mau er n , liegt, von dem aus nach allen 
Weltgegenden alte Strafsen ziehen; sondern auch auf dem höhern 
linken Neckarufer, Hochmauern gegenüber und zugekehrt, sind 
noch, auf einer sehr schönen Ebene, die ein Viereck mit abge- 
rundeten Ecken bildenden Reste des Erdwalles und Grabens eines 
sehr regelma'fsigen römischen Lagers zu schauen, das i45o Fufs 
Länge und etwa 1000 Fufs Breite hatte, also eine Fläche von 
ungefähr 38 Morgen einnahm. Auch erkennt man noch in dem 
Walle die Einschnitte der porta praetoria , der porta decumana 
und der porta principalis sinistra. Es war diese Niederlassung in 
strategischer Beziehung von der höchsten Wichtigkeit, als näm- 
lich ein Schlüssel zu der Alp (Heuberg) und zu dem Schwarz- 
walde und als ein Vorwerk für die obere Donaustrafsc , welche 
hier einen Haupthaltpunkt gehabt haben durfte, und die von da 
ausstrahlenden Strafsen standen offenbar mit dem ganzen römi- 
schen Strafsensysteme in genauer Verbindung. 

Die schönsten Gebäude scheinen bei Hochmauern gestanden 
zu haben. Eine genauere Beschreibung der merkwürdigen römi- 
schen Fortificationcn dieser Gegend, sowie der durch Nachgraben 
bis jetzt aufgedeckten Gebäude mit den vielen darin aufgefunde- 
nen Gerätschaften , Münzen etc., wird jedoch noch nicht gege- 
ben, sondern für den nächsten Rechenschaftsbericht vorbehalten, 
da eine detaillirte Karte, welche zur Verständigung der Beschrei- 
bung noth wendig gehört, bisher noch nicht ausgefertigt werden 
konnte. Es wird blos vorläufig eine Beschreibung des Merkwür- 
digsten und Hostbarsten, das man bisher aufgedeckt hat, eines 
römischen Mosaik-Bodens, als Anhang der kleinen Schrift 
beigefügt, und hinsichtlich desselben müssen wir auf die letztere 
selbst verweisen. Nur das Hauptbild in der Mitte des Bodens 
können wir hier nicht ganz übergehen : es stellt einen jugend- 
lichen Orpheus in etwa % seiner natürlichen Gröfse dar. Sein 
Haupt ist mit einer pbrygischen Mütze bedeckt. Sein faltenrei- 
ches Gewand wallt um seine Glieder. Die fünfsaitige Lyra stützt 
sich links auf seinen Schoofs; sein begeistertes Auge richtet sich 
aufwärts, während seine Linke in die Saiten greift und die Rechte 
zugleich das Pleklrum hält. Bäume bilden mit ihrem Laubwerke 
den Hintergrund. Auf diesen stehen zwei Vögel zu beiden Seiten 
des Hauptes des Töneraeisters , und unten neben seinem Fufse 
lauschen gleichfalls zwei Thiere, von der Musik ergriffen, ein 



uigitized Dy 



Alterthtimsitundc. «J33 

langbeiniger Storch und ein sitzender Hund (oder Fuchs?) mit 
offenem Maule. Das schftne Bild prangt in lebhaften , besonders 
gelben und rotben, Farben, und ist grofsfentheils durch die Stein- 
arten der Umgegend und durch Gtasiiufs auf wahrhalt kunstvolle 
Weise ausgeführt. Die Zeichnung ist sehr correct. Ein gleiches 
Bild haben die Decumateniänder bis jetzt noch nicht aufgezeigt; 
nur Spanien, Frankreich und Italien selbst liefern Gegenstücke zu 
diesem Mosaik-Boden; und man hat ihn mit Hecht so werth ge- 
halten, dafs, da man ihn nicht aus dem Boden nehmen kann, 
selbst aus der konigl. würtembergischen Staatskasse 400 Gulden 
zu einem Überbau über denselben bewilligt worden sind. — Und 
•wie vieles ist bei Rottweil nicht noch zu hoffen ! Mochten nur 
die Ausgrabungen, die so lobenswerthen, mit dem unverdrossen- 
sten Eifer fortgesetzt werden ! Wir sehen abermals mit Verlan- 
gen einem neuen Berichte entgegen. 

Nr. 2 führt uns fern von den luxuriösen Ansiedelungen der 
Homer an dem Neckar in den alten Orla Gau zu den noch un- 
voll kommnern Werken in der Cultur wenig vorgeschrittener Men- 
schen. Herr Dr. Adler nämlich hat auf vielfachen kleinen Rei- 
sen jenen deutschen Gau von den Ufern der Saale bis. zu den 
blumenreichen Geländen ^er weifsen Elster oft durchstreift. Ihn 
haben die unzähligen Überreste der Frühvolker, die einst da wei- 
teten, tief angesprochen; und was er beobachtete, zeichnete er 
auch auf. Er beschreibt uns jedoch in dem vorliegenden inhalf- 
reichen Werkchen blos die Gräber, Opferplätze und unmittelbar 
darauf Bezug habenden Örler. Die Sagen hingegen, Münzen, 
alte Kirchen, Schlosser, Wüstungen, Heidenringe und Aufschrif- 
ten ist er Willens später in einigen besondern Bändchen zu schil- 
dern. Und wenn er von dem bereits vorliegenden Bändelten sagt, 
dafs es » hoffentlich deutlich, fafslich und jedem leicht« sey, so 
können wir mit Vergnügen beistimmen und noch hinzusetzen, dafs 
es such wohlgeordnet , mit vieler Hennlnifs der Sache und bün- 
dig geschrieben sey. O wenn wir nur so von jedem Gaue unscrs 
deutseben Vaterlandes gleiche Nachrichten erhielten, so würde 
bald die noch so düstern Vorhallen unsrer deutschen Vergangen- 
heit ein helleres Licht durchleuchten. 

Herr Adler theilt aber seine Schrift in zwei dem Umfange 
nach höchst ungleiche Hauptabtheilungen, in Begräbnifsplätze 
der Heiden und in Thiergräber; und er fugt der letzten 
Hauptabtheilung, sie gleichsam zu verstärken, noch eine Unter- 
suchung, von welchen Völkern wohl und besondern Stämmen 
diese Gräber herzuleiten seyn mochten, Verzeichnisse von merk- 
würdigen Orten, Hügeln and Gericbtsplätzen N und Schlufsbemer- 
hungen bei. 

I. Die Begräbnifsplätze der Heiden sondert er wei- 
ter nach ihren äussern (warum nicht vielmehr innern?) charak- 
teristischen Kennzeichen in 

A. Plattengräber ©der Gräber ohne Rasenhügcl (und zwar 



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« 



934 



Altcrthumak undc . 



euf freiem Felde, wo jedoch gar leicht die ursprüngliche Hügel- 
bede chung durch den Anbau des Bodens kann ganz abgeflacht 
worden seyn), in denen unter colossalen Steinplatten in der Rieh* 
tang von Norden nach Süden unverbrannte Todte auf dem Rü- 
cken ruhen. Es ist dies die Lage der Skelette vieler süddeut- 
schen Todtenhügel, und jene Todten haben auch, wie diese Ske- 
lette, die Bejgefafse, den Halsring, die Armringe, den gefafstea 
Thierzahn als Amulet, die Fibuln, das zweischneidige eiserne 
Schwert zur Rechten (jedoch häufig zusammengebogen) etc. etc. 
Man vergleiche besonders die Abbildungen Tab. J, 1, 6 und 7 
mit den Sinsheimer Abbildungen Tab. I, 23, II, 24 und IV, 5 
und 6. Es erscheint jedoch auch hier der StreitmeifseJ oder 
Schild bieeher , den wir noch nicht gefunden haben. 

B. Tumeliden, ganz einfache kleine längliche, aus guter 
schwarzer Erde bestehende und 6 — 8' Umfang und 9 — 3' Hube 
habende Rasenhügelchen , unter denen tief in dem wild gewach- 
senen Boden Familiengräber (mit 3 — 6 Skeletten in einem) auch 
Ton Norden nach Süden angelegt sind. Und zwar wichen diese 
Gräber sehr von einander ab : sie waren entweder ohne alle Stein- 
bedeckung, oder mit einer einfachen Kalksteinplatte auf dem Ske- 
lette, mit pyramidenförmig aufgestellten blauen Steinplatten auf 
den Todten , mit auch halbmondförmigen oder zirkelrunden Stein- 
lireisen , oder unächte uud ächte Steinhäuser mit und ohne grofse 
blaue Platten. Die Skelette erscheinen tbeils ausgestreckt auf 
dem Leibe liegend (oft andere Skelette, die auf dem Rücken lie- 
gen, zu den Füfsen , wohl als ihre Diener oder Sklaven), tbeils 
in kauernder Lage mit den beiden Armen im Schoofee oder in 
sitzender Stellung , theils auf dem Rücken ausgestreckt und zwar 
bald beide Arme an den Seiten herab und unten an den Schen- 
keln angeschlossen, bald mit der rechten Hand, bald mit beiden 
Armen an der Brust oder Stirn. Die Waffen in diesen Gräbern 
waren von Eisen und nicht sehr zahlreich : Schwerter, sehr schmale 
Frameen , ein Dolch und eine Streitaxt. Von Beigaben fanden 
sich; BeigefäTse von Thon (eines mit neun Offnungen), eine 
Scbafschere, Knöchelchen von Vögeln und ein vogelartiges Ge- 
bilde von Eisen, Pferdezähnc etc., besonders auch Schnecken« 
häuser, und zwar theils neben den Fufsknocheln und Armen, theils 
selbst (je drei und drei zusammen) unter den Kinnladen der Tod- 
ten. Die Schmucksachen sind die gewöhnlichen: Hals-, Arm- und 



offenbar von langen Gewändern) , steinerne Ringe auf der Brust 
der Frauen, blaue und grüne Glasperlen und Bernsteinringe etc. 
Der meiste und schönste Schmuck zeigte sich in den ächten und 
unechten Steinhäusern , in denen (als wohl den Todtenwohnungen 
der Vornehmen) auch ganz rotbe Grabgefäfse hervortraten. — 
Diesen Tumeliden ist beigefügt die Beschreibung des Opferherdes 
» bei den Druden oder Drachenbaume. « 

C. Turoellen ohneUstrin, ausgezeichnet grofse und hohe 
entweder doppelt zusammenhängende oder ganz einfach und iso- 




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935 



ürt stehende Rasenhüeel , meisten« auf Hochpunkten mit weiter 
Aussicht! jederzeit auf der Fläche des wilden gewachsenen Bodens, 
von flo — 45, j« 85 Fufs Umfang und 10—17, ja 19 Fufs Hohe. 
Sie bilden fast immer Kreisabschnitte und ziehen auch von Nor- 
den nach Süden hin. Oft sind einzelne graue Steine an der Spitze 
oder an den Seiten sichtbar, bisweilen findet man auch die Ueber- 
reste eines äussern Stein kr eises. Und dazu haben sie innerhalb 
des Hügels entweder nahe an der Spitze oder auf der Basis des 
witdea gewachsenen Bodens einen Steinkranz. Auch sie sind Fa- 
milienbegräbnisse mit Skeletten , bei denen sich ungefähr diesel- 
ben Gegenstande , wie bei den Skeletten der Tumeliden befinden. 
Dazu kamen hier noch an Tag : bei dem einen Skelette eine schone 
Schale von blafsgelbera Glase, metallene Reife und Henkel eines 
angeblichen Methgefäfses , ein sonderbar geformter Sporn mit ei- 
nem Stachel und ein Donationsgefäfs mit zwei goldenen unter 
Augustus geprägten römischen Münzen. Angeschlossen ist diesen 
Tumellen der Opferplatz auf dem Glintsch bei Obernitz und 
Fischdorf. 

D. Tumellen mit einer innerhalb derselben und zwar 
auf der Basis des wild gewachsenen Basens befindlichen Leichen- 
brandstätte. In diesen waren die Donationsgefafse nicht in 
dem Hügel selbst, sondern in einer gewissen Entfernung von je- 
ner an einem Bande, Wege oder Fufse eines Berges beigesetzt. 
Und ganz in der Nähe dieser Hügel finden sich auch Urnengräber 
unter Malsteinen , und zwar sind in den kleinen Gebeingefäfsen 
(in mit einer Schieferplatte bedeckten gehenkelten Krügen) blos Kno- 
chen von Kindern , in den grofsern Gefafsen dagegen nur Knochen 
von Erwachsenen. Allein 8 Fufs von diesen Urnengräbern lo»en 
auch zwei Skelette. Angereihet ist diesen Tumellen der Opfer- 
platz auf dem Erisberge bei Opitz. 

E. Urnen-Tumcllen innerhalb eines Steinkranzes, 
* kleine längliche, auf den Spitzen von Feldrändern, in der Kich- 

tung von Norden nach Süden, befindliche Hügel von 6 bis 10 
Fufs Umfang und 5 bis 6 Fufs Hohe, unter welchen ungefähr 
t bis 2 Eilen tief in dem wild gewachsenen Doden Knochenurnen 
innerhalb eines aus länglichen viereckigen Sandsteinen bestehen» 
den Steinhauses aufgestellt sind. Über den Urnen liegen grofse 
Sandfelsen und dann kommt gute schwarze Erde. Ausserhalb 
dieses Urnensteinhauses befindet sich jederzeit ein Steinkranz von 
Sandsteinen, und diesen umgeben Skelettgräber rings herum, so 
dafs hier Urnenhäuser und Skeletlgraber zugleich eine gemein- 
same Grabstätte bilden. Man fand jedoch auch in dem Innern des 
einen Urnensteinhauses neben den zwei Urnen mit Bobrenkno. 
chen die zwei Skelette zweier Kinder, das eine mit einer Art 
erzenem Idole und das andere mit zweien Armringen. In der 
einen Ascbenurne waren drei Wirle , einer von Metall und zwei 
von Thon. Die Skelette ausser dem Steinkreise hatten an der 
rechten Seite kurz? gerade Messer. Und es sind diese Urnen- 
Tumellen um so merkwürdiger Y als in denselben die Todtenbei- 



» 



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I 



936 Alterthutnskunde. 

setzun^ neben dem Leichenbrande Statt hat and als wir hier den 

umgekehrten Fall der Erscheinung haben, deren Herr Dr. F. A. 
Mayer gedenkt. Er hat nämlich in einem altdeutschen Familien- 
hügel in dem Fürstenthume Eichstädt (s. dessen Abhandlung über 
denselben S. 42) neben den Skeletten eines Mannes und eines 
YVeibes unmittelbar auf einer Brandstatte selbst die Knochenreste 
eines verbrannten Kindes entdeckt. — Nicht weit von den Uren- 
Turoellen stehen sogenannte Hummeln (Humuln, cumuli?) oder 
Hugel blos mit Verbrennungsstätten oder Ustrinen auf ihrer Ba- 
sis, in deren Nahe nicht selten auf dem Felde Donnerkeile ge- 
funden werden. 

/|L^Die Thiergräber ohne Hügelbedeckung, zu welchen 
wir nun ubergehen, an der linken Seite des nahe bei dem Dorfe 
Wernburg liegenden Altenburg-Berges, waren, wenn es in der 
That solche seyn sollten, als noch nicht anderwärts in Deutsch- 
land aufgefunden , eine überaus merkwürdige Erscheinung. 6 bis 
8, ja an manchen Stellen 10 Fufs unter der Oberfläche in reinem 
Sande hat man nämlich angetroffen : regelmässig angelegte läng- 
lich runde Steinhauser, tbeils blos mit Gerippen und Geweihen 
von Hirschen, theils blos mit unordentlich zusammengehäuften 
starken Schenkelknochen, Bippen und Zähnen von Pferden und 
Ochsen, die jederzeit in einer Schicht Äsche und Hohlen lagen, 
während die ganzen Gräber mit Erde ausgefüllt waren. Asch* 
förmige, oder unten spitzige und oben ganz weite, Grabgefäfse 
standen stets ausserhalb jener Steinhäuser und nur selten inner- 
halb derselben. Allein, können bei diesen Thiergebeinen ursprüng- 
lich nicht auch menschliche Skelette eben in den Hohlen und der 
Asche ohne allen Schmuck und ohne alle Waffen von Erz ge- 
legen haben und längst ganz zur Erde geworden, also spurlos 
verschwunden seyn , während die weit festern Thierknochen sich 
erhielten ? Also haben wir selbst ja auch Gräber geöffnet, in de- 
nen sich keine Spur von menschlichen Horpern mehr fand und nur * 
noch das unwidersprechlicbe Dagewesenseyn derselben die Orna- 
mente bezeugten , die , vom Halse bis zu den Füfsen , noch an 
allen den Orten lagen, wo sie der Todte in dem Grabe getragen 
hatte. »— Auch bei den Thiergräbern fand sich, 40 Schritte von 
denselben , eine Brandstätte. 

Wenden wir uns endlich zu der Untersuchung des Herrn 
Adler, Von weihen Volkerstämmen wohl diese Gräber 
alle herzuleiten seyen; so mochte gegen diese Untersuchung, 
so geistvoll und. scharfsinnig sie ist, doch gar Vieles einzuwenden 
seyn, was jedoch auseinanderzusetzen uns hier der Baum nicht 
erlaubt. Wir machen beispielsweise nur darauf aufmerksam, 
dafs Herr Adler die oben unter C genannten Tumellcn ohne 
Ustrin mit ihren noch wohl erhaltenen Skeletten und vielen Ge- 
genständen aus Erz und Eisen , ja mit der Schale aus Glas selber, 
für uralte celtisch - gallische Gräber erklärt, und bitten dagegen 
zu vergleichen die eigentlichen Hennzeichen dieser celtisch - gal- 
lischen Gräber, welche uns der für die Alterthumskunde allzu 



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Alterthumskunde 1)37 

4 

früh schon gestorbene Freiherr Ton Warnstedt (über Alterthums- 
gegenslände S. i3 ff.) nnd die beiden ersten so lehrreichen Be- 
richte der konigl. Schleswig- Holstein • Lauenburgischen Gesell- 
schaft für die Sammlang und Erhaltung vaterländischer Alterthü- 
mer geben. 

Nr. 3 Verbreitet sich über die heidnischen Opferplätze, 
Graber und Altert h il m e r Böhmens, also eines ganzen und 
zwar für die älteste deutsche und slawische Geschichte so wich- 
tigen Landes. Herr Kaiina von J. hat sich schon seit achtzehn 
Jahren mit besonderer Liebe mit den Alterthümern seines Vater- 
landes beschäftigt, und beschreibt nun jene Ausgrabungen heid- 
nischer Überreste, welche er selbst durch eine Reihe Ton Jahren 
in Böhmen veranlafst , oder welche er in Verschiedenen gedruck. 
ten Werken aufgezeichnet gefunden hat, oder endlich von wel- 
chen ihm theils mundliche , theils schriftliche Nachrichten mitge- 
theilt wurden. Er giebt zugleich eine höchst zweckmäfsige Karte 
Böhmens, auf der alle Fundorte von Alterthumern aufgezeichnet 
sind ; und er fuhrt der Vollständigkeit wegen in der Einleitung 
auch das an, was über das Vorfinden der Urnen in Böhmen und 
in einigen von slawischen Volkern wenigstens zur Zeit des Hei- 
denthums bewohnten nachbarlichen Ländern in frühem Jahrhun- 
derten geschtieben wurde. Allein diese Übersicht zeigt eigentlich 
nur , wie wenige Vorarbeiter Herr Kaiina von J. gehabt hat und 
wie um so gröfser sein Verdienst ist. Es genügt ihm selbst je- 
doch dasjenige, was er geleistet hat, noch gar nicht und kann 
nicht genügen; denn es ist in dem Vergleiche zu dem, was in 
andern Ländern , und namentlich z. B. von Herrn Dr. Adler in 
dem kleinen Orla-Gaue, geschehen ist, im Ganzen noch sehr we- 
nig. Aber als bereits 64 Jahre zählend will Herr Kaiina von J. 
dasjenige, was er erforscht hat, wenigstens nicht länger einer 
öffentlichen Mittheilung vorenthalten, damit er nicht zu den Vä- 
tern gerufen werde, bevor er eine solche gemacht habe. Er bat 
wenigstens die Bahn in Böhmen eigentlich gebrochen und wir 
nehmen seine freundlichen Gaben mit dem freudigsten Danke an. 

Die Fundorte selbst, — an Zahl zwei und achtzig, — die 
uns Herr Kalma von J. beschreibt , sind natürlich von sehr un- 
gleicher Wichtigkeit. Wir können nur die vorzüglichsten nen- 
nen. Diese sind : 4 

der isolirte Schlaner Berg mit seiner unglaublichen Menge 
Asche, Kohlen und Beinwellen, mit seinen vielen Gefafsscherben, 
mit seinen unzähligen verschiedenartigen Thierknochen, besonders 
auch mit Hirschgeweihen und Rinderhornern , ja selbst mit Thei- 
len von Menschenschädeln., sowie mit geschärften Feuersteinen 
und serpentinernen Donnerkeilen, der auch, wie jene von Dr. 
Wagner an der schwarzen Elster untersuchten Hügel, einst eine 
heilige Stätte der Opfer und Gottesverehrung überhaupt gewesen 
ist und auf dem auch Menschen hingeschlachtet worden sind ; 

das hohe Podmokl, wo nicht blos, schon im Juni 177"» 



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«J38 



jener kostbare kupferne Kessel mit den vielen goldnen Regen« 
bogenschusseln an Tag trat *) , sondern >vo euch ahnliche alter- 
thumliche Gegenstände wie auf dem Schlaner Berge sich zeigen, 
und wo wohl gleichfalls eine heilige Stätte der Gottes Verehrung 
gewesen ist; 

Kopidlno, mit seinen ungefähr fünfzig Leichen, welche, 
jede drei Schuh von der andern entfernt und mit dem Gesiebte 
nach Sudost gerichtet, meistens in ausgehöhlten Eichenstammen 
, lagen und vergoldete (daher unverrostete) Erbringe an den Füfsen 
hatten ; 

Panenska mit seinen Hügeln mit Skeletten (zwischen den 
Fufsen des einen derselben lag das eines etwa drei Fnfs langen 
Kindes) mit Bernsteiaperlen , getrennten erzenen Ringen, Gefafs- 
tcherben , Thierknocben , Pferdeschädeln , Sohweinsrussein , Hob . 
len etc. etc. 

Wabassan mit seinen Steinkammern mit Skeletten, neben 
denen Gefafse stehen and Donnerkeile liegen ; 

Protzen mit Beinen drei Topfen, in deren jedem drei 4 — 5" 
hohe und 2 — 3" in ihrer Höhlung betragende, aus %" dickem 
Kupferdrahte gewundene Spiralringe enthalten waren; 

Kolin, wo drei besonders grofse Urnen ausgegraben wur- 
den, deren eine zumal in ihrem Umfange 5 ' i x f%" und in ihrer 
Hobe i 1 7" halte; 

Brozan und Kletzen mit ihren Skeletten, bei deren Schul- 
tern lange flaschenartige Gefafse ohne Henkel standen ; 

Ginetz, wo 3s erzene, verschiedenartige, altertümliche 
Gegenstände, zumal Streitmeisel , auch eine Lanzenspitze, ein 
spiralförmig gewundener Armring etc. gefunden wurden, und 

Chocenitz und Ginec, mit ihren erzenen Sicheln**); 

Wsserau ist sehr merkwürdig wegen eines uralten Ge- 
brauches, welcher noch daselbst besteht. Am St. Martinstage 
werden nämlich am Eingange der Bergkapelle des heiligen Martin 
von den Kirchenvätern Gebilde von Hausthieren, Ochsen, Kühen, 
Pferden, Eseln, Huhnern und Gänsen an die Wallfahrter ver- 
kauft, oder vielmehr gegen Erlag von einigen Kreuzern geborgt; 
von diesen aber auf dem Altare des heil. Martin in der frommen 
Absicht geopfert, damit der Heilige die gesunde Erhaltung der 
bildlich geopferten Thiere von Gott erbitte. Der Leib dieser 
Thierbildnisse ist aus Eisenblech sehr roh und ungeschickt ge- 
schnitten, während die Füfse der Quadrupeden mit zwei Nieten 
^ > 

*) Wm die Regierang von diesem seltenen Schatze noch bekam, 
mochte allein über achtzig niederösterreichische Pfunde oder einen 
Geldwerth von 12,800 Ducaten betragen. 

'") Auf dem Felde bei Freistadt in dem Oborösterreichischea hat man 
gar ein unterirdisches Gewölbe entdeckt, in welchem man nebst 
mehr als 50 solcher erzenen Sicheln auch einen Klumpen von ro- 
hem Erze fand; so dals man glaubt, dafs diese da gegossen wurden 
und also da eine Gieracre i von Erlsachen gewesen sev. 



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Alterthumskunde. U39 

■ 

an den Leib befestigt and auseinandergebogen sind, damit die 
Figur stehen kann. Und sie erinnern an die verschiedenen klei- 
nen Menschen- und Thiergestalten von Elisen, welche, nach dem 
sechsten Berichte des historischen Vereines in Beierns Rezat- 
hreise, S. i3, bei Feuchtwang in einem kleinen Thale gefunden 
worden sind, wo eine Kapelle des heil. Leonhard gestanden ha- 
ben soll , sowie an den XXIX. Artikel des indiculus super6titio- 
num et paganiarum de ligneis pedibus vel manibus pagano n'/sfo 

Wo jetzt Zwikowetz steht, war höchst wahrscheinlich 
früher eine heidnische Opferstätte und bei derselben ein Begräb- 
nifsplatz; und hier hat man mitten unter uralten rohen heidni- 
schen Urnentrümmern die Reste unglasirter Ofenkachel]» aas dem 
16, Jahrhunderte ausgegraben. Herr Kaiina von J. macht hierbei 
mit Recht darauf aufmerksam, wie durch zufällige Umstände 
Trümmer aus den verschiedensten Altern der Vorzeit zusammen- 
kommen können , und wie man sich wohl hüten mufs , sich da 
nicht zu täuschen und jüngere Gegenstände um der neben ihnen 
gefundenen älteren willen auch in eine frühe Vorzeit zurückzu- 
setzen ; gleichwie wirklich der k. Ingenieur Herr Friedr. Panzer 
solche Reste von spätem Ofenkacheln in das erste christliche 
Jahrhundert hinausrücken und den Römern zueignen will , weil 
er dieselben aus einer bedeutenden Tiefe und unter römischen 
Graburnen ausgegraben hat *). 

Eine besondere Aufmerksamkeit widmet Herr Kaiina von J. 
den steinernen Keilen und Hämmern (S. i85 ff.) und sogenannten 
liein wellen oder Kalktuff, — Kalk-Concretionen , welche, wie an- 
derwärts, so auch in Rühmens heidnischen Opfer- und Begräb- 
nifsplätzen so oft vorkommen. Er schliefst sein vortreflliches 
Werk mit einer sehr interessanten Abhandlung über die letztern 
(S. 199 ff.) und mit einer nicht minder sehr beachtenswerten 
Beantwortung der Frage : » Sind die in Böhmen vorgefundenen 
Grabstätten und Opferplätze germanisch oder slawisch ? « — Hin- 
sichtlich dieser Beantwortung einer so wichtigen und so tief in 
die ganze Alterthumskunde eingreifenden Frage können wir ihm 
jedoch durchaus nicht beistimmen. In die Hauptsache, in die 
Aufsuchung der eigentlichen Kennzeichen der germanischen und 
slawischen Grabstätten läfst er sich gar nicht ein ; er erklärt viel- 
mehr geradezu (S. 248): »Sollte man mich fragen, wie man die 
germanischen von den slawischen Grabhügeln der heidnischen 
Vorzeit unterscheiden könne; so gestehe ich offenherzig, dafs 
ich diese Frage nicht befriedigend beantworten könnte ; < und 
sucht einzig und aliein aus der Geschichte und den vorfindlichen 
Beilagen (in den Gräbern nämlich) zu bestimmen , welches das 
Volk war, das in Böhmen eigentlich ursprünglich wohnte, und 
dem also diese Grabstätten und Opferplätze angehorten. Er sucht 
vor allem sich die Behauptung aus seinem Wege zu räumen , dafs 



•) S. dewen Bericht über einige in 4er Umgegend von Wünburg aui- 
gegrabeae Alterlhtuner (Würaburg 1802) £ 86, 41, M»W, 61. 



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940 



Griechische Literatur. 



die Slawen ihre Todten nicht verbrannt hätten, und vielmehr das 
festzustellen , dafs bei den Slawen ebenso das Verbrennen wie das 
Begraben der Leichen üblich war. Dann thut er weiter dar, dafs 
die Slawen , gleichwie sie mit den Deutschen , Griechen und Rö- 
mern von Einem Volksstamme entsprossen waren, auch nicht spä- 
ter als diese letztern nach Europa gekommen und namentlich die 
eigentlichen Urbewohner von Böhmen nnd da nur vorübergehend 
von den Deutschen unterdruckt gewesen seyen. Und daraus zieht 
er endlich denSchlufs, dafs auch von ihnen, als dem eigentlichen 
L i volke, alle die von ihm aufgezählten Grabstätten und Opfer- 

Slätze herrühren müfsten. Ja er geht noch weiter, er stellt selbst 
en Satz auf, dafs nicht nur die in Böhmen, sondern auch die in 
Schlesien, in den Lausitzen, in Meilsen, Sachsen, Thüringen, 
dann in den weitern Elbgegenden, ferner in Brandenburg, Pom- 
mern, kurz in den ehemaligen Wohnsitzen der Slawen- Wenden 
ausgegrabenen Alterthumer slawischen Völkern angehören. — So 
viel sich gegen dieses alles einwenden läfst , so ist doch auch 
dazu hier der Ort nicht Wir müssen uns begnügen, zu sagen, 
dafs, wenn wir die in Böhmen aufgefundenen heidnischen Alter- 
thumer mit den Alterthümern der Landschaften Germaniens, in 
denen nie die Slawen gehauset haben, vergleichen, wir jene die« 
sen ganz ähnlich, ja völlig gleich finden und sie nur, wenigstens 
ihrer entschiedensten Mehrheit nach, für germanisch zu erkennen 
vermögen. 

Hinsichtlich der Abbildungen wäre sehr zu wünschen gewe- 
sen, dafs anstatt der vielen Scherben von Gefäfsen und Ofen- 
kacheln, oder wenigstens neben denselben auch so manche andre 
interessante Alterthumer von Stein, Erz und Eisen abgebildet 
worden wären , und hinsichtlich der aus andern gedruckten Wer- 
ken genommenen Nachrichten, dafs dieselben etwas vollständiger 
gegeben worden wären. Denn die Wenigsten haben diese Werke, 
um die gegebenen Citate nachlesen und die citirten Abbildungen 
ansehen zu können. 

C. Withelmi. 



GRRIECH ISCHE LITERATUR. 

Quacitionum Flavia» omni Specimcn. Scripsit Dr. Fridericus Lewita. 
Rcgimontii Pruasorum 1835, typis Degenianis. 16 & 4. 

Eine Gelegenheitsschrift, die sich über einen Schriftsteller 
verbreitet, dessen Wichtigkeit und Bedeutung, bei allen seinen 
Schwächen, anerkannt ist, so wenig auch in der neueren Zeit, 
in exegetischer und kritischer Hinsicht, für ihn gethan wurde. 
Um so dankenswerther müssen uns die hier geführten Untersu- 
chungen erscheinen, welche zunächst über zwei Punkte, mit de- 
nen freilich noch eine Menge anderer in näherer oder entfernte- 
rer Beziehung steht, sich erstrecken, und diese in gründlich phi- 



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Griechische Literatur. , 941 



lologischcr Weise behandeln. Zuvorderst nämlich sucht der Hr. 
Verf. zu zeigen , dafs die mehrfach bei Josephus vorkommenden 
Verweisungen auf einen Kappadocier Strabo keineswegs auf das 
berühmte, grofsentheils noch vorhandene, geographische Werk 
des Strabo zu beziehen sind , und dafs demnach furderhin neben 
dem berühmten Geographen Strabo die Literärgeschichte noch 
einen andern Strabo zu nennen hat, dessen Schriften Josephus 
bannte und las, über dessen Person uns aber durchaus weiter 
nichts bebannt ist, als dafs er aus Kappadocien gewesen. — Die 
andere Untersuchung betrifft die berühmte Stelle der Antiqq. Judd. 
XVIII, 3. §• 3. oder das Zeugnifs von Jesu, deren Authenticitä't 
bekanntlich Gegenstand vielfacher Controversen , besonders von 
Seiten gelehrter Theologen und Kirchenhistoriker geworden ist 
(Ref. verweist der Kurze wegen nur auf Scholl Gesch. d. grieeb. 
Literat. II. p. 385 ff. und die dort gegebenen Nachweisungen). 
Der Verf. , der , unabhängig von den Forschungen dieser Gelehr- 
ten und von den früheren Untersuchungen, absichtlich den eige- 
nen Wes einschlug , erklärt sich in dieser Untersuchung gegen 
die Ächtheit der Stelle, die er als ein fremdartiges Einschiebsel, 
mithin als unächt zu betrachten geneigt ist, wobei er sich ins- 
besondere gegen Eusebius und dessen historische Treue and Ge- 
wissenhaftigkeit ausspricht. 



Griechische Chrestomathie für die mittleren Abtheilungen der Gym- 
nasien, bearbeitet von W. Bäumlein, Professor am obern Gymnasium 
au Heilbronn, und A. Pauly, Professor am obern Gymnasium zu Stutt- 
gart. Stuttgart, Verlag der J. B. Metzler>schen Buchhandlung. 1837. 
252 S. in 8. 

Obwohl das, was die beiden gelehrten Herausgeber dieser 
Chrestomathie über deren Anlage und Beschaffenheit zur näheren 
Verständigung mit dem Lehrer, der dieses Buch gebraucht, zu 
bemerken haben, dem Commentar vorbehalten ist, welcher, zu- 
nächst blos für den Gebrauch des Lehrers bestimmt, bald nach- 
folgen soll, so wird sich doch schon nach dem, was bereits, zu- 
nächst für den Gebrauch des Schulers, vorliegt, ein ziemlich ge- 
nügendes Urtheil fällen lassen. Ünd dieses durfte nur beifallig 
ausfallen , man mag auf die Auswahl der einzelnen in die Chre- 
stomathie aufgenommenen Stucke sehen, oder auf die zweck- 
mäfsige, ganz auf die Bedürfnisse des Schülers berechnete Be- 
bandlungsweise des Textes in den demselben untergesetzten No- 
ten. Was das Ersterc betrifft, so sind es hauptsächlich drei Au- 
toren, aus welchen einzelne Abschnitte entnommen sind: zuerst 
längere Stücke aus des Isokrates Rede ad Demonicum (unter 
der Aufschrift: Lebensregeln, einem Jüngling ertheilt) und aus 
dem Panegyricus (cp. 4 — 27 mit der Aufschrift: Lob Athens); 
dann sieben und zwanzig Abschnitte aus den Hellenicis des Xe- 
nophon (I, 4 — 7. H., 1— 4- W, 3—5. IV, a V, 1-4. VI, 



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943 



Belletristik. 



4. 5.) und einige Stucke aus Loci an 's Dialogg. Marr. und Deorr. , 
aus Toxaris und Somninm ; wobei zugleich über jeden Autor eine 
kurze biographische Skizze vorausgeschickt ist. Daran schliefst 
sich ein poetischer Anhang, der ausser einer Reihe von kleineren 
Poesien , Epigrammen , dann fast das ganze sechste Buch der Ilias 
enthalt. Auf diese Weise durfte dem Lehrer eine reichliche Aus- 
wahl geboten und für eine zweckmäßige Abwechslung beim Schaf- 
gebraach hinreichend gesorgt seyn. Was aber den andern Punkt 
betrifft, so finden sich in den Noten unter dem Texte die sach- 
lichen Gegenstande, historische wie antiquarische und geographi- 
sche in befriedigender Kurze, wie dies die Bestimmung der Chre- 
stomathie erforderte, erörtert; für die grammatischen Punkte aber 
sind Nachweisungen auf die Grammatiken von Buttmann und Rost 
(die grössere, wie die kleinere) gegeben, und nur da, wo es sich 
um feinere Unterschiede im Gebrauche der Partikeln, der Tem- 
pora , der Modi u. dgl. handelt , sind diese Unterschiede und so- 
mit die Regeln selbst auf eine sehr bestimmte und scharfe Weise 
angegeben, und so hier für den Schuler eine Nachhülfe geboten, 
die ihm schwerlich auf eine andere, befriedigendere und bessere 
Resultate versprechende Weise gegeben werden konnte. MSge 
daher diese von so einsichtsvollen und mit dem Bedurfnisse der 
Schule vertrauten Männern angelegte Chrestomathie eine alfge- 
meine Verbreitung und Aufnahme, die sie in jeder Hinsicht ver- 
dient , sich erfreuen ! 

C7*r. Bahr. 



BELLETRISTIK. 

Poetische Mittkcilungcn in vier Büchern von C. M. IV interling. 
Dürnberg, bei Campe. 183? XX u. 148 S. kl. $ 

Bei dem gegenwärtigen Stande der schongeistigen Literatur, 
wo ein vernünftiger Leser so häufig von gesuchter, geheuchelter 
Überschwänglicbkeitspoesie gequält und geiangweilt wird , müssen 
diese poetischen Gaben mit besonderem Interesse und Vergnügen 
gelesen werden. Da hat nun wieder einmal ein Dichter ein wirk- 
liches Verhält nifs za der Natur, zu der Wahrheit und Schönheit 
des klassischen Alterthums, und ist mit Eifer and Umsicht be- 
strebt, in seinen Erzeugnissen durch naturliche, wahre Gedanken 
und Gefühle , durch reine , klare Form den beiden Vorbildern 
Ehre za machen! In wie weit ihm dies gelungen, suchen wir 
durch Tnhaltsanzeige und Kritik unsern Lesern zu veranschaulichen. 

Nach einer prosaischen Vorrede voll beachtenswerter ästhe- 
tischer Bemerkungen eröffnet den poetischen Reigen: »Sanger- 
liebe«, eine Folge von 80 Sonetten. Da wird denn in der er- 
sten Hälfte ein acht poetisches Verhalt nifs , nämlich die Liebe 
des Dichters zu einer Hohen, Unerreichbaren in mannigfaltigen 
Situationen naiv, lieb und herzlich dargestellt« Der ideale Ge- 



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Belletristik. 943 

genstand, die natürliche Behandlung vereinigen sich zu sehr er- 
treulicher Wirhang. Wir vernehmen des Dichters Klage, Ent- 
schuldigung, Selbstgefühl, Entsagungslust , geistigen Genuts, An. 
betung und Preis der Geliebten, Selb ttrüstung und tiefe Trauer 
bei dem Tode derselben mit gesteigertem Antheil , und sehen uns 
zuletzt in eine süfs ernste Empfindung versetzt. Nachdem diese 
durch mehrere elegische Stimmen genährt worden , mofs es der 
lebensfrohe Leser dem Gott Amor Dank wissen, dafs er auf den 
Dichter einen neuen Pfeil fersendet, und ihn nach und nach wie* 
der zu Lust und Freude hinlocbt. In den ersten Sonetten dieser 
zweiten Hälfte erscheint die Liebe zu der weltlichen Nachfolgerin 
mit zartem Andenken an die Verblichene wahr und schön ver- 
einigt. Dafs aber die folgenden sich fast ausschliefslich mit der 
frischen Gegenwart beschäftigen, ist natürlich; denn »der Le- 
bende hat Recht« kann man bei solchen Verhältnissen vorzugs- 
weise sagen. Besonders wohltbuend wirkt nun , nach den ernsten 
Klängen der ersten Liebe, der Humor und das Glücksgefühl, die 
in der Darstellung der zweiten vorherrschen; in Bezug auf die 
Behandlung aber sehen wir hier mit Vergnügen aufs Neue, wie 
derjenige, der sich getraut die Wirklichkeit anzufassen, immer 
Eigentümlichkeit und Mannigfaltigkeit der Situationen hervor- 
bringt, während die Phantasten Traumbilder nach der Re- 
gel geben, das Erschrecklichste, was man sich in dieser Weise 
vorstellen kann. Nach günstigen und ungünstigen Erlebnissen wird 
der Dichter zuletzt grausam enttäuscht, und kehrt nun, von der 
erkannten Kokette sich heftig lossagend , zum Preis und zur Ver . 
ehrung der Ersten zurück , worauf er von dieser Art Gesang 
einen anspruchlosen Abschied nimmt. 

Die darauffolgenden » Glossen « sind theils zärtlichen , theils 
derblustigen Inhalts, und erfreuen durch eine meist vollkommen 
gelungene Verschmelzung des Thema's mit dem Texte. 

Die ausgezeichnetste Parthie des Büchleins aber ist für uns 
die der Lebensbilder, wie der Verf. schicklich Idyllen übersetzt. 
In dem »Maifest« webt gleich ein sanfter idyllischer Hauch, holde 
Situationen werden griechisch klar und rein vorgeführt, und die 
Poesie des Festes muthet uns gar erquicklich an. Mit den » Bo- 
tanikern « aber hat der Verf. ein wahres Musterbild gegeben, wie 
moderne Zustände zu dem reinsten Idyll verarbeitet werden kÜnnen. 
Es besteht dieses Gedicht aus einem Dialog zweier Botaniker, 
wovon der eine als reiner Naturfreund , der andere als ein Lie- 
bender sich darstellt, der auf der Wanderung vorzugsweise für 
die Geliebte gesammelt hat. Wenn nun der erste durch sanften 
Preis das schönste Gefühl herrlicher Natur wirkt, so weifs uns 
der zweite moderne Verhältnisse aufs lieblichste anschaulich zu 
machen. Das alles ist so charakteristisch, und doch so anspruchs- 
los, so voll sanft versöhnender Anerkennung von Freud* und Leid 
des Daseyns, dafs wir uns zuletzt in ein wahrhaft paradiesisches 
Behagen versetzt fühlen; was eben die Aufgabe des Idyllendich- 
ters ewig seyn und bleiben wird. Wird ein solches Nacbparadies 



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944 



Belletristik. 



seligen Friedens durch getreue Darstellung wirklicher Lebensver- 
hältnisse in dem Herzen lebendig gemacht, so ist in dieser Be- 
ziehung das Höchste erreicht; und daher sind wir überzeugt, dafs 
vorliegende Idylle immer unter den besten deutschen genannt 
werden wird. 

Den Lebensbildern schliefsen sich allerlei kleine Gedichte an, 
die wackern freien Sinn, männliche Zufriedenheit, gemüthliche 
Ruhmbegierde iliefsend aussprechen. Darunter sind zwei Liebes- 
lieder, »Vergegenwärtigung« und »Leid in der Trennung«, so 
herzlich und warm, als sie nur jemals aus einem reingl übenden 
Gemüt h hervorgegangen sind. * Der Knabe und der Delphin« ist 
eine gut erzählte interessante Geschichte. 

Den Schlufs des Werkchens bildet eine ziemliche Anzahl von 
Epigrammen , aus welchen wir den eigentlichen Sinn und Cha* 
rakter des Verfassers am deutlichsten entnehmen können. Hier 
wird in griechischklarer Weise heitere Lebenslust gestanden, ern- 
ste Lebenserfahrung angedeutet , Geist und Gedä'chtnifstrodel un- 
terschieden, Jugend und Alter gewürdigt, Reichthum und 'edle 
Armuth gegeneinander gehalten, und die Gebrechlichkeit des Le- 
bens deutlich und mit Fassung ausgesprochen Darauf versendet 
der Dichter treffende Pfeile gegen verwerfliche Zuge bei den 
Frommen par excellence, welche sehr zeitgemäfs abgeschossen 
, sind. Die Buhseligen darf man um ihres eignen Heiles willen 
am wenigsten in Ruhe lassen. So wird diesen modernen Heiligen 
denn nun vorgeworfen , dafs sie die Seligkeit für sich allein haben . 
wollen , dafs sie meist am wenigsten zur Verzeihung geneigt sind, 
dafs sie durch unkluge Bekehrungsversuche ihre Sache oft nur 
lächerlich machen , dafs sie immer wieder Altes v bringen und 
Worte ohne Sinn lallen: Untugenden, die auch der mildeste Be- 
trachter fast an allen Bekennern dieser Bichtung, oft ihnen selbst 
unbewufst , entdecken wird und tadeln mufs. 

In dieser Weise bewährt der Verf. , einen gesunden , sichern 
und bescheidenen Sinn bei allen Lebensverhältnissen bis zu Ende, 
wo er dem Genius, dem er alles Liebe und Gute verdankt, noch 
einen herzlicheu Preis zuerkennt. Sollte der Dichter auf unsern 
Rath boren wollen, so mochten wir ihm ans Herz legen, bei 
einer künftigen Redaction bie und da ein zu keckes oder zu un- 
bedeutendes Erzeugnifs auszuscheiden, im Übrigen aber stets auf 
dieser naturgemäfsen , gesunden Bahn fortzuwandeln. 

M. M e y r. 



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N°. 60. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



* * 

HUtoire de la guerrc de Mehemed-Ali contre la Porte Ottomanne en Syrie 
et en Anie mineure 1831 — 18S3. Ouvragc enriehi de Carte» , de Plant 
et de documvns officieh par M. M. de Cadalvene et Barrault. 
Paria 1837. 512 Seiten 8. 

R ef. zeigt dieses Buch besonders darum an , weil es einen Be- 
griff von der Art Civilisation giebt , welche der Orient von den 
beiden Reformatoren Mahmud und Mehemed Ali zu erwarten bat. 
Der Held des Buches ist, wie man von Franzosen, deren Ideal 
Bonapartes Militärregierung und die derselben angemessene Or- 
ganisation immer bleiben wird, erwarten kann, der Pascha von 
Ägypten, und man. kann daher vermuthen, dafs sie weder tief 
eindringen noch das Innere enthüllen; für die klare Übersicht des 
allgemeinen Ganges der Begebenheiten ist indefs das Buch sehr 
nützlich. 

Übrigens ist es sonderbar genug , dafs der Pascha von Ägyp- 
ten in demselben Augenblick , als er dem türkiseben Reiche zwei 
grofse Statthalterschaften mit Gewalt der Waffen entreifst, und 
Anstalt macht, dem türkischen Reichsheer eine entscheidende 
Schlacht zu liefern, den Sultan immer noch als seinen rechtmäßi- 
gen Herrn erkennt, das Kirchengebet für ihn halten, und dem 
Imam in Damascus, der zu zweifeln wagt, ob er für Mahmud 
beten (S. ■ 56) soll, ein Paar Hundert Stockprügel geben la'fst. 

Die ersten anderthalbhundert Seiten des Buchs enthalten übri- 
gens nur das Vorspiel des Kriegs zwischen Mahmud und Mehemed 
AH ; sie handeln von der Unternehmung gegen Acre und Damas- 
cus, welche den Sultan mit seinem vorgeblichen Vasallen ent- 
zweit hatte, nachdem Mahmud vorher alles aufgeboten , den Frie- 
den und den Schein der Freundschaft zu erhalten. Mehemed Ali 
war schon vorher Herr von Mecca und Djedda, er hatte die 
YVechabiten besiegt und dem Sultan im Streit mit den Griechen 
geholfen; er strebte jetzt nach dem Besitze von Palästina und 
von Syrien, war auch erbotig, dem Sultan, dem er den jahrli- 
eben Tribut für Ägypten zahlte, für Syrien dieselbe Summe zu 
entrichten , welche die Statthalter bezahlten , denen er die Pro- 
vinz entreifsen wollte; er glaubte daher anfangs, dafs er es nur 
mit den Statthaltern werde zu thun haben, allein der Sultan nahm 
doch die Sache diesmal ernstlicher. 

XXX. Jahrg. 10. Heft. 60 



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946 Caldavi-nc et Barrault: 

Der Sultan glaubte in dem Streit, den Mehemed Ali mit sei- 
nem Nachbaren Abdallah, Pascha von Acre, begann, eine Ge- 
legenheit gefunden zu haben, den machtigen Beherrscher von 
Ägypten zu demüthigen, und hätte vielleicht seinen Zweck er- 
reicht, wenn er zu rechter Zeit Acre entsetzt hätte; er versäumte 
aber den gunstigen Augenblick und hatte keinen Feldherrn , der 
dem Sohne des ägyptischen Tyrannen gewachsen gewesen wäre. 
Der Held franzosischer Historiographie erreichte daher seinen 
Zweck und Mahmuds Reich ward dem Untergange nahe gebracht. 
Seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war die Statthalter- 
schaft Acre nur dem Namen nach türkische Provinz gewesen; 
denn Sheikh Daher, Djezzar Pascha, Soliman Pascha und nach 
diesem Abdallah zahlten nicht einmal, wie doch Mehemed Ali 
that, regelmäfsig einen jährlichen Tribut Djezzar Pascha ist 
durch seine unerhörte Grausamkeit , dutch Blutgier eines Tigers 
berüchtigt und durch die Verteidigung von Acre gegen Bons- 
parte berühmt; er hatte auch Damascus an sich gebracht, wel- ' 
ches sein Nachfolger Soliman behauptete. Abdallah suchte diese 
Provinz vergeblich wieder zu erwerben, obgleich der Sultan auch 
* ihn im Besitz des Gebiets vom Berge Carrael, vonTripoli, Yäfa, 
Gaza lassen mufste. Abdallah war ausserdem mit den Drusen in 
Verbindung und hatte einen bedeutenden Schatz. 

Um 1823 glaubte Abdallah, der günstige Augenblick sey ge- 
kommen, um Damascus zu besetzen; er liefs einen erdichteten 
Firraan bekannt machen, in welchem ihm diese Statthalterschaft 
zuerkannt ward; allein er war seiner Bolle' nicht gewachsen, der 
Betrug, den er mit den Waffen nicht zu unterstützen verstand, 
ward entdeckt, der Sultan erklärte ihn für einen Bebellen und 
Friedenstorer und die drei benachbarten Paschas von Adana, 
Damascus und Aleppo mufsten ihn in Acre belagern. Diese Be- 
lagerung dauerte neun Monate ohne Erfplg, und der Sultan ent- 
schloß sich lieber zur Aussöhnung mit Abdallah , als dafs er Me- 
hemed Ali's Hülfe angenommen und ihm dafür, wie er forderte, 
Damascus ertheilt hätte. Gleich im folgenden Jahre liefs Abdallah 
auf eine schandliche Weise den nach Constantinopcl geschickten 
Tribut wieder nach Acre zurückbringen (Des assassins a ses ga- 
ges le lui repporterent secretement, encore teint du sang de ses 
propres officiers egorges par son ordre sur la route de Lata Iii eh 
a Constantinople) ; auch diese. Treulosigkeit ward aber entdeckt, 
und die drei Paschas erschienen zum zweiten Male vor Acre. 
Die elenden Truppen und die erbärmliche Artillerie der Pasohas 



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Histoire de la gnerre de Meheraed-Ali. 94? 

schreckten Abdallah wenig, aber seine Festung war nicht mit Le. 
bensmitteln versehen und ward von einer türkischen Flotte ein- 
geschlossen; er nahm seine Zuflucht zu Mehemed Alis Vermitt- 
lung. Die Bedingungen, unter denen der Tyrann von Ägypten 
diese Vermittlung gewährte , erfahren wir nicht , denn die Verfas- 
ser, als Freunde, Diener und Lobredner des orientalischen Bona- 
parte haben nicht rathsam gefunden sie uns mitzutheilen , sie ha- 
ben sie nur im Allgemeinen angedeutet (Abdallah souscrivit a 
Mehemed- Ali lui-meme des conditions, quil ne pouvoit ni rem- 
plir ni vider Sans se declarer le protcgc ou l'ennemi du pacha 
dEgypte), und sie wurden auch nicht gehalten. Auf Mehemed 
Alfs Verwendung begnügte sich der Sultan damit, dafs Abdallah 
die Kriegskosten ersetzte und 3ooo Btfutel (750,000 Franken) 
zahlte. Nachdem sie dies angeführt haben , lassen uns die Ge- 
schichtschreiber Mehemed Alfs wieder im Dunkeln, denn wir er- 
fahren nicht, warum unmittelbar nachher der elende Abdallah 
von der Pforte mit dem Gebirgland von Palästina, d. h. mit Na- 
pluse und Jerusalem, belehnt wird; wohl aber zeigt der Erfolg, 
dafs diese Vermehrung von Abdallahs Gebiet den Tyrannen von 
Ägypten mit seinem Nachbar und mit der Pforte entzweite. Eine 
Vermuthung über die Ursache der Begünstigung Abdallahs läfst 
sich aus 8. 3o — 40 herleiten. 

Es scheint nach dem , was dort erzählt wird , als hätte sich 
Mehemed Ali für das, was er im griechischen Kriege zuletzt ge- 
than und gelitten hatte , durch die ihm von Mahmud ertbeilte Statt- 
halterschaft von Candia nicht hinreichend belohnt gefunden und 
dringender als vorher Damascus gefordert. Da nun damals Me- 
hemed Ali den Fürsten der Drusen, den Abdallah beleidigt hatte, 
bei sich aufnahm, da er ihn gegen die Pforte und gegen den Pa- 
scha von Acre schützte und heimlich unterstützte, so suchte wahr- 
scheinlich Mahmud dagegen in Abdallah einen Verbündeten und 
ertbeilte ihm gerade die Distrrcte, welche zwischen Damascus 
und Ägypten liegen. Unsere franzosischen Geschichtschreiber 
Mehemed Alis fugen hinzu , Acre sey der Sitz der Gonspirationen 
gegen den Beherrscher von Ägypten geworden. Das ist das alte 
Lied der Zeitungsschreiber Napoleons , das uns immer an die Fa- 
bel vom Kalbe und vom Wolfe erinnerte , dem jenes das Wasser 
sollte getrübt haben. 

Was die Verbindung Mehemed Ali s mit den Drusen angeht, 
so hatten diese rüstigen Gebirgsstämme damals anch ihren Tyran- 
nen erhalten, der, wie sein ägyptischer Freund, die Christen 

s 



» 



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9 48 Caldavfeoe et Barraul 1 1 

ungemein begünstigte und tick am Ende sogar wie Fakr-ed-din 
im achtzehnten Jahrhundert das Ansebn gab, als wenn er wirklich 
Christ sey. Dieser Mann war der Emir Beschir Schehab, o*. 
sprünglich nur Oberhaupt einiger Clans der gleich den alten 
Schotten regierten und lebenden und raubenden Drusen. Dieser 
Mann war, wie die Verfasser ganz richtig bemerken, sehr wür- 
dig im Kleeblatte der falschen , verrät herischen , selbstsüchtigen 
orientalischen Despoten als der Dritte zu glänzen ; sie sagen S. 43 : 
Par soo courage , son habilete et sa perseverance 1 emir n est 
point indigne de poser a cöte de ces deux grandes figures rero- 
lutionnaires et despotiques de l'Orient (Mahmud und Mehemed 
Ali). Die Streitigkeiten des Emir mit Abdallah, dessen Freund 
und Untergebner er eine Zeitlang war, seine ^ c rl) q 1 t ji iss zur* 
Pforte und seine abwechselnden Schicksale übergehen wir, um 
nur zu erwähnen , dafs er durch Vermittlung des Herrn von Ägyp- 
ten in seine Würde als Stammhaupt der Drusen am Libanon 
wieder eingesetzt war und sich für diesen erklärte, sobald er es 
mit Sicherheit und Vortheil thun konnte. 

Der Emir hatte erst die Häupter der andern Stämme , näm- 
lich die Familien Dschomblatt, Jesbek und Beit Amaat, die sei- 
ner Familie (Schehab) an Macht fast gleich waren, unterdrückt; 
er schaffte sich mit unbarmherziger Grausamkeit, hernach auch 
alle Nebenbuhler aus seiner eignen Familie von der Seite und 
ward allgemeines Oberhaupt der vorher von einzelnen Stamm- 
häuptern regierten im Gebirge mächtigen Drusen. Den Christen 
zeigte er sich gewogen , oder vielmehr er gab dem Theile der 
sehr zweifelhaften Religion seines Volks, welcher aus dem Chri- 
stenthum entlehnt ist, den Vorzug, und stellte sich oft, als wenn 
er Christ sey, weil er die eifrig christlichen Maroni ten dadurch 
gewinnen wollte, um sie im Nothfall gegen die andern Drusen 
gebrauchen zu können. 

Als Mehemed Ali beschlossen hatte, sich gegen Abdallah zu 
richten , um Damascus und Syrien hernach leicht zu besetzen, 
betheuerte er , noch während er die groben Zurustungen zur See 
und zu Lande machte, dafs er weit entfernt sey, dem Sultan den 
Gehorsam aufkündigen zu wollen ; er wolle blos seinen Streit mit 
dem Pascha von Acre mit dem Schwert ausmachen. Mehemed 
Ali forderte von Abdallah die Rückzahlung, einer Summe von n 
Millionen Piaster, die Auslieferung der ägyptischen Bauern (Fei- 
lahs), die sich in Syrien unter Abdallahs Schutze niedergelassen 
hatten, und das Versprechen, das künftig keinem auswandernden 



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Histolre de Ja guerrc de Mehemed- Ali. 949 

Ägypter der Eintritt von Syrien sollte vergönnt seyn. Der Pascha 
Ton Acre Tersteckte sich dieses Mal hinter seinem Kaiser, der 
behauptete, er könne seinen Unter thanen erlauben, sich in seinem 
Reiche niederzulassen wo sie wollten, und die ägyptischen Bauern 
Seyen keine Sklaven des Pascha. 

Mehemed Ali verliefs sich auf die Langsamkeit der Türken, 
sein Herr unter Ibrahim, von einer Flotte unterstutzt, zog im 
October i83t an der Huste herab gegen Acre, während Mahmud 
seine vorher an den Nil beorderte Flotte in den Dardanellen zu- 
rückhielt Die Küstenstädte wurden noch leichter erobert als 
vordem von den Franzosen, und es war im December schon die 
ägyptische schwere Artillerie vor Acre angekommen, als der Sul- 
tan noch immer unterbandelte. Er schickte einen angesehenen 
Beamten, den Kbodjakian Kiamili-Zade-Mustapba-Nasif-Effendi 
nach Alexandrien, um Mehemed Ali anzudeuten, dafs er die Be- 
lagerung von Acre aufheben solle, und jhm zugleich die religiö- 
sen Vorstellungen des Mufti gegen einen Krieg in Syrien zu über- 
bringen , welcher die Pilgerfahrten nach Mekka noth wendig stö- 
ren müsse. Mehemed Ali hielt den Gesandten des Sultans vierzig 
Tage lang in Quarantäne, während er seinem Sohne Befehl gab, 
alles aufzubieten, Acre schnell zu erobern; hernach werde man 
den Sultan mit einer jährlichen Zahlung abfinden. 

Der Emir der Drusen (Beschir) , der auch Bonaparte einst 
seine Hülfe versprochen, aber nicht geleistet hatte, erkannte schon 
im Frühjahr, dafs sich die Schaale zu Gunsten der Ägypter neige, 
er unterstützte Ibrahim, der in Acre einen Widerstand fand, den 
er von Abdallah nicht erwartet hatte, nnd der aber hernach den 
Emir als Unterpfand der Treue der Drosen festhielt. Sultan Mah- 
mud machte indessen ganz langsam Anstalten zu Feindseligkeiten, 
forderte die benachbarten Statthalter in Syrien und Kleinasien auf; 
ein Heer in Aleppo zu vereinigen, und machte einen ehemaligen 
Sergeanten der Lastträger-Polizeigarde zum Generalissimus eines 
ansehnlichen Heeres , welches sieb in der Nähe von Constantino- 
pel sammeln sollte. 

Während nach orientalischer Weise sowohl der Sultan als 
der Beherrscher von Ägypten immerfort Freundschaft heuchelten 
und mit einander unterhandelten , hatte der Sultan Tripoli , wel- 
ches Ibrahims Truppen besetzt hatten, ihm und dem Abdallah 
entzogen und an den getreuen Osman Pascha überlassen, obgleich 
derselbe Sultan kurz vorher eingewilligt hatte , dafs der Freund 
Ibrahims, der Emir Beschir, die Städte Beirut, Saida und Sur 



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CaldaTfenc et Barrault. 



besetzen dürfe. AU die Belagerung von Acre immer eifriger be- 
trieben ward, machte es Sultan Mahmud, wie es einst der deut- 

• sehe Kaiser und das Reich zu machen pflegten: er drohte, pochte 
and achtete, ohne seinen Drohungen durch schnelle Execution 
Nachdruck zu geben. Zuerst hatte der Sultan bei der Bekannt- 
machung der jährlichen Liste der Beamten des Reich« , oder des 
sogenannten Tevdjihat , kund gemacht, dafs er mit Mehemed Ali 
zerfallen sey ; er hatte nämlich erklären lassen: dafs der Statthal- 
ter von Ägypten von Djedda und Greta so lange suspendirt sey, 
bis Mehemed Ali Pascha und Ibrahim Pascha den letzten an sie 
gesendeten Befehlen, von ihrem bezeigten Ungehorsam abzuste- 
hen, Folge geleistet hätten. Dies war ungefähr um dieselbe Zeit, 
als im März ein Theil der Mauer von Acre niedergeschossen war 
und ein Sturm unternommen ward. 

Der Sturm wurde abgeschlagen und die nur schlecht befe- 
stigte Stadt trotzte noch zwei Monate dem Angriffe der ganzen 
Macht des ägyptischen Tyrannen und seines Sohnes. Um die hart- 
näckige Vertheidigung zu begreifen , mufs man wissen , dafs die 
Stadt, welche jetzt im vierten Monat der Belagerung trotzte, in 
der neuesten Zeit schon vier Belagerungen, deren eine Ronaparte 
und Qlssarelli leiteten , abgeschlagen hatte , an drei Seiten vom 
Meere umgeben ist, und nur eine vierte dem Angriff von der 

. Landseite bietet. Das Hauptverdienst der langen Vertheidigung 
von Acre schreiben die Verf. Abdallahs unerschrockenem Hiahya 
'zu ; er konnte aber die Stadt nicht retten , weil die Türken zu 
sehr zögerten. Die grofse Reichsarmee des Sultans , die Hussein 
Pascha herbeiführte, hatte erst Konich erreicht, als schon im 
Mai Acre mit Sturm genommen ward. 

Der Sultan hatte in dem Augenblick, als Ibrahim Acre er- 
oberte, den Beherrscher von Ägypten zugleich mit weltlichen 
und mit geitlichen Waffen bedroht, er hatte ihn in die Acht er- 
klärt, hatte ein Manifest gegen ihn erlassen, hatte ein Gutachten 
der Theologen und einen auf dieses Gutachten gegründeten Bann- 
fluch gegen ihn bekannt gemacht , dem Mehemed Ali blos heu- 
chelnde Erhlärungen der Ergebenheit entgegensetzte. Bei der 
Einnahme von Acre und bei Abdallahs Gefangennehmung bleibt 
uns Vieles dunkel; die Rolle des Herrn Catafago dabei scheint 
sehr zweideutig , und die Herren Franzosen wollen wahrscheinlich 

'ihres Helden Ruhm weder durch den Rericht der Ictrigue , wel- 
che ihm den Eingang in die Festung verschaffte, noch durch 
eine würdige Darstellung der selbst in ihrem Laconismus bewun- 



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* 

Histoire de la guerre de Meheraed-Ali. 951 

derungswürdigen letzten Verteidigung der Stadt verringern. Wir 
wollen den Schlafs der Erzählung von den langen und hartnacki- 
gen letzten Gefechten auf den Trümmern und über ihren Besitz 
hier einrücken. S. 538 — 39 heifst es: 

Acre war seit der Zeit der Wiederherstellung seiner Festungs- 
werke fünfmal belagert worden , so dafs eine fortdauernde Bela- 
gerung Bestimmung der Stadt schien. Die Ägypter hatten von 
ihren Batterien auf der Landseite a5,ooo Bomben und 180,000 
Kugeln , von ihrer Flotte a3,ooo Kugeln und 3oo Congreve sche 
Raketen in die Stadt geschossen. Die Belagerung kostete näh- 
rend ihrer sechsmonatlichen Dauer den Ägyptern 4000 Mann an 
Todten und Verwundeten, unter diese Zahl rechnen wir auch die 
1439 Verwundete und 5 12 Todte , welche der letzte Sturm ge- 
hostet hatte. Unter den Todten befanden sich der Oberst Ismayl 
Bey und der vormalige Brigadier der kaiserlich franzosischen 
Mamlucken der Garde , Rochmann, der unter dem Namen Ibra- 
him Aga dem Obergeneral als Instructor beigegeben war. Dieser 
obscure Repräsentant der Erinnernng an Napoleon und an dessen 
Thaten in Ägypten fiel, als er nach der Eroberung in die Stadt 
eintrat, von Kugeln durchbohrt. Der Verlust des ägyptischen 
Heeres ward gleich nach der Besetzung der Stadt dadurch ver- 
mehrt , dafs viertausend Mann durch Fieber weggerafft wurden. 
Diese grofse Sterblichkeit wurde zum Theil dadurch veranlafst, 
dafs 7 bis 8000 Kameele, die aus Mangel an gehöriger Pflege 
gestorben waren, die Luit verpesteten, weil man sie ohne wei- 
tere Umstände blos in einen Graben geworfen hatte. Der Ver- 
lust der Belagerten an Todten war viel geringer, denn die Be- 
satzung ward, ungeachtet eine Anzahl durchgegangen war, nach 
einer sechsmonatlichen Belagerung am Tage nach der Einnahme 
nur um tausend Mann verringert gefunden. 

Ibrahim Pascha hatte noch Zeit, ehe die kaiserliche Armee 
aus Konieh aufbrach, Damascus zu besetzen und in dieser grofsen 
Stadt den Sitz des Generalgouvernements von Syrien einzurich- 
ten , ehe die Türken nahten. Was die türkische Armee angeht, 
so mufs man, wenn man lieset, wie das Heer des Sultans und . 
wie seine Oberbefehlshaber beschaffen waren, billig erstaunen, 
dafs man es nur wagen konnte , mit einer ganz nach Bonapartes 
Muster eingerichteten Regierung und Armee, wie die ägyptische 
war, den Kampf zu beginnen. Wir wollen den Anfang der Be- 
schreibung des Heeres hier mittheilen. Es heifst S. 160: 

Das zur Expedition gegen Syrien bestimmte Heer belief sich, 

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Caldavene et Harrault : 



Artillerie und Geniecorps eingerechnet, auf 60,000 Mann, unter 
denen 40,000 Mann regulärer Truppen waren; die Artillerie be- 
stand aus 160 Kanonen. Jedes Corps war von seinen Batterien 
und Munitionskarren begleitet und zugleich von einer Compagnie 
Arbeiter. Auch die Intendanz, die Hasse und die verschiedenen 
Dienstzweige waren auf europäischen Fufs eingerichtet Eine 
andere Neuerung rührte unmittelbar vom Sultan her, die Einfüh- 
rung eines Kriegsraths, wodurch der General das Recht verlor, 
willkührlich über Avancement , Decoration, Leben der unter ihm 
Dienenden zu schalten. Die Truppen selbst waren schün, zahl- 
reich, tapfer, und glaubten des Sieges über Araber immer sicher 
zu seyn, wenn diese auch von Ibrahim commandirt würden. Der 
alte Stolz der Eroberer sah in den ägyptischen Regimentern nur 
Banden von Sclaven, die bei den ersten Hieben ihrer Herren 
fliehen würden. Ferner befanden sich bei dem Heere europäische 
Ofliciere als Instroctoren , und unter diesen mehrere, deren Rath 
man vortheilhaft zur Leitung der militärischen Operationen ge- 
brauchen konnte; aber der Armee fehlte ein General.. Der Mann, 
welcher den Oberbefehl erhalten hatte, mußte allen seinen Ge- 
wohnheiten nach mit der auf europäische Weise eingerichteten 
Miliz, die er comraandiren sollte, ganz unverträglich seyn. Hus- 
sein war nichts andres als das lebendige Janitschariat an der Spitze 
des Nizam. Er achtete zwar dieses Nizam, oder die neue militä- 
rische Einrichtung, als etwas, das von seinem Herrn ausgegangen 
war; aber da er von regelmäfsigem Kriegfuhlen durchaus keinen 
Begriff hatte, so quälte er sich gar nicht damit, zu versuchen, 
wie sich die zusammengesetzte Maschine wohl konnte gebrauchen 
lassen. Darin bestand aber das Übel nicht allein , sondern Hussein 
ward trotz des ausserordentlichen Ansehens, welches ihm über- 
tragen war, durch einen höhern Einflufs niedergedrückt. Der 
Seraskier (Kriegsminister) duldete keinen Nebenbuhler, und Hus- 
sein konnte ihm unmöglich die Waage halten. Er liefs z. ß. als 
Serdari - ekrem von Natolien den Statthalter eines Districts wegen 
Ungehorsams verhaften ; der Statthalter drohte im Namen des Se- 
raski ers , und der Serdari -ekrem gab ihn wieder los. In der 
Armee war sein Ansehen ebenso beschränkt Darauf folgt dann 
die nähere Erklärung des Verhältnisses der Generale, OH i eiere, 
Soldaten der neu errichteten regulären Macht unter einander und 
zum Oberbefehlshaber; etwas Unsinnigeres läfst sich gar nicht 
denken, als diese Mischung von occidentalischer Dressur mit orien- 
talischen Sitten. Weder Hussein, der das ganze Heer comman- 



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Jl 

Histoirc de la goerre de Mcheraed-Ali. !,r>". 

dirte, noch Mehemed Pascha, der den regulären Theil der Armee 
commandirte , noch der Capitan Pascha Halil hielten je eine Ge- 
neralrevue ; die Pascha's der einzelnen Corps hielten ebensowenig 
je Heerschau , oder untersachten die Beschaffenheit der Waffen 
und Munition. Die Instructoren mochten schreien, soviel sie woll- 
ten , nichts glich der schlechten Haltung des Lagers, und die 
Mifsbräuche der Militäradministration waren zahllos. Die folgen- 
den Nachrichten der militärischen Operationen der Türken bis 
zum Treffen bei Horns, verglichen mit den Unternehmungen von 
Ibrahims Armee , beweisen , dafs auch sogar im Felde eine despo- 
tische und militärische Regierung, die jeder moralischen Grand- 
lage entbehrt, nur so lange ihren Zweck erreicht, als der ein* 
zelne Mann, der an der Spitze steht, seinen Untergebenen geistig 
und körperlich uberlegen bleibt, was bekanntlich sehr selten ein« 
tritt. Es ist höchst interessant, die Geschichte eines türkischen 
Hriegszugs ausfuhrlich mit allen Umständen zu lesen , wie er hier 
Ton S. 161 — 189 beschrieben ist. Übrigens trafen bei Horns nur 
etwa 20,000 Mann von Mahmuds Truppen, nämlich 10,000 vom 
Nizam, oder den europäisch exerzirten , und ebensoviel unregeL 
mäfsige auf Ibrahims Heer, aber sie verloren ihre Kanonen, wur- 
den gänzlich zerstreut, und Hussein mit der Hauptarmee war 
weder im Stande die Feinde aufzuhalten, noch einen schimpf- 
lichen Ruckzug zu verhindern. 

Der türkische Generalissimus giebt Aleppo ohne Widerstand 
.-auf , er räumt die berühmten Pässe von Cilicien , nachdem er bei 
Beylan eine neue Niederlage erlitten und Vorräthe , die sein Heer 
vier Monate lang hätte nähren können, und den grofsten Theil 
seiner Artillerie verloren hat. Dei Sultan geräth in Wuth , er 
setzt Hussein ab , der sich gleichwohl in seiner Gunst behauptet 
und als Pascha von Widdin stirbt; er ernennt seinen Grofsvezier, 
den er aus Albanien zurückruft, an Husseins Steile, während 
Ibrahim ganz Syrien , bald auch Cilicien und die Pässe des Tau- 
rus besetzt. Die Verf. versichern, Mehemed Ali habe durchaus 
keinen Wunsch gehabt , den Krieg fortzusetzen , wenn ihm der 
Sultan Syrien formlich überlassen; es sey ihm ganz Ernst damit 
gewesen, dafs er in allen eroberten Städten für Mahmud als für 
seinen Oberherrn beten lassen, während er die Macht des türki- 
tchen Reichs vollends zu Grunde gerichtet habe. Welche Mittel . 
Mehemed Ali unmittelbar nach seinen Siegen gebrauchen mufste, 
um seine Armee zu recrotiren, haben uns die Verf. nicht ver- 
hehlt. Es heifst S. 232: 



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054 Caldavfcnc et Barrauh : 

Das Land Ägypten konnte nur mit Muhe die Leute ersetzen, 
die der Krieg wegraffte. Um sich leichter Rekruten zu verschaf- 
fen , hatte man am Endo Juli eine sonderbare Auskunft gefunden. 
Einem Firraan zufolge mufste jeder im Civil oder Militär Ange- 
stellte , Christ oder Mohammedaner , in Verhältnis seines Grades 
und seines Einkommens , ein Contingent stellen. Ein General sie- 
ben Mann, ein Oberst fünf, u. s. w. ; ein koptischer Malern mit 
400 Piaster monatlicher Besoldung stellte einen Mann. Die Aus- 
führung dieses Firmsns führte sehr bedenkliche Mißbrauche her- 
bei, und man sab, wie in verschiedenen Quartieren Cairo's Wacht- 
häuser errichtet wurden, welche miteinander eine formliche Re- 
brutenpresse gegen alle junge Leute von starker Köperconstüution 
betrieben, gegen Bediente, Sa Ys u. s. w. Diese MaasregeJ wurde 
indessen eingestellt und die Regierung nahm wieder ihre Zuflucht 
zu der vorher angewendeten Weise, um sich die 5a,ooo Mann 
zu verschaffen, deren Aushebung verordnet war. Ober- und 
Unterägypten mufsten jedes 16,000 und Cairo 90,000 Mann stel- 
len. Allein es fehlte sehr viel daran , dafs die Einwohner des 
Landes im Stande gewesen wären, diese Anzahl wirklich zu stel- 
len ! Ganz neulich halte die Revisionscommission von 6000 Ara- 
bern nur 253 stark und gesund gefunden , die übrigen wurden 
als dienstunfähig verworfen. Dieser Krieg bewirkte also, dafs 
man noch einmal wieder alle kräftige Arme auswählte und weg- 
nahm und für die Bearbeitung des Landes nur den Auswurf übrig 
liefs. Also einmal sind wenigstens diese Franzosen offenherzig 
über die Folgen ihres Bonaparte'schen Systems ! Die Verf. geben 
übrigens an allen Stellen nicht undeutlich zu verstehen, dafs Ibra- 
hims und Mehemed Alis Organisationen und Hriegszüge, soweit 
von europäischer Taktik und Strategie die Rede ist, ganz allein 
von Franzosen geleitet und von. Frankreich aus unterstützt wurden. 

Nachdem die Verf. beschrieben haben , auf welche Weise die 
ägyptische Armee mitten im Winter Anstalt machte, die türkische 
Hauptarmee unter dem Grofsvezier in Kleinasien aufzusuchen, 
nachdem sie ihren Aufbruch aus Cilicien nach Konieh gemeldet, 
so setzen sie hinzu: Aucun reve de bouleversement de fempire, 
daggression contre la Capitale, d Usurpation du tröne, ne deter- 
mina ce nouveau pas; cetoit seulement d'obtenir les concessions 
, sollicitöes au pied du mont Carmel et de s assurer la conservation 
de leurs conquetes nue le Vice-roi et son fils se disposaient a 
franchir le Taurus. 

Wir wollen nicht untersuchen , in wie fern dieses gegründet 



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Hlitoire de la gnerre de Mchemcd-Ali 956 

ist, da auch die ungemein ausführliche Geschichte des letzten 
Feldzugs und der diplomatischen Verhandlungen , welche dadurch 
veranlafst wurden, die in diesem Buche gegeben wird, uns über 
den wahren Zusammenhang im Dunkel läfst. Soviel ist gewifs, 
weil die Franzosen es selbst eingestehen , dafs sie eine doppelte 
Bolle spielten, da sie auf der einen Seite Mehemed Ali aufs kräf- 
tigste und auf jede Weise unterstützten , und auf der andern sich 
als Vermittler für die Türken der Unterhandlungen zu bemäch- 
tigen suchten. Die Hussen , welche wie die Franzosen zwei ver- 
schiedene Abgeordnete, einen militärischen und einen diploroati* 
sehen, in Constantinopel hatten, retteten doch wohl in der That 
das türkische Beich, dafs es nicht noch mehr verlor; denn sie 
waren wenigstens entschieden auf einer Seite. Die zweite Hälfte 
des Buchs ist übrigens unstreitig die wichtigste, weil darin der. 
türkische Hof und alle Personen, die an demselben eine Holle 
gespielt haben, die fremden Minister und das Spiel französischer 
und russischer Kabalen ausführlich geschildert wird. Ganz ohne. 
Parteilichkeit scheinen die Verf. dabei freilich nicht zu seyn; im 
Ganzen geben sie uns aber ein recht gutes Bild von eioer despo- 
tischen Verwaltung und von den Personen, welche bei einer sol- 
chen gebraucht werden. 

Die Schilderung des Sultans, seiner Lieblinge und Günstlinge 
und seiner Zurüstungen zu einem dritten Feldzuge zeigen recht 
deutlich, dafs Mahmuds Beformen den Türken das. Vertrauen auf 
rohe Kraft nahmen, ohne ihnen die europäische Gewandtheit zu 
geben ; dafs sie die Fehler und Laster des Volks vermehrten , ohne 
neue Tugenden zu wecken ! Unter den Hauptpersonen erscheint - 
Mahmud als ein armseliger Mensch; der Groftvezier wird ganz 
unmäfsig und übertrieben gelobt, obgleich er sich hernach mit 
5o,ooo Mann von Ibrahim mit i5,ooo Mann bei Honieb schlagen 
und auf eine ganz lächerliche Weise gefangen nehmen läfst. Bef. 
weifs nicht, was die Verf. bewogen bat, diesen 'Mann so ganz 
unbedingt zu loben, und dagegen alle Schuld des unglücklichen 
Ausgangs des Kriegs auf den Seraskier (Kriegsminister) zu schie- 
ben. Dieser Seraskier Khosrew ist körperlich, geistig, moralisch 
hier ebenso als Karrikatur und Ungeheuer geschildert, als der 
Vezier unter der Feder der Verf. zum Ideal geworden ist. 

Nachdem die Verf. ausführlich von den Zurüstungen zum 
Feldzage des Jahrs 1 833 gehandelt und berichtet haben, auf wel- . 
che Weise der Seraskier, um den Vezier zu stürzen, Alles auf- 
geboten habe , um den Ägyptern den Sieg zu verschaffen , schlie- 



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fsen sie S. 379^973 mit folgenden Worten: Darum sah man 
denn einen Greis Ton achtzig Jahren daran arbeiten , eine Unter- 
nehmung, welche tein Sultan veranstaltet hatte, zu vereiteln, da- 
mit er sich wegen Kränkung seines Stolzes rächen und im Besitz 
einer auf schändliche Weise erworbenen Macht und eines durch 
Raub erworbenen Reichthums sterben konnte. 

Hernach wird angedeutet , dafs Murawieff, der damals mit 
Hulfserbietungen aus Rufsland nach Constantinopel geschickt wur- 
de, den Seraskier unterstutzte, um zu hindern, dafs dem Grofs- 
vezier, als er auf ausdrucklichen Befehl des Sultans die Schlacht 
bei Ho nie h liefern mufste, die Reserve nicht anvertraut wurde, 
welches eine Ursache der Niederlage war. Ibrahim hatte die Be- 
endigung der türkischen Anstalten nicht erwartet, er war aus 
Cilicien aufgebrochen, er hatte Konieh besetzt; der Grofsvezier, 
als er, durch den Befehl des Sultans zum Angriff gezwungen, 
die Schlacht lieferte, traf daher bei einer Kalte von 11 Graden 
auf einen Feind , der sich das Schlachtfeld selbst ausgesucht hatte. 
Nach S. 295 zählte die türkische Armee 53,ooo Mann und 93 
Kanonen ron verschiedenem Ca Über , die ägyptische nur tfyooo 
und 36 Sechspfunder ; nichts desto weniger wurden die Türken 
völlig geschlagen und zerstreut, der Grofsvezier und die vor- 
nehmsten Pascha s gefangen ! 

' Das fünfte Capitel oder S. 319 — 410 ist ganz den diploma- 
tischen Unterhandlungen und der Untersuchung der politischen 
Verhältnisse gewidmet, wobei wir denn freilich gewünscht hät- 
ten, dafs weniger hypothetische und theoretische und doctrinäre 
Auseinandersetzung und Abhandlungen -als der einfache Gang der 
Thatsachen gegeben wäre. Die Bedingungen des Friedens waren 
bekanntlich hart genug für den Sultan , der ausser dem eigent- 
lichen Syrien auch noch Adana abtreten mufste. Wie ist aber 
dieses arme Syrien gesunken! Die Verf. geben die ganze ange- 
siedelte Bevölkerung des Landes nur auf 1,1 56, 000 Seelen an, 
und zwar am Libanon 310,000, unter denen i5o,ooo Maroniten, 
5 0,000 Drusen, 10,000 Griechen sind, Antiochia 6000, Acre 
i5o,ooo, Tri pol i 170,000, Damasc 3oo,ooo, Aleppo 200,000, Aitab 
und Killis 120,000. 

Die Verf., obgleich sie ihren Mehemed Ali zum Himmel er- 
heben und , über seine Grausamkeiten die Achsel zuckend , Gott 
weifs welche grofse Vortheile von seinen Bedruckungen , Mord- 
thaten und Gräueln für die künftigen Geschlechter erwarten , wa- 
gen dennoch nicht, zu leugnen, dafs Syrien durch den Tausch 



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Ht«toire de In gucrre de Mehenicd AU. 95? 

eher verloren als gewonnen bat. Nachdem uns nämlich die Verf. 
sehr viel Gates und Schönes von Mehemed Ali and seiner Regie- 
rang erzählt haben, fahren sie doch S. 418 folgendermaßen fort: 

In der That hat die Vereinigung Syriens mit Ägypten and 
die Herrschaft Mehemed Alis bis auf den beatigen Tag die Syrer 
nicht befriedigt. Ibrahim war genöthigt, in diesem Lande einen 
förmlichen Feldzug gegen die Versuche der Empörer zu unter* 
nehmen, als grofse Fehler der Regierung, Maasregeln der not- 
wendigen Strenge, die sie üben mufste, und die unruhigen 
Gemuther der Einwohner Aufstände veranlagten. Syrien hatte 
vergeblich geträumt, dafs der Beherrscher von Ägypten alle die 
Wünsche befriedigen werde, welche das Ladd unter der Herr- 
schaft der Pforte gethan habe. Dann folgt eine jener abgedro- 
schenen und sophistischen Entschuldigungen des neuen Despoten, 
woran unsere Nachbaren so reich sind als wir ; weiter unten fah- 
ren die Herren fort: 

Unter diesen ungünstigen Umständen erschwerte sich Mehe- 
med Ali seine Lage noch dadurch, dafs er sich nicht scheute, 
mit der Brutalität des Siegers das in Ägypten geltende Contribo- 
tionssystem und die Aushebung der Beitraten auf ein Land an zu. 
wenden, dessen Bevölkerung und Boden vom ägyptischen so ganz 
and durchaus verschieden war. Dadurch wurde dann anvorsich- 
tiger Weise die letzte Täuschung der Syrer zerstört und ihr Uo- 
abbängigkeitssinn , der die Eroberung erleichtert hatte , gegen die 
Einsetzung der neuen Gewalt aufgeregt. Dann folgen einige Be- 
merkungen über die Verhältnisse von Syrien, und endlich heifst 
es ferner: 

In den Gebirgen von Napleuse zeigte sich zuerst der Auf- 
stand, und Ibrahim ward von 40,000 Empörern in Jerusalem be- 
lagert. Dieser ganze Theil der Provinz war in offenem Aufstande 
and der Aufstand ward durch religiösen Fanatismus doppelt be- 
denklich, denn in Safad mordeten die Mahommedaner die Juden« 
Bei dieser Gelegenheit leistete der Emir Beschir den Ägyptern 
neue Dienste. Er stellte die Ruhe in Safad wieder her und half 
zu Ibrahims Befreiung. Doch war nicht Alles beendigt, Mehemed 
AH eilte selbst seinem Sohne zu Hülfe; er erschien an den syri- 
schen Küsten. Ibrahim suchte von Jerusalem aus zu seinen Vater 
zu gelangen, konnte dies aber nicht, ohne in neue Gefahren zu 
gerathen. Als er endlich an der Spitze von 3ooo Mann, die ganz 
abgemattet and heftig bedrängt waren, durch eine Bergschlucht 
über dem Dorfe Set. Jeremias zog , erblickte er auf der Höhe 



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958 CaldaWnc et Barraul t : HUtoire de la gnerre de Mchemed-Alt. 

«— 

17000 Mann unter der Anfuhrung des Sohnes des Abu -Gösch. 
Dieser Abu Gösch war Scheikh des Dorfes and hatte seit meh- 
reren Jahren ein Handwerk daraus gemacht, diejenigen, welche 
zur heiligen Stadt pilgerten , auszuplündern ; er war der Schre- 
cken von Palastina. Ibrahim hatte ihn endlich verhaften lassen 
und mehrere Glieder seiner Familie waren ebenfalls in Acre im 
Kerker, der Sohn war aber frei geblieben und schreckte jetzt 
Ibrahim durch die Zahl seiner Begleiter, während er doch zu- 
gleich eine Deputation an ihn schiebte, um die Befreiung seines 

Vaters zur Bedingung der Aussöhnung zu machen. Ibrahim 

willigte ein und übte dann in Verbindung mit dem Anhang des 
Abu Gösch grausame Gewalt, und verödete mit Feuer und Schwert 
das schon verödete Syrien vollends. Ruhe ward freilich endlich 
gestiftet , nachdem auch die Drusen sogar entwaffnet und der ge- 
treueste Freund des ägyptischen Despoten, dessen Hülfe ihm ge- 
gegen' die Türken und gegen die Rebellen so ungemein nutzlich 
gewesen war, der Emir Beschir, durch eine Lähmung seiner 
Macht und seines Stamms orientalisch belohnt worden. 

Die Verfasser schliefsen hernach ihren Bericht ron des Ägyp- 
ters gepriesener Polizei und Organisarion mit denselben naiven 
Worten, mit denen wir immer die ekelhaft wiederholten Lob- 
preisungen der genialen Bonaparte'schen Verwaltung schliefsen 
mochten: Mit einem Worte, wenn man seine Augen vort 
den schmerzlichen Umständen der Ausfuhrung abwen- 
den konnte, so mofste man sich freuen, über die glücklichen 
Folgen, welche das kühne Unternehmen, die lange Anarchie Sy- 
riens in Gehorsam und Ruhe zu verwandeln, in der Zukunft ha- 
ben wird. 

Jedermann wird ohne unsere Erinnerung sehen, wie höchst 
problematisch diese für die Folge verbeifsenen Vortheile sind und 
wie zuverlässig und gewifs dagegen der erlittene Schaden, die 
ausgeübten Graoel und die Demoralisiruog durch Tyrannei und 
Verachtung des Rechts ist. 

Schlosser. 

« 4 

* *. 



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t 



f. Hammer: Gemfildctaal motlimUcher Herrscher. 959 

• 

Gemäldesaal der Lebensbeschreibungen grofser moslimischer Herrscher der 
ersten neben Jahrhunderte der Hidschret , von Hammer- Pur/r stall. 
Erster Band. 1. Mokmme^ 2. Ebubckr , 3. Omar, 4. Oman, 5. ^(j. 
Leip*ig und Darmstadt. Leske. 1837. 349 & 8. 

Ref. hält es für eine Pflicht der Dankbarkeit gegen den Vf. 
des angezeigten Werks , die Erscheinung desselben anzuzeigen , 
obgleich er nicht wagen darf, es zu beurtheilen. Herr r. Ham- 
mer hat auch in diesem Buche, wie in vielen andern, die An- 
schauung der Eigentümlichkeit orientalischer Geschichte and Li- 
teratur durch Darstellungen nach den Quellen erleichtert; dies 
ist sein grofses Verdienst ; de Sacy geht bekanntlich einen andern 
Weg. Wir freuen uns sehr, dafs Herr v. Hammer jetzt gerade 
der dunkeln, früheren Geschichte der Moslim seine Aufmerksam- 
keit gewidmet und dabei zugleich auf das gr5fsere Publikum 
Rucksicht genommen hat. Ref. ist so fest überzeugt, dafs die 
orientalische Geschichte nur von Orientalisten und für Orientali- 
sten mit Nutzen behandelt werden kann, dafs er sich nie mehr, 
wie er sonst wohl gethan hat , in einer allgemeinen Geschichte 
auf das Spezielle der Geschichte des Orients einlassen wurde. 
Kritik, Prosa des Lebens, Weisheit, die dem Occidentalen dienen 
kann, wird man uberall vergeblich suchen, dies wird auch durch 
die neue Arbeit des Herrn v. Hammer bestätigt, so sehr sich 
dieser mit ruhmlicher Mäfsigung bemuht hat, dieses Mal sowohl 
die Fülle seiner Gelehrsamkeit nicht im Überraaas vor uns aus- 
zubreiten, als seinen dichterischen Flug zu hemmen und unserm 
occidentalischen Sinn nicht zu viel zuzumutben. 

Herr v. Hammer würde mit Recht darüber lachen, wenn 
ihn ein Dilettant, wie Ref. ist, loben oder tadeln wollte, er will 
ihn daher nur durch einen Theil des Buchs begleiten, und was 
ihm gerade einfallt, lobend oder tadelnd mittheilen, damit zu- 
gleich die Leser der Jahrbucher lernen, was sie in dem Buche 
suchen dürfen und was sie nicht darin finden. 

Der Verf. scheint nach S. XIV — XV die Absicht zu haben % 
in diesem Werke eine chronologisch fortlaufende Übersicht der 
wichtigsten Epochen nnd gewichtigsten Revolutionen der vorder- 
asiatischen Staatsgeschichte in den ersten sieben Jahrhunderten 
der Hidschret zu geben. Dies kann nicht anders als ungemein 
vorteilhaft für die allgemeine Geschichte seyn , wenn unsere 
Compendienschreiber und Buchermacher die Arbeiten des grofsen 
Orientalisten verstandig und kritisch gebrauchen, wenn sie aber 
das Gegentheil thun , dann wird dadurch unser historisches Trei- 




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Mfil) Hammer: Gemäldecaal muslimischer Herrscher. 



ben noch wüster, nach thei liger , verwirrender, als es schon jetzt 
ist. Wir betrachten den Herrn v. Hammer sowohl hier als in 
seiner türkischen Geschichte im eigentlichen Sinn als Orientali- 
sten, der unmittelbar ans den Quellen schöpft and wortlich ge- 
nau in Quellen wiedergebt , also Alles im orientalischen Lichte 
sieht; man mufs daher immer occidentalische Kritik hinzusetzen 
und nur dasjenige glauben und nachsprechen, was mit einer ge- 
sunden Ansicht menschlicher Dinge, mit der Vorstellung von Ge- 
schichte, die den Occidentalen immer leiten mufs und mit der 
Gewißheit , dafs jeder orientalische Schriftsteller von seiner Fan- 
tasie oder ron seinem Eigennutz oder seiner Leidenschaft geleitet 
wird , nicht in Widerspruch steht. 

Die ersten 28 Seiten geben eine ganz vortreffliche gedrängte 
Schilderung Arabiens zu Mohammeds Zeit, der Geschichte des 
Landes und der früheren Poesie. Erst S. 3o beginnen die Le- 
genden von Mohammed, welche das grßfsere Publikum, dem das 
Buch bestimmt ist, mit mehr Vergnügen lesen wird, als Ref., 
der daher auch dem Geschichtschreiber des Propheten nicht fol- 
gen ksnn, wenn er wörtlich wieder erzählt, was er in seinen 
arabischen Quellen gefunden hat. Eine anziehende prosaische No- 
tiz ist Ref. unter aller der Poesie der Mäbrohen und Legenden 
der früheren Geschichte des Propheten aufgefallen. Herr von 
Hammer sagt nämlich S. 39: Viele behaupteten, Mohammed habe 
weder schreiben noch lesen gekonnt , es erhelle aber aus den be- 
sten Quellen der Propbetengeschichte das Gegentheil. Den poe- 
tischen Werth des Korans schlägt Herr v. Hammer S. 44 unge- 
mein hoch an, uns wurde wahrscheinlich doch an diesem zaube- 
rischen Rhythmus reichgereimter Prosa gerade der Reim 
mifsfallen , da wir unserer occidentalisch germanischen Natur und 
Bildung nach die Griechen und Romer vorziehen. Herr v. Ham- 
mer sagt davon in seiner orientalischen Manier : » sie schlagen 
bald in kurzen Absätzen, wie Fluthengeplätscher , bald in 
länger hinausgeschobenen Endfällen, wie langsam wiederkeh- 
rende Wogenbrandung ans Ohr.« Bei dieser Gelegenheit 
giebt er uns aber zugleich die Nachricht, dafs die Araber vor 
Mohammed nur erotische , panegyrische , elegische und philoso- 
phische Gedichte in bestimmten Sjlbenmaafsen gekannt hätten. 

(Der Beachlufs folgt.) 




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N°. 61. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



v. Hammer: Gemäldesaal moslimischer Herrscher. 

(Bcschlufs.) 

Dann folgt viel aus dem Koran und über den Koran und die 
ganze Legendengeschichte des Propheten. Warum mufs aber ein 
so fein gebildeter Mann, als Herr v. Hammer, der so viele Ver- 
dienste hat, oft so bitter gegen andere Gelehrte seyn , die Gott 
nicht mit so viel Fantasie begabt hat, als ihn, die aber das Un- 
glück haben, mit dem in Wien und Berlin und München bei 
Gelehrten verpönten, gesunden Menschenverstände und der von 
diesem eingegebenen Kritik behaftet zu seyn ? Wir nehmen es 
ihm gar nicht übel, wenn er in der S. 81—86 nach dem Koran 
beschriebenen Himmelfahrt Mohammeds, die unter dem Geleit des 
Engels Gabriel auf dem Borrak (mit Menschengesicht, Elephan- 
tenohren, Kameelhals, Pferdeleib, Schweif eines Maulesels, Hu- 
fen eines Stiers) vor sich geht, Gott weifs welche Mystik findet; 
aber warum schimpft er die, welche das nicht finden können, 
ebenso hart, als der arabische Lügenprophet je gethan hat? Herr 
v. Hammer sagt nä'mlich S. 86 — 87: »So läppisch dieser Traum 
schongeistcrischen Kritikern, so nichtig derselbe chro- 
nologischen Datensammlern erscheinen mag, so merkwür- 
- djg und wichtig ist derselbe nicht nur für Mohammeds Lebens- 
geschichte, sondern auch als Grundlage der ganzen Mystik (viel- 
leicht Mystifikation ?) des Islams. Dafs der Borrak der Pegasus 
des muslimischen Dichters sey (S. 89), ist ein unglücklicher Ge- 
danke, so wie der Ausdruck, dafs die zwölf Bewohner Medina's, 
die nach Akaba kamen, einen Tugend bund gebildet hatten. 
Ref. verdankt auch diesem Buche des Herrn v. Hammer, wie 
dessen Türkischer Geschichte, zu viele Belehrung über Dinge, 
die er auf einem andern Wege nie würde gelernt haben, um 
diese Andeutungen weiter auszuführen. Von S. 98 an erzählt 
Herr v. Hammer die politischen und kriegerischen Unternehmun- 
gen auf eine sehr verständige Weise. Die Geschichte gewinnt 
unstreitig durch diese Behandlung eine ganz andere Gestalt, auch 
hat er, soviel möglich, alle störende Einzelheiten entfernt. S. 
in — n3 und an andern Stellen berichtet Herr v. Hammer auf- 
XXX. Jahrg. 10. tieft. , 61 



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962 t. Hammer : Gemäldetaal moilimischer Herrscher. 



richtig Handlungen seines Helden, die den orientalischen Schrift- 
stellern gewifs weniger aufgefallen sind , als sie einem Manne , 
wie Herr v. Hammer ist, noth wendig auffallen mufsten , sonst 
hätten sie gewifs Sorge getragen, sie zu unterdrücken. Von S. 
n3 an folgen, nachdem am angeführten Orte yom Treffen von 
Bedr die Rede gewesen war, die yerschiedenen Waden t baten , 
wo Herr v. Hammer die wahre Beschaffenheit der bekannten 
Geschichten des Kampfs um Medina sehr richtig darstellt. Den 
Schlufs der Geschichte des Propheten , welche in diesem Bande 
von 349 Seiten ?.3t einnimmt, macht eine ganz ausfuhrliche Schil- 
derung Mohammeds, seiner Gewohnheiten, Kleidung, Sitten, Le- 
bensweise, und es sind eine grofse Anzahl Anekdoten von ihm 
und über ihn aus orientalischen Schriftstellern gesammelt. 

Die Geschichte Ebubekrt (so schreibt Herr v. Hemmer) ist 
ebenfalls ganz neu aus den Quellen gezogen und in orientalischer 
Manier gehalten. Die Reden und gelegentlich die Verse werden 
angeführt und die Legendenmanier der arabischen Schriftsteller 
- beibehalten. Dadurch gewinnt das Dichterische und Romanhafte 
allerdings, der politische Geschichtschreiber, der gern Alles auf 
seine Zeiten und ihren Zustand bezieht, wurde oft wünschen, 
dafs er die Dinge auch von einer andern Seite betrachten und 
beurtheilen lernte ; aber der Verf. wollte uns mit der Manier der 
arabischen Schriftsteller , mit ihrer Art Philosophie und ihrer Le- 
bensansicht bekannt machen, das wird freilich auf diese Weise 
am besten erreicht. 

Dieser Artikel Ebubekr enthält einen langem Abschnitt über 
den berühmten Helden des Islam, über Chalid und über seine 
Unternehmungen. Auch hier erhalten wir nur die Nachrichten 
der orientalischen Quellen, sonst liefse sich wohl Einiges dagegen 
erinnern, dafs die Byzantiner den 36,ooo Arabern bei Edschenadin 
72,000 Mann sollen entgegengestellt haben. Audiatur et altera pars. 
Überhaupt scheint ei uns , als hatte H. t. Hammer diesen Artikel 
doch etwas gar flüchtig -gesammelt. Nicht als wären wir ihm nicht 
dankbar für das, was er übersetzt hat, er hätte aber doch auch 
Stellen wählen Können, die nicht blos, wie die gewählten, dem 
grofsen Publikum, sondern auch dem Kenner nützlich gewesen 
wären. Übrigens ist der Artikel kurz, er füllt S. 238 — 258. 

Der Artikel Omar (der Verf. legt Bedeutung darauf, dafs 
dies einerlei Name mit Homer sey , uns scheint dergleichen eine 
leere Spielerei) enthält zuerst eine ganze Anzahl Anekdoten, die 
unterhaltend sind und zur Kenntnifs arabischer Sitten dienen; in 



1 

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C. F. Wurm : de Jure legibus lolrendi. 963 

der Geschichte legen wir keine Bedeutung darauf. Von S. 267 
an kommt endlich Herr v. Hammer von arabischen Mäbrchen zur 
Geschichte, nüthigt uns aber ein Lächeln ab, wenn er nutzlich 
findet, den guten Reiske in einer Note ausdrücklich darüber zu 
tadeln, dafs er ein Wort, das o Menseben heifst, lateinisch Viri 
Medinenses übersetzt habe. Wer das Arabische vor sich hat, 
sieht gleich, dafs Reisitc mar elegant Latein schreiben wollte, und 
wer es nicht vor sieb bat, dem ist es ganz einerlei, da gar nichts 
darauf ankommt. Wir würden- übrigens, noch heute lieber dem 
Abulfeda als dem. Radhatob-ahbab oder dem Ihn Keser folgen, 
und wissen nicht recht, aus welchen europäischen Geschichten 
Herr v. Hammer S. 268 Note die bisherige Geschichte Omars 
und Ebubekrs will ausgemerzt haben. Es kann ihm unmöglich 
Ernst seyn , dafs wir dem , was man aus Abulfeda genommen hat, 
die Geschichten, die er hier mittbeilt, so interessant sie in ande- 
rer Beziehung sind , substituiren solle. Dies ist kein Tadel ; Ref. 
setzt nur sein occidentalisches Bedenken der orientalischen Ge- 
wißheit entgegen. Anekdoten sind keine Geschichte , diese er- 
fordert Zusammenhang und dörren Verstand. 

Ref. hofft, dafs Herr v. Hammer, wenn ihm diese Blätter 
zufällig zu Gesicht kommen , daraus erkennen wird , dafs auch 
Dilettanten (mehr ist Ref. nicht) der orientalischen Geschichte 
alles, was von einem Manne kommt, der neben de Sacy am mehr- 
sten für den Orient geleistet hat, begierig lesen. Ref. hat, im 
Begriff abzureisen, diesen Gemäldesaal noch vorher durchgelesen, 
upd ward nur zufallig gehindert, dem Herrn v. Hammer auch 
noch durch Olhman's und Ali's Leben zu folgen. 

Schlosser. 



Indes teholarum in Gymntuio Hamburgenai Aeademico a Paschate 
1837-1838 habendarum editua o C. F. Wurm. Hiatoriar. P. P. Äoc 
anno Gymnasii Rtctore. Proluditur de Jure legibua aolvendi 
aeu diapenaandi. Hamb. fr. Meifaner. 1851. 89 & in 4. 

Schon durch die glücklich gewählte und trefflich durchge- 
führte Einkleidung verdient diese kleine gehaltvolle Schrift Aus- 
zeichnung. Der Verf. erzählt, über die Auswahl eines in der 
Kürze interessirenden Stoffs zu dem Programm, welches ihm als 
Director für den Jahrescurs seines zur Universität vorbereitenden 
Instituts obliegt, in einiger Verlegenheit gewesen zu seyn. Ein 



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UÖ4 C. F. Warm: d« Jure legibus •olvendf. 



Paar hoffnungsreicher brit tischer Jünglinge, auf deren Bildung 
er selbst noch vor ungefähr 10 Jahren zu Ipsom als Lehrer und 
Erzieher gewirkt hatte, besucht ihn in seiner mit England tag- 
täglich verkehrenden freien Bundesstadr. Beide sind indefs, nach 
ihres selbstständigen- Vaterlands Art, zum Studium der Politik 
herangereift, welches aber dort nicht durch oberflächliche Theo- 
rien und willkührliche Speculationen , sondern durch Vergleich ung 
des classischen Alterthums und der mittelalterlichen Gesetzgebun- 
gen mit dem Entwicklungsgänge des brittischen Staates selbst 
und mit dem, was darin durch das Gegebene möglich und ver- 
besserlich erscheint, betrieben zu werden pflegt. Daraus ent- 
stehen zwischen den jungen Freunden und Ihm einige quaesliones 
tusculanae. Und unvermerkt, indem die Gespräche darüber ge- 
drängt und doch angenehm in fliefsendem Latein angegeben wer- 
den , ist das Programm selbst, in dieser ästhetisch gefälligen 
Form, fertig. 

Die brittischen. Junglinge sind zum Theil bedenklich darüber, 
ob nicht in den Reformen neuester Zeit auch in ihrem Vaterlande 
durch Auflosen alter Gesetze, durch das königliche und parlamen- 
tarische vsolvere legibus« zuviel gewagt werde. Der vorsichtige 
Lehrer lenkt ihre Aufmerksamkeit vonr dem Speciellen der un- 
entschiedenen , den Partheikämpfen ausgesetzten Gegenwart auf 
die allg«meinere Frage: Woher das unter Jakob II. zum 
Vortheil der Katholiken so weit getriebene Becht, von den 
Gesetzen zu dispensiren, entstanden und vermehrt worden , 
sey? Dadurch entsteht zwischen den Dreien ein Gespräch, wel- 
ches so, wie es der Vf. zu leiten und mit acht Ciceronianischer 
Gewandtheit wiederzugeben versteht, weit klarer und anziehen- 
der ist, als es in der gewöhnlichen Foim von Abhandlung hätte 
erscheinen können. 

Innocenz III. behauptete nach c. 4. X. de concess. praebend. 
3, 8. von den Päbsten : secundum plenitudinem potestatis de Jure 
possumus supra jus dispensare. Sie gebrauchen daher die Formel: 
non obstanle priori mandato. Eben diese Formel kommt unter Kg. 
Heinrich III. vor. Und Matth. Paris ad a. i25o bemerkt deswe- 
gen : jam civilis curia exemplo ecclesiasticae coinciuinatur et a sul~ 
phureo fönte vivulus intoxicalur. Dennoch haben die Becbtslebrer 
das königliche Dispensationsrecht um so weniger aus dem päbst- 
lich Kirchlichen herübergeleitet, da von den Päbsten Urban und 
Zosimus kanonische Erklärungen erhalten sind, dafs der Pontifex 
10m. gegen das, was saneti Patres sententialiter definierunt , kein 



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C. F. Wurm: de Jure legibus »olvendi. 



965 



neues Gesetz geben durfte. Allerdings aber scheint doch hier- 
durch, wie auch S. 7 bemerkt wird, die Schuld des anrnafslichen 
»non obstante« von dem kanonischen Rechte nur zum Theil 
entfernt zu werden. Wovor man sich nach den früheren Aus- 
spruchen noch scheuete, davon dispensirte sich die immer ihrer 
selbst mehr bewufst werdende Irrefragabilität des heil. Stuhls. 
Dafs er dann als Muster nachgeahmt wurde, scheint durch den 
Gebrauch der gleichen Formel non obstante erwiesen, wenngleich 
aliqua pars culpae (S. 7) vom pabstlich kanonischen Recht ent- 
fernt werden kann. 

Demerkt wird daher, dafs der brittische König selbst nur 
durch das Gesetz Je git im sey. [Offenbar der ächte BegrifF von 
Legitimität!] Deswegen um so mehr S. 8 die Frage: ob denn 
etwa das romische Jus Civile darin ein servile sey, dafs es den 
Regenten ein solutum esse legibus zuschrieb und dadurch ihnen 
auch ein Recht, andere legibus solvendi zu geben scheine. Ge- 
zeigt wird nun wohl aus einem Fragment Ulpians (1. 1. D. de 
Constit. Principum. 1. /j.) , dafs dieser Gesetzlehrer allerdings selbst 
die Lex Regia, quae de imperio Principis lata est, als nur vom 
populus ausgegangen erkannte, und das rechtliche Verhältnifs zwi- 
schen Volk und Regent darauf stellte, dafs der populus ei ( = 
Principi) et in eum omne [??] suum imperium et potestatem con- 
ferat. In diesem omne liegt die Übertreibung. Nur, weil man 
ein solches Abtreten ohne bedeutenden Vorbehalt voraus- 
setzte , zeigt selbst die aus Paulus nach L. 23. D. de legatis HI. 
1. 32. angeführte liberalste Stelle, wie unbedingt man (in der Zeit 
nicht mehr republikanischer Gesinnungen) das » legibus solutum 
esse prineipem « verstand. Nur als Decenz und Klugheit be- 
trachtet P. das Liberalere. Er sagt nur : decet enim lantac ma- 
jeslati, eas servare leges, quibus ipse solutus esse vidclur. Und 
selbst das gepriesene Wort von Alexander Severus (L. 3. C. de 
testamentis. o. 23.) setzt das solutum esse legibus streng voraus. 
Licet enim lex Jmperii solemnibus juris Imperatorem solveriut; 
nihil tarnen (am proprium [!] Imperii est, quam — legibus vivere. 
Auch klingt die berühmte Constitutio Theodosii et Valentiniani 
(C. 4. C. de legibus. 1. 14.) doch nur wie ein persönliches Ver- 
zichtthum auf jenes dennoch allgemeine Entbundenseyn von dem, 
was schon Gesetz war. Sie sagen : Digna vox est majestate reg- 
nantis , legibus alligatum se prineipem proJUeri, Adeo de auetori- 
täte juris nostra pendet auetoritas. Et revera majus Imperio est, 



966 8ümcr: über d. Leben u. die Schriften von Coray 

* 

submittere legibus principatum. Et oraculo (!) praeientis edicti, 
quod nobis licere non palimwr, indicamus. 

Noch stund demnach dieses Haiserpaar auf dem unklaren 
Standpunkt , dafs sie nur nicht benutzen wollten , was sie doch 
als etwas, das ihnen erlaubt wäre (= liceret) betrachteten. 
(Dahin wäre dann wobt auch zu rechnen , dafs Plinius (Panegyr. 
c. 65) Ton Trajan mit Erstaunen rühmte: in rostris . . ipse 
Te legibus subjecisli; legibus, Caesar, quas nemo principi scripsit. 
Dieses Erstaunen scheint in uns insofern nicht anstofsig, als da- 
mals der Unterschied, von welchen Gesetzen der Monarch dis- 
pensiren dürfe oder nicht dürfe, nicht verdeutlicht war.) Desto 
besser aufgeklart wird nun hier : dafs und warum die Dispensa- 
tion nicht auf das durch Naturgesetze verbotene (= mala in se) 
auch nicht anf die gemeinschaftlichen Rechte der Staatsgenossen 
(— auf das jus commune), sondern nur auf das steh erstrecke, 
was erst durch ein (relatives) Gesetz verboten wurde. — Dies 
erläutert nun der geschickt geleitete Dialog auch durch viele 
Specialkenntnisse so licht und genügend , dafs Ree. nur um so 
mehr veranlafst ist, den Verf. der »Kritischen Versuche über die 
öffentlichen Rechtsverhältnisse in Deutschland« (Leipz. i835.) zu 
ferneren Anwendungen seiner historischen Forschungen auf Be- 
leuchtung der damit zusammenhängenden Staatrechtsbegriffe auf- 
zumuntern. 

4. Juli 1837. ör. Paulus. 



Über das Leben und die Schriften von Diamant Coray. Von Dr. Ludwig 
von Sinner. Au» dorn Französischen mit Zusätzen von Conrad Ott. 
Zürich, Verlag von (hell, Füfsli * Comp. 1837. 49 A'. 8. 

Wir eilen , unsere Leser mit dieser Charakteristik bekannt zu 
machen, deren Anzeige in den Jahrbuchern der Literatur nicht 
fehlen darf, da sie ein doppeltes Interesse darbietet, theils in 
Rücksicht auf ihren Gegenstand, theils wegen des Verfassers, der 
Coray personlich kannte und von ihm nach Verdienst geschätzt 
war. Herr v. Sinner benutzte dabei hauptsächlich die Autobio- 
graphie, deren Vorrede Coray am 23. December, in seinem 81. 
Jahre, unterzeichnete (Bios 'ASapayriov Kooaf; , ovyyoaa}t\q 
na^ä tov idlov, Paris, Eberhart, i833, pagg. 3o, 8.); ausser- 
dem Mittheilungen der Zöglinge und Freunde Coray 's, Ambroise 
Firmin Didot und Fournaraki. Th. Kind s Nekrolog in den Zeit- 
genossen, 5. Bd., 6. 7. und 8. Heft, blieb unserm Biographen 



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S inner: über d. Leben u. die Schriften von Coray. 967 

unbekannt, da sein Manutcript schon im Oc tober 1 835 dem Druck 
ubergeben ward, and dient nun zur Ergänzung and theil weisen 
Berichtigung desselben, wodurch Herr C. Ott, rühmlich bekannt 
durch seine Lebensbeschreibung des .wackern Usteri, weiland Bür- 
germeisters von Zürich, den Werth setner Übersetzung noch er« 
höhet hat. 

Coray war einer der merkwürdigsten Gelehrten seiner Zeit, 
und unstreitig der gröfste Gelehrte Neugriechenlands. Eigent- 
. Heb hiefs er Diamant es Horaes (Aiauocvnjs, spater 'Ada- 
pdvriot, Kopaq$), nannte sich aber selbst im Franzosischen 
Diamant Coray *). Er ward 1748 am «7. April in Srayrna 
geboren. Sein Vater, Johannes Horaes, von Chios, hatte früh, 
Handels wegen , sein Geburtsland mit dieser Stadt vertauscht and 
sich dort mit Thomaide Hysia verheirathet. Ihr Erstgeborner 
war unser Horaes ; noch sieben andere Kinder folgten , starben 
jedoch alle jung, mit Ausnahme eines Sohnes, Andreas. Beide 
Eltern waren ausser Stand, sie, und besonders den altern Sohn, 
ordentlich zu unterrichten ; aber ein glücklicher Zufall ersetzte 
diesen Mangel. Der mütterliche Grofsvater, Adamantios Bysios, 
war nämlich in seiner Jugend zu Konstantinopel und Chios ein 
ausgezeichneter Lehrer gewesen, und spater zwar Handelsmann, 
aber doch ohne seine frühern Studien gänzlich zu vernachlässigen. 
Daher halte er seine Beisen nach Holland dazu benutzt , eine 
kleine, aber auserlesene, Sammlang griechischer Schriftsteller 
anzuschaffen. Er starb, ohne einen seiner Enkel gesehen zu ha- 
ben; allein im Testament bestimmte er seine Bücher Demjenigen 
von ihnen , der zuerst so unterrichtet in allen Gegenständen als 
der Lehrer selbst die neugestiftete griechische Schule verlassen 
würde. So bezogen diese denn beide Brüder, gehörig unterstützt 
vom Vater, den der Handelsstand in Smvrna durch ehrenvolle 
Anstellungen ausgezeichnet hatte. Leider war der Unterricht dort 
dürftig und der Stock ein hauptsächliches Erziehungsmittel. Da- 
her verliefs Andreas bald die Schule. Aber Adamantios blieb, 
angefeuert vom Beispiel seines Grofsvaters , und in seinem Ent- 
schlufs, den Wissenschaften zu leben, bestärkt durch einen an- 
dern Verwandten, den Arzt Andreas Horaes, (Verfasser einer Ode 
in dorischem Dialekt an d'Aguesseau, deren erneuerten Abdruck , 
als Anhang von Thomas Lobschrift auf den Hanzier, unser Boraus 
1819 veranlafste,) und durch einen Vetter seines Vaters, den 



') Wir behalten in der Folge den ächlgriechischcn Namen. 



968 Sinner : über d. Leben u. die Schriften von Coray. 

Pater Kyrillos, damals Lehrer des Griechischen auf Chios. Der 
Lohn seines Flcifses beim Austritt aus der Schule war die Biblio- 
thek des edlen Grofsvaters. 

Aber nun galt es, diesen Schatz auch zu heben. Die erwor- 
benen griechischen Schriftsteller waren lateinisch erklärt, und er 
▼erstand nicht lateinisch. Die Schule hatte ihn mit dem stolzen 
Titel eines Xoyi&xaxos 9 a ocpoXoy tax axoq 9 entlassen, und dieser 
Hochgelehrte wufste nichts von Geschichte, nichts von Geogra- 
phie; ja seine Kenntnifs des Griechischen selbst war noch unzu- 
reichend, einen antiken Text zo verstehen. Ebenso unbekannt 
war er noch, obwohl zum Handel bestimmt, mit dem Italieni- 
schen und Französischen; hatte sogar Mühe, Lehrer in diesen 
Sprachen aufzufinden, und bemerkte bald, dafs sie, den Stock 
abgerechnet , ebenso geschickt waren als sein griechischer Sprach- 
meister. Um Latein zu lernen , hätte man ihn den Jesuiten an- 
vertrauen müssen , und deren Bekehl ungssucht fürchteten die 
Eltern, eifrige Bekenner der griechischen Religion. Da trat wie- 
der ein glücklicher Zufall- ein. Bernhard Keun, Kaplan des hol- 
ländischen Konsuls in Smyrna, suchte einen jungen Griechen, der 
ihn die Aussprache des Neugriechischen lehrte. Koraes erbot sich 
dazu, und der Kaplan unterrichtete ihn dagegen im Lateinischen; 
jede andere Belohnung schlug der Jüngling aus. Keun hatte in 
Kurzem seinen Zweck erreicht, gewann aber Koraes so lieb, dafs 
er ihn bei sieb behielt, mit ihm spazieren ging, ihm seine La- 
teiner lieh, und ihm erlaubte, allein in seiner Bibliothek zu ar- 
beiten. Zu gleicher Zeit lernte unser Held in den Wissenschaf- 
ten, um das alte Testament gründlich zu verstehn, Hebräisch, 
aber von einem Juden, dessen pedantische Gelehrsamkeit ihm die 
Sache verleidete. Überhaupt bemerkte Koraes, dafs all seine bis- 
herigen Lehrer noch weit zurückblieben hinter den Kenntnissen, 
welche die Bücher, die er las, umfafsten. Er fühlte dafs es noth- 
wendig scy , seine Erziehung in Europa zu vollenden, und der 
verständige Keun bestärkte ihn in dieser Meinung. Auch hatte 
eifriges Lesen des Demosthenes ihm sein entartetes Vaterland un- 
erträglich gemacht ; in seinem Herzen kochte der Hafs gegen die 
Muselmänner. Er verfiel dadurch in eine gefahrliche Brustkrank« 
heit, von welcher er gleichwohl sich in seinen Studien nicht stö- 
ren liefs. So kam das Jahr 1773 heran, in welchem dieser sein 
sehnlichster Wunsch in Erfüllung ging, indem sein Vater, zur 
Ausdehnung seiner Handelsverbindungen , ihn nach Holland sandte. 

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* 



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Sinner: über d. Leben u. die Schriften von Coray. %9 

Koraes verweilte 6 Jahre zu Amsterdam, und mit jener An- 
stelligkeit und Gewandheit, die von jeher den Griechen auszeich- 
nete, betrieb er nicht allein sein Hauptgeschäft, sondern studierte 
auch unter der Anleitung des Pfarrers Adrian Buurt, eines Freun- 
des von Keun, Logik und Mathematik. Buurt und seine Gattin 
würdigten den liebenswürdigen Jüngling ihres Vertrauens, und 
der Umgang mit dieser edlen Familie entzog ihn den Verführun- 
gen der grofsen Stadt. 

Endlich riefen ihn Verbältnisse nacb der Heimath zurück. Im 
Frühling 1779 kam er wieder nach Smyrna, wenige Tage darauf , 
als die grofse Feuersbrunst einen Theil der Stadt verzehrt hatte. 
Sein väterliches Haus war eine Brandstätte, und dieses Unglück, 
verbunden mit dem widerwärtigen Treiben der Türken , das nun 
wieder sein tägliches Schauspiel war, stürzte Koraes in eine Me- 
lancholie, die an Verzweiflung gränzte. Kaum erhielt ihn sein 
Freund Keun aufrecht in diesem Starm. Aber den Widerwillen 
des freiheitliebenden Hellenen gegen die fremdartige Umgebung 
zu überwinden vermochte er nicht; sogar der Reiz einer sehr 
vortbeilhaften und von seinen Eltern gewünschten Heirath liefs 
ihn kalt ; nach wenigen Jahren verliefs er abermals und auf im* 
mer sein Vaterland , um sich nach Frankreich zu begeben und 
dort die Arzneikunde zu studieren; ein Vorsatz, den er auf der 
Heimreise in Venedig gefafst hatte , um theils noch eine Zeitlang 
in Europa zu verweilen, theils späterhin unter den Moslemim, 
wenn er bei ihnen seinen Wohnsitz aufschlagen müfste, eine ge- 
achtetere Stellung zu behaupten. 

Am 9. October 1782 kam er in Montpellier an und widmete 
sich dort 6 Jahre lang dem gewählten Studium, kurze Zeit hin- 
durch von den Eltern unterstützt, nach ihrem Tode aber im J. 
1783 von Kenn, der grofsmüthig einen Theil : eines Vermögens 
hierzu verwandte. Koraes selbst halte unterdefs auch Englisch 
und Deutsch gelernt, und vermehrte seine Einnahmen durch fran- 
zosische Übersetzungen , besonders medicinischer Werke in bei- 
den Sprachen, als der Klinik von Seile, der Einleitung zum Stu- 
dium der Natur und der Arzneikunde von Demselben, des Abrisses 
einer Geschichte der Medicin und Chirurgie von Black , u. s. w. 

1786 ertheilte ihm die medicinische Facultät zu Montpellier, 
nach Einreichung seiner Inauguralschrift , betitelt: Pyretologiae 
Synopsis, den Doctorgrad, und zwei Jahre darauf begab er sich 
mit Empfehlungen seiner Professoren nach Paris , kurz vor dem 
Anfange des grofsen Dramas, das noch immer nicht ausgespielt ist. 



970 



Sinner: über d. Leben u. die Schriften von Co rar. 



Koraes nahm keinen thätigen Antheil daran; aber begeistert 
von den Anstrengungen einer grofsen , zur Freiheit wieder auf- 
strebenden Notion , fafste er den Entschlafs , auch seines klassi- 
schen Vaterlandes Wiedergeburt bewirken zu helfen und den bis- 
herigen Wirkungskreis als Gelehrter und ausübender Arzt zu uber- 
schreiten. * Mit feurigem Patriotismus,« sagt der Verf., »mit 
erprobter Ausdauer , mit einer reichen und tiefen Gelehrsamkeit 
widmete sich Coray ganz und ohne Ruckhalt diesem erhabenen 
Apostelthum der wahren Freiheit. Hierauf bezogen sich all seine 
zahlreichen Arbeiten; und nur, wenn wir sie nach diesem Zwecke 
beurtheilen, sehen wir die Vorzuge und die Mängel seiner so 
berühmten und doch allzu wenig gekannten Ausgaben.« Seihst 
Grieche sprach er nämlich hier zu den Abkömmlingen jener alten 
Hellenen , vor welchen einst Demostbenes seine begeisterten Re- 
den hielt. Noch stehend auf dem Schauplatze grofser Thaten der 
Vorältern , noch eine griechische Mundart redend , mufsten Ko- 
raes* Mitbürger besser als jedes andere Volk das griechische Al- 
terthum verstehen lernen , wenn man sie nur auf sicherer Stufen- 
leiter demselben wieder näherte. Dieser grofse Zweck war das 
Hauptaugenmerk unsers Reformators; Forderung griechischer Phi- 
lologie für die Welt überhaupt war nur ein Nebengewinn , auf 
den er kaum rechnete , und den er aus Bescheidenheit nie als 
das Ziel seiner Arbeiten zu bezeichnen wagte. Damit aber das 
verwahrlosete Geschlecht seiner edlen Vorzeit wieder bewufst 
würde, mufste es gleichsam wieder in die Kindheit zurückkehren, 
es mufste seine durch Barbarismen verunstaltete Sprache wieder 
herzustellen suchen, mufste der althellenischen, dieses unerreich- 
baren Sprachmusters, wieder mächtig werden, und dann, von 
Leichtcrem zu Schwererem und Höherem unermüdet fortgeführt, 
endlich zu dem Grade humaner Bildung gelangen , den seit Jahr* 
tausenden veränderte Religion und Sitte zu erreichen vergönnt« 
Zur Erreichung dieses Ziels bedurfte Griechenland auswärtiger 
Hülfe, und Koraes rechnete hier besonders, wegen des gleichen 
Strebens , auf sein zweites Vaterland Frankreich. Daher war er 
bemüht, Franzosen und Griechen zu befreunden. Seine Flug- 
schrift, ZdXnta jjia. 7roXßuiox^uov ( Kriegsposaune), die 1ÖO1 
erschien, ruft diese der französischen Republik zu Hülfe. Sein 
Gesang 4>/Xot uov ovunaTotoiat, dessen Dichtung in dieselbe 
Zeit fällt, ist der Marseillaise nachgebildet, und weckte franzo- 
sischen Muth in den Herzen der Neugriechen , gleich Rhigas' Hym- 
nen. Von der andern Seite zeigte er den gebildeten Völkern, 



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Sinner; über d. Leben u. die Schriften Von Coray. 971 

— 

dafs Griechenland ihrer Aufmerksamkeit und Theilnahme *ürdig 
sey. Seine Denkschrift über den jetzigen Zustand der Coltar in 
Griechenland (i8o3, 66 Octarseiten) zielte dabin, und die Über- 
setzung ins Neugriechische ermunterte zugleich die Griechen 
selbst, auf der rühmlichen Bahn wahrer Bildung unermüdet fort- 
zuschreiten. 

• Was die griechischen Klassiker betrifft, durch die er den 
Geist seiner Landsleute zu wecken und zu bereichern suchte, so 
begann er mit den Charakterschilderungen, die man dem Theo- 
phrast beilegt. Sie erschienen 1799, ausgezeichnet durch einen 
trefllicben Commentar und begleitet von einer franzosischen Über- 
setzung. Ein reicher griechischer Kaufmann zu Livorno trog die 
Druckkosten des Werks, das den freien Griechen des jonischen 
Meers gewidmet ist Ein Jahr darauf folgte Hippokrates* Abhand- 
lung von Luft, Wasser und Gegenden, ebenfalls auf Kosten eini- 
ger Edlen Griechenlands gedruckt, und 1810 vom französischen 
Institut durch den Preis von 5ooo Franken geehrt. In weniger 
als i5 Jahren war diese Bearbeitung, die ausserordentlichen Bei- 
fall fand, verkauft und eine neue Ausgabe nothig, deren Vorrede 
in neugriechischer Sprache, 56 Seiten stark, besonders an junge 
Landsleute gerichtet ist, die sich der Heilkunde widmen. 1802 
folgte die Prachtausgabe des von K. verbesserten Longus , bei 
Peter Didot in Quart auf i3s Seiten gedruckt; 1804 Heliodor, 
und i8o5, aus Auftrag der Bruder Zosima , reicher, griechischer 
Kauileute zu Moskau, Alians Sammlung vermischter Geschichten, 
nebst den Fragmenten des Heraklides aus Pontus und des Niko- 
laus von Damaskus , als Probestuck der griechischen Bibliothek 
(Bi^Xioö^x»? cXXjjvixij), die 1826 mit dem i6ten Baude beendigt 
ward, und Isokrates, Plutarchs Biographien, Strabo, auf Kosten 
einiger Chioten gedruckt, Xenophons Denkwürdigkeiten des So- 
lirates, Plato's Gorgias und Lykurgs Bede wider Leokrates ent- 
hält, auch mit authentischen Bildern der Schriftsteller ausgestat- 
tet. Ein Anhang, weniger reich ausgestattet, giebt unter dem 
Titel napepyu eAX>;i>ix»;s BtßAto&ijxqt', Polyein , Asop ; dann be- 
sonders, gleichfalls auf Kosten der Chioten 1814 gedruckt, Xeno- 
krates' und Galens Abhandlungen über die Nahrung, welche die 
Wasserthiere liefern; hierauf Mark Aurel; ferner Onesanders 
Feldherrn und die erste Elegie des Tyrtaus , mit franz. Über- 
setzungen , jenen des Barons Zurlauben , diese Firmin Didot s ; 
endlich Plutarchs Politica, Epiktet , Cebes, Kleanthes Hymnus 
und Arriaus Abhandlungen über Epiktet. Eine ahnliche Samm- 



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* 



»12 Sinner: über d. Leben u. die Schriften von Coray. 

lung , in welche K. das Beste aas seinen reichen Ad versariis nie- 
derlegte, fuhrt den Titel "Atoxto, und kam seit 1828 heraus. 
Sie enthält nur 5 Bände, den letzten i835, nach Koraes Tode, 
Ton H. Fournaraki mit grofsem Fleifse besorgt, und zeichnet sich 
besonders aus durch ein neugriechisches Worterbuch im 2teo 
Bande, und durch ein alt- und neugriechisches von grdTserem 
Umfange im vierten. 

Von einzelnen Ausgaben bemerken wir noch Hierokles' 'AaxeZa 
1813, ein Bä'ndchen, das wenig in den Handel gekommen zu seyn 
scheint, und besonders Aristoteles* Politik, mit der K. 1821 die 
Morgenrothe der griechischen Freiheit begrüfste. Auch die fran- 
zosische Übersetzung des Strabo gehört hieher , welche Bonaparte 
ums Jahr i8o3 wünschte, und wozu der Minister Chaptal La Porte 
du Theil und Boraus vorschlug, wahrend Gosselin die geographi- 
schen Anmerkungen schreiben sollte. Der erste Consul geneh- 
migte diesen Vorschlag und bestimmte jedem der Bearbeiter ein 
Jahrgehalt von 3ooo Franken. i8o5 uberreichten sie den ersten 
Band , und noch vor der Vollendung des zweiten ward ihnen 
ausserdem eine Bente von 2000 Franken auf Lebenslang zugesi- 
chert; worauf aber K. seine Mitarbeiter bewog , auf den Jahr, 
gehalt Verzicht zu leisten; eine Uneigennutzigkeit, die den vol- 
len Beifall des Ministers erhielt. 

Mit diesen 2000 Franken bestritt seitdem der frugale K. sei- 
nen jahrlichen Unterhalt. Bei seinen Ausgaben von Klassikern 
bedachte er zu wenig seinen Vortheil, und nur die des, auf AI. 
Basiii's Kosten gedruckten, Heliodor brachte ihm eine bedeutende 
Summe ein; aber er legte sie in die Sparkasse, und als späterhin 
Basiii's VVittwe in Dürftigkeit gerieth, setzte er ihr eine Pension 
aus, und ihren Kindern verschaffte er Aufnahme in eine Pariser 
Schulanstalt. 

Weifen wir noch einen Blick auf R., den Philologen. Es 
wurde ungerecht seyn, an ihn, als solchen, den strengen Maafs- 
stab zu legen, nach welchem man heut zu Tage den Werth von 
Bearbeitungen der Klassiker zu bestimmen pflegt. Zur Zeit , als 
dieser treffliche Kopf sich bildete , hatte die Kritik noch ein viel 
weiteres Feld; ihre Divination wurde hoher geschätzt, und 
schweifte sie öfters , die Paläographie ganz vernachlässigend , über 
alle Gl änzen hinaus , so war sie doch auf der andern Seite auch 
keine unmündige Sklavin der Manuscripte, denen man sie jetzt 
öfteis nachkriechen sieht, indem man fast in die Anfänge der 
wiederhergestellten Literatur zurückfällt, wo ein Herausgeber der 



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Sinner: über d. Leben u. die Schriften von Coray. 973 

Alten seiner Aufgabe genügt zu haben schien, wenn er nur aus 
einer oder zwei Handschriften seinen Autor taliter qualiter hatte 
abdrucken lassen. Ausserdem — wir wiederholen es — machte 
K. , trotz seiner ausgebreiteten Gelehrsamkeit, keinen Anspruch auf 
den Namen eines eigentlichen Philologen, und, das Praktische ins 
Auge gefafst , achtete er im Ganzen mehr auf den Sinn als auf 
die Worte. Daher die oft getadelte Freiheit seiner Conjekturen, 
die geringere Achtung handschriftlicher Autorität , manche Regel- 
losigkeit, z. B. der accentlose Text des Longo* , u. s. w. 

K. war Arzt, Naturforscher, und vor Allem Patriot und Re- 
formator. Daher sind keineswegs seine Schriften auf alte Litera- 
tur beschränkt. Dies beweist die neugriechische Übersetzung des 
berühmten Buchs von Beccaria 1802; dies so manche politische 
Flugschrift, z. B. die, vielleicht zu leidenschaftliche, Widerle- 
gung (58 Seiten) des herzlosen Aufrufs an die Griechen, den 1798 
Anthimos, Patriarch von Jerusalem, zu Konstantinopel drucken 
liefs, und der Dialog zweier, angeblich in Venedig wohnhafter, 
Griechen, der i8o5 in neugriechischer Sprache auf 61 Seiteu 
erschien ; endlich und vornehmlich beweist es sein neugriechisches 
Wörterbuch und was er sonst für Herstellung und Gesetzgebung 
der verwilderten Muttersprache sein ganzes Leben hindurch lei- 
stete. Hierbei stehen zu bleiben, bekämpften sieb, zur Zeit als 
K. seinen Heliodor herausgab, zwei Systeme, beide ungenügend. 
Die macaronischen Schriftsteller, wie er sie nannte, rafften regel- 
los alte Sprachformen aller Zeiten auf, und machten daraus ein 
sonderbares Gemeng, das dem Volke nie zusagte. Dagegen Hes- 
sen die Anhänger von Cathartzi und Christopulos das Neugrie- 
chische in seiner Vernachlässigung, schrieben wie man redete, 
und hielten das Sprachverderbnifs nur für scheinbar. Koraes ging 
den Mittelweg , indem er alle Fremdworter, besonders die türki- 
schen, mit ächtgriechischen vertauschte und die Syntax des neuern 
Idioms der des antiken zu nähern suchte, soweit es ohne Pedan- 
terei möglich war. Diese Verfahrungsart verdiente den Beifall 
aller Einsichtsvollen. Rizo-Nerulos, ein ausgezeichneter und un- 
parteiischer Literator, urtbeilt darüber folgendergestalt ( m. s. 
Koraes Prolegomena, gesammelt von H. Fournaraki, 1. Bd. Paris 
i833, S. 120): »Trotz der leidenschaftlichen Angriffe seiner Geg- 
ner hat die Zeit Koraes' System bestätigt ; mit Ausnahme einiger 
unwesentlichen Punkte haben die Verständigen es gutgeheißen, k 

Ausser eigenen Werken lieferte dieser gefällige Gelehrte 
auch Beiträge zu bedeutenden Arbeiten Anderer, z. B. zu Le- 

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974 Sinner: über d. Leben u. die Schriften tob Coray. 

vesque's Thucydides 1795 , zu Larcher's zweiter Ausgabe des 
Herodot 1803, und za Schweighäusers Athenaas 1801 bis 1807. 
Ebenso war er Mitarbeiter am Magazin encyclopedique , am Mu- 
seum Oxoniense und am gelehrten Merkur (A6yioq 'Eppfc), einer 
neugriechischen Zeitschrift, die Anthimos Gazi 1813 und in den 
nächstfolgenden Jahren zu Wien herausgab. 

So, mens sana in corpore sano, unausgesetzt thatig und wohl-, 
gemoth, vollendete K. beinahe das fünfundachtzigste Jahr seines 
Lebens. Er starb i833 am 6. April, und sein Leichenbegängnis 
war bescheiden wie sein Leben. Ein Landsmann , Lazara , sprach 
am Grabe des edlen Greises eine einfache Bede, und Freunde 
setzten ihm einen Denkstein mit folgender Inschrift, die er selbst 
verfafst halte: 'Atiattdvxux; Kopar^ Xioc inb $ivr,v pkv 9 taa 
rrj <pvodor t u 'EXXohIl nt<pikn\tivriv 9 yi\v twv Hayna Lav xetpat. 
(In der fremden, aber gleich dem griechischen Mut- 
terlsnde geliebten, Erde der Pariser liege ich, Ada- 
mantios Koraes von Chios.) Das franzosische Institut konnte 
ihm keine Lobschrift widmen, denn er war kein Mitglied dessel- 
ben , und zwar blos wegen eines Eigensinns, den man dem Selbst- 
gefühl des trefflichen Mannes wohl verzeihen darf. Er verstand 
sich nämlich nicht dazu, die zur Aufnahme nothigen Besuche bei 
allen Mitgliedern der Klasse des Inscriptions et belles Lettres zu 
machen ; nur auf die Candidat enliste liefs er sich setzen , und so 
hatte die Bewerbung keinen Erfolg. Dafs er sich nie in Frank, 
reich naturalisieren liefs, war noch verzeihlicher : er war ein Grie- 
che, und wollte nichts anderes seyn. 

Sein Nachlafs bestand beinahe nur in seinen Buchern. Er 
hatte sie insgesamt der Bibliothek des Gymnasiums von Chios 
vermacht, und schon war die Sammlung unterwegs dahin, als 
das anglückliche Eiland in die Hände der Türken fiel, worauf 
sie nach Paris zurückgebracht wurde. Jetzt soll man damit um- 
gehn, den Namen Chios dem ehemaligen Fleckeo Phaleros, wo 
Athens ältester Hafen war, zu geben, dort ein Gymnasium za 
stiften , und in demselben die Bücher des patriotischen Lands- 
mannes aufzustellen. 

B 0 tk e. 



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Ramadge : d. Heilbarkeit d. Lungentuch t, üben. Hohnbaum. 975 

Die Lungenschwindsucht ist heilbar, von Dr. Fr. H. Ramadgc , ubersetzt 
von Dr» C. Hohnbaum. Hildburghausen u. Ncuyork, im bibliograph. 
Institut. 1835. 100 Seiten mit 4 illum. Kupfertafeln. 

Der Oberarzt des wahrscheinlich einzigen Spitals für Lun- 
gensüchtige, den es gibt in London, stellt, gestützt, wie er sagt, 
auf die Section von 3ooo , und auf die Behandlung von noch 
mehreren, tauseoden Lungensüchtiger, eine neue Lehre über die 
Behandlung der Lungenschwindsucht und über ihre Heilbarkeit 
auf, und der Herr Obermedicinalrath Hohnbaura übersetzt das 
darüber geschriebene Buch, und bestätigt den Nutzen der Me- 
thode durch einen günstig ausgefallenen Versuch. AU dies ist 
wohl geeignet einiges Vertrauen zu erwecken. Wieviel Vertrauen 
das Buch selbst beim Lesen ungefähr erregen kaon , dies mag ein 
kurzer Auszug und einige Bemerkungen zeigen. Folgendes sind 
die Hauptsätze in demselben: 

p. 14. v Die Phthisis ist die alleinige Folge einer geschwäch- 
ten Gesundheit. Wird das Wohlseyn im Allgemeinen gestört, so 
erfolgt eine gänzliche Umwandlung der Safte und Secretionen des 
Körpers, und daraus wieder eine fehlerhafte Ernährung, und diese 
ist es, welche zur Bildung von Tuberkeln Veranlassung gibt.« 

Barn, läugnet die Contagiosität der Lungenschwindsucht, gibt 
aber eine natürliche und erbliche Anlage zu. Schon obiger Satz 
wird wohl in Deutschland schwerlich vielen Eingang finden. 

p. 28. »Wenn nach der Bildung Ton Tuberkeln oder einer 
Höhle in der Spitze der Lunge in Folge einer katarrhalischen 
Affection (durch Erkältung veranlafst), .oder in Folge einer Irri- 
tation, die sich vom Sitz der Krankheit aus über die Bronchial- 
verzweigungen verbreitet, ein allgemeines Vesikular. Emphysem 
entsteht, so findet keine Disposition zur Tuberkel bildung mehr 
statt. « 

p. 27. »Das Vesikular- Emphysem entsteht nach Ramadge 
durch Verschliefsen der von Luft ausgedehnten und damit ange- 
füllten Lungenzelien mittelst der katarrhalischen Beizung, und 
nun entstehen Verschliefsung und Heilung der Exkavation per 
primam reunionem als Folge des Drucks jenes Vesikular- Em- 
physems, c 

p. 48. Ebenso sey oft Verheirathen und besonders Schwan, 
gerschaft ein Heilmittel gegen Lungensucht , nämlich durch Com. 
pression der Exkavation von unten herauf, und man finde dann 
gewöhnlich Quernarben , welche auf diese Weise entstanden seyen. 



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!>7fi Ramadgc: d. Heilbarkeit d. Lungenaucht , übers, v. Hohnbaura. 

(Andere Ärzte furchten dagegen bekanntlich gerade als Folgen 
der Schwangerschaft, die nach der Niederkunft nur in akuterem 
Verlauf wiederkehrenden Symptome der Phthise.) 

p. 5o. »Menschen, die an asthmatischen, katarrhalischen oder 
Herzkrankheiten leiden, sind ausser Gefahr, in Lungenschwind- 
sucht zu verfallen. Ich könnte auch tooch alle diejenigen dazu 
zahlen, die von konvulsivischen Krankheiten, als Hysterie, Epi- 
lepsie, mit einem Wort voir solchen Übeln befallen sind, bei de- 
nen man häufig eine fortgesetzte und gewaltsame Zurückhaltung 
des Athems bemerkt.« — (Morton sagt zwar: omne asthma, prae- 
cipue vero humorosum , tendit ad phthisin , und Lungenkatarrh 
wird bekanntlich als häufige Ursache der Tuberkeln angesehen, 
doch wird man diese beiden Sätze nicht als beweisend annehmen. 
— Auch Wechselfieber ist bekanntlich der Lungensucht in dieser 
Hinsicht entgegengesetzt. Es scheint hier mehr der Gegensatz 
von Neurose zu Gefäfskrankheit zu seyn ; wenigstens hat Ree 
schon bei mehr als einer Sektion Herzerweiterung (also Herz- 
krankheft, die nicht Neurose ist) mit Tuberkeln und auch mit 
Exkavation beisammen gesehen. Doch halte in einem Fall ein 
Theil der Tuberkelmassen das Ansehen , ganz in Verknorpelung 
überzugehen. Southey fuhrt einen Fall an , wo bei einem Mad- 
chen durch eintretende Melancholie die sehr weit vorgerückte 
Phthisis plötzlich nachliefs, und Fleisch und Kräfte wieder zu- 
nahmen, bis nach 3 Monaten die Phthisis wieder an die Stelle 
der Melancholie trat. Also ein entschiedener Gegensatz beider 
Krankheiten.) 

p. 5a. »Es gibt nur zwei Wege, die Lungenschwindsucht 
zu heilen: 1) dafs wir sie chronisch machen, 2) was man jedes- 
mal bemerkt, es mag nun die Natur oder die Kunst die Heilung 
bewirken , — wie Erweiterung der Vesikulai struktur und in Folge 
dessen eine allmählige Heilung der Tuberkelhöhlen.« 

p. 53. » Oft bewirken 6 bis 8 Blutegel eine erstaunliche 
Mäfsigung des hektischen Fiebers, ebenso eine Aderlässe von 5 
bis 6 Unzen; es beugt besonders den Congestionen zum Unter- 
leib, den Diarrhoen und kolliquativen Schweifsen vor, oder min- 
dert und hebt sie auf.« 

■ 

(Der Beschlufs folgt.) 



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N e . 62. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Ramadge: die Heilbarkeit der Lungenschwindsucht. 

(Beichluft.) 

p. 5-. » Inhalationen haben bisher noch nicht genug Aner- 
kenntnifs gefanden, 1) weil die Zeit, die man auf das Einathmen 
verwendete, gemeiniglich zu kurz ist, um entweder einen ka- 
tarrhalischen oder einen Zustand von Erweiterung hervorzubrin- 
gen ; 2) weil die Apparate nicht wissenschaftlich genug construirt 
sind. Sie müssen so 'eingerichtet seyn , dafs sie der freieren Ex- 
spiration einiges Hindernifs entgegensetzen; dies kann nur dadurch 
geschehen, dafs die Gefa'fse, die das einzuathmende Material ent- 
halten , so grofs sind , dafs sie ungefähr 2 Quart Flüssigkeit ent- 
halten können , und dafs sie mit einem Deckel von 2 ÖfTnungen 
versehen sind, von denen die eine sehr kleine als Luftloch dient, 
die andere aber mit einer biegsamen oder geraden Röhre von 
engem Durchmesser, und von wenigstens 5 Fufs Länge versehen 
ist. Am Ende der Rühre, das man zwischen die Lippen nimmt, 
müssen Mundstücke von Elfenbein oder von Bein angebracht seyn, 
deren jedes eine Öffnung von verschiedener Grofse hat. Die 
Länge der Rühre soll den Kranken gegen die Hitze des mit hei- 
fsem Wasser gefüllten Gefäfses schützen , und zugleich nebst dem 
kleinen Luftloch dazu beitragen, das freie Ausströmen der Luft 
aus den Lungen zu verzogern , worin die grofse Heilkraft des 
Einathmcns grofstentheils besteht.« (Herr Obermedrcinalrath 
Hohnbaum wendet hölzerne Rohren mit biegsamem Mundstück 
an, weil lederne oder elastische von Drath durch die Hitze oder 
die Dämpfe bald ruinirt sind.) Durchmesser der Robren und 
Mündungen, was doch wichtig wäre, sind keine angegeben. 

p. 58. »Die bisher angewandten Dämpfe von Theer, Jod, 
Chlor, Schierling, Terpentin, hatten nach Ramadge alle nur den 
Nutzen der Ausdehnung der Lungen , um damit die Flächen der 
Exkavationen an der Spitze der Lungen in Contact zu setzen; 
d. b. Lungenkatarrh, oder seine gewöhnliche Folge ein Vesikular- 
Emphysem. In beiden, besonders aber in dem letzteren Fall, 
erlangen die Lungen eine ungewöhnliche Grofse, was immer not- 
wendig ist , und nicht selten auch durch einen katarrhalischen 
Zustand des Larynx, der Luftröhre oder der Bronchien geschiebt.« 
XXX. Jahrg. 10. Heft 62 



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Ramadge: die Heilbarkeit der Luageninclit , 



(Naumann sagt [med. Klinik I. p. 688] , wenn die leergewordene 

Hoble durch kailose oder knorpelartige Hülle vom übrigen Lon- 
gengewebe fast ganz getrennt ist, können sich die Kranken bis 
zu einem gewissen Grad erholen. Sie leiden aber meistens an 
chronischer Bronchitis, und werfen in längeren oder kürzeren 
Intervallen immer Eiter ans.) 

»Wenn die untern Lappen der Lungen ganz frei von Tu- 
berkelmasse sind , und wenn anch zu gleicher Zeit Hohlen im 
obern Theil einer oder beider Lungen vorhanden sind , wie dies 
die vollkommene Pectoriloquie anzeigt , so kann man doch fast 
mit Gewifshek auf Wiederherstellung hoffen, insofern man nur 
einen emphysematosen Ton vernimmt. Wirklich habe ich keinen 
an Lungenschwindsucht Leidenden gekannt, der nicht alle seine 
furchtbaren Zufälle verloren und seine Gesundheit wieder gewon- 
nen hätte, wenn sich zeitig genug diese emphysematose oder 
asthmatische Veränderung eingestellt hatte.« 

p. 59. » Nie kann ein Rückfall erfolgen , wenn die Bronchien 
hinreichend lange an einer subakuten Entzündung gelitten hatten, 
wodurch eine chronische Dyspnoe oder ein mehr oder weniger 
starkes habituelles Asthma entsteht.« 

p. 60. Rara. läfst , wenn kein Katarrh vorhanden , und die 
Congesttonen nach der Brust und die Symptome des hektischen 
Fiebers durch kleine allgemeine und öfters wiederholte Aderlässe 
beseitigt sind, die Inhalationen so bald als möglich anfangen. 

» Es gibt nur wenig phthisische Fälle in der frühem Periode 
der Krankheit, wo durch diese Behandlung, wenn man sie stand- 
haft verfolgt, nicht bäldige Besserung einträte. Die Knotehen 
der unreifen Tuberkeln werden dadurch unschädlich gemacht, 
dafs 'sie in ein schwarzes Secretum , oder in das, was man Lun- 
genmaterie nennt , eingehüllt werden , und die innern Flachen der 
kleinen schon gebildeten Hohlen nähern sich einander, so dafs 
sie bald durch prima intentio heilen. Das naturliche Athmungs*- 
geräusch wird bestimmter, und die Brust nimmt, besonders bei 
jungen Leuten, so zu, dafs eine Weste ungefähr nach einem Mo- 
nat weiter gemacht werden mufste. Die Inhalationen geschehen 
2 bis 3mal des Tags eine halbe Stunde lang, aber vorwärts und 
rückwärts. Obgleich ich nur geringen Werth auf die Substan- 
zen setze, die eingeatbmet werden, so lasse ich doch den Kran- 
ken zu Liebe, die lieber etwas einalbmen, was nicht ganz ohne 
sinnliche Einwirkung ist, eine Handvoll Hopfen t ein wenig Wein- 
essig, oder einen Efsloffel voll Terpentingeist (etwas heterogen 



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überaoUt von Hohnbaum. $79 

■ 

Mtammengestellt, Bec.) zu dem Wasser in der Inhalationsmaschino 
mischen.« »Es geschehe wo möglich bisweilen auch stehend , und 
alles beengende sey entfernt. « 

p. 61. v Contra in die irt sind Inhalationen z. B. bei dem Vor- 
handensein einer Lungen- oder Brustfell-Entzündung , bei Blut- 
speien , oder bei verborgener Langenschwindsucht von langer 
Dauer. Man mufs wenigstens eine Zeitlang aussetzen, wenn lasti- 
ges Kopfweh, starkes Schmerzgefühl im Innern der Brost, Er- 
weiterung oder Hypertrophie des Herzens , hartnäckiger Schleim- 
hatarrh oder allgemeines Emphysem der Lungen darauf folgen. 
Sonst kann man 6 Monate oder langer fortfahren , und es werden 
alle phthisische Zufalle verschwinden, und anhaltende Erweite- 
rung der Brost mit vollkommner Sicherheit gegen Ruckfälle dar- 
auf folgen.« — 

Von den verschiedenen Arten der Lungenschwindsucht , je 
nach der Ursache, kann keine Rede seyn, da Ram. sie alle aus 
einer Ursache herleitet Von den verschiedenen Formen dersel- 
ben , den verschiedenen Zuständen der gröfsern und geringem 
Reizung, den verschiedenen Constitutionen, verschiedenen Com- 
plicationen, Theilnahme des Nervensystems etc. wird gleichfalls 
nicht gesprochen; die gewöhnlichen Mittel, ableitende, narkoti- 
sche, demuleirende, balsamische etc. werden nur im Allgemeinen 
abgeurtheilt, von besonderen Zuständen, bei denen diese und jene 
passen oder nicht passen, fast Nichts erwähnt. 

Hinsichtlich des Klima sagt Ram., würde er statt Italien oder 
Frankreich dem von St. Petersburg tausendmal den Vorzog geben. 
Der Kranke würde da vielleicht das Gluck haben , einen Katarrh 
zu bekommen , der sich dort (in Italien etc.) unglücklicher Weise 
gerade heben konnte etc. Doch hatte Ramadge p. 35 erzählt, 
dafs ein Verwandter von ihm, der zwei erwachsene Töchter und 
«inen Sohn an der Schwindsucht verloren hatte, und mit seinen 
übrigen Kindern nach Tours ging , dort 5 Jahre lang mit ihnen 
wohl blieb, als er aber ins Vaterland zurückkehrte, innerhalb 2 
Jahren drei andere Glieder seiner Familie verlor. 

Die eingewebten und angehängten Krankengeschichten haben 
hauptsächlich die Tendenz zu beweisen , dafs chronischer Katarrh 
die Longenschwindsucht heile, sind jedoch zum Thcil etwas oder 
selbst sehr unvollständig , und in mehreren ermangelt entweder 
die Existenz der Krankheit oder die wahre Herstellung, oder die 
Ursache letzteres, des Beweises. Noch mehr fällt es aber auf, 
dafs über die Wirkung der Inhalationen, den Hauptgegenstand 



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960 Ramadge: die Heilbarkeit der Schwindsucht, 

des Baches, nur zwei unvollständige, und, so weit sie erzählt 
sind, gar nicht entschieden beweisende, und eine dritte von noch 
ganz zweifelhaftem Erfolg erzählt sind, — dafs ferner in allen 
übrigen Krankengeschichten Ramadge selbst wo 1,1 alle möglichen 
andere Kurmethoden, die Paracente, Reisen, Exspektiren, Seda- 
tiva etc., aber gar nicht die Inhalationen anwandte; und dafs er 
nach Erzählung von i3 Fällen sagt, dies seyen nur wenige im 
Verhältnifs zu denen, die er noch vor sich liegen habe, — eine 
Sache, die sich wohl in hohem Grad von selbst verstehen sollte, 
nachdem er in der Vorrede von 3ooo secirt.cn, und noch weit 
mehreren tausend behandelten Lungensüchtigen gesprochen. Noch 
mehr raufs es Mifstrauen erwecken, wenn Ramadge aus jenem 
grofsen Spital für Lungensücbtige und aus der Central-Iofirmary, 
der er gleichfalls mit vorsteht, keinen einzigen Fall anführt, son- 
dern blos einige andere, wo er die Kranken nicht einmal gehörig 
beobachten konnte, und diese zum Theil nicht einmal hergestellt 
wurden ; von numerischer Angabe der Resultate und deren Ver- 
schiedenheiten/ nach verschiedenenen Altern, Formen etc. gar 
nicht zu sprechen. 

Wenn die Methode von Ram. vielleicht in der weichen und 
feuchten Luft von London eine häufigere Anwendung finden kann, 
so mochte wenigstens die, chronischen Katarrh zu erregen, bei , 
ans ziemlich abzurathen seyn. Denn eine von Katarrh befallene 
Lunge mufs wohl statt sich auszudehnen, eher der Ausdehnung 
unfähiger werden (die Volums- Vermehrurg der gereizten Schleim- 
haut abgerechnet) ; und chronischer Katarrh , der hier so leicht 
in Entzündung übergeht, nebst Emphysem als Complication zu 
tuberkeloser Lunge, die schon so weit ist, dafs sie Pectoriloquie 
zeigt, mochte wohl keine wünschenswerthe Zugabe seyn. Der 
Fall würde dann bei günstigem Ausgang etwa der werden, wie 
die Erklärung der ersten Kupfertafel im Buch beginnt: »Fig. I. 
die Lunge eines Kranken , der mehrere Jahre vor seinem Tode 
von der Lungenschwindsucht genesen war, aber asthmatisch 
starb.« — Statt nach mehreren Jahren an der Phthise, starb 
er am Asthma. Es scheint auch ein Widerspruch darin zu lie- 
gen, dafs man eine schon durch Tuberkeln genug comprjmirte 
Lunge noch durch künstliche Compression mittelst Emphysems 
oder durch Schwangerschaft heilen wolle, während man, wie be- 
sonders Ram. , jede andere Beengung der Brost durch ungünsti- 
gen Bau, Haltung oder Kleidung etc. als etwas so schädliches, — 




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ubersetzt von Hohnbaum. 



981 



und als ein Hauptmittel gegen Schwindsucht die Ausdehnung der 
Brust durch starke Leibesbewegungen etc. erklärt. 

Rani, hat übrigens gar nicht genau erklärt, oder etwa durch 
genaue Untersuchung solcher Lungen nachgewiesen , wie durch 
chronischen Katarrh oder durch Inhalationen Vesikular-Emphysem 
entstehen soll, und ohne solche Nachweisung wird die Sache etwas 
ziemlich Hypothetisches haben. Ebenso ist es auch nicht beson- 
ders wahrscheinlich , dafs durch Inhalation von warmen Wasser- 
dämpfen mit dem beruhigenden Hopfen chronischer Katarrh ent- 
stehe , sondern eher, dafs ein solcher dadurch gehoben werde, 
da kaum anzunehmen ist, dafs sich die Kranken genug dabei an- 
strengen werden, um ihn hervorzurufen. 

Die medicinische Geographie scheint gleichfalls^ nicht zu 
Gunsten der Katarrhheilung zu sprechen. Im wurtembergischen 
Schwarzwaldkreise, dem höchst und rauhst gelegenen des Lan- 
des, sind von ungefähr 40,000 Militärpflichtigen 106 Individuen 
wegen Schwindsucht untauglich, und von diesen ist die Mehrzahl 
gerade von den rauhest en Gegenden, der obern Alb, dem Heu- 
berg etc.; — in den milderen Kreisen: im Neckarkreis 70, im 
Donaukreis i5, im Jaxtkreis nur 1 Individuum, — welches Ver- 
bältnifs ? nieht sehr günstig für das Klima von St. Petersburg 
spricht. Ähnliches Verhältnifs wird wohl auch die Vergleichung 
ganzer Länder im Grofsen geben. Die Sterblichkeit durch Lungen- 
schwindsucht verhält sich zu der durch sämmtliche übrige Krank- 
heiten nach Hennen am mittelländischen Meere wie i:6 T1 /i*s« 
auf den jonischen Inseln wie 1 : 1 1 V* , und in dem, wie Kam. sagt, 
stets wechselnden , also auch zu Katarrhen disponirenden Klima 
Ton England , nach der gewöhnlichen Annahme , welche Ram. 
noch als zu nieder zu beweisen sucht, wie 1 :3. Ram. sagt selbst 
p. 3 , dafs der Lungenschwindsucht fast ein Drittheil der erwach- 
senen Bevölkerung Grofsbrittaniens zum Opfer fallet 

Herr Oberarats-Arzt Dr. Steudel aus Efslingen hat bei der 
Versammlung der wurtembergischen Ärzte, die am 7. September 
in Calw gehalten wurde, gezeigt, dafs ein Thomas Hajo schon 
im Jahr 1787 einen sehr ähnlichen Apparat beschrieben habe, in 
der Schrift: Thomas Hayns ernstliche Warnung vor den Folgen 
vernachlässigter Katarrhe, nebst einem Unterricht von der Kur 
der Lungenschwindsucht, des Keuchhustens und der Engbrüstig- 
keit. Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Chr. Fr. Michaelis. 
Leipzig 1787. Nur ist hier nicht, wie von Ram., eine 4 — 5 



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082 Ramadge : d. Heilbarkeit d. Schwindsucht , üben, v . Hohohaum. 



Fufs lange Einathmungs- und eine sehr enge Ausathmungsröhre, 

die gerade das Athmen erschweren soll, sondern eine nur 5 — 6 
Zoll lange Einathmungsröhre und eine nicht verengende aber mit 
Ventil versehene Ausathmungstnüodung angegeben. Das Atomen 
»soll hier so leicht gehen, als ohne den Apparat« und »es soll 
die Lungen geschmeidig machen, kühlen und lindern, den Husten 
mindern und leichten Schleimaus wurf machen.« Die Tendenz 
und Erklärungsart der Wirkung ist also rerschieden (die Grofse 
der GefäTse und die Ingredienzien sind es gleichfalls; leicht konnte 
jedoch das Eine eine Travestation de£ Andern seyn. 

Baraadge verbreitet sich ausserdem in seiner Schrift über das 
Anatomische der Tuberkeln, Granulationen und interstitiellen In- 
filtrationen der Lungen , nur ist das etwa Neue darin nicht genug 
mit genauen Untersuchungen belegt, um ohne weitere Prüfung 
das von Laennec, Andral etc. Gesagte umEUStofsen. — Hinsicht- 
lich der Auskultation macht Ramadge auf eine Methode, die be- 
ginnende Lungenschwindsucht von Lungenkatarrh zu unterschei- 
den, aufmerksam, welche vielleicht bis jetzt nicht, oder nicht 
genug benutzt wird. Nämlich Ansetzen des Stethoskops 2 — 3 
Zoll unter dem untern Winkel der Skapula. » Dadurch kann 
man , wenn die Respiration fast natürlich oder schwach pueril 
ist, den Fall schon frühzeitig für einen phthisischen erklären, 
obschon der Hranke nur eineu lästigen linsten und nur wenige 
von den der Lungenschwindsucht gewöhnlich zukommenden Symp- 
tomen hat. « — Ebensogut wird man jedoch auch eine oder bes- 
ser einige andere Stellen am untern Theile der Brust zur Ver- 
gleichung mit dem obern untersuchen Können , da Katarrh sich 
in der ganzen Brust, Tuberkeln im Anfang sich nur in deren 
oberen Theilen verbreiten. Man hüte sich aber vor Verwechs- 
lung mit Herzerweiterung, Hepatisation etc. Diese Methode ist 
jedoch nicht ganz für alle Fälle richtig, da Louis unter i&3 Fäl- 
len zwei fand , wo die Tuberkeln nicht vorzugsweise die obern 
Lappen einnahm , und da nach Schonlein Menstrual-Tuberkeln sich 
gewöhnlich in den untern Lappen zeigen. 

Ree. hat selber mit der Inbalationsmethode Versuche ange- 
stellt, die jedoch noch zu neu sind, um Resultate erwarten zu 
können. Er bat dazu einen sehr einfachen Apparat zusammenge- 
setzt, da es für Arme war. Ein irdener Krug mit etwas weiter 
Mündung. In diese ein dicker Pfropf von Kork , der l) von dem 
Rohr eioes Federkiels zum Ausathmen , a) von einem dicken höl- 
zernen Rohr durchbohrt ist, welches seine obere Öffnung auf 



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Krebs: Antibarbarus der latchi. Sprache. 983 

der Seite hat , und in dieser ein 5 Fufs langet Schilfrohr (?on 
Arando pbragmites) , wie man es zum Vergypsen der Zimmer- 
wände braucht, aufnimmt. Durch die Leichtigkeit und Biegsam- 
keit dieses Rohrs bann man nötigenfalls auch das Mundstück ent- 
behren. Das Ganze hostet ewa 4 Gr. (18 kr.) Doch scheint es, 
als ob das Schilfrohr zum Athmen etwas zu eng wäre, und ich 
lasse daher bei Armen nun auch ein weiteres Bohr von Hollun* 
derstaude oder ein gewöhnliches Ofenblasrohr anwenden. 

R am p o i d. 



Antibarbarus der lateinischen Sprache, in zwei Abtheilungen, 
nebet Forbemerkungen über reine Latinität, von J. PA. Er ehe, Pro- 
feetor am Gymnasium bu Weilburg. Zweite verbesserte und stark ver- 
mehrte Auflage. Frankfurt a. Af. , Druck u. Verlag von Heinr. Ludw. 
Brönner. 1837. XVi u. 515 & 8. 

» Sonderbar , bemerkte ein Freund des Ref. , als er den Titel 
des ron uns anzuzeigenden Buches las, dals ein Buch, welches 
bestimmt ist, dem barbarischen Latein entgegenzuarbeiten, selbst . 
einen barbarischen Titel haben mufs; denn meines Wissens hat 
Lein alter Schriftsteller, weder ein guter noch ein schlechter, 
das Wort Antibarbarus gebraucht. « Ref. tröstete ihn mit der 
Analogie des von Cäsar gebrauchten Anticaio, mit dem christ- 
lichen Antichrist und ähnlichen sowie mit dem Gebrauche des 
Wortes als Titel früherer Bucher, die zu gleichem Zwecke ge- 
schrieben wurden, und er gab sich zufrieden. Wenn aber -der 
Verf. sein Buch eine zweite Auflage nennt, so ist dies etwas un- 
eigentlich gesprochen : denn diese zweite Auflage ist eigentlich 
ein ganz neues Buch , da die sogenannte erste nichts als ein fünf 
Bogen starker Anhang zu des Vis. Anleitung zum Lateinisch- 
schreiben, besonders abgedruckt, aber mit deu an der Anlei- 
tung fortlaufenden Paragraphenzahlen, war, der siebenten Aus- 
gabe des genannten Buches beigegeben, und zwar im Jahr i834, 
obgleich auch frühere Ausgaben desselben, von der dritten an *), 
schon einen Anhang von fast gleichem Umfange, nur nicht glei- 
chem Titel, hatten. Hier aber erhält nun die studirende Jugend 

*i So sagt er in der Vorrede S. V selbst. Seltsamer Weise aber gibt 
er am Schlüsse der Einleitung S. 8 die Notiz, dafs der Anübarba- 
rus schon der zweiten Ausgabe beigegeben gewesen scv. Wir. 
können nicht entscheiden, welche Augube die richtige ist. 



* 1 



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984 



Krebs: Antibarbarus der latein. Sprache. 



mit ihren Lehrern ein Buch iu die Hände, das einen grofsen 
Reichlhum an nichtigen Bemerkungen, und eine Grundlage dazu 
enthält, auf der immer weiter und fester gehabt werden kann. 
Indem wir aber anerkennen, dafs das Buch werthvoll und höchst 
schätzbar , gut geordnet , dem jetzigen Standpunkte der Philologie 
angemessen, grofsentbeils aus eigener Forschung hervorgegangen 
und seinem Inhalte nach grofstentheils zu loben ist, können wir 
doch nicht umhin, zweierlei zu tadeln: erstlich, dafs der Verf. 
seine Vorgänger entweder gar nicht oder nicht genau und nicht 
beisammen und übersichtlich nennt, kurz, dafs er in der Vorrede 
beinahe thut, als ob sein Antibarbarus fast keine Vorgänger ge- 
habt hatte, auch am Schlüsse der Einleitung ausdrucklich sagt, 
er ubergehe die frühem Versuche", da er ihnen doch leicht die 
leerstehende Seite hätte einräumen können, die das grofse Druck- 
fehlerverzeichnifs übrig liefs ; zweitens, dafs er sie meistens ge- 
ring achtet und herabwürdigt, gar nicht die Zeit erwägend, in 
der sie schrieben, und den Standpunkt, auf welchem die Wissen- 
schaft zu ihrer Zeit stand. Wir mochten dies in einem Buche 
fiir Studirende fast einen pädagogischen Fehler nennen. Unsere 
Zeit ist ohnedies das Zeitalter des Egoismus, der Anmafsung und 
der Dünkelhaftigkeit. Die Erwachsenen und Gereiften thun im 
Leben, als ob es keine Weltgeschichte, in der Wissenschaft aber, 
als ob es keine Literatur und keine Literargescbichte gäbe, und 
als ob vor ihnen Niemand Etwas geleistet , Niemand sich ein Ver- 
dienst erworben hätte: die Jugend aber findet es sehr bequem, 
das Ältere und früher Geleistete zu verachten , weil sie es dann 
ignoriren kann. Wir sind weit entfernt, dem Verf. zuzutrauen, 
dafs er zu der ersten Art gehöre : auch bedarf er es , um Etwas 
zu gelten , nicht , ein vornehmes Stillschweigen über diejenigen 
zu beobachten , die früher in demselben Gebiete die Wissenschaft 
zu fordern suchten *) , und eben so wenig wird ein so erfahrner 
Schulmann den von uns an der gegenwärtigen Jugend gerügten 
Dünkel zu nähren geneigt seyn : aber dafs es geschieht, wenn 
man so verfährt , ist sicher. Ferner , da S. V fünf Verfasser von 
Synonymiben genannt werden, warum nennt er nicht die, welche 



•) Die Nennung älterer Bücher, tagt er S. XV, wäre „ohne Gewinn 
für die Sache." Wir fragen: fordert ca nicht die Gerechtigkeit? 
sind tie etwa schon to ganz autgebeutet? und wären sie et: tollen 
die Auttchrtiber und IJcnfttzer die, Ehre haben, und nicht die, wel- 
che zuertl dat Wahre und dat Rechte lehrten? 



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Krebs: Antibarbarus der latein. Sprache. 



besser ist, als zwei der genannten, und geradezu für Gymnasial- 
schüler eingerichtet, nämlich die ron Schmalfeld (Eislehen 
i836. 8.), die in einem Jahre zwei Auflagen erlebt hat, und in 
den Jahrbb. v. Jahn, Klotz und Seebode 1837. 2. von Dr. Ellendt 
richtig gewürdigt scheint? Auch S. 54« wo die übrigen noch 
einmal genannt werden, wird er ubergangen. Dafs der Hr. Vf. 
sich wegen der Nichtnennung der altern Wei he auf sein Hand- 
buch der philologischen Bucherhunde beruft, kann dem Schuler, 
den schon der Antibarbarus hoch genug zu stehen kommt, 
wenig helfen , da jenes Buch 6 Tblr. hostet , und noch dazu keine 
Urtheile über die Bucher giebt. Wurden freilich die Urtheile 
klingen, wie das harte über Nolten an ein Paar Stellen, und 
das zweideutige über Gefsner, so wollten wir' lieber gar keine. 
Wenn er denn doch kurzlich S. XIII von den von ihm benutzten 
Hülfsmitteln , sowie , überhaupt von der Entstehung seines Buches 
spricht, so vermissen wir freilich manche, welche die Benützung 
eben so gut verdient hätten , als die , welchen diese Ehre wider- 
fahren ist. Welchen Reickthum von Bemerkungen bietet nicht 
(wenn wir auch des Erasmus von Botterdam Antibarbarus, 
und des H. Bebe Ii us Buch - de Abusione linguae Latinae apud 
Germanos nicht erwähnen wollen) der alte Laur. Valla und 
Thomas Linacer's Buch De emendala struetura sermonis Laiini 
dar, von welchem F. L. Becher im J. 1828 eine neue Ausgabe 
und Bearbeitung ankündigte, von der aber Bef. nicht weifs, ob 
sie erschienen ist: wieviel Gutes enthalten nicht die Observaliones 
von Goctenius und die von Gifanius, die Werke von C. Cel- 
larius und C. Günther, der Antibarbarus von J. G. Seybold, 
Fraschius de Latinismis et Barbarismis , J. Jensii Collectanea 
Latinitatie t das seltene Buch von J. Her, Seleclae de Lat. Ling. 
Obscrvationes (Lond. 1709. 8.) und das des Jo. Vorstius de La- 
tinitate Selecta et vulgo neglecla. Doch besonders bemerken wir 
noch eine altere und eine neuere hieher gehörende Schrift. Die 
ältere ist der Anhang zu der Chrestomalhia Petronio-Burmanniana, 
(Florent. 1734. 8. das Buch ist aber in Holland gedruckt,) deren 
Verfasser Verbürg seyn soll; die neuere das Specimen Glossarti 
anliqui cum notis editoris anonymi, welches im zweiten Bande der 
Miscellann, CritL von Ftiedcmann und Seebode (Wittenb. i8a3.) 
1. S. 21 — 27 steht, und die Lalütität eines Mannes geisselt, wel- 
cher, obgleich Kritiker des Cicero und scharfer, oft' bitterer und 
höhnender Tadler früherer und gleichzeitiger Herausgeber, in 
seiner eigenen Latinität doch einen wahren Schatz für den Auf- 

» » 



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sacher von Barbarismen geliefert bat. Vavassor wird einige- 
mal u, Scioppius und die zwei bekanntein Bucher des J. Vor* 
stius, sowie viele Neuern, oft angeführt*). 

Aber es ist Zeit, dafs wir uns zu dem Buche selbst wenden, 
dem wir sein verdientes Lob weder durch die bisherigen, noch 
durch die folgenden Bemerkungen schmälern, das wir vielmehr 
denen, für welche es bestimmt ist, recht angelegentlich empfeh- 
len wollen, ob wir gleich in dem Obigen unsere subjektive An* 
sieht auszusprechen uns gedrungen fühlten. 

Wenn der Verf. am Schlüsse der Vorrede sagt, es scheine 
ihm der grammatische (erste) Theil seines Buches fast noch 
wichtiger, als der sweite, der lexikalische; so sind wir hier- 
über ganz mit ihm einverstanden, obgleich der zweite, seiner 
Natur nach, mehr benutzt werden wird, während Mancher über 
den ersten nach einmaliger oberflächlicher Leetüre leicht weg* 
gehen durfte. Dieser erste Theil geht bis S. 66. Die Einleitung 
giebt den Umfang des vom Vf. als klassisch angenommenen Thcils 
der Literatur des goldenen Zeitalters an, der sich auf sehr we* 
nige Schriftsteller ausser Cicero , nämlich seinen Bruder Quin t us, 
einige seiner Correspondenten , die wissenschaftlichen Schriften 
des Varro, den Cornelius Ncpos (nicht ohne Zweifel) und den 
Livius (nicht ohne Bedenklichkeit) beschränkt. Etwas auffallend 
wird im ojen §. die im vierten geschehene Aufzählung beinahe 
wiederholt. Vom taten §. an werden Vorschriften über gram- 
matische Richtigkeit gegeben, und zwar aus der Formenlehre bis 
§. 23, aus der Syntax bis §. 95, woran sich dann noch bis zu 
Ende (§. 118 S. 66) Vorschriften über die Wahl lateinischer und 
fremder Worter schliefsen. Wir finden diesen ganzen Abschnitt 
in hohem Grade werthyoll und gröTstentheils richtig , können aber 
nicht umbin, zu bemerken, dafs der Vi. sich öfters etwas nach* 
lässig ausgedrückt hat, so dafs der, welcher Belehrung sucht, 
zuweilen nicht weifs, was empfohlen und wovor gewarnt wird; 
z. B. S. 17 §. a3 fängt der Paragraph an: v Unklassisch sind fer- 
ner « — Nach vier Zeilen fahrt er fort: »Auch nicht« — und 
zwei Zeilen nachher : » Ebenso nicht « — nun weifs der Lernende 

•) Noch ein für den Zweck dee Vfi. ergiebige« Buch erinnern wir uns 
nicht citirt gefunden zu haben, nämlich Plcxiaci (cig. Mich. ßro- 
cardi) Ltxicon Philoiophicum, Hag. Com. 1716. 4. Auch verdiente 
■ehr, mit dem trefflichen G. J. f'osaiui de f'itüs Sermoni*, da« Werk 
•eines Gegners Olaua Borrichtus (CogitatUmct de variu Ling. Lat. 
aetatibuM. Hafn. 167». 4.) verglichen au werden. 



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Krebs: Antibarbarua der latein. Sprache. «J87 

kaum, soll er » unk 1 assisch <a oder »klassisch* ergänzen. — Vcr* 
ner wünschten wir, der Verf. hätte, was sich oft ganz kurz ab- 
machen Hefa, öfter den Grund seiner Gebot« and Verbote ange- 
geben , z. B. warum bei den besten Schrift stel lern auf licet 'und 
quamvis der Conjunctiv folgt , nämlich weil sie in Concessivsätzen 
stehen, in welchen der Conjunctiv auch ohne licet und quamvii 
stehen müfste ; oder, warum denn uterque im Singular Beide, 
und im Plural beide Theile keifst, und darnach sich die Con- 
struetion bestimmt: nämlich, weil der Singular eigentlich bedeu- 
tet Einer wie der Andere, und der Plural die Einen wie 
die Andern. — S. 12 ist etwas zu entschieden behauptet nun- 
gium sey unklassisch, und mensum aliein klassisch. Vorsichtiger 
druckt sich U. L. Schneider in der Formenlehre L S. 344 aus. 

— S. i5 wird der Gebrauch von ausim verboten. Warum sollen 
wir denn nicht mit Livios, in seiner Vorrede, sagen: nec, si 
geiam , dicere ausim — ? Weil es sonst blos Dichter haben ? Fälle 
der Art finden sich auch bei Cicero, dessen Ausdrucke von sol- 
cher Form man doch nicht zu vermeiden braucht. — S. 17 med. 
fehlt ein Komma, wodurch ein Schuler verleitet werden konnte, 
Seestädte durch urbes ad mare sitae maritima* zu übersetzen. — 
S. 3o keifst der berühmte lateinische Bedner des i8ten Jahrhun- 
derts, dessen eigentlicher Nume Chelucci war, Joseph, a Paul., 
statt Pauliuus a Slo. Josepho. S/77 steht der Name umgekehrt, 
und doch wieder nicht richtig. — S. 38 §. 77 wird aus Cic. ad 
Att. 8, 16 citirt: illo ad vastandum Jtaliam, quam ad i/m- 
cendum paralo. Das sieht aus , als wenn Cicero die Construction 
des berühmten Homerischen Verses: ßoiXop iy& Xoöv oöov 
luu$vai 9 r t anu'Kta'bai hätte nachahmen wollen. Aber die Stelle 
heifst nicht so, sondern: conjungoque me cum homine magis ad 
vastandum Jtaliam , quam ad vincendum parato. Ebd. heifst es, 
das Particip. Füt. Passivi stehe in der Bedeutung des Dürfens, 
was mit Können oft vertauscht werden könne, nur in negativen 
Sätzen, oder solchen, in denen vix stehe. Aber de Finn. II, 94t 
77 steht doch ohne Negation und ohne vix der Satz: öpiniones, 

— quae in omni coelu pro/erendae sint. — S. 48 steht gpecula 
(kleine Hoffnung) für sperula. — S. 5o unter den aus Cicero 
aufgeführten bildlichen Ausdrücken vermissen wir in hac tem- 
pestate populi jaclamur ac Jluct ibus (pro Plane. 4« >1 *) UDa * 
die j lue tus concionum (pro Mil. 2, 5.), auch pro Plane. 6, i5: 
illae undae comiliorum* — S. 58 steht das unerhörte Wort ido» 
lolatri, wohl ein Druckfehler. — S, 6t« Der bekannte Gegner 



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988 Krebi: Antibarbarua der latein. Sprache. 

Wittenbachs bicfs van Hemcrt, nicht He inert, wie hier steht. — 
S. 62 sollte es nicht heifsen, der Taufname G o 1 1 1 o b werde heut- 
zutage unnöthiger Weise durch Aenosithcus ubersetzt. Unseres 
Wissens geschieht es entweder durch Aenothcus (welches eine 
nicht nur unnöthige, sondern sogar fatale Übersetzung ist: man 
denke nur an uivoyayLoq 9 und überhaupt an die mit anö- zusam- 
mengesetzten Worter) oder durch Aenesitheus , nach der Analogie 
des Namens jenes skeptischen Philosophen Aenesidemus. Doch 
nun wollen wir uns zu dem alphabetischen oder lexikalischen 
Theil des Werkes wenden, und eine Anzahl von Artikeln aus 
den ersten Buchstaben mit unsern Bemerkungen begleiten, ohne 
uns, was sich ja von selbst versteht, auf eine Lobeserhebung be- 
sonders interessanter Artikel oder einzelner Ansichten einzulassen. 
S. 75 sollte nicht blos gesagt seyn , ab oculis meis absconditum 
sey fremdartig : es ist hebiäischartig. Überhaupt erinnern wir 
uns nicht, in dem Buche die Bemerkung gelesen zu haben, dafs 
sich früher sehr viele , und auch in den neuesten Zeiten noch 
manche Hebraismen in die lateinische Sprache der Neuern durch 
die biblischen Ausdrücke und deren Angewohnung eingeschlichen 
haben, z. B. der biblische Gebrauch von caro, fides, servire, via, 
servare; wie sich deren aus derselben Ursache auch viele in allen 
neuern Sprachen finden. — S. 84 wird gesagt, adbiberc, in der 
Bedeutung auffassen, beherzigen, sey in lebhafter Rede 
brauchbar. Aber wir glauben doch die Einschränkung machen 
zu müssen , dafs es etwa nur dann anginge, wenn die Stelle des 
Ho rat ins, wo es vorkommt (Ep. I. 2. 67: nunc adbibc puro pec- 
tore verba puer) ausdrücklich als nachgeahmt bezeichnet würde. 
Gleich darauf unter addictus müssen wir bezweifeln, ob sich woMl 
schicklicher Weise der Unterzeichner eines Briefes selbst insigni 
ßde praeditus nennen konnte. — S. 86 wird auf Buhnkens Auto- 
rität hin adeptus in passiver Bedeutung als unklassisch verworfen. 
Dafs aber die bekannte Stelle in Cicero's Cato maj. 1,4: eandem 
accusant a de p tarn sich doch noch vertheidigen lasse, und nicht 
unwiderruflich in adepti verwandelt werden müsse, mochte aus 
der Allg. Schulzeitung i83a. II. 110. p. 881 zu ersehen seyn. — 
So wie S. 93 vor der Form Aeginensis gewarnt , und Aegineta 
empfohlen wird, so sollte unter P S. 36a auch angegeben seyn, 
dafs von den zwei von Cicero gebrauchten Formen Phliunlii und 
Phliasil (jene bietet der Polimpsest des Cic. de Bep. IL 4. p. 209 
uns. Ausg.) Cicero selbst ad Att. VI. 2. jene verworfen, und diese 
empfohlen habe. — Wenn S. 100 aggressio in der Bedeutung 



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Krebs: Antibarbarus der latetn. Sprache. 989 

von Angriff verworfen, und dafür impelus, petitin, oppugnatio, 
impugnatio u. a. (welches sind diese andern? fragt der Schuler) 
. empfohlen wird, so sollte dies nicht so proiniscne geschehen seyn, 
namentlich sollte zu dem in dieser Bedeutung seltenen petilio be- 
merkt werden, dafs es nur vom Zielen eines Gladiators auf sei- 
nen Gegner so gebraucht wird, und in diesem Sinne auch bei 
Cicero Cat. I. 6. steht. — Unter alienut S. 101 sollte die Con- 
struetion alienum majestate sua dueunt (de Div. I. 38. 82.) und 
negantjd esse alienum majestate deorum (de Div. II. 61. io5.) be- 
rücksichtigt seyn, die auch sonst noch bei Cicero vorkommt, z. 
B. ad Famm. V. 17. XI. 27. de Off. I. i3. 4»» vgl. das. Beier 
und zu der ersten Stelle de Div. die Note des Ref. S. 188 in sei- 
ner Ausg. — Mit Recht wird S. io3 Valckenaers wunderliche 
Anrede an Gott: coeptis noslris allabere benignus getadelt: aber 
der Ausdruck sollte nicht sowohl niedrig genannt werden, als 
vielmehr ein höchst unpassend angewandter Ausdruck der Dichter 
von einer Gottheit, die sich schwebend oder fliegend irgend ei- 
nem Orte naht, wie z. B. es Virgil von der Fama braucht Aep. 
IX. 4?4> — S. 104 sollte alta opinio und alt in r classis nicht 
blos bezweifelt, sondern entschieden für falsch erklärt seyn. — 
S. 108 und 141 sollte der Herausgeber des zweiten Theils der 
Varr. LeclL Mureti nicht Faese, sondein Faesi genannt seym — 
S. 110 sollte das Hemsterhuisische aper tum ingenium nicht nur 
zweifelhaft, sondern ganz ungehörig genannt werden. — Wenn 
S. n5 für unser Aristokrat empfohlen wird optimas , aus Cic. 
Brut. 89, 3o6: (optimales Mheniensium) , so bemerken wir erst- 
lich, dafs Einer ein Aristokrat im Sinne unserer Zeit seyn kann, 
ohne ein optimas zu seyn, zweitens, dafs überhaupt Aristokrat 
zweierlei bedeutet: erstlich ein Mitglied der Regierung eines sei- 
ner Verfassung nach aristokratisch regierten Staates, zweitens, 
einen Freund und Anhänger einer solchen Regierungsweise, von 
welcher Stellung im Staate er auch seyn möge. Beides zusammen 
aber kann optimas nicht bezeichnen. Übrigens ist Aristokrat im 
zweiten wie im ersten Sinne, wenn wir auf die griechische Wort- 
bildung zurückgeben, ein übel gebildetes Wort, das die Deut- 
schen den Franzosen abgeborgt haben. Aristo kra ti her wäre 
richtiger gebildet. — So haben wir auch S. 118 gegen impius, 
zur Bezeichnung eines Atheisten, einzuwenden, dafs es höch- 
stens einen praktischen , keineswegs aber einen theoretischen 
Atheisten bezeichnen kann. — S. 122 brauchte bei der Redens- 
art: in aurem Pontius, Scipio, inquil — nicht gesagt zu werden: 



990 Krebs : Antibnrbnru* der lateio. Sprache. 

»Cicero io 11 einmal so gesagt haben. c Die Stelle ist so gut be- 
glaubigt, als irgend eine andere, die -wir aus Anführungen sol- 
cher Schriftsteller kennen , welche Cicero '• Werke vollständiger 
vor sich hatten, als wir. Sie stand im, jetzt unvollständigen, 
Buche de Fato : s. die Ausg. des Ref. p. 652 ; und steht bei Ma- 
crob. Sat. II. ift. p. 391 ed. Zeun. in einer längern Stelle. — 
S. i3o ist cadit umbra bei Plin. Ep. II. 17. übersetzt: der Schat- 
ten sinkt. Das giebt keinen klaren Sinn. Es hei Pst weiter nichts 
als: der Schatten fallt (auf diese oder jene Seite, kurzer and 
länger). — Warum wird wohl bei certe und certo (S. \3j fg.) 
nicht der Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Ver- 
sicherung angegeben, und bei dem erstem nicht die so häufig 
stattfindende Bedeutung jedenfalls, auf jeden Fall — ? — 
S. 140 bei dem Plaut in ischen circumspice dum te helfst es, es sey 
te von circum per tmesio getrennt. Das ist eine seltsame Tmesis. 
Eine Tmesis wäre es, wenn Plautus gesagt hätte spiee dum c/r- 
cum te. Es ist hier nichts als das enklitische dum der Conver- 
sationssprache an das Verbum gehängt, wie hei Ueradum eadem 
isla mihi Tusc. II. 10,. 44. (vgl. das. die Anm. des Bef. p. 55a), 
memoradum: agitedum u. dgl. und die ganz naturliche Construc- 
tion aircumsplce te f wie bei Cic. Parad. IV. extr. nunquamne ts 
circumspicies ? — Was S. 140 über circumstantia gesagt wird, 
ist richtig. Aber wir vermissen die Bemerkung , dafs dieses Wort 
ein Versuch ist, das griechische ns^laraai^ zu übersetzen , dafs 
aber dergleichen versuchte Übersetzungen die Quelle vieler un- 
lateinischen AusdrÖcke, Wendungen und Constructionen sind. — 
Bei Classicus S. 144 ist ganz richtig angegeben, wie Klassiker 
ubersetzt werden mufs, wenn es Schriftsteller vom ersten Range 
bezeichnet. Wie aber, wenn man auch mittelmäfsige , ja sogär 
schlechte Schriftsteller darunter begreift? wie man denn oft die 
alten griechischen und römischen Schriftsteller überhaupt, bis 
auf einen sehr späten Zeitraum herab, Klassiker nennt, ohne 
Bucksicht auf Klassicität des Gehalts und des Ausdrucks , blos weil 
sie lateinisch und griechisch schrieben. Darauf giebt der Verf. 
keine Antwort. Und sie war leicht zu geben. Ebenso war bei 
colleclio, welches nicht für Sammlung gebraucht werden soll, 
wenn es clas Gesammelte bezeichnet, nicht schwierig, statt 
»anders«, zu sagen, wie denn? — Richtig wird über Commen- 
tarius (S. 148) -gesprochen : aber es wäre auch über commentum 
Etwas zu sagen gewesen, damit der Studirende, wenn ihm das 
von Lindemann herausgegebene. Commentum arlis Donati (Ups. 



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Krebs: Antibarbarna der Utein. Sprache. 991 



1820. 8.) in die Hände fallt, wisse, was er dabei zu denken habe. 

— S. 157 unter constare finden wir wieder das conslare inter om- 
ni* übersetzt: unter Allen bekannt seyn, was es doch eigent- 
lich gar nicht heifst, sondern constat inter omnes heifst: Alle sind 
einverstanden, es ist die allgemein herrschende Ansicht, constat 
allein aber — doch warum sollen wir hersetzen, was jedes gute 
Wörterbuch , besonders Freund , bietet. Aber warnen mufs mau 
vor der angegebenen Bedeutung, weil sie eine schiefe, ja falsche 
Ansicht giebt. — S. 144 »st ein seltsamer oder vielmehr unver- 
ständlicher Artikel. »Coelites, die Himmlischen, die Götter 

— nur poetisch fBr a)ii oder coelestes, was bei Cicero so vor- 
kommt.« Der Schuler fragt erstlich, was denn das was heifsen 
soll, und worauf es gehe? zweitens, was denn das so bedeute? 
also: was kommt denn wie vor? — Es sollte heifsen: »CoclUcs, 
statt dii, steht zwar im Somn. Scip. 1. (oder de Rep. VI. 9.), bei 
Cicero, ist aber dort in einem offenbaren jambischen Senar: 
Grates tibi \ Aga , summe Sol , vobisque, reliqui coelites — *) 
also poetisch. In der Prosa braucht Cicero, neben dii, auch 
coelestes : Off. 3 , 5 , 25. u. s. w. « — Unter degenerare , wo Bur- 
manns Fehler (zum Petron. p. 296) degenerare antiquam venusla- 
tem nachgewiesen wird , konnte die von uns oben angeführte 
Chrestomalhia Petronio-Burmanniana p. 193 angeführt werden. — 
Bei deliramentum S. 173 steht kein ürtheil. Es sollte dabei ste- 
hen: vorklassisch und nachklassisch. — Für desperatus, in der 
Bedeutung gefahrvoll, wird, neben discriminis plenus, auch 
aleae plenus empfohlen. Das ist aber poetisch , und wäre nur 
dann zu gebrauchen, wenn der Schreibende auf das Horazische 
periculosac plenum opus aleae bestimmt hindeutete. Denn obgleich 
Cicero de Di?. II. i5. sagt: non perspicis aleam quandam inesse 
hostiis deligendis, so sieht man erstlich doch, dafs er sich durch 
quandam gewissermafsen entschuldigt wegen des Gebrauchs von 
alea: zweitens wurde er doch weder mit, noch ohne Entschul- 
digung gesagt haben : hostiarum delectum aleae plenum esse. — 
S. 1O4 unter dispositus wird unsere Redensart: wohl oder ubel 
disponirt halb lateinisch genannt; sie ist aber halb franzosisch. 



') Der Ref. hat diesen Vers , der bisher immer als Prosa in der Rede 
des Cicero stand , in seinen Symbb. Crltt. ad Cic. III. o\ p. 12 nach- 
gewiesen, aber dort mehr das Poetische in der Form und in grate» 
gezeigt, als in coelites, welches doch vor Appolejus nicht in der 
Prosa vorkommt. 



992 Krebs: Antibarbarna der latein. Sprache. 

Dispositus in diesem Sinne ist gar nicht gebräuchlich gewesen , 
sondern, wie bei Hunderten ähnlicher Wörter, durch einen Mifs- 
verstand der Grundbedeutung in der franzosischen Sprache so 
genommen worden, und von dieser in die Latinität der Neuern 
gewandert. Bei dieser Gelegenheit bemerken wir, dafs wir eine, 
durchgreifende und umfassende Bemerkung über den Einflufs der 
romanischen Sprachen, besonders des Französischen, auf die La- 
tinität der Neuern, namentlich auch der Deutschen, vermifst ha- 
ben, obgleich bei einzelnen Ausdrücken (z. B. bei discursus, elo- 
gium, recommendare) der französische Ursprung bemerkt ist. 

Aber es ist Zeit, unsere Bemerkungen zu schliefsen, und, 
ungeachtet der mancherlei Ausstellungen , die wir, durch das 
ganze Buch hindurchgefuhrt , selbst zu einem kleinen Buche an- 
schwellen konnten, es recht angelegentlich Lehrern und Lernen- 
den an Gelehrtenschulen angelegentlich zu empfehlen. Freilich 
ist das Buch für Unbemittelte etwas theuer: zu theuer können 
wir es aber, bei diesem Umfange und dieser Ausstattung, eigent- 
lich nicht nennen. Findet es guten Absatz, dann ist auch sicher 
zu erwarten, dafs es mit jeder neuen Ausgabe, wie des Verfs. 
Anleitung zum Lateinischschreiben, vollkommener wer- 
den werde. Wo noch Nachbesserung nothig sey, und in wie 
fern , haben wir nicht blos in einzelnen allgemeinern Bemerkun- 
gen nachgewiesen, sondern auch durch die speciellern und die 
Art derselben angedeutet. Dafs auch noch Erweiterungen statt- 
finden können, wird man uns leicht glauben, da nicht nur die 
Möglichkeit, Barbarismen zu machen, unendlich ist, sondern auch 
80 viele Fehler, sogar vOn sonst lobenswerthen Schriftstellern, 
gemacht worden sind, dafs sich dem Vf. von selbst Zusätze ge- 
nug aufdringen werden. Da er z. B. concrelus aufgenommen bat, 
so wird er Wohl auch künftig abstractus aufnehmen, dann Worter 
wie adhoriatorius , adversitaUs* aequilibrium , alloculio , eliminare 
aliquem (Einen entfernen), amphibologia , eimelium, intffabiüs u. 
dgl. Und hiemit empfehlen wir denn das Werk zu ernster und 
fleifsiger Benützung, und sind überzeugt, dafs auch Lehrer sich 
noch daraus vielfach belehren können. 

Ulm. O. H. Moser. 



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N°.63. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

I 

" 

Der Mifs Grace Kennedy sämmtliche Werke. In sechs Bänden aus dem 
Englischen. Berlin, Eichler. 1835. 86. 

Die Romane , NoveHen und Erzählungen . einer in England 
berühmten, in Deutschland wenigstens bekannten und anerkann- 
ten Schriftstellerin, welche uns hier zum erstenmal gesammelt in 
einer guten Übersetzung geboten werden, sind insgesammt didak- 
tischer Natur. Damit ist aber der ästhetische Standpunkt für ihre 
Beurtheilung nicht ausgeschlossen. Die ächte Muse bleibt Muse, 
auch wenn sie nicht mehr das Schone, das ihre eingeborene Be- 
stimmung ist, zum alleinigen Ziele hat, wenn sie mit Selbstver- 
leugnung in fremde Dienste treten mufs. Freilich , eine Dienerin 
darf nicht ihren eigenen Willen haben ; Treue gegen den Herrn 
and Gehorsam ist das erste, was von ihr verlangt wird; sie darf 
sich nicht gehen lassen , sie darf nicht ihre eigenen Phantasien 
haben; das ist aber hart für ein Wesen, dessen ganze Persönlich- 
keit auf der Phantasie beruht. Indessen kommt sehr viel darauf 
an, wer die Herrin ist, deren Dienstmagd die Muse werden soll: 
es giebt gute Hausfrauen, die sich von geschickten und gewand- 
ten Mägden etwas gefallen lassen; es giebt einsichtsvolle und gu- 
tige, die eine cdelgeschaiTene Natur in der Dienerin zu erkennen 
und sie zur einflufsreichen Freundin , zur Vertrauten des Herzens 
zu erheben keinen Anstand nehmen. Endlich leuchten oft die 
hohen Eigenschaften einer Dienerin gerade aus der Unterdrückung 
am schönsten hervor, und wie jnan in alten Sagen oft von ver- 
bannten Königstöchtern liest , deren angeborene Hoheit sich ge- 
rade im erniedrigenden Dienste $er Knechtschaft aufs herrlichste 
und rührendste dargestellt, so könnte auch die Muse, die Him- 
-melstochter , im bärtesten Dienste ihre göttliche Abstammung 
bewähren. 

Von' allen Herrinnen, denen die Muse dienen kann, sind je- 
doch die edelsten, mildesten und eines solchen Dienstes immerdar 
würdigen , Religion und Philosophie. Sie kennen die Ebenbürtig- 
keit ihrer Dienerin ; und was in seiner ursprünglichen und gött- 
lichen Wurzel so eins ist, wie Sittlichkeit, Wahrheit und Schön- 
heit, kann auch in der endlichen und irdischen Spaltung sich nicht 
so fremd geworden seyn , dafs es nicht bei jeder Berührung sich 
XXX. Jahrg. 10. Heft. 63 



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994 Graco Kennedy'a Werke. 

wieder erkennet e und, wenn auch in künstlicher und vorüber- 
gehender Vereinigung , doch willig und anmuthig zusammenwirkte. 

Mifs Grace Kennedy 's Muse begiebt sich ganz in den freiwil- 
ligen Dienst der Religion, des Christenthums, ja der inethodisti- 
sehen Ascese; aber sie verliert von dem, was sie Achtes besafs, 
dadurch, dafs sie andern. Himraelsmächten dient, nicht so viel, 
dafs ihr Wort nicht immer noch zugleich ein Wort der Dichtung 
bliebe; ja, was an ihr unvollkommen erscheint, durfte zum Theil 
auf Rechnung ihrer eigenen , ursprünglichen Beschaffenheit , und 
nicht des Dienstes, zu setzen seyn. Dieses letztere fühlt auch 
der Übersetzer und gesteht es in seinem zweckmässigen Vorworte 
in Folgendem zu ; » Eine Seite dieser Schriften sagt zwar uns 
Deutschen mit Recht weniger zu: es ist für uns zu viel Berech- 
nung, zu viel bewufste Zweckmäßigkeit in der poetischen Anlage 
dieser Erzählungen, als dafs wir den dichterischen Werth dersel- 
ben so hoch stellen konnten, als es unter den praktischen, dem 
wirklieben Leben in seinen Einzelheiten zu sehr zugewandten 
Landsleuten der Verfasserin geschieht. Wir verlangen von wah- 
rer Poesie, dafs sie mehr die tiefere nothwendige Einheit und 
desto groTsere scheinbare Unordnung und Mannigfaltigkeit der 
Natur und Geschichte, von ewigen gottlichen Gedanken durch- 
drungen, als dafs sie eine nach stets bewufsten vereinzelten Zwe- 
cken geordnete Reihe von Menschen und Thatsachen uns vorfüh- 
ren .soll. Dennoch wird der nachdenkende Leser finden, wie in 
den Werken der Mifs Kennnedy die Tiefe des Gegenstandes nicht 
selten diese beengende Schranke durchbricht.« 

, Auf jenen Vorwurf des Übersetzers fufsend sagen wir unum- 
wunden, dafs die Fehler dieser Erzählungen mehr auf dem Ta- 
lente, dem Charakter und den kirchlichen Angewohnungen der 
Schriftstellerin selbst lasten, als auf dem didaktischen Genre selbst, 
in welchem sie arbeitet. Denn mehr Mannichfaltigkeit in Charak- 
teren und Sitten wäre naturgemäfser und wahrer, also auch be- 
lehrender gewesen. Doch wir ersparen unsre Bemerkungen hier- 
über auf die Nachrichten über die einzelnen Productioen der ver- 
schiedenen Bände, und schicken aus dem Vorwort noch etwas 
Weniges über die Verfasserin selbst voran. 

Mifs Grace Kennedy war die vierte Tochter von Robert «Ken- 
nedy, Herrn von Pinmore, in der -Grafschaft Äyr in Schottland, 
und der Frau Robina, Tochter des John Vans Aggery, Herrn von 
Barnbarrow in der Grafschaft Gallo way. Zu Pinmore 1782 ge- 
boren, begleitete sie schon frühe ihre Eltern nach der Nähe von 



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Grave Kennedy*« Werke. 995 

• • 

Edinburgh, und in dieser Hauptstadt brachte sie den gröfsten Theil 
ihres Lebens zu. Eine christliche Mutter legte den Grund des 
höheren Sinnes in ihr, den »eine grundliche Bekehrung« ver- 
klärte. Sie kehrte sich frühe von den leeren Lustbarkeiten der 
höheren Blassen ab, und ihr thätiger Geist trieb sie stets zu ern- 
sten Beschäftigungen , jedoch machte ihre ungekünstelte Beschei- 
denheit, ihr heiteres Temperament, ihre geistvolle mit feinem 
Humor durchwebte Unterhaltung sie zu einer höchst anziehenden 
Gesellschafterin. Die Neigung zur Schriftstellerci hatte bei ihr 
nichts Unweibliches, sie erfüllte alle häuslichen Pflichten aufs 
punktlichste, und schrieb so in der Stille, dafs ihre eigene Fa- 
miJie nichts davon ahnte, bis sie ein Werk beendigt hatte. Ihren 
ersten ungedruckten Versuch wagte sie 1811. Ihre folgenden 
Schiiften gingen bei ihr fast alle von dem Gedanken aus, dafs die 
schriftstellerische Tbätigkeit zur Beförderung des Christenthums 
sich zu ausschliefslich an die niederen und mittleren Klassen wen- 
de, und dafs es für die höheren Stände so gut wie keine Werke 
gebe, die, auf lebendige Weise in ihre Kreise und Beschäfti- 
gungen hineintretend, das Evangelium ihnen da recht nahe brin- 
gen. Die älteste ihrer Erzählungen scheint die Familie Aberley 
(S. Vorr. S. VII.), darauf folgten »Die beiden Freunde« 
(1822), »Jessy Allan«, »Pater Clemens« (Dec. 1823.), 
»Anna Rofs«,. »Campbells Besuch bei seinen irischen 
Vettern«, »Gottes wort und Me n sehen w ort« und »Dun- 
allan«, sämtlich im J. 1824. »Philipp Colvillc« blieb unvoll- 
endet. Sie starb nach einer schweren aber fieberlosen Krankheit . 
den 28. Febr. 182.5. Ihrem Wunsche gemafs waren ihre Schrif- 
ten anonym erschienen. 

Die vorliegende Sammlung giebt dieselben nach der chrono- 
logischen Ordnung, in welcher sie geschrieben sind. Den ersten 
Band füllen »die Familie Aberley« und »die beiden Freunde « , 
sehr uneigentlich Erzählungen betitelt ; denn in beiden überwiegt 
der didaktische Vortrag bei weitem die erzählende Form. 

»Die Familie Aberley« stellt das Christenthum, in seiner 
strengen, methodistischen Gestalt in die höheren Kreise der Ge- 
sellschaft eingeführt, dar. GeYtrud Aberley ist das jüngste Kind 
ihrer Mutter, deren Gemahl, Oberst Aberley, an einer Wunde 
in Ägypten gestorben ist, und der als junger Wittwe die Last zu 
Theil ward , einen Sohn und zwei Töchter zu erziehen. Gertrud, 
von Natur bescheiden, überlegsam und nachdenkend, verständig, 
Toll grofsartiger und dabei doch sanfter Anlagen, ton Jedermann 

m 

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Üüti Gracc Kennedy'« Werke. 

geachtet und geliebt, wird durch einen jungen Vetter, den die 
Gnade aus einem ausschweifenden Menschen zu einem wahren 
Christen gemacht hat, von aller Weltlichkeit bekehrt, und zieht 
durch ihr sanftes Beispiel noch mehr als durch ihr Wort allmäb- 
lig ihre ganze Familie, die verständige und tugendhafte, aber von 
dem Einen, was Noth tbut, früher noch nicht durchdrungene 
Mutter, die in Welteitelkeit ganz versunkene Schwester und ih- 
ren Druder Eduard zu sich herüber. Die Erzählung ist mehren- 
theils didaktischer Dialog, aber in diesem entwickeln sich die 
Charaktere auf eine so mannicbfaltige und naturliche Weise, und 
so objektiv, dafs man der Arbeit, welchen Titel man ihr auch 
geben will , Hunstgehalt nicht absprechen kann. Besonders ist die 
eitle Anna ein kleines Meisterstuck psychologischer Wahrheit, und 
ihre ungestüme Bekehrungssucht, nachdem sie eben erst, noch 
im unbehaglichen Gefühle eines ungewohnten Zustandes, von der 
Nichtigkeit der Weltlust aufgeathmet hat, ist mit tiefer Herzens, 
künde geschildert. Auch die Schilderung, die Eduard von sei- 
nem ersten Anstofse zur Sinnesänderung giebt, verräth den Pinsel 
der Künstlerin. Er erzählt seinen Besuch in einer Methodisten, 
kirche. 

v Als ich so da safs und die Kirche sich allmählig füllen sah, 
ham mir, ich mufs es bekennen, die Scene ziemlich unerfreulich 
vor. Ein höchst unliebenswürdiger Haufe armer Handwerker, 
hübscher (?) frommer W ? eiber und wofilhäbiger Bürger strömte 
herein, sich untereinanderdrängend und nach guten Sitzplätzen 
fahrend. Die Menscbenmasse nahm so zu, dafs in den Stühlen 
bald kein Platz mehr war, und auch die Gänge füllten sich. Ich 
fing schon an aufs Wiederfortgehen bedacht zu seyn, denn die 
Luft begann allmählig dich zu werden; und ein alter Taglö'hner, 
der seinen Sonntagsrock noch über alle seine Werktagslumpen 
übergezogen hatte , nahm neben mir Posto , und lehnte sich so 
über meinen Stand , dafs sein alter schmieriger Hut , den er in 
seiner rauhen, wer weifs wie lange nicht gewaschenen, Hand 
hielt, mir dicht unter die Nase kam.« — Gertrud: »Fiel dir 
denn gar nicht ein , wie stark des armen Alten Liebe zum Gottes- 
hause müsse gewesen seyn, dafs er nach einem plackvollen Tage 
sich noch entschliefsen konnte, zwei Stunden in der Kirche, und 
überdies stehend, zuzubringen?« — _ Eduard: »Nicht eher, als 
bis eine Bewegung von mir machte, dafs er sich umsah und mir 
nun wohl meinen Widerwillen abmerken mochte ; denn er trat 
auf der Stelle ein paar Schritte zurück , legte seinen Hut. auf den 



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* Grace Kennedy'* Werke. 997 

Boden, und stand nun, ohne sich anlehnen zu können. Aber kein 
Zug von Mifsvergnügen war auf seinem milden und doch männ- 
lichen Gesichte zu spuren. Das rührte mich.« 

Nun schildert Eduard die Ruhe und das Genüge , die in sein 
Gemüth einkehrten, während der Prediger die Gebete las , auf 
deren Inhalt er nicht einmal genau merkte, v Ich bin geneigt, 
sagt er , dies zum Theil dem vorher von mir verächtlich ange- 
sehenen alten Manne zuzuschreiben, dessen Blicke von Andacht 
und innerem Glücke zeugten. Sein Gesicht war etwas nach mir 
gekehrt und drückte während des Cultus viel Gefühl und selbst 
Erhebung aus. Wie viel reiner und schöner mag seine Seele 
im Vergleich mit deiner seyn, sagte ich zu mir. Würden wir 
beide in diesem Augenblicke der Welt entrückt und in die Nähe 
unsers Richters versetzt^ wer uns würde wohl fühlen, dafs er 
zurücktreten und dem andern den Platz einräumen müfste? Es 
war nicht schwer zu entscheiden, dafs das Loos den stolzen Sün- 
der treffen müfste, der wenige Minuten zuvor so lieblos mit dem 
armen Alten verfuhr. Als das Gebet geendet war, überredete 
ich den guten Alten mit vieler Mühe, dafs er sich auf meinen 
Platz setzte, und ich nahm den seinigen ein.« 

Die Predigt, welche Eduard nacherzält, gehört freilich ganz 
und gar der Lehre , und nicht mehr der Lehrpoesie an ; sie müfste - 
individueller in den Gang der Erzählung eingreifen, wenn sie als 
poetisches Motiv gebraucht werden dürfte, wie es z. B. Steffens 
in seinem Malcolm mit vielem Glücke gethan haf. 

Die verunglückteste Person in der ganzen Geschichte ist der 
Landprediger Rofs , eben weil er als die vortrefflichste angekün- 
digt ist. Da seine ganze Herrlichkeit sich vermöge der Anlage 
des kleinen didaktischen Bruchstücks nicht in Thaten sondern nur 
in Worten äussern und ausserdem nur noch aus den Versiche- 
rungen Anderer über ihn bekräftigt werden kann, sein inneres 
Seyn aber dadurch nur halb zur Anschauung kommt, so ,ist er 
eine religiös- moralische Gliederpuppe geworden, an welcher der 
ästhetische Sinn unmöglich ein Wohlgefallen haben kann. Auch 
noch sonst wäre manches an der Erzählung zu tadeln, so das 
Bestreben, selbst den Obersten im Grabe noch zum bekehrten 
Christen zu stempeln , um der frommen Familie den Schmerz zu 
ersparen, der in dem Gedanken liegt, dafs vielleicht ein Mitglied 
vom allgemeinen Himmelsglücke ausgeschlossen bleibt. Ein sol- 
ches Bestreben widersteht ebensowohl der historischen als der 
künstlerischen Natürlichkeit. 

* 



Uigitiz60 uy 



1)98 Grace Kennedys Werke. 

»Howard und Conway, oder die Religion im Mun- 
de und die Religion im Herzen «. entspricht seinem Titel 
nicht; denn man erwartet nach diesem einen Heuchler einem 
wahrhaft Frommen entgegengestellt. Die dialcgisirte Erzählung 
dreht sich aber um zwei Freunde, wovon der eine ein Ortho- 
doxer, der andere nichts weniger als ein Maulchrist, sondern nur 
ein Denhglaubiger ist. In diesem Aufsatze, in welchem das di- 
daktische Interesse das poetische bei weitem uberwiegt , wird die 
Einseitigkeit und Ausschliefslichheit der Verfasserin in religiösen 
Dingen aufs peinlichste fühlbar. Mifs Kennedy bann nun einmal 
davon sich nicht uberzeugen , dafs derjenige, der sich täglich und 
stündlich mit Ernst und Unterwerfung bei seiner Vernunft, alf 
der Gottesgabe und dem Gottesfunben , Raths erholt, am Ende 
doch demselben Logos dient, den ein Andrer, nicht eifriger und 
häufiger, als das wesentliche Wort, das die Welt geschaffen und 
in Jesus Christus Mensch geworden ist , anruft ; sie bann nicht 
glauben, dafs es oft nur ganz W r eniges bedürfte, um jenen Ra- 
tionalisten zu überzeugen, dafs diese Vernunft, dieser Logos, von 
ihm nur dann mit Hullnung des Erfolgs angerufen werden bann, 
wenn derselbe ein von ihm und allen Individuen unabhängiges, 
selbständiges Seyn und Leben hat, das beifst, wenn er Gott sel- 
ber ist. Und eben. so ferne liegt von ihr die Ahnung, dafs das 
wesentliche, lebendige in Christus Mensch gewordene Wort nichts 
andres ist als die absolute Vernunft, dafs mithin wahre Philoso- 
phie und Christenthum beine Gegensätze sind. Auch wird man, 
die Arbeit der Verfasserin selbst nur unter dem wissenschaftlich- 
didaktischen Gesichtspunkte betrachtet, hier bald inne, dafs diese, 
wie andere Erzählungen derselben , was die Urhunden unsres christ- 
lichen Glaubens betrifft, in einer glücklichen , vielleicht beneiden»- 
werthen Unbefangenheit geschrieben sind; denn keine Partei, die 
hier dargestellt wird, hegt britische' und apologetische Zweifel 
gegen die heiligen Schriften aes alten und neuen Testaments, we- 
der im Ganzen noch in den oinzelsten Theilen. Auch bei ihren 
Unbekehrtesten ist der Glaube an die Authenticität, ja selbst an 
die Inspiration des alten und des neuen Testaments, ziemlich un- 
angefochten; von den Vernunftlehren der altern Philosophie, der 
vollkommenen 'Persönlichkeit Gottes und der fortdauernden Per- 
sonlichbeit der Mcnschenseele, was Alles bei uns in Deutschland 
langst von der rationalen Wissenschaft selbst in ängstigenden 
Zweifel gestellt ist, gar nicht zusprechen. Den eigentlichen Un- 
terschied zwischen ihrem Philosophen und ihrem Christen bildet 



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Graco Kennedy'« Werke. 999 

in Beziehung auf den letzteren bei Mifs Kennedy nur einerseits 
ein unbedingter Autoritätsglaube in Beziehung anf alle einzelnen 
Sprüche und Verse der heiligen Schrift, und andrerseits ein ganz 
gleicher Respekt vor den geistigen Lehren der Erbsunde, der 
Erlösung, Versöhnung und Heiligung durch Christus allein, und 
vor den disciplinarischen Vorschriften der Sonntagsfeier, des ge- 
meinschaftlichen Familiengebcts und ähnlicher Gebote. 

Der zweite Band enthält drei Erzählungen, »Anna Rofs«, 
»Jessy Allan«, »der Besuch in Irland.« In »Anna Rofs« 
ist der abscheuliche Schlendrian moderner, herz- und seelenloser 
Erziehung und des damit verbundenen Gesellschaftstones vortreff- 
lich in dem Hause des Mr Rofs geschildert, in welchem die Waise 
Anna der Verordnung ihres Vaters gemäfs das erste halbe Jahr 
nach ihrer Eltern Tode erzogen wiid. Diese Schilderung bat 
einen um so gröfsern Reiz, als sie ganz getreu dem Leben nach- 
gezeichnet ist, und ohne alle Übertreibung die nichtigen Sitten 
einer Weltfamilie , den Unmuth eines gutmüthigen , in unbehag- 
lieber Ehe lebenden Mannes, die gänzliche Ausserl ichheit einer 
eiteln Frau, die Miethsseele einer gemeinen Gouvernante schildert. 
Die letztere bildet ein Genrebild, wie wir es noch nie so treu 
und sprechend gesehen haben. Die Familie des christlichen Land- 
pfarrers, bei welchem, als anderem Oheim, Anna ihr zweites 
Probehalbjahr zubringt und bei welchem sie sich entschliefst zu 
bleiben, bildet einen scharfen Gegensatz zu jener Stadtfamilie; 
auch hier ist die Zeichnung wahr, und nicht übertrieben. In der 
ganzen Erzählung hält das poetische Interesse dem didaktischen 
das Gleichgewicht, es finden sich keine langweilige Langen, und 
iie ist in jeder Hinsicht gelungen zu nennen. 

Die zweite Erzählung des zweiten Bandes, y Jessy Allan«, 
ist zur Empfehlung der Sonntagsschulen für verwabrlosete Kinder 
geschrieben, und der Vorredner vermuthet, dafs ihr eine wahre 
Geschichte zum Grund liege und vielleicht Mifs Kennedy selbst 
gegen das Ende als eine der Damen auftrete, welche die Sonn, 
tagsschule leiteten. Indessen weifs die Verfasserin auch diesen 
Gegenstand auf eine Weise zu behandeln , dato er sich weit über 
das Niveau sogenannter »wahrer Geschichten« erhebt, und die 
Roheit der niedern Stände , über welche christlichen Bestrebun- 
gen so schwer zu triumpbiren ist, ist mit einer Tiefe und Wahr, 
heit geschildert, die höchst ergreifend ist. 

Mehr poetischen Werth hat jedoch die darauf folgende Er- 
zählung, welche den Besuch eines frommen, schottischen Gärt- 



Grace Kennedy'« Werke. 



ners bei seinen Verwandten in Irland erzählt und die aus einem 
hellgeschliffenen Spiegel das leichtsinnige Elend des irischen 
Volkslebens zurückstrahlt. Die Tante des Helden hat einen iri- 
schen Pachter, einen Katholiken, geheirathet, ist aber selbst pro- 
testantisch geblieben. Diese besacht der junge Gärtner und be- 
kehrt ihren ältesten Sohn. Diese Bekehrung ist offenbar der di- 
daktische Zweck der Verfasserin; aber sie hat doch Geistesfrei- 
heit genug behalten, um das irländische Wesen vollkommen ob- 
jektiv und nicht nur in seinen Mängeln, sondern auch mit deren 
Entschuldigung und von seiner besseren Seite darzustellen. 

» An eioem frühen Vormittage (erzählt der Gärtner) trat Bal- 
linagh (das irische Ziel seiner Reise) zuerst vor meine Augen. — 
Der Mann, der mir den Weg zeigte, war ein grofser, kräftiger 
Irländer, der freundlich und gefällig seine Hütte verlassen hatte, 
mich zu geleiten. Er war mit einem langen grauen Bock beklei- 
det, der am Halse zugeknöpft, unten offen war, und dessen 
Ärmel leer hingen , da der Rock über die Arme geworfen war. 
Als er stehen blieb , mir Ballinagh zu zeigen , streckte er einen 
seiner kräftigen, völlig nachten Arme aus, um mir das letzte 
Stück Weges zu bezeichnen. Dann reichte er mir zutraulich die 
Hand , mir ein fröhliches Zusammentreffen mit meinen Vettern 
wünschend. Denn ich sey wohl, so meinte er, der junge Herr, 
den sie erwarteten. Ich fühlte mich durch seine freundliche, gut- 
müthige Weise sehr erfreut, doch konnte ich den Gedanken nicht 
unterdrücken, dafsin einem/ andern Lande ein paar so kräftige 
Arme nicht lange ohne ein gutes Hemd und einen Bock bleiben 
würden. Auch seine Beine waren nackt , aber er sah stark und 
munter aus, und so hatte ich schon viele gesehen, seitdem ich 
Irland betreten. « .... Nun besieht er sich das in hüglichtem 
Getreidelande gelegene Pächterhaus. » Reiner der Hügel war von 
beträchtlicher Höhe, und alle waren sie auf dieselbe Weise cul- 
tivirt, während die tieferen Gründe dazwischen grün oder sumpfig 
waren. So breitete sich das Land eine gute Strecke Weges vor 
mir aus. Es standen wenig Bäume darauf, aber weiter hinaus 
war das Land hübsch waldig. Eine Viertelstunde links vom Pacht- 
hole stand eine schone alte Wiche und ein hübsches Pfarrhaus 
daneben, beide vom Wald umkränzt; links eine katholische Ka- 
pelle« . . . Als ich näher ao Ballinagh herankam, konnte ich an 
dem Bauche, der an einigen Stellen mir aus dem Erdboden zu 
horamen schien, die Wohnungen der Leute entdecken. Die erste 
Hütte, auf die ich stiefs, überraschte mich ausserordentlich. . . . 



Grace Kennedy» Werke. 



1U01 



Es war nichts da , was für einen Weg hätte gelten können , der 
zu dem Gehöfte führte; aber viele Fufspfade waren nach ver- 
schiedenen Fufspfaden getreten , und einer führte beinahe gerade 
auf die Hütte hin. Er durchschnitt einen oder zwei Hügel , wel- 
che dazwischen lagen.« . . . Nun kommt er an die Hütte. »Sie 
Mar an den Hügel angebaut, — das Dach mit Moos und Gras 
überwachsen , und obgleich ein Schornstein da war , so zog der 
Bauch doch durch die Thfire fort , die ich aber noch nicht sab. 
Indefs hörte ich fröhliche Stimmen spielender Kinder ; und als ich 
den Abhang hinunter gelangte, wurde ich auf dem grünen Platze 
vor der Thür ein halb Dutzend junger, fast nackender Wesen 
gewahr, die sich herumtummelten und balgten, lachten und fröh- 
lichen Muthes schwatzten. Eins trug ein Hemde, dos für ein viel 
gröfseres Kind gemacht war, und nichts weiter; ein anderes lief 
in einem Westchen herum und hatte seine schnellfüßigen Beine 
unbedeckt; kurz, ein Anzug schien vertheilt unter Alle.« 

Mit gleicher Lebendigkeit ist das ganze irische Wesen ge- 
schildert, und was Reisebeschreibungen und mündliche Berichte 
Beisender uns über jenes Land sagen, damit stimmt die Novelle 
vollkommen zusammen und vereinigt Alles zu dem anschaulichsten 
Bilde. Nur die Bekehrung ist in methodistischer Härte gehalten. 
So rührend uns die Dichterin den jungen frommen Katholiken 
schildert, so lieblos lauten die Worte, die sie ihrem pietistischeu 
Eiferer aus Schottland gleich anfangs gegen ihn in den Mund legt: 
»So seyd ihr alle Papisten u. s. w.« S. 10. Ein dogmatischer 
Nachtrag zu dieser Novelle, »Gottes Wort oder Menschen Wort?« 
schliefst den zweiten Band. 

Der dritte und vierte Band umfafst die nach Ausdehnung und 
Inhalt eher den Romanen beizuzählende Novelle Dunallan, in 
welcher sich die Verfasserin am freiesten über den engeren di- 
daktischen Gesichtskreis erhoben und ihren Begebenheiten und 
Charakteren ein selbständigeres Leben eingehaucht hat. Doch hat 
das Werk unter seiner Ausdehnung gelitten , und der zweite Tbeil 
der Novelle fristet ein hier und da mühsam hinausgezogenes Le- 
ben durch mehrfache Digressionen ins Gebiet der Lehrpoesie. 
Wir wollen versuchen, dem Leser einen kurzen Überblick über 
die Fabel und deren Behandlung zugleich zu geben. 

-Catharina Dunallan, ein liebenswürdiges Weltkind , die schon 
in frühester Jugend ihrem Vater , einem Lord, das Versprechen 
gegeben hat, sich -seinen Absichten zu fügen, erwartet in banger 
Unruhe den ihr von Kindheit ao bestimmten Bräutigam, einen 



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1002 Grace Kennedy 's Werke. 

auf langen Wanderungen angeblich verw ildertcn'und verdorbenen 
Vetter gleiches Namens, den sie als 14jährigen Knaben wohl ge- 
kannt und nie leiden mochte, und von dem jetzt Elisabeth, ihre 
vertraute Freundin , ihr ein häßliches Bild als von dem schänd- 
lichsten Heuchler entwirft. Catharina ist an dem Tage, wo sie 
jenen erwartet, von Freunden und Anbetern umgeben, unter 
welchen sich der geistvolle und eifersuchtige St. Clair auszeich, 
net. Endlich erscheint Dunallan , während die Gesellschaft auf 
einem Spaziergange begriffen ist. Hier wollen wir die Dichteria 
selbst sprechen lassen: 

y Catharine wagte es nicht ihre Augen aufzuschlagen ; sie 
wurde bleich and zitterte heftig. Das ist Herr Dunalian, flüsterte 
Elisabeth ihr zu; ich erinnere mich seiner noch recht wohl. Er 
sieht ja recht freundlich aus. Catharine blieb stumm. Die Übri- 
gen waren vorangegangen , und der Lord stellte ihnen zuerst 
Dunallan vor. Dann trat er zu Catharine und sagte : Mein liebes 
Kind, dein Vetter! Elisabeth, Sie werden sich des Herrn Dun- 
allan wohl noch erinnern! Catherine blickte auf, Dunallans Augen 
waren freundlich auf sie gerichtet ; sie begegnete seinen Blichen 
und errothete lebhaft. Sie schämte sich, blöde Furchtsamkeit 
blicken zu lassen, die, wie sie besorgte, aus ihrem Schweigen 
und Errüthen Dunallan entgegentreten mufste; doch konnte sie 
kein Wort herausbringen; vielmehr, indem alles, was sie von 
ihm gehört hatte, vor ihre Seele trat, bemächtigte sich Verach- 
tung, Stolz und Widerwille aufs Neue ihrer Seele, und wenn auch 
stumm, ging sie mit aufgerichtetem Haupte weiter, indem sie 
mit grofsem Selbstgefühl vor sich hinsah. Nun fing Dunallan ein 
Gespräch mit Elisabeth an. Selbst der Ton seiner Stimme war 
Catherinen unangenehm, denn er war ganz anders, als sie ihn 
sich bei dem Manne gedacht hatte, dessen Bild sie, so lange schon 
ihrer Einbildungskraft vorgestellt halte; er sprach sehr sanft und 
leise.« (S. 20.) 

In dieser Stimmung vergehen der Jungfrau mehrere Tage. 
Indessen entwickelt sich Dunallans Charakter vor ihren Augen ganz - 
anders, als sie gedacht, und seine Anwesenheit ist ihr nur ein 
Zwang, weil sie sein Urtheil furchtet und oft besorgt, es mochte 
ungunstig für sie ausfallen. Gefiel ihm, was sie geäussert, so 
wird ihr Herz leicht, und sie bekommt Muth weiter za sprechen, 
während sein ernster Blick bei einem leichtsinnigen Worte sie 
drückt, und unfähig macht, an irgend etwas, das vorkommt, 
rechten Theil zu nehmen. Dieser Bück enthält? eine Anklage 



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Grace Kennedy « Werke. 1003 

gegen Alle in der Gesellschaft, die ihr unerträglich dünkt. Selbst 
der spirituelle St. Clair kann dagegen nichts als schale Sophiste- 
reien vorbringen. (S. 3a — 34«) 

Kurz, der Leser merkt bald, dafs in Dunallan ein Bekehr- 
ter, dafs ein Methodist vor seinen Augen steht. Auch Catharina 
wird irre an ihrem eigenen bisherigen Widerwillen. »Aber sag' 
Elisabeth, spricht sie, was sollen wir mit all den unerklärlichen 
garstigen Geschichten anlangen, die wir von diesem selben rät- 
selhaften Dunallan gehört haben?« — »O, sie können nicht 
wahr seyn!« erwiedert die schon ganz für ihn gewonnene Elisa- 
beth. Wirklich zeigt Dunallan bald darauf in Yermogensangele- 
genheiten einen Edelmuth , der ganz mit Catharinaus eigner Den- 
kungsweise übereinstimmt. Auf einem Spaziergange öffnet sich 
endlich beim Anblick der Natur seine edle Seele und seine Christ- 

• 

liebe Gesinnung ganz vor ihr; aber höhnische Gespräche seines 
Nebenbuhlers St. Clair verfuhren auch Catharinen zu unedlen 
Worten, und eine harte Erwiederung Dunallans macht sie noch 
mehr unglücklich als zornig. Zitternd vernimmt sie bald darauf 
von ihrem Vater, dafs die Stunde der Trennung vom Vaterhause 
bevorsteht. Vortrefflich wird nun ihr« Scheu vor dem künftigen 
Gatten und jenes Aufwogen eines Hasses, der jeden Augenblick 
bereit ist in Liebe umzuschlagen, geschildert. Endlich kommt 
der ernste Morgen (S. j3 ff.). Dunallan, immer freundlich, wird 
mit seiner lieblosen Geliebten getraut, und sie rollt halb ohn- 
mächtig mit ihm im Wagen davon. 

» Sie wollte das Fenster neben sich niederlassen ; Dunallan 
bot ihr seine Hülfe an, aber seine Hand zitterte ebensosehr als 
die ihrige , und sie war nun über die Traurigkeit und die Bewe- 
gung erstaunt, welche sein Gesicht verrieth; seine Augen leuch- 
teten von Thranen , als er das Gesicht von ihr wandte. Der ru- 
hige Ernst, mit dem ihn ihre Einbildungskraft sich immer vor- 
halte, war nun ganz verschwunden, sie vergafs sogar ihr eignes 
Unglück über dem seinigen, indem sie dachte, wie selbstsüchtig 
es doch von ihr sey, dafs ihr nie eingefallen, er küone vielleicht 
noch unglücklicher seyn als sie.« — »Vergifs, liebe Catherine, 
die letzten Tage, spricht er endlich; denke blos daran, dafs dir 
jetzt ein Freund zur Seite steht, der vor Gottes Augen gelobt 
bat, für dein Glück zu sorgen. Du selbst sollst es bestimmen, 
worin dieses Glück für dich bestehen soll. Deutlich habe ich 
deinen Widerwillen gegen diese aus äusserlicben Bücksichten ge- 
schlossene Verbindung bemerkt, welche du aus Gehorsam einge- 



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1004 



Gracc Kennedy « Werke. 



gangen bist. Allo Mittel, die mir zu Geböte standen, babe ich 
versucht, um dir deine Freiheit wieder zu geben; aber alles war 
vergebens; mit äusserstem Widerstreben bin ich gezwungen wor- 
den , dich deiner Heimath zu entreifsen und der freien Wahl dei- 
nes nächsten Freundes dich zu berauben. Alles, was ich jetzt 
heilen darf, is* , dal's ich dich wenigstens nicht unglücklich ma- 
chen werde.« (S. 78. 79) 

Im Verlauf dieses Gespräches, in welchem die bewegte Ca- 
tharina ihm wenigstens getreue Pflichterfüllung verspricht, ergibt** 
es sich , dafs Dunallan seiner Braut dreimal geschrieben hatte, 
um sie ihres durch den Lord gegebenen Wortes zu entbinden , 
und dafs der Vater diese Briefe unterschlagen. Eine Erklärung 
fuhrt die andere herbei. Hätte der Homan eine Novelle werden 
sollen, so wäre das Ende hier nicht ferne gewesen; aber die Dich- 
terin wollte hier Charaktere entwickeln, nicht Situationen schürzen 
und losen. 

So läfst sie ihre Heldin zwar von Dunallans Unterhaltungs- 
gäbe eingenommen , von seiner religiösen Denk- und Gesinnungs- 
weise ergriffen werden; aber diese tritt auf seinen Gutern doch 
nur als seine Scheingemahlin auf. Hier findet sie freilich auch 
alles ganz anders, als die Verläumdung es ihr geschildert hatte. 
Er sollte der härteste Gutsherr in der Gegend seyn , sie findet 
in ihm den geliebten Vater freudig Untergebener; das Schlofs 
steht auf einem Felsenvorsprung in einer herrlichen Natur, und 
sieht Uir im scheidenden Sonnenstrahle wie ein Paradies entgegen. 
So verlegen und befangen sie ist, so fühlt sie sich doch froh und 
glücklich in ihrem Herzen. Allmählig findet» sie sich in die christ- 
liche Ordnung des Hauses, die, wie sich denken läfst, von Mifs 
Kennedy mit Vorliebe und Ausführlichkeit geschildert wird; ihr 
Verhäitoifs zu Dunallan bleibt indessen ein jungfräuliches. Einer 
edeln Tante Dunallans und ihren Kindern, der Mrs Oswald, kommt 
Catharina bald ganz nahe; von ihr erfährt sie den Ungrund aller 
über ihres Gatten späteres Leben ausgestreuten Verleumdungen, 
und die unglücklichen Verhältnisse seines elterlichen Hauses (S. 
1 1 1 ff.). Er selbst führt sie allmählig ins Christenthum ein , wo- 
bei das Widerstreben ihres natürlicbeu Menschen sehr aufrichtig 
und ohne Bücksicht geschildert ist (S. 117 ff.). 

Eine Mission nach Petersburg, welche mehr mit christlichen 
Interessen als mit Politik zusammenhängt, entführt ihr bald dar- 
auf den Gatten, der es nicht wagt, die Freundin, von deren Nei- 
gung er noch keine Ahnung hat, zur Mitreise zu bestimmen, 



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Grace Kenncdj's Werke. 1005 

» - 

wahrend sie sich doch im Innersten darübei abhärmt, dafs er im 
Stande ist ohne sie abzureisen. In ihrer Einsamkeit blicht Ca- 
tharina auf die sonderbaren letzten sechs Wochen zurück. Es 
ist ihr jetzt unbegreiflich , wie sie sich gegen den mächtigen Ein- 
druck von Dunallans Vorzügen, so lange sträuben konnte. »War- 
um machtest du die Augen zu beim Anblick seiner edeln Gerad- 
. heit und des sanften Ernstes seines Benehmens, und die Ohren 
zu vor dem richtigen Takt , dem überwiegenden Talent, der stets 
sich gleich bleibenden reinen Gesinnung, die aus jeder Unterhal- 
tung mit ihm hervortrat? . . . Und nun ist dir dies entrissen, 
gerade da du anßngst zu fühlen , wie es immer mehr deine 
Freude ward, sein Wohlgefallen, seine Zuneigung als die Quelle 
all deines Glückes zu betrachten!« (S. 164) Sie malt sich nun 
seine grofse Selbstbeherrschung und Überlegenheit in Allem, dem 
anmafsenden , aber geistvollen St. Clair gegenüber, aus; seine 
unwandelbare Zartheit gegen Alle in der Gesellschaft, während 
sie jeden Anlafs wahrnahmen, um Streit mit ihm anzufangen, oder 
Dinge, die ihm ehrwürdig oder lieb waren, lächerlich zu machen 
oder herabzuwürdigen. — Schon früher hatte ihr Dunallan das 
Geständnifs gemacht , sein Sinn sey durch eine sehr bittere, Fü- 
gung geändert worden, und alle seine Hoffnung ausgesprochen, 
dafs sie ohne solche schmerzliche Mittel zu demselben Ziele ge- 
langen werde. Indefs nun sie an dieser Wiedergeburt nach sei- 
ner Vorschrift arbeitet , und in Folge der wachsenden Umwand- 
lung Dunallans Stelle in der Hausandacht vertritt (S. 178 ff.), 
arbeitet sein erster Brief an ihrer Sinnesänderung mit aller Macht. 
Wirklich ist sie nach vierzehn Tagen einsamen Nachdenkens zum 
Glauben ihres Gatten innerlich bekehrt , und Mstrfs St. Clair mit 
ihrem Sohn mufsten zu ihrer Beschämung bei einem Besuche, 
in welchem der junge St. Clair seinen Triumph zu feiern hoffte, 
die grofse Verwandlung mit ansehen , welche mit Catharina in 
Beziehung auf ihre Gesinnungen im Allgemeinen und namentlich 
gegen Dunallan, vorgegangen ist. (S. 194 ff.) Mit diesem ver- 
hafsten Besuche trifft auch ein neuer Brief von Dunallan ein, der 
(S. 2o5 — 208) ein ganzes Buch ausmacht, und als Episode des 
Romans die ganze Jugendgeschichte des Helden ohne Rückhalt 
der Freundin erzählt. Wir erfahren daraus , wie Dunallan zu 
seiner jetzigen Denkweise gekommen ist. Aus den Armen einer 
frommen Mutter von einem leichtsinnigen Vater in eine öffent- 
liche Lehranstalt verpflanzt, fühlte er sich hier zu zwei religiösen 
und geistreichen Jünglingen hingezogen, obgleich ihre Ansichten 



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1006 Gnce Kennedy« Werke. 

etwas Empörendes und Widerliches für ihn hatten. Nach seiner 
Trennung von ihnen wird er in die Liebesstücke eines schonen t 
vornehmen, aber sittenlosen Weibes, das gewifs nach der Natur 
und mit seltener Weltltenntnifs geschildert ist, hineingezogen 
und sinkt in den Armen einer fünfzehn Jahre altern »Aspasia* 
zum gemeinen Ehebrecher. In diesem Taumel beantwortet er die 
liebevollsten Briefe seiner beiden Freunde nicht, und auch der 
Besuch Churchills, des einen derselben, wirbt nicht, was er 
. sollte. Doch — 

»Als ich seinen Wagen abfahren horte, war es mir, als sey 
ich nun dem Teufel preisgegeben. Es war Churchill gelungen, 
wenn auch nicht vom Laster mich abzuziehen, doch einen Dolch 
in mein Gewissen zu stofsen. . . . Aspasia versuchte , was sie 
vermochte, mich zu beruhigen und zu unterhalten; und so lange 
ich bei ihr war , vergafs ich mein Elend zuweilen , und ihre Harfe 
und ihre Stimme verscheuchten die Wolken. Zu andern Zeiten 
aber mischte sich in meine Liebe das Gefulil des äussersten Elend*. 
Oft hatte ich eine düstere Freude daran, den herzzerreißenden 
Gedanken, die mich erfüllten, mich ganz und gar hinzugeben. 
Ich betrachtete Aspasia, während sie die Harfe spielte und mir 
vorsang; ich bat sie fortzufahren, damit ich noch langer sie be- 
trachten könnte ; und indem sie so mir zu gefallen suchte , und 
ich ihre vollendete Schönheit anstaunte , malte mir meine Phan- 
tasie die schöne Stirn, die auf den Schlafen und Wangen durch- 
schimmernden blauen Adern, die seelenvollen Augen, den feinen 
Mund, die ganze liebliche Gestalt — im Grabe liegend, kalt, 
bleich, sich schwärzend, von Wurmern zerfressen, verwesend.« 

Erst der Tod seines Freundes Churchill , dessen Zeuge Dun- 
allan ward , sprengt indessen seine schimpflichen Bande (S. 347 
— a65). Auf der Rückreise in dem Gasthofe eines kleinen Ortes 
trifft er mit der jetzt verabscheuten Geliebten zusammen (S. 266 ff.) 
und sagt sich schriftlich von ihr los. Aber der Zufall fuhrt ihn 
noch mit der Einsamen zusammen, die ohnmächtig in seine Arme 
sinkt. Dunallan wird deswegen von ihrem sie begleitenden Bru- 
der, dem Oberst Harford, zur Rede gesezt. Aber der Oberst ist 
ein Christ, die Unterredung endet nicht nur ohne Zweikampf, 
sondern selbst freundlich, und mit dem Versprechen Dunallans, 
augenblicklich ins Ausland zu verreisen. Wenige Tage darauf 
schifit er sich mit einem Freunde, Namens Clanraar, nach Italien 
ein und geht später in die Schweiz. Aspasia findet sich in die 
Trennung und ist wieder auf ihre Weise glücklich. Zu dieser 



* 

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Grace Kennedy'« Werke 1007 

■ 

Zeit erfährt Danallan die Wunsche seines Vaters, des Lords. 
Jetzt erst wird er aber auch ein achter Schuler seines Terstorbe- 
nen Freundes Churchill, und Seine Bekehrung vollendet sich. 
Jetzt hat er die Quelle aller wahren Erkenntnifs, aller wahren 
Kraft und Tugend gefunden. »Und dafs du, meine theure Ca- 
tharine, sie finden mögest, ist mein heifses und anhaltendes 

Gebet.« „ „ . , 

Dieser Brief, bei dessen Empfang St. Clair zugegen war und 
mit Gift im Herzen abgereist ist, vervollständigt auch Catharinens 
Umwandlung und erhöht ihre Liebe zu Dunallan. Sic schreibt 
ihm zwanzig Briefe. Aber, unbegreiflich! auf keinen erhält sie 
Antwort, bis endlich ein eiskaltes Billet des Geliebten aus der 
Ferne kommt, das auf ihre Äusserungen gar keine Rucksicht 
nimmt und ganz trocken sagt: »Meine Rückkehr soll in unserra 
Verbältnifs nichts ändern.« (S. 3i5.) 

Catharine wirft sich auf ihre Kniee und weint bitterlich, in- 
dem sie Gott bittet, er möge ihr Ergebung in seinen Willen 
schenken. Mit diesem Räthsel schliefst der erste Band, und der 
zweite schiebt seine Losung ungebührlich lange hinaus und ver- 
liert sich in elegische Längen, die aber keineswegs drastisch und 
magisch sind. Vor nichts furchtet sich Catharina so sehr , als'vor 
Dunallans Rückkunft. Aber auch durch diese (S. 18 ff.) wird das 
Dunkel noch lange nicht aufgeklärt, und — seltsam — Beide be- 
tragen sich mit Duldung gegeneinander, als die Beleidigten, als 
die Gekränkten. Mit Rührung sieht Dunallan das acht christliche 
Wirken seiner Gattin im Schlosse, aber um so trüber lagern sich 
die Wolken des Zweifels auf seiner Stirne (S. 39). Die Krank- 
heit und der Tod von Catharinens Vater (S. 42 ff.) bringt endlich 
die verstimmten Liebenden einander wieder näher. Der alte Lord 
stirbt durch seinen Schwiegersohn bekehrt (S. 67). Und jetzt ist 
Catharinens Gatte Erbe seines Titels und seiner Guter. 

Eine neue bevorstehende Reise Dunallans zu seinem Schwa- 
ger Hercourt , einem in den elendesten Umständen verzweifelnden 
unbekehrten Weltmenschen , fuhrt endlich unter einer kurzen Cor- 
respondenz der Gatten allmählig die Entdeckung herbei, dafs Dun- 
allan statt der ächten Briefe Catharina s täuschend nachgemachte 
erhalten habe, die voll herzloser Kälte waren (S. 87 ff.). End- 
lich zeigt ihr Dunallan einen angeblich an ihren frühem Bewer- 
ber St. Clair gerichteten Brief Catharinens , der ebenfalls unä cht 
ist, und in welchem sie sich gegen »den Freund ihrer Seele« 
beklagt, mit einem so sonderbaren Manne verbunden zu seyn, der 
niemals ihre Zuneigung wird gewinnen hönnen. Dieser Brief wurde 
io Dunalians Hände gespielt. 

Das teuflische Truggewebe kommt nun ganz zum Vorschein. 
St. Clair, von Jugend auf ein geschickter Falsarius, hatte, seit 
jenem Besuche Rache kochend, alle die Briefe nachgemacht, um 
Dunallan und Catharine zu entzweien. Catharine lafst sich von 
Dunallan das Versprechen geben, auf keine Weise eine Unterre- 
dung mit St. Clair zu suchen, dann erneuern sie die Gelübde ih- 



1008 Cracc Kennedy'« Werke. 



res Ehebundes, und — »doch Bücher wären nothig , um alles zu 
erzählen, was nun in den ersten Stunden volligen gegenseitigen 
Vertrauens sie sich erzählten und erinnerten und aufklärten. « 

Aber die Verfasserin, eine etwas unbarmherzige Methodistin, 
lüfst ihren Helden noch vor der Nacht seine Berufsreise antreten, 
damit wir ja nicht zweifeln, dafs die Ehe zwischen den beiden 
geistig nicht ganz vereinigten % Gatten noch immer eine Engelsehe 
bleibt. Die Gattin begleitet ihn bis zu dem Wohnsitz ihrer ver- 
heirateten Freundin Elisabeth, wo sie manche christliche Be- 
kanntschaft macht, einen Brief voll Verachtung an St. Clair schreibt 
(S. 120 ff.) und endlich in der verworfenen Lady Fitzhenry Dun- 
allans Aspasia kennen lernt (S. i5o). Dunallan berichtet in zärt- 
lichen. Briefen über die Seh m erzenst age , die er am Wahnsinns- 
lager seines unglücklichen Schwagers zubringt. Auch den St. Clair 
hat er zufällig bei seinem Freunde Clanmar gesehen, seine .Mie- 
nen und Gebehrden waren so halt als verächtlich. (S. 169.) — 
Jetzt bleiben Dunallans Briefe auf ängstliche Weise aus. Endlich 
meldet ein Brief von Clanmar, dafs Dunallan eine Wunde erhal- 
ten hat, von der er, sich schwer erholen wird (S. i83). »Ich 
reise zu ihm hin « , ruft Catharina aufspringend , noch ehe sie 
weiter liest und erfährt, dafs ein meuchelmörderischer Angriff 
St. Clairs die Wunde verursacht hat. Ein zweiter Brief ist au 
Elisabeth von dem jungen Cameron, auch einem ehemaligen An- 
beter Catharinens, gerichtet, in der er seine durch Eifersucht 
herbeigeführte Tbeilnahme an St. Clairs schändlichem Betragen 
gegen Dunallan reumuthig behennt und die ganze Geschichte aus- 
fuhrlich berichtet (S. 188 ff). 

Catharine findet ihren Gemahl zum Tode wund (S. 200), aber 
sie und sein alter frommer Jugendfreund Walderfort pflegen und 
der Arzt rettet ihn. Inzwischen sind St. Clair und Cameron ge- 
fänglich eingezogen worden (S. 219); der genesende Dunallan 
hat den Trost, seinen wahnsinnigen Schwager unter einem Strahl 
der ChristenhofFnung verscheiden zu sehen (S. 241 ff). Aber 
kaum erstarkt mufs er vor dem Richter als Zeuge gegen den vor- 
geführten St. Clair auftreten (S. 294 ff.). Er entledigt sich dieser 
Pflicht mit der christlichen Schonung. ^ Dieser aber sieht den Rich- 
ter scharf an und sagt dann mit leisem tiefem Tone: Mylord , ich 
will eine Vertheidigung vorbringen, die mich aus aller Schande 
befreit.« Er greift in seine Brust und zieht eine Pistole, die er 
auf Dunallan abfeuert, deren Schufs aber in die Wand fährt. Mit 
seiner zweiten erschiefst er sich selbst, vor den Augen seiner ver- 
zweifelnden Mutter, auch Aspasia's, die dies furchtbare Ereignifs 
mit Entsetzen und Gewissensschrecken erfüllt. 

Catharina und Dunallan, tief erschüttert, aber inniger ver- 
einigt als je, brechen am andern Morgen in ihre Heimath auf. 

(Der Beschlu/s folgt.) 



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N°. 64. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Grace Kennedy 3 » Werke. 

( He$chlufs.) 

Dieser Roman ist reich an Scenen , die mit Kraft und selbst 
mit Leidenschaft ausgeführt sind, und dem Ganzen fehlt es nur 
an gröfserer Gedrungenheit, um ein völliges Kunstgebilde darzu- 
stellen. Auch besitzt es eine Menge mannichfaltiger und trefllich 
durchgeführter Charaktere, von welchen die nichtsnutzige Mrs 
Lenox und die edle Lady Morven nebst mehrern andern in unsrer 
Andeutung des Inhalts nicht einmal Platz gefunden haben. Nur 
zwei Classen von Charakteren vermissen wir ganz, es sind- die 
Verkehrten unter den Methodisten selbst, seyen es nur die Wölfe 
in Schafspelzen, oder die Doppelschafe, die, nicht nur im mo- 
ralischen, sondern auch im intellektuellen Sinne Schafe, zugleich 
stolz sind auf ihre 'Schafsnatur, und dem Spruche, dafs Christum 
lieb haben besser ist denn alles Wissen, eine Deutung ^eben, 
vermöge welcher sie ihrer Unwissenheit an und für sich, gegen- 
über von dem Wissen Anderer, einen wesentlichen Werth bei- 
gelegt sehen wollen. Beide Classen sind unter der Sekte nicht 
selten. Die Kunst, wie die Wahrheit, und da es doch eigentlich 
nur Eine Wahrheit giebt, auch die göttliche Wahrheit selbst, in 
deren Dienste die Dichterin allein schreiben wollte — sie alle 
wurden bei Schilderungen solcher Personen und Vermeidung ei- 
ner gewissen Einseitigkeit nur gewonuen haben. 

Die genaue Analyse dieses Hauptwerks der Verfasserin hat 
unsrer Anzeige so viel Raum weggenommen , dafs wir uns über 
den fünften und sechsten Band der Sammlung kurz fassen müs- 
sen. Die Novelle, die den fünften Band füllt, »Pater Clemens«, 
hat den didaktischen Zweck, die Vernünftigkeit und Trostkraft 
des Protestantismus* gegenüber von dem , was der Verfasserin als 
katholischer Aberglaube nicht des grofsen Haufens, sondern des 
consequenten Katholiken, des Systemes selbst, erscheint, in zwei 
Propheten des Protestantismus einerseits, andrerseits in einem red- 
lichen Jesuitenpriester, »Dorner« oder »Pater Clemens«, und 
einer blinden Schülerin desselben darzustellen, und zugleich die 
weltliche und schandliche Seite des Jesuitismus (im »Pater Adrian« 
oder »W r arreme«) zu enthüllen. Das Gewand dieser Didaxe ist 
eine historische Novelle in Walter Scottseher Manier, mit glück- 
lich erfundenen Begebenheiten und sehr sorgfaltig gezeichneten 
Charakteren. Sie spielt in Nordengland, diesseits des Tweed, der 
die Griinze nach Schottand zu bildet, und im Jahre 1715, eine 
für historische Staffage glücklich gewählte Zeit; denn gerade da- 

XXX. Jahrg. 10. Heft. 64 



1010 Graca Kennedy'« Werke. 

mals war die Hebellion zu Gunsten des Hauses Stuart sowohl in 
Schottland als in Nordengland im Begriffe auszubrechen. Alle 
romisch - katholischen Familien , mochten sie nun selbst in die 
Verschwörung verwickelt seyn oder nicht, hatten die heifsesten 
Wunsche für den Sieg der Stuarts. Die Priester waren naturlich 
ganz besonders dabei interessirt, und da sie, besonders die zum 
Jesuitenorden gehörigen, immer mit dem festen Lande in Ver- 
bindung standen , so vermittelten sie alle Nachrichten und Wei- 
sungen. Auf diesem Grund und Boden hat die Dichterin zugleich 
ein sehr anziehendes Genregemälde von zwei verwandten Fami- 
lien , einer protestantischen und einer katholischen, gegeben, wel- 
che politische und religiöse Antagonisten, jedoch durch die Bande 
tiefgew urzeiter Familienfreundschaft verbunden sind. Die einzige 
etwas langweilige Person des kleinen Romans ist der orthodoxe 
Calvinist Herr »Doctor Low t her. « Die Darstellung und Charak- 
terzejehnung (besonders die des Paters Donner) giebt zu interes- 
santen Parallelen mit Spindlers Jesuiten Stoff, der in seinem Pa- 
ter Leopold eine ganz ähnliche Gestalt wie Pater Clemens ge- 
schaffen hat. Doch mufs der Jesuit der Methodistin zuletzt als 
Cryptocalvinist sterben. Übrigens ist die Novelle mit loblicher 
Unparteilichkeit und mit der vollen Anerkennung ungefärbter 
Frömmigkeit bei wahren Katholiken geschrieben. 

Der sechste Band , mit der letzten unvollendeten Novelle 
»Philipp Colville«, ist der lebendigen , historischen Veranschau- 
lichung des Satzes gewidmet, dafs es nicht in der Macht eines 
irdischen Monarchen stehe, Menschen, welche Erkenntnifs des 
Christenthums haben, Vorschriften, darüber zu geben, wie sie es 
in Sachen der Religion halten sollen. Die Verfasserin vei theidigt 
durch diese Geschichte, welche die Verfolgung der schottländi- 
schen Presbyterianer im Jahr 1679 schildert, die Unabhängigkeit 
der Kirche vom Staate. Die Erzählung ist interessant und gut 
gehalten ; die Geschlechtsverhältnisse , trotz der eingemischten 
zärtlichen Neigungen t sind freilich durch strengen Methodistengeist 
sehr gemäfsigt ; doch wagte die Dichterin diesmal die Darstellung 
mit einigem Humor zu würzen, der besonders«da hervortritt, wo 
die Verlegenheiten des geistlichen Miethlings in der Pfarrkirche 
des schottischen Dorfes geschildert wird (S. 69 ff.), wogegen 
die Versammlung der verfolgten Frommen in der Eelsenschlucht 
unter dem muthigen Prediger Wellwood einen glucklichen Con- 
trast bildet. Auch die Schilderung des Besuches der Presbyteria- 
ner in Edinburg (S. 87 ff.) und die Beratbung der Parteihäupter 
ist ausgezeichnet. Besonders wahr und interessant ist der männ- 
lich edle Charakter Florentiner dargestellt ; der junge muth wil- 
lige Knabe Erich, ein kühnes Werkzeug der frommen Erneute, 
ist eine sehr anmuthige Gestalt; die beiden Advokaten, Lindsey 
und Ormistoun , sind auch zwei wohlgewählte Gegenstücke, und 
in dem Erzbischof ist die Verderbnifs der aus dem Pabstthum 
nur halb losgeschälten anglikanischen Kirche vortrefflich veran- 
schaulicht. Die Ermordung dieses Pfaffen durch Vcrschworne 



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Grace Kennedy'i Werke. 



1011 



(S. i5a ff.) ist zwar mit Abscheu gegen die That, aber doch mit 
einiger Vorliebe, lebendig genug erzählt. Der Held selbst, 
Philipp Colville, bleibt lange Zeit eine ziemlich passive Person, 
und mufs sich von seinem muthmafslichcn Schwiegervater , dem 
Covenanter Torriswood , noch S. 140 sagen lassen: »Steht es 
wirklich bei Ihnen fest, dafs Sie die Partei ergreifen wollen, zu 
der Sie sich bekennen, dann mufs in einer Zeit, wie die unsrige, 
den ersten Platz in alten Ihren Gedanken an die Dinge dieser 
Welt immer Ihr Vaterland einnehmen; und ich konnte mich nicht 
mehr für Ihien Freund halten, Coiville, wenn ich Sie nicht da- 
vor warnte, dafs Sie doch ja in die schwierigen und gefährlichen 
Umstände , die Ihnen unfehlbar drohen , mit keinem getheilten 
Herzen sieb hineinbegeben werden.« Indessen zeigt er sich der 
weiblich zarten und doch von Männermuth gestählten Florentine 
würdig, als diese für ihre Sekte und mit vielen derselben in Folge 
der Ermordung des Bischofs , der jedoch die Guten alle fremd 
sind, im Kerker schmachten mufs, und eine entsetzliche Reaction 
eintritt. Das Bruchstück bricht mit der Bettung der Gefangenen 
ab. Von der Entwicklung der Novelle, über welcher die Ver- 
fasserin der Tod ubereilte , weifs man nur vom Hörensagen. 
Nach ihrem Plane wurde die Dichterin einen kurzen aber treuen 
und anschaulichen Abrifs von den Leiden der presbyterianischen 
Kirche unter den unseligen Regierungen der beiden letzten Kö- 
nige aus dem Hause Stuart, Carl II. und Jacob IL, gegeben und 
so die Urtheile der bekanntesten Geschichtschreiber berichtigt 
haben, welche die Covenanter stets als gehässige, starrköpfige, 
fanatische Menschen schildern, die es Pflicht gewesen sey auszu- 
rotten. — 

Wir nehmen von den Werken der Mifs Grace Kennedy mit 
derjenigen Achtung Abschied, die eine strengo Überzeugungstreue, 
eine zuweilen starre aber immer lautere und oft warme Religio- 
sität, grundliche historische und rationelle Bildung, und endlich 
ein schönes und entschiedenes Talent einflofsen mufs, das auch 
im Dienste der Lehre die Poesie nie ganz verleugnet. 

Gr. Schwab. 



1012 



ÜBERSICHTEN und KURZE ANZEIGEN. 



MEDICE* — BADELITEBATTR. 

Dr. J. E. P. Prieger, Kreuznach und »eine Brom- (Brome) und Jade- 
haltigen Heilquellen etc. Kreuznach, bei Kehr. 1837. XVIII u. 271 
Seiten , mit t Ansichten in Steindruck. 

Dr. Carl Mühry, Über das Seebaden und das Norderney er % Seebad. Han- 
nover, Hahn'sehe Hofbuchhandlung. 1836. VI u. 183 £ 

Dr. J. Fr. d'Aumerte , Das Seebad zu Scheveningen in Holland u. s. u>. 
Nebst einer Abhandlung über die Wirkung der Seebäder überhaupt. 
Cleve und Leipzig, bei Char. 1831. XII u 172 & 

Dr. F. Lieboldt, Die Heilkräfte des Meerwassers, mit besonderer Berück- 
sichtigung der See- Badeanstalt bei Travemünde. Lübeck, Rahden sehe 
Buchhandlung. 1837. VIII u. 136 S. 

Dr. Eisenmann , Die Heilquellen des Kissinger Saalthalcs, physisch, che- 
misch und therapeutisch beschrieben. Erlangen 1837, bei Palm und 
Enke. FI1I u. 144 & 

Dr. K. Piderit, Die kohlensauren Gasquellen zu Meinberg etc. Lemgo, 

1836. Mcyer'sche Hofbuchhandlung. IV u. 211 S. 
Dr. Fr. J. Hergt, Die Schwefelquellen und fiäder zu Langenbrücken im 

Crofsherzogthum Baden. Heidelberg, bei Hinter. 1836. 

Mit dem grofsern Bedürfnisse der Bronnen- und Badeburen 
mehrt sich die Anzahl der Bäder, mit den genaueren chemischen 
Kenntnissen und besseren Einrichtungen steigt der Werth der 
Mineralquellen, und damit, wie durch genauere Unterscheidung 
der Krankheiten, wird der Erfolg mehr gesichert, und mit der 
besseren und häufigeren Gelegenheit wird auch das Bedurfnifs 
wiederum, wenn nicht ^röfser, doch mehr gefühlt. Alles das 
bringt denn auch eine nicht geringe Anzahl Schriften in der Li- 
teratur über Bäder und Brunken zum Vorschein, von denen wir 
hier über einige referiren wollen. 

Die Schrift von Prieger ist freilich schon im Augusthefte 
angezeigt, aber der einzige Anhaltspunkt, welchen die Schrift zur 
Bcurtheilung der Heilwirkung der Quellen darbietet, und überhaupt 
das fast einzige Bedeutende darin, nämlich die mitgetheilten Be- 
obachtungen, sind dort wohl zu wenig berücksichtigt, und bei 
einem so neuen Mineralwasser mag deshalb auch diese Anzeige 
in der Zusammenstellung mit den übrigen Badeschriften nicht ohne 
Interesse seyn. Die Quelle ist nicht blos neu der Anwendung 
nach , sondern auch in Bezug auf den vorzüglich wirksamen Be- 
standteil, die Brome, welcher Kreuznach einen ganz besondern 
Platz anweist, den es fast ausschliefslich für sich behauptet und 



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Mcdtcin — Badeliteratur. 1013 

nicht mit vielen andern gleichartigen Quellen theilt. Am besten 
ergibt sich dies ans der Vergleicbung des Kreuznacher Wassers 
mit andern Kochsalzquellen. Nach Osann's (zu Würzburg) ün* 
tersuchung »enthält in 16 Unzen an Brom calcium der Elisen- 
brunnen zu Kreuznach 4,885o Gran, der Carlshaller Brunnen da- 
selbst 6,6025 Gr. In den Soolquellen zu Hall, der Adelheits- 
quelle bei Heilbronn, zu Salzhausen, Soden, Luhatschowitz, dem 
Bagozi und Pandur zu Kissingen, zu Ischl, Pyrmont, sowie in 
der Ost- und Nordsee, bat man dasselbe nicht aufgefunden. Die 
Mutterlauge der Münsterer, Carls- und Tbeodorshaller Salinen zu 
Kreuznach enthalten daran 338,72, die Münsterer 21,12 Gr. An 
Brommagnium: der Carlshaller Brunnen zu Kreuznach 1,367a 
Gr., der Elisenbrunnen daselbst 0,8943 Gr., der Bagozi zu Kis- 
singen 0,7000 Gr. , der Pandur daselbst o,68ooGr., die Soolquelle 
zu Homburg 0,100a Gr., die Soole des Beringerbades 0,0767 Gr., 
das Wasser des rothen Meeres 33, 0200. Während zu Ischl, der 
Adelheitsquelle, der Ost- und Nordsee, Pyrmont, Luhatschowitz, 
etc. dieser Bestandtheil ganz abgeht, Soden, Salzhausen, Hall, 
nur Spuren davon nachgewiesen haben, enthalten die Mutterlaugen 
der Salinen Münster am Stein , Carls- u. Theodorshalle zu Kreuz- 
nach 0/1800 Gr. An Bromnatrium: die Carls- und Theodors- 
haller Mutterlauge i5,4,iooo Gr., die Adelheitsquelle bei Heilbronn 
o,3ooo Gr., die Soolquelle zu Halle 0,4 1 ,n . die Mineralquelle zu 
Luhatschowitz 0,0410 Gr. Alle übrigen obengenannten See- und 
Soolbäder enthalten diesen Bestandtheil gar nicht. Broratal- 
cium enthalten aliein die Carls-, Theodorshaller und Münstcrer 
Mutterlauge zu Kreuznach 92,8200 Gr. 

»Das Brom ist aufgefunden worden in den Wassern der Ost- 
und Nordsee, des mittelländischen und todten Meeres, in den 
Soolquellen zu Bosenhain, Halle, Wimpfen, Salzuffeln, Behme, 
Werl, Schönebeck, Kosen, Dürrenberg und Skeuditz. Auch sol- 
len Wiesbaden und Ems , sowie in Frankreich Bourbone-les Bains, 
Spuren von Brom enthalten. « 

An Jod -Verbindungen nimmt freilich die Kreuznacher Quelle 
erst den vierten oder fünften Bang ein, ist aber eben durch den 
starken Gehalt an der seltneren Brome ausgezeichnet genug. Die 
vollständige Analyse ergibt folgende Bestandteile in 16 Unzen: 
Jodnatrium 0,0440 Gr., Bromcalcium 6,6025 Gr., Brommagnium 
1,3672 Gr., Chlornatrium 5o„665i Gr., Chlormagnium 0,6786 Gr., 
Chlorcalcium 2,56ia Gr., Chlorkalium 0,4071 Gr., Chlorlithium 
o,oj66 G. , salzsaure Thonerde o,432i G. , Manganchlorür o,6538 
Gr., kohlensaurer Kalk o,6i33 Gr., kohlens. Bitlererde o,473o G., 
kohlensaures und quellsaures Eisenoxydul o,3645 Gr., Kieselerde 
o,o3i3 Gr. , XJuellsatzsäure und ein eigentümlicher harziger Stoff" 
75,4220. Summa 75,4220 Gran. Kohlensaures Gas 3,()ö par. Zoll, 
atmosphärische Luft , d. h. Stickgas und Sauerstoffgas 0,93 p. Z. 
Summa 4,91 par. Zoll. 

Je neuer aber dieses Heilmittel noch ist, um so mehr ist es 
zu bedauern , dafs der Schrift nicht allein jede Angabe der Er- 



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1014 



Mcdicin - Badelitcratur. 



scbeinungen fehlt, welche Brome an sich oder blose Bromsalze 
hervorbringen, sondern dafs auch die Wirkuugen des Kreuznach er 
Wassers mehr nur therapeutisch als pharmakodynamisch angege- 
ben sind. Um die Indication für das Kreuznacher Wasser über 
die blose Empirie zu erheben, wäre eben die Feststellung die* 
scr allgemeineren Wirkungen nothig gewesen. Doch ist dabei 
anzuerkennen , dafs dur ch eine Reihe gut mitgetheilter und ge- 
ordneter Krankengeschichten zu jener empirischen Indication der 
Leser einigermafsen in Stand gesetzt wird. 

Ref. wählt denn auch diesen Abschnitt als den bedeutenderen 
eu einer näheren Mittheilung. Die Falle, in denen Kreuznach 
sich heilsam zeigte, waren : bedeutendes Lungenleiden mit Tuber- 
helbildung und phthisischer Anlage ; — Anlage zur Phthisis mit 
gleichzeitiger Tuberkelbildung in den Lungen u. der Luftrohre (?>, 
den Gekrosdrüsen, Vergrofserung der Leber und Engbrüstigkeit; 

— Phthisische Anlage mit Tuberbeibildung in den Lungen und 
Bluthusten *) ; — Scrophulöse Anschwellungen und Geschwür bil- 
dungen im Halse, Verdickung und Auflockerung der Schleim- 
häute, Neigung zu Catarrben und zur Heiserheit; — Anschwel- 
lung und Verhärtung sämmtlicher Drüsen- und Lymphgefäße; — 
Scrophulöse Geschwüre des Rachens und der Nasenbohle, Auf- 
treibungen und Versch wärungen der Nasenknocben und des Stirn- 
beines sowie mehrerer Röhrenknochen; — Schwerhörigkeit mit 
allgemeinen Scropheln; — Scrophulöse Geschwüre am Halse mit 
Knochengeschwüren am rechten Schienbeine ; — Allgemeine Scro- 
phulosis, mit sehr bedeutender Entartung der linken Brust und 
beider Achseldrusen ; — Langjährige beängstigende Entartung der 
Brustdrüse, mit weifser Kniegeschwuist (?) ; — Verhärtete Brust- 
drüse, mit scrophuloser Augenliederentzündung ; — Nasenflech- 
ten, mit scrophuloser Goschwulst am Halse; — Flechtenausschlag, 
Ichthyosis (?) , im Gesichte, über die Arme und Füfse , bei all- 
gemeiner Scrophulosis; — Fressender Flechtenausschlag im Ge- 
sichte, herpes exedeos, lupus, mit allgemeiner Drüsenanschwel- 
lung; — Fressender Ausschlag, lupus (?), am rechten Ober- 
schenkel , mit Krümmung des Kniecs ; — Mentagra ; — Impetigo 

Sorata mit allgemeiner Wassersucht; — Geschwüre der Parotis, 
lr grofse Anschwellung und Verhärtung der Leber und Ge- 
ltrösdrüseu mit Bauchwassersucht ; — Verknücherungen in und 
an dem muskulösen Gewebe der Vorderarme und Oberschenkel; 

— Scrophulöse Knochenauffcreibung des Ellenbogengelenkes; — 
Krümmung und Anschwellung der Halswirbel nach der Seite mit 
allgemeiner Scrophulosis ; — Rbachitis ; — Vergrofserung und 
Verhärtung der Prostata mit Abgang von Gries; — Verhärtung 



*) Hierbei erlaubt sich Ref. die Bemerkung, da Tb zur sicheren Be- 
gründung der Diagnose die Untersuchung mitteilt Percnssion und 
Stethoskop nöthig; gewesen wäre, und dafs sie deshalb als sehr un- 
suverläasig zu betrachten ist. Auch schliefst Tuberkelbildung im- 
mer schon phthisische Anlage in sich. 



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Medicin — Badeliteratur. 1015 

der Hoden mit fistulösen Geschwüren in diesen und den Inguinal- 
drüsen; — Syphilitische Verhärtung beider Hoden, der Prostata 
and Verengerung der Harnrohre ; — Speichelflufs nach Mercurial- 
gebrauch; — Vergrößerung und Verhärtung der Milz mit unter- 
druckten Kata meinen ; — Sehr bedeutende Verhärtung (in? Ref.) 
der Leber mit beginnender Wassersucht; — Fluor albus mit scro- 
phulüser Anschwellung und Verhärtungen der Schleimhaut der 
Vagina; — Sterilität mit Unordnung der Katamenien ; — Sterili- 
tät mit fluor albus und Scropheln ; — Sterilität mit Intumescenz 
des Gebärmutterhalses sowie des rechten Ovariums, und iluor 
albus (die Geburt erfolgte 1 4 1 n und etwa 18 Monate nach der 
der Cur, Ref.); — Scirrhose Entartung der Substanz des ganzen 
Uterus mit bedeutenden Blutflüssen ; — Geschwürbildung mit 
chronischen Leiden der Gebärmutter und beginnender Lähmung 
beider FüTse; — Unvollkommene Lähmung des Fufses in Folge 
von Milchversetzung; — Vollkommene Lähmung beider FüTse, 
als Folge von scrophulös-arthritischer Metastase auf das Rücken- 
mark. 

Unter den Krankheiten, in welchen Kreuznach noch Vorzug- / 
Heb Heil verspricht , stehen wohl Scropheln , Rhachitis , Verhär- 
tungen und Anschwellungen der Drusen, und drusiger Gebilde 
auch der Schleimhäute nebst bösartigen Hautausschlägen obeaan. 
Die auflosende, alterirende Wirkung, in welcher ein eigenthüm- 
licher pustuldser Hautausschlag , der Beschreibung nach wesent- 
lich verschieden von der gewöhnlichen Badekrätze, hervorzuhe- 
ben ist, mufs wohl vorzüglich den Brom-, Jod- und Chlorver- 
bindungen, namentlich auch dem Chlorcalcium zugeschrieben wer- 
den , wobei ausserdem die Abwesenheit aller schwefelsauren Salze, 
— auf welche der Vf. wohl hätte aufmerksam machen dürfen , da 
bekanntlich schwefelsaurer Kalk der Haut nicht eben zuträglich 
ist, — und der Gehalt an Eisen zu berücksichtigen ist. 

Die Anwendung des W'assers geschieht im Baden und Trin- 
ken. Bei der erstem ist die Verstärkung durch Zusatz von Mut- 
terlauge, welche an den Karls, und Theodorshaller Quellen in 
einem Pfunde 337,7a Gr. Bromcalcium, 1 54, 100 Gr. Bromnatrium 
und 92,8200 Bromtalcium, im Ganzen also 584,64 Gr. oder 1 Unze 
1 Drachme und 44 Gr. Bromverbindungen enthält, bedeutungs- 
voll , wie denn diese auch, da die nöthige Menge ohne ?u grofse 
Kosten versandt werden kann, den auswärtigen Gebrauch des Kreuz- 
nacber Heilscbatzes zu Bädern , was bei andern Heilquellen so 
selten möglich ist, gestattet. 

Auch Dunstbäder, indem der Kranke in der Nähe der Gra- 
dierwerke sich aufhält, werden angewendet. Hier ist der Seetang- 
ähnliche Geruch in der Nähe der Salinen wohl nicht als zuver- 
lässig für die Gehalte an Jod und Brome anzusehen , und es wird 
eine chemische Untersuchung der Luft, welche der Kranke ein- 
atbmet, vermifst , um so mehr, da es nach den bisherigen Cho- 
rnischen Kenntnissen nicht wahrscheinlich ist, dafs Jod und Brome 
aus den Verbindungen, in welchen sie im Wasser enthalten sind, 



* 

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101« 



Mcdicin — Badeliteratur. 



verdunsten, da selbst reine Brome erst bei 47 0 C. (35*4° R.) f 
und Jod erst bei 175* C. (140° 11.) verdunstet, also beides bei 
einer Temperatur, welche die Luft im Freien nie annimmt, ja 
welche selbst auch die Bäder nie haben dürfen. 

Was sonst die Schrift über die Lage, Geschichte, geogno- 
stische Beschreibung, botanischen Beichthum , Unterhaltungen, 
Spaziergänge etc. Kreuznachs enthält, darf ich wohl übergeben. 
Statt der beiden lithographirten Ansichten wäre auch ein Plan 
von der Lage der Quellen wohl wünschenswerter gewesen. Za 
bedauern aber ist es, dafs dieselbe so viele Druckfehler enthält, 
die wegen Abwesenheit des Vis. während des Druckes sich ein- 
geschlichen haben. 

Muh t v begleitet im ersten Capitel , »um eine praktische 
Darstellung der Wirkung des Seebades zu geben«, in sehr ge- 
lungener, lebhafter Schilderung den Kranken auf seiner Beise 
ans Meer, nach Norderney, und hier zum ersten Bade. Unver- 
merkt ist der Leser mit der Darstellung des gewifs beim Seebade 
höchst bedeutungsvollen psychischen Eindrucks in die Betrachtung 
der raedicinischen Wirkung eingeführt, welche vorzüglich, doch 
ohne strenge Anordnung, der Zeit folgt, wie jene nach und 
nach in den verschiedenen Organen und Functionen eintritt: an 
der Haut schon nach den ersten 3 bis 4 Badern ein juckendes, 
prickelndes Gefühl, Scharlachrothe oder frieselartiger Ausschlag., 
der 3 bis 7 Tage datiert, zuweilen auch Blutschwären, Anschwel- 
lung und Böthe der Augenlieder; vermehrte Ausdünstung und 
Wärme der Haut; Ausgehen der Haare, die aber stärker wieder 
wachsen. Weiterhin in dem Digestionsapparate , ausser der schon 
früher vermehrten Efslust , stärkere Entwicklung von Luft, Un- 
regelmässigkeit im Stuhlgänge, bei Einigen Verstopfung, bei An- 
dern Durchfüll, die aber später in 1 egclmäfsigc , reichlichere Aus- 
leerungen mit Abnahme von Leber- und Milzanschwellung über- 
geht. Der Urin reichlicher und dunkler. Menstruation früher 
eintretend und länger dauernd. Hämorrhoiden entwickeln sich. 

In der vierten Woche wieder starke Molimina critica: Schau- 
der, Frost, Unbehoglichkcit , Fieber, die in einen Schweifs ge- 
wöhnlich zu enden pflegen, von welcher Zeit an dann besondres 
Wohlbehagen sich einstellt. 

Nach dieser Wirkung, welche »als eine allmählig mehr und 
mehr zunehmende Betbatigung sämmtlicher der Vegetation vor- 
stehenden Organe in ihren Functionen sieb ausspricht, wodurch 
ein gröfserer Schwung in alle Vorgänge gebracht wird, weiche 
die Nutrition und den Stoffwechsel zum Zwecke haben,« folgt 
dann die rein stärkende, tonisirende Wirkung, die aber auch 
schon früher sich zeigt, wo keine KranhlieitsstofYe vorhanden 
waren. In dieser Darstellung sind die Wirkungen gegen besondre 
Krankheitszustände schon mit verflochten, und die Eigentümlich- 
keit' der Seebäder wird dann im Vergleich mit Flufsbädcrn her- 
vorgehoben, zwischen der die Verschiedenheit in dem Salzgehalte 



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Medicin - Badeliterator. 1018 

und dem Wellenschlage, soferne das Bad selbst in Frage kommt, 
begründet wird. In Beziehung auf das einzelne Bad ist hier die 
Erschütterung beim Einsteigen ins Bad (shock) und der Schauder 
nicht verschieden , aber die folgende Hitze (glow) ist nach dem 
Seebade viel starber und constanter, und diesem ist auch die Er« 
regung eines ölig- klebrigen Gel übles auf der Haut nach dem 
Badn eigentümlich. Bei der Vergleichung des anhaltenden Ge- 
brauches haben die Seebäder das erhebende Gefühl durch den 
psychischen Eindruck, die vermehrte Hautthätigkeit ausser der 
abhärtenden , die resolutorischen Wirkungen voraus und die to- 
nisirenden sind stärker. Dazu kommt dann noch die Wirkung 
der Seeluft , deren Salubrität in der auffallend grofsern Gleich- 
mälsigkeit der Temperatur, dem grofsern Gebalt an Feuchtigkeit 
zu suchen ist. Um zu diesem Resultate zu gelangen, bedurfte 
es aber keineswegs einer solchen allgemein meteorologischen und 
physisch -geographischen Abschweifung von 43 Seiten über Land, 
Meer, Atmosphäre, Verbreitung von Licht und Wärme, Tempera- 
tur der Erdoberfläche, Klima, Kugelform der Erde, Erdbahn, 
Axendrehung etc. , wobei überdem noch zu bemerken, dafs die 
dort auf guten Glauben wiedergesehenen und , wie nicht zu läug- 
nen, in recht verständlicher Weise wiedergegebenen Ansichten 
noch keineswegs so ausgemacht sind. Statt dieser, fast den 4ten 
Theil der ganzen Schrift einnehmenden, durchaus ungehörigen 
Abschweifung wäre eine genaue Feststellung der lndication dis 
Seebades, die gänzlich vermifst wird, in Vergleickung mit an- 
dern Bade- und Brunnenkuren , und um diese anschaulicher zu 
machen , die Mittheilung einiger Beobachtungen von Krankheits- 
iaslen wünschenswerth gewesen. 

Im dritten Capitel wird eine Vergleichung der verschiedenen 
Seebäder gegeben und den Nordseebädern in Beziehung auf Wel- 
lenschlag den mittelländischen Badern rücksichtlich des Salzgehal- 
tes der Vorzug gegeben, in welchen beiden die Ostseebäder zu- 
rückstehen, und Norderney gegen Scheveningen wegen des beque- 
meren flacheren Strandes und der grösseren Wbhlfeilbeit hervor* 
gehoben. Dann kommt schliefslich noch eine Beschreibung der 
Insel Norderney, der Badeeinriehtungen , Preiscourant etc. 

Gegen den Vorzug des Badestrandes und die Bichtigkeit des 
bei Müln v davon gegebenen Profils protestirt d* A u inerte in der 
oben bezeichneten Schrift , und gibt p. 164 noch Beobachtungen, 
die auf Befehl der Staatsverwaltung während verschiedener Monate 
angestellt sind, an, dafs die mittlere Höhe der Fluth 7 Fufs Bh. 
und der Längenabstand zwischen dem Ebbe- und Fluth- Ufer 140 
Ruthen (also auf 20 Buthen 1 Fufs Fall) betragen. Gegen d'Au- 
merte's Beschuldigung, nach blofscm Hörensagen einen Profil- 
durchschnitt des Scheveninger Badestrandes entworfen zu haben, 
hätte sich der Verf. der Schrift über Norderney denn allerdings 
wohl zu rechtfertigen. In Beziehung auf die selbst gegen andre 
Badeörter tkeuren Preise hat aber auch Ref. Klagen über Scheve- 
ningen von Badegästen gehört. 



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1018 



Medicia — Badeliteratur. 



D'Aumerte beginnt seine Darstellung mit einem ziemlich 
starken Irrtbum über den reicheren Oxygengehalt der Seeluft, wel- 
cher »durch eudiometrische Versuche« erwiesen sey , and wobei 
er sich auf nou volles experiences de physique par Jean Ingen* 
ho us, Paris 1789 (!) beruft. Auch der Gebalt an salzsaurem 
Gase, »welches spätere Untersuchungen entdeckt haben«, ist 
buchst unwahrscheinlich , und die Reaction auf Silber kann ent- 
weder der blosen Einwirkung des Lichts oder dem mechanisch 
in die Luft vom Winde geführten Seewasserstaube zugeschrieben 
werden (s. Lieboldt p. 91), wobei übrigens der heilsamen Ein- 
wirkung der Seeluft nicht widersprochen werden soll , welche der 
Vf. ausser jenen nach des Ref. Meinung nicht annehmbaren Ur- 
sachen der grofsen Bewegung durch Ebbe und Pluth und Stur- 
me, der gröberen relativen Schwere und Elasticität, wegen der 
höheren darauf lastenden Atmosphäre, den beigemengten SaJss- 
(Salzwasser-) Thcüchen , der grofseren Beständigkeit der Tempe- 
ratur zuschreibt. Die wohlthätige Einwirkung der Seeluft, — 
mehr aber der am mittelländischen Meere und noch mehr auf 
Madeira , — ist nicht zu läugnen j ob aber durch diese Einwir- 
kung der Luft »eine Dame im Haag, die mehrere Monate an 
Stimmlosigkeit und starker Schleimabsonderung im Halse gelitten 
hatte, mit ihren Kindern am Meeresstrande spazierte, eines der- 
selben über einen Anker fallen sah und darüber ihre Stimmlosig- 
keit vergessend dem Kinde zuruft, und erstaunt ist ihre eigene 
Stimme wieder zu vernehmen «, davon oder nicht vielmehr von 
der bei der ängstlichen Anstrengung ungewöhnlich starken Ner- 
veneinwirkung auf die Kehlkopfmuskeln ihre Stimme plötzlich 
wieder erhielt, wollen wir dem geneigten Leser zur Entscheidung 
uberlassen. 

Im zweiten Abschnitte p. 11 ff. wird die Wirkung der Bäder 
geschildert, wovon wir hier hervorheben, dafs der Verf. die an- 
fängliche Beschleunigung des Pulses beim Eintritt ins Bad , und 
dafs dieser dann bald wieder langsamer aber kräftiger wird , nach 
eignen Beobachtungen angiebt Die Ursachen der eigentümlichen 
Wirkung auf den Organismus sieht er in der Kälte, dem stärke- 
ren Druck wegen der größeren speeifischen Schwere und der 
höheren darüber lastenden Atmosphäre, in dem Wellenschlage, 
den er nicht unpassend mit einer Douche vergleicht , dem er 
(aber wohl nicht mit Wahrscheinlichkeit) Erregung elektrischer 
Strome zuschreibt, dem chemischen Gehalte des Meerwassers 
(wobei der unrichtige Ausdruck von Chlorverbindungen »mit Soda, 
Kalk, Magnesia und Kali« mifsfallig aufstöfst). 

Von p. 29 an werden die Krankheiten aufgezählt, wogegen 
die reizend erregende, p. 38 ff. die zusammenziehend stärkende, 
80wie£krampfstillend und besänftigende, und endlich p. 75 fi. 
die auflosende Kraft des Seebades sieb heilsam zeigt, mit ein- 
estreuten Beobachtungen : Lähmung , lähmungsartige Schwäche 
er Sinnesorgane, Schwäche des männlichen Zeugungsvermögens, 
weibliche Unfruchtbarkeit, hartnäckige intermitlirende Fieber 



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i 



\ * 

Medicin - Badeliteratur. 101» 

(darüber hatte Ref. gern einige Beobachtungen gelesen), allge- 
meine Schwäche nach fieberhaften Krankheitee und nach unmälsi- 
gem Geschlechtsgenusse , Scropheln , Rhachitis , Entwicklungs- 
lira nkhe.ten , Bleichsucht — wobei der Verf. aaf eine ähnliche 
Weise eine Unterscheidung andeutet, wie Puchelt (s. System 
d. Medicin a Thl. 3. Bd. p. 788) mit Recht und bestimmter« zwi- 
schen der anämischen und venösen Chlorose unterscheidet: »je 
mehr die Krankheit auf Stockungen in den Venen beruht, desto 
mehr ist das halte (See-) Bad zulässig « , — Amenorrhoe, scorbu- 
tischc Kachexie (?), Veitstanz, Hysterie, Coostipation , wobei Vf. 
aber mehr an Hypochondrie gedacht zu haben scheint, Epilepsie, 
Katalepsie, Dyspepsie, Herzklopfen, Congestionen nach dem Ko- 
pfe, nervöse Kopfschmerzen, Hämorrhoiden, scrophulose Haut- 
ausschläge, Krätze, wogegen' das Baden in der See nach Ru- 
chanao in Schottland ein Volksmittel seyn soll, Psoriasis, Lepra, 
Asthma pituitosum, Phthisis tuberculosa scrophulosa, Blasenka- 
tarrh, weifser Kluis, rheumatische und arthritische Krankheiten. 
Bei den rheumatischen Beschwerden hebt der Verf. mit Recht 
die hervor , die * von zu grofser Nervenempfindlichkeit nach Er- 
kältungen bei hypochondrischen und hysterischen Personen ent- 
stehen.« Dies ist eine Andeutung von der Unterscheidung, die 
Ref. beim Rheumatismus so oft vermifst, der entweder auf ver- 
haltener, unterdrückter Ausdunstung und unterdrückter Hauttbä- 
tigkeit beruht oder auf grofser Empfindlichkeit der Haut gegen 
die Einwirkung der Kälte bei nur im geringsten erhöhter HauU 
thätigkeit begründet ist. Gegen die letztere Art ist dann wohl 
das Seebad eines der vorzuglichsten Mittel. Mit dieser ziemlich 
Lunten Reihe von Krankheiten, gegen welche das Seebad mehr 
oder weniger empfohlen wird, findet Ref. keineswegs die Auf- 
gabe , die Indication des Seebades zu bestimmen, erfüllt, doch 
linden sich hin und wieder bei den einzelnen Krankheitsformen 
auch Bemerkungen über die besondern Fälle dieser Krankbeits- 
' formen , die sich vorzugsweise für das Seebad eignen, von de- 
nen wir zwei als die bedeutenderen hervorheben zu müssen 
glaubten. 

p. 80. Verschiedene Anwendungsarten von mehr oder weni- 
ger erwärmten Seewasserbädern. 

p. 93. Der innerliche Gebrauch des See wassers, den auch 
Mnhry in den Fällen empfiehlt; wo beim Baden anfangs Ver- 
stopfung eintritt, bekommt von d'Aumerte » unter den specifischen 
Mitteln gegen die Scrophelkrankheit eine der obersten Stellen« 
angewiesen, und wird ausserdem gegen Eingeweidewurmer (wel- 
che?), Anschwellung der Mesenterialdrusen , mit Seife gegen 
Gelbsucht und Harnsteinbeschwerden empfohlen« Filtrirt auf 
Kruge gefüllt hält es sich ein Jahr und länger. 

Hier folgt eine gewöhnliche, aber ziemlich überflüssige Bei- 
gabe der meisten Badeschriflen , eine geschichtliche Skizze des 
Badeortes, und zwar hier nicht allein von Scheveningen , sondern 
auch vom Haag, wobei denn auch die hoben und höchsten Herr- 



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1 



1020 Mcdicin - Badeliteratur. 

schaften, welche das Bad beehrten, aufgezählt sine], und nach 
einer Darstellung der Wege, Vergnügungsorter, Badeanstalten, 
ist dem Ganzen noch eine Verteidigung der Nordseebäder und 
der Badeanstalt zu Schereningen theils gegen Sachse (über die 
Wirkungen und den Gebrauch der Bader, besonders der Seebäder 
zu Doberan, Berlin i835.) , theils gegen Mühry's Schuft ange- 
hängt. Diese letzten haben wir schon oben berührt. 

Die Vorzuge der Ostseebäder gegen die der Nordsee mochte 
Sachse wohl schwerlich mit den von ihm aufgestellten Grün- 
den gegen d'Aumerte's Widerlegung aufrecht halten können, so- 
fern nämlich von der slärher hervortretenden Eigen- 
tümlichkeit der Wirkung des Seebades die Bede ist, 
und in dieser Beziehung scheint der Verf. der folgenden Schrift 
über die Secbadeanstalt bei Travemünde den richtigeren Ge^ 
Sichtspunkt festgehalten zu haben , dafs nämlich milde Mittel nicht 
selten den stärkeren vorzuziehen sind. 

Lieboldt handelt nach einer kurzen physikalischen und che- 
mischen Darstellung des Meeres und Meerwassers (wobei er aber 
etwas die W 7 ärmeleitung mit der Wärmecapacität verwirrt p. i3) 
und der Seeluft die Wirkungen des Seebades ab. Kr unterschei- 
det mit Becht die primären und secundä'ren, aber auf derselben 
Seite 36 sagt er sonderbar genug, * dafs beim Baden im Meere 
auf Entziehung der Wärme (von der Oberfläche des menschlichen 
Körpers) nicht zu rechnen ist«; nichtsdestoweniger aber sieht er 
gleich darauf den Trieb zum Harnlassen und die Neigung zum 
Stuhlgange »als Folge der Kälte« an, »welche den gewohnten 
Zuilufs der Säfte zur Haut und die Ausscheidung derselben un- 
terbricht.« Als Inbegriff der Wirkung giebt der Vf. p. 5a an: 
l) Beinigung der Haut; 2) Stärkung derselben durch Aulfoderung 
zu grüfserer und normaler Thätigkeit (hier hätte wohl auch Stär- 
kung des ganzen Nervensystems, in ähnlicher Weise hervorgeru- 
fen, noch eingeschaltet werden können); 3) Beiz der Hautnerven 
durch die Salztheile , Erschütterung derselben durch die kältere 
Temperatur und die Wellenbewegung (wohl im Wesentlichen 
dasselbe wie 2); 4) Aufnahme der Salztheile durch die Haut — 
(und dadurch) 5) auflösende , reizende und ausscheidende Wir- 
kung; 6) verbesserte Blutbereitung u. s. w.; 7) Hervorrufen fie- 
, berhafter und sonstiger kritischer Erscheinungen. 

Nach einer besser als in der vorigen Schrift angeordneten 
Angabe der Krankheiten, in denen das Seewasser zum Baden oder 
Trinken zu empfehlen, folgt eine Bezeichnung der Zustände, 
welche das Seebad verbieten, welche Angabe der Contraindica- 
tionen leider selten bei Badeschriften gefunden wird. Corpulenz, 
Menstruation und Hämerrhoidalflufs verbieten das Baden nicht 
durchweg, p. 89 — 104. Begeln bei verschiedener Anwendung 
des Seewassers, einfach aber praktisch gegeben. Unter diesen 
sagt Befn. auch der Bath zu, wenn man kalt baden will, in 
den meisten Fällen lieber gleich kalt zu baden, als durch all- 



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Medicin - Badeliteratur. 1021 

mähliches Verminderung der Temperatur in Badewannen an das 
kalte Bad gewöhnen zu wollen; denn in der Badewanne, wo Be- 
wegung fehlt, wirkt eine absolut höhere Temperatur unter der 
gewöhnlichen Badewarme fiel erkältender und unangenehmer, als 
die absolut niedere Temperatur im freien Wasser. Schliefslich 
eine Geschichte und Ortsbeschreibung von der Badeanstalt nicht 
allein, sondern auch von dem Städtchen Travemünde. 

Eisenmann handelt in der oben angegebenen Schrift von 
einem Mineralwasser, welches in der Klasse, an die nach den See- 
bädern zunächst die Beibe in der Mode kam, selbst ganz vorzugs- 
weise in Mode gekommen ist, jedoch auch den Wandel der Mode 
wohl bestehen wird. So sind denn auch in neuester Zeit gerade 
über Kissingen mehre Monographien erschienen. Nach einer ge- 
schichtlichen Einleitung und einer Beschreibung der Gegend und 
Lebensweise, wo der Verf. die Wohlfeilheit, Geselligkeit und 
gut besetzte Tafel hervorhebt (welche letztere aber wohl von den 
meisten Kurgästen in Kissingen non laute sed caute zu geniefsen 
wäre), giebt er die Beschreibung der verschiedenen Mineralquel- 
len, und zwar i) der Säuerlinge des Max- und des There- 
sienbrunnens , a) der Soolen, und unter diesen hebt er die 
»Braut« besonders hervor, deren wechselndes Steigen und Sin- 
ken in jedoch nicht ganz gleichen Zwischenzeiten von etwa 2% 
Stunden ihm zu einem Excurs über die berühmtesten periodischen 
Quellen und deren Entstehung Veranlassung giebt ; 3) der salini- 
schen : des Bagozi und des Pandur. Dabei die Angaben der 
chemischen Bestandteile nach Kastners Untersuchung , von denen 
wir hier nur auf die in neuerer Zeit wichtig gewordene Brome, 
als hydradbromsaurer Talk in allen Quellen mehr oder weniger 
enthalten, aufmerksam machen, wovon der Bagozi 0,70 und der 
Pandur o,68 Gr. in 16 Unzen enthalten. Mit Becht tadelt der 
Vf. die sorglose Weise, das Wasser zum Bade durch Mägde in 
die einzelnen Häuser der Stadt tragen zu lassen. Bei der Dar- 
stellung der Heilkräfte des Kissinger Wassers vermissen wir lei- 
der die Angabe der Erscheinungen, welche deren Gebrauch im 
Organismus hervorbringt, als die nothwendige Grundlage für jede 
Bestimmung der Heilkraft eines Mittels, wenn der praktische Arzt 
davon eine lebendige Vorstellung sich machen, dieser Bestimmung 
Glauben schenken und sich in Bestimmung der Indication und 
Gebrauchsweise für einen gegebenen Krankheitsfall sicher fühlen 
soll. Das 4te und 5te Kapitel enthalten die Begeln über den Ge- 
brauch des Wassers und die Kurzeit. Wie wir eben die Art und 
W T eise , die Wirkung des Wassers zu bestimmen getadelt haben, 
so müssen wir es noch unstatthafter finden, dafs der Verf., statt 
die Krankheitszustände zu bestimmen , bei welchen Kissingen vor- 
züglich passend, heilsam, erlaubt, bedenklich oder verboten sey, 
eine Übersicht seiner nosologischen Eintbeilung der Krankheiten 
in Sippen, Familien u. s. w. gibt. Wenn Bef. auch in der all- 
gemeinen Idee dieser nosologischen Anordnung nach der gi ofseren 



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1023 Mcdicio - BadeliUrator. 

oder geringeren Verwandtschaft der jeder Krankheit wesentlichen 
Abweichungen vom Gesunden dem Verf. nicht allein ans einem 
theoretischen sondern auch aus praktischen Gesichtspunkte bei« 
pflichtet, so gehört doch das nicht in eine Schrift über Kissingen, 
am so weniger, als diese Eintheilung aus des Verfs. früheren 
Schriften bekannt ist. Dss letzte Kapitel handelt von der Ver- 
sendung des Ragozi. 

Alles zusammengenommen kann der Verf. wohl nicht über 
die Schrift den Ausspruch erwarten, dafs sie die Belehrung, die 
der Leser über Kissingen wünscht, um den Gebrauch zu bestim- 
men , gewährt 

Die Anzeige der folgenden Schrift über Meinberg von Pi- 
der it macht Ref. um so mehr Freude, als er darin die Über- 
zeugung verwirklicht findet, dafs die gehörige Benutzung de« 
grofsen Reicbthums an kohlensaurem Gase diesem Orte seine ver- 
diente Anerkennung unter der Menge von Bade- und Brunnen- 
ürtern geben werde, eine Überzeugung, die sich dem Ref. auf- 
drängte, als er selbst kurze Zeit in Meinberg Arzt war. Dadurch 
ist die Anwendung eines bedeutenden Heilmittels gewährt, wel- 
ches freilich auch andre Mineralquellen nicht selten zum Trinken 
darbieten, welches sich aber an wenig Orten in der eigenthüm- 
lichen Weise, wie in Meinberg vorfindet, die, wie die angeführte 
Schrift zeigt, eine besonders mannigfaltige und dem Belieben des 
Arztes fast unumschränkte Wahl lassende Anwendung gestattet 
Wenn Meinberg auch durch, sein schwächeres eisenhaltiges Salz- 
wasser, durch sein Schwefelwasser und besonders den Schwefel- 
schlamm zu den bedeutenderen Kurort ern gezählt werden mufs, 
so wird doch die hierdurch erhaltene Wichtigkeit durch die Lage . 
in der Nähe der beiden Heroen der kalten Schwefel wasser, Eilsen 
und Nenndorf, nicht wenig zu seinem Nachtheile beschränkt; 
und Piderit hat sich durch die neueren Einrichtungen zur man- 
nigfaltigen Benutzung um so mehr Verdienst erworben, als dabei 
nicht allein das von der Natur Gebotene ohne Weiteres hinge- 
nommen , sondern die Verwendung desselben auf physiologisch- 
therapeutische Grundsätze gestutzt ist, welche in dem gegebenen 
Falle um so notwendiger die Grundlage zu jenen Einrichtungen 
macheu mnfsten , als die Empirie über die Anwendung der luft- 
formig von der Natur gebotenen Kohlensäure noch so wenig An- 
haltspunkte gewährt. 

Der Verf. giebt zu Anfang eine Geschichte nicht von Mein- 
berg, sondern von den kohlensauren Gasquellen und der Einrich- 
tung, um das Gas in einem bestimmten Baume aufzufangen. Die 
Luft enthält je nach den höheren oder tieferen Schichten, welche 
man zur Untersuchung wählt, 2 bis 80 pr. C. Kohlensäure, die 
Dunsthohle dagegen in Pyrmont nach desselben Chemikers Bran- 
des Untersuchung höchstens 36—48 PCt. Die Menge des Gases, 
welches den von jenem Gasbehälter ausgehenden Rohren ont- 
stromt, beträgt in i5 Secunden 3,t5 Kubikfufs, zu welcher Be- 



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Medicin - Badeliteratur. 1028 

Stimmung ein genau ausgemessenes Fafs genommen wurde, dar- 
nach also in einer Minute : 11,60 R. Fufs, welche Menge wegen 
des bei dem Versuche verloren gegangenen Gases approximativ 
auf 14 K. Fufs angenommen ist. Die Ausströmung »vermindert 
sich innerhalb Tagen und Wochen nicht merklich.« p. 23. 

Früher wurde das Gas nur zum trocknen Gasbade und 
t rockner Gasdouche gehraucht. Das erste geschah und ge- 
schieht noch in dem amphitbeatralisch eingerichteten Brunnen* 
hause, wo man beliebig tief herabsteigen und sich niederlassen 
bann, so dafs der Kopf über der an Kohlensäure reichlicheren 
Luftscbichte bleibt. Bei der letzten strömt das Gas aus einem 
Bohre an den Theil hin , auf welchen mau einwirken will. Auf , 
des Verfs. Veranlassung wurde ausserdem in neuerer Zeit einge- 
richtet : 

eine Gasdampfdouche, wobei Wasserdämpfe und Gas in 
beliebig verschiedenen Verhältnissen den kranken Theil treffen; 

ein Gasdamfbad, ein ähnlicher Apparat, wie zu den Schwe- 
felräucherungen , wo das Gas aus einer viellöcherigen Bohre in 
einen Kasten sich verbreitet, aus dem nur der Kopf des Kranken, 
um die Lungen gegen das Eindringen der Kohlensäure zu schü- 
tzen , hervorsieht ; 

das Sprudelbad, ein kohlensaures Wasserbad , wo aus ähn- 
lichem Rohr am Boden einer Badewanne das Gas in das Wasser- 
bad tritt und beständig perlend aufsteigt; zu dem Bade kann be- 
liebig einfaches, Salz- oder Schwefelwasser gewählt werden; 

die Gasdnuche im Bade; 

das pneumatische Cabinet, in welches von der Decke 
her das Gas in beliebiger Menge herabfallt, und auch Wasser- 
dämpfe eingelassen werden kennen, und womit auch aus herab- 
fallendem Schwefelwasser ein Schwefelwasserstoffgasbad verbun- 
den werden hann; 

endlich ist das Gas auch in die muriatisch-salinische Quelle 
geleitet. 1 

Die Wirkung der Kohlensäure wird dann im dritten Kapitel 
nach der verschiedenen Form , ob trocken oder mit W r asser , nach 
dem verschiedenen Grade der Anwendung und nach den ver- 
schiedenen Organen, worauf sie wirkt, abgehandelt, wobei wir 
hier die eigentümlich prickelnde, das Gefühl von Wärme er- 
regende Wirkung der trocknen Kohlensäure auf die Haut, als 
weniger bekannt hervorgehoben. Das Gefühl, was dabei entsteht, 
ist ganz eigentümlich; Ref. mochte es am ersten nach seiner 
eignen Empfindung mit dem Prickeln und Stechen vergleichen, 
welches manchmal dem Ausbruche des Schweifses vorhergeht 

Der Verf. giebt den Unterschied des trocknen Gas- und des 
Sprudelbades 80 an : 

Das trockne Gasbad Das Sprudelbad 

1) ruft schnell ein eigenthum- 1) erzeugt langsamer und Spa- 
sches und lebhaftes Wärmege- ter ein weniger lebhaftes, doch 
fühl hervor. immer bemerkbares, Gefühl von 

Erwärmung. 



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1024 



Medicin — Badeliteratur. 



2) Es ist damit ein gewisses 

Prickeln, Stechen und Ameisen- 
kriechen , besonders in nerven- 
reichen Hautparthieen , verbun- 
den. 

3) Es befördert die Hautaus- 
dünstung u. den Schweifs, wel- 
cher bei längerer Dauer des Ba- 
des noch während desselben sich 
einzustellen pflegt 

4) Es tritt nach dem Bade 
häufig eine gewisse Abspannung, 
Müdigkeit und Schwere in den 
Gliedern ein. 



2) Diese Sensationen fehlen. 



5) Die Haut wird nicht ge- 
röthet, oder sonst in ihrer Be- 
schaffenheit verändert. 

6) Die Urinabsonderung wird 
nicht vermehrt. 

7) Eine Veränderung des Pul- 
ses ist nicht wahrzunehmen. 

8) Nach der Rückkehr in die 
atmosphärische Luft ist die Wir- 
kung des Bades schneller vor- 
übergehend. 

9) Es gibt Kranke, denen das 
trockne Gasbad nicht, wohl aber 
das Sprudelbod zusagt. 

10) Das Bad wirkt mehr aufs 
Gefühl, durch Beizung der Haut- 
nerven. 

Namentlich hätte noch des Bef. Meinung auch hervorgehoben 
werden können, dafs die trocknen Gasbäder wohl bei manchen 
Kranken, denen jede Nässe empfindlich ist, eine specielle An- 
wendung finden. 

Ob aber physiologisch die Ansicht gerechtfertigt ist, »dafs das 
Wasser ein nothwendiges Vehikel für die Aufnahme gasformiger 
Körper in den Organismus sey « , ist Refn. noch zweifelhaft, da 
Thiere mit Ausnahme des Kopfes gnnz in Blasen mit Schwefel- 
wasserstoffgas gebracht, in einigen Minuten umkamen ,• wonach 
denn das Blut der Gefdfse unter der Haut braun, klebrig war. 
s. Orfila toxicologie 2. p. 482. epp. 7. 

(Der tteschlufs folgt.) 



3) Im Bade sehr selten , wohl 
aber später, tritt Schweifs ein. 



4) Alan empfindet im Bade u. 
nach demselben ein Gefühl von 
Erfrischung, u. Leichtigkeit der 
Muskular-Actionen. Nur zu lange 
Dauer des Bades mit ununter- 
brochenem Sprudel bringt Ab- 
spannung hervor. 

5) Die Haut wird rotb, fleckig, 
turgescirend. 

6) Die Urinabsonderung zeigt 
sich häufig vermehrt. 

7) Der Puls wird weich, voJJ, 
undulirend. 

8) Die Wirkung des Bsdea 
ist nachhaltiger und andauern- 
der. 

» 

o,) Wer das trockne Gasbad 

Sot erträgt, dem scheint auch 
as Sprudelbad gut zu bekom- 
men. 

10) Das Bad wirkt mehr auf 
die Säfte , durch Besorption des 
Gases. 



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N°. 65. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Mediän — Badclilerahir. 

(Beschluft.) 

Ebenso mochte wohl schwerlich die Ansicht des Verf., dafs 
in den Bädern aas Eisensäuerlingen die Kohlensaure das eigentlich 
Stärkende und Heilsame sey (pag. 8i ff.) Beifall finden, denn die 
Wirkung jener stimmt zu sehr auch mit der übrigen Wirkung 
des Eisens überein und nach des Ref. Meinung sollte vielmehr die 
Eigentümlichkeit der Wirkung der Kohlensäure hervorgehoben 
seyn, da diese gewifs in vielen Fällen zur Belebung und Stärkung 
des Organismus palst, wo Eisen bedenklich seyn mochte. 

Ehe die speziellen Krankheitszustände angegeben werden, 
welche die Anwendung der kohlensauren Bäder indiciren, empfiehlt 
sie der Verf. bei Alten, für das weibliche Geschlecht, zu Nach- 
kuren, um die zu sehr aufgeregte Thätigkeit der Haut ohne Ge- 
fahr zu mäfsigen, und auch zu vorbereitender Kur. Unter den 
Krankheiten selbst werden aufgeführt : allgemeine Schwäche, Schwä- 
che der Haut, Ephidrosis, veraltete atonische Geschwüre, unter- 
druckte Hautthätigkeit, besonders, „wo zugleich ein durchdringend 
belebender und erregender Einflufs auf das Nervensystem ausge- 
übt werden muPs" (schon einer von den Zuständen, wo man 
einfache kohlensaure Bäder wohl den eisenhaltigen vorziehen wurde), 
Lähmungen, besonders von Leiden der peripherischen Nerven, 
von Gicht, Rheumatismus abhängig, kacbectische Lähmung, meta- 
statische, Krämpfe, Blutdüsse, Amenorrhoe, Schleimflüsse; — wo- 
bei sehr erfreulich die Bemühung des Verfs. hervortsitt, die be- 
sonderen pafsenden Fälle näher zu bezeichnen; — als Gasdärapfe: 
bei Amblyopie, Verdunkelung der Hornhaut, Otorhöe, Schwerhö- 
rigkeit Die Indication für Krankheiten der Respirationsorgane 
ist noch problematisch , vom Verf. aber die gegen das Asthma, 
dem Emphysema pulmonum zum Grunde liegt, auf eine scharf- 
sinnige Weise hervorgehoben, indem auf die contrahirende Wir- 
kung der Kohlensäure gerechnet ist; Verf. führt freilich eine 
Beobachtung an, wo Verbesserung des Zustandes bei gleich- 
zeitigem Gebrauche der Sprudelbäder eintraf, doch mochte Ref. 
gegen diese Indication bemerken, dafs wohl schwerlich das eigent- 
liche Emphysem (vesiculare) selbst je Heilobject seyn kann , son- 
dern nur der chronische Katarrh, auf welchem jenes basirt ist, 
dafs durch die Unbrauchbai keit mehrer Lungenzellen die Oxygen 
aufnehmende Oberlläche der Lungen vermindert ist, also wohl 
schwerlich eine Luft pafst, die weniger Oxygen enthält. Uebri- 
i gens ist es eine erfreuliche Erscheinung, auf den noch so viel 
vernachläfsigten Gebrauch der Auscultalion und Percussion Rück- 
sicht genommen zusehen, denn nur Beobachtungen, die mit 

XXX. Jahrg. 10. Heft. 65 



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1026 Medicia - Badelitcritur 

auf solche Untersuchungen der Brust gegründe t sind, 
haben Werth, am über die Frage der Heilkraft eines 
Mittels bei diesem oder jenem Brnstleiden entschei- 
den zu können. 

Schliefslich ist noch der übrigen Heilschätzc Meinbergs, die 
schon länger bekannt sind, kurze Erwähnung gethan. Uebrigens 
hat die Schrift eine rein medicinische Tendenz und ist frei von 
den oberflächlichen „geschichtlichen, botanischen, zoologischen" 
und andern unförmlichen Aaswüchsen mancher Bade- und Bruu- 
nenschriften, die höchstens den Neugierigen interessiren und — 
einige Bogen anfüllen. 

Die Schrift von Hergt über Langenbrücken empfiehlt 
sich auf ähnliche Weise und anfser der Gediegenheit derselben 
durch den Umstand, dafs* der Verf. als früherer Badearzt ge- 
nau mit den Wirkungen des Wassers bekannt ist, ohne dabei den 
Verdacht zu erregen, für sein Mineralwasser eingenommen zu seyn. 
Von der Lage Langenbrückens ist der Schutz gegen Nord- and 
Nordostwinde durch die Hfigel, welche den Saarn des Schwarz- 
waldcs gegen das Rheinthal bilden, um so mehr hervorzuheben, 
als dieses Schutzes gerade Kranke, die wegen rheumatischer, 
gichtischer Beschwerden oder wegen Hals- und Brustübel von Schwe- 
felbädern oder ScbwefelwasserstofTgasbädem Heilung erwarten, 
dieses Schutzes vorzugsweise bedürfen, und wenn L. auch in Be- 
ziehung auf die Intensität der Wirkung nicht an Eilsen und Nenn- 
dorf reicht, so möchte es in einem ziemlichen Umkreise wohl die 
Vergleichung mit andern gleichartigen Wässern nur wünschen 
dürfen, besonders aber, was die Einrichtungen für Erhitzung des 
Badewassers ohne Verlust des Schwefelwasserstoffes (pag. 7), die 
verschiedenen Doochen und besonders das Gasbad betrifft (pag. 9). 
In dieser Beziehung kann Ref. aber der (pag. n3) geäufserten 
Meinung über die Trennung der Kohlensäure vom Scnwefelwas- 
serstofV nicht beistimmen. Die Kohlensäure soll als sp. schwerer 
in dem Gos-Reservoir, in welches Schwefelwasser von der Decke 
her herabfällt, und in welchem die Gase vom Wasser sich entbinden 
und ansammeln, und aus welchem dann das Gas erst in das Badekabi- 
net in beliebiger Menge eingelassen wird, von dem Schwefelwasser- 
stoffgas sich trennen und die tiefere Schicht einnehmen, so dafs 
durch die hoher angebrachte Oeffnung nur das Schwcfelwasscr- 
stoffgas in das Badekabinet eintreten könne. Verschiedene Gas- 
arten , wenn sie einmal gemischt sind, trennen sich nicht zufolge 
ihrer verschiedenen sp. Schwere in besondere Schichten; vielmehr 
mischen sich Lagen verschieden schwerer Gase trotz der ver- 
schiedenen sp. Schwere nach einiger Zeit gleichmäfsig*). Diese 
Trennung auf leichte Weise zu bewirken , ist noch immer ein 
Problem, was man in Eilsen, so viel Ref. weifs, durch ungelösch- 
ten Kalk, der ins Gaszimmer gestellt wird, zu losen suchte, was 

•) vgl. z. Li Geiger, Pharmacic 1. Th. pag. 46—47. 



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Medicin — Badcliteratnr. 



1027 



aber in den Fällen, wo es nothig erachtet wurde, ohne besondere 
Vorrichtung durch dasselbe Mittel in Langenbrücken noch besser 
erreicht werden konnte, indem man den Halb nicht in das Gas- 
zimmer selbst (Ausdünstung frisch geweifster Zimmer), sondern in 
das Gasreservoir stellte. In Bezug hierauf mochten übrigens 
Zöge! 's*) Worte fiber das Gasbad: „Das hier mehr freie kohlen- 
saure Gas wirkt hier gewifs am wohlthä'tigsten," zu berücksichti- 
gen sejn. 

Von den geognostischen Verbältnissen, über welche der Verf. 
die Angaben dem Dr. Blum in Heidelberg verdankt, wäre wohl 
der bituminöse brennbare Schiefer zu berücksichtigen (die Bildung 
des Schwefelwasserstoffs aus dem bituminösen Schiefer, den Geiger 
auch untersuchte, weiter erörtert p. 32 ff.), da ein solcher Quell- 
boden vor dem Verdachte schützt, als verdanke das Wasser sei- 
nen SchwefelwasserstofTgehalt — was bei manchen vermeintlichen 
Schwefelwässern sich auswies — einem Fäulnifsprocesse, — wo- 
mit denn auch der Gehalt an schwefelhaltigem Harz und die son- 
derbare Eigentümlichkeit des Langenbrücker Wassers, welche es 
mit dem Weilbacher gemeinsam hat (pag. 2o\ in Verbindung zu 
bringen wäre, dafs es auf Kruken gefüllt die ersten Tage keine 
Reaction auf SchwefelwasserstofTgas zeigt, die erst nach einigen 
Wochen wieder sich allmählig einstellt (pag. 137). 

§. 23 ff. wird die Analyse des Wassers von dem ausgezeich- 
neten praktischen Chemiker Geiger mitgetheilt, wo aber aus 
Versehen die Angabe der Wassermenge, in welcher die angege- 
benen Maas- und Gewichtsthcilc «enthalten sind (pag. 28 — 29I, 
vergessen ist; dafs dies aber die gewöhnlich angenommene Menge 
von 16 Unzen sey, kann man finden, wenn z. B. die angegebene 
Menge des hydrothionsauien Gases ( — in der Trinkquelle o,25 
K. Zoll, in der Kanalquelle 0,22 K. Zoll — ) welche, wie die An- 
merkung von G. sagt, nach dem Niederschlage des Kupfers be- 
stimmt ist , (aus 4 Pf« Wasser 1 gr. (p. 22)) aus diesem Nieder- 
schlage selbst nach den stochiometrischen Verhältnifsen und der 
Schwere des Schwefel Wasserstoff gases berechnet. Mehr zu be- 
dauern ist, dafs die in neuester Zeit i83/» zu Tage geforderte 
Gasquelle, die durch Geruch und Geschmack stärkeren Gehalt an 
Schwefel wasserstpffgas und Bitumen vermuthen läfst (pag. 29, 3o), 
nicht auch noch von Geiger untersucht ist. In der pharmakody- 
namischen Betrachtung des Schwefelwassers spricht die Meinung 
über die besondere Wirkung des Schwefels auf das venöse Gc- 
fäfssystem, der des Eisens auf das exterielle verglichen, Ref. be- 
sonders an (p. 38). Nach der Angabe der Krankheiten, bei wel- 
chen L. indicirt ist, folgt eine Reihe zon 87 Beobachtungen, nach 
Ref.'s Meinung die beste Art, die Indicationen zu begründen und 
dem Arzte klar zu machen, der einen Kurort für seinen Patien- 
ten auswählen soll. Gelungen darf man auch die Vorschriften 
— 

•) ■. Abhdlng. aber das Mineralwasser und die Heilbäder su Eilsen. 
Bückeburg, 1831. 



1028 



SchalscbrifteD. 



über das Trinken, Baden, diätetische Verhalten nennen, besonders, 
wenn man, wie der Verf. gethan zu haben scheint, denkt, dafs 
auch die Kranken diese Regeln lesen; gewifs eine zweckmäßigere 
Zugabe für dieselben, als historisch. romanhafte Einschiebsel und 
Beschreibung dessen , was sie an Ort und Stelle besser sehen als 
lesen. Den Schlufs macht der Gebrauch des L. Wassers entfernt 
von der Quelle, wobei auch eine vergleichende Untersuchung des 
L. und Weilbacher Wassers sich findet, zu gleicher Zeit an den 
Quellen gefüllt und dann in gleichen Zwischenräumen in Heidel- 
berg unter Gmelin's Anleitung, von des Verfs. Bruder, jetzigem 
Assistenzarzte an der Irrenanstalt zu Heidelberg, geprüft (vgl. 
Annalen der Pharm arie v. Brandes, Geiger und Liebig, III. Bd. 
2. Hft. pag. 175 ff.). Aus dieser Analyse ergibt sich, dafs die 
Menge der Hydrothionsaure, die, wie oben schon bemerkt, erst 
einige Zeit nach dem Füllen wieder auftritt, im L. Wasser zu 
der im Weilbacher sieb wie i3r5 verhielt. 

Heermantu 



gCHULSCHRIFTEN. 

Französische Sprachlehre für Schulen und zum Privatunterricht von 
J. F. Schaff er. Inhalt; l) Aussprache, Orthographie, Anfangsgründe, 
als erster Cur$u§. 1) Grammatik, ah zweiter und dritter Cur- 
aus. Z) Regeln der Syntax, alt vierter Cursus. 4) Prosodie und 
Versbau; Verwandtschaft und Abstammung der Wörter. 5; Mt franzö- 
sisch , erläutert durch Beispiele — Zehnte verbesserte und stark ver- 
mehrte Auflage. — Hannover, 1886. Im Verlage der Hahn'schcn liof- 
buchhandlung. XII und 554 S. gr. 8. (Die 9. Ausg. erschien 1833 und 
hatte XII und 524 Seiten.) 

Französisches Lesebuch mit erklärenden Ao<en und einem IVbrterbuche. 
Von J. F. Schaff er. — Dritte, mit mehrern Bruchstücken aus den 
neuesten französischen Schriftstellern und mit Guillaume Teil, par 
Af. de Florian, vermehrte Auflage — Hannover, 1835. Im Verlage , 
der Höhnischen Hofbuchhandlung. VI und 323 S. gr. 8. 

Ref. hat schon bei Gelegenheit des franzosisch-deutschen und 
des ersten Theils von dem deutsch- französischen W 7 orterbuche 
von demselben Verfasser Gelegenheit gehabt, die Verdienste des 
Herrn Schaff er um den Unterricht in der franzosischen Sprache 
anerkennend zu erwähnen. Er wiederholt dies hier in der kur- 
zen Anzeige der obigen zwei Werke, die als neue Auflagen keine 
ausführliche Beurtheilung fordern. Eine Grammatik, die bei der 
Unzahl französischer Grammatiken die 10. Auflage erlebt, mufs in 
sich etwas Empfehlendes haben, und es kann nicht blofs ein Zu- 
sammenflufs günstiger Umstände seyn, der ihr diese Gunst des 
Publikums verschaffte. Zwar bat am Schlufse des vorigen und 
im Anfange dieses Jahrhunderts eine franzosische Grammatik, die 



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Schulschriften. 1029 

jetzt mit Recht fast Niemand mehr beachtet, die Meidinger'sche, 
mehr als zweimal so viele Auflagen, die Nachdrucke ungerechnet, 
erlebt: allein man weifs die Ursache dieses Beifalls. Ist aber ein- 
mal ein Name der Art in den Ohren des Publikums gleichsam 
eingewurzelt, so erhält sich das Buch in dessen Händen und wenn 
es auch längst zehnmal bessere gibt. Man denke nur an die kleine 
lateinische Grammatik von Broder. Mit Hrn. Schalters Gramma- 
tik verhält es sich nicht so. Sie dankt ihre grofse Verbreitung, 
die sich übrigens nach Suddeutschland noch wenig zu erstrecken 
scheint, ihrem innern Gehalte und Werthe, und ihrer Methode, 
deren Charakteristisches darin besteht, dafs sie den Lernenden im- 
mer fortschreiten lö'fst, ohne etwas zu antieipiren: dafs ihm keine 
Form und Zusammenstellung der Worter gegeben, aber auch 
keine Form oder Zusammenstellung von ihm verlangt wird, die 
er selbst zu bilden nicht im Stande wäre: so dafs der Lernende 
seine Aufgaben mit genauer Sachkenntnifs und mit einem auf seine 
bisher erworbenen Kenntnisse gegründeten Selbstvertrauen ausar- 
beitet, das ihn jeden Fehler um so leichter vermeiden läfst. 
Diese so pädagogisch-richtig aufgefafstc und in ihrer Ausfuhrung 
so gelungene Methode ist es gewifs, was dem Buche so grofsen 
Beifall erworben hat und was ihm denselben sichert Sie ist auch 
in der kleinen franzosischen Sprachlehre desselben Verfassers, die 
für die ersten Anfanger berechnet ist und 1 833 in demselben Ver- 
lage in der zweiten Auflage erschien, befolgt. Uebrigens sind die 
Lehrbucher des Verf. so ausgearbeitet, dafs jedes für sich ein ab- 
geschlossenes Ganze bildet, die kleine Sprachlehre nicht nothwen- 
uig den Uebergang zu der gröfsern oder zum Lesebuche erfor- 
dert, die grofsere Sprachlehre nicht den vorhergehenden Gebrauch 
der kleinern erheischt, die vollständige Syntax*) als höhere Gram- 
matik für sieb abgeschlossen ist, eben so auch das Lesebuch für 
sich besteht und blofs einige Kenntnifs der Grammatik voraussetzt, 
aus welcher Sprachlehre sie auch geschöpft seyu mag. 

Die Methode des Verf. ist vielfach in später erschienenen 
Sprachlehren, wiewohl unvollkommen, nachgeahmt worden, man 
hat sie für die einzig richtige erklärt, aber den, der sie zuerst 
consequent durchführte, nicht genannt. In das Einzelne des reich- 
haltigen und höchst empfehlenswerthen Buches einzudringen, ver- 
bietet uns der für diese Anzeige vergönnte Raum. Nur eine Frage 
wollen wir uns erlauben, nämlich: wie es möglich war, dafs ein 
ganz falsch, und durch Nicht kenntnifs der griechischen Sprache 
ganz verkehrt gebildeter Ausdruck bis in die zehnte Ausgabe un« 
gerügt und unverbessert , und noch dazu in zwei verschiedenen 
falschen Formen, kommen konnte, nämlich der dem Diphthong 
entgegengesetzte Monothong (monoton gue)\ Es scheint, der 
Bildner dieses verunglückten Wortes dachte sich den Diphthong 



*) Ein besonderes Buch unter dem Titel: Vollständige SynlHx der fran - 
sösischen Sprache, durch Beispiele aus den besten franz. Schrift 
steilem erläutert, für Schulen und zum Privatunterricht 2. Aufl. 



9 



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1030 Schulschriften. 

Itl.cpSo'f ) , zusammengesetzt aas Diph und thong: nun kam 
ihm sehr natürlich vor, den Ein töner (10 nennt er ihn deutsch) 
gelehrt Mono- thong zu nennen, da der Zweitöner ja Dipb- 
thong heifse. Das franzosische Gebilde aber mufste sich gar mit 
der englischen Form tongue (Zunge) behelfen ohne h; wie man 
heul zu -Tage von denen, welche das Griechische mit der ge- 
hörigen Beschränkung (so wurde kurzlich in einer St rinde- 
kammer verlangt) gelernt haben, philan tro pische Aeusserungen 
liest, und diejenigen', welche auf Gründlichkeit dringen, Misan- 
tropen genannt werden. 

Nur noch ein Wort von dem Lesebuche. Es empßeblt sich 
nicht nur durch seine Wohlfeilheit , bei sehr eorrectem Druck, 
sondern auch durch die treffliche Auswahl und das vollständige 
Worterbuch. Die Anmerkungen sind nicht zu zahlreich und nichts 
weniger als so trivial, wie man sie in so vielen zu gleichem Zwecke 
bestimmten Sammlurfgen findet. Eine besondere Zierde des Bu- 
ches sind die aus dem Livre des Centet-un ausgehobenen Stücke, 
und der ganze Guillaume Teil von Florian. 

An diese kurze Anzeige schiiefsen wir die von der Fortsetzung 
des deutsch-französischen Wörterbuchs von demselben Verfasser. 
Es ist uns neulich zugekommen: 

Neues französisch-deutsches und deutsch-französischee Wör- 
terbuch von J. F. Sek äff er. — Inhalt: 1. Alle gebräuchlichen Wör- 
ter und ihre verschiedenen Bedeutungen im eigenthümlichen und bildli- 
chen Sinne, dargestellt durch eine Menge von Beispielen aus den besten 
Schriftstellern} 2. die technischen Ausdrücke der Wissenschaften und 
Künste ; 3. die Benennungen der alten und neuen Geographie und die 
Eigennamen der Personen; 4. die Aussprache» wenn sie sich von den ge- 
wöhnlichen Regeln entfernt; 5 die vorzüglichsten Synonymen beider 
Sprachen, in einem besondern Wörterbuche ; 6. Tabellen, welche die all- 
gemeine und besondere Conjugation der Zeitwörter, die lexikologische 
Bildung der Wörter, und das neu-französische Maafs- und Gewicht»' 
System darstellen. — Zweiter Theil. — Deutsch-französisch. — 
Zweite Abtheilung. K — R. Hannover, 1837. Im Verlage der 
Ilahn'schen Hofbuchhandlung. 43 Bogen gr .8. (Die dritte und letzte 
Abtheilung, etwa 45 Bogen stark, soll in kurzer Frist nachfolgen.) 
(Das Werk hat auch einen, Gleiches enthaltenden, französischen Titel.) 

Den französisch-deutschen Theil dieses Werkes haben, wir im 
Aprilheft des Jahres i836 mit gebührendem Lobe angezeigt, den 
ersten Band des deutsch-französischen Theils im November i836» 
Jetzt ist das Ganze seiner Vollendung nahe, und, nur der grofse 
Reichthum der deutschen Sprache hat die gröfsere Ausdehnung 
des deutsch-französischen Theils, über den Umfang des französisch- 
deutschen hinaus veranlagst und die Beendigung des Werkes et- 
was hinausgeschoben. In unsern bisherigen Anzeigen haben wir 
den Charakter des Werkes hinlänglich dargelegt, haben seinen 
Reichthum, seine bequeme Einrichtung, seine relative Wohlfeilheit 



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SchuUchriften. 1081 

herausgehoben, das schone Papier uod den correcten Dmek an- 
erkannt, und somit das Schafler'sche Worterbuch Lehrenden uod 
Lernenden aus Ueberzeugung empfohlen. Von dem vorliegenden 
Tbeile haben wir wieder viele Artikel gelesen, fast nichts, was 
wir suchten, vermißt, dagegen in mancher Hinsicht einen Reicb- 
tbum gefunden, wie ihn selbst das grofse Wörterbuch von Mozin 
nicht darbietet. So finden sich z. B. bei diesem 120 Worter, die 
mit Kirchen- zusammengesetzt sind, bei Herrn Scharfer i34. 
Doch um zu beweisen, dafs wir nicht blofs gemessen, gezählt und 
verglichen haben, wollen wir noch einen kleinen Raum für einige 
Bemerkungen, oder, wenn man will, Ausstellungen in Anspruch 
nehmen. 

Unter kahl bemerken wir, dafs wir zu der Redensart: Das 
kommt kahl heraus, die Bedeutung mesquin vermissen; ferner 
dafs die Redensart: ein kahler Empfang, weggestrichen wer- 
den mufs. Seine französische Uebersetzung : un froid accueil, hätte 
ihn selbst aufmerksam machen • können , dafs man im Deutschen 
sagen mofs: ein kühler (kalter, frostiger) Empfang. Unter 
kalt kommt richtig dieselbe Redensart. Wäre kabl recht, so 
müfste man auch von kahler Freundschaft, kah ler Theilnahme 
u. dgl. sprechen können — Dafs man den Namen des Reforma- 
tors Kai v in auch französisch gewöhnlich Calvin schreibt, ist 
wohl richtig: aber eigentlich hiefs sein Familienname doch Chau- 
vin. — Entbehrlich finden wir Wörter wie Kammer mensch, 
ich kanone, Kammpfennig, Kanonenball, Kanonen- 
schütz und ähnliche, die Niemand sucht, weil man sie nicht braucht. 
— Bei vielen Wörtern, die in verschiedenem Sinne gebraucht, 
auch verschiedene Bedeutungen haben, finden wir diese Bedeu- 
tungen zwar durch item-Uem von einander gesondert, aber nicht 
unterschieden. Wir wissen wohl, dafs dies der Kurze wegen ge- 
schehen ist: allein zuweilen konnten, ja sollten doch Winke ge- 
geben seyn, besonders da selbst das Nachschlagen im französisch- 
deutschen Tbeile (ein Umweg, zu dem sich nur wenige Lernende 
entschliefsen) nicht immer Aufschlufs gibt Wir geben nur ein 
paar Beispiele: Klaglos stellen heilst absoudre quelqu'un und 
saiisjairc aux plainles de quelqu'un. Sollte da nicht bei dem er- 
sten die Erklärung stehen lossprechen? und bei dem zweiten 
zufriedenstellen? Aber nun vollends unter dem Worte k le- 
cken finden wir iacher, souiller, und da hei : das kleckt nicht: 
cela ne suffit pas. Das wird wohl mancher geborne Deutsche nicht 
begreifen, und schlägt er iacher, souiller und sujfire nach, so fin- 
det er das Wort k lecken unter keinem dieser Artikel. Nun denke 
man sich einen Franzosen , der das deutsch-französische Wörter- 
buch braucht: wird der nicht denken, es sey ganz absurd, dafs 
ein Wort so unverträgliche Bedeutungen habe? da sollte denn 
so kurz als möglich bemerkt seyn, erstlich, dafs es zwei ganz 
verschiedene Wörter, ganz verschiedener Abstammung sind (es 
sollten also zwei Artikel im Wörterbuche gemacht seyn ), dafs das 
erste verwandt ist mit Kl ack, Klecks, das zweite die Wurzel 



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1032 Scbultcbriften. 

des Adjectiva erklecklich, zureichend (s. Frischs deutsch-Iatein. 
Wörterbuch unter Klecken); zweitens, dafs beide Worter ver- 
schieden ausgesprochen werden: das erste, souillcr, mit tiefem c, 
wie in Klecks, klecksen, das zweite mit hellem e, wie in we- 
cken, strecken. Oder sollte in Norddeutschland dieser Unter- 
schied der Aussprache vernachlässigt werden? — Zuweilen ent- 
spricht der französische Ausdruck dem deutschen deswegen nicht 
ganz, weil jener edler, dieser gemeiner ist: z. B. er ist Kerls 
genug dazu: il est bien homme ä le faire; eine klägliche 
Geschichte: un eWenement- tragique; die Ermahnungen 
bleiben bei ihm nicht kleben: il ne retient pas les exhor- 
tat Ions quon lui donnt\ mit einer Sache krumm herum 
kommen: dire une chose en termes couverts. — Zuweilen pafst 
der deutsche Ausdruck aus anderen Gründen nicht recht: z. Ii. 
unter d. Art. keinerseits, sollte es in der Phrase: la propo* 
sition n'a ete rejetee tTune aueune part nicht Vortrag sondern 
Vorschlag heifsen; unter Klagen steht undeutsch: einen 
verstorbenen Freund klagen: iajfliger de la mort de son 
ami. Derselbe franzosische Ausdruck wird in demselben Artikel 
ubersetzt: um einen verstorbenen Freund klagen. Auch 
dies ist nicht recht, obwohl richtig deutsch, denn saffliger beifst 
nicht klagen, sondern trauern, sieb betrüben. — Zu 
Klatschgeschichte: aneedote scandaleuse, bemerken wir, dafs 
manche Klatschgeschichte keine aneedote scandaleuse und manche 
anccdole scandaleuse keine Klatschgeschichte ist. Zum Schlufse 
noch eine Bemerkung zu dem Artikel klein. Hier kommt der 
Ausdruck: ein klein wenig mit der richtigen Uebersctzung 
tant soit peu vor. Man kann sich damit begnügen, das zu wissen: 
aber ein nachdenkender Schüler wird fragen, wie er dies verste- 
hen und sich erklären müsse? Pcw, denkt er, heifst zwar wenig, 
aber tant soil heifst unmöglich ein klein. Soll ich nun verste- 
hen: soviel sey wenig, so verdreht sich mir der Sinn, denn 
das ist soviel mag für wenig gelten. Hier yerläfst ihn das 
Wörterbuch. Ref. als Philolog erwartete hier einen kleinen Wink 
für den Lernenden , nämlich dafs diese altfranzösische Redensart 
aus einer, jetzt nicht mehr gebräuchlichen, Inversion enstanden 
sey, nach welcher das Prädicat voraustritt und das Subject nach- 
tritt, und der Sinn ist: Wenig mag lür Viel gelten; also: donnez 
moi tant soit peui Geben Sie mir (wenn auch) wenig: es 
sey (mir doch) viel. Freilich — der Raum! Nun der liefse 
sich etwa durch Wegiassung von Entbehrlichem, dergleichen wir 
Einiges anführten, gewinnen. Und das bringt uns gewifs in we- 
nigen Jahren die neue Auflage des werthvollen Buches. 
Ulm. G. H. Moser. 



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Schalichriften. 1033 

Eutropii breviarium historiae Romanae, herausgegeben und mit fortlau- 
fenden Ferweisungon auf die Schufgrammatiken von L. Ramshorn und 
C. G Zumpt, mit historischen und geographischen Anmerkungen und 
mit einem Wbrlerbuche von Dr. Carl Ramshorn. Leipzig, Reichen- 
buch. 190 S. 8. 

Katrop hat sich bis jetzt immer noch in den antern Klassen 
der Gymnasien als Lektüre für die Anfänger erhalten, obgleich 
für das sachliche Verständnis des Gelesenen and für ein am In- 
halte selbst zu erregendes Interesse des jungen Lesers auf dieser 
Stufe kurze Stücke einer Chrestomathie zweckmäßiger seyn möc Fi- 
ten. — Soll indessen Eutropius zur Lektüre der Anfänger sofort 
benützt werden, so ist die Ausstattung desselben, wie sie vorlie- 
gende Ausgabe bietet, für den Anfänger recht zweckmäfsig. — 
Die Anmerkungen verbreiten sich bei weitem zum gröTsten Theil 
über das Sachliche des Inhalts in Beziehung auf Geschichte und 
Geographie. — Für das Sprachliche enthalten sie nichts weni- 
ger als eine die Faulheit unterstützende Phraseologie, sondern 
meist nur die Verweisungen auf die Paragraphen der beiden Gram- 
matiken von L. Ramshorn (dem Vater des Herausgebers) und von 
Zumpt. Diese Verweisungen genügen grofstentheils auf der Stufe 
der Schüler, auf welcher Eutropius gelesen wird. Nicht unzweck- 
mäfsig wäre es aber gewesen, wenn auch kurze synonymische Er- 
klärungen von solchen Wörtern, die in der romischen Geschichte 
öfters vorkommen, z. B. potestas, Imperium, regnum etc. — ent- 
weder in den Anmerkungen oder in dem Wörterbuche gegeben 
wären. Ueberhaupt dürfte das Wörterbuch in Beziehung auf die 
angeführten Bedeutungen der Worter etwas reichhaltiger seyn, 
so wie es auch mehr einzelne Redensarten enthalten konnte. Z. B. 
für .accessit in: Romanis accessit animus (L. 3, cap. 10) ist keine 
passende Bedeutung im W 7 örterbuche angegeben u. dgl. mehr. — 
Ein anderer Lebeist and wird dadurch hervorgebracht, dafs die 
beiden citirten Grammatiken nicht allerwärts übereinstimmen. Da- 
durch ist manchmal ein Citat aus Ramshorn pafsend, aber nicht 
aus Zumpt, obgleich es dennoch angeführt ist; z. B. L. 5, cap. 6 
ist zu secundus a Sulla auf Ramsh. §. i5o, A, c. und auf Zumpt 
§. 3o4 verwiesen. Hier kann wohl aus dem Ramshornischen Citat 
der Anfänger die Bedeutung der Präposition a in dieser Verbin- 
dung erkennen, aber nicht so aus dem Zumptischen, da diese Ver- 
bindung bei Zumpt nicht angeführt ist. — Statt den Inhalt eines 
jeden Capitels an den Anfaug der Anmerkungen zu dem Capitel 
zu setzen, stände er wohl zweckmäßiger als Ueberschrift über 
jedem Capitel. — Dafs der Herausgeber die Vorrede oder Dedi- 
cation an Valens weggelassen hat, — dazu ist wohl kein hinrei- 
chender Grund vorhanden. — Die typographische Austattung des 
Ganzen ist gut. 



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Neues praktisches Lehrbuch zur fajslichcn and grundliehen Erlernung der 
lateinischen Sprache. Für Gymnasien und für höhere Bürgerschulen. 
Von Dr. II. Müntzer. — Erster Cursus für Sexta und Quinta, — Colu 
1837. Verlag von F. E. Eisen. 

Der Verf. tritt mit sehr viel Anmafsung gegen alle vorhan- 
denen Grammatiken auf. Alle sind ungenügend, und der Zweck 
der seinigen ist: »die manchfaltigen so wichtigen Erfolge der all- 
gemeinen wie der besondern Sprachforschung soviel als möglich 
auf den ersten Unterricht anzuwenden; alles Unvernünftige, den 
jugendlichen Geist mehr Beschränkende als Anregende, dessen so 
viel in unsern gangbaren Lehrbüchern sich findet, aus ihrem Be- 
reiche zu verbannen , u. s. w. — Nach diesen Anmafslichbciten 
des Hrn. Verf. macht es einen sehr üblen Eindruck, wenn man 
bei näherer Einsicht seines Büchleins sich überzeugt, dals die 
Resultate der neuern Sprachforschung nicht besonders seine Ar« 
beit durchdruugen haben, dafs vielmehr in seinen gereimten Re- 
geln sehr viele oberflächliche Empirie sich darstellt; z. 13. : 

Neatra ainil alle Nomina, 
An deren Ende ein Vocal. 
Nur die der ersten auf ein n 
Und e sind weiblieh alisumal. 

Eben so schief sind zum Theil die gereimten (Juanritatsregeln 
gestellt, und werden in dieser Form dem Anfanger meist unver- 
ständlich seyn. Eine besondere Eigentümlichkeit, in der der Vf. 
dem Mechanism auf den Kopf zu treten glaubt, besteht darin, dafs 
er kein Schema einer Declination in einem einzelnen Wort durch- 
fuhrt, sondern für jeden Casus ein anderes Wort nimmt, z. B. 

Sing. N. u. V. mensa, 
G. u. D. aquae, 
Acc. ripam, 
Abi. fortuna. u. s. w. 

Hätte der Verf. einen richtigen Begriff von gesunder Me- 
thode, so könnte er nicht in diese höchst unzweckmäßige Weise 
verfallen; oder wollte er darin consequent seyn, so müfste er wohl 
auch bei der Conjugation aufstellen: amo, laudas, latrat u. s„ w. 
anstatt: amo, amas, amat; — und warum nicht auch bei den Ad- 
jectiven : bonus, mala, magnum, anstatt: bonus, bona, bonum? — 
Das höchst Unzweckmässige eines solchen Verfahrens erhellet 
leicht von selbst; und Ref. möchte nicht in Weitläufigkeiten sich 
verlieren, sondern in Kürze sein Urtheil dabin abgeben: so an- 
mafsend der Verf. auftritt, so wenig Gehalt hat seine Grararoatib. 

Kritisch erklärendes Handwörterbuch der deutschen Sprache mit Hinzufü- 
gung der gewöhnlichen in der Umgangssprache vorkommenden Fremd- 
Wörter, und Angabe der richtigen Betonung und Aussprache, nebst einem 
Verzeichnisse der unregelmässigen Zeitwörter, Für Gebildete aller 
Stände eingerichtet und nach den neusten und besten Quellen bearbeitet 
von F. A. Weber. Stereotyp-. 4usgabe, in Lieferungen. Erste Lieferung 
Leipzig 1837. Verlag v. K. Fr. Köhler und Bernh. Tauchnitz jun 

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Schulachriften 1035 

Da das grammatische' Wörterbuch der deutschen Sprache 
Ton Oertel (für Friedens- and Kriegsbeamte, für Kauf-, Handels- 
und andere Geschäftsleute) minder genügend ausfiel, so scheint es 
nicht unzweckmässig, den Gebildeten aller Stände, die nicht ein 
Werk von gröTserem Umfange sich anschaffen, ein Handworter- 
buch der Muttersprache darzubieten. Und in der That hat das 
Torliegende, auf das gemeine Bedürfnifs berechnete Wörterbuch 
manche Vorzuge, die es zu empfehlen dienen. Durch seinen sehr 
ökonomischen, ober doch klaren und deutlichen Druck erhält es 
eine eewisse Reichhaltigkeit ohne grofses Volumen. — Während 
das Oertelsche Wörterbuch sich mit den von Vofs in seiner 
Uebersetzung des Homer neugebildeten Wortforraen und mit vie- 
len Campe'schen Wortbildungen unnütz bereicherte, hat das vor- 
liegende theils die gangbaren Fremdwörter und sehr viele ächt- 
deutschen technologischen Ausdrucke (besonders aus dem Berg- 
baue u. s. w.) aufgenommen. — Die Betonung sammt der Quan- 
tität der Silben eines Wortes ist (wie in griechischen Wörter- 
büchern) hinter jedem Worte durch Silben- und Accentzeicben 
angegeben; z. B. (anmahnen ( — ' — t?) Backenbart ( — 'v — ) 
u. dgl. — In Beziehung auf die Qualitätszeichen ist Bef. nicht 
uberall mit Verf. einverstanden. Es ist wohl durchaus unrichtig, 
dafs deutsche Stammsilben in zusammengesetzten Wörtern als 
Kürzen bezeichnet werden, wenn sie unter gewissen Umständen 
einen minder starken Ton erhalten. Während z. B. anläuten 
lichtig mit — ' — v bezeichnet ist, wird Anläutegeld durch 
— ' vv — 8 tatt durch — ' — v — bezeichnet, als ob die Stammsilbe 
laut hier eine Kürze wäre. So auch Anmarsch richtig; — ' — , 

aber anmarschiren unrichtig; — ' v — v statt — ' v. Diese 

Verkürzung des Stammes setzt der Verf. meist bei dem Zurück- 
treten des Tons von demselben, z. B. aufkündigen ( — 'v — r), 
wobei noch die Unrichtigkeit eintritt, dafs die Nebensilbe ig alt 
Länge erscheint. Bei dieser allzugrofsen Rücksichtnahme auf die 
Betonung bei der Quantitätsbestimmung, wobei sich so viel als 
möglich ein jambischer oder trochäischer Rhythmus in jedem ein- 
zelnen Worte ergeben soll, ist es um so auffallender, dafs der 
Verf. die Nachsilbe ung, die stets tonlos und an sich kurz ist, 
immer als Länge bezeichnet; z.B. Anleitung ( — ' ) An- 
merkung ( s, — ), Ansehung (— ' ), Ahnung (— ' — ) 

u. s. w. — Von der Vollständigkeit der Arbeit geben wir einen 
Beleg, wenn wir anführen, was wir auf einer einzelnen Seite an 
Woltern vermifsten, ohne uns in die Vergleichung eines voll- 
ständigen grofsen Werkes eingelassen zu haben. So also fehlen 
S. 49 Annäherung, Annehmlichkeit, Anordnung, wel- 
ches gewifs ganz gewöhnlich gebrauchte Wörter sind; zu denen 
Bef. absichtlich die Adverbialform von anmutbig, nämlich: 
anmutbiglicb, nicht mitgezählt hat. — Wenn nun auch nicht 
auf jeder Seite gleich viele Wörter fehlen, so dürfte doch wohl 
in Beziehung auf Vollständigkeit der vorliegenden Arbeit Manches 
abgehen; was um so schwerer für die Zukunft verbessert oder 



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1036 



SchuUchriflen. „ 



ersetzt werden kann, als das Werk stereotypen Satz hat. — Der 
Herausgeber mufs daher um so sorgfältiger bei der Ausarbeitung 
der folgenden Lieferungen seyn , damit das Buch nicht im Allge- 
meinen mangelhaft und ungenügend erscheine. 

Feldbausch. 



Real- Kncyclopädic der elastischen Alter t humsuisaensc h oft 

in alphabetischer Ordnung. Von Hofrath CA. F. Hahr und Geh. Rath, 
Comthur Friedr. Creuzer in Heidelberg ; Director G. F. Grotefend und 
Dr. C. L. Grotefend in Hannover; A Haakh, Schulinspector ff. Hei- 
gelin und A. Helfferich in Stuttgart ; Geh. Hofrath , /Zitier Fr. Jacob» 
in Gotha ; C Krafft in Stuttgart ; Prof. C. // . Müller in Rem ; Prof. 
L. Octtinger in Freiburg ; Prof. W. Rein in Eisenach; Prof. TA. Schuck 
in Bisehoff sheim a d. T. ; Prof. G. L. F. Tafel und Prof. CA. ff alz in 
Tübingen; Prof. A W. Winkelmann in Zürich; Ministerialrat C Zell 
in Carlsruhc und Andern, und dem Herausgeber August Pavly, Pro- 
fessor in Stuttgart. Erster Band. Stuttgart. I ''erlag derJ.U.Met%- 
ler'schen Buchhandlung. 1837. Die beiden ersten Lieferungen 100 S gr. 8. 

Wenn der Unterzeichnete , dessen Namen neben dem seines 
verehrten Lehrers und anderer hochgeschätzten Freunde auf dem 
Titel dieses Werkes unter den Mitarbeitern aufgeführt ist, sich 
erlaubt, die Erscheinung dieses Werltes durch eine kurze Anzeige 
zur Kenntnifs des Publikums zu bringen, so kann er dabei nur die 
Absicht haben, die Grundsätze, nach welchen das Ganze unter- 
nommen, hervorzuheben und zugleich, so weit es möglich ist, die 
Ausfuhrung in den bis jetzt erschienenen beiden ersten Heften 
nachzuweisen, weil er dadurch hoflen kann, seinen Lesern am besten 
einen Begriff dessen zu geben , was sie in einem solchen Werke 
zu suchen und zu finden, was sie überhaupt von einem solchen 
Werke zu erwarten haben, das vielfach in unserer Zeit gewünscht 
und in dieser Beziehung einem wesentlichen Bedürfnisse entgegen- 
kommend, da frühere ähnliche Wei he längst veraltet und für un- 
sere Zeit und den jetzigen Standpunkt der Wissenschaft durch- 
aus unbrauchbar und ungenügend erkannt sind, doch bisher 
nicht zu Stande kommen konnte, und auch, seiner Natur nach, 
nur durch einen Verein von Gelehrten, welche die Bearbeitung 
der einzelnen Artikel, je nach ihrer besonderen Richtung und 
Beschäftigung, übernehmen, zu Stande kommen kann. Aber eben 
in der Schwierigkeit, einen solchen Verein zusammenzubringen, 
durch den allein dem Werke der Charakter der Gründlichkeit in 
den einzelnen Artikeln verliehen werden kann, der aber doch wie- 
der zugleich nach gewissen allgemeinen Normen, die zu bestim- 
men nicht leicht ist, verfahren soll, wenn anders dem Ganzen eine 
nicht blofs äufsere Gleichförmigkeit, sondern auch eine gewisse 
innere Einheit gegeben werden soll, ferner in der Schwierigkeit, 
einen Mann zu finden , der mit eben so viel Kenntnifs und Ein- 
sicht als Gewandtheit und Ausdauer die zweckmäfsige Leitung 
des Ganzen übernehme, und durch seine Persönlichkeit den Mit- 
arbeitern wie dem Publikum ein Vertrauen in das ganze Unter- 
nehmen einzuflöfsen vermöge, wie es doch zum ersprießlichen 



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/ 



. Schulschriftcn. * 1037 

Gedeihen desselben nöthig ist, lagen Haupthindernisse, die wohl 
bisher hemmend der Ausführung eines solchen zeitgcmäfsen Wer- 
kes, das dem Lehrer wie dem Lernenden auf gleiche Weise die- 
nen und die Resultate wissenschaftlicher Forschungen in dem Ge- 
biete der höhern classischen Bildung in lexicalischer Form vorzu- 
legen bestimmt ist, im Wege gestanden sind. Jetzt, wo der An- 
fang eines solchen Unternehmens gemacht ist, und dessen rascher 
Fortgang, so weit es die Natur der Sache selbst erlaubt, nicht zu 
bezweifeln steht, bann, wie wir wohl mit Becht behaupten zu 
dürfen glauben, das Publikum sich vor Allem freuen, dafs die 
Leitung des Ganzen und die Ausfuhrung eines in vielen Bezie- 
hungen so schwierigen Unternehmens in die Hände eines Mannes 
gelegt ist, der die oben bemerkten, zur Ausfuhrung so nothigen 
Eigenschaften in jeder Hinsicht vereinigt, dessen in der gelehrten 
Welt ruhmlichst bekannter Name, seine unermüdliche und um- 
sichtige Tha'tigkeit dem Publikum so wie den Mitarbeitern, die 
sich ihm angeschlossen haben, die beste Burgschaft für das Ge- 
deihen der unternommenen Sache darbieten kann. Derselbe hat 
in der Vorrede die leitenden Grundsätze des Ganzen auf eine so 
treffende und bezeichnende Weise auseinander gesetzt, dafs Bef. 
sich wohl erlauben darf, zur richtigen Würdigung des Ganzen 
sie mit des Verf. eignen Worten hier mitzutheilen. 

» Diese Grundsätze, » schreibt der Herausgeber, » ergeben sich 
im Allgemeinen von selbst aus der Aufgabe, ein Handlexicon, 
nicht einen Thesaurus, der verschiedenen Theile der Alterthums« 
künde, mit Ausnahme der Grammatik und Metrik, der Kritik und 
Hermeneutik, zu liefern, welches zunächst für das Bedurfnifs des 
Studirenden und des mit literarischen Hülfsmitteln minder ausge- 
rüsteten, Lehrers berechnet, zugleich geeignet wäre, auch dem 
eigentlichen Gelehrten in einzelnen Fällen ein unbequemeres ander- 
weites Nachschlagen für den augenblicklichen Bedarf, zu ersparen. 
Wiewohl sich nun das Wirken der verschiedenen Mitarbeiter 
nicht in so bestimmte Formen bannen läfst,.dafs nicht die Bei- 
träge je nach der Individualität des Einzelnen sich verschieden 
gestalten sollten — daher sich denn auch die Verantwortlichkeit 
jedes Mitarbeiters für seinen Antheil von selbst versteht — so sind 
doch gewisse Grundsätze für die Behandlung im Allgemeinen auf- 
gestellt worden, durch welche wir dem Werke die Einheit seines 
Charakters möglichst zu sichern suchen. Da nur bei einem mäfsi- 
gen Umfang eine aligemeinere Nutzbarkeit eines solchen Hülfsbu- 
ches sich erwarten läfst, so ist zunächst bundige Kürze, doch 
ohne Dürftigkeit, znm Gesetz gemacht. Nicht die Untersuchun- 
gen selbst können hier gefuhrt, sondern nur ihre Besumes, oft 
auch nur die blofsen Ergebnisse gegeben werden. Wo verschie- 
dene Meinungen obwalten, werden — wenn der Gegenstand von 
einiger Wichtigkeit ist — die erheblichsten derselben mit ihren 
Hauptgründen aufgeführt, uberall aber — und dies ist ein Haupt- 
augenmerk — die classischen Stellen und die bedeutendste neuere 
Literatur zu weiterer Belehrung des Lesers nachgewiesen. Wo 



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1038 



SchuUchriften. . 

• 



es thunlicb ist, wird verwandte« Einzelne in überschajnlichen Ge- 
sammtartikeln zusammengestellt, das Auffinden aber durch, am 

fehörigen Orte angebrachte, Verweisungen erleichtert. So wer- 
en z. B., statt die Ethnographie eines Landes in eine grofse An- 
zahl von Artikeln zu zerhacken , die inwohnenden Völkerschaften 
in dem Artikel ihres Landes abgehandelt, und bei A borig ine s 
auf ltalia, bei Achaei auf Graecia verwiesen. In der römi- 
schen Geschichte bildet jede Gens einen Gesammtartikel, u d. m. 
Wiederholungen werden eben so sehr, als die Erwähnung solcher 
Personen oder Sachen vermieden, an welche sich auch nicht ent- 
fernt einiges Interesse knüpft. Es läfst sich nun zwar über das 
Wichtige und Unwichtige immer rechten; doch gibt es, wie wir 
glauben, auch hiefür gewisse Regeln, welche den Bearbeiter jedes 
einzelnen Faches in der Wahl der aufzuführenden Gegenstande 
zu leiten haben. So hielten wir es z. B., was die alte Geographie 
betrifft, nicht für geeignet, das Bach mit dem Schwall einer lee- 
ren Nomenclatur solcher Oertlichkeiten zu beladen, deren Lage 
sich auch nicht einmal annähernd bestimmen läfst, und welche 
nur dem Namen nach, und nur von Einem Schriftsteller, z. B. 
von Ptolemäus, aus den fernsten Gegenden erwähnt werden, die 
mit den classischen Völkern sehr wenig oder gar nicht in Ver- 
bindung standen. Einen vollständigen Index zu sämmtlicben Geo- 
graphen kann man hier nicht erwarten. Schwieriger ist eine strenge 
Auswahl unter den zahlreichen Einzelnheiten, deren Inbegriff man 
mit dem Namen der Antiquitäten belegt, dem vagen Ausdruck 
für Alles das, was von den Grundsätzen, den Formen und Orga- 
nen der Staatsverwaltung und Rechtspflege, von dem Hriegswev 
sen, den religiösen Gebräuchen und dem häuslichen Leben der 
Alten bekannt und wissenswerth ist. Hier suchen wir weniger den 
Vorwurf des zu reichlichen Details als den der Mangelhaftigkeit 
zu vermeiden, um so mehr als die, auf diesem Felde besonders 
regen, Bemühungen der neuern Zeit auch so manchem anschei- 
nend Unbedeutenden ein näheres Interesse zugewendet haben. Nor 
was schon im SprachwÖrterbnch seine genügende Erledigung fin- 
det, glauben wir ausschliefen zu müssen. Wichtig aber ist bei 
diesen sogenannten Alterthümern , dafs das Unterscheidende zwi- 
schen der heroischen Zeit der Griechen und der Zeit nach den 
Wanderungen, ebenso bei den Römern das Eigentümliche des 
Honigthums, der Republik und der Kaiserherrschaft berücksich- 
tigt werde. Wenn der Rechtszustand der Romer im Verhältnis 
zum Uebrigen ausführlicher behandelt wird, so mag dieses seine 
Rechtfertigung finden in der Wichtigkeit der Sache für das Ver- 
ständnifs so vieler Einrichtungen des Lebens der Römer und so 
mancher Eigentümlichkeit im Ausdruck ihrer geistigen Erzeug- 
nisse, theils in dem Umstände, dafs die Leistungen Hugo's, Sa - 
vigny's u. A. in dem Gebiete der Rechtsgeschichte bis jetzt mehr 
nur dem Juristen bekannt waren, und dafs nur defswegen diese 
Disciplin in philologischen Werken vorliegender Art nicht den 
ihr gebührenden Raum einnahm. — Die Epoche, mit welcher wir 



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Schultcliriften. 



1039 



das classische Alterthum für abgeschlossen betrachten, ist der Un- 
tergang des abendländischen Kaiserthums, wiewohl es, namentlich 
in der Literatur, und Rechtsgeschichte, nicht immer vermieden 
werden kann und darf, auch spätere, mit der classischen Zeit in 
Beziehung stehende Erscheinungen zu berühren. Auch sind es nur 
die beiden classischen Volker, deren Leben, Schaffen und Leiden 
den Stoff für unsere -Darstellungen bieten. Aegyptisches, Orienta- 
lisches, Nordisches u. A. kommt in Betrachtung, so weit es durch 
das Medium griechischer oder romischer Anschauung auf uns ge- 
kommen ist.» 

Wir brechen hier ab und bemerken nur noch, in Absicht auf 
den Umfang und die Ausdehnung, die dem Ganzen zu Theil wer- 
den soll, dafs keineswegs das Volumen des Funke'schen Lexicons 
überschritten, dafs vielmehr ein weit reicheres Material in einen 
engern Raum zusammengedrängt, und dafs zugleich, soweit es die 
Gründlichkeit der Bearbeitung erlaubt, das auf 4 Bände berech- 
nete Ganze möglichst beschleunigt werden soll. 

Vergleicht man nun diese Grundsätze mit der Art und Weise 
der Ausführung, wie sie in den beiden, bereits erschienenen Hef- 
ten, welche von dem Buchstaben A bis zu dem Artikel Aeneas 
reichen, vorliegt, und bedenkt man zugleich die grofsen, oben nur 
angedeuteten Schwierigkeiten, die in der Ausführung eines sol- 
chen Unternehmens, namentlich bei dem Beginn desselben, entge- 
gentreten, so wird man auch bei aller Subjectivität der Ansich- 
ten, die hier nicht ausbleiben kann und bald diese bald jene Er- 
fordernisse an ein solches Werk stellt, bald diese, bald jene Ruck- 
sicht von ihm verlangt, doch gewifs alle Ursache haben, im All- 
gemeinen mit der Ausfuhrung zufrieden zu seyn und sie mit den 
allgemeinen oben ausgesprochenen Grundsätzen übereinstimmend 
finden, ohne dafs man den Ref., der von einer speciellen Kri- 
tik hier durchaus absieht , einer Parteilichkeit beschuldigen wird, 
oder einer Selbstgefälligkeit, zumal da in beiden Heften nur zwei 
>on ihm ausgearbeitete, keineswegs bedeutende Artikel aus der 
Griechischen Literaturgeschichte (für die er, mehreres Einzelne 
abgerechnet, so wie auch für die Romische Literaturgeschichte dem 
Werke seine Theilnahme zugesichert hat) sich finden, sein Urtheil 
mithin nicht über seine eigenen Leistungen sich erstrecken kann. 
So wird man z. B. in Allem dem, was auf Römische Staatsver- 
waltung oder Rechtsverhältnisse sich bezieht, namentlich auf die 
letztere, eine verhältnifsmäfsig grüfsere Ausführlichkeit und ein 
genaueres Detail finden, wie dies in den oben ausgezogenen Wor- 
ten der Vorrede angedeutet ist, und in den einzelnen Artikeln 
selber, wie z. B. Acta, Actio, Adoptio, (Adulter iura), 
Advoeatus, Aemilia Gens, oder selbst A ci es (wo die ganze 
Romische Schlachtordnung und Stellung erörtert ist) sich zur Ge- 
nüge nachweisen läfst. Die vom Herausgeber selbst bearbeiteten 
Artikel aus dem Gebiete der alten Geographie empfehlen sich 
insbesondere und Ref. steht nicht an, das darin beobachtete Maafs 
and die durchweg darin herrschende Bebandlungs- und Darstel- 



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1040 



Schul schriftcn. 



lungsweise als maßgebend für die Bearbeitung auch anderer Ar- 
tikel angelegentlichst hervorzuheben, um Ungleichheiten zu ver- 
meiden, die ohnehin bei einem Werke der Art, das durch die 
Bemühungen mehrerer Einzelnen zu Stande gebracht wird, kaum 
ausbleiben werden. Dafs dann auch andere ausführlichere Artikel 
aus dem Gebiete der alten Geschichte,' der alten Religionen, wie 
der alten Kunst vorkommen, wird kaum einer besondern Bemer- 
kung bedürfen, und Ref. kann hier Beispiels halber nur an die in 
der zweiten Lieferung enthaltenen Artikel über Aegypten, insbe- 
sondere über Aegyptische Religion und über Aegyptische Kunst 
anfuhren, wenn er auch gleich nach seinem Standpunkte und 
nach seiner Ueberzeugung nicht Alles darin, namentlich in dem 
Abschnitte über die Aegyptische Religion Gesagte unterschreiben 
mochte, da er in dieser Beziehung sich strenger an Herodot und 
Anderer Nachrichten hält und lieber der Bahn folgen würde, die der 
auf dem Titel genannte Veteran dieser Wissenschaft uns gewiesen 
hat; und die, wie er glaubt, zu einer andern Ansicht von dem 
Wesen und Charakter der Aegyptiscben Religion und ihrem Ver- 
hiltnifs, ihrer Beziehung zur Griechischen sowohl wie zu andern 
Religionen des Altert bums führen wird. 

Schliefslich bemerken wir noch, dafs jeder einzelne Artikel 
mit der Namensunterschrift oder mit der NaraenschifTer des Ver- 
fassers bezeichnet, und dafs Druck und Papier, wie überhaupt die 
aufsere Ausstattung, durchaus befriedigend ausgefallen ist. 

Die Schule, Mitgabe für dat akademische Leben in einem Vor- 
worte und sechs Heden, dargeboten von L. Trede, der Plan. Gelehrten- 
schule Rector, der Philosophie Doctor, u. s. w. — Altona, bei Karl Aue. 
J835. LXXFIII und 192 8. in 8. 

Das Vorwort enthält Bemerkungen über Gang und Einrich- 
tung akademischer Studien , die wohl dem , der das Gymnasium 
verläfst, um seine Universitätsstudieo zu beginnen, zur wohl zu 
beherzigenden Leetüre anempfohlen werden können, begleitet von 
manchen nützlichen Winken über das akademische Leben über- 
haupt, vom Standpunkte der Wissenschaft aus. Eine gleiche Ten- 
denz zeichnet die sechs Reden aus, welche den grofsern Theil 
des Buchs füllen, Schulreden, bei feierlichen Gelegenheiten ge- 
halten, und über die Aufgabe und Stellung des Lehrers, über das 
Ziel der Schule überhaupt, wie über die Wünsche und Zwecke 
der die Schule Verlassenden sich verbreitend. I. Eine Antritts- 
rede. Leber des Schulmanns Stellung, Leitung und Forderung. 
II. Erwiederung auf die Abschiedsrede der Abiturienten: Vergrei- 
fen Sie nicht Ihre nächste schone Zukunft. III. Eröffnungsrede 
bei der öffentlichen Prüfung : Die Schule, wie sie strebt in der 
Welt gegen die Welt, aulser der Welt für die Welt. IV. und 
V. (wie Nr. II); Wachet und seyd stark, bleiben Sie Ihrem bes- 
sern Selbst getreu. VI. Am letzten Tage des Jahres: Schaffet, 
dafs Ihr die Vergänglichkeit überwindet, sonst überwindet sie 
Euch. — Druck und Papier, so wie die äussere Austattung sind 
recht einladend. C7if\ Bahr. 




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Anzeige der zweiten Auflage 

von 

Handwörterbuch der Chemie. 



Das Handwörterbuch der reinen und angewandten Chemie, 
herausgegeben von den Professoren Liebig und Poggen- 
dorff, wegen dessen Erscheinen wir auf den in jeder Buch- 
handlung zu findenden ausführlichen Prospectus Bezug neh- 
men, hat so allgemeine Anerkennung und, einem entschie- 
denen Bedürfnisse begegnend, einen so raschen Absatz ge- 
funden, dass die beiden ersten Lieferungen zwei Monate nach 
ihrem Erscheinen bereits vergriffen waren, und die ferner 
eingegangenen zahlreichen Bestellungen nicht haben befrie- 
digt werden können. Indem wir daher die Erscheinung eines 

jtocttctt, untoetänbevten Sflbfcrmfö 

anzeigen, werden wir aus obigem Grunde auch den Termin 
für den ersten Subs er ip tionsprcis von 16Ggr. oder 1 fl. 
12 Xr. Rheinl. für jede Lieferung, bis zum Schluss der Leipzi- 
ger Ostermesse d. J. verlängern. Für diesen ersten Subscrip- 
tionspreis erhalten die Besteller jede erschienene und künftig 
erscheinende Lieferung von 10 Bogen nebst den Kupfern; 
unmittelbar nach Beendigung der Ostermesse tritt der zweite 
Subscriptionspreis von 20 Ggr. oder 1 fl. 20 Xr. Rheinl. für 
jede erschienene und künftig erscheinende Lieferung, und mit 
dem Schlüsse jeden Bandes der Ladenpreis, nach Mafsgabe 
des Prospectus, eiu. 

Um 

i 

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Um die Anschaffung des Wörterbuchs auch weniger Be- 
mittelten zu erleichtern, haben wir, und zwar auf den aus- 
drücklichen Wunsch der Herren Herausgeber, den ersten, 
ungemein billigen Subscriptionspreis festgesetzt. Wir 
laden die Herren Chemiker, Pharmaceuten und Fabrikanten 
ein , sich diesen durch rechtzeitige Bestellung zu sichern, 
da spätere Aufträge ohne jede Ausnahme nur zum zwei- 
ten Subscriptionspreise effectuirt werden. Jede Buchhandlung 
ist in den Stand gesetzt, auf 12 Exemplare ein Frei-Exemplar 
zu bewilligen, und wir machen besonders die Herren Phar- 
maceuten darauf aufmerksam, die Gelegenheit zum billigen 
und allmäligen Erwerbe eines Werkes nicht ungenützt vorüber- 
gehen zu lassen, welches an praktischer Nützlichkeit und wis- 
senschaftlicher Bedeutung für den Chemiker, unübertroffen ist. 

Die dritte Lieferung, unter anderen die wichtigen Artikel 
„Analyse, organische, - Antimon etc.« und drei vor- 
trefflich gestochene Kupfertafeln enthaltend, erscheint zur 
Ostermesse. 

In Bezug auf den Preis und die Räumlichkeit des For- 
mats bemerken wir: dass letztere der des Conversationslexi- 
cons gleich ist, und dass ein Bogen des Wörterbuches den 
Raum von 1 9 / 16 Bogen der neuesten Ausgabe von Berzelius 
Chemie füllt, daher denn auch der Preis sich noch billiger 
als bei diesem Werke stellt. 

Braunschweig, d. 20 Febr. 1837. 

Friedrich Vieweg und Sohn. 



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N°. 66. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



IlUtoire de la restauration par M. F. P. Lubis. 1814 — 1830. Tome 7. 
493 p. Tom. II. 529 p. gr. 8. A la socie'te de Vhistoirc de la Restau- 
tion. Paris. 12. Passage Saulnier. 1837. Mit vielen gestochenen, 
halb erhabenen Medaillons. 

Ref. glaubt den Lesern der Jahrbücher einen Dienst zu thun, 
wenn er diese von einem Carlisten verfafstc Geschichte der Re- 
stauration ausführlich anzeigt, da das YVerh als gründliche histo- 
rische Arbeit unter den neuem französischen Büchern einen ganz 
ausgezeichneten Platz verdient. - Er wird dabei von Zeit zu Zeit 
einen Seitenblick auf Capcfigues Buch werfen, welches denselben 
Titel führt, um den ernsten Leser, dem es um Wahrheit zu thun 
ist, aufmerksam zu machen, wie es ein ganz anderes Ding sey, 
ein Buch für den großen Haufen zum Verkauf zu schreiben oder 
den Kenner und ernsten Forscher zu befriedigen. Capefigues 
Buch ist viel leichter und unterhaltender, ist reicher an Anekdo- 
ten aller Art; aber den Namen eines nur cinigermafsen zuverläs- 
sigen Werhs verdient es nicht; Herr Lubis dagegen verdient alle 
Achtung, sobald man nur einmal weifs, dafs seine Grundsätze den 
in unserer Zeit herrschenden entgegengesetzt sind. 

Diese neue Geschichte der . Restauration wird übrigens an 
Zahl der Bände die andere übertreffen müssen, denn die zwei 
ersten Bände der Compilation von Capefigue, die bekanntlich 10 
Bände füllt, führen die Geschichte schon weiter, als sie Herr 
Lubis in diesen beiden Banden geführt hat. Unbequem ist es 
freilich , dafs man auch neben dem neuen Werk noch Capefigue 
oder einen andern fingerfertigen Pariser Bücherfabrikanten wird 
gebrauchen müssen , weil man leider die vielfach verbreiteten und 
geglaubten apokryphischen Geschichten , Anekdoten, Schilderun- 
gen kennen mufs, welche in unsern gewöhnlichen Bücheru und 
in den Salons für Wahrheit gelten und sich leicht dem Gedächt- 
nifs einprägen, weil sie ganz rund und unterhaltend zu lesen und 
zu boren sind. Diese hat Herr Lubis theils vernachlässigen müs- 
sen, weil er die Bourbons verehrt, theils weil er noch besser als 
Ref. weifs, wieviel Fabeln die Welt für Geschickte hält, und 
welche Lügen die Pariser Memoiren-Fabriken bei Ladvocat und 
bei andern in die Welt schicken. 

XXX. Jahrg. 11. Heft. 66 



1042 LubU : Hiatoire de la restauration. T. I. et II. 

Als Ref. die ersten Seiten der, Introduction des ersten Ban- 
des gelesen hatte, wollte er das Buch schon aus der Hand wer- 
fen, denn er glaubte de l'Eckstein tout pur oder die deutsche 
Doctrin 20 erkennen, die sich am Ende da, wo sie zu Hause ist, 
noch etwas besser ausnimmt als bei Franzosen, an denen man eioe 
ganz andere Art von historischem Styl gewohnt ist; aber Herr 
Lubis hat sich bedacht, er stellt hernach seine Stelzen an die 
Wand, und geht, wie wir andern Leute, auf der Erde. Wir 
wollen, um deutlich zu machen, was hier gemeint ist, einige 
Stellen aus der Introduction anfuhren, in denen man die Spuren 
romantischer, oder wie die Leute das nennen., philosophischer 
Stelzen nicht verkennen wird; der Bericht über die Begebenhei- 
ten selbst ist durchaus nicht sophistisirt und hat von dem Mode- 
styl der jetzt in Frankreich beliebten Schriftsteller nichts an sich. 

Wir müssen übrigens den Vf. dieser ganz Carlistischen Ge- 
schichte nicht Mos deshalb rühmen , dafs er , sobald er in die 
Sache selbst hineinkommt, den ganzen Quark einer afTectirten und 
lächerlich anmafsenden Sprache wegwirft und einfach und klar 
schreibt, wie es die Geschichte fordert; sondern auch deshalb f 
weil er durchaus nicht als Schmeichler der Bourhons, eines Bla- 
cas und anderer ähnlicher Leute auftritt; sondern nichts ver- 
schweigt , was man ihnen vorwerfen kann. Dabei ist freilich trau- 
rig, dafs der Graf von Artois besser wegkommt als Ludwig XVIII. 
Vom Herzog von Angouleme und vom Herzog von Berry sagt er 
SO wenig, als nur immer möglich ist. Bonaparte wird nirgends 
geschmäht, sondern überall mit Anstand behandelt und die Sce- 
nen im sudlichen Frankreich mit einem Schleier bedeckt. 

Ehe wir aus der Introduction zeigen, auf welche Art sich 
Herr Lubis auf Stelzen bewegt, und wie er sich das Ansebn gibt, 
als wenn er philosophire, wollen wir aus dem Avant Propos Ei- 
niges über seine Ansicht der Zeitgeschichte und über die beson- 
der« Quellen, die ihm, als dem Organ der Carlistischen Partbei, 
zu Gebot standen, vorausschicken. Wir wollen eine lange Stelle 
übersetzen, weil sie keinen Auszug verträgt. Es heifst zuerst in 
Beziehung auf die Zeitgeschichte überhaupt in diesem Avant- 
Propos S. III : »Die gleichzeitige Geschichte hat in der Beziehung 
einen Vorzug vor der späteren, dafs man ihren Behauptungen 
widersprechen oder sie berichtigen kann , weil die Materialien , 
deren sie sich bedient, jedermann zur Hand sind; man findet sie 
in den Büchern und Zeitungen, in den Verhandlungen der Ham- 
mern und in allen öffentlichen Bekanntmachungen der Staatsver- 



♦ 



Lnbit : Hittoire de la restanration. T. I et II. 1043 

waltung. Dort zeigt sich diejenige Taktik der Partheien, die- 
jenige Richtung der Gemüther, die Ansicht der Ereignisse, wel- 
che man gern im Publikum verbreitet sähe und deshalb öffentlich 
anerkennt; die wahren Absichten und geheimen Triebfedern er- 
fahrt man freilich nur aus den Denkwürdigkeiten der Einzelnen. 

Cm diese zerstreuten Elemente zu vereinigen, um sie in ihre 
naturliche Ordnung zu classificiren , mufs man ein besonderes Stu- 
dium aus der Politik des Tages gemacht haben und der Verän- 
derung der öffentlichen Meinung in ihrem verschiedenen Licht- 
wecbsel gefolgt seyn. Da ich früher öffentlich erklärt habe, dafs 
man mir ungedruckte Documente anvertraut hätte, mufs ich über 
die Natur dieser Mittheilungen den Lesern noch einigen Auf- 
schlufs geben. 

Einige derselben haben einen unschätzbaren Werth; die Quelle 
derselben darf ich nicht anzeigen, sie beziehen sich auf den Ur- 
sprung der Restauration und auf ihre Ursachen. Achtung und 
Dankbarkeit machen mir eine Pflicht daraus, über diesen Punkt 
zu schweigen , was mir ausdrucklich anempfohlen ist. 

Der Bericht, den ich über die Discussionen bekannt mache, 
welche im diplomatischen Ausschufs des legislativen Korpers statt 
hatten, ist zum Theil aus den Papieren des berühmten Bericht- 
erstatters dieser Commission , des Herrn Laine, geschöpft, dessen 
Verlust Frankreich ganz neulich zu beweinen hatte. Mehrere an- 
dere Mitglieder des gesetzgebenden Körpers , und unter ihnen die 
Herren Flaugergues und Raynouard , welche der Tod hinter ein- 
ander weggerafft hat, haben mir mit der gröfsten Bereitwilligkeit 
sehr interessante Erläuterungen gegeben. 

Der Baron von V itrolles , dessen Sendung das Abbrechen 
der Unterhandlungen in Cbätillon herbeiführte, hat die Güte ge- 
habt, mir zu offenbaren, durch welche entscheidende Umstände 
diese Abbrechung herbeigeführt wurde, die so unerwartete Re- 
sultate hatte. Herr von Vitrolles hat das Geschichtliche seiner 
gefährlichen Unternehmung in Denkwürdigkeiten aufbewahrt, die 
erst nach seinem Tode erscheinen werden. 

Herr Clausel de Coussergues, der an Ludwig XVIII. nach 
Compiegne mit der Deputation des legislativen Korpers geschickt 
ward, und der zu der Commission gehörte, welche die Charte 
redigiren sollte, hat die Gefälligkeit gehabt, mir mit seinen Rath- 
schlägen beizustehen; das Buch, das er um i83o über die Arbei- 
ten dieser Commission bekannt gemacht hat, ist mir sehr nutzlich 
gewesen. Ich habe von Bordeaux, von Nancy, von Toulouse, 



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1044 Lubis: Histoire de la rcetauration. T. 1. et II. 

anziehende Denkwürdigkeiten v/her die Bewegungen dieser Pro- 
vinzen zu Gunsten der Restauration erhalten. Was die ersten 
Handlungen des Senats betrißt, so hat ein Mitglied dieser Ver- 
sammlung mir die Notizen mitgetheilt, die er nach der Beendi- 
gung jeder Sitzung niedergeschrieben hatte. Viele besondere Nach- 
richten einzelner Personen über die Lage der Hauptstadt , über 
das Benehmen der Stadtbehörden , sind mir von einigen der obrig- 
keitlichen Personen anvertraut worden, welche sich in der Ver- 
waltung der städischen Angelegenheiten am mehrsten hervorge- 
than haben ; ich will nur den Namen des Herrn Chabrol von Vol- 
vic anführen.« 

Wenn wir vom Avant Propos zur Introduction ubergehen, 
so treffen wir dort, wie wir schon oben bemerkten, jene Art von 
Philosophie, die wir auch bei uns wieder finden, oder vielmehr, 
die von uns durch Vermittlung des Herrn von Eckstein und Cou- 
sin zu den Franzosen gekommen ist. In Deutschland theilt sich 
diese Philosophie nur in zwei Zweige, die pietistisch - absolutisti- 
sche und die rein philosophisch - despotische , obgleich die erste 
wieder in eine katholisch - hierarchische und eine protestantisch 
süfslich faselnde zerfallt ; in Frankreich scheint uns diese neue 
Doctrin , diese zur Erhaltung von Hirche und Staat et sonnene 
Phraseologie in drei Schulen zu zerfallen. 

Um nicht von unserm W r ege ganz abzukommen , wollen wir 
von unsern Landsleuten und ihren hochtrabenden Floskeln nicht 
reden; den Franzosen geben ihre Ecksteins, Chateaubriants, Lu- 
bis, Carlistisch -hierarchische Philosophie; ihr La Mennais und 
was daran hängt, demokratisch fanatisch schwärmende Philosophie; 
ihre ganze aus Berlin und München stammende Schule der doc- 
trinären Beamten - Sophistik , die den Mantel hohler Worte nach 
dem Winde dreht, Cousin und andere Windbeutel eine Philoso- 
phie der Eitelkeit. Um anzudeuten, was wir meinen, wenn wir 
sagen, Herr Lubis hätte auch seine Vertheidigung der alten Mo- 
narchie in eine Doctrin, oder in hohle, nichtssagende, gelehrt 
und philosophisch klingende W 7 orlc gebracht, welche einen tiefen 
Sinn in sich zu schliefsen scheinen, und daher in der Welt Glück 
machen, weil sich leere Hüpfe den Schädel damit füllen und Ef- 
fect machen, wenn sie unter den Ihrigen sind, so wollen wir eine 
Stelle wortlich abschreiben. Wir übersetzen die Stelle absicht- 
lich nicht, weil denjenigen, die uns verstehen wollen, nur aus 
der Art, wie die franzosische Sprache hier zu deutschen Nebeln 
herübergeführt wird, lernen können, was eigentlich gemeint sey. 



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Lubis: Uistoire de Li restauration. T. I. et II. 1045 



Herr Lubis sagt : II y a en politique , deux sortes d'evene- 
xnens. Les uns sont generateurs , en tant qu'ils sont des princi- 
pes mis en action; les autres, netant que les resultats. d'un fait 
primordial , partieipent de la cause morale dont ils decoulent. 
L'histoire prouve que les deviations dans les consequences logi- 
ques d'un principe, ne sont qu'apparentes. Les regles invariables 
etablies par la providence ne semblent quelquef'ois faussees que 
parceque not re vue etroite et bornee ne peut pas embrasser un 
assez grand espace. etc. etc. 

Ref. will nicht fortfahren abzuschreiben; was ihm Galimathias 
scheint, ist andern Weisheit; er will daher nur kurz angeben, 
was er verstanden hat. Herr Lubis in seiner wunderlichen Ma- 
nier sagt nämlich: die alte französische Constitution vor der Re- 
volution habe bestanden in der monarchischen Erblichkeit und 
der Repräsentation der allgemeinen Interessen , welche über die 
Führung der gemeinschaftlichen Angelegenheiten discutirt hätten, 
und alles Unglück sey dahergekommen, dafs beide versucht hät- 
ten, einzeln und ohne das Andere zu bestehen. Wenn wir das 
recht verstehen, so ist es unläugbar richtig; aber in einer ganz 
empirischen, auf das Einzelne zurückzuführenden Sache nützen 
die allgemeinen Ausdrücke und allgemeinen Begiiflfe gar nichts, 
sie machen vielmehr nur dunkel, was ohne sie ganz klar seyn 
würde. Ref. ist zu wenig bekannt mit dieser Art Nebel , um dem 
Legitimisten durch seine auf Stelzen gehende Einleitung zu fol- 
gen, er will daher nur noch zeigen, wie schlau dieser das von Got- 
tes Gnaden des alten Systems mit dem durch den Wil- 
len des Volks des neuen zu vereinigen sucht. Er sagt näm- 
lich S. 4 : Weil das Honigthum die Repräsentation der allgemei- 
nen Gerechtigkeit war (d. h. das ideelle Königthum , wo ist das 
je auf Erden gewesen? wir kennen nur ein reelles und sehr 
handgreifliches) und der vernünftigen Ordnung der Dinge ange- 
messen, so hat man gesagt, es bestehe nach göttlichem Rech- 
te, wie Alles, was mit der ewigen Weltordnung verbunden ist; 
man hat aber vergeblich versucht, diesem A i drucke einen andern 
Sinn unterzulegen. Die Legitimität hat in Frankreich nie einen 
andern Charakter gehabt, als den einer Vei bürgung der Bestän- 
digkeit der erworbenen Rechte , d. h. jener heiligen und unver- 
letzlichen Rechte, worauf die Vorsehung die bürgerliche Gesell- 
schaft gegründet hat. Man hat dadurch ausdrücken wollen, dafs, 
wenngleich die Form jeder Art Regierung nur dem äussern und 
weltlichen Rechte angehöre, diese Form doch durch ihre lange 



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1046 Lubit : Ilistoi re pe la rcstau ration .*.T. I. et II 



Fortdauer verpflichtend und unveränderlich werde. Sie ist ge- 
wissermafsen die Sphäre, innerhalb welcher die Entwicklung 
menschlicher Vervollkommnung sich beschränken mufs, bei Strafe, 
in Anarchie und ins Chaos zu sinken.« Man wird aus dieser Probe 
den weitern Gang der sophistischen Rede leicht errathen können. 
In der Folge wird alles Unglück vom Protestantismus hergelei- 
tet; seitdem dieser der Vernunft ihre Rechte habe sichern wol- 
len, sey der unselige Gedanke der Volkssouveränität entstanden 
(de meine que dans la religion il avoit Substitut» lautorite indivi- 
duelle a lautorite de l'eglise, de cette epoque date la doctrine 
de )a souverainete* du peuple). Dann folgt eine historische Ent- 
wicklung der Gestaltung der Dinge in Frankreich von den Zei- 
ten der Ligue bis auf die Revolution. Diese ist kurz aber vor- 
trefflich; der Vf. hört von dem Augenblicke an auf, seine philo* 
sophische Sprache zu gebrauchen, er schreibt wie andere Leute, 
und holt sich an die Thatsachen, deren reines Resultat er giebt. 

Dies geht bis S. 17, wo auch die ersten Ereignisse der Re- 
volution gebilligt werden; dann wird aber auf eine recht schlaue 
Weise das folgende Unglück dem Triumph einer Faction zuge- 
schrieben. Sollte man im Zweifel seyn, was der Vf. meine, so 
findet man S. 19 den Aufscblufs, da er ganz dürr sagt: d'dn 
autre cötcl le duc d'Orleans s etait rais a la tete des novateurs et 
des factieux. 

Wenn er hernach der Revolution in ihren Hauptmomenten 
folgt , gesteht er selbst , dafs die ungeheure Macht der von Hoya- 
listen geleiteten Dürgergarden im Vendemiaire mit einer Handvoll 
Soldaten von Bonaparte vernichtet ward , und redet dann sehr 
gemässigt von der Unternehmung am Brümaire, was ganz den 
Grundsätzen der Parthei angemessen ist , wozu er gebort Es 
keifst hier S. 3i : 

Die Revolution war freilich im Namen der Freiheit begonnen 
worden, sie war aber doch nichts andres gewesen, als eine lange 
Dictator der Partheien ; Napoleon gründete daher keine neue Ge- 
sellschaft, er bemächtigte sich vielmehr der zerstreuten Elemente 
des monarchischen und des republikanischen Franhreichs. Er be- 
wirkte keine Contrerevolution, er wollte keine Restauration, seine 
Absicht war, die Wirkung der Partheiungen aufzuhalten, welche 
sich bis dahin bekämpft hatten, und welche sich weder hatten 
behaupten noch auch regieren können. Napoleon nahm in dieser 
Absicht von der Revolution diejenigen Männer zu sich, die sich 
durch ihre Tapferkeit oder Fähigkeit ausgezeichnet hatten ; er 



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Lobit : Histoire de la rettauration. T. !. et II. 104? 

verschmähte ihre Theorien und befestigte feine Macht dadurch, 
dafs er sich des Bedürfnisses der Ordnung und jenes Gefühls be- 
diente, welches einen Theil der Nation bewogen hatte, den Sol- 
datenstand zu wählen. Et* gebrauchte die beiden Gewalten ihrer 
Natur gemäfs, er druckte im Innern nieder und eroberte nach 
Aussen. 

Paris hatte die Revolution gemacht und erhalten , die Pro- 
vinzen, die des Gehorchens gewohnt waren, setzten der befeh- 
lenden Behörde der Hauptstadt keinen Widerstand entgegen; 
Napoleon durfte dem Geschäftsgange nur eine fast militärische 
Regelmäßigkeit geben, seiner Verwaltung eine centralisirende 
Organisation, und er war im Stande, ganz Frankreich in seiner 
Faust zu halten. 

Wenn Herr Lubis hernach gegen das Ende der Einleitung 
auf die Restauration kommt , so behauptet er auch hier den Cha- 
rakter eines unparteiischen Geschichtscbreibers , und Ref. findet 
keinen Satz, den er nicht als historisch richtig anerkennen mufste, 
so lange der Vf. im Allgemeinen bleibt und von Personen nicht 
die Rede ist. 8. 36 sagt er von der Charte: 

La charte ne fut l'cxpression ni de lopinion publique, car on 
ne se donna pas le tems de la consulter, ni du voeu des man- 
dataires des Colleges electoraux qui ne furent pas convoques; 
eile fut 8eulement une garantie exigee par le gouvernement 
provisoire c'est a dire par Mr. de Talleyrand , l'empereur Ale- 
xandre et le senat. 

Weiter unten sagt er ganz klar und durchaus historisch rich- 
tig S. 37: Talleyrand und die, welche, wie er, die Revolution 
und das Königthum für sich benutzt hätten, wären i83o nach 
demselben Princip verfahren, welches sie 1814 geleitet gehabt. 
Sie hätten nämlich i83o die Revolution zu ihrem Vortbeile be- 
nutzt und gehemmt, und um 1814 hätte die Restauration nicht 
national werden hönnen, weil das ihrem Interesse nicht angemes- 
sen gewesen sey und sie es gehindert hätten. Der Einfall der 
fremden Armeen in Frankreich habe ihnen gedient uro Napoleon 
zu verjagen , ohne ein System zu ändern , vermöge dessen die 
Gewalt in ihren Händen hätte bleiben müssen; sie hätten sich i5 
Jahre nachher der Insurrection bedient , um in die politische Ma- 
schine ihrer Regierung ein anderes Kronrad einzusetzen, austatt 
des Rades der legitimen Königswürde, welches sie vorher binein- 
gepafst hätten , das aber nach und nach für ihre Maschine nicht 
mehr recht hätte dienen wollen. Auf die Weise hätten dieselben 



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1048 LubU: Histoirc da la rcatauration. T. I. et II. 

Leute dreimal unter ganz verschiedenen Umstanden drei Verän- 
derungen der regierenden Gewalten bewirkt. Sie hätten an die 
Stelle des Directoritims die kaiserliche Dictatur gebracht; dann 
hätten sie das Kaiserthum durch die Legitimität ersetzt, dann den 
altern Zweig der Bourbons durch den jungern. 

Um die politische Beziehung des Buches nach klarer zu ma- 
chen , wollen wir zu diesem noch hinzusetzen , was der Verf. 
S. 38 — 39 sagt : 

Um i83o, nach den Julitagen, zeigten sich die Partheien in 
folgender Ordnung: der Herzog von Bordeaux und die Legitimi- 
tät; der Herr von Talleyrand und das Haas Orleans; der Herzog 
von Beichstadt und die Bonapartistische Parthei ; der Herr von 
Lafayette, die Consular-Bepublik und gemäfsigte Demokratie: die 
Societät der Menschenrechte und die radicale Demokratie. Der 
Herzog von Beichstadt, Herr von Lafayette und die Gesellschaft 
der Menschenrechte sind verschwunden; nur die erste und die 
letzte der angeführten Personillcationen sind jetzt übrig geblieben. 

Übrigens wird man , wenn man die zehn Bände der elenden 
Compilation Capefigues über die Bestauration mit Labia Werk 
vergleicht, doch einschen, dafs der Erste nur ein Buchmacher, 
der Letztere aber doch ein Schriftsteller sey. Lubis fängt mit 
Recht seine Geschichte im ersten Capitel S. 53 mit dem Jahre 
1814 an, Capefigue füllt bekanntlich die ersten a53 Seiten seines 
ersten Bandes mit den bekannten Ereignissen des Kaiserthums. 
Gleich auf der ersten Seite linden wir die folgende Notiz, die 
uns ganz unbekannt war : En 1810 une occasion soffrit (für Lud- 
wig XVIII.) de renouer des intelligences avec Bordeaux, qui etait 
reste un foyer de royalisme. Auf der folgenden Seite p. 54 wer- 
den die vornehmen Herren genannt, die schon 181 3 gegen eine 
Regierung, die ihnen vergeben hatte , conspirirten , und hinzuge- . 
setzt : Le plan d'une vaste conspiration avoit ete dresse. Übri- 
gens wird die Geschichte der Zeit des Herbstes und Winters 
i8i3 auf eine solche Weise vorgetragen, dals man weder die 
Partheigrundsätze wahrnimmt, noch dem Verf. ein Haschen nach 
Effect Schuld geben kann. Wie sich oberflächliche Geschichte 
zu gründlicher verhält, kann man am besten lernen, wenn man 
das, was hier S. 73 u. fg. von den Verhandlungen der am Ende 
Decembers 181 3 niedergesetzten Commission des gesetzgebenden 
Körpers berichtet wird, mit dem vergleicht, was Capefigue I. S. 
a34 — 37 zusammengerafft hat. Anziehend sind S. 81 die Nach- 
richten von den schon im Anfange des Jahres angeknüpften Un- 



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Labir: Histoire de la rentanration. T. I. et II. 104!) 

terhandlungen der bedrohten Bonapartisten mit den Besten der 
Clubbs alter Zeit. Es heilst davon sehr passend : Ces masses que 
)a rt'volution remuait si puissament, inertes maintenant et epui- 
sees , n'offraient a lambition degue da despote, que des bras mu- 
tiles ou des indifferens. Recht gut bat der Verf. S. 83 ausein- 
andergesetzt, was man unserer Zeit nicht genug sagen kann, dafs 
es einen Augenblick giebt , wo al^e hunstlich gemachte Schrift- 
stellerei, alle censu rirte Zeitungsweisheit, alles Reden gedungener 
oder feiler Sophisten und Schurken seine Wirkung verliert , wo 
die verhaßte Wahrheit Schwert und Dolch wird. 

Was die wunderliche, zum Theil unzusammenhängende Rede 
oder vielmehr die scheltende Entlassung angeht, welche Napoleon 
den Deputirten des gesetzgebenden Körpers bei der letzten Au- 
dienz ertheilte , so urtheilt Herr Lubis darüber anders , als man 
gewöhnlich zu thun pflegt. Er sagt S. 06: 

Übrigens war diese Heftigkeit Napoleons, die man als unge- 
schicktes Benehmen getadelt hat, vielleicht berechneter als man 
denken sollte. Man mufste den Ungewißheiten ein Ende machen 
und den Erklärungen zuvorkommen, welche die Deputirten etwa 
ihren Departementen geben könnten. Es waren aber unter den 
Vorwürfen des Kaisers eine Menge von Worten, die auf den Ef- 
fect berechnet waren und eine gewisse Größe der Gedanken , 
welche der Menge Bewunderung abnöthigen konnten, und sie be- 
wegen, einen Widerstand zu mifsbilligen , den man unpolitisch, 
unzeitig, unedelmüthig schelten konnte. 

Ans der Kriegsgeschichte der ersten Monate von 1814, wie 
sie Herr Lubis giebt, wird kein Mensch klug werden, auch sind 
die Verbündeten, besonders die Preufsen , immer in pleine de- 
route, retten sich zerstreut und gänzlich geschlagen a travers 
champs, und die Franzosen sind überall Sieger, und man mufs 
sich verwundern, dafs es ihnen doch schlecht geht. Auch die 
Geschiebte des Congresses in Chatillon ist nicht genau und aus- 
führlich gegeben , man findet die nöthigen Notizen darüber bes- 
ser bei Copefigue. S. 111 beginnt der Bericht von Herrn von 
Vitrolles und vnn seiner Verbindung mit dem Herzoge von Dal- 
berg, hinter d*m Talleyrand versteckt liegt, da dieser auch die 
nölhige Beglaubigung bei den österreichischen Ministern gab. 
Darauf folgen hernach sehr anziehende, und wie es uns scheint, 
durchaus richtige Nachrichten von der Stimmung und von den 
Planen, Reden, Unterhandlungen der Alliirten und der kabalisi- 
renden Franzosen, bis endlich am 17. März Vitrolles erlangte, 



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1050 ' Lubis : Histolre de la reata uration. T. 1. et II 

was seinen Vorgängern d'Escars und Jules de Polignac war ver- 
sagt worden, nämlich die Audienz beim Haiser Alezander. 

Wie vorsichtig übrigens alle Nachrichten, auch diejenigen, 
welche scheinbar am mehrsten beglaubigt sind, geprüft werden 
müssen , sieht man aus dem , was hier S. x i 1 5 von Moreau gesagt 
wird. Wie angelegentlich hatten doch die Legitiraisten und die 
Bourbons selbst verbreitet , dafs Moreau ganz besonders thätig 
für sie gewesen sey , und nun behauptet hier Herr Lubis, auf 
Nachrichten gestutzt, die wir freilich auch mit einigem Itifstrauen 
betrachten, S. Il5t 

£s ist gewifs, dafs der russische Kaiser Moreau zu sich ge- 
rufen hatte, damit er der Opposition, die sich im Senate selbst 
gebildet hatte, zum Vereinigungspunkte diene. Man bat in der 
ersten Zeit der Restauration absichtlich glauben machen, obgleich 
diese Behauptung allen Thatsachen widerspricht, dafs Moreau 
für die Wiedereinsetzung der Bourbons gearbeitet 
habe. Der General hatte so wenig diese Absicht, dafs er sogar 
den Bevollmächtigten Ludwigs XVIII. gar nicht vor sich Jiefs. 

Im Anfange des zweiten Buchs ist ganz vortrefflich das Be- 
nehmen Talleyrands geschildert, und zwar durchaus nur histo- 
risch, ohne ein bitteres Wort, ja oft ohne eine weitere Bemer- 
kung , die man ein Recht hätte , zu erwarten ; die Sache spricht 
aber für sich selbst. Doch heifst es , als er sich endlich für die 
Bourbons und gegen die Regentschaft erklärt, S. 167 mit allem 
Recht: »Das war ein gezwungenes Bündnifs, welches derjenige 
Theil, der sich dazu hingab, theuer bezahlen sollte. Der Herr 
von Talleyrand verlangte nichts weniger, als die Restauration, 
sobald man sie gar nicht vermeiden könne, für sich allein zu 
machen, und ganz nach seiner Manier. Er liefs sich herab, den 
Bourbons die Hand zu reichen, um ihnen behülflich zu seyn, die 
Stufen des Thrones hinanzusteigen ; doch rechnete er auf ihre 
Dankbarkeit, um hernach seine eigne Stellung wieder so zu ma- 
chen, wie er sie wünschte.« Über die Versammlung in Talley- 
rands Salon am 3i. März compilirt und erzählt Capefigue I. Seite 
3o2— 309 in seiner losen und lockern Manier. Lubis I. S. 168 
ist ernst und historisch; der Erstere schreibt wie ein Denbwür» 
digkeitenschreiber, oder wie ein Mann, der aus dem Bücher- 
schreiben ein Handwerk macht, der Andere wie ein Geschicht- 
schreiber. 

Herr Lubis leistet übrigens für den Herrn von Chateaubriand, 
der in unsern Tagen darauf ausgeht , seinen eignen Ruhm , mag 



* 



Lubis: Hiitoire de U reatauration. T. I. et II. 1051 

dieser nun mit Recht oder Unrecht erworben seyn, selbst bei sei- 
nen Verehrern zu zerstören, das Unmögliche; denn er sagt S. 
175 Ton dessen Schrift De Bonaparte et des Bourbons: 
Mr de Chateaubriand ser?it plus la restauration en ce moment 
critique, que n'auroient pu le faire toutes les armees de la 
coalition. 

Übrigens zeigt sich Herr Lubis so wenig feindselig gegen Bona- 
parte und so schonend gegen Osterreich, dafs er S. 226 die Ge- 
schichte der Entfernung der Gemahlin des Kaisers ohne alle Anek- 
doten berichtet; Ref. findet sich auch nicht berufen, das mitzu- 
thcilen, was die Herzogin von Set. Leu über ihre Unterhaltung 
mit der Kaiserin in diesen entscheidenden Augenblicken in ihren 
Denkwürdigkeiten niedergeschrieben hatte, obgleich gerade die- 
ses zu dem wenigen historisch Merkwürdigen gehört, was er aus 
diesen handschriftlichen Memoire» hat vorlesen hören. 

Über die Erscheinung des Grafen von Artois in Paris wird 
man sehr wohl thun, das, was Capefigue I. 370 nach seiner Art 
zusammengerafft hat, mit der ganz und durchaus legitimistischen 
and lobpreisenden Darstellung des Herrn Lubis 1. S. 242 u. f. 
zu vergleichen; obgleich man bei Capefigue nichts als allgemein 
Bekanntes oder auch höchst Unsicheres findet. Sehr charakteri- 
stisch ist es für unsere Zeit , für Paris , für Talleyrand und seine 
provisorische Regierung, dafs wir hier S. 246 erfahren: Mr. 
Ouvrard fut charge par le gouvernement provisoire de se rendre 
a Li vi v et d'y faire ä Monsieur une reeeption brillante. * Von der 
Sendung des Grafen Choiseul Gouftier und von den Notificationen , 
die hier p. 246 — 47 abgedruckt sind, findet man bei Capefigue 
keine Spur. Wir bemerken dies, um zu zeigen, auf welche 
Weise in unsern Tagen Bucher von 10 Bänden gemacht werden. 

Herr Lubis verdient grofses Lob, weil er uns in der Regel 
mit der armseligen royalistischen Phraseologie verschont; doch 
giebt er S. 249 seiner Rede eine Wendung, die dem, der mit 
der franzosischen Geschichte bekannt ist, nicht wenig lächerlich 
vorkommt. Er sagt nämlich , der Graf von Artois sey bei seinem 
Einzüge in Paris besonders gerührt gewesen : d'entrer dans une 
ville oü chaque pas allait lui retracer les vertu* de sa maison. 
Auf der folgenden Seite wird wiederholt, was längst bekannt 
war, dafs der berühmte Einfall des Grafen von Artois: es sey 
nichts verändert in Frankreich als dafs ein Franzose mehr da sey, 
nie aus seinem Munde gekommen. Wir erfahren hier indessen, 
auf welche Weise der Vater der Lugen (Talleyrand) und seine 



» 



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1052 Lubis i Hittoire de )a reaUuration. T. I. et II. 

Genossen auch diese Erfindung gemacht und glucklich in Umlauf 
gebracht haben. 

Die Geschichte der Expedition des Herrn von Maubreuil, die 
man in allen Buchern findet, und die auch Capefigue I. S. 366 — 
367 nur kurz berührt hat, berichtet Herr Lubis S. 207 getreu 
und wahr, obgleich, was man ihm Dank wissen mufs, ganz kurz; 
wir wollen den Scblufs der Erzählung hersetzen, um zu bewei- 
sen, dafs das Buch als Geschiebte sehr schätzbar und dafs der 
, Verf. weder declamirt noch dem Partheigeist die Wahrheit opfert. 
Ref. glaubt ihm dies Zeugnifs um so mehr schuldig zu seyn, als 
er in den Grundsätzen ganz von ihm abweicht. Es heilst hier 
S. 267 — 268: 

»Diese Angelegenheit war übrigens für die Royalisten sehr 
verdrießlich, weil Maubreuil sich das Ansehn gab, als wenn er 
ein Verfechter ihrer Meinungen wäre, welche übrigens ein Mensch 
wie er nicht ausser Credit bringen konnte. Der Kaiser Alexan- 
der, der sehr gegen die Royalisten eingenommen war, beklagte 
sich sehr heftig über Maubreuils Expedition bei der Regierung, 
an deren Spitze Monsieur stand, und diese stand gar nicht an, 
die Verhaftung Maubreuils anzuordnen.« Bekanntlich wurden die 
Diamanten zurückgegeben , zwei Säcke mit Louisd or enthielten 
aber nur 2"Sousstücke. 

Sehr ausführlich nnd grundlich berichtet Herr Lubis die Un- 
terhandlungen in Compiegne und Set. Ouen über die Constitution 
oder die -Charte, eine Sache, die am Schlüsse des ersten Thcils 
von Capefigue mit der gewöhnlichen Oberflächlichkeit behandelt 
wird. Ref. mufs es als grofse Offenheit und Naivetät loben, 
dafs der Geschichtschreiber, der bis dahin ganz -getreu und zum 
Theil auch ganz vortrefllich dem Gange der Begebenheiten ge- 
folgt ist, endlich als Royalist, Legitimist und Carlist wehe! über 
Ludwig XVHI. ruft, als dieser die Grundsätze jeder constitutio- 
nellcn Verfassung als die seinigen proclamirt. Es heilst S. 3i5: 

»Von diesem Augenblicke an verschwanden die Hoffnungen 
der Royalisten. Die Fundamentalgesetze der Monarchie wa- 
ren geopfert , der Senat und der Herr von Talleyrand behielten 
die Oberhand. Mit Ausnahme der constituirenden Gewalt, welche 
der König, obgleich auch dieses ein Mifsbrauch war, für sich 
behielt, enthielt die neue Declaration fast in denselben Ausdrücken 
den letzten Entwurf des Senats und Talleyrands Plan.« 

Dem ersten Bande sind angehängt documens historUjues et 
extraits de memoires inedits. Wir wollen eine Notiz dieser Stücke 



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Lubis: Histoirc de la restauration. T. I. et II. 1053 

mittheilen , da sich darunter mehrere finden , die für die Ge- 
schichte der Revolution sehr bedeutend sind und die man schwer- 
]ich anderswo leicht beisammen finden wird. Dabin, rechnen wir 
gleich das erste Stück, Convocation des etats generaux en 1789 
— Les mandats — Les cahiers. Dann folgt die merkwürdige 
dt'claration du a3 Juin , nicht wie durch einen Druckfehler da- 
steht von 1793, sondern von 1789. Dann folgt S. 357 die ^ r °- 
clamation des generaux Vendeens dans la premiere guerre datee 
de Fontenay le Comte 27 Mai an lier du regne de Louis XVII. 

Das Stück, ^e roi et les princes pendant Immigration — ? Les 
cabinets etrangers, ist eine sehr geschickte Apologie der Emigra- 
tion und der von denPrinzen -angestifteten Cabalen. Das Mehrsto 
ist offenbar schief oder falsch dargestellt, bei Gelegenheit des 
Bückzugs aus der Champagne um 1792 heifst es S. 364? Was 
kümmert sich die wahre Geschichte darum , dafs sich Dumourier 
mit Leonidas verglichen hat ? Man mufs die geheimen Betreibun- 
gen kennen, die Cabinetsintriguen , welche den gewöhnlichen Au- 
gen verborgen bleiben, da der Haufe überall nur militärische 
Combinationen suchte. Ein englischer Courier kam ins preufsischo 
Lager und gleich am andern Tage begann der Bückzug. Auf die- 
selbe Weise wird hernach alles, was die Prinzen und die Roya« 
listen thaten, erhoben, das Mifslingen den fremden Machten auf 
eine oft unartige Weise zugeschoben. Das einzige Merkwürdige 
dabei ist, dafs die Lcgitimisten sich dadurch der Nation zu em- 
pfehlen suchen, dafs sie gegen die Fremden und gegen fremde 
Hülfe reden, während sich Ludwig Philipp auf Fremde zu stü- 
tzen sucht. 

Aus der Nachricht des säubern Abbe* Lafan über die Conspi- 
ration de Malet, die man S. 377 — 38i findet, lernt man nichts 
Neues, als dafs es im Grunde eine hierarchisch- katholische Ver- 
schwörung war, die im Süden von Frankreich ihre Verzweigungen 
hatte, und von den Royalisten , die von Napoleon begnadigt wa- 
ren, den beiden Polignacs , Noailles und Andern, befordert 
ward!! 

s Der Bericht, den Herr Laine im gesetzgebenden Korper am 
i8i3 abstaltete, wird hiernach S. 384 u. f. eingerückt, und dies 
ist bekanntlich ein durch die Wirkung des Berichts und durch 
Bonaparies Übereilung gegen den Urheber höchst merkwürdiges 
Aktenstück. Die Picces relatives a la declaration de Franc- 
fort, und den Congrefs von Chatillon S. 3go — 423 findet man in 
vielen Büchern, auch bei Vaudoncourt, wir dürfen ihrer daher 



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1054 Labia : Hittoire de la re.taurat ion. T. I. et II. 

nicht erwähnen. Anziehend ist das kleine Stuck S. 422—425 
wegen der Localität, die unsern Marscbgegenden an der Weser, 
Jahde, Ems und Elbe gleicht, worin der an sich unbedeutende 
Aufstand in dem sogenannten pays de Lalloew, im Arrondissement 
Ton Bethüne (Pas de Calais) am Ende des Jahrs i8i3 beschrieben 
wird. S. 4^6 findet man Bruchstücke aus der Proclamation des 
liberalen kaiserlichen grand rnaitre des ceremonies, des aller- 
liebsten Herrn von Segür, eines der Leute, welche die Welt mit 
Phrasen unterhalten!! Diese Prose ist von derselben Art, wie 
die folgenden Verse der einst republikanischen Dichter, des Gra- 
fen Chollet und des Herrn Desaugiers. Die übrigen Stucke be- 
treffen alle den Krieg im Jahre 1814 und die politischen Um- 
stände ; für eine kritische Geschichte liefse sich Manches davon 
benutzen« 

Der zweito Theil enthält zuerst einen Avant-Propos, worin 
uns der Verf. meldet, dafs der erste Band seiner Geschichte ein 
allgemeines Gefühl von Interesse und Neugierde erregt habe. Die 
neuen Thatsacben, welche er ans Licht gebracht habe, hätten der 
ganzen Epoche ein anderes Ansehen (une physiognomie nouvelle) 
gegeben und die Lugen, die nach einer förmlichen Übereinkunft 
seit zwanzig Jahren in der constitutionellen Polemik aufgenommen 
worden, zerstreut Man hätte aus den Aktenstücken selbst (pie- 
ces en roain) den wahren Ursprung der Charte gesehen; man 
habe gesehen, dafs die Dazwischenkunft der Fremden schlechter- 
dings nicht die Restauration zum Zweck gehabt habe. Dann folgt 
Einzelnes, und der berüchtigte de Pradt spielt nach so vielen 
Rollen in diesem Avant- Propos auch noch endlich die eines Freun- 
des der Wahrheit. Was ein Hofmann nicht Alles aus sich 
machen kann! Auch sogar einen Freund der Wahrheit. 
Darum requiescat in pace! 

Im Anfange des vierten Buchs beginnt der Verf. seinen Be- 
richt über die ersten Schritte Ludwigs XV1H. mit Klagen über 
das Maaslingen des Plans, das, was er die franzosische und natio- 
nale Verfassung nennt , zugleich mit den Bourbons wieder einzu- 
führen. Er wagt es endlich einmal, S. 2 deutlich zu sagen , dafs 
er es fBr die gröfste Thorheit halte, dafs man übrig gelassen 
habe, was er die cadres de ia revolution nennt, nämlich: ses in- 
stitutions, ses forroes, son code, et jusqu'a son senat. Die Be- 
ratschlagungen über die nach den in der Charte ausgesproche- 
nen Grundsätzen einzuführende Verfassung werden hier ausführ- 
licher als bei Capefigue mitgetheilt. Bei dieser Gelegenheit sagt 



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Lubis i Hiitoire de U restauration. T I. et II. 1055 

uns Herr Lubis, dafs unter der alten französischen Verfassung 
eine vollkommene Prefsfreiheit statt gefanden habe!! 

Dafs der König hernach bei der Eröffnung der Kammern 
seine Bede selbst machte, wird zwar S. 3q bemerkt, aber statt 
der Bemerkungen, die des Königs Schrift stcllerei dem Geschieh t- 
schreiber eingeben mufste, heilst es hier davon: Cetoit un mo- 
dele de convenance et de dignite. Der Kanzler Dambray kommt 
hier nicht bester weg als bei Capefigue, denn von seiner Bede 
beifst es S. 40: Ces paroles etoient 11 eres sans doute, mais elles 
n'en etoient pas moins de vaines parolles. Elles blessoient le con- 
stitutionalisme si susceptible dune partie de lassemblee, et ne 
compensaient point les sacrifices de la royaute. Gleich hernach ' 
spricht er S. 4 2 — 43 ganz unumwunden aus, was die sogenann- 
ten Boyalisten, zu denen er gehört, wollten und noch jetzt wol- 
len. Er sagt : Die Boyalisten waren niedergeschlagen ; sie konn- 
ten keine Vorstellung von Dauerhaftigkeit mit einer Constitution 
verbinden, die bis auf diesen Grad der Nation und dem Könige 
ihre Vorrechte entzog. Wenn der Kaiser Franz übrigens dem 
über die Constitution betrübten Grafen von Artois die II. S. 55 
— 56 angeführten Worte gesagt hat, so war er wenigstens recht 
aufrichtig; denn er sagt ganz gerade heraus, es sey gar nicht 
die Bede davon, was Millionen Menschen durch die Bevolution 
gewonnen haben könnten, sondern nur davon, was einige hundert 
Familien, ja nach dem Schlüsse seiner Bede sogar nur davon, 
was Leute, wie der Graf von Artois sein Lebenlang -gewesen ist, 
dabei verloren hätten. Diese Schlußworte lauten : Elles (les re- 
volutions) nous (d. h. Kaiser Franz und den Grafen von Artois) 
ont traites de maniere ä ce qu on ne puisse nous contraindre n 
les aimer. 

Im Folgenden setzt Herr Lubis manche Notizen voraus, die 
man bei Capeßgue zu ammengerafTt findet, und allerdings nicht 
wohl entbehren kann , so unkritisch und unzuverlässig sie auch 
sind ; dagegen ist Capefigues Abschnitt, travaux legislatifs VoL 
IL pag. 87 — i3s elendes Gewäsch, wenn man es mit dem ver- 
gleicht, was man bei Lubis darüber findet. Er hat besonders den 
Verhandlungen über die Prefsfreiheit viel Aufmerksamkeit gewid- 
met und bei der Gelegenheit die beiden Stifter der Doctrin, 
Royer Collard und seinen Apostel Guizot, ganz vortrefflich an- 
gebracht, ohne irgend etwas ausdrücklich zu ihrem Nachtheile 
zu bemerken. Die Bemerkungen und die fast durchaus gegrün- 
dete Kritik alles dessen, was in den Kammern bis zum Ende des 



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1056 LubU : HUtoire de la restuuratien. T. I. et II. 



Jahrs 1814 verhandelt ward, wird hier S. 124 in folgenden Wor- 
ten zusammengefaßt und damit beschlossen : 

Diese Sitzung von 1814 tilgte den Zauber der Restauration. 
Von ' Seiten der Regierung entsprach kein einziges Gesetz dem 
wahren Nutzen des Landes. Ein anrorsichtiger Eifer raubte auch 
den Gesetzen tlie ihnen gebührende Ehre, deren Gerechtigkeit 
und Billigkeit niemand bestreiten konnte. Das Budget selbst, ob- 
gleich man darin die Grundsätze des öffentlichen Credits anerkannt 
hatte , wurde dennoch auf eine ganz falsche Manier regulirt. Auch 
die Kammern begriffen ihre Lage and ihr Verhältnifs nicht. Die 
Pairskamrner , obgleich der gröfste Theil ihrer Mitglieder den Ruf 
der Fähigkeit für sich hatte , blieb weit hinter dem zurück , was 
man billiger Weise von ihr erwarten durfte. Die Deputirten- 
kammer zeigte sich durchaus mittelniäfsig und in jeder Beziehung 
unter dem, was sie hätte leisten sollen. 

Im fünften Buche wird die ganze Geschichte des Jahrs 1814 
eben so gründlich und ernst behandelt, als sie lose und erbärm- 
lich von Capeligue mehr berührt als erzählt war. Herr Lubis 
berichtet so- treu, so genau, so richtig im Ganzen, dafs man im 
Einzelnen und im Ganzen anderer Meinung seyn und ihn doch 
mit Vergnügen lesen kann. Auf welche Erbärmlichkeiten sich 
unter Franzosen in Paris, unter Leuten, die über Armseligkeiten 
hinaus seyn sollten, eine Regierung Rüchsicht nehmen raufs, wie 
das ganze Volk zu Grunde gehen kann, wenn nur die Eitelkeit 
der alten und neuen Reichen und Adeligen, der Republikaner, 
Royalisten und Bonapartisten befriedigt wird , lernt man hier weit 
besser, als aus allen den erlogenen Memoires oder in den auf 
gut Glück zusammengerafften Anekdoten bei Capeligue. Man lese 
nur die ausführliche Geschichte des Festes am Ludwigstage und 
der elenden Zänkereien, die es veranlagte, S. 14a sqq. Da heifst 
es denn wegen des Conilicts der Eitelkeit auf dem Pariser Stadt, 
hause S. 144: Depuis la fete de lbotel-de-ville, il y avoit guerre 
ouverto entre les illustrations de Tempire et Celles de lancienne 
France. 

• 

(Der Ilesehlufs folgt) 



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N°. 67. HEIDELBERGER i837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Lubis: Wstoire de la Restauration. T. 1. et IL 

(Beschluft.) 

t 

Ref. bedauert übrigens, dafs er erst ans diesem Buche er- 
fährt , dafs die tolle Idee , Bonaparte zurückzurufen , um durch 
ihn die alten Republikaner und die Bonapartisten zu rereinigen , 
einem so gescbeidten und praktischen Mann, als Thibaudeau ist, 
angehört. Wenn er das zwei oder drei Jahre früher gewufst 
hätte, wurde er doch den alten Mann, den er oft gesehen und 
sehr offen gefunden hat, gefragt haben, wie er einen solchen 
Gedanken mit seiner sehr praktischen Ansicht der Dinge verbin- 
den konnte. Die Sache ward bekanntlich hernach wirklich aus- 
geführt , Bonaparte kehrte ajs Götze der Republikaner zurück, 
war aber sehr unwillig, der Gott der Leute zu seyn, die er Ca- 
naille nannte. Die natürliche Folge war, dafs er als Kaiser nicht 
wirken konnte und doch auch kein Republikaner war — dafs sich 
daher Alle tauschten. Wir wollen übrigens die ganze Stelle über- 
setzen. S. 148 beifst es : Man schreibt die Idee der Vereinigung 
der Republikaner und Bonapartisten dem Grafen Thibaudeau zu, 
der ebensoviel Gewicht bei den Creaturen des Haiserreichs als 
bei den Freunden der Revolution hatte. Es scheint ausgemacht, 
dafs er es war, der diese beiden Partheien einander näher brachte, 
da er ihnen vorstellte, dafs sie wechselseitig eine der andern be- 
dürften. Er zeigte , dafs ohne den Beistand der Armee nichts 
anzufangen wäre, dafs man die Armee herbeiziehen müsse, um 
des Erfolgs gewifs zu seyn, und Bonaparte rufen, um die Armee 
in Bewegung zu bringen. Eine Revolution ohne die Armee würdte 
nur Anarchie im Staat und in der Armee hervorbringen. Dieser 
Vermittler, hei fs t es, habe hinzugesetzt, die Masse aller Partheien 
der Revolution mufs schlechterdings vereinigt seyn, wenn sie der 
monarchischen Ligue des Auslandes das Gleichgewicht halten will, 
welche stets bereit ist, sich in unsre Händel zu mischen. Dia 
Sache der Revolution ist seit dem 3i. März immer weiter zurück- 
gegangen , und ihre festesten Veteranen sind überall mit unver- 
söhnlichen Reactionen und mit gänzlichem Ruin bedroht; aber 
man weifs es auch überall , dafs Gefahr droht. Die Freunde der 
XXX. Jahrg. 11. Heft. » 67 



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1058 Labif : Hittoire de 1a rcstaaration. T. I et II. 

Freiheit bilden schon in allen Theilen von Europa ein geheimes 
Bundhifs , welches mit der Zeit den Bemühungen der absoluten 
Könige das Gleichgewicht halten kann. Damit dieser Zweck er- 
reicht werde, mufs man sich unter einem Oberhaupte vereinigen, 
unter einem Mann von Kopf, der mächtig genug ist, um die in- 
neren Einrichtungen eines grofsen Staates zu ordnen und das Land 
zu yertheidigen. Diese Bolle gebührt Napoleon allein, der durch 
Unglück weiser geworden ist, und dessen Ehrgeiz wir durch eine 
vorsichtig begrenzte Gewalt in Schranken halten müssen. Wei- 
ter unten S. i83, wo von der Organisation des Aufstandes und 
▼on den drei, vor Bonapartes Abreise von Elba festgesetzten 
Operationslinien die Bede ist, heifst es: Ii est presumable que 
Napoleon ne fot pas ötranger a ce plan. Selon quelques docu- 
mens, il en aurait im* nie jete les bases , qui, ajonte-t-on forent 
discutes a Borne entre un de ses envoyes 1 son frere Lucien et 
le comte Thibaudeau envoy6 du comite directeur. 

Erst S. i45 kommt er auf die Herzogin von Set. Leu, wo 
der Salon der Madame Hamelin nicht vergessen ist. Was auf der 
angeführten Seite über die Art angeführt wird , wie sich Kaiser 
Alexander der Königin Hortense (duchesse de St. Leu) annahm, 
wäre an sich durch die fabricirten Memoires de Lavalette, die 
in der Note citxrt sind, nur schwach bewiesen, Bef. hat es aber 
in den handschriftlichen Memoires der Herzogin von Set. Leu 
durch viele andere Beweise bestätigt gesehen. 

In Beziehung auf den Antheil der Generale und der Armee 
an Bonaparte's Buckkehr heifst es hier S. i54*. »Man hat be- 
hauptet, dafs keiner der GrofsofTiciere der Brone, kein Marschall 
von Frankreich sich zu den Projecten der Partheimacher herge- 
geben hätte. Das ist ein Irrthora , denn der Prinz von Eckmuh) 
namentlich hatte Theil an der Verschwörung und zog sich erst 
in dem Augenblicke, als sie ausbrechen sollte, davon zurück. 
Die Anklagen der Stadt Hamburg, wo er im Augenblicke der 
Bestauration und noch nachdem sie vollbracht war, commandirte, 
hatten ihm eine Art Ungnade zugezogen. Sein Name fand sieb 
auf der Pairsliste nicht, er war am Hofe nicht zugelassen, bei 
der Begierung nicht gebraucht, er zeigte sich daher den Ver- 
SChwornen sehr bereitwillig, ihnen zu helfen, er billigte ihr Un- 
ternehmen. Andere Marschälle, Pairs von Frankreich, hatten sich 
freilich auf das Complott nicht eingelassen, sie wufsten aber im 
Allgemeinen von dem Plane; mehrere waren sogar ubereingekom- 



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Lubia: Hittoire de la restaurntion. V. I. et II. 1059 



men, eine Veränderung nach ihrer Weise zu machen, wobei ihr 
Ehrgeiz mehr oder weniger interessirt war. 

Ludwigs XVIII. Ministerium und besonders die Herren Mon- 
tesquiou und Blacas werden hier nicht mehr geschont als in an- 
dern Werben , und besonders Blacas und sogar der König selbst 
in ihrem wahren Lichte gezeigt, so dafs man dem Buche den 
Charakter eines eigentlich und wahrhaft historischen Weihs nicht 
versagen kann , wenn es gleich von einer durchaus verblendeten 
Parthei ausgegangen ist. Es heifst auch hier 8. 179 : » Der Abbe 
Ton Montesquiou war der Geschäftsmann, Herr von Blacas der 
Mann des innigen Vertrauens. Daher die heftigen Zänkereien, 
die mehrere Mal die Versammlungen des Cabinetts störten, und 
welche endlich die an Blacas selbst gerichteten Worte veranlafs- 
ten : Frankreich kann zehn Mätressen eher vertragen, 
als einen einzigen Liebling. Dem Herrn von Blacas fehlte 
jene Menschenkenntnis, welche Frucht einer langen Erfahrung 
ist, und welche in schwierigen Zeiten ungemein nö'thig war. Das 
Publicum glaubte, er sey allmächtig, und doch ward er von Al- 
lem beherrscht. 

Die oberflächlichen Nachrichten vom Wiener Congrcfs, wel- 
che Capefigue II. 8. 176 — 232 giebt, werden den oberflächlichen 
Leser wahrscheinlich besser unterhalten , als was Herr Lubis S. 
190 gründlich, ernst, gedrängt berichtet; dem Freund des eigent- 
lichen historischen Studiums müssen wir jedoch rathen , sich an 
den Letztern zu halten ; man weifs ja im voraus , dafs der Punkt, 
von dem er ausgeht , kein liberaler ist. Wer dies nicht schon 
wüfste, könnte es daraus lernen, dafs der jetzt schon ganz ver- 
schollene Herr von Bonald so oft citirt wird; allein Bef gesteht, 
dafs er den gründlichen Bericht eines Mannes, der diese Geschich- 
ten durchdacht hat und lange und genau studiert, sollte er 
auch der ärgste Absolutist seyn , dem Gewäsche aller Capeflgue s 
vorzieht. Eine Hoffnung dieser guten und frommen Leute, die 
mit Ecksteins Brille sehen, mufs man belächeln, obgleich Bef. 
gesteht dafs ihn das Treiben der Theologen seiner Kirche, wenn 
es ihn anginge, zum Katholicismus bekehren würde. Sollte er 
nämlich zwischen der Pinselei der neuern Führer einiger senti- 
mentalen Protestanten und ihrem ekelhaften doctrinären Jaste- 
miiieu, oder der fanatischen Pietisterei anderer und zwischen dem 
Katholicismus wählen, so würde er Form* um Form , blinden 
Glauben um Glauben, Tradition um Tradition, die des letztern 
wählen, weil sie doch wenigstens viel älter und imposanter ist, 



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060 . Labte i Hittoiro de la rcaUuration. T. I. et II. 

als die Faselei höchst mittel mäfsig er Kopfe, die sich für giofse 
Lichter halten. Warum sollte er bei Luther und Calvin stehen 
bleiben und nicht das Ältere vorziehen? 

Was die sonderbaren Grillen der Parthey , zu welcher der 
Verf. gebort , angebt , und wie ihre Feindschaft gegen den Pro- 
testantismus mit ihrem Absolutismus zusammenhangt, spricht er 
S. 197 sehr naiv aus. Er und Seinesgleichen, sagt er, hätten 
gehofft, nachdem die Einrichtung von Europa und von Deutsch« 
land, die durch den westpbälischen Frieden begründet worden, 
erloschen sey , werde mit einer neuen Ordnung der Dinge , durch 
die Wirkung der Gesetze (des lois naturelles) der bürgerlichen 
Ordnung, auch die Rückkehr Europas zur religiösen Einheit be- 
wirkt werden. Man beobachtete schon, dafs in einigen nicht ka- 
tholischen (dissidens) Staaten (etwa in Berlin?) sich eine geheime 
Neigung zur Annäherung an die Katholiken gezeigt hatte. Der 
Protestantismus, in kleinen Staaten entstanden und 
durch den westphälischen Frieden zu einer öffent- 
lichen und nationalen Religion geworden, ward dort 
in politischer Beziehung für nachtheilig für die Exi- 
stenz grofser Staaten gehalten. Wir können übrigens den 
Leser versichern, dafs verrückte philosophische Bemerkungen 
dieser Art selten in dem Buche sind. 

Das sechste Bach beginnt mit der am 5ten März i8i5 in 
Paris verkündigten Nachricht von Bonapartes Landung. Dafs 
Soult dabei schlecht wegkommt , kann man leicht denken. Schär- 
fer kann dieser fürchterliche und bekanntlich aller moralischen 
Empfindung durchaus unfähige Minister Louis Philipps nicht ge- 
schildert werden, als er hier S. a3o geschildert wird. Diese 
Schilderung beginnt mit folgenden Worten: 

Ce ministre de la guerre ne connoitsait que l'emploi de pro- 
cedes diclatoriaux. Sa rudesse le rendait raeme un objet de de- 
fiance pour ses collegues. La cbarte n etoit ä ses yeux qu'un lien 
funeste a laction du gouverneraent ; il eut desire reporter la re- 
stauration au 1. Avril 1814* 

Der Scblufs des Bandes (welcher nicht so weit geht, als 
Capefigue's zweiter Band) beschäftigt sich , wie man denken kann, 
mit den royalis tischen Kleinigkeiten, dem Abzüge des Königs, 
des Grafen von Artois und Herzogs von Berry, des Herzogs von 
Bourbon Expedition in der Vendee , des Herzogs von Angouleme 
Abentheuer in Valenco und der Herzogin in Bordeaux. Das Al- 

c 



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Dr. de Hucvcr Gronemann: Dia tri be in Joh. Wicliifi vitara. 1061 

les mögen die Liebhaber von dergleichen Geschichten selbst bei 
Herrn Lubis nachlesen. 

Unter den angehängten docuraens bistoriques et extraits de 
Memoires inedits, rechnen wir das Erste S. 363 — 384 auch anter 
die historischen Kleinigkeiten , worauf wir wenig Bedeutung le- 
gen. Es sind nämlich die extraits des notes de M. le comte de 
Semalle fonde de pouvoirs de S. A. B. Monsieur. Das zweite 
Stuck, die Bevelations de faits importants sur les restaurations 
de 1814 et i8i5 zeigt uns das Treiben geschäftiger Boyalisten 
im Contrast mit dem Streben derer, die durch Bonaparte oder 
durch die Revolution grofs geworden waren. Dann folgt das 
Journal eines Boyalisten, der mit den Ministern der verbündeten 
Mächte unterhandelte , dann die ganz unbedeutenden Memoires 
inedits de Mr de Wildermeth. Dann aus dem Journal des debats 
Nachrichten über den Aufenthalt der verbündeten Regenten in 
Paris. S. 469 ist die Situation de Paris au 3i. Mars 1814. Ex- 
tra it de memoires inedits, nicht gerade anziehend oder belehrend; 
der Aufsatz, überschrieben: Retour du duc de Berry, kundigt 
sich schon als royalistische Nachricht an. S. 5 12 findet sich eine 
Relation d'un voyage a l'isle d'Elbe par le colonel S... P...., 
die wohl dos anziehendste Stuck in diesem ganzen Anhang seyn 
mag, obgleich sich Napoleon gerade so darin darstellt, wie wir 
ihn überall finden, wo er mit Leuten spricht, die ihm durchaus 
ergeben sind. 

Schlosser. 



Diatribe in Johannis Wicliffi, Reformationie Prodromi, vi- 
tam, ingenium, scripta. Auetore S. A. J. de Rucver Grone- 
mann, Theol. Dr. (Mit Dedication an die Profe*$oren van Hemde 
und Royaardt.) Trojecti ad Rhen. ap. Robert Natan. 18ST. 8. 
XVI und 283 S. 

Gewifs würde es den Leitern der Hochkirche in England 
Ehre machen, wenn endlich ein wahres Denkmal für den geist- 
reichen, politisch und kirchlich wichtigen Reformator, nämlich eine, 
wo nicht ganz vollständige, doch das Charakteristische reichlich 
auswählende Sammlung seiper vielen , auf mehreren Bibliotheken, 
vielleicht auch noch in Böhmen, zerstreuten Schriften, Briefe 
and anderer Urkunden von ihr, durch die ihr allein mögliche 
reiche Subscriptionen und Empfehlungen , zu Stande gebracht 
wurde. Ohne Wicliff würde kein Hufs, ohne Hufs kein Lu- 



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1062 Dr. do Uuever Gronemann : 

ther erweckt, wenigstens bei weitem nicht so wirksam geworden 
seyn. Und was die Hauptsache ist: Wicliffs Geist war nicht 
blos auf theologische Dogmen, er war hauptsächlich auf das ganze 
Leben, auf politische wie aaf kirchliche Befreiung von der nie- 
dern , das Volk dumm machenden Moncherei sowohl als von der 
habsüchtigen Universal-Hierarchie eines ausländischen Statthalters 
Gottes gerichtet. Gegenwärtig aber scheinen mehr die der Hoch* 
Kirche entgegenstehenden Dissenters von der pietistischen Farbe 
auf WiclifTs Schriften und unpfäfßschen Geist zurückzublicken. 

Ausser den Annalen von Henry Knyghton, Wicliffi Zeit- 
genossen, und der gegen W. feindseligen Geschichte Englands 
von Tiioro, Walsing ha m mufste man sich indefs an die Apo- 
logie für WiclilT von Thotn. James (1608. 4.), welche zweien 
Schriften Wicliffs : Two short Treatises against the orders of the 
Begging'Friars angehängt ist, und an John Lewis History of 
the Life and Sufferings of John Wiclife, D. I). London 1720 
halten. Nunmehr ist das inhaltreichste, was Robert Voughan 
als the Life and Opinions of John de f^ydiffe , D. IX illustiated 
principally from bis unpublished Mss. (London, ed. 2. i83i.) ge- 
geben hat und woraus bereits, zu London i832, C. Lc Bas 
einen Auszug als the Life of J. W. verbreitete. Ausser diesen 
Vorarbeiten benutzte der Verf. Babers Memoirs of the Life, 
Opinions and Writings of J. Wiclif als Vorrede zu der von ihm 
nachdem Lewis 1731 das erstemal WyclifTs N. T. veröffentlicht 
hatte, nunmehr 1810 neu edirten WyclifTyschdn Übersetzung des 
N. Ts, und noch einige von einer religiösen Gesellschaft zu Lon- 
don neuerlich unter dem Titel: Writings of John W T icliff . . . 
printed for the religious - Tract ■ Society . . herausgegebene Wy« 
cleflische Schriften , deren Titel er S. 9 nicht angibt. 

Zur Einleitung über die vorbereitende Zeitgeschichte ist von 
dem Vf. vornehmlich die Histoire de Philippe- Auguste, von Cape- 
figue (Bruxell. i83o. Vol. I. II. III.) und Rojaards Abh. Over de 
vestiging en ontwikkeling der nieuw europ. Volken aus dem Ar- 
chief vor kerkulyche Gesch. insond. van Nederl. door Kist. en 
Royards Vol. IV, benutzt. Überhaupt zeigt sich der Verf. mit 
der Literatur und dem Umfang des Gegenstandes hinreichend be- 
kannt. S. 49 zeigt, wie Wycliff, welcher, wie Luther, lieber 
den geringer geschätzten Titel eines Doctor Biblicus (Evangelicus) 
als den eines Scntentiarius sich erwarb , sich dem griechisch und 
hebräisch gelehrten Grostete, Bischof! von Lincoln, dem from- 
men Übersetzer des Dionysius Areopagita , anreihetc , welcher 



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Diatribe in Joh. Wycliffi vitam. . 1063 

■ 

i2/jo in einer Epa ad magistrot regentes Oxon. diese auf die Bi- 
bel wies, als auf »lapides fundamentales aedificii, cujus archi- 
tectonici« sie seyn sollten. Auch der Schuler von Grostete, 
Royer Baco (der Franciskaner, dessen viele noch zerstreute 
Mste ebenfalls auf einen über das Gewöhnliche erhabenen engli- 
schen Sammler warten!) war unter WycliCfs Vorbildern. Dage- 
gen wird S. 10 bemerkt: Flatbe in seiner Gesch. der Vor- 
läufer der Reformation, JLeipz. iö35 u. 36. vermuthe vie- 
len EinHufs der Waldenser auf die Bewegungen in England, 
Vaughan hingegen habe S. 33o in dem angeführten Hauptwerk 
nachgewiesen, dafs Wiclift' von den Waldensern erst in seinen 
spätesten Schriften einige und nur sehr unbestimmte Kenntnifs 
zeige. — Doch! wir gehen zuvorderst auf Wycliffs Bildungs- 
geschichte zurück. 

In einem kleinen Dorf von Yorkshire, Wycliffe, sechs Mei- 
len von Richmond, wurde i3a4 unser John geboren. (Wahr- 
scheinlich blieb ihm, nach alter Sitte, der Name von seinem Ge- 
burtsort. Deswegen setzt auch Vaughan richtig de Wycliff.) 
Die bis 1422 reichende Chronik des Augustiners, Andreas R&tis- 
bonensis, in Eccards Corp. Ilist. med. aevi T. L p« 2142 läfst ihn, 
nach einer Sage, geboren seyn in Anglia ex patre Judaeo, malre 
vero Christiana, vidua, quac , raortuo marito depauperata, de 
Francia venit in Angliam. Ein mönchischer Mythos, um den 
Verketzerten sogleich in seiner Abstammung zu bemakeln ! Ws 
Jugendbildung ist unbekannt, bis er, vom siebzehnten Jahre an, 
also seit 1 54 1 , zu Oxford , auf dem mit Paris in der Scholastik 
rivali&irenden Studium Generale, zuerst als Scholar und dann als 
Fellow in Mertons-College , Philosophie , kanon. Recht und Theo- 
logie studirte. 

Wichtig ists, dafs eben aus dieser Mertons-Stiftung die auf. 
geklärteren Scholastiker, der Doctor subtilis, Johann Dam Scolu$ 
(gest. i3o8) und dessen Schüler, der auch von Luther hochge- 
schätzte Doctor singularis et invincibilis , Occam (gest. i347> 
hervorgegangen waren. Occam jedoch war seit i328 senon bei 
Kr Ludwig dem Bayer in Deutschland. Selbst den Aristote- 
les konnte \Y. nur aus lateinischen , von Einmischung der arabi- 
schen Ausleger abhängigen Versionen kennen lernen. Doch wurde 
er durch Augustinus auch auf Plato, und meist auf den von 
Chalcidius übersetzten Timäus aufmerksam. In seinem Tr?-Jogus 
I, 6. meinte W. Deuni ergo posucrunt Philosophi esse irinum, 
ut Plalo cum caeteris cognovere lumine nalurali. Ebendaher war 

1 

< 

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1064 



Dr. de Ruevcr Gronemann; 



W. dem Realismus geneigt, so dafs seine Schrift von den Uni- 
versal ien seit 1401 auf der Prager Universität als Handbuch 
der Realisten galt , dessen Einflnfs auch auf Hufs bebannt ist. 

Dagegen sachten die den Universitäten als Lehrer aufgedrun- 
genen Bettelmönche, diese vom Dammmachen der Völker le-. 
benden Unechte der Curie, jede Geschmack erweckende Sprach- 
und Alterthumskenntnifs zu verdrängen. Doch wurde auch zu 
Oxford i3 16 das paust liehe Decret publicirt ( s. Clementin. V, 
c 1.) , dafs wegen Missionsbekehrungen unter den Mohammeda- 
nern und Jaden (und weil man überhaupt von Rom aus sich mehr 
Einflufs auf den Orient öffnen wollte), auch Lehrer des Arabi- 
schen und Hebräischen auf den Universitäten seyn sollten. Auch 
war Nicolaus Lyranus (aal* dessen »Leierton« ebenfalls Lu- 
ther gerne horchte) schon bis i34o zu Paris im Griechischen 
und Hebräischen wirksam. 

Welches Ansehen W. sich allmäblig auf der Universität]/)*» . 
ford erwarb, müssen wir mehr aus zerstreuten Umständen, als 
bestimmten Nachrichten, erkennen. Seit i3.j<> verbreitete (nach 
S. 07) sich eine furchtbare Seuche auch über England. Andere 
schreckende Naturpbänomene bestärkten die mancherlei Weissa- 
gungen des Abt Joachim, der h. Hildegard u. dgl. , dafs die 1060 
Jahre des Reiches Gottes und der Einkerkerung des Satans ab- 
gelaufen seyen und deswegen so, wie auch die grofse Sitten ver- 
derbnifs nichts anderes ahnen lasse , das Weltende und letzte Ge- 
richt bevorstehen müsse. In diesem Sinne schilderte W. streng 
fromm 1 356 in seinem De ultima aetate Ecclesiae« das Schlimm- 
ste von den Unsitten, die ihn umgaben. 

Knyghton, Wycliffs Zeitgenosse, schildert ihn als doctor in 
Theologia eminentissimos in Ulis diebus. In Philosophia nulli pu- 
tabatur secundus. In Scholasticis diseiplinis [nämlich des Tri vium 
und Quadrivium] incoraparabilis. Hic maxime nitebatur aliorum 
ingenia subtilitate scientiae et profunditate ingenii sui transscen- 
dere et ab opinionibus eorum variare. — Am meisten eiferte er 
schon damals und sein ganzes Leben hindurch gegen die Mendi- 
canten (auch Minoriten, Carmeliten, Augustiner-Eremiten), theils 
weil sie unter dem Schein gänzlicher Armut h das Volk ausplünderten 
und ebendeswegen immer tiefer in den Aberglauben an ihre desto 
kräftigere Absolution und in sorglose Sündern ohheit verwickelten, 
theils aber auch, weil sie nicht nur die Weltgeistlichkeit zu un- 
terdrücken, sondern zugleich der Universitäten sich zu bemäch- 
tigen suchten und dazu Bullen und Bannstrahlen von Rom zu 



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V 

Diatribe in Job. Wyclifl! ritem. 1065 

gewinnen wofsten. Wenn die gemeine Pastoral sich, wie - 
sie immer danach strebt, über das Wissenschaftliche der Univer- 
sitäten zum Richter macht , roufs Wissenschaft ond Gelehrsamkeit 
dem Schlendrian weichen. Schon aber enthalten die Canterbury- 
tales, Gedichte eines Zeitgenossen, Chaucer (geb. i3s8), ond 
das Volkslied von Robert Longland: »Geschichte Peters des 
Ackerbauers«, Spuren genug, dafs auch in England, wie in Ita- 
lien durch Dante, damals der gesunde Menschenverstand gegen die 
Pfafferei mittels der Poesie in alle Classen drang. Doch ist die 
Entstehungszeit von Wyciiffs ersten kleinen Schriften wider sie 
noch nicht genau bestimmbar. 

Erst als der Kampf naber mit den allgemeinen Staatsinteres- 
sen zusammenhängend wurde, verdoppelten sich seine Schlage. 
Anerkannt aber war seine Wirksamkeit offenbar schon 1 36 1 , da* 
ihm von dem BallioUCollege die einträgliche Parochie Fillingham 
bei Lincoln übertragen und er sogar zum Vorsteber dieses Col- 
lege erwählt wurde. 

Vier Jahre später hatte sein vormaliger Mitschüler, Simon 
Islcy, jetzt Erzbischoff von Canterbury, so grofse Achtung für 
W. , dafs er i365 ihm die Custodie oder Oberaufsicht über Can- 
terbury- Hall (eine Stiftungsanstalt für 5o Akademiker, welche 
gegenwärtig einen Theil von Christchurcbcollege ausmacht,) an- 
vertraute. Schon i366 aber behauptete Simon Langham, ein 
Mönchsfreund, als erster Bischoff von England, dafs fundations- 
mäfsig der Vorsteher der Halle ein Benedict inerrnünch seyn müsse, 
setzte also, anstatt Wyciiffs, dergleichen Mönche von Canterbury 
dahin , and verwickelte dadurch den Mönchsgegner in einen Pro- 
cefs, welcher von Rom aus entschieden werden sollte und dort 
langsam genug bebandelt wurde. 

Indefs entzündete sich eine weit wichtigere Streitfrage zwi- 
schen Rom und England. Konig Johann hatte vom Pabst Innocenz 
III. sich bewegen lassen , England und Irland vom päbstlichgn 
Stuhl zu Leben zu nehmen und für England jährliche 700, für 
Irland 3oo Mark als Vasallats-Recognition zu entrichten. Auch 
der Sohn, Heinrich III., hatte dies zugesagt. Aber seit 3a Jah- 
ren wurde die Abzahlung unterlassen. Urban V., einer der Päb- 
ste, welche für den französischen Luxus zu Avignon doppelt viel 
bedurften, forderte i365 von Konig Eduard III. die stockenden 
Lehenanerkennungsgelder. Frankreich, das die Päbste, in jener 
babylonischen Gefangenschaft , als seine Organe festhielt, schützte 
sie gern gegen alle andere Staaten, besonders gegen England. 



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1006 Dr. de Ruever Groneroann: 

Hier aber brachte 1 366 der muthigere Honig die Staatsfrage 
vor sein Parlament, dessen Rechte bereits in der Formel ausge- 
sprochen waren: Lex sancitur a Rege, roganlibus Communibus 
et consentientibus Magnat ibus ac Praelatis (s. Hallam. III. S. 70). 
Dieses schon so weit vorwaltende Unterbaus ging auf den Ur- 
sprung der Forderung zurück. Deutlich war's, dafs Johann sein 
Königreich zum Lehen von Rom zu machen kein Recht gehabt 
hatte , und dafs der heilige Vater ihn vielmehr an das Unrecht 
zu erinnern, als es nutzbar anzunehmen schuldig gewesen wäre. 
Das Parlament versprach dem Konig einmuthig, die Weigerung 
mit der ganzen Kraft der Nation zu unterstützen. Und so horte 
dieser Tribut nach Rom durch Entschlossenheit plötzlich auf, 
wie immer Rom, wenn man kräftig entgegentritt, in seinen An. 
mafsungen zurückweicht. 

Nur der, schon vor Verwandlung der angelsächsischen Heptar- 
chie in Alleinherrschaft, eingeführte und für Erziehung englischer 
Priester zu Rom bestimmte Petersgroschen dauerte noch bis 
in das fünfte Jahr von Heinrich \ Iii. 

Aber Mönche traten auf zur Verteidigung der j>a östlichen 
Lchnsansprüche. Und Wycliffs rechtlicher Freiheitssinn war 
bereits so bekannt, dafs Einer jener Dienstbaren ihn mit Namen 
aufforderte, ob er der Ausdehnung der Pabstmacht gegen die 
Staatsregierung zu widersprechen wagen würde. 

W. hätte Bedenken tragen können. Er sab ein (S. 90), dafs 
man ihn zu Rom verhafst inachen und seiner Pfründe berauben 
wolle. Die Entscheidung seines Processes wegen der Präposilur 
über Cantcrbury-Hall war so eben von Rom abhängig. Aber Ge- 
wissenssache war es für ihn, von nun an die Nolh wendigkeit, 
dafs die Geistlichkeit überhaupt alle Einmischung in 
weltliche Verwaltung verlieren, dafs sie sogar kein weit« 
liches Amt annehmen sollte, zu behaupten, während damals 
(S. 96) Bischoffe .nicht selten die höchsten Staatsstellen, als Canz- 
ler, Schatzmeister, Siegelbewahrer, sogar als Garderobe- Auf- 
seher, mit ihrem Hirtenstab vereinigten. Die Fragen unserer 
Zeit: ob die Prälaten der Hochkirche im Oberhaus mitstimmen 
sollten '! u. dgl. können schon auf WycliiT zurückgeführt werden. 
Er schrieb für diese Unterscheidung und für Aufhebung der Zins- 
barkeit gegen Rom seine Determinatio de Dominio 1367 auf eine 
kiuggewählte , sehr eindringliche Weise, indem er in seiner Ge- 
genschrift sieben Parlamentsrednern seine Gedanken in den Mund 
legte. 



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Diatribe in Job. Wycliffi vitam. 1067 

< 

Die Regierung lohnte es ibm nicht. 1370 entschied Rum 
seinen Präpositurprocefs gegen ihn und Konig Eduard III. (S. 83) 
confirmirte 1372 die päbstliche Entscheidung, weil zwar sowohl 
der ErzbischofF, welcher ihn eingesetzt hatte , als die romische 
Curie die Fundationsurkunde verletzt habe, der Prior und Con- 
vent ?on Christchurch aber dieses Versehen mit 200 Mark in des 
Königs Kasse gebüfst hätten. Wohlan! Desto gewisser ists, dafs 
W. nicht aus Priratrücksichten , sondern aus reiner, edler Über- 
zeugungstreue gegen die hierarchischen Mifsbräuche kämpfte und 
zu I wunden nicht müde wurde. Indefs war er schon i36ö auf 
die Parochie Lutgersball, gleichfalls bei Lincoln, versetzt wor- 
den. Und dafs er seit 1372 als Magister Regens zu Oxford lehr- 
te, schliefst man, weil er damals De Exhortatione novi Doctoris 
schrieb. 

Bald trieben ihn die Zeitverhältnisse noch weiter. Seit dem 
Tode Wilhelms des Conquestors waren die Einmischungen von 
Rom so gestiegen, dafs Eduard III. endlich den Provisionen, 
durch welche der Pabst meist Fremden die Einkünfte englischer 
Pfründen ertheilte und der Capiteln oder Patronen Wahlrecht 
faclisch zernichtete, zwei Parlamentsschlüsse von i35o und i353 
entgegensetzte, welche i373 gegen Gregor XI. wiederholt und 
ihm nach Avignon zugeschickt wurden. Um über die Vollziehung 
mit Delegaten des Pabstes zu unterhandeln, wurde 1374 eine 
königl. Commission nach Brügge geschickt, in welcher Magister 
Johannes de PPiclif, sacrae theologiae professor , eine Hauptperson 
war. (Gerade-nach Brügge scheint die Negociation verlegt wor- 
den zu seyn, weil zu gleicher. Zeit ebendaselbst franzosische, 
päbstliche und englische Gesandte wegen anderer politischer 
Unterhandlungen beschäftigt waren.) 

Zwei Jahre lang hatte W. unter den ungewöhnten Lebenserfah- 
rungen zu verweilen, welche ihm die reiche, freithälige, flandri- 
sche Handelsstadt zuführte. Sie waren um so wichtiger für ihn 
und seine Sache , weil unter jenen Abgesandten auch der dritte 
Sohn Eduards III., der Herzog von Lancaster , gew. Johann von 
Gaunt genannt, sich befand und Wycliff diesem hochsinnigen, 
einilufsreichen Manne achtbar und lieb zu werden Gelegenheit 
hatte. W. erhielt während dieser seiner Abwesenheit durch kön. 
Ernennung das Bectorat der Kirche Lutervort in der Diöcese 
Lincoln, das er bis zu seinem Tode behielt. 

Dem Herzog von Lancaster entzog zwar, während er zu 
Brügge der Gesandtschaft vorstand, das Parlament im April 1376 



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1068 Dr. de Rucvcr Grone mann : 

i 

die ReicbsTerweierawürdc, weil man ihm ein Streben nach der 
Krone selbst zutraute. Dennoch aber war er, da Eduard III. den 
21. Juni starb, in dem Vormundschaftsrath über Richard II. der 
Machtigste, und bewies sieb, da die frommen Grundsatze Wy- 
cliffs jetzt aueb den Klerus Englands überhaupt aulbrach- 
ten, lange Zeit bald offener, bald durch politische Wendungen 
Reschützer des Verfolgten , welchen seine praktisch - evange- 
lische Theologie und die daraus entstehenden Aufforderungen zu 
patriotischer Uneigennützigkeit , mehr als irgend eine Ketzerei, 
verhafst machten. Die Noth des Vaterlands steigerte seine ge- 
wissenhafte Freimütigkeit. 

Nach Eduards III. Tod erneuerte sich der Krieg mit Frank- 
reich. Die englische Schatzkammer fühlte, wieviel Geld wegen 
der pabstlichen Provisionen an Fremde aus dem Lande gehe. 
Das Parlament glaubte wegen der Staatsbedurfnisse diese Gelder, 
auch wenn der Pab t mit Kirchencensuren drohe, zurückhal- 
ten zu dürfen, und Wjcliffs Ansehen war so grofs, dafs der 
Staatsrath hierüber sein Gutachten verlangte. Nicht sich selbst 
zudrängend, sondern aufgefordert, erklarte der Frei forschende 
unter der Aufschrift: Ad Quaesita Regis et Concilii, nicht nur, 
dafs die Selbsterhaltungspüicht andern Ansprüchen Torgehe und 
dafs die fremden Pfrundner kein Recht an das hätten, wofür sie 
nichts leisteten, sondern auch, dafs all jene Abflüsse an den Pabst 
nur Geschenke seyen , die man zwar den Bedürftigen , nicht aber 
der bekanntlich nur luxurirenden Curie, zu geben habe. 

Umsonst war's, dafs W. für diese Grundsätze die Bibel, und 
für Warnung vor der Gier der RÖmlinge die unvergefslicben, 
an Pabst Eugen III. selbst gerichteten V Bucher des heil. Bern- 
hard de Consideratione , stark benutzte; die sehr gefährdeten 
Kirchenhäupter griffen nach alter Gewohnheit den Streit so, dafs 
sie Kläger und Richter zugleich werden sollten. Wegen 19 Pro- 
positionen (S. 125), die nicht blos aus Wyclifls Schriften, son- 
dern auch als vage Denunciationen aus Vorlesungen und Gesprä- 
chen geschöpft seyn sollten, wurde W. im Februar 1877 vor den 
Bischof! Courtenay von London citirt. Da aber (S. 119 die Ge- 
genwart des Herzogs von Lancaster selbst das Verfahren unter- 
brach , so wurden dieselben Sätze nach Rom geschickt und von 
dort durch 4 Bullen vom 22. Mai 1877 als ketzerisch verdammt. 
So hatte man vorerst eine Rechtsform wider W. Nun wagte 
zwar weder die Universität noch der Primas von England und 
der Bischof! von London die Befolgung des pabstlichen Befehls, 



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Diatribe in Job. Wjcliffi viUm. 



1069 



Wycliff gefangen zu setzen. (Aach die auswärtige Aburthei- 
lung soweit anzuerkennen , mufste englischen Behörden bedenk- 
lich seyn.) W. wurde aber doch 1^78 vor das inländische 
erzbischofliebe Forum citirt. Allein auch diesmal wurde vom Hof 
aus die Fällung eines kirchlichen Urtbeils gehindert 

Die Hauptfrage für uns ist , was YV. , nachdem er das Ent- 
stellte in jenen 19 Sätzen berichtigt hatte, wirklich vertheidigte. 
Und allerdings war darin genug Antikler italisches. Nach S. 126 
behauptete W., dafs das ganze Menschengeschlecht und dafs Gott 
selbst keinem Menschen und seinen Erben ein bürgerliches domi- 
nium für immer geben könne, ja dafs alle darüber ausgestellte 
Urkunden nichtig seyen. Denn alles sey Gottesgabe. Niemand 
habe ein jus ad rem, sondern nur pro suo tempore ein jus in re. 
Kein Wunder daher , dafs die päbstliche Bulle S. a3t bemerklich 
machte, die conclusiones W's innucre, omnem deslruere politiam* 
W. hatte zu wenig entwickelt, inwiefern aller Besitz ein mora- 
lisch bedingter ist. Er sah jetzt nur auf die den kirchlichen Be- 
sitz betreffende Folgerungen, dafs derselbe, wenn nichts dafür 
geleistet werde, wegfalle und dafs, wenn der Überflurs sogar den 
Zweck verhindere, gesetzliche Verminderung und bessere An- 
wendung Pflicht sey. Was aus seinen Prämissen auch gegen po- 
litische Erbschaften folge, scheint er nicht bedacht zu haben. 
Seine Folgerung war : deswegen konnten und sollten sogar die 
weltlichen Herren der Kirche, wenn sie es verschulde, die dem 
Zweck der Kirche schädlichen Güter entziehen, ungeachtet er 
nicht zu entscheiden habe, ob die Kirche in einer solchen Ver- 
schuldung stehe. 

Dies trieb weiter. Ezeommunicattonen dagegen waren 
zu erwarten. W. kommt zuvor: sie seyen nicht zu furchten. 
Denn die Kirchenbehörden dürften ihre Censuren nicht nach Be- 
lieben , nicht wegen der weltlichen Güter verhängen , sondern nur 
in causa Dei gegen Feinde des göttlichen Gesetzes! Jeder rich- 
tig ordinirte Priester könne den Reumüthigen absolviren und ihm 
die Sacramente reichen. Wer Kircbengüter hahitualiter mifs- 
brauche, dem können, ohne Rücksicht auf Excommuncation, die 
Regenten sie wegnehmen, wenn nur die Entziehung dem Ver- * 
gehen proportionirt sey. 

Wir sehen, dafs hier, wie bei Luther, äussere Mifsbräuche, 
erst weil man sie durch Lehrsätze vertheidigen wollte, bis zur 
Entdeckung falscher Theorien hintrieben. So tief steht der ge- 
wöhnliche Mensch. Nur durch das Äussere wird er endlich zur 



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]0I0 Dr. de Kuever Grone mann: 

Beachtung und Berichtigung des Innern getrieben. Nur weil 
Leo X. den verkäuflichen Ablaß durch eine Bulle und durch die 
scholastische Erfindung eines der pöbstlichon Vertheilung über- 
lassenen Schatzes der uberlliefsenden guten Werke Christi und 
aller Heiligen vertheidigen wollte, war Luther zu der Einsicht 
gekommen , dafs Menschen nur ihre Pflicht tbun , nichts dadurch 
abverdienen und noch weniger einen Überschuß für Andere er- 
werben können. Da sofort die Vertheidiger des Milibrauchs das 
Gegentheil dieser Einsichten im Namen des Pabstes geltend ma- 
chen wollten, to war der Reformator zu dem Wagnifs getrieben, 
selbst die Lehruntruglichkeit des Pabstes und der Kirche zu prü- 
fen , und da die Bibel sie nicht sanetiomrt, bestimmt zu läugnen. 
(Das Böse und Unwahre, wenn es aufs höchste getrieben wird, 
nothigt endlich, das unentbehrliche Gute anzuerkennen.) Ebenso 
war Wycliff, weil der Pabst die Entziehung fortwährend ge- 
mifsbrauchter Rircbengüter durch Excommunication verhindern 
wollte, die Lehren von willkürlichem , nicht durch Öffentliche 
Sunden verschuldetem Kirchenbann, als bJos hierarchUchem Zwangs- 
mittel einer Prüfung zu unterwerfen und sie zu verwerfen an- 
getrieben. 

Sein letzter Satz trieb vollends die Sache auf die Spitze. 
Nach den Pseudodecretalen war der ganze Klerus fast gegen jede 
Beschwerde gesichert und unangreifbar. WycliflTs Bekenntnifs 
aber (S. 128 Note) war: Ecclesiasticus , etiam romanus Pontifex, 
potest legitimae a subditis corrigi ad utilitatem ecclesiae , et tarn 
a clericis, quam a laicis accusari. Welche Gotteslästerung hatte 
blasphemer seyn können , als diese Störung der klerikalischen 
Unverletzbarkeit! Schlimmeres war unter Johann XXII. nicht an 
Marsilms von Padua und Johannes de Ganduno (S. 129) zu ver- 
dammen gewesen. (Vgl. deren » Defensor Pacis , eine i3s4 für 
Ludwig den Bayer verfafste Apologie, abgedruckt in Goldasts 
Monarcbia Imperit romani. T. III. p. i54 — 3i3.)' 

Das verfänglichste war, dafs die römischen Bullen (S. i3i) 
zu verstehen gaben: Wydiffs Grundsätze, dafs selbst Gott kein 
unabänderliches (dureh keinen Mifsbrauch verlierbares) Dominium 
auf weltliches Besitzen und Vererben geben könne, auch fuf 
die Staatspolitik zerstörend seyen. Wyclif gab im April 
1378 eine Verteidigung »Regis Parlamente«. Genauere Be- 
griffs- und Recbtsbestimmungen waren nöthig und W. (S. i3<)— 
■ 53) gab sie. Römlinge schrieben gegen ihn. Der Erzbiscboff 
verbot ihm, nach jenen Sätzen zu lehren. 



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» 



Diatribc in Joh. Wycliffi ▼itara. 1071 

Allmahlig sah sich W. bis dahin getrieben, dafs in der rö- 
mischen Curie der Antichrist wirke, und unerwartet wurde 
dieser Titel dnrch die wechselseitigen Verdammungen 
zweier Gegenpa'bste unter der höchsten Auctorität selbst ge- 
rechtfertigt. Da Gregor XI« den 8. April 1878 gestorben war, 
trieben die Börner zur Wahl eines Neapolitaners, Urbans VI. 
gegen den für Afignon erkornen Clemens VII., und W. schrieb 
sein De Papa romano s. Schisma fapae. Christus selbst komme 
zur Hülfe (S. i55). Er habe das Haupt des Antichrists in 
zwei Stäche gerissen, welche gegeneinander kämpften. 

Um diese Zeit (1879) war cs • ^ a ^ s W#i da er tödtlich er- 
krankt schien und Mendicanten ihn zur Bufse ermahnten , er ihnen 
nach Ps. 118, 17. die bekannten Kraftworte zurief: Ich werde 
nicht sterben, sondern leben und »der bösen Brüder« Thaten kund 
machen! Das wirksamste aber, was er thun konnte, war, dafs 
er die Bibel (wenngleich nur aus der Vulgata) übersetzte, weil, 
wie er in einer Schrift de Veritate et Sensu Scripturae darthat, 
jeder Laie daraus das zum Seligwerden Nothwendige selbst zu 
erkennen vermöge. (Vgl. vornehmlich des Unterbibliothehars bei 
dem Briltish Museum, Baber, Histor. aecount of the Saxon. and 
English versions of the Scriptures , Lond. 1810, wo auch VV's 
Übersetzung des N. Ts wieder abgedruckt *) ist.) Damals soll- 
ten die Laien in der » starren Orthodoxie« der privilegirten Aus- 
leger dadurch rein erhalten werden, dafs die Bibel lateinisch 
bleiben sollte; wie in neuester Zeit der redselige Erfinder 
eines durch Inconsequenzen verfeinerten Supernaturalismus die 
Laien unserer Zeit von der Prüfung der Dogmen , in denen die 
Theologen die alleingültigen Offenbarer des NichtofTenbaren seyn 
wollen , dadurch gern abhalten möchte , dafs das Streitige nur 
anter den Theologen und nur lateinisch verhandelt und erst, wenn 
diese gemeinschaftlich überzeugt wären (?), den Laien der Er- 
fund bekannt werden sollte. Gleiche Zwecke, gleiche Mittel ! 
Schade nur, dafs die unausbleibliche Fortbildung der nichtpfaf- 
fischen RirchenmitgliVder, welche sich, und nicht die Hierarchie 
oder die Gewalt der kirchlichen Doctrinäre für den Zweck der 
Kirche erkennen, schon damals, wie jetzt, die künstliche Ver- 
heimlichung unmöglich macht. 

Zum Gebrauch seiner Übersetzung gab W. Vorbereitungen 



*) Auch an Herausgabe der WyclifTischcn Überfettung de« Alten T. 
wurde (endlich?) 1832 in England gedacht. 



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1072 Dr. de Rucvcr Gronemann : Diatribe in Job. Wycliffi vitam. 

■ 

in einer Schrift De veritate et sensu Scripturae, welche fast alle 
seine Lehreinsichten enthält Man suchte zwar 1390 ein Parla- 
mentsvcrbot gegen Bibelubersetzungen in den Landessprachen. 
Aber die Laien im Unterhaos, anch der Herzog von Lancaster, 
waren zu klag, um wider sich selbst zu decretiren. Auch Ri- 
chards II. Gemahlin, Anna, K. Carls IV. Tochter und des böh- 
mischen Honigs Wenceslaus Schwester, las die Bibel gern in ver- 
schiedenen Landessprachen, während bischoff liehe Synoden sie 
verboten. (Der auch hier bemerkbare Zusammenhang zwischen 
Böhmen und England ist in Beziehung auf Hufs und Hieronymus 
von Prag nicht zu ubersehen!) 

Indem W. immer* mehr biblisch zu denken bemuht war, ent- 

■ 

fernte er gern das scholastisch - Dogmatische. Daher i38i seine 
zwölf Thesen, dafs man sich die Abendmahlsworte Jesu weder 
durch Transsubstantiation *) , noch Idemptiücation , noch Iropana- 
tion erklären solle. Dennoch wollte er nach Thesis 4 und 7 
(S. 171) ganz einfach und nur ohne Einmischung gelehrter Spe- 
culationen gerne glauben, dafs, während Brod und Wein bleibe 
und nicht blos als Accidens ohne Substanz erscheine, doch das 
Sacrament virtute verborum sacramentalium habe verum corpus 
et sanguinem Christi ad quemlibet ejus punctum (?). So begann 
der redliche Glaube, wenn er gleich in W. , wegen Mangels an 
Sprachkenntnissen , noch nicht in den schlichten populären Sinn 
des Abschied nehmenden Jesus ganz einzudringen vermochte, we- 
nigstens von den Künstlichkeiten sophistischer Dictatoren sich 
loszuringen! Aber auch die in Beda, Alcuin, Bhabanus u.a. an- 
genommene Erklärung, dafs Jesus blos von einem Zeichen oder 
Symbol gesprochen habe, wollte der das Bibelwort ohne Deutung 
festhaltende \Y. vermeiden. Er blieb dabei, dafs das Sacrament 
eine Eucharistie, ein Dank für die Selbstaufopferung Jesu 
war. Doch achtete er deswegen das Sacrament (th. 3. 6.) auch 
für eine hosüa consecrata. 



•) Der Verf. giebt hier S» 170—189 manche« Specielle , wa« zu Prof. 
Meier« beachtungnwerther Geach. der Trantaubttantiationelehre 
(Heilbronn 1832) nachgetragen werden kann. 

(Der Beschluß folgt.) 

» 



N°.68. HEIDELBERGER i837 

» 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Dr. de Ruever Gronemann: üiatribe m Jon. Wycliffi vi /am. 

(Iicachlufs.) 

Denn dafs Jesus den Entscblufs (Job. 10, 17.) vollendete, 
sein Leben daran zu setzen und aufzuopfern , um die Sündener- 
lassung, welche von Reue und Besserung abhangt, für viele mög- 
lich zu machen , ist unverkennbar. Diesen Entscblufs fafste sein 
heiliger Geist nach Uebr. 9, 14. aber nicht um Sünden abzubüs- 
sen, sondern um dieselbe zu verhüten und ihrer in der Weit 
weniger zu machen. Wicliflf war der den ersten Umständen an- 
gemessensten Deutung nahe, dafs Jesus, welcher das Denken an 
den ihm nächstbevorstehenden Aufrührerstod am Kreuze während 
der Gespräche möglichst zurückhielt, doch wegen des Brechens 
der Brode (wegen des exXaae) bei dem a^Toq, 6v xXio^tv (1 Hör. 
10, i5.) an das Schicksal seines Leibs, und wegen der Farbe des 
"Weins an sein Blut dachte, aber so, dafs er nichts metaphorisches 
geben wollte, sondern eine bei jedem Brocibrechen , bei jedem 
Weintrinken wiederkehrende Erinnerung an die durch die 
Kreuzigung erfolgende Wirklichkeit beabsichtigte. Denn 
dafs er als Judenkönig, d. i. als Kronprätendent gegen den Casar, 
angeklagt, gekreuzigt werden und dafs er als Gcki cuzi^lcr sein 
lilut vergiefsen würde, war entschieden vorauszuwissen , auch war 
das Zerbrechen der Füfsc zu erwarten, weil allen, die nicht frühe 
genug starben, am Abend, da in Judäa die- Leiber der Gehenkten 
nicht hangen bleiben sollten, die Knochen zerschmettert wurden. 

Für die Hauptsache, eine praktische Kirch eurjform in 
Bälde zu verwirklichen, war es, wie jedes Voi auseilcr , eine gute 
Zeitlang hinderlich, dafs W. mit seinen übrigen, die Sitten und 
Verfassung betreffenden, leichler eindringenden Yeibesse- 
rungs versuchen auch diesen mysteriös-dogmalischen zu ver- 
binden strebte. W'ilh. Courtenay, der schon als BischofF von 
London den Feind der Hierodespotic in W. erbtickte und ver- 
folgte, hatte kaum i3b*2 das Pallium des Primats von England 
erhalten, als er den 17. Mai eine Synode zusammenrief, gegen 
34 Theses (S. i85), welche alle Wycliffisch seyn sollten, auch 
später zu Constanz als solche verdammt wurden, zum Th eil aber 
XXX. Jahrg. 11. Heft. €8 



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1014 Dr. de Ruevcr Gronemann: 

(wie tbcs. VII. Deus de,bet obedire Diabolo, oder populäres pos- 
sunt ad eorum arbitrium dominos dclinquentes corrigere!) dem 
Reformator nie in den Sinn gekommen waren. 

Bedeutendere Behauptungen ausser den drei ersten , welche 
die scholastischen Meinungen*) über das Abendmahl .verneinten, 
waren: dafs während des damaligen Schisma der Päbste, (durch 
welches allerdings der Glaube an die Basis der päbstlicben Irre- 
fragabilität zerstört war, weil jetzt die Laien, welcher der irrefra- 
gable Vicarius Gottes und Christi sey , zu beurtheilen hatten!) 
jede Landeskirche, wie die griechische, sich selbst regieren soll- 
te, ferner: dafs die Messe nicht von Christus verordnet, das ä'us- 
serliche Sundenbekennen nicht nftthig sey, dafs nach der Schrift 
viri ecclesiastici nicht possessioncs temporales haben sollten , dafs 
willkührliche Excommunicationen null in sich seyen, dafs die Or- 
den , welche sich im besondern Sinn religio&i nennen , sich, viel- 
mehr von der allgemeinen Christusreligion entfernen, dafs sie 
vom Arbeiten leben sollten , dafs, sie gestiftet zu haben oder ih- 
nen Almosen zu geben, Sunde sey, dafs die Zehnten Almosen 
seyen, die man den untauglichen Curaten entziehen dur/e, daCs 
besondere Kirchenfiirbitten nicht mehr, als die allgemeine, helfen 
u. 8. W. 

Höchstens mochten die anstöfsigsten dieser Sätze unter den 
Lollarden, Geislcrn und andern Fanatikern, welche öffentlich pre- 
digten, Anhänger haben. Ihnen besonders war der Satz not b wen- 
dig , dafs Priester und Diaconen ohne päbstliche und bischöfliche 

• 

*) Diese drei Theace äugen: I. Substantio, pania materialia et vlni mi- 
net |M>at consccrationeni in sacramento altaria. [Chriatua sagte: 
Dica iat — nicht: dies wird, oder ist geworden und wird wer- 
den — mein Leib.] II. Accidentia [daa Sinnlich -erscheinende] non 
manent sine subjecto [ohne die wesentliche Grundlage der Substanz, 
kein (parvojuavov ist S dem voeu/x«vov !] III. Christus non est in sacra- 
niento altaris idemptice, vere et realiter in propria prnesentia corporali. 
[Iiier mufs wohl vor vere ein sed fehlen. Denn Wycliff glaubte (s.S. 
171 in der IVten der von ihm au Oxford 1381 bekannt gemachten 
12 Thesen): Euchariotia Aa&et, virtute verhorn m aacratuentaliura , 
tarn corpus quam aanguinem Christi vere atque realiter nd quem li- 
het ejus punctum. W. wollte, ohne alle Auslegung, bei Jean 
Worten: Dies iat ... bleiben. Er wollte nicht behaupten , daa 
Wie zu wissen. — Wir bemerken dies hauptsächlich deswegen, 
weil in mehreren wörtlich angeführten WyclifTischcn Stellen 
Schreibfehler zu sevn scheinen, die den Sinn stören. Wahr- 
scheinlich sind die Aflsse schwer zu lesen , so dafs von den Editoren 
doppelte AufnierhsamkcU zu erbitten iat. 



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» 



Diatribc in Joh. Wycliffi vitam. 1075 

> 

Auctorität predigen dürften. Das Schlimmte aber, was auch zu . 
Constanz bei K. Sigismund, leichtbegreiflicher Weise, gegen 
WyclifT und Hufs entschied, war, dafs nicht nur th. IV. Bischüffe 
und Priester vom gültigen Ertheilen der Sacramente ausschlofs, 
wenn sie in einer Todsünde befangen seyen, sondern auch 
th. VI aussprach : Nullus est Dominus civilis . . dum esl in peccato 
mortali. -Wo wäre nach dieser Strenge der Moral ein Reiner zu 
finden gewesen? Ohne Zweifel bedachte dies auch W., und sprach 
nur deswegen das Strengste aus, um zu reineren Sitten anzutrei- . 
ben. Aber » allzu scharf macht Scharten.« 

Man schritt in der sichern Bahn des kanonischen Processes 
gegen W. weiter. Ein Wink Ton Oben schien zwar dazwischen 
zu wirken. An dem Tage, wo die Londoner Synode (den 11. Mai) 
über diese Thesen aburtbeilen sollte, erschütterte ein furchtbares 
Erdbeben ganz England. Die Richter, in ihrer Gewissensangst, 
bezogen das Omen auf sich. Der Erzbischofif aber wufste das 
Augurium besser, und gerade gegen die Ketzereien umzudeu- 
ten, welche das Land tief erschüttern, aber vorübergehend seyn 
mühten. Um so weniger vergafs man »die Erdbeben-Synode. « 

Von nun an schwankte die Sache der nur von unten herauf 
strebenden Reform. Unter kirchenrechtlichen Formalitäten wur- 
den WyclifTs Anhänger einzeln vor die bestehenden Behörden 
.citirt, einige zu zweideutigen Erklärungen bewogen. Wycliff 
selbst wurde noch als Oxforder Lehrer von Universitätsbehorden; 
auch wegen der Unabhängigkeit ihrer Corporation, vertheidigt. 

Er wendete sich an das d. 19. Nov. i382 sich versammelnde , 
Parlament mit vier Punkten, welche also allein sicher als die 
Seinigen zu beachten sind. Seine weitläufiger dargestellten Rü- 
gen gegen die Mönche überhaupt, dann die Pflicht und das Recht 
der Regierungen, überflüssige und zweckwidrige Reichthümer 
von der Rircbe zurückzunehmen, auch das Recht der Gemein- 
den, den ungebesserten Klerikern Pfründen zu entziehen, fanden 
begreiflicher Weise, besonders im Unterhaus, Beifall. Aber sein 
vierter dogmatisch gelehrter Punkt gegen die scholastischen Of- 
fenbarungen, durch welche das von Jesus nicht offenbar gemachte 
Nachtraahlgeheimnils aufs künstlichste offenbar werden sollte, war 
für Viele zuviel. 

Die Menschen verharren gar leicht und behaglich im Anstau- 
nen des Mysteriösen und Wunderbaren, so, dafs sie da« träge 
Staunen für Gottandäcbtigkeit halten. Alsdann scheut man sich 
vor jedem Zweifel, so lange man durch unbedingte Ergebung in 



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101(> 



Dr. de Rucver Gronemann : 



das Glauben eines von den Autorisirten Torgehaltenen Lehrinhalts 
aufs bequemste selig zu werden glaubt. Dies gilt bekanntlich als 
ein argumentum a tuto, wenngleich, besser bedacht, das Zu- 
vielglauben ebenso seelengefahrlich erscheinen müfste, wie das 
Zuwcnigglauben. Der Nichttheologe hat ohnehin nicht Zeit, 
nicht Kraft und Mittel genug, durch all die Wendungen der dia- 
lettischen Controversien sich durchzuwinden, wenn er einmal, 
statt der Religiosität, die mysteriöse Theologie sich als Bedingung 
des Seligwerdens einreden läfst. Der Staatsmann besonders will 
Bülte und abermals nur Ruhe, auch weil alsdann die Abgaben 
flussig sind. Selbst dem Herzog von Lancaster schien jetzt Wycliflfs 
consequenter Reformgeist allzuweit ins Theoretische sich zu ver- 
lieren. In der That aber gehörte der Gegensatz gegen die Ver- 
wandlungslehre gar sehr in Wyclifls Plan gegen den Aberglauben. 
Der funetionirende Priescr erscheint der Menge wie ein Schöpfer 
Gottes, so lange seine Formeln etwas Anzubetendes zu schaffen, 
den ganzen Christus in die von ihm geweihte Hostie herabzuzie- 
hen vermögen. 

Erzbischoff Courtenay dagegen verstand seine Stellung so gut, 
wie einst Kaiphas. Der König bedurfte ZehnlverwiiJigungen. Die 
Universitätsbehörden wechselten und wurden bearbeitet. Bald 
Konnte er es wagen, zu Oxford selbst ein Concilium auftreten zu 
lassen. Wycliff blieb auf seiner apokalyptischen Ansicht, dafs seit 
dem Ende der ersten tausend Jahre der aus dem Abgrund losgewor- 
dene Satan durch die Scholastik der Magistri Sententiarum seine 
antibiblische Macht äussere. Er erklärte dagegen in einer latei- 
nisch und englisch verfafsten Confession : ponimus, venerabile sa- 
cramentura altaris naluralitcr esse panem et vinum, sed 
taliter corpus Christi et sanguinem. Quod oportet ita inteiligi, 
quod spirilualilcr sumimus carnem Christi. (Schwerlich aber wollte 
er hierdurch , wie S. 208 annimmt , Brod und Wein blos für 
symbola significantia erklären , da er vielmehr von dem Leib Christi 
einen dreifachen modus essendi in hoslia consecrata annahm, sci- 
licet virlualis, spiritualis, et sacramentalis ; was im Grunde auch 
Luthers Sinn wurde. 

Welch ein Unheil, dafs der edle Geist über solchen Wort- 
gefechten, weil sie doch als Fesseln des Aberglaubens gebraucht 
wurden, Zeit und Kraft verlieren mufste. Das Crassere behielt 
die Oberhand. Von jeher ist es Regel in der Mcnschengeschichte, 
dafs das Sinnliche zuerst, und alsdann das Phantastische sich vor- 
herrschend mache. Wycliff's Glaube blieb zwar fest: veritas 



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Diatribe in Job. Wycliffi »itaro. 1077 

ßnaliter ?incet (S. 210), auch da er seinen akademischen Lehr- 
stuhl aufgeben, auch da er von der Universität, deren Unabhän- 
gigkeit er gegen die Mendicanten (er nannte sie falsche Brüder!) 
lange vertbeidigt hat, sich verweisen lassen roufste. Aber die 
Zeit des zu hoffenden endlichen Siegs der Wahrheit, wie ferne 
bleibt sie? Wie unübersehbar lange dauert das Approximiren, 
weil mehr an Übung im Wahrheitsuchen als au den meisten Re- 
sultaten gelegen ist. 

Allerdings war nun Ga'hrung durch ganz England. Sie ent- 
stand aber nicht sowohl durch Wycliff, als überhaupt durch das 
Erwachen zum Selbstdenken und zum Gefühl der Menschenwür- 
de, wie es durch die schreiendsten Übertreibungen weltlicher 
und kirchlicher Gewalt endlich aus der langen Knechtschaft auf- 
geschreckt wurde und in W. selbst ebenso geweckt worden war. 
Die Lollar den, welche das Land durchzogen, schadeten dem 
Wesentlichen, weil sie, wie später die Wiedertäufer, mehr ein- 
reiben als erbauen wollten. Um sie authentischer kennen zu ler- 
nen, sind neuerdings die Writings and Examinations of Brüte, 
Thorpe , Cobham, Hitlon, Pccock, Bilnty and others , with the 
Lanlcrn of Light zu benutzen , welche die Religio us-tracts- Society 
aus alten Überresten herausgiebt. 

Auch ein Bauernaufstand von hundert Tausenden wälzte 
sich aus allen Provinzen gegen London. Sie wollten gegen Prie- 
ster und Barone nicht mehr Leibeigene, sondern Erbpächter seyn. 
Der jugendliche König versprach, was sie forderten. Sie ver- 
trauten, gingen auseinander, und das Parlament annullirte die 
Zusagen als erzwungene. Rymer. Vol. III. f. III. p. 124. 

Der Verf. zeigt , dafs weit andere Motive , als W 7 ycliffs Leh- 
re, auch diesen Schrei der unterjochten Thiermenschheit ausprefs- 
ten. Doch ist nie zu läugnen , dafs, wenn diese mißhandelten 
Naturmenschen zu merken anßngen , wie sie durch theologische 
Vormundschaft lange getäuscht worden Seyen , sie nun auch um 
so eher an andern für sie drückenden Behauptungen und Her- 
kö'mmlichheiten zu zweifeln sich erlaubten und mit wilder Natur- 
kraft dagegen ankämpften. Daran war W. offenbar nicht schuld, 
dafs der Bauerntumult allem Bestehenden mehr drohte, als den 
Beuelmünchen, den nächsten Verwandten ihrer Geistesrohheit. 
Unläugbar aber ermahnte überhaupt Wycliff (s. dessen Short 
Rule of Life) wie das Christenthum , Ephes. 6, 5— 9. Koloss. 3, 
22 — 25. 1 Timoth. 6, 1.2. immer so wahr, als klug, dafs jeder 
in seiner Stellung seine Tkätighoitspflichten erfüllen und nur 



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1078 Dr. de Rae* er Gronemann: 

"auf rechtliche Weise nach Verbesserung seines Zustand es 
streben solle. (S. 227. 270.) s. De Dominis et Servis, how echt 
Shull kepc hU degree. 

So als Volkslebrer auf die ganze Umgegend wirkend verlebte 
W. seine zwei letzten Lebensjahre, i383 und i384 in sei- 
ner Parochie Luterworth. Litt er gleich an der Gicht, den- 
noch predigte er häufig, schrieb für das Volk ihe poor LaUif 
(= »den armen Lumpen«), aber auch gegen die Orders of the 
Beggingfriars , De Hypocri tan/m iroposturis u. dgl. 

Besonders drängte \V. seine Hauptgedanken jetzt noch in 
seinen auch in Deutschland durch Abdrücke von i5a5 und 1753 
in 4. am meisten bekannten Trialogus zusammen, wo er in 4 Bü- 
chern die Jlhhia, als solidus Theologus, die Pseudis, als infide- 
lis et captiosus, und die Phronests , als Theologus subtilis et ma- 
turus, I. über Gott und Trinität , II. über die Welt und Mensch- 
heit, III. über Dogmen und Sittenlehren, IV. über Kirchenver- 
besserungen, Priester, Mönche und die sogenannten letzten Din- 
ge, Resultate seines Lebens besprechen lafst. Auch an einem 
Speculum du Antichristo, De Nequitiis Papae, de (Jenas posses* 
sionariis etc. liefs er es nicht fehlen. 

Nach Rom citirt entschuldigte er sich durch Alter und Krank- 
keit, schrieb aber an den in England angenommenen italienischen, 
jedoch auf jeden Fall schismatischen, P. Urban (wie Luther an 
Leo X.) einen vertraulichen Ermahnungsbrief, der schwerlich zu 
den Acten genommen wurde. Volksthümlich wurde seine Sache 
so sehr, dafs , wie Knyghton zum J. i382 bemerkt, man nicht 
leicht zwei Reisende sah , von denen nicht Einer Wycliflisch 
gewesen wäre. Storendere Verfolgungen sonderten erst spater 
die Spreu von dem kerngesunden Saauien. 

W-, den 29. Dec. i38j in der Messe vorn Schlage getrof- 
fen , lebte nur noch zwei Tage , ohne dafs er reden konnte. Tho- 
mas Arundel, Erzbischoff von Canterbury , hat den Ruhm, be- 
werkstelligt zu haben, dafs W. 3i Jahre später, den 4. Mai 141 5 
von dem Concil zu Constanz als Hetzer verdammt wurde. Drei- 
zehn Jahre nachher liefs, auf P. Martins V. Befehl, der Bischoff 
Richard Fleming zu Lincoln, die Gebeine des kirchlich Ver- 
dammten ausgraben und verbreunen. 

Anders hat die Zeit oder vielmehr die fortschreitende Men- 
schenbildung abgeurtheilt. Wyclitfs Geist" wirkte das ganze i5te 
Jahrhundert hindurch vornehmlich in Böhmen, weil Prag und 
Oxford, als Universitäten, viel miteinander im Verkehr standen, 



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Diatrilic in Juli. Wycliffi wlaui. 



101» 



auch die Politik beide Reiche in Verbindung brachte. Und eben 
dieser Geist, wenngleich der Name fremder geworden ist, wirkt 
fort in so vielen von W. angeregten Verbesserungsideen. Nur 
dafs dieses geistige Wirken sehr langsam — seit dem i4len bis 
ins igte Jahrhundert — die Ausbildung zu Stande bringe, wer 
kann dies läugnen ? Wenn unsre neuesten Speculations-Philoso- 
phien Recht hätten, dafs all unser Thun und Lassen nichts als 
.ein Bestreben sey des (obenangestellten) Absoluten selbst, sich 
durch all diese unzählbaren Subjectivitäteo , wie sie meinen, zur 
Selbsterkenntnis zu erheben; wer mufste sich nicht wundern, dafs 
das (doch wohl all vermögende ?) Absolute von Wyciiff an ois zu 
Luther, von Luther bis auf uns, in der religiösen Sclbsterkennt- 
nifs doch nicht groTsere Schritte gemacht, vielmehr gerade so 
viele Um- und Irrwege durchlaufen habe, als dies bei blofsen, 
nichtabsoluten , Menschenkindern naturlich vorauszusetzen wäre. 
Aber was kann auch in sich selbst widersprechender seyn, als die 
speculative Fiction, wie wenn ein Absolutes sich in unzählig vie- 
len Nichtabsoluten sich selbst gegenüberstelle , um dadurch als 
Objekt-Subjekt endlich einmal, oder nie? zu sich seihst zu 
kommen? So kühn Wyciiff in dem Scholasticismus den leidi- 
gen Satanas sah' und bekämpfte, so wenig doch bat er dieses 
Pseudos verbannen können. 

Der niederländische Verf. verdient vielen Dank, da er das 
würdige Andenken an Wyciiff, einen Reformationsgeist , wel- 
cher, nach seiner Zeit gewogen, weit mehr Genialität und Innig, 
keit als die meisten seiner Nachfolger hatte, mit umsichtigem, 
auf Quellen und Nebenumstände achtenden Fleifs und mit war- 
mer Liebe zur Sache erneuert hat. Eine Gesammtausgabe 
der Wycliffischen Reliquien hoffen wir von der für Denk, 
noalstiften vielthätigen und sich «selbst dadurch zur Nacbeiferung 
weckenden Zeit aus England, um so zuverlässiger, weil zugleich 
anerkannt wird, dafs Wycliffs Sprache in der Neubildung des 
Angelsächsischen, wie die Sprache Luthers für das Hochdeutsche, 
Epoche gemacht habe. Als Mann des Volks schrieb er in dem 
kräftigsten, einheimischen Ausdruck. Als begeistert durch Über- 
zeogungstreue sprach er vom Herzen zu Herzen. Tausende sei- 
ner Schriften liefs der Rlerus ins Feuer werfen. Nur desto hei. 
ler leuchteten sie den Empfänglichen und Hellsehenden! 

3. Sept. 1837. Dr. Paulus. 



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1080 



Lane: Account of thc manne™ 



An account of thc manners and Customs of thc modern Kgyptians written 
in I<£ypt durin g the yeart 1833, 34 and 35 partty from notes made 
during a former visit to thot country in the ycar» 1825 — 27 and 28 
by Edward William Lane. In two volumes. London, Charles 
Knight and Co. 22 Ludgatc-street. 1836. First vol. 402 p. 8. Sccond 
vol. 419 p Mit 107 Abbildungen. 

Da Europa in den letzten zehn Jahren so sehr von Reise- 
beschreibungen aus dem Oriente und namentlich aus Egypten über- 
schwemmt worden ist, dafs selbst die nach ähnlichen Werken am 
häufigsten haschenden Leser einige Abspannung fühlen müssen, 
und nach so vielen Täuschungen und Widersprüchen zuletzt an 
der Wahrheit ganz verzweifeln konnten, glaubt Ref. dem gelehr- 
ten Verf. des vorliegenden Buchs sowohl als dem nach Henntnifs 
des wahren jetzigen Zustandcs Egyptens sich sehnenden Publikum' 
es schuldig zu seyn , diese Reisebeschreibung vor so vielen an- 
dern, kaum eines einzigen Blickes würdigen Arbeiten, durch eine 
ausführliche Anzeige in diesen Blättern auszuzeichnen. Doch thun 
wir Herrn La.:e schon Unrecht, wenn wir sein Buch eine Reise- 
bcsdircibung nennen das ist es im eigentlichen Sinne des Wor- 
tes nicht. Wir erfahren nicht, auf welchem Schiffe er die Reise 
in den Orient gemacht, wen er bei seiner Ankunft in Egypten 
besucht, was er gegessen und getrunken hat, welches Pferd er 
geritten, wieviele Tage er auf dem Nile zugebracht, wie oft er 
krank war, nichts von ähnlichem Geschwätze, das die gewöhn- 
lichen Reisehcschrcibnngcn zur Hälfte ausfüllt. Statt von sich 
selbst zu sprechen, macht uns Herr Lane im ersten Bande seines 
Werks in dreizehn Kapiteln zuerst mit dem Lande selbst und des- 
sen lUiraa, mit der Hauptstadt, den Wohnungen und der Bevöl- 
kerung bekannt, dann mit der Kleidung' der Egypter, mit ihrer 
Erziehungsweise , mit ihrer RclTgion und ihren Gesetzen, mit der 
Regierung, mit dem houslicheu Leben des hohem, mittlem und 
gemeinen Standes, mit dem Leben der Frauen, mit ihren gesell- 
schaftlichen Gebräuchen, mit ihrer Sprache, Literatur und Wis- 
senschaft, mit ihrem Aberglauben, mit ihren Derwischen, dem 
Glauben an Genien und Heiligen, mit ihrer Magie, Atrologie und 
Alchimie und zuletzt mit ihrem Charakter. Herr Lane hat nicht 
Egypten wie gewohnliche Reisende, die nur das Land und mehr 
die übrig gebliebenen Antiquitäten, als die jetzt lebenden Men- 
schen, sehen wollen, im Fluge durchzogen; er hat, wie schon 
aus dem Titel hervorgeht , fünf Jahre in Egypten zugebracht und 
seine ganze Zeit dem Studium der arabischen Sprache und mehr 



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and Custodia of the modern Epyptinns. 1081 

"noch der Forschung nach dem Leben und Treiben der Egypter 
gewidmet. Herr Lane ist ferner nicht als englischer Lord mit 
hohen Empfehlungsschreiben an den Hof nach Alexandrien ge- 
kommen, er bat nicht Egypten in Begleitung eines li5njglichcn 
Drogmans und andrer Kreaturen Mchemed Alis durchreist, so 
dafs er alles nur mit fremden Augen gesehen hätte; er hat als 
Privatmann, von der Regierung ganz unabhängig, der arabischen 
Sprache kundig, als Muselmann unter dem Volke gelebt, ist mit 
allen Klassen der Bevölkerung in unmittelbaren Verkehr gekom- 
men, und war daher in der besten und freiesten Lage, um alle 
Zustände dieses Landes genau zu beobachten, und verdient daher 
auch das vollkommenste Vertrauen. Ref., der ebenso viele Jahre, 
als Herr Lane, in Egypten zugebracht hat, schämt sich nicht, 
zu gestehen , dafs selbst er, weil er entweder nicht die Beob- 
achtungsgabe des Herrn Lane besitzt, oder weil er, zu sehr mit 
dem Studium der orientalischen Literatur beschäftigt, zu wenig 
Zeit hatte, das moderne Egypten so ganz kennen zu lernen, gar 
Manches in Herrn Lane's Werk gelesen hat, was ihm im Lande 
selbst verborgen geblieben. Nach dieser Erklärung über den 
"Werth des vorliegenden Werks wird man wohl nicht ungern 
einige Auszuge aus demselben lesen, und wir fuhren deshalb ei- 
nige Stellen an, welche beweisen, wie hoch Herr Lane über ge- 
wöhnlichen Reisenden steht. 

In dem Kapitel über die egyptischen Kinder liest man: »Im 
.Allgemeinen sind die Kinder in Egypten v obschon ein Gegenstand 
der höchsten Sorgfalt , doch sehr unreinlich und armselig geklei- 
det. Der Fremde in Egypten \fendet sich mit Abscheu von ei- 
nem solchen Anblick weg, und ohne nach weitern Gründen zu 
forschen, verdammt er sogleich das moderne Egypten als ein 
höchst schmutziges Land; es ist indessen sehr oft der Fall , dafs 
gerade die geliebtesten und verzärteltsen Kinder die schmutzig, 
sten und erbärmlichst gekleideten sind. Man sieht nicht sel- 
ten in Kaliira eine Dame in ihrem weiten schleppenden Gewände 
aus den kostbarsten Seidenstoflen stolz einherziehen, die ganze 
Strafse mit Moschusduft füllend, die Augen zierlich mit Kohl be- 
kränzt, die Fingerspitzen frisch mit Henna bemalt, und neben 
ihr einen Knaben oder ein Mädchen, ihr eignes Kind, mit einem 
liothbeschmutzten Gesichte, mit schlechten Kleidern, denen man 
ansieht ^ dafs sie wenigstens in einem Monate nicht gewaschen 
worden. Nichts setzte mich in so grofses Erstaunen , als dieser 
grelle Widerspruch. Ich fragte oalürlich nach der Ursache die- 



1082 



Laue: Account of the wann er« 



ses so befremdenden Contrastes, und vernahm, dafs die zärtlichen 
Mutter das Äussere ihrer Kinder gerne so vernachlässigen, und 
sie absichtlieh ungewaschen und in schmutzigen Kleidern ausgehen 
lassen, weil sie das böse Äuge furchten, dem Kinder, als der 
höchste Segen und beneidenswerteste Gegenstand auf Erden, 
am meisten ausgesetzt sind.« 

Folgende Geschichte in dem Abschnitte über die jetzige Re- 
gierungsweise in Egypten kann am besten die Schmeicheleien wi- 
derlegen, mit denen erst neulich wieder ein vornehmer Reisender 
Mehemed Ali überschüttete. » Der Präfekt der Stadt Tanta im 
Delta, ein grausamer Türke, besuchte eines Abends die Frucht- 
magazine des Pascha uncj fand zwei schlafende Bauern ; er fragte 
sie wer sie seyen und was sie hier thäten. Der Eine antwortete, 
er habe aus einem Dorfe, das zu Tanta gehölt, i3o Ardeb Frucht 
gebracht; der Andere sagte, er habe 60 Ardeb von einem Felde, 
das in der Nähe der Stadt liegt, geliefert. Der Präfekt sagte 
Letzterm : Du Tropf! jener Mann bringt von einem kleinen Dorfe 
i3o Ardeb, und du von den Gütern der Stadt selbst nur 60 Ar- 
deb?. »Dieser Mann, antwortete der Bauer von Tanta , bringt 
nur einmal die Woche Fiucht, ich aber jeden Tag.« Schweig! 
. sagte der Präfekt, und auf einen Baum in der Nähe hindeutend, 
befahl er einem seiner Diener, den Bauer daran zu hängen. Am 
folgenden Morgen, als er wieder nach den Magazinen ging, sab 
er einen Mann eine Menge Frucht bringen. Er fragte ihn, wer 
er sey und wieviel Frucht er bringe? Der Henker der vergan- 
genen Nacht antwortete: Es ist der Mann, mein Herr, den ich 
gestern Abend auf Euern Befehl gehängt habe , und nun bringt 
er 160 Ardeb. Wie, rief der Präfekt aus, ist er von den Tod- 
ten auferstanden! Nein, antwortete der Henker, ich habe ihn 
so gebangt, dafs seine Füfse die Erde berührten, und als Iiir weg. 
gegangen wäret, machte ich den Strick wieder los; Ihr habt mir 
nicht befohlen , ihn sterben zu lassen. Der Türke murrte : Aha, 
hängen und umbringen sind zweierlei; die arabische Sprache ist 
sehr reich, ein andermal will ich sagen: bring um! 

Verdient ein Regent, der eine solche Justiz duldet oder gar 
einführt, wohl den Weihrauch, in dem ihn die von ihm beschenk- 
ten oder mit Auszeichnung aufgenommenen Europäer fast er- 
sticken ? 

\Vir citiren noch zum Schlüsse den Anfang des Abschnitts 
über den in Ägypten herrschenden Aberglauben, weil man dar- 
aus am besten sieht, mit welcher ängstlichen Gewissenhaftigkeit 



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and castoms of thc modern Efryptiane. 1083 

Herr Lane jede Kleinigkeit beobachtete und immer nach den 
Gründen forschte, zugleich aber auch welchen Werth dieses Buch 
für Gelehrte bat, die darin einen vortrefflichen Commentar über 
oft unerklärliche Stellen 'orientalischer Schriftsteller finden. 

»Die Araber überhaupt, besonders aber die Egypter, sind 
sehr abergläubisch ; mancher Aberglaube bildet bei ihnen einen 
Theil ihrer Religion, indem er vom Koran sanetionirt wird. Da- 
hin gehört besonders der Glaube an Genien (Djinn). Die Musel- 
männer geben den Djinn ein voradamisches Daseyn und betrach- 
ten sie als Mittelwesen zwischen Menschen und Engeln, aas Feuer 
geschaffen , und glauben , sie k5nnen sich unsichtbar machen oder 
nach Belieben die Gestalt der Menschen, Tbiere und Ungeheuer 
annehmen. Sie essen und trinken , begatten sich wie und oft mit 
Menschen, sind sterblich, leben aber gewohnlich mehrere Jahr- 
hunderte durch. Ihr Hauptsitz ist in der Gebirgskette Haf, 
welche nach den arabischen Geographen die ganze Erde umgeben 
soll. Unter den Djinn gibt es auch Bekenner des Islam und Un- 
gläubige. Beide werden von den Arabern sehr gefurchtet, aber 
Erstere mehr verehrt. Wenn ein Araber Wasser auf den Boden 
giefst, so sagt er gewöhnlich : destur, das heifst: um Verzeihung, 
oder mit Erlaubnis des Djinn, der zufällig hier seyn möchte; 
denn die Djinn durchstreifen sowohl die Erde als das Firmament. 
Man glaubt auch sie bewohnen Flusse, zerfallene Häuser, Brun- 
nen, Badehäuser, Backöfen, und sogar Latrinen; darum, wenn 
man einen Eimer in den Brunnen taucht oder wenn man Feuer 
anzündet, man immer destur ruft. So ist die Stelle in der 1001 
Nacht zu verstehen, wo ein Kaufmann von einem Djinn angeklagt 
"wird, er habe seinen Sohn mit einem Dattelkern umgebracht, 
den er auf die Seite geworfen. In derselben Geschichte erscheint 
ein Djinn in einem Wirbelwinde von Sand und Staub ; die egyp- 
tischen Araber glauben nämlich allgemein, dafs der Wirbelwind, 
der den Sand oder Staub wie eine ungeheure Säule erbebt und 
0 den man so oft durch die Wüste ziehen sieht, durch die Flucht 
eines Djinn verursacht wird, oder mit andern Worten, dafs ein 
Djinn auf dem Wirbelwinde fährt. Auch haben die Egypter eine 
eigne Zauberformel , um den sich ihnen, nahenden Wirbelwind 
abzuwenden. Manche rufen aus: »Eisen, du Unseliger!« weil 
man glaubt, die Djinn fürchten nichts mehr als dieses Metall. 
Andere suchen diese' Ungeheuer durch den Ausruf: -»Gott ist sehr 
grofs! (Allahu akbar) zu vertreiben. Was wir einen fallenden 
Stern nennen, ist nach der Meinung der Araber ein Pfeil, den 



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1084 Ciceronli Tuseull. ed. Klotz. 

Gott noch einem schlimmen Djinn schleudert , und sie rufen dabei 
aus: »Gott durchbohre den Feind des Glaubens!« Die bösen 
Djinn heifsen gewöhnlich Afrit, und kein Muselmann darf an 
dem Daseyn dieser Wesen zweifeln , weil es im 37. Kap. Vers 9 
des Korans heifst : »und ein Afrit unter den Djinn antwortete,« 
welches bedeutet: einer der bösen Genien u. s. w. 

Der zweite Band dieses Werhs ist nicht minder anziehend 
als der erste; der Verf. beschreibt in i5 Kapiteln die egyptische 
Industrie, den Gebrauch von Kaffee, Tabak, Hanfsaamen und 
Opium u. s. w. , die Spiele, die Musik, die öffentlichen Tanze, 
die ShlangenbeschwÖrer und andere Gaukler, die öffentlichen 
Mährchenerzähler, die öffentlichen und Privat feste , und zuletzt 
die bei dem Tode und bei der Beerdigung üblichen Ceremonien. 
Es folgt dann noch ein Supplement über die Kopten und Juden 
in Egypten und über die letzten Neuerungen. Den Schlufs des 
Werks bildet ein Appendix über den Schmuck der Frauenzim- 
mer, über das egyptische Maafs, Gewicht und Geld, über die 
Ausgaben einer Haushaltung in Kahira , das Gebet eines musel- 
männischen Schulknaben, und zuletzt ein Index oder G/ossariom 
aller im Werke vorkommenden arabischen Worter. Gerne hätten 
wir, wenn es der Baum gestattete, auch aus dem zweiten Bande 
einige Stellen angeführt, doch glauben wir, dafs die wenigen CU 
. tationen schon genügen werden , um zu zeigen , dafs dieses Werk 
ebenso hoch über gewöhnlichen Beisebeschreibungen steht, als der 
Verf. durch seine Vorkenntnisse, durch die Länge seines Aufent- 
halts und durch seine ganz freie Stellung in Egypten über dem 
alltäglichen Schwärm der nach dem Oriente strömenden Europäer. 

Dr. G. VVe iL 



Af. Tulli Ciccronis Disput ationes Tusculanac. — Kritisch be- 
richtiget und erläutert von Hein hold Klotz. — Leipzig , hei E. B. 
Schuickert. 1835. XX und 635 Seiten. 

Af. Tulli Ciceronis Disputationes Tusculanac. Ex emendatione 
Reinholdi Klotz. Accedit index dominum. — Lipsiac, sumptum 

• fecit E. B. Schwickert. 1835. XU u. 196 S. 

Mit Freuden begrüfster der unterzeichnete Bef. vor sechs 
Jahren in der Allg. Schulzeitung die Erstlingsfruchte der Cicero- 
nischen Studien des Herrn Kl., die Quaestiones Tullianae L. f., 
welche i83o in demselben Verlage erschienen. Er erwartete für 
die Zukunft tüchtige, ja ausgezeichnete, Leistungen von ihm auf 



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Ciceroni» TubcuII. cd. Klotz. 



diesem Gebiete, da sich schon in der ersten Schrift des Yerfs. 
grundliche Kenntnifs des Ciceronischen Sprachgebrauches mit sel- 
tenem kritischem Scharfsinne auf das Erfreulichste vereinigten. 
Und diese Erwartung ist auf eine Weise in Erfüllung gegangen, 
wie nur selten auch noch so gerechte Erwartungen befriedigt 
werden. Herr Klotz hat seitdem nicht nur noch eine Schrift : 
Emendationes Tullianae (Lps. Baumgärtner, i833.) mit mehrern 
gediegenen Bemerkungen und Verbesserungen, mehrere gehalt- 
reiche Recensionen in den von ihm mitredigirten neuen Jahrbü- 
chern für Philologie und Pädagogik , geschrieben, nicht nur i83i 
den Cato major (Lpz. b. Schwickert) , i833 den Laelius (Lpz. b. 
Daumgärtner) mit vortrefflichen kritischen Bemerkungen heraus- 
gegeben , sondern auch eine grofse Ausgabe der Reden des Cicero 
begonnen, und sogar eine kritische Ausgabe aller Werke des Ci- 
cero versprochen , zu der er , nach dem , was er bereits in sei- 
nen bisherigen Schriften merken läfst, zu schliefen, schon be- 
deutende Vorarbeiten gemacht haben mufs. Hier aber haben wir 
eine gedoppelte Ausgabe eines der wichtigsten Werke Cicero's 
vor uns, welche allein geeignet wäre, ihrem Herausgeber einen 
der ersten Plätze unter den Kritikern des Cicero zu sichern , wenn 
er auch in diesen sechs Jahren weiter Nichts, als diese einzige 
Leistung, aufgewiesen hätte. Und hat auch der Verleger den 
Mund etwas voll genommen, indem er in der Ankündigung sagt: 
»die Anmerkungen des Herausgebers hellen unzählige Stellen 
dieser Schrift zuerst auf«; so ist doch der folgende Satz in sei- 
ner ganzen Ausdehnung wahr: »dafs diese Anmerkungen im All- 
gemeinen die herrlichste Ausbeute für das Studium der lateini- 
schen Sprache in grammatischer und lexikalischer Hinsicht bieten, 
und schon dadurch das Werk jedem Philologen [der sich nemlich 
für diese Seite der Philologie interessirt,] unentbehrlich machen 
werden. « 

Lange Zeit lagen Cicero's Tusculanen eigentlich vernachläs- 
sigt. Von Davisius und Bentlei an, deren Leistungen Er. 
nesti beinahe ignorirte, bis auf F. A. Wolf war wenig Bedeu- 
tendes geschehen, wenn man nicht etwa die Anmerkungen Bou- 
hiers bei der Ol i vet'schcn besondern Ausgabe hierher rechnen 
will* Reiske gab nur wenige und lakonische Bemerkungen: 
Wolf, bei seiner dreimal erschienenen Ausgabe, gar keine. Was 
J. G. E. Neide in seinem 1798 mit Wolfs Text herausgegebe- 
nen Commentar leistete , konnte unserer Zeit in exegetischer Hin- 
sicht ebenso wenig als io kritischer und grammatischer, fernerhin 



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I 



108f» Ciccroni« Tuscuil. od. Klotz. 

genügen. Die beiden letztgenannten Seiten hatte der Heraus- 
geber (Neide) absichtlich, wie er sagt, karg ausgestattet, und 
er that, aus den wenigen Anmerkungen dieser Art und ihrer Be-- 
schaffenheit zu schlicfsen, wohl daran. Als dem Verleger dieser 
Ausgabe (Frommann in Jena) eine neue Auflage nothig schien, 
wandte er sich an den rechten Mann, R. Huhner, welcher so-' 
gleich, mit richtigem Takte, so ziemlich den ganzen Neide über 
Bord warf , und in neuester Zeit sein , schon früher sehr gelun- 
genes, Werk in einer zweiten Auflage bedeutend verbessert und 
vermehrt erscheinen liefs. Über beide Ausgaben hat sich Ref. 
öffentlich ausgesprochen, und zwar mit der Anerkennung, die 
solchem Streben und solcher Leistung gebührte. Auch Hr. Bil- 
lerbeck hatte, noch vor der Kühner'schen Ausgabe, in seiner 
Art Verdienstliches geleistet. Was wir aber kaum zu hoffen ge- 
wagt hatten, geschah um dieselbe Zeit. Wir erhielten in einer 
von Herrn Orelli veranstalteten Specia'.ausgabe F. A. Wolfs 
köstliche Vorlesungen über die Tusculanen , mit vielen neuen Be- 
merkungen von Orelli, und somit konnte man die Freunde des 
Werkes für lange Zeit befriedigt glauben. Zwar gebrach es im- 
mer noch an einer umfassenden Ausgabe, welche, mit Benutzung 
alles bisher Geleisteten , und mit Vereinigung älterer und neuer 
Hulfsmittel, die Kritik und die Interpretation verbände, und als 
Grundlage für künftige Leistungen , das Ermittelte und gegen- 
wärtig zu Ermittelnde in sich vereinigte. Diesem Bedurfnisse 
suchte jedoch der Vf. dieser Anzeige in seiner vor Kurzem in 
Hannover bei Hahn erschienenen, in drei Bänden nun beendig- 
ten Ausgabe abzuhelfen. Nun tritt aber Herr Klotz auf, und 
giebt durch seine Ausgabe einen faktischen Beweis, dafs, trotz 
dem Geleisteten, doch noch Manches zu leisten übrig war. Herr 
Klotz konnte bei seiner Arbeit weder die des Referenten, noch 
Referent, was ihm sehr leid thut, die des Herrn Klotz be- 
nutzen. Er freute sich aber, mit ihm in recht vielen Stel- 
len und vielen Ansichten einzelner Punkte zusammenzutreffen, 
und hat am Schlüsse seiner Ausgabe wenigstens eine kleine Ver- 
gleichung mit der des Herrn Kl. angestellt, und die wichtigsten 
Abweichungen in gedrängter Darstellung ausgehoben. Hier aber 
will er gleich von Anfang seiner Beurtheilung die Erklärung nie- 
derlegen , dafs er dem Werke reichen Genufs und vielfache Be- 
lehrung ver danke, wenn auch in manchen Einzelnheiten seine An- 
sicht von der des neuesten Herausgebers abweicht: wie dies bei 
einem Gegenstande der Art, und bei einem so umfangreichen 



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Ciccronis Tuftcull. ed. Klotz. 1087 

• 

Werlte, wohl kaum anders möglich ist. Pflegt doch immer bei 
einem redlichen Forschen ein Tag den andern zu lehren. Und 
so hat denn, so wie Ref. an seiner Ausgabe schon Einiges, ja 
Manches, geändert wünschte, auch Herr Kl. in der Meinem, zu- 
gleich mit der grofsern erschienenen, Ausgabe bereits eine Anzahl 
von Stellen ausgehoben, an denen er nicht mehr ganz seiner frü- 
her ausgesprochenen Ansicht ist. Ehe Ref. aber an die Stellen 
Uommt, über die er sich mit Hrn. Kl. zu verständigen wünschte, 
will er das Nöthige aus den beiden Vorreden besprechen, um 
nicht einen andern Maafsstab an das Werk des Verfs. zu legen, 
als er selbst daran gelegt wissen will: ein Verfahren, das sich 
vor Kurzem derjenige Ref. erlaubt hat, welcher in einer sehr 
eiligen Anzeige des ersten Bandes der vom Unterzeichneten her- 
ausgegebenen Tuseulanen sich ein in der Art absprechendes Ur- 
theil erlaubt hat, als ob seine Maxime, wie das Kantische Mo- 
ralprincip lautet, die Maxime des Handelns aller vernunftigen 
Wesen seyn müfste. 

Der Herausgeber verkennt nichts weniger als die Leistungen 
früherer Bearbeiter und seiner Vorgänger, aber er spricht auch 
sogleich von vorne herein die Überzeugung aus, dafs ihm seine 
Vorgänger noch Vieles zu leisten, noch viele bedeutende Stellen 
zu verbessern und zum erstenmale richtig zu erklären übrig ge- 
lassen haben. Er hielt sich deswegen nicht nur für berechtigt, 
sondern sondern sogar für verpflichtet, »das Verfehlte, Ver- 
kehrte, Leichtsinnige der Kritiker mit Strenge zu tadeln und zu- 
rückzuweisen«, und hält sogar dafür, »dafs der gewöhnlich für 
die Wissenschaft selbst nicht viel leiste, der nicht zuweilen auf- 
wallt.« Wir glauben mit dem Verf., dafs ein Mensch, der sich 
nicht gegen das Unwahre und sittlich Verkehrte mit Wärrae er- 
klären kann, auch für das W 7 ahrc und Gute kalt ist: halten aber 
doch dafür, dafs man in jener Wärme nur gar zu leicht zu weit 
gehen könne : wie denn der Herausg. selbst S. 38 der grofsern 
Ausgabe bemerkt, seine Bemerkung gegen Hand (zum Lälius 
p. 190 fg.) hätte glimpflicher ausfallen sollen. Doch im Ganzen 
ist der Ton, obgleich zuweilen etwas scharf und spitzig, nicht 
inhuman zu nennen, zuweilen auch, wo Herr Kl. etwas stark 
spricht , schont er den Gegner dadurch , dafs er dessen Namen 
nicht nennt. Aufgefallen ist uns aber die Drohung S. 265, wo 
er am Schlüsse einer längern Anmerkung erklärt, er werde den 
» noch etwas derber zurückweisen«, der ferner noch einen Zwei- 
fel g«6en die Richtigkeit der von ihm gewählten Lesart hegen 



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1088 Ciccronis Tuscall. cd. Klots. 

sollte. Der übrige Theil der Vorrede der grofsern Ausgabe ent- 
hält Berichtigungen und Zusätze, die der Herausg. nach dem 
Abdrucke des Buches machte: noch andere Bemerkungen, -wie es 
scheint noch später geschrieben, giebt die lateinisch geschriebene 
Vorrede der kleinen Ausgabe, die ausser dem Texte, der an man* 
chcn Stellen von dem der grofsern abweicht , und von dem Ge- 
lehrten neben der grofsern Ausgabe nicht entbehrt werden kann, 
auch noch die von Wolf zuerst wieder abgedruckte EpUlola 
Erasmi Rolerod. ad Jo. Vlatlenum (wie die grofsere) und das 
Verzeichnifs der Eigennamen der grofsern enthält. Warum in 
dieser für die Schüler bestimmten Ausgabe Titelblatt und Vor- 
rede lateinisch , das Register aber deutsch ist , wollen wir eben 
so wenig fragen, als warum der Herausg. seine trefflichen Lie- 
merkungen der grofsern Ausgabe deutsch geschrieben , und nicht 
durch den Gebrauch der lateinischen Sprache zum Gemeingut 
auch für die Gelehrten des Auslandes gemacht hat.. Lieber wen- 
den wir uns an das Buch selbst, und besprechen zuerst eine An- 
zahl derjenigen Stellen, die der Herausg., als von ihm zuerst 
richtig hergestellt oder erklärt, in der Vorrede besonders heraus- 
hebt, sodann einige von denen, welche die Vorreden gleichsam 
als dt fotpai (pQovxL3tq besprechen, endlich eine Reihe von Stel- 
len des ersten Buches, die wir uns bei dem so genufs vollen und 
lehrreichen Studium des Ganzen angestrichen haben. W T ollen wir 
nun zwar hiemit nicht erklären, dafs wir mit Allem, was wir 
nicht berühren, vollkommen bis ins Einzelnste einverstanden sind, 
so soll doch andererseits auch gegen das hier Besprochene nicht 
ein absoluter Tadel ^ sondern nur eine abweichende Ansicht aus- 
gesprochen , dagegen vielmehr unsere Volleste Überzeugung dar- 
gelegt seyn, dafs diese Bücher dem Herausgeber mehr, als den 
berühmtesten seiner Vorgänger 4 einzeln betrachtet, verdanken. 

I. 24, 59: Quid est enim illud, quo meminimus? aut quam ha~ 
bei vim? aut unde naturam? Wir haben aut unde [natom] ? 
gegeben, doch in der Note aut naturam für möglicher Weise 
richtig gehalten: sind aber durch Herrn Kl. überzeugt worden, 
dafs die Lesart der meisten und besten Handschriften sich recht 
gut erklären läfst; ebenso I. 25. 62. qui animus vldii, wo wir 
ohne Noth animus einklammerten. — 

( Der Beschtu/s folgt) 



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N°. 69. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Ciceronis TuscidL ed. Klotz. 

( Bcachluft.) 

L «9» 71 i et tum pene (warum nicht paene?) in manu jam 
morliferum illud ienens poculum. Auch hier wird die Lesart des 
Cod. Reg. tum — tenens (für quum — teneret) gut vertheidigt, 
aber falschlich (oder durch einen Druckfehler) angegeben , die 
andern Ausgaben haben in man um. *) — Bei I. 3i. 27. quo* 
equidem non despicio, sed nescio quo modo doclissumus quisque con- 
temnit. Dieses von den meisten Neuern weggeworfene, vom 
Ref. jedoch blos eingeklammerte, corttemnit wird mit Recht in 
Schutz genommen; aber billigen können wir die Übersetzung oder 
Erklärung von quos equidem non despicio durch: ich überhebe 
mich ihrer nicht, nimmermehr: sie ist weder deutsch, noch 
drückt sie den Sinn aus, den übrigens der Verf. durchaus nicht 
mißversteht. — - [. 33. 80: ut ego me tardio rem esse non mo- 
leste feram: Wenn Hr. Kl. hier die Ubersetzer beklagt, welche 
tardiorem von langsamem Blutumlaufe verstanden haben , so wis- 
sen wir wenigstens, wenn sich dies freilich die neuesten (Kern 
und Eckermann) entschlüpfen liefsen, zwei ältere deutsche, 
die es richtig auftafsten. Diez übersetzte (1 780) : weshalb ich 
auf meinen langsamem Kopf nicht eben bose seyn 
mochte: und Büchling (1799): ich bin es zufrieden, 
weniger talentvoll zu seyn. Auch Olivet hat schon langst 
(vor 100 Jahren) übersetzt: c'est ce qui me console de la medio- 
crite de mon genie. Ebd. quas is 9 contra quem haec die an- 
tur 9 semotas a menie et disclusas putat. Conjunctive, wie der hier 
stehende, hat Herr Kl. in ziemlicher Menge aus dem Cod. Reg. 
wiederhergestellt, und wiederholt eingeschärft, die Römer haben 
die Neigung gehabt, alles von einander in solchen Sätzen abhan- 

*) Im Ganzen Ut die Cnrrectheit des Drucke« «ehr zu loben , weniger 
das Papier, das ziemlich grau ist. Es sind uns übrigens einige 
Druckfehler in die Augen gefallen: *. B. 8. 42 b. philophi, S. 45 b. 
Erncti, S. 85 a. Teo* (f. Tro«), S. 150 a. lin. 2 soll es wohl vide- 
bitur, statt videtur, keifsen. S. 209 a. scheint zu den Worten: „so- 
dann la«8en einige Handschriften" u. s. w. das Wort weg ausge- 
fallen zu seyn. 

XXX. Jahrg. 11. Heft. W> 



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Ciceronil Tuieull. ed. Klotz. 



gig zu machen , sollte selbst die rein logische Darst ell eng nach 

unserer Ansicht .darunter leiden. Wir wollen dies im Allgemei- 
nen durchaus nicht bestreiten , wiewobt wir auf sehr ahnliche 
Stellen gestofsen sind , wo der Herausg. , demselben Codex zu 
Liebe, den Indicativ giebt oder hergestellt hat. An vorliegender 
Stelle hat der Ref. mit mehrern alten, und allen neuern Ausga- 
ben, von Ernesti an, den Indicativ vorgezogen, und zwar nicht 
blos auf die, von Hrn. Hl. mit Recht verachtete, Autorität eines 
Oxforder Codex, sondern auf die dreier neu verglichenen, von 
denen der erste (unser Gud. 1.) an Alter und Werth dem Regtos 
Nichts nachgiebt, der zweite (Marburg.), bei aller Fehlerhaftig- 
keit im Einzelnen, ungeachtet der Schreiber desselben sehr stu- 
pid gewesen seyn mufs, an sehr wichtigen Stellen zeigt, dafs er 
eine höchst achtbare Quelle hatte, auf jeder* Fall hei ihm an ein 
absichtliches Ändern gar nicht zu denken ist, der drille (Mon. 1.) 
wenigstens mitzahlt. Vgl. unsern rndex Apparatus Critici p. XIV* 
— XVII. *) — Bei I. 34. 82: et falsa m esse aröüror, wo Boa- 
hiers at von Ernesti, F. A. Wolf, Schxitz und Orelli 
aufgenommen wurde, freuen wir uns mit Hrn. Hl. (was übrigens 
sehr oft geschehen ist) in der Ansicht von der Bedeutung des et, 
und der notwendigen Beibehaltung desselben, zusammen zu tref- 
fen. — I. 35. 85. In diesem §. sind zwei streitige Stellen. Erst- 
lich: Metellus ille honoratus quattuor filiis,* at quinquaginla Pria- 
mus, e quibus seplendecim justa uxore natis. Ref. hat mit ßou- 
hier, Ernesti, F. A. Wolf, Schutz, Nobbe und Orelli 
honoralis und nali (das letztere mit noch mehrern) gegeben. Hr. 
KI. vertheidigt das honoralus der meisten Handschriften mit der 
bekannten Wahrheit, dafs es einem Vater zur Ehre gereicht habe, 
mehrere Sühne zu haben; ferner damit, dafs die den Söhnen des 
Metellus widerfahrne Ehre sonst zu sehr herausgehoben wurde, 
weniger die des Vaters; dafs die fünfzig Söhne des Priamus doch 
nicht auch honorati genannt werden Itonnen , es dagegen dem 
Priamus zur besondern Ehre gereicht habe, fünfzig Söhne zu 
haben, von denen sich viele rühmlichst hervorthaten : natis aber, 
sagt er, müsse man aus dem Cod. Reg., der auch honoralus habe, 

•) Übrigen» scheint die hier und zu Cnp. 20. von Hrn. K t. angeführte 
Stelle des Horatiu* (Sat. I. 1. 86.) nicht hierher zu passen, nicht 
nur weil ein Dichter bei erlaubten Abweichungen diese dem Vcrs- 
maafee zu Liebe sich gestattet, sondern weil dort quem non merearit 
für cum tu cum non merearis steht Dar* der ConjunctiV in Rück- 
sicht auf das obigq ignorantis vorzuziehen sey , glauben wir nicht. 



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Cicerönii Toacull. cd. Klotz. 1091 

lesen, und es eben als von diesem honoratus abhangend betrach- 
ten, das auf den Metellus und den Priamus gehe. Wir antwor- 
ten: a) Es ist gar nicht nachzuweisen, dafs man je gesagt 1iabe 
honorari filiis in dem Sinne, dafs ein Vater Ehre von der Erzeu- 
gung von Söhnen habe; b) Es wäre gar nichts Besonderes gewe- 
sen, dafs Metellus vier Sobne hatte. Vier Sühne mochten wohl 
zu jeder Zeit viele Romer haben, c) Oer Zusammenbang ist: 
»Für wie Viele wäre nicht ein früherer Tod wünschenswerte 
gewesen , weil sie dann im Glücke gestorben wären . wahrend sie 
durch ein längeres Leben nur zu recht vielem Unglück aufgespart 
wurden. Gieng es ja doch mir selbst so. [S. das Ende des 34. 
Cap.] Mancher gelangt freilich ohne Unglücksfalle ins höhere 
Alter: aber je mehr verwundbare Seiten der Mensch dem Schick- 
sale darbietet (z. B. wenn er viele Famiilienglieder hat,) desto 
leichter kann sein Glück in Unglück umschlagen. So wohl wird 
es nicht Jedem, so glücklich stirbt nicht Jeder, wie Metellus. 
Er hatte vier Sohne [wie so Mancher : wiewohl das schon für ein 
Glück gelten mag], aber er starb erst, nachdem er alle viere 
bedeutende Staatsämter hatte bekleiden sehen. An Priamus aber, 
dem hochbeglückten Vater von fünfzig Söhnen , liefs das Schick* 
sal seine Gewalt recht sehen. Welches Glück wäre es nicht für 
ihn gewesen , in seinem Glänze and während der Blüte seiner 
Familie zu sterben ! Aber so mufste er ei st alles in Trümmer 
gehen sehen , und dann erst noch selbst jammervoll enden. « Also 
lesen und erklären wir: [EtJ Metellus [quidem] ille [mortuus est 
beetus,] honoretis guatuor filiis: at c/uinquaginta [habuit] Pria- 
mus, e quibus septendecim justa uxore nati [cranl]. d) ist aber 
von Autoritäten die Rede, so spricht für honoratis unser treff- 
licher, dem Reg. Vergleichbarel* , Gud. 1 , nebst noch zwei an- 
dern. Was nun nati betrifft, so konnte es wohl in nalis leicht 
verändert werden, wenn man einmal honoratus hatte. Aber nati 
hat erstlich nach unserer obigen Erklärung nichts Anstofsiges: 
zweitens hat es sehr gewichtige Autoritäten an dem Cod. Bern, 
(s. a. a. O. p. XV.) und Marb., dessen Schreiber gewifs nichts 
absichtlich änderte. Sollte aber Jemand unsere Gründe gegen 
honoratus billigen, Und honoratis dennoch mifsbiliigerty der 
konnte das leicht damit zu verwechselnde Wort ornatu* vorschla- 
fen , und dazu vergleichen aus Or. pro Sulla 32. gencris orna- 
mertta, besonders aber ad Brut L 18, wo ausdrücklich steht 
liberii ornalus, wobei die angefochtene Ächthoit dieser Briefe den 



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1092 



Ciceronis Tuscull. ed. Klotz 



Ausdruck selbst nicht verdächtig machen durfte. *) Der zweite 
Panlit in diesem §. sind die Worte: Quasi vero isla, vel quid- 
quam tum potuerit ei melius accidere. Der Herausg. erklärt sieb 
gegen den Ref., welcher in der Allg. Schulzeitung i83o. lf. i53. 
diese Lesart für unhaltbar erklärt hat, ziemlich ausführlich, und 
wir können den von ihm angegebenen Sinn nicht verwerfen: aber 
noch immer scheint uns , die Worte lassen ihn nicht zu , welche 
vorausgehen. Sollen wir isla in der Weise behalten , dafs man 
aus dem Folgenden dazu denke: poluerint ei melius accidere , und 
heifst melius, was es wirklich heifst, auf eine bessere Wei- 
se; so stellt sich ja der seltsame Sinn heraus: isla non poluerunt 
tum mtlius inflarr.mari , non melius potuit Priamo vita evilari, non 
melius Jovis ara sanguine turpari t da doch auch im Sinne des 
Herausg. gesagt seyn soll: quasi vero istis tum poluerint meliora 
[oder tum potuerit melius quid] ei accidere. Liest man also nicht 
im Sinne des Herausg. quasi vero islis oder quasi vero vel istis, 
welches beides Ref. in seiner Ausgabe für diejenigen vorgeschla- 
gen hat, die sich gegen die Conjectur des P. Crassus sträuben, 
so wird man isla vi immer noch der gezwungenen und mit dem 
Text nicht harraonlrcnden Auslegung vorzuziehen geneigt seyn, 
wo die Worte, wie sie stehen, nichts Anderes sagen wurden, 
als: Diese Art der Verbrennung und der Ermordung war unter 
den vielen möglichen Arten die beste.**) — L 4 1 « 98: Tene — 



•) Ein gelehrter Freuod, dem wir untere Ansicht mittheilten, sagt: 
„Es scheint gezwungen , zu Metellus Ute zu ergänzen: mortuus est 
beatus. Ich bin für honoratus sc. Ii Iiis et qnatuor et honoratis, als 
doniesticis solatiis ornnmentisqae. At steigert: Hatte ja Prtatuu* 
u. s. w. Für honoratus sprechen auch die Worte : \htcllum tnim — 
imposuerunt: das war auf jeden Fall eine Ehre für ihn. Übrigens 
ranfs honorari filiis nicht nothwendig auch anderwärtü stehen, nnd 
ist an sich in der Ordnung: durch seine Söhne geehrt seyn. Übri- 
gens nennt Cicero die Söhne des Metellus selbst multi. [nicht dio 
Söhne allein, sondern die Töchtcr^die Enkel und Enkelinnen da- 
zu, heifsen multi./' Das Urtheil bleibe unsern Lesern überlassen. 

'*) Derselbe Gelehrte wendet uus ein: „Uta scheint mir richtig. So 
wie 6t'ne heifst zum Glücke, und optimc zur guten Stunde, 
so auch hielt us. 1 - Das Letztere ist es eben, was wir, besonders in 
dieser Stellung und in diesem Zusammenhange, bezweifeln. Es bleibt 
zweideutig. Cicero würde entweder gesagt haben: quasi vero isla 
vel quidquum tum optabilius ei potuerit accidere oder opportttnius ; 
wollte er aber melius, so hat er einen Ablativ Torausgesetzt, «ey 
dieser nun ista vi oder istis. 



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Ciceronit Tuscull. od. Klotz 1093 

ad eos venire — qui juste — vixerint ? haec peregrlnatio mediocris 
vobis vieler i potesl? Es ist wahr, tene haben die besten Hand- 
schriften. Aber so wie dieser Fragesatz hier steht, wird der Sinn 
verdreht, and getragt: »Wie? Du solltest kommen? Das sollte 
man nicht denken.« Wir werfen das Fragezeichen nach vixerint 
weg , nehmen an , das tene der guten Handschriften sey aus te n. 
(d. h. te enim) entstanden, und erklären: »Denn dafs man — 
zu denen komme, die den Richternamen in der That verdienen: 
mufs eine solche Wanderung nicht höchst erwünscht seyn?« — 
II. 17. 39. Hier stimmen wir gröfstentheils mit dem Herausg. 
überein, nur sagt uns das sed nihil vidimus der besten MSS. 
nicht ganz zu. Es wird erklärt: »die Erfahrung bestätigte et 
nicht.« Da würden wir aber-, dem Zusammenbange gemäfs, lie- 
ber mit Kühner videmus lesen, das nicht so ohne alle bandschrift- 
liche Bestätigung ist, als Hr. Kl. glaubt. Erstlich fand es Be- 
roaldus, nach seiner ausdrücklichen Erklärung, in seinen Hand- 
schriften, zweitens hat es eine Oxforder Handschrift, und drit- 
tens die am Rande unserer Asc. 2. verglichene. Übrigens hat 
auch unser sed nihil vidi minus (sc. humanuni, was sich leicht 
aus dem vorhergehenden si quidem homo esset herausnehmen läfst,) 
die Autorität von 4 bis 5 Handschriften für sich. *) Auch konnte 
das vidimus der Mehrzahl leicht aus der Schreibung VIDIMINVS 
oder vidi mng (oder vidi mig. S. Baring. Clor. Diplom, in der 
Abth. Compendia Scribendi medii aevi Tab. 8,) entstehen. — Wäre 
nicht bei III. 1. ö; cum vero parenlibus redditi f id est magistris 
tradili sumus, es, bei Strafe einer derben Zurückweisung, ver- 
pönt, ferner an der Richtigkeit dieser Lesart zu zweifeln, »einer 
Lesart, die sich zwar nur in wenigen Handschriften, vielleicht 
auch nur in richtiger Herstellung, rein erhalten 'In be, aber iu 
den Spuren sämmtlicher Handschriften deutlich zeige « ; wäre jene 
Einschüchterung nicht, wir würden doch eine Einwendung wa- 
gen, und sagen: a) sey die Lesart des Cod. Reg. nicht genau 
angegeben, welcher reddit idem, nicht, wie man aus Hrn. Kl. 
Angabe vermuthen mochte, redditi idem hat; b) unser Gud. 1, 
eben so gut und eben so alt als der Reg., habe redditi, dein, 
und dieses liege eben auch in der falschen Worttrennung des. 



•) Kef. benutzt diese Gelegenheit zu der Bemerkung , data in «einer 
Ausgabe S. 532 die Worte : T. linden in Secbodc bis zu viri est auf 
der letzten Zeile, erst nach Z. 4 (humanuni) der folgenden Seite 
stehen sollten. 



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im 



CiceronU Tuacnll. cd. Klüt». 



> 



Cod. Heg. c) redditi, dein haben drei Handschriften, und die, 
welche iieinde bieten, weichen auch nicht ab; endlich d) wenn 
Orelli's nicht unpassender Einwurf, die Zusammenstellung pa- 
rentibus reddiii id est magislris tradili wurde sich eher für einen 
Seneca, als für Cicero, schicken, vom Herausg. zurückgewiesen 
wird, und Hr. Hl. erklärt, die Hinder aus der Ammenstube seyen 
sofort den Lehrern ubergeben worden, und es sev keine Mittel- 
zeit eingetreten; wurden wir fragen, ob denn nicht eben dein 
sofort, unm it telbor darauf heifse ? Doch wir fragen nicht 
weiter. — Uber III. I. 3: ut nobis optime natura m invidisse 
videantur haben wir in unserer Ausg. T. IL p. 12. ausfuhrlich 
gesprochen, auch schon die Ansicht des Herausg. berührt. Wir 
gestehen, durch seine Auseinandersetzung und seine Verteidigung 
der obigen Lesart gegen Bentleis oplimam magistram, das so 
schon zu dem vorhergehenden quasi maximus quidam magistcr, 
populus, als Gegensalz pafst, noch nicht uberzeugt zu seyn. Wie, 
wenn gar neben der Abbreviatur NRA die andere ihr so ähnliche 
MRA ausgefallen wäre, und Cicero, ganz analog mit dem moxi- 
mus-mag isler , populus] geschrieben hätte oplimam magir 
strum, naluram — ? Darin läge ein, bei Cicero gewifs nicht 
Yerwerf lieber, concinncr Parallelismus, wogegen man optime ent- 
weder unpassend ironisch, oder erzwungen durch ganz ge- 
schickt erklären mufs. Doch wir wollen dem Cicero keine 
Glosse aufdringen. — IV, 9, 2t: discordia iraacerbior 9 intumo 
odio et cor de co neepta. Dafs man diese Lesart fast alier 
Hani] schrillen vor La m bin nicht anstufsig fand, das hat diese 
Stelle noch mit unzähligen andern gemein, die seitdem aus den 
besten Gründen corrigirt wurden, und gewifs ist unser Herausg. 
der Letzte, welcher sagen würde, man soll eine Stelle deswegen 
oncorrigirt lassen, weil bisher Niemand daran angestofsen sey. 
Kann er sich doch selbst mit vollkommenem Hechte rühmen, 
schon so manche Stelle, an der vor ihm Nieman anstiefs, zuerst 
-verbessert zu haben. Dafs aber La m bin hier anstiefs, darf nicht 
auffallen. Denn mag man nun intumo zu odio allein , oder auch 
zu cordc mit ziehen, immer bleibt die Verbindung odio et corde 
eine bei Cicero anstöfsige Zusammenstellung, wenn Hr. Kl. schon 
sagt: »es schadet nichts, wenn das allgemeinere corde noch 
hinzutritt«, und hinzufugt: »Wir sagen eben so: im innersten 
Hafsgefühle und Herzen.« Denn erstlich sagen wir wirklich 
nicht so, und es mag wohl Niemand bisher so gesagt haben, und 
zweitens würde dies den Ausdruck weder logisch richtig, noch 



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Cicero ni« TimckIL od. Klotz. 1095 

# 

speciell Ciceronisch machen. Sind nun gleich die Änderungsver- 
suche, die der Herausg. anfuhrt, theils gewaltsam, (z. B. wenn 
Schute odio et wegstreicht, oder La m bin am'mo aas odio macht,) 
theils unpassend, (z. B. Bouh iers Conjectur: ira acerbior, 
tcr duos corde concepta, mit einer Anspielung auf die Etymolo- 
gie von discordia); $o ist doch vielleicht die Lesart unsers ersten 
Cod. Mon. inlimo odio corde concepta der Beachtung werth, so 
da Ts man erklären konnte: quae (ira) corde concepta est ila, ut in- 
limo odio se in an im um inßgaU Oder man konnte ganz einfach 
intimo odio corde concepto lesen, und dies wäre: quum vide- 
licet intim um odium corde cmccptum est. — IV. 14. 3«. Nec vero 
in omncm morbum ac perturbalionem animus ingeniosi cadiu Non 
€7i im mulla ecferata et immania, quaedam au lern humanitatis quo- 
que habent primam speciem. Hier drückt sich der Herausg. wie- 
der stark aus : r man habe (sagt er) in elender Nachbeterei des 
grofsen, aber so oft übereilten, verkehrten und schiefen Bentlei 
auf die tollste Art geändert.« Die Änderungen Ben tlei's sind 
In ulla efferata et inania, in vitia eff. et imm,, und in ullam 
efferatam et immunem. Wir geben gerne zu, da Ts Ben tlei's 
Emendationen übereilt sind, und die von uns aufgenommene erste 
gefällt uns selbst nicht recht. Aber etwas Richtiges hat Bent- 
lei doch gefühlt, als er an das Emcndiren ging. Denn entweder 
muPs man mit Ernesti zu mulla efferata et inania suppliren in eo 
esse solent, oder mit dem Herausg. sunt, in quae animus ingeniosi 
cadit: aber dies sind für Cicero starke Supplemente, der seinen 
Lesern dergleichen Dinge nicht zumuthet; oder man mufs, zum 
Behuf des Supplirens , mit Nissen, die Constructton des Verbums 
cadere umdrehen, nemlich cadunt in^animum ingeniosi. Da vor 
einem m an unzähligen Stellen in den Handschriften in ausgefal- 
len ist, so dürfte es vielleicht das Beste seyn, non enim in multa 
efferata et inania zu schreiben , wo sich das zuletzt vorhergehende 
Verbum cadit als das ungezwungenste und einfachste Supplement 
darböte. Nach immania würden wir dann ein Kolon setzen. 

Wir kommen auf einige der in der Vorrede zur kleinem 
Ausgabe besprochenen Stellen. L 39. 70: Credo equidem in ca- 
pite; et cur credam afferre possitrn. So giebt der Herausg. mit 
fast allen Handschriften in der gröfsereu Ausgabe. In der klei- 
nern hat er aus dem einzigen Cod. Col. rationem vor ajferrt ein- 
geschoben, welches auch der Cod. Duisb. giebt: erstlich, weil 
Cicero sonst so oft rationem qfferre sage, sodann, weil sieh afferre 
allein sonst nicht so finde; endlich, weil die Abbreviatur des 



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1096 



CiceronU Tuscull. cd. Klotx. 



Wortes ralionem (raoe) leicht ausgefallen seyn könne. Ref. findet 
es doch bedenklich , das in den besten Handsehritten fehlende 
Wort aus solchen aufzunehmen, deren Werth nicht hoch anzu- 
schlagen ist : und wenn er auch zugiebt , dafs die von ihm zu Cic. 
de Dir. 1. 3o. p. i53 citirten Stellen nicht für die unsrige bewei- 
send sind, da qfferre dort zwar keinen unmittelbaren Accusativ 
bei sich, aber den Acc. c. infin. , also doch einen Objectsaccusativ, 
nach sich hat, (z.B. Tusc. 3, 23: qffert nihil evenisse, quod — ): 
wenn er ferner einräumt, dafs die in seiner Ausg. aus dem Werke 
des Jo. Kcr {Obss. de L L.) citirte Stelle, angeblich aus Cicero: 
qfferri polest, cur non omnia fato ßant , so schlagend sie wäre, 
Nichts beweise, so lange sie nicht aus Cicero selbst nachgewiesen 
wird, wo Ref. sie bisher nicht hat finden können; so glaubt er 
doch, das cur credam qfferre possum dem Cicero vindiciren zu 
können, indem er gerade das cur credam als das Object oder den 
Accusativ durch eine Art von Synesis betrachtet: »ich kann das 
cur credam d. i. den Grund meiner Überzeugung , beibringen. — 
I. 39. 71 : ut — tn coelum videretur escendere. In den Vor- 
reden zu beiden Ausgaben will Hr. Kl. jetzt ascendere hergestellt 
wissen , und hat es auch in der kleinen gethan. Dazu bewog ihn 
eine Äusserung des Hrn. Berger (in Paris), der den Cod. Reg. 
für Orelli verglich, und S. 3 der Orelli'schen Specialausgabe 
der Tusculanen, wo er die Verschiedenheit der Absätze in dem 
Cod. Reg. in Vergleichung mit der Ausg. von Lallcmand her- 
aushebt, und zur Probe einige Steilen abschreibt,' gerade diese 
Stelle giebt und adscendere schreibt Hr. Kl. fügt nur noch bei: 
so haulig escendere in den MSS. in ascendere verdorben sey , so 
gewil* sey wohl auch manchmal ascendere ohne Grund statt escen- 
dere hergestellt worden. Das mag seyn. Aber zum vorliegenden 
Falle bemerken wir : a) die Aushebung der Stelle am angeführten 
Orte «lurch Hrn B. ist nicht deswegen gegeben, um die Lesart 
der Worte der Handschrift mitzutbeilen. Die Worte waren ihm 
Nebensache, und er kann sie wohl nur flüchtig angesehen haben ; 
b) in der von seiner Hand geschriebenen Vergleichung des Cod. 
Reg, die Ref. selbst in Händen hatte, giebt Hr. Berger als Les- 
art dieses Cod. escendere ausdrücklich an; c) Davisius schrieb 
zwar in der ersten und dritten Ausgabe ascendere: aber in der 
zweiten, wo er stillschweigend, auch in Kleinigkeiten und in der 
Orthographie, dem Cod. Reg. folgt, giebt er escendere; d) escen- 
dere hat auch unser Gu J. 1., fast der Zwillingsbruder des Reg.; 



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Ciceronil Tuicull. ed. Klotz. 109? 

e) endlich liegt in der Stelle selbst, ihrem Zusammenhange und 
Gegensatze, kein positiver Grund, escenciere als falsch zu ver- 
werfen, und ascendere als überwiegend richtig vorzuziehen. — 
III. 12. 26 : tanta vi* sceleris in corpore haeret. Im Texte haben 
beide Ausgaben diese Worte als eine Reflexion des Cicero, ab- 
geschieden von den vorausgehenden zwei Versen aus dem Thyestes 
des Ennius. Hr. Kl. sagt, Cicero fange öfters solche Betrachtun- 
gen mit tantus an. Doch wird er selbst etwas bedenklich durch 
das folgende Tu te, Thyesta — , läfst sich jedoch nicht dadurch 
abbringen, und setzt noch in der Vorrede zur kleinern Ausgabe 
(nachdem er in der zur gröfsern nicht dagegen zu seyn erklärt 
hatte , wenn man die obigen Worte an die Dichterworte anschlie- 
fsen wolle,) mit abermaliger Änderung seiner Ansicht, hinzu: 
»videntur haec verba Tulli esse, non poetae. « Wir geben nun 
zwar auf das Zwängen jener Worte in das bakehysche Metrum 
bei Bentlei , oder in das ithyphallische bei Botbe {Fragmin, 
poett. Scenic. T. I. p. 66.) r nicht viel : halten uns jedoch tbeils 
durch das Coforit der Rede, (vis sceleris in corpore haeret,) theils 
durch die offenbar erst mit Tu te, Thyesla, damnabis beginnende 
Reflexion des Cicero, für berechtigt nicht nur, sondern für ver- 
pflichtet , jene Zeile dem Dichter gleichfalls zu vindiciren. — 
III. 27. 65. Über dieser Stelle waltet in beiden Ausgaben ein 
eigenes Mißgeschick. Die Stelle heifst : Quid? quod res ipsa lu- 
ger e prohibet? Hierüber sagt Hr. Kl. die geringem Handschrif- 
ten haben quid? quos res ipse lugere prohibet? Hier ist ipse 
blofser Druckfehler für ipsa : denn jenes hat keine Handschrift. 
Aber auch das ist nicht richtig, dafs die geringem Handschrif- 
ten quos haben. Gerade einige der besten haben es: der Cod. 
Gud. 1 , der Cod. Bern., der Cod. Maro., der <5od. Rehd. (in wie 
ferne wir den beiden letztern ein Gewicht zuschreiben, haben 
wir im Index apparatus critic. p. XVI und XVII unserer Ausg. 
gesagt.) Warum wir aber den das Object enthaltenden Accusativ 
quos dem quod der meisten Handschriften vorziehen, wollen wir 
nicht auseinandersetzen , da der Herausg. in der Vorrede zur 
grofsern # Ausg. S. XIII selbst sagt, die Lesart quid? quos habe 
allerdings Manches für sich, und er werde bei der eigentlich kri- 
tischen Ausgabe die Sache nochmals erwägen müssen; in der zur 
kleinen aber: »non jam impedio quin scribatur: Quid? quos res 
ipsa legere prohibet? « Wo legere abermals Versehen des Setzers 
und Correctors ist. Das Quid? quos war den Abschreibern eben 



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1098 Ciceronit Tutcull. od. K1»U 

so fremd, als Quid! quod geläufig. Wie naturlich, dafg sie jene« 
in dieses verwandelten! — I. 3i. 76: nunquam ila te in hoc ser- 
moue dimittam, ulla uti ratione, ut mors tibi videri mal um posstL 
v Über das wiederholte ut (lautet die Anmerkung zu dieser Stelle) 
vergleiche man die Vorrede, c Hier wird gesagt , in jener Schrei- 
buug sey die Lesart samtlicher Handschriften hergestellt, darauf 
wird nach ulla uti ratione ein Gedankenstrich gesetzt, als ob zwi- 
schen ratio nc und ut Etwas stünde , und nur hier ausgelassen wäre, 
dann von der Wiederholung des ut und ähnlicher Partikeln, die 
wegen der Deutlichkeit oder des Nachdrucks wegen geschehe, 
gesprochen , zugleich auch auf des Herausg. Vorrede zu Cio. Re- 
den 1. p. XXV 7 ! fg. verwiesen, auch Terent. Andr. V. i. 9 — 11 
citirt, wo ut im cjten und im Uten Verse, nach einem langen 
Einschiebsel, allerdings in Einer Construction , des Nachdrucks 
und der Deutlichkeit wegen steht. Und, heifst es weiter, findet 
man dem ut in unserer Stelle das vorhergegangene uti au nahe, 
so vergleiche man die Bemerkung zu V, 27, 76; und will man 
uti — ut nicht einander aufnehmen lassen [soll wohl heifsen: auf 
einander folgen lassen ? ] , so giebt dazu schon das griechische 
im und fie, was sich bisweilen so ergänzt (?), die richtige Ana- 
logie. Vgl. Vorrede zu den Reden I. p. LXIX fg. Die Ausgabe 
der Ciceronischen Reden des Herausg. steht uns leider nicht zu 
Gebote: aber fragen möchten wir ihn doch, ob er wirklich noch 
dieses ulla uti ratione ul mors tibi videri malum possit auch im 
Ernste für erträglich hält , und warum er ein Komma nach ratione 
gemacht hat ? Dadurch wird doch das zweite ut von dem ersten 
nicht weiter entfernt. Und wo ist hier ein Nachdruck, wo eine 
Forderung der Deutlichkeit? Was ist das zweite ut anders, als 
eine am unrechten Orte eingeschobene. Verdeutlichung des uti , 
oder gar als ein Einschiebsel eines Menschen, der uti für den 
Infinitiv von ulor hielt, so unverständig es ist? Hier das zweite 
ut vertheidigen und beibehalten, ist, wie neulich ein Gelehrter 
scherzhaft sagte, eine wahre CodicoJatrie. Und es haben nicht 
einmal alle Codd. Beides. Unser Cod. Vind 1. läfst das zweite 
weg, und der Rehd. hat ulla in ratione , was übrigens freilich 
Niemand empfehlen kann. Übrigens verweist Ref. auf seine Aus- 
gabe. — Zu I. 3a. 78: et&i nihil animis oportet conßdere, wo 
die Vorrede zur gröfsern Ausg. sich jetzt nimis für animis ge- 
fallen lassen will, bemerken wir blos , dafs nicht, wie der Her- 
ausg. glaubt , alle Handschriften animu haben , sondern wirklich 



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Ciceronis Tuscull. ed. Klotz 



*vjrs» . 



mehrere nimw. 3. unsei e Ausg. p. a64 sq. -~ Eben 80 III. a. 3. 
bei quum vero eodem, wo Hr. Kl. jetzt, nach Vorn 8. XI der 
gröfsern Ausg., die Lesart quum vero acceäit eodam vertheidigen 
mochte, iugen wir nur noch bei, dafs dieses accedit wirklich in 
recht guten Handschriften steht. S. unsere Ausg. T. II. p. io, 
besonders die Bemerkung von A. Majus daselbst. 

Endlich lassen wir noch einige Stellen des ersten Buches fol- 
gen 4 über welche wir uns mit dem Herausg. gerne verständigen 
möchten, lassen aber, nothwendiger Kürze wegen, alle diejenigen 
weg, wo wir vollkommen einverstanden sind, und ihm in der 
Stille danken. *) w- I, 4. 7 : in quam exercitalionem ita not fUtr 
diose o per am dedimus. Die unbeholfene und unciceronische Coo* 
atruclion operam dare in aliquam rem gefallt Hrn. Kl. selbst nicht 
recht, aber er glaubte sie doch beibehalten zu müssen, a) weil 
alle Handschriften operam haben, b) weil Huhn heu sie verthei« 
dige, c) weil es eine ähnliche Stelle des Plautus giebt. Aber a) 
melden Muretus, Lambinus und Fr. Fabricius, sie haben 
operam in alten Handschriften nicht gefunden. Denn dafs die vc- 
teres libri Handschriften, und nicht alte Ausgaben, sind, sieht 
man daraus, dafs keine bekannte ältere Ausgabe, die jene Männer 
sehen konnten, operam ausläfst; b) kann man Buhnkens Citat 
unserer Stelle, (ad Terent Andr. 1,1, i3o.) mit Berufung auf 
Davisius, keine Verteidigung nennen; c) ist die Stelle des Plau- 
tus, der ohnehin für Cicero's Surachgebrauch nichts entscheidet, 
(Casin. Prol. 22. benigne ut operam delis ad nostram gregem,) der 
unsrigen nicht gleich. Streicht man in der unsrigen operam weg, 
dann ist Gedanke und Sprache richtig und erst recht Ciceronisch ; 
atreicht man operam bei Plautus weg, dann ist kein Sinn mehr in 
der Stelle. Es ist sicher eine in den Text eingeschlichene Glosse. 
Ein Interpret wollte sagen, se dare in aliquam rem sey ungefähr 
so viel, als operam dare alicui rei: und operam schob sieb ein. — 
I. i3. 29: ist in der Note bei deo aas Appulejus angeführten Ver- 
sen, welche die Namen der zwölf Gotter enthalten, der Name der 



*) Wir rechnen dahin auch Erörterungen wie die zu I. 40. Uti. über 
pendire animi, wo da« letztere »ort nU alte Ablattvforiu erklärt 
ist; zu I. 21. 47. über videlicet , scilicet; über I. 22.51: oüt«M do- 
mui; die Erklärung von I. 22. 52: sie ut tribntum a deo iit hoe te 
ipsum poae cognoteert , nebst der Herstellung der Stelle; die Ver- 
theid igung tob mitto gimüitudints 1. 33. und Vieles Ander«. 



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1100 Ciceronie Tateall. ed. Klotz. 

Ceres im ersten Verse ausgefallen. — 1. 14. 3i : ut ait in fyn* 
ephebis. So haben allerdings die ältesten und besten Handschrif- 
ten , die meisten übrigen haben nach ait entweder das ganz fal- 
sche Ennius, oder den Namen des wahren Verfassers Sfalius. 
Hr. Hl. giebt ait ohne Subject, und ubersetzt: »wie es in den 
Synepheben heifst.« Wenn es das nur hiefse ! Der Herausg. 
spricht zwar selbst etwas zweifelhaft: aber wir müssen diese Über- 
setzung entschieden ablehnen. Wenn ait, inquit ohne Subject bei 
Cicero steht, so ist dabei immer ein leicht zu supplirendes (z. B. 
mein Gegner) zu ergänzen. Hier geht so Etwas durchaus nicht 
an, und es mufs entweder ein Subject hinein, und zwar ille, daf 
unser Cod. Äug. bietet, oder wir müssen auch das ait wegwer- 
fen, was am Ende auch Hr. Kl. vermuthet, oder schreiben ut 
est in Sjnephebis oder ut ille in Synephebis* gerade wie wir de 
N. D. I. 6. i3. aufgenommen haben, wo die Handschrift des l r- 
sinus es bot, während auch 4 gute Handschriften blos ut in Sjn- 
ephebis haben (was nicht angeht, weil vorausgeht: llaque mihi 
libet exclamare), andere aber Plautus oder Terentius, oder, wie 
hier , Slatius geben. — I. 22. 53 : Sed si qualis dt animus ipse 
animus nesciat. Wir verwerfen den Conjunctiv nicht, ob wir 
gleich den Indicativ gegeben haben. Aber gegen die Behauptung 
müssen wir uns erklären, dafs der Indicativ geringe handschrift- 
liche Auetoritat habe. Wir wollen die acht Oxforder Hand- 
schriften nicht hoher anschlagen, als sie es verdienen: aber sind 
die besten, der Cod. Reg. und unser Gud. 1. gering? und noch 
vier andere, die, wenn auch nicht von hohem Range, doch we- 
nigstens mitzählen ? — I. 23. 54 hatten wir den häfslichen Hia- 
tus, qua a primo nicht aufgenommen, besonders da der Herausg. 
das a selbst nicht für durchaus nothig hält, und gerade die be- 
sten Codd. es nicht haben. — I. 25. 60 : quae sit ilia vis et unde 
sit, intelligendum puto. »So, sagt der Herausg., die besten 
Handschriften, und man darf an dem wiederholten sit keinen An- 
stofs nehmen. Die andere Lesart: et unde, sie intelligendum pulo, 
beruht wohl nur auf einer falsch gelesenen handschriftlichen Au- 
ctorität. « Wir nehmen keinen Anstofs an dem wiederholten sit t 
aber wohl an dem so nakt und unciceronisch dastehenden intelli- 
gendum puto. Welcher sonderbare Gedanke : »Vermuthlich mufs 
man verstehen, was dies für eine Kraft scy (oder: welches jene 
Kraft sey), und woher sie sey. « Sagt man aber, der Sinn sey : 
Verstehen mufs man aber, (oder: darüber mufs man erst ins 



• 

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CirrroniB Tmcull. ed. Klotz 1101 

Klare kommen, mit sich selbst im Reinen seyn,) welches jene 
Kraft sey u. s. w. ; so hätte Cicero ganz anders schreiben müs- 
sen. Da er aber schon vorhin gesagt bat: aut quam habet viml 
aut unde naluram? und, anstatt zu antworten, acht Zeilen gleich- 
sam parenthetisch zwischenein schiebt; so wiederholt er hier, ehe 
er die Frage zu beantworten versucht, dieselbe indirect, und mit 
Bescheidenheit setzt er hinzu: ich denke aus Folgendem (sie) 
wird erhellen, welches denn diese Kraft ist, und was ihre Quelle 
ist: nemlich, es sey eine gottliche Kraft, und die Gottheit sey 
ihre Quelle. Da darf aber dann sie nicht fehlen. Und wie leicht 
nach dem zweiten sit das so ähnliche sie (in vielen Handschriften 
sind t und c kaum zu unterscheiden) ausfallen konnte, braucht 
nicht weiter besprochen zu werden. Hat doch das sie im Kerner 
Codex umgekehrt auch das zweite sil hinausgedrängt. Wir lesen 
also: et unde sit, sie intelligcnduhi puto. Dafs aber Or. zum 
Beweise, dafs sie fehlen könne, de Finn. III. Ii. 39. citirt (intcU 
Ugi necesse est , pluris id , quod honestum sit, aestimandum esse, 
quam illa — ,) und hinzusetzt: »locus prorsus similis est«, ist 
vielleicht eine blofse Übereilung ; denn dieser locus ist prorsus 
dissimilis; aber garrz gleich ist der zweite von ihm eitirte de 
Finn. IV. sedr sie intelligamus. Unsere Lesart hat auch Or. selbst 
in der Einzelausgabe am Schlüsse S. 174 empfohlen. Und wenn 
Wolf in den Vorlesungen sagte, es konnte auch et unde sit ge- 
lesen werden, so braucht man deswegen nicht* anzunehmen , er 
habe sie wegwerfen wollen: auch hat er es in keiner seiner Aus- 
gaben gethan. — I. 3o. 73: mentis acies se ipsam intuens. Die 
Empfehlung des se ipsam für das von Lambin und seit Er. 
nesti aufgenommene se ipsa wollen wir nicht mifsbilligen; aber 
ein Irrthum ist es, zu sagen, se ipsam habe der Cod. Reg.; denn 
dieser hat, mit dem ihm ebenbürtigen Gud. 1., sc ipsa. — I. 49. 
116: Harnwdius in ore et Aristogito, Lacedaemonius Lconidas; 
Thebanus Epaminondas viget. Allerdings haben die meisten und 
besten Handschriften in orc, ohne est: aber dieses est, das doch 
' nicht ohne handschriftliche Autorität ist, (s. unsere Ausg. S. 4o3,) 
läfst Hr. Kl. kaum sprachlich als richtig gelten, weil Cicero sonst 
immer semper, valde oder omnibus (wir fügen noch bei vulgi, po~ 
puli) zu in ore est setze. Dafür sollen wir viget für alle diese 
Namen als Verbum gelten lassen, also denken: Harmodius et Ari- 
stogito in ore vigent. Ist es zweifelhaft, ob man sagen könne 
in ore esse, so ist es mehr als zweifelhaft, ob man sagen dürfe 

\ 



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1102 Ciceronis Tuscall. ed. Klotz. 

in orc vigere. Und wie leicht fallt ein e (est) nach ort aus \ — 
I. 48» 116: Menoeceus — oraculo edilo largilus est patriae suum 
sanguinem. Iphigenia Aalide duci se immoländam jubei, ut ho- 
stiu nx cliciaiur suo. So haben allerdings die besten Hand- 
schriften. Schon J. M. Umt us fand es so in seinem Gryphianus, 
und verlangte deswegen, man solle aus dem Vorigen zu den letz- 
ten Werten sanguis supphren. Dasselbe Ansinnen macht auch der 
Herausg. Das ist eine Zumuthong, die gewifs Cicero seinen Le- 
sern nicht machte: aus einer diese Erzählung gar nichts angehen- 
den Erzählung das Subject für die zweite zu holen. Fehle was 
da wolle: Etwas fehlt« Und da sanguis das natürlichste ist, so 
hatten wir es wenigstens mit Or. in einer K ramm er beigesetzt 
gewünscht.*) — L 43. 104 r Prätclore id quidem [Sokrates]* 
qui — se ostendertt de hoc toto genett [was mit seinem Körner nach 
dem Tode geschehe] nihil laborare. Ihsrior Diogenes et id qui- 
dem sentiens, sed ut fynieus asperias , projici ie jussit inhumts- 
tum. Es ist abermals wahr: Hr. Kf. giebr et id quidem sentient 
ans mehrern Handschriften (zehen), ater doeh nicht denen vom' 
ersten Range, noch weniger aas den meisten: denn diese haben 
et is quidem smtiens. Um nun keine Gonjectur aufzunehmen , 
hält er sich an jene, da' die Lesart der besten ganz sinnlos ist; 
und, da er selbst fühlt, dafs es mit dem id quidem senliens such" 
nicht am besten stehr, und das id eben doch idem heifsen soflre, 
» überredet er sich, es heifse, und zwar eben dies im Sinne 
habend, erklärt es für unrecht, idem zu rerlangen, verlangt 
dagegen, man Soll id betonen, Wo es dann mit dem folgenden 
quidem nichts Anderes bedeuten könne, als eben das, worum es 
sieb eben handle, und mit idem auf dasselbe hinauskomme; qui- 
dem aber im Gegensatz zu dem Folgenden schränke ein: »dies 
zwar in Gedanken habend, allein im Ausdruck rauher. <* Dafs 
man aber hier das id nicht terstanden habe, sey kein Wunder, 
da man auch oben F. 34. 84. bei possem id facere [rtemlich ouod 
is fecit, qui amiei* vitafe humanae enumerarit incommoda/] » th5- 
richtter Weise« das id in idem verwändet habe. Man bliche 
Beide Stellen unbefangen sn, man erwäge Cicero's Klarheit", man 



•) Viel nachgiebiger ist Hr. Kl. I 24. 58. bei nihil enim putät eise, 
wo er nach der Vorr. S. VIII nicht« mehr gegen Einschaltung dem 
ille vor putat einwenden , sondern annehmen will , es sey im Cod. 
Reg. anfällig ausgefallen; ob es gleich nicht sehr nötbtg ist. 



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Circronis Tutcall. ed. Klotx. 1103 

r 

frage sich, ob man ohne jene schon von alten Abschreibern falsch 
gelesene Abbreviatur ut oder ID. für idem auch nur auf den Ge- 
danken gekommen wäre, et tollte id beifsen, oder id wäre eben 
so gut? und ist nicht von idem Jacere in der Stelle L 34- 8$. eine 
deutliche Spur sogar noch im Cod. Vind. 1. wo id eßecre steht 
(aus IDEFACERE) ? Und ist nicht Hr. Kl. gen5tbigt, erstlich 
sein id aus den Handschriften untergeordneten Banges zu holen , 
da die bessern is haben ? und mufs er nicht mit einer ganz eige- 
nen Honst dem quidem eine gedoppelte Rolle zotheilen ? Erst 
mufs es helfen, das id zur Bedeutung von idem zu erheben: dann 
mufs es wieder zwar heifsen (zwar in Gedanken habend), 
also helfen, das sentiens dem asperius (sc. eloqoens) entgegen zu 
setzen , zu welchem Gegensatze es nur dann an seinem rechten 
Platze stunde, wenn wirklich idem vorausginge. Wfr sind* weit 
entfernt, dem Cicero Eleganzen, die er verschmäht, aufdringen 
zu wollen ; aber falsch lesenden und falsch corrigirenden Ab- 
schreibern zu gefallen ihn schielend reden und denken zu lassen, 
scheint über die Gewissenhaft ig keit hinaus zu gehen. An der 
Lesart der besten Handschriften braucht kein Buchstabe geän- 
dert , sondern nur die vier letzten als größer geschrieben ge- 
dacht, also doppelt gelesen zu werden, wie so oft in den FIo* 
rentiner Pandekten, die im Anfange des siebenten Jahrhundert«" 
geschrieben sind: nemlich so: etisqvIDEMsektiews *), das ist, 
wie wir mit Wolf und Orelli geschrieben haben: et is quvdem 
sentiens. — I. 43- »03: aut sieubi naclus eris, ut tibi videtitr, 
sepelüo. Hier haben wieder allerdings mehrere, und darunter 
zwei der besten Handschriften videtur: aber videbitur, das we- 
nigstens i5 haben, darunter zwei, die an die besten reichen, 
und wo an die Naseweisheit eines Correctors gar nicht zu denken 
ist, ist dem Sinne zugleich und der Sprachlogik weit angemesse- 
ner, und harmonirt, was auch der Herausg. gegen Kühner und 
über die Sprachformel »wie dirs gefällt«, das man auch von 
künftigen Dingen sage, sprechen mag, dennoch recht gut mit 
dem Platonischen Ausdruck, den zwar Cicero im Allgemeinen 



*) Ein sefir ähnliche*, aber noch auf fallenderes , Beispiel führt Sciop- 
'piut De arte Critica (ed. Anist. 1662. 8.) p. 61 bei dieser Regel der 
Verbalkritik und Angabe der durch solche Schreibung vcrsntnfsten 
Irrthümer an , nemlich eine Stelle des Syininächus , wo geschrieben 

ist saTEmfoms, und zu lesen: sat te temporis. 

> 



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1104 



CiceronU Tu»cull. cd. Kloti. 



freier zu geben pflegt, der aber auch, strenger angepafst,^nicht 
gerade visum erit fordern wurde, sondern ut tibi vidtbilur (sc 
tum , (juum de sepultura cogitabis) ganz gut zuläßt. Wie Hr. Iii. 
aber zur Verteidigung des Präsens vor dem Futurum die Stelle 
I. 3a. 77: Numne vis igitur audire — ? ui videtur: sed me nemo 
de immortalilate depeilet — anfuhren konnte, sehen wir nicht ab. 
Sie wurde passen, wenn die Frage wäre: Soll ich dir morgen 
eine Aaseinandersetzung geben? Aber gerade dann wur- 
den wir auch hier videbilur erwarten müssen. So aber beifst es: 
Sprich, oder sprich nicht : nimmermehr wird mir Je- 
mand den Glauben an Unster blichheil rauben. 

Doch es ist Zeit , abzubrechen , so Manches wir auch noch 
zu besprechen, so gerne wir besonders auch wenigstens nur einen 
kleinen Theil des vielen Trefflichen jeder Art ausheben möchten, 
was wir uns am so ungerncr versagen, als durch Übergebung 
desselben unsere Anzeige eine Färbung erhalten hat, die sie am 
wenigsten gerne haben mochte, da wir t obgleich Jahre lang mit 
diesem Werke Cicero s beschäftigt, dennoch in dieser Ausgabe so 
Vieles gefunden haben., das uns veranlagte, Einzelnes und ganze 
Partieen von einer neuen Seite anzusehen. Ref. hat nun zwar, 
dem Wunsche eines Freundes Gehör gebend, welcher auf die- 
sem Gebiete eine gewichtvolle Stimme hat, am Schlüsse seiner 
eigenen Ausgabe die wichtigsten von dem Herausg. selbst be- 
zeichneten Stellen, die von ihm verbessert oder vertbeidigt oder 
erläutert worden sind, kurz herausgehoben : aber er hat gleich von 
Anfang darauf verzichtet, auch nur einen kleinen Theil des vielen 
Interessanten und Guten ausziehen oder das Bach für seine Aus- 
gabe gleichsam ausbeuten zu können. 

Ulm. G. H. Moser. 



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IV 0 . 70. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



P olitique d* Aristote , traduite en Francais d'apris le texte collationni 
sur les manuscrits et le» vditions principales par J. Hart hilemy- 
St.- Ililairc. Paris, imprimi par Autorisation du Roi ä Vimprimcric 
royate. MDCCCXXXfll. Tome I. CXC und 327 & Tome 11. 559 S. 
in gr. 8. 

Indem wir eine neue in Frankreich erschienene Bearbeitung 
der Politik des Aristoteles zur Kunde unserer Leser bringen, kann 
es dabei nur unsere Absicht seyn , sie auf Inhalt und Charakter 
dieser Ausgabe aufmerksam zu machen und insbesondere die Er- 
gebnisse derselben in der Kurze ihnen vorzulegen. Es ist nem- 
lich diese Bearbeitung — gewifs ein erfreulicher Beweis eines 
gründlicheren, auf Erforschung des Alterlhums gerichteten Stu- 
diums in Frankreich — nicht ausschliefslich für Philologen (wie 
dies meist bei solchen Erscheinungen in Deutschland der Fall ist) 
bestimmt; sie wendet sich vielmehr an ein gröfseres, gebildetes 
Publikum, dem die Früchte der politischen Weisheit des alten 
Stagiritcn zuganglicher gemacht werden sollen. »Cette traduction, 
so beginnt die Einleitung , est adressee a tous ceux qu'interessent 
la science politiquc et l'histoirc de la philosophie : l'une doit re- 
connaitre dans la politiquc d'Aristote son point de dcpart et Tun 
de ses principaox monuments; Pautre y trouve un des chefs d'cea- 
yre de cette intelligcnce qui, depuis deux mille ans n'a point en- 
core eu d'egale en profondeur et en etendue et que l'humanitc 
n'apas cru trop honorer par une obeissance inouie de plusieurs 
Steeles et par une admiration, qui ne s'eteindra pas « — ein Ur- 
thcil , das schon im Voraus zu günstigen Erwartungen berechti- 
gen kann, wenn man so manche Vorurtheile bedenkt, die in die- 
ser Beziehung ebensogut in Frankreich, und vielleicht dort noch 
in höherem Grade, wie bei uns noch obwalten; ein Urtheil, das 
uns aber auoh — und man wird sich in seinen Erwartungen nicht 
getäuscht finden — erwarten läfst, dafs der Heausgeber seiner- 
seits Alles werde aufgeboten haben , die politische Weisheit des 
Aristoteles in einem möglichst reinen Texte sowie in einer dem 
Geist des Originals angemessenen treuen Übersetzung denjenigen 
Männern, denen sein Werk bestimmt ist, vorzulegen. Was er 
in dieser Hinsicht geleistet , darauf werden wir weiter unten wie- 
XXX. Jahrg. 11. Heft. 70 



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1106 Politiquc d'Aritlote par BartMcnf y - St - Hilaire. 



der zurückkommen müssen. Hier müssen wir zuvorderst der 
ausführlichen, an zweihundert Seiten füllenden Einleitung geden- 
kro, die im ersten Bande dem Text und der Übersetzung voran- 
geht. Da sich in ihr manches Bemerkenswerte , manches Neue 
sowohl in Bezug auf die Politik des Aristoteles im Besondern, 
als auch im Allgemeinen über Aristoteles und dessen Schriften 
findet, so wird es uns allerdings vergönnt seyn, den Hauptinhalt 
derselben zu durchgehen und das Wesentlichste daraus, hervor- 
zuheben ; es wird dies zugleich die beste Gelegenheit seyn , die 
Leser mit den Ansichten des gründlich gebildeten Verfs. , seiner 
Behandluogsweise und seinem Verfahren bekannt zu machen und 
damit einen Begriff von dem ganzen Unternehmen und dessen 
Charakter zu geben. 

Eine vollständige Entwicklung des Aristotelischen Systems hier 
vorzulegen , hielt der Vf. mit Recht für ungeeignet ; dies konnte 
Gegenstand eines eigenen Werkes seyn, und darum beschränkt 
er sich auf einige allgemeine Bemerkungen über die Stellung des 
Aristoteles in der gesammten Philosophie des Alterthums und sein 
Verhältnifs, als Philosoph zunächst, zu Sokrates und Pfato; wenn 
er uns daher in möglichster Kürze einen klaren und deutlichen 
Überblick des Systems Aristotelischer Philosophie nach ihren Haupt- 
* richtungen giebt und zugleich mit Recht auf die unendliche Be- 
deutung derselben für alle nachfolgenden Jahrhunderte hinweist, 
so führt er uns dann wieder zur Politik zurück, als zu demjeni- 
gen Werke, in welchem der allgemeine Charakter Aristotelischer 
Philosophie sich in einem höheren Grade , als in andern Werken 
dieses Philosophen, ausgeprägt finde. » La rigueur de la classifica- 
tion, la forme concise et logique du raisonnement , l esprit de 
methode, de regularite, tous les merites d'Aristote y eclotent. « 
(S. XV.) Um dies zu zeigen, folgt eine klare Darstellung des 
Gangs, den Aristoteles in dieser Schrift befolgte, woran sich die 
Angabe der ähnlichen Schriften schliefst, welche Aristoteles über 
diesen Gegenstand überhaupt geliefert hatte, die aber leider ver- 
loren gegangen sind. Der schwerste Verlust, der unersetzlichste 
wird für uns immer seine Darstellung der Verfassungen der ver- 
schiedenen Staaten des Alterthuras, der griechischen zunächst, 
seyn; auch unser Verf. erkennt in den Politien mit Recht das 
kostbarste Monument für die innere Geschichte der griechischen 
Staaten und ihrer Verfassungen; so wenig Hoffnung auch jetzt 
zu einer Wiederaufiindung desselben vorhanden ist, es mühte 
denn die einer arabischen Übersetzung seyn, was aber doch wohl 



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Politiqae d'Arittole par Barthtflemv - St - Hilaire. 110? 

sehr unwahrscheinlich ist. Übrigens versäumt der Verf. nicht, 
auch alle die andern zahlreichen Schriftsteller anzuführen , die in 
Griechenland , von verschiedenen Schulen der Philosophie aus- 
gehend , auf diesem Gebiete der Staatswissenschaft oder der Po- 
litik sich versucht haben , da man kaum einen griechischen Phi- 
losophen finden wird , der nicht irgend eine Schrift über diesen 
Gegenstand hinterlassen, so wenig auch davon überhaupt auf un- 
sere Zeit gekommen ist. Dafs die meisten mehr den idealen Stand- 
punkt erfafsten, während ein Aristoteles mehr auf dem Boden der 
Wirklichkeit sich hielt, ist eine auch vom Verf. und mit Recht 
aufgenommene Behauptung, die sieh nicht schwer wird beweisen 
lassen; ein doppelter Grund, ein allgemeiner wie ein besonderer, 
wird vom Verf. namhaft gemacht , dem wir gerne beistimmen , 
wenn er gegen die Behauptungen eines Montesquieu auftritt, 
wornach Aristoteles nur aus Opposition gegen .Plato geschrieben, 
und sich durch Eifersucht gegen diesen und durch Vorliebe für 
Alexander habe verleiten lassen , oder gar ein niedriger Schmeich- 
ler und Höfling, ein Freund der Despotie gewesen. Es lührt 
dies zugleich auf die Behauptungen eines andern Philosophen 
neuester Zeit, neinlich auf das von Cousin (Cours d'histoire de la 
philosophie) über Aristoteles und dessen Politik zunächst gefällte 
Urtheil. Bei aller Anerkennung, die der Verf. dem Geiste und 
dem wobltbätigen Einflufs dieses Mannes auf die wissenschaft- 
liche, zunächst philosophische Richtung in Frankreich zollt (er 
nennt ihn S. XXXIV 1' hemme qui a exerce la plus haute et la 
plus salutaire influence sur le mouvement des etudes philosophi- 
ques de notre temps) , vermag er doch keineswegs dessen, auch 
nach unserer Überzeugung gänzlich schiefen und falschen, aus 
Mangel genauerer Kunde und Einsicht in die Schrillen des Ari- 
stoteles hervorgegangenen Urtheilen beizupflichten ; v er sieht sich 
vielmehr genothigt sie zu bestreiten, und namentlich die Irrlhü- 
mer nachzuweisen, die ebensosehr darin liegen, wenn z. B. die 
Politien (nicht die Politik) mit dem Esprit des iois von Montes- 
quieu zusammengestellt werden, was bei dem verschiedenen In- 
halte beider Werke ganz unstatthaft ist, als in der Behauptung, 
dafs Aristotes an die Spitze seines ganzen politischen Systems den 
Nutzen (l'utilite) gestellt, während es wahrhaftig keiner sehr tie- 
fen Studien bedurfte, um zu lernen, dafs Aristoteles die Politik 
für etwas ganz Anderes ansieht, dafs er sie vielmehr als die Wis- 
senschaft vom Staate betrachtet, die da lehrt, wie die Menschen 
durch den Staat zur Glückseligkeit und Wohlfahrt, die allein in 



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1108 Poliiique d Aristote par Barthdlcmj - St. - Milaire. 

der Tagend, und diese hinwiederum in der Gerechtigkeit bestehti 
gelangen können. Es bedurfte für den französischen Philosophen 
nur eines Blickes in die -doch wahrhaftig nicht tief eingehende 
Schrift von Räumer (Über die geschichtl. Entwicklang der Be- 
griffe von Recht, Staat und Politik; die erste Auflage 1826) — 
anderer gelehrten Erörterungen nicht zu gedenken, um sich dar- 

* über eines Bessern zu belehren and den Wahn , dafs Aristoteles 
in seinem politischen System die Nützlichkeit an die Spitze ge- - 
stellt, von sich abzuweisen. Bei dieser Gelegenheit berührt der 
Verf. dann auch einige andere Punkte , die zu einer gerechten 
"Würdigung des Aristoteles gehören, namentlich die Ansichten 
desselben über Sclaverei, die irrige Behauptung, die den Aristo- 

m teles zu einen Vertheidiger der Tyrannei macht oder zu einem 
Apologeten einer absolut monarchischen, despotischen Verfassung, 
da er vielmehr gleiche Theilnahme aller Bürger im Staat an allen 
politischen Angelegenheiten, also gleiche Ausübung politischer 
Rechte, wie wir dies jetzt nennen , lehrt, und deshalb selbst von 
neuern Lehrern des Staatsrechts, erklärten Anhängern einer un- 
umschränken Regierungsform getadelt und selbst einer demokra- 
tischen Richtung angeschuldigt worden ist. W T as in dieser Be- 
ziehung von dem Verf. recht gut weiter ausgeführt worden ist, 
können wir hier nicht wiederholen, wir können es nur andeuten 
und auf das Buch selbst verweisen, in welchem gerade das, was 
des Aristoteles Verdienst in der theoretischen Entwicklung staats- 
rechtlicher Formen und Verfassungen für seine Zeit wie für alle 
nachfolgenden, also auch für unsere geworden ist, treffend her- 
vorgehoben wird. Es' wird sifcb freilich Mancher unserer modernen 
Staatskünstler wundern, wenn er z. B. hört, dafs die in unserer 
Zeit, seit den ersten Erscheinungen der französischen Revolution 
so viel besprochene Scheidung der drei Gewalten im Staat, der 
gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen, schon von Ari- 
stoteles so gut als möglich erörtert und besprochen worden , dafs 
er zuerst mit Bestimmtheit die verschiedenen möglichen Staats- 
formen und Verfassungen unterschieden und dargestellt hat (vgl. 
z, B. die Note zu III, 5. §. 1. T. I. p. 246) u. s. w. 

Die Zeit der Abfassung der Politik fällt nach dem Vf. inner- 
halb der Jahre 33o — 3s3 vor Christas, etwa gegen das sechzig- 
ste Lebensjahr des Aristoteles , also nicht am 338 , wie Niebuhr 
annahm ; auch erklärt sich der Verf. entschieden gegen die Mei- 
nung , welche die Politik des Aristoteles, gleich anderen Schrif- 
ten desselben Philosophen, aas der Vereinigung verschiedener, 



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Politique d'ArUtute |>ar Barthdlcroj -St. - Hilairc. 1100 

ursprünglich getrennter und nachher zu Einem Ganzen zusam- 
mengefügter Theile entstehen läfst , da er vielmehr die Politik, 
zumal in der von ihm vorgeschlagenen Ordnung der einzelnen 
Bücher, worauf wir weiter unten zurückkommen müssen, für ein 
durch und durch vollständiges und ungeachtet einzelner Digres- 
sionen wohl in seinen einzelnen Theilen zusammenhängendes, im 
Geiste des Aristoteles gedachtes und von ihm auch ausgeführtes 
Ganze erklärt, wie es auch allein von dem streng systematischen 
Geiste dieses Mannes sich erwarten liefs. Auch sind die Eigen- 
schaften des Styls ( v extremement concis, serre , nerveux, logi- 
que«) gut hervorgehoben, sowie die ausgezeichnete Methode 
und die streng systematische Behandlungsweise des Gegenstandes, 
obwohl bekanntermafsen eben diese Form mehrfach Veranlassung 
zu ungerechtem Tadel , gegen welchen Aristoteles mit Recht hier 
in Schutz genommen wird , gegeben hat. 

Wir übergehen , was der Vf. S. LVIII fl. über die mit Be- 
zug auf die Erzählungen des Strabo und Plutarch und die ,zum 
Theil widersprechenden Angaben des Athenäus auch bei uns viel 
besprochene Frage über die nächsten Schicksale der Aristoteli- 
schen Schriften nach dem Tode ihres Urhebers bemerkt; glauben 
indefs, dafs er Becht hat, wenn er (vgl. S. 1 AX ff.) die Politik 
nicht zu denjenigen Schriften rechnet, welche noch zu Lebzeiten 
des Aristoteles in Umlauf kamen, da diese Schrift, iür die aus- 
gezeichneteren Schüler und Anhänger des grofsen Philosophen 
ihrem Inhalt nach bestimmt, keineswegs zu den exoterischen zu 
zählen ist, da sie muthmafslich durch Aristoteles selbst nach 
Chalcis -gebracht und dort als Erbtheil dem Theophrastus zuge- 
fallen ist. Auch scheint es nicht, dafs Polvbius eine Henntnifs 
dieses Werkes hatte, das später so allgemein bekannt und ver- 
breitet wurde , von dem sich vielfach bei späteren Schriftstellern 
bis auf Beda und Eustathius herab (wie hier nachgewiesen wird) 
einzelne Spuren vorfinden j nur bei deu Arabern ist bis jetzt 
Nichts aufgefunden worden. Dagegen tritt uns aus der zweiten 
Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts eine selbst in kritischer Hin- 
sicht nicht unwichtige Erscheinung Vntgegen in der wörtlich, ja 
buchstäblich gemachten lateinischen Übersetzung des Dominika- 
ners Wilhelm von Brabant oder Moerbeka , welche der Vf. nach 
einer Notiz in einer in der Bibliothek de l'Arsenal zu Paris davon 
befindlichen Handschrift spätestens dem Jahre 1271 glaubt zuwei- 
sen zu können. (Auf diese Weise werden die Angaben bei Jour- 
dain: Forschungen über Alter und Ursprung der lat. Übers, des 



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1110 Politiqae d'Ariatete par Barthelciny - St - Hilaire 



Aristoteles l p. 66. 68 ff. der deutsch. Übers, vervollständigt.) 
Um diese Zeit also besafs man im Occident die Politik des Ari- 
stoteles, und nach dieser lateinischen Übersetzung gaben Albertus 
Magnus, durch den überhaupt das Ganze Aristotelischer Lehre 
zueist näher dem Abendlaadc bekannt wurde, sowie sein Schuler 
Thomas von Aquinum ihre Darstellungen oder Analysen der Ari- 
stotelischen Politik. Die F'olgen dieses wiedererweckteu Studiums 
der Aristotelischen Philosophie zeigten sich in mehrern Erschei- 
nungen, unter denen der Verf. die um 1370 auf Veranlassung 
Marls V. vun Frankreich durch Nicolaus Oresme nach der genann- 
ten lateinischen Übersetzung gemachte französische Übersetzung, 
von welcher das Aotographuni , so wie mehrere Copieen noch 
vorhanden sind , mit Hecht hervorhebt. An diese schliefen sich 
andere Ubersetzungen und die verschiedenen Ausgaben des grie- 
chischen Textes, womit seit ».'np Aldus den Anfang gemacht 
hatte ; der Verf. fuhrt sie der Reihe nach auf , bis auf die neue- 
ste Berliner, an der es ihm autfallt, dafs man bei der Umgestal- 
tung des Textes nicht auch die lateinische Übersetzung umge- 
schmolzen, dafs man namentlich bei der Politik die Überfettung des 
Lambinus, die doch keineswegs die beste sey und weit unter der 
des Sepulveda und Ramus siehe, wieder habe abdrucken lassen. 
Auch die Specialausgaben der Politik werden auf gleiche Weise 
im Einzelnen durebgangen und die Leistungen der einzelnen Her- 
ausgeber gewürdigt , bis auf Schneider , Corai und Gotting herab; 
sein Urlheil über die beiden ersten Männer, namentlich was ihre 
kritischen Leistungen betrifft, ihre allzu kühne und dadurch oft 
ganz willkübrliclie Behandlung des Textes in Aufnahme unnüthi- 
gcr Veränderungen und dgl. m. werden auch deutsche Philologen 
anerkennen, um so mehr, als der Verf. bereit isl, überall das 
von Andern, namentlich deutschen Gelehrten Geleistete, dankbar 
anzuerkennen, und dies auch in seinem Urtbeil über Göltling's 
Ausgabe beweist , die er als die beste bezeichnet und ihr den 
Vorzug vor ollen früheren zuerkennt, dessen Noten er ein aus- 
gezeichnetes Lob ertheilt (S. CX1V) , wenn er auch gleich in 
einigen Punkten, wie z. B. die oben berührte Zeit der Abfassung 
der Politik anderer Ansicht ist. Nicht minder gerecht wird man 
das Urtheil über den in der Berliner Gesammtausgabe des Ari- 
stoteles gelieferten Text der Politik finden; der Vf. zeigt nemlich, 
dafs auch hier dasselbe Verfahren stattgefunden, das wir bei Plato 
und anderwärts beobachtet finden , dafs nämlich die zahlreichen 
Pariser und italienischen Handschriften, die zu /diesem' Texte be- 



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Politique d' A riatolc par Hart helein v - St. - Hilairc. 1111 

nutzt scvn sollen, nur an ein and der andern Stelle eingesehen 
und benutzt, dafs unter den Hnndschriften der Pariser Bibliothek 
nur eine einzige vollständig verglichen worden > mithin die kriti- 
sche Behandlung keineswegs durchaus sicher und vollständig ist, 
eine neue Collation dieser Manuscripte daher nothwendig wird, 
wie solche auch bei den Pariser Manuscripten von dem Verf. 
unternommen worden ist. 

An die Aufzählung der Ausgaben und Bearbeitungen des Tex- 
tes schliefst sich die- Reihe der lateinischen Übersetzungen von 
der oben erwähnten des Wilhelm von Brabant an, aus dem Jahre 
1271 5 Sepulveda's Übersetzung vom Jahre 1548 hält der Verf. 
für die beste, und zieht sie daher der des Larabinus vor, deren 
Klarheit und Verständlichkeit er übrigens anerkennt, wenn er sie 
auch gleich als zu gedehnt betrachtet (eile est longue, diffuse et 
arrive quelquefois jusqu' ä la paraphrase); dann folgen weiter die 
verschiedenen in Frankreich, Italien, Deutschland, England und 
Spanien erschienenen Übersetzungen, woran sich noch ein beur- 
teilendes Verzeichnifs der verschiedenen Erläuterungsschriften 
der Politik zur Vollständigkeit des Ganzen anschliefst. 

Mit S. CXLI bis S. CLXXI ist eine ausführliche Untersuchung 
eingeleitet, welche die bisherige Ordnung und Folge der acht 
Bücher der Politik einer Prüfung unterwirft, welche in ihren 
Resultaten zu einer von der bisherigen ganz verschiedenen Ord- 
nung und Folge der einzelnen Bücher geführt hat. Mit Ausnahme 
von zwei älteren Gelehrten, Scaino und Conring, hatten die Mei- 
sten , welche mit der Politik sich beschäftigten , die Frage nach 
der Ordnung und Folge der einzelnen Bücher wenig berücksich- 
tigt, Göttling aber für die Beibehaltung der herkömmlichen Ord- 
nung sich ausgesprochen. Unser Verf. verwirft diese Ordnung, 
die er als unlogisch betrachtet, deren Beibehaltung aber den 
Schein der Mangelhaftigkeit und UnVollständigkeit auf das Werk 
worfe, während die von ihm vorgeschlagene Umstellung der Bü- 
cher das Ganze in seinem wahren Zusammenhang, in seit et' wah- 
ren Präcision und Consequenz, in seiner volligen inneren Über- 
einstimmung und Abgeschlossenheit erscheinen lasse. Er glaubt 
nämlich aus einer näheren Betrachtung des Inhalts der ein/einen 
Bücher und des Ganges der Darstellung nachweisen zu können, 
wie der im dritten Buch behandelte Gegenwand dann unmittel- 
bar in dem bisherigen siebenten und achten fortgebet werde ; 
an das bisherige vierte Buch aber zunächst das sechste sich 
anscbliefse, so dafs wir demnach folgende, von dem Verf. als 

— 

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1112 Politique d'Afiitote per Barthe"lemy - St. -Hilairc. 

allein für richtig gehaltene Anordnung und Stellung der einzelnen 
Bucher gewinnen: I. II. III. VII. VIII. IV. VI. V. Wir begnü- 
gen uns, dieses Resultat hier mitzutheilen , ohne auf eine genaue 
Prüfung uns einzulassen, die wir dem Studium Derer, die sich 
speciell mit dieser Schrift des Aristoteles beschäftigen , uberlassen 
müssen; wir bemerken nur noch, dafs der Verf. in dieser Bear- 
beitung der Politik diese Anordnung, durch die ihm das Ganze 
allein in seinem logischen und methodischen Charakter wie in sei- 
ner wahren Vollständigkeit erscheint, wirklich befolgt hat Dafs 
der Verf. für seine Behauptung nicht blos specielle Beweise bei- 
bringt, sondern auch im Allgemeinen an die Schicksale der Ari- 
stotelischen Schriften erinnert, bedarf wohl kaum einer Bemer- 
kung; er ist auch der Ansicht, dafs die gegenwärtige Eintheilung 
der Politik in acht Bucher , die schon am Ende des zweiten Jahr- 
hunderts nach Cbristiis bei Diogenes von Laerte sich findet, nicht 
von Aristoteles herrühre, wohl aber von Andronicus aus Rhodus. 

Es bleibt uns nun noch übrig, von den Hülfsmitteln des Vfs. 
und seinen eigenen Leistungen in Bezug auf Kritik und Erklärung 
des Textes zu reden. Unter den Hülfsmitteln erscheint vor Al- 
lem die genaue Collation von eilf Handschriften , welche die kön. 
Bibliothek zu Paris darbot; ferner die Benutzung anderer, von 
früheren Herausgebern schon verglichenen Handschriften , dann 
die genauere Vergleichung der Editio prineeps sowie der übrigen 
älteren Ausgaben, die in kritischer Hinsicht von Belang sind, der 
alten lateinischen und franzosischen Übersetzungen u.s.w. , w orüber 
von S. CLXXIII an genauere Nachrichten sich finden und gele- 
gentlich auch den Leistungen eines gelehrten Deutschen die ver- 
diente Anerkennung zu Theil wird (»Mr Haenel, schreibt der Vf. 
in einer Note S. CLXXX, nous a rendu 1'imraense service de nous 
rclever le premier Ies richesses du nos bibliotheques depaitcmen- 
tales. II est triste que ce soit ä un ctranger que nous devions 
avoir cette Obligation«). Die kritischen Grundsätze, die der Vf. 
aufstellt, und die er bei der Behandlung des Textes angewendet 
und befolgt hat, sind von der Art, dafs sie nur beifällig aufge- 
nommen werden können ; und wenn er in dieser Hinsicht nicht 
dem Beispiel eines Schneider und Corai gefolgt ist, so wird man 
die grüfseie Vorsicht in Behandlung des Textes, die grofsere 
Rücksicht auf die Autorität der Handschriften , die von kühneren 
und meistens unnöthigen Änderungen des Textes fern hielt, nur 
billigen können. Das Gleiche gilt von der Übersetzung; Letron- 



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Politique d'Aristote par Barthdlemy-St. - Hilaire. IIIS 



ne's Worte, gelegentlich bei der Beurtbeilung einer von Paul 
Courrier ausgegebenen Probe einer Übersetzung des Herodotus 
(die wir als ein Meisterwerk betrachten) ausgesprochen: »le der- 
nier effbrt d'un traducteur est de rendre les idees de son auteur 
avec exactitude, f de conserver avec soin fenergie de son expres- 
sion et la tournure particuliere qu'il donne a sa pcnsee« haben 
den Verf. geleitet und sein Bestrebe:» besonders dahin gerichtet, 
in seiner Übersetzung den eigenthümlichen Charakter des Aristo- 
teles , die ihm eigentümliche logische Entwicklung des Gegen- 
standes (was man gerade in den drei in den Tier letzten Decen- 
nien in Frankreich erschienenen Übersetzungen ganz vermifst) 
getreu wiederzugeben und so auch in der Nachbildung den be- 
wundernswürdigen Geist des alten Philosophen erkennen zu las- 
sen. Und soweit ein Deutscher über eine französische Übersetzung 
urtheilen kann, haben wir auch dies bei vorliegendem Werke 
durchaus bewährt gefunden. 

Die Einrichtung der Ausgabe selbst ist folgende. • Auf der 
einen Seite steht der griechische Text , auf der andern gegenüber 1 
die franzosische Übersetzung ; unter dem Text auf beiden Seiten 
die Noten, und zwischen diesen und dem griechischen Texte die 
Varianten der verschiedenen vom Herausgeber benutzten Codd. 
und Editt. Die Noten, in franzosischer Sprache abgefafst, ent- 
halten nicht sowohl kritische oder grammatische oder sprachliche 
Bemerkungen, mit denen wir jetzt in Deutschland bei jeder Aus- 
gabe so reichlich versorgt werden; sie betrachten mehr die Sache 
und den Inhalt, ohne jedoch hier auf Vollständigkeit , oder auf 
das, was wir einen vollständigen Commentar nennen, Anspruch 
zu machen ; daher denn auch nicht selten die Ansichten neuerer 
Philosophen und Staatsrechtslehrer , eines Hobbes, Macchiavelli 
(dem die Aristotelische Politik, zunächst wohl das fünfte Buch, 
die Veranlassung zu seinem Principe gab, vgl. T. I. p. CLXXXIV), 
eines Hugo Grotius , eines Spinoza , eines Montesquieu und Rous- 
seau (vgl. z. B. T. II. p. n3) mit den Lehren des alten Stagiri- 
ten zusammengestellt und verglichen werden. Es ist dies eine ' 
Seite des Werkes, auf die wir darum um so mehr aufmerksam 
machen, weil man bei uns, in der vorherrschenden Richtung auf 
Kritik und Sprache, gerade diese Seite der Erklärung, diq wahr- 
haftig bei einem solchen Werke , wie bei so manchen ähnlichen, 
kein geringeres Interesse darbietet, nur zo sehr vernachlässigt, 
und selbst Philologen findet, die, wenn sie nicht lauter gramma- 



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1114 Politiquc d'Aristotc par Bartlic'leiuv - St. - Hilairc 



tische und kritische Bemerkungen finden , ein Jammergeschrei er- 
. heben und Alles Andere für unnütze und werthlose Spreu betrach- 
ten; eine Ansicht, die um so verkehrter ist, je nachtheiliger sie 
auf das Studium der classischen Werke des Alterthums im All- 
gemeinen einwirkt und diese selbst in einer Zeit, die nur zu gern 
aller ernsteren und solideren Bestrebungen sich zu entziehen sucht, 
in Milser edit zu bringen droht. Der letzte und höchste Zweck 
classischer Studien besteht doch nicht in der Kunde grammati- 
scher Formen, so nothwendig und unentbehrlich diese auch in 
andern Beziehungen gewifs sind, oder in einer kritischen Sylben- 
•techerei; er erstreckt sich nicht blos Ober die Form im Allge- 
meinen, sondern auch über den Inhalt der Alten ; und diesen un- 
srer Zeit näher zu bringen , mit diesen unsere Zeit immer mehr 
zu bfreunden, sollte vor Allem Pili cht Derer seyn, die ihr Le- 
bensberuf zunächst zu den Alten und deren Schritten geführt hat. 
Bei den Schriften des Aristoteles, bei der Politik tritt diese An- 
forderung ganz besonders hervor; denn sie ist gewifs geeignet, in 
einer Zeit und in einem Lande, wo seit bald einem halben Jahr- 
hundert die verworrensten und ungesundesten Begriffe im Gebiet 
der Politik sich geltend zu raachen gesucht haben und der ge- 
wünschte Stillstand noch keineswegs eingetreten zu seyn scheint, 
richtigere Ansichten auf diesem Felde zu verbreiten und zu einer 
ruhigeren Prüfung der Zustände der Gegenwart, sowie zu einer 
gerechteren Würdigung der Vergangenheit zu veranlassen, da- 
durch aber zugleich den hohen Werth gründlicher Studien des 
Alterthums in seinem vollen Lichte erkennen zu lassen. Dies 
Letztere insbesondere mochten wir für unser Nachbarland sogat 
wie für unser Vaterland wünschen ; und darum empfehlen wir 
auch, was der Vf. am Schlüsse seiner Vorrede über den geisti- 
gen Einflufs des Aristoteles auf die oben schon zum Theil ge- 
nannten Philosophen und Staatsrechtslehrer neuerer Zeit bemerkt, ' 
Er hätte auch in dieser Beziehung das gewichtige Unheil des 
Ruhnkerius in der Oratio de Graecia etc. (Opuscc. pag. 89 ed. 
Lugdun. Batav. 1807) noch beilügen können. 

Die typographische Ausfuhrung ist in jeder Hinsicht vorzug- 
lich zu nennen. Der \(, gedenkt, wenn sein Unternehmen, wie 
wir nicht anders erwarten, Beifall findet, nun an eine ähnliche 
Bearbeitung der Logik zu schreiten. 

Genaue Register am Ende des zweiten Bandes fehlen nicht, 
zuerst ein alphabetisches Verzeichnifs der in dem Werke ange- 



< 



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Portal : Des conleurs evitiboliquc«. 1U5 

führten Autoren, dann eine Liste aller Ausgaben, Übersetzungen 
und Manuscripte, ein alphabetisches Register über die bedeuten- 
deren griechischen Wörter and ein gleiches über den Inhalt des 
"Werkes wie der Noten (Table generale des mal i eres). 

Chr. Bahr. 



De» couleurs »ymbolique» dan» VantiquiU, le moyen age et le» tcmpt 

modernes par Fridcric Portal. Paria. Treuttel et H'ürtz , librai- 
rc», rue de Lille nr. 17. 18S7 312 S. in 8. 

Es dürfte schon die Anführung des Titels genügen , um auf 
eine Schrift aufmerksam zu machen, die sich mit einer so*schwie- 
rigen und umfassenden Aufgabe, wie die der Symbolik der Fal- 
ben, d. h. der symbolischen* Anwendung der Farben, um durch 
sie religiöse Begriffe nnd Ideen zu veranschaulichen, beschäftigt, 
und bei der genialen Auffassung*- und Behandlungsweise auch 
diese Beachtung gewifs verdient. Dafs der Verf. diesen umfas- 
senden, auch in diesem seinem Umfang noch nirgends in neuerer 
Zeit eigens behandelten Gegenstand nicht erschöpfen konnte noch 
wollte, dafs er nur einen Versuch, einen Beitrag zu weiterer 
Aufhellung liefern wollte, bemerkt er selbst, da er wohl selbst' 
am besten die Schwierigkeiten und den Umfang dieser Aufgabe 
erfahren mochte, deren Losung, wie er sich schmeichelt, viel- 
leicht dazu beitragen könnte, die Hieroglyphen Aegyptens zu ent- 
ziffern und den Schleier der Mysterien des Alterthums zu lüften. 
»Je ne me flatte pas, setzt er dann hinzu, davoir atteint le but 
dans ces recherches; ma seute ambition a ete de fixer l'attention 
des savans sur le point le plus neglige et Tun des plus curieuz 
de l'archeologie. c Und dafs sein Buch dazu geeignet ist, wird 
Jeder gewifs gern anerkennen , selbst wenn man nicht immer im 
Stande seyn sollte, der kühnen, in den auffallendsten Com Inflatio- 
nen glänzenden Phantasie des Vfs. oder seiner genialen, oft viel- 
leicht zu idealistischen Auffassungsweise zu folgen, da er, um die 
Einheit und den innern Zusammenhang seines Systems , das in der 
symbolischen Anwendung der Farben aller Zeiten und aller Reli- 
gionen, des Heidenthums, Judenthums und Christenthums, überall 
gieichmafsig nachgewiesen werden soll, zu begründen, auf eine 
pbantasiereiche, aber daher auch Vorsicht gebietende Weise Alles 
geschickt miteinander zu verbinden sucht, um so allerdings auch in 



0 

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1116 



Portal: Dca couleon •ymboliquei. 



der symbolischen Anwendung der Farben einen Zusammenhang 
religiöser Anschauungen herauszubringen, zu dem eine minder 
kühne Phantasie, eine nüchterne, besonnene Forschung nicht so 
bald gelangen durfte. Denn der ruhige Forscher durfte wohl 
hier und dort die positive Grundlage vermissen, es dürfte ihn 
oft schwindeln, wenn er den Abgrund und die Klüfte erblickt, 
über welche ihn kühnen Fluges die Phantasie des Verfs. hinweg- 
fuhrt, Altes und Neues, Heidnisches, Judisches und Christliches 
in einer gewaltigen , innig geschlossenen Kette religiöser An- 
schauungen , die in gewissen Symbolen der Farben gleichmäfsig 
uberall wiederkehren , mit einander verbindend. 

Den speciellen Nachweis davon zu liefern, wurde die Grä'nze 
dieser Anzeige überschreiten, und uns zu einem Detail fuhren, 
das leicht selbst zu einem Buch anschwellen konnte ; um so mehr 
aber wird es uns dann nothig se^n, wenigstens die leitenden 
Grundsätze und den Ideengang des Vfs. im Allgemeinen zu be- 
zeichnen, und damit den, der an diesen Forschungen näheren 
Antheil nimmt, zu genauerer Prüfung des Einzelnen aufzufordern. 

Unter den Grundsätzen, die der Verf. an die Spitze seines 
Buchs gestellt hat, finden wir insbesondere folgende, die uns 
zugleich von seinem System und von der Anwendung desselben 
einen Begriff geben können. Die Farben , sagt der Vf. , hatten 
dieselbe Bedeutung bei allen Völkern des hohen Alterthums; diese 
Gleichförmigkeit verrnlh einen gemeinsamen Ursprung, der sich 
an die Wiege der Menschheit knüpft und am stärksten in der 
Religion Persiens hervortritt. In dem Dualismus von Licht und 
Finsternifs zeigen sich uns die beiden Grundtypen der Farben, 
welche zu Symbolen des guten und des bösen Princips werden. 
Das Alterthum kannte nur diese beiden Grundfarben (couleurs 
primitives), Weifs und Schwarz; alle andern Farben leiten sich 
davon ab. ebenso wie alle Gottheiten des Heidenthums Emana- 
tionen des guten oder des bösen Princips sind. Die Sprache der 
Farben, innig verbunden mit den religiösen Anschauungen, geht 
nach Indien wie nach China und Aegypten , sie geht nach Grie- 
chenland wie nach Rom, sie erscheint im Mittelalter wieder und 
die Glasfenster der gothischen Dome finden ihre Erklärung in den 
Zendbüchern, in den VeüYs und in den Malereien ägyptischer 
Tempel. — Die Identität der Symbole setzt eine Identität des 
Glaubens (ndentite des croyances primitives) voraus ; in dem Gra- 
de , als eine Religion sich voo ihrem Princip entfernt , sich de- 

> » 

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Portal: »an« coulcart tymboliquei. 111? 

gradirt und materialisirt , verglfst sie die Bedeutung der Farben, 
and diese mysteriöse Sprache erscheint wieder lebendig mit der 
religiösen Wahrheit. Jemehr man sich dem Ursprünge der Rcli. 
gionen zuwendet, je mehr die Wahrheit frei erscheint von der 
unreinen Verbindung menschlichen Aberglaubens, desto glänzen- 
der erscheint sie in Iran, dem Vaterlande der ersten Menschen 

U. S.W. I 

Die Symbolik der Farben ist weiter dem Vf. eine Sprache, 
die zu dem Menschen spricht, und zwar in dreifacher W 7 eise; er 
unterscheidet daher langue divine, langue sacrec und langue pro- 
fane, und nach dieser Unterscheidung hat er nun die einzelnen 
Farben durchgangen und ihre symbolische Bedeutung oder An- 
wendung in jeder dieser Beziehungen oder Sprachen entwickelt. 
Was nun die Farben selbst betrifft, so erkennt die Symbolik 
(anders freilich als die Physik) nur zwei Grundfarben an : die 
Farbe des Lichts — das Weifs — und die Farbe der Finster- 
nifs — das Schwarz; dieses die vollige Negation des Ersteren, 
aus dem und um dasselbe alle andern Farben, als Modificationen 
der darin liegenden und ausgeprägten Idee, sich bilden. , So han- 
delt also der Vf. zuerst von dem Weifs in der bemerkten drei- 
fachen Beziehung und Anwendung, als langue divine, langue sa- 
cree und langue profane; dann in gleicher Weise vom Gelb nach 
derselben dreifachen Abtbeilung, ebenso vom Roth und Blau; 
dann vom Schwarz, wo freilich diese drei Abtheilungen weg- 
fallen, die bei dem Grün wieder vorkommen. Daran schiiefsen 
sich dann verschiedene, aus der Zusammensetzung dieser Farben 
hervorgehende Nuancen, wie die Farbe der Rose, des Purpurs, 
Hyacinth und Scharlach, das Violett, Orange, die Lobfarbe, und 
das Grau. 

Da wir hier unmöglich in das Detail aller einzelnen Deutun- 
gen eingehen können , so wollen wir doch wenigstens einige Pro- 
ben der Art und Weise , wie der Verf. die Bedeutung der Far- 
ben auffafst , vorlegen , obne uns weiter in eine Prüfung oder 
Kritik, die uns zu weit führen wurde, einzulassen, da wir, wie 
bemerkt, mit unserer Anzeige uur den Zweck verbinden, auf * 
eine merkwürdige Erscheinung aufmerksam zu machen, die, man 
mag auch über das Einzelne urtheilen wir man will , unter den 
genialen Productionen unserer Zeit gewifs eine Stelle einnimmt. 

Wir schlagen z. B. auf S. 28. 29 : » Das Rothe ist das Sym- 
bol der zärtlichen Liebe, das Weifs das Symbol der göttlichen 



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1118 Portal: Da im cool cor. »vmboliqnes. 

Weisheit Aus beiden Attributen Gottes, aas der Liebe and aas 
der Weisheit, emanirt die Schöpfung des Unirersums. Die Far- 
ben zweiter Classe (les eouleurs secondaires) stellen die verschie- 
denen Verbindungen dieser beiden Principien dar. Das Gelbe 
emanirt von dem Roth und Weifs, es ist das Symbol der Offen- 
barung der Liebe und Weisheit Gottes. Das Blau emanirt eben 
so aus Roth und Weifs; es bezeichnet die gottliche Weisheit, 
wie sie durch das Leben, durch den Geist oder Hauch Gottes 
lieh mnnifestirt; es ist das Symbol des Geistes der Wahrheit. 
Das GrSn ist gebildet durch die Vereinigung des Gelben und 
Blauen; es zeigt die Manifestation der Weisheit und Liebe in 
dem Act; es wsr das Symbol der Liebe und der Wiedergeburt 
der Seele durch die Werke u. s. w. 

Oder S. 60 am Schlüsse des Abschnittes über das Weifs. 
»Das Weifs, als Symbol der Gottheit und des Priesterthums, stellt 
die göttliche Weisheit dar; angewendet auf eine Jungfrau die 
Jungfräulichkeit, auf einen Angeklagten die Unschuld, auf einen 
Richter die Gerechtigkeit, als charakteristisches Zeichen der Rein- 
heit; man erblickt weiter darin ein Versprechen der Aussicht 
nach dem Tode; entgegengesetzt dem Schwarzen, als dem Em- 
blem der Finsternifs, des Schmerzes und der Angst ist das Weifs 
die festliche Farbe, mit der der römische Gast sich schmückt.« 

Oder S. 63 der Abschnitt über das Gelb, den der Verf. 
mit den Anfangsworten des Evangeliums Johannis beginnt, und 
dann also fortfahrt : v Dieses himmlische Licht , den Menschen 
geoflenbart, fand sein natürliches Symbol in dem Lichte, das 
über die Erde glänzt ; die Hitze und der Glanz der Sonne be- 
zeichneten die Liebe Gottes, die das Herz beseelt und die Weis- 
heit , welche die Einsicht erleuchtet. Diese beiden Attribute 
Gottes , Welche sich in der Schöpfung der Welt und in der Wie- 
dergeburt der Menschen manifestiren , erscheinen unzertrennlich 
in der Bedeutung der Sonne, des Goldes und des Gelben. Die 
göttliche Weisheit hatte das Weifs zum Symbol, wie die gott- 
liche Liebe das Roth; das vergoldete Gefb (Le jaane dort} ver- 
einigte diese beiden Bedeutungen und bildete davon nur eine 
einzige , aber mit dem Charakter der Manifestation und Offen- 
barung. — 1h der Bibel stellt die Sonne die göttliche Liebe 
dar, wenn sie dem Monde, dem Symbol der Weisheit, entgegen- 
gesetzt ist; ebenso verhält es sich mit dem Gold, das die Gute 
Gottes anzeigt, entgegengesetzt dem Silber, dem Emblem der ' 



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Portal': Dan« coulcors aymbolique«. 1119 

göttlichen Wahrheit. Die Sonne, das Gold und das Gelb sind 
nicht synonym , sondern sie bezeichnen verschiedene Grade , die 
zu bestimmen schwer ist. Die naturliche Sonne war das Symbol 
der geistigen Sonne, das Gold stellte die natürliche Sonne dar, 
und das Gelb war das Emblem des Goldes. Alle Religionen 
stutzen sich auf diese Symbole , welche die Basis ihrer Dogmen 
bilden. Am Anfang, sagten die Perser, war geschaffen das Wort 
durch die Vereinigung des Urfeuers mit dem Urwasser; Ormusd 
sprach es aus, und der Fürst der Finsternift war besiegt; ton 
dem heiligen Wort emonirt das Urlicht , das dann das sichtbare 
Licht, das Wasser und das Feuer, schafft. Honover ist das 
Wort; in seinem Wesen fällt es zusammen (il se confond) mit 
Ormusd , dem schaffenden Gott ; im zweiten Grad erscheint es 
unter der Form des Lebensbaumes Horn; endlich in seinem drit- 
ten Grad ist es der Verliundiger des Worts, und unter demsel- 
ben Namen Horn oder Homanes Stifter des Magismus unter dem 
grofsen Dschemschid. Mithras ist die priesterliche Personification 
dieses Dogma. Die esoterische Lehre sah in ihm die dem Dua- 
lismus des Ormusd und Ahriman vorausgehende Einheit; er war 
der Ewige selbst, Zeruane Akerene, während der Volksglaube 
ihn mit der Sonne, seinem Symbol, zu identificiren strebte. Mi- 
thras ist der göttliche Gedanke, das gottliche Wort, geoffenbart 
den Bewohnern Persiens ; Quell alles Lichts; das Gold und die 
gelbe Farbe sind seine Attribute, wie die des Apollo u. s. w. 

Wir haben absichtlich diese längere Stelle ausgehoben, um 
von der ganzen Darstellungs- und Auffassungsweise des Verfs. 
unsern Lesero einen Begriff zu geben; wir konnten noch Man- 
ches der Art beifugen, wenn wir in dieser Beziehung nicht lie- 
ber auf das Buch selbst verweisen wollten. So z. B. bei dem 
Abschnitt über das Schwarz, welcher mit folgenden Worten 
beginnt : 

Das Weifs ist das Symbol der absoluten Wahrheit; das 
Schwarz mufste das des Irrthums, des Nichtigen, dessen, was 
nicht ist, seyn. Gott allein besitzt die Existenz in sich; die 
Welt ist eine Emanation seines Gedankens; das Weifs ist der 
Reflex aller Lichtstrahlen, das Schwarz die Negation des Lichts; 
es ward zugeschrieben dem Urheber alles Übels und aller Falsch, 
beit (es ist also Symbol Alles dessen , was bose und falsch ist) 
u. s. w. Und dazu wird in der Note bemerkt : Die Symbolik der 
Farben erkennt ein doppeltes Schwarz , das eine entgegengesetzt 



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1120 Portal: Dans couleam «jmboliquer ' 

dem Wcifs, d. b. der gottlichen Wahrheit ; das andere entgegen- 
gesetzt dem Roth, oder der gottlichen Liehe; die Malerei stellt 
das letztere dar durch das lohfarbige Roth (la couleur tannee 
ou rouge sombre).« — 

Am Schlüsse des Ganzen findet sich noch von S. 2O7 AT. an 
ein Resumc , und auf den drei letzten Seiten eine Conclusion, 
aus der wir noch eine Steile aasheben wollen : 

Die Bedeutung der symbolischen Farben ist eine und die- 
selbe bei allen Völkern und zu allen Zeiten. — Die Religion 
und die Bedeutung der Farben befolgen einen gleichen Gang , die 
eine ist der Ausdruck der andern. — Es ist demnach wahr, dafs 
die Symbolik eine Sprache war und dafs ihr Ursprung nicht 
menschlich war; dafs der Mensch, weit entfernt sie zu schaflen 
und rein zu uberliefern, ihr das Siegel der Entartung aufdruckte. 
Was lehrte sie nun ? Der Gott des Moses war der der Pharao- 
nen, der Brahmanen und Cnaldäer; er schuf den Menschen für 
das Glück und der Mensch verliefs die Bahn, die ihm gezeich- 
net war, um in das Übel zu fallen. Von nun an ward die Er- 
lösung der Welt allgemeiner Glaube ; der Christianism , erwartet 
oder geoflfenbart , war der Mittelpunkt aller Culte, vor wie nach 
der Erscheinung Gottes auf der Erde. Der nothwendige Schtufii 
"davon ist,. dafs der Christianism die Folge und das Band aller 
Religionen ist, dafs durch seine göttliche Handlung alle sich ver- 
binden in eine Gesellschaft von Brüdern (communaute fraternelle) 
und, beibehaltend die verschiedenen äusseren Formen, das Licht 
empfangen , das von der ewigen Wahrheit ausliefst. « 

Chr. Bahr. 



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/ 

N°.7I. HEIDELBERGER 1837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

^— — - — — — 

ÜBERSICHTEN und KURZE ANZEIGEN. 



M E D I C I X. 

Dr. G. Blumröder , über das Irreseyn, oder anthropologisch - psychiatri- 
sche Grundtätze. Leipzig, bei lligand. 1836. VI u. 384 & 8. 

Dr. Friedr Bird, Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, 
zum Gebrauche für praktische Ärzte entworfen. Berlin, Reimer. 1836. 
VVVu. 413 \. 

Franz Amelung und Friedr. Bird, Beiträge zur Lehre von den Geistes- 
krankheiten. Zweiter Band. Darmstadt und Leipzig , Leske. 1836. 
VI u. 366 S. 

Gaitskell , Über Ursachen, Symptome und Behandlung dßr Geisteszer- 
rüttung; aus d. Engl, frei übersetzt und mit Zusätzen von IV. Har- 
nisch. Weimar 1837. Voigt. IV u. 140 S. 

Dr, J. Mich. Leupoldt, Lehibuch der Psychiatrie. Leipzig, Vofs. 1837. 
Will u . 363. 

Dr. Friedr. Aug. Bit gen, Leitfaden für die Erkenntnifs und die Behand- 
lung der Persönlichkeitskrankheiten. Er$ter Band. Giefsen 1837, bei 
Bicker. XV Hl u. 433 Ä 

Dr. C. Ph. Moller, Anthropologischer Beitrag zur Erfahrung der psy- 
chischen Krankheiten oder der Standpunkt der psychischen Medicin etc. 
Mainz 1837. Kupferberg. XXVlll u. 507 V 

■ 

J. K. IUI komme , Considerations sur la appreciation de la folie , sa loca- 
Usation et son traitement. Paris. Denille - cavellin. 1834. 82 S. 

J E. Belhomme , Suite des recherches sur la localisation de la folie. 
Paris. Germes - Bailiiere. 1836. 11)5 S. 

Fair et , Observations sur le projet de loi relatif aux alUnes. Paris 1837. 
84 Seiten- 

F. Lelut , Inductions sur la valeur des altcrations de l'enct'phale dans le 
delire aigu et dans la folie. Paris. Trinquart- 1836. III u. III .V. 

Dr. Fr. W. Hagen , Die Sinnestäuschungen in Bezug auf Psychologie, 
Heilkunde und Rechtspflege. Leipzig 1837. H'igand. XVI u. 348 8. 

Blumröder hat (damit der Leier um so besser die Tonart 
kennen lernt, aus der das obige Stück geht, will ich mir zuwei- 
len erlauben, mich des Vis. eigener Ausdrücke zu bedienen) die 
»Guerillaspolemik«, die er gegen Groos geführt hatte, aufgege- 
ben, und will nun hier in seinen »mit allen psychiatrischen Schrift- 
stellern im Widerspruch stehenden Grundsätzen« den grofsen 

XXX. Jahr ff . 11. Heft. ?! 



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1122 Mcdicin. 

t 

Krieg anfingen , um das Räthsel der Psychiatrie zu losen (Ein- 
leitung p. 16), welches Rä'thsels Wort in dem Gegensatz und der 
Vereinigung von »Ormuzd und Ariman«, zu deutsch: von Hirn 
und Blut, ausgesprochen wird. — Rathsei genug! — Dazu be- 
ginnt er mit seiner Einleitung, wo Griechen und Romer, Pan- 
theisten und Mystiker, Naturphilosopben und des Vfs. Podel bunt 
genug durcheinandergeworfen sind, an dessen guter Dressur, die 
selbst 9 dem lockenden Dufte und Anblick läufiger Hündinnen« 
widersteht, er, der »bundlichen freien Willen* im Vorbeigehen 
nachweist (p. i5). Diesem bunten Gemenge sind denn auch als 
ein paenus, qui late splendeat, einige chinesische und indische 
Worter eingeflickt. Suchen wir aus diesem Gemenge nun die 
Sätze heraus, welche die Grundlage des Ganzen bilden sollen, so 
sind das wohl folgende: (p. a) »dafs Gott und Natur in Eins zu- 
sammenfallt « , (p. 7) » dafs Daseyn und Materiellseyn eins und das- 
selbe ist«, (p. 11) »dafs Leben und Beseeltseyn dasselbe ist.« 
Trotz dem, dafs der Verf. (p. 1) sagt: »Ich bin gewarnt durch 
Tausende von Vorgängern, denen aus objektiv wissenschaftlichem 
Forschen subjektiv poetisches Träumen und Wähnen geworden« 
(wie kann objektiv wissenschaftliches Forschen subjektiv poeti- 
sches Träumen zum Resultate haben?! Ref.) hat der Vf. alle die 
oben ausgesprochenen Sätze eben als die Resultate seiner subjek- 
tiven Überzeugung hingestellt. Mit diesem Verwechseln der Be- 
griffe ist wahrlich das Räthsel nicht gelost. Die Gedanken aber, 
welche den obigen Begriflen zum Grunde liegen, sind verschie- 
den. Damit Ref., obgleich nicht so glucklich, durch 1000 Vor- 
ganger gewarnt zu seyn, nicht diese Behauptung blos so aus- 
spreche, mufs er kurz bemerken,, dafs unter Natur die Gesamt- 
heit dessen zu verstehen ist, dessen gemeinsame Eigenschaft die 
Raumerfullung ist, dafs aber Gott auch noch Unräumliches ist, 
dafs also diese Begriffe wie Theil und Ganzes sich verhalten; 
dafs Daseyn die Föhn der Thätigkeitsäusscrung in der Zeit und 
allen Wesen gemein ist, dafs Materiellseyn dagegen nur den Na- 
turwesen zukommt, dafs Beseeltseyn nur den Wesen zukommt, 
die beides sowohl Seele als Leih sind, Leben aber auch andern. 
Da diese Begriffe verschieden sind , so bedürfen wir dafür auch 
verschiedener Wörter zur Bezeichnung, es ist also gänzlich ver- 
kehrt , die durch die Sprache schon gegebenen verschiedenen Be- 
zeichnungen zu identificiren , ja es miifsten, wären keine verschie- 
denen Bezeichnungen da, solche erfunden und festgestellt werden. 
Der Vf. scheint durch den mifsverstandenen Gedanken, dafs alle 
Theilwesen in einem Ganzen enthalten sind, und dafs verschie- 
dene Eigenschaften an einem und demselben Wesen sind, zu je- 
ner Begriffs Verwechselung verleitet zu seyn. Die Tendenz, wel- 
che durch die ganze Schrift sich aus der buntscheckigen Dar- 
stellung erkennen läfst , den Menschen zuerst als ein Ganzes an- 
zusehen , in dem Seele und Leib als die höchsten organischen 
Tbeile enthalten sind, und der Ansicht, als sey der Mensch aus 
diesen zusammengesetzt, entgegenstrebt, ist lobenswert h , aber 



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Mtdicin. 1123 
* 

eben durch eine solche Verwechselang der Begriffe zur einseitig 
materialistischen Darstellung mifsrathen. Was würde der Verf. 
sagen, wenn man ihm sagen wollte: Bein und Mensch, oder Roth 
und Licht, oder Denken und Phantasie sey eins und dasselbe — 
weil das Bein ein Theii des Menschen, Roth eine Art des Lichts 
und Phantasie eine Art des Denkens ist ? j— 

Im ersten Kapitel p. 17 bis 43 wird — nach einem > Excur- 
sus« über Schiller, Göthe , über den wahren Dichter, der allein 
wahrhalt Mensch ist, und über die beste Weise zu küssen (p. 20) 
(risum teneatis amici!) — mit dem Menschen, den der Vf. gleich 
in der ersten Zeile der Einleitung » den Gott en miniature « ge- 
nannt hatte, ebenso verfahren, wie in der Einleitung mit Gott 
und Natur: »wie Gott und Natur Eins ist, so ist es auch des 
Menschen Leib und Seele.« Zuerst wird dies so bewiesen, p. 21 : 
»Man nimmt insgemein Seele als etwas Unhürperliches. Eine 
unkorperliche Substanz hat aber, wie in der Einleitung gezeigt (?) 
wurde, kein Daseyn. Diese unkorperliche Substanz, ein abstrak- 
ter Begriff, soll nun mit dem Leibe verbunden seyn 

was, wie ebenfalls gezeigt (?) wurde, unmöglich ist. — 

Da also ein Immaterielles mit einem Materiellen als verbunden 
durchaus nicht gedacht werden kann , so wird man zugeben müs- 
sen, entweder dafs Seele blos eine gedachte Abstraction, also 
Nichtdaseyendes ist, oder dafs das, was man Seele nennt, ein 
und dasselbe mit dem Körper seyn mufs. * Trotz der 1000 Vor- 
gänger doch eine solche bundige Schlufsfolge , welche auf den 
Beweisgrund hinausläuft, dafs das, was der Vf. bei dem derma- 
ligen Standpunkte seiner Ausbildung nicht denken kann, auch 
nicht seyn kann! Und welche Autorität führt der Vei f. an? — 
Heinroth! »das Sichtbare und Unsichtbare macht ein Ganzes aus, 
ist unzertrennlich nicht blos, sondern auch nicht verschie- 
denartig.« Und wenn es in nichts sonst verschiedenartig wäre, 
so ist es dies doch wenigstens darin, dafs das Eine geseh i*n wer- 
den kann und das Andere nicht. Und wefshalb führt der Verf. 
dies Gitat an? — weil es ihm wichtig scheint, »dafs selbst der 
apriorische spiritualistische Heinroth zur Annahme der untheil- 
baren Einheit des Menschen logisch (!) sich gezwungen sah.« 
Eine schone Logik, und gewifs unfelbar genug, um das, was sio 
nicht denken kann, als unmöglich zu beweisen! Zur weiteren 
Befestigung dieser Logik fuhrt der Verf. dann weiter in seiner 
herumhüpfenden Darstellungsweise den Einflufs des Saarn ens, des 
Essens und Trinkens auf das Denken an, und »wenn die Seele 
unkSrperlich ist, warum wird sie denn bis zur Verwirrtheit ängst- 
lich , wenn ein Floh im Stiefel herauskrabbelt und die Umstände 
es verbieten ihn zu fangen ? Beifst denn der Floh die Seele nicht 
ebenso, wie den Leib?« Der Verf. mufs sehr leicht verwirrt 
werden. Man konnte hier auf arge Vermuthungen kommen über 
die Umstände, unter denen das Buch geschrieben ist. Difücile 
est satyram non scriberc ! Doch zurück zur Sache. I*t deswe- 
gen, weil Seele und Leib des Menschen in organischer, d. b. ur- 



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11*4 Medicin. 

sprünglicher nicht zusammengesetzter Verbindung stehen, also 
der eine Theil durch den andern affictrt wird , alles Eins und 
dasselbe ? Ist Essen und Trinken und Saamencrgufs einerlei mit 
Denken i — Nach des Verfs. Ansicht raüfste man im Examen, 
statt Fragen vorzulegen, eine Bacchanalie halten, und sehen, 
wer dabei am meisten leistete. Doch p. 32 macht der Verf. sich 
selbst den Einwurf, »dafs bei Blödsinnigen niederer Grade und 
bei manchen Cretins ein sehr reger Geschlechtstrieb Statt findet« 
— » Dies ist aber nach dem Gesetze der Polarität zu erklären.« 

Und wo uns die Gedanken fehlen, da stellt ein Wort zur 
rechten Zeit sich ein, sagte der Dichter, dem der Vf. die Krone 
zuerkernt p. 29. 

Im zweiten Kapitel handelt der Vf. Tora Blut, was er auch 
Teufel , Ariman, Phosphnrus, Treiber, Verneiner, das ferneinende 
Princip nennt, und worin er Muth, Geschlechtstrieb. MonUast, 
überhaupt sinnliche Lust und Leidenschaft vorzugsweise begrün- 
det darstellt, in eben den possirlichen Ausdrucken, welche das 
Gepräge des grofsen, sich über die befangenen Ansichten des ge- 
sunden, besonnenen Benkens hinwegsetzenden Geistes haben sol- 
len, so z. B. pag. 55: »Im grofsen Gotte ist viel Humor, es ist 
ein Humor zum Todtlachen in der Natur. Der Ariman mochte 
vor Lachen bersten, wenn er so ein überschwengliches Mensch- 
lein überwältigt und über dessen sentimentale Lamentationen in 
acht teuflischer Lust sich ergötzt.« — pag. 5q: »Zeugen und 
Fressen ist des Blutgottls Centtifugalität und Centripelalilat «. 

Statt dafs andre Schriftsteller sagen: das Hirn bedarf zur 
Äusserung seiner eigentümlichen Lebensthatigkeit des Zu*tro- 
mens gesunden Blutes! sagt der Verf. in seiner, genialen Weise: 
» Der Teufel mufs zu Gott kommen , wenn Gott zu sich seJber 
kommen will « p. 48. Diese Ansicht zu belegen aber wird Schil- 
ler, Gothe, Jean Paul, Angelus Silesius , Jakob Böhme, Schubert, 
Krimer, Scheel, Dollinger, Burdach, Swan , Schultz, Shakspeare 
etc. citirt, irnd daneben auch Einiges aus eignen Beobachtungen 
angeführt. Was diese betrifft, so haben sich die Wundärzte für 
die Schmeichelei zu bedanken, die pag. 57 ihnen gesagt wird: 
v Welcher Ar/t, der einigermafsen bedeutende blutige Operatio- 
nen unternommen, mag die ganz eigentümliche Lust läugnen, 
welche man fühlt, wenn einem das Blut des Operirten so schon 
roth und wohlthuend warm über die Finger lauft? — Viele 
Operateurs versichern, dafs bei ihren ersten blutigsn Operationen, 
welche sie mit Schüchternheit und einiger Angst begannen , diese 
deprimirenden Gefühle gänzlich schwanden und zur Kühnheit und 
reinen Lust am Schneiden steigerten, sobald sie nur einmal Blut 
fliefsen sahen und fühlten. Ich selbst kann dieses Zeugnifs ge- 
ben. « — Zur Ehre der Wundärzte und des Vfs. mochte Bef. 
hiergegen bemerken; das unmittelbare Sehen und Fühlen des Blu- 
tes macht nicht dieses Gefühl , sondern das erhebende Gefühl 
kommt* von dem Bewufstseyn , die Schwierigkeiten der Operation 
zu überwinden; denn es findet aueb bei unblutigen Operationen 



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1 



Medicin 1125 

• 

z. B. Staaroperationön Statt, und nicht bei der Untersuchung ei- 
ner am Mutterblutflufs Leidenden. Die Schüchternheit vor der 
Operation verschwindet nicht durch das Blutfühlen und -sehen, 
sondern dadurch, dafs die ganze Aufmerksamheit des Wundarztes 
für die Operation in Anspruch genommen ist, so dafs er, in seine 
Arbeit vertieft, nicht Zeit hat, an etwas Anderes zu denken. 
Dasselbe ist z. B. bei einer Rede, einem Vortrage der Fall; vor- 
her Bangigkeit, wie es gehen wird, die in der Rede selbst ver- 
schwindet, sobald der Redende, mit dem Gegenstände derselben 
ganz beschäftigt, von ihm hingerissen ist. — Über dem, welches 
Blut soll diese Gefühle machen? fremdes? kommt das zum Ge- 
hirn? kommt da der Ariman zum örmuzd ? 

Von den Citaten heben wir das über die Transfusion her- 
vor, wo ein Fuchs durch eingespritztes Lammblut scheuer wur- 
de. Die Stelle bei Scheel heifst : dennoch fuhr er fort sich 
sehr übel zu befinden, war scheuer wie vorher (das wird jedes 
Thier bei ähnlichen schmerzhaften Experimenten), liefs sein ge- 
wöhnliches Fressen und Getränk stehen ; doch bellte er und 
schnappte mit grofser Wuth in einen vorgehaltenen Stecken. 
Hätte der Verf. unbefangen Schecl's Buch und andere Schriften 
über die Transfusion gelesen , so würde er wissen , dafs das Blut 
nicht die eigenthümlichen Triebe etc. überträgt. Dafs aber nicht 
sonst Quantität und Qualität des Blutes auf die psychischen Tha- 
tii;keiten mittelbar Finilurs hat, soll damit nicht geleugnet werden. 
Gegen das Ende des Kapitels verwahrt sich der Verf. gegen die 
Deutung seiner Darstellung, als verkenne er, dafs Blut ohne Nerv 
»das Plastische« sey ; darauf läuft nämlich der ganze Aufwand 
von Geschichten über Trieb (!), zu morden, beifsen, »fressen«, 
zeugen etc. hinaus! — 

Das dritte Kapitel unter der Überschrift: Hirnmark, stellt 
das Hirn als das Organ des Denkens dar, als Resultat der be- 
ständigen Wechselwirkung zwischen Blut und Hirn. » Der Wille 
ist nichts andres als lebhaftes Denken, auf Thun uud Lassen ge- 
richtet.« p. 76. Das Gemüth wird gänzlich verbannt und hat 
nach des Vfs. Machtsprucb aufgehört zu exisiren , und obgleich 
der Vf. die Gallische Lehre nur noch nicht recht ausgebildet hält, 
die ächte aber, nämlich die von Gall selbst, der wissenschaft- 
lichen Forschung empfiehlt (77), erklärt er sich doch mit Carus 
gegen die »Vervielfältigung (Kinlheilung , Unterscheidung, Ref.) 
der Seelenvermögen. « Nichtsdestoweniger wird aber am Schlüsse 
des Kapitels die Phantasie besonders abgehandelt, deren ge- 
steigerte Thätigkeit nach des Vfs. Beobachtungen an sich selbst 
immer mit gesteigertem Blutandrange nach dem Kopfe verbunden 
ist. Ref. bittet dagegen, J. Müllers phantastische Gesicbtser- 
scheinungen zu vergleichen, wenn die delina ex inanitione und 
andere bekannte Erscheinungen nicht genügten, die der Vf. durch 
die Vergleichung mit dem verstärkten Aufflammen einer ei lö- 
schenden Lampe widerlegt zu haben ineint. Diese Delirien und 
Phantasmen aus Säftcverlust sind aber keineswegs so wechselnd 



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112(i 



Mcdicin. 



wie jenes Aufflammen. In der zweiten Auflage wird der Verf. 
wohl die Polarität wieder zu Hülfe nehmen müssen, am seine 
v Annahme gerechtfertigt (p. ioq) erscheinen zu lassen, dafs das, 
was man Phantasie nennt, in der Thätigkeit des Blutes begriffen 
sey; da aber Phantasie in ihrem physiologischen Wirken ohue 
1 In -n thätigkeit nicht gedacht werden kann, besonders in der Thä- 
tigkeit des Hirnhlutes , und — vorzugsweise in der Cortical- 
fcubstan/.. — * In der Brautkammer der Schädelhoble feiert 
die plastische Phantasie ihre fortwährende Begattung mit dem 
Hirnmai k, und wie in Muhameds Paradies die Huris, ist sie nach 
, jeder Nacht wieder jungfräulich und der Bräutigam Phosphoros 
immer wieder um so rüstiger.« 

Das vierte Kapitel bestimmt den vernünftigsten Menschen als 
den, »welcher Blut- und Himleben in den reinsten GleicJiklang 
zum Wahren, Einen gebracht hat« 

Im fünften Kapitel wird das Bewufstseyn als an die »Span- 
nung der Differenz des Blut- und Himtebcns « geknüpft angege- 
ben (?) (p. ii'»), in Selbst, und Wcltbewufstseyn unterschieden 
(117) und der Wille (120) im Gegensatz gegen den Trieb als 
die höchste Hirnthätigkeit , Wahres mit Bewufstseyn zu ver- 
wirklichen betrachtet. » Der Treiber Ariraan treibt blind und für 
sich hewulVlos, Der hellleuchtendc Phospkorus Ormuzd strebt 
mit Bewuistseyn. Ersteres ist Trieb, letzteres Wille.* 

Das sechste Kapitel : » Irreseyn beruht auf Disharmonie des 
Hirn- und Blutlebens, auf abnorm plastischem Leben des Hirns, 
wodurch das wache Hirn entweder verhindert wird, Wahres zu 
denken oder Falsches vorzustellen gezwungen ist.« 

Im siebenten Kapitel u. d. fgg. wird abgehandelt: Tborheit, 
Leidenschaft, 0 »Sittlichkeit , Delirium, Aetiologisches und Noso- 
logisch - Diagnostisches , Prognostisches , Prophylaktisches und 
Therapeutisches , Pathologisch- Anatomisches. Ich wurde aber die 
Grenzen einer Anzeige überschreiten, wollte ich Alles wie bisher 
darstellen. Ausserdem ist es eine ermüdende Arbeit, einer so 
regellosen Darstellung zu folgen. Dafs unserer Psychiatrie eiae 
Keinem Noth thut , darin bin ich ganz des Vis. Meinung, glaube 
auch, dafs die Auffassung des Menschen als eines Gauzen und das 
Festhalten dieses Gedankens bei Betrachtung alles Einzelnen Noth 
Ihne, ebenso, dafs aller M ysticismus , Dogmatismus und aller Ein- 
lluls gefühlglaubiger Subjektivität gänzlich zu verbannen' sey, 
glaube aber nicht, dafs für diese Reform ein Ton, wie der Vf. 
ihn wohl in der Meinung anstimmte, den starken Geist zu spie- 
len, die Weise sey, diese Reform herbeizuführen, glaube nicht, 
dafs, um den Menschen als Eins darzustellen, man ihn verstüm- 
meln und die Unterscheidung seiner organischen Tbeile aufheben 
müsse, und glaube endlich nicht, trotzt des Vfs. Versicherung, 
dafs derselbe »Tausende (!) von Irren mit Vorliebe, Eifer und 
unbefangener Aufmerksamkeit beobachtet hatte, als er sein selb- 
ständiges praktisches Wirken begann«, wohl aber glaube ich, 
dafs (vgl. d. Citat des Vfs. p. 359) 



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Medicin. 1127 

— — man kann viel reden , 
kann ei aach achreiben, 
wird weder Leih noch Seele tödten, 
es wird Alles beim Alten bleiben. — 

Der erste Gedanke bei dem Erscheinen von Bird.s Patho- 
logie und Therapie der psych. Krankheiten mufs für den, wel- 
cher der Literatur dieses Zweiges der Medicin folgte, not h wen- 
dig der seyn : schon wieder?! In kaum zwei Jahren drei Bücher 
und ein halbes (s. No. 3) ausser den Journalaufsätzen ! — Dieses 
jüngste ist vorzüglich für praktische Ärzte bestimmt. Es beginnt 
mit der Lehre von der psychischen Bedeutung der Organe, oder, 
\sas dasselbe ist, »von dem Wesen der Geisteskrankheiten.« 
'Wenn aber auch beide Fragen in inniger Beziehung stehen, so 
sind sie doch keineswegs dasselbe, denn das erstere bezieht sich 
nicht blos auf Krankheiten , sondero auch auf den gesunden Zu- 
stand , nicht blos auf eigentliche Geisteskrankheiten , sondern auch 
auf die psychischen Krankheitserscheinungen in andern Krankhei- 
ten. Der Verf. sucht nun die nächste leibliche Bedingung der 
Seelen Verrichtungen (p. i3. 14) » in der organischen Function 
des Gehirns, und diese, welche durch den Blutandrang vermittelt 
wird, ist das rhythmische Erheben und Sinken des rebendigen 
Gehirns, eine Thätigheit, die mit der Geburt beginnt und erst 
im Augenblick des Todes aulhört.« Zn dieser Ansicht wurde der 
Verf. verleitet durch die Beobachtung der uulsirendcn Bewegung 
des Gehirns bei einer Kranken, deren Schädel durch Caries einige 
Öffnungen bekommen hatte und über welche er das Ausführlichere 
in den mit Amelung herausgegebenen Beiträgen (s. No. 3.) 
mittbeilt. 

Hierbei ist zu bemerken : 

1) diese Bewegung des Gehirns ist keine organische Function 
desselben, sondern eine mechanische, d. h. eine durch. den 
Stöfs der Blutwelle aller Hirngefäfse mitgetheilte Bewegung, und 
in ihr besteht ebenso wenig die organische Function des Hirns, 
als in der Ortsveränderung der Lungen beim Erweitern und Ver- 
engern des Brustkastens das Athmen beruht. Diese ungereimte 
Deutung der Hirrnthätigkeit ist aber nicht zu verwundern, da der 
Verf. p. 35 sagt: »wir sehen, dafs das Gehirn, wie die Lungen 
und andre Organe, in raumlichen Bewegungen lebt. Dafs aber 
der Verf. hier in der Pulsationsbewegung de« Hirns nicht etwa 
die entferntere Bedingung der Hirntbätigkeit sieht, geht aus sei- 
nen eigenen Worten p. i3 hervor; »die Circulation des Blutes 
im Kopfe bedingt die Hirnpulse, welche wir als das (MB.) letzte 
uns bekannte Hülfsmittel zu betrachten haben, die körperliche 
Bedingung nämlich, deren die Seele sich bedient, sich geistig dar- 
zustellen und in der Organenwelt zu manifcutiren. « 

2) Warum sollte nicht ebensogut da > näselnde Steigen und 
Fallen des Gehirns dem Athmen entsprechend, die psychischen 
Functionen zunächst bedingen , wenn es dabei auf die äussere 
Bewegung des Gehirns ankäme ? Diese Bewegung verkennt aber 



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1128 



Medicin. 



der Verf. noch trotz der aus Bordacb citirten Gründe gänzlich, 
indem er dagegen anmerkt (p- 21): »ein beschleunigtes Atbmen 
influirt nur allein (ordernd auf die Hirnbewegungen , aber nicht 
direct, sondern indem es den Umtrieb des Bluts, die Circulation 
beschleunigt, und somit bleibt die Hirnpulsation stets und immer 
von der Circulation des Blutes in den Arterien abhangig.« Wo- 
mit der Vf. denn die unläugbare Thatsache des Ausdehnens und 
Zusammensinkens des Gehirns bei geöffnetem Schädel je nach 
dem Aus- und Einathmen ab vi eisen will. 

3) Es ist eine grofse Präge, ob bei heilem Schädel diese 
äusseren Bewegungen Statt finden, und nicht vielmehr bedingt 
durch die Elasticität des Gehirns dieses selbst entsprechend der 
Zu- und Abnahme des eintretenden und abfliefscnden Blute«, ei- 
nen kleineren und grüTseren Raum abwechselnd einnimmt. Doch 
mag diese verschieden Menge des Blutes und die abwechselnde 
Beschränkung des Baumes der Scheidelhühle auch zum Theil 
durch den Dunst in den Hirnhohlen, der als solcher sehr elastisch 
ist und deswegen leicht einen verschieden grofsen Raum einnimmt, 
ausgeglichen werden, ja diese Ausgleichung eine Hauptbestim* 
mung dieses Dunstes seyn. 

4) Dafs » die Krümmungen der Hirnarterien ein Mittel seyen, 
den mechanischen Eiuflufs des Herzens zu verstehen, um das 
Hauptmoment für die Bewegungen des Gehirns abzugeben « p. 19, 
ist gegen alle Gesetze der Mechanik , welche bei diesem mecha- 
nischen Einflufs doch allein gelten können. Gegentheils dienen 
diese Krümmungen, um gegen den zu starken Stöfs der Blutwelle 
das Hirn zu schützen. 

5) Die fibröse Haut der Hirnarterien fehlt auch nicht meist 
(p. 12), sondern ist nur schwächer, und auch diese anatomische 
Einrichtung dient wohl zur Verminderung des Blutschockes, der 
von der Blutwelle durch die Artet icn Wanderungen der Hirnmasse 
mitgetheilt wird. 

6) Dafs die Circulation im Hirn rascher erfolge als anderswo, 
wie p. 12 behauptet wird, ist gänzlich falsch. 

Wenn der Verf. die Erzeugung der Nervenkraft im Gehirn 
aus dem Blute, die er p. 23 auch angibt, mehr ins Auge gefalst 
hätte, so würde er wenigslens etwas näher der Wahrheit gekom- 
men seyn, wenn auch dabei es nicht bTos auf das Zuströmen des 
Blutes ankommt , und überhaupt das Blutleben des Gehirns nicht 
die einzige Rücksicht ist, die man bei der Erklärung der Hirn- 
verrichtungeu zu nehmen hat. 

übrigens ist die Bedeutung des normalen Blutverhältnisses für 
das Seelenleben (p. 27) von Vielen nicht allein in ihren Schriften 
mitgetheilt, sondern auch, was der Verf. laugnet , in der Praxis 
berücksichtigt. Macht man nicht Aderlafs, kalte Umschläge und 
Begiefsungen , setzt man nicht Blutegel, gibt man nicht digitalis 
etc.? Ja gerade, dafs man eben, wie es der Verf. in seinem 
ganzen Buche ihut, häufig, besonders früher, nur das Blutleben 
berücksichtigt hat, hat unendlich geschadet, und namentlich mit 



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Medicin. 11211 

• 

übermä'fsigen , selbst mit raäfsigen aber unzeitigen Aderlässen 
manchen Wahnsinnigen in unheilbaren Blödsinn geworfen ; und 
wenn der Verf. p. 429 behauptet: »die Tobsucht oder Manie oder 
Raserei des Wahnsinnigen erfolgt nur unter Congestionen « , so 
ist das weder neu, noch wahr, am allerwenigsten aber praktisch. 
Ks gibt solche Fälle von Tobsucht, Aufregung, Manie, Haserei, 
die rein nervöser Natur sind, ja die wesentlich auf Blutmangel 
beruhen, die mit stärkenden, krampfstillenden Mitteln geheilt 
werden , wo jeder Aderlafs den Kranken der Unheilbarkeit näher 
bringt; es gibt andre, wo die Congestion erst consecutiv eintritt; 
und deswegen ist diese Unterscheidung gerade für praktische 
Ärzte, denen der Verf. sein Buch bestimmt, von der gröfsten 
Wichtigheit. Hätte der Vf. nur beobachten, nur sehen wollen, 
so hätte er so gut, wie Ref. selbst, in Siegburg die Heilung sol- 
cher anämischen , nervösen und erethischen Manie durch stärken- 
de, beruhigende Mittel sehen können. Ebenso einseitige Beob- 
achtung zeigt die Behauptung von constantem Überwiegen der 
Karotiden bei Wahnsinn. Dies kommt allerdings nicht selten vor, 
und ist auch bei andern Krankheiten des Kopfes, auch bei Amau- 
rose und Amblypie , wohl zu häufig übersehen als Zeichen von 
Blutandrang. Aber die vergleichenden Untersuchungen , welche 
Ref. mit Jacobi , dem Director der Anstalt zu Siegburg, angestellt 
hat , wo alle Kranke dreimal an verschiedenen Tageszeiten und 
zur Vergleichung damit auch gegen 100 geistig gesunde Personen 
untersucht sind, und worüber Jacobi hoffentlich nächstens die 
Resultate veröffentlichen wird , haben an denselben Kranken, 
•welche der Verf. beobachtete, gerade die Einseitigkeit seiner Be- 
hauptung gezeigt. Ebenso wenig ist es constant , dafs im Blöd- 
sinn die Karotiden klein und schwach würden; nicht selten blei- 
ben die Karotiden übermäfsig stark im Blödsinn , der als Folge 
von Manie entsteht und zwar mit sehr übler Prognose. Ja seihst 
bei Melancholischen, doch da seltner und allerdings ausnahms- 
weise, kommt ein enormes Überwiegen der Karotiden vor, wie 
davon jetzt hier, in der Irrenanstalt zu Heidelberg, ein auffallen- 
des Beispiel ist. — Ebenso ist des Verfs. Behauptung von den 
erweiterten , angefüllten Gefäfsen in dem Gehirn und dessen Hau- 
ten zum Theil auf dessen subjektive Ansicht, statt auf unbefan- 
gene Beobachtung, gestützt. Ich erinnere mich recht gut, dafs 
der Vf. bei den Sectionen eine solche Blutfülle in manchen Fäl- 
len fc« sehen meinte, wo sie gar nicht da war. Aber was man 
durchaus sehen will, sieht man endlich a force de voir. Da der 
Verf. so immer von seinen Beobachtungen spricht , so habe ich 
dies bemerken zu müssen geglaubt, und berufe mich in der Be- 
ziehung auf den Director Jacobi und Dr. Lorent. Doch stimmen 
unbefangene Beobachter ganz damit überein und ich verweise in 
dieser Beziehung besonders auch auf die oben angegebene Ab- 
handlung von Lelut, wo es p. 20 heifst : Poar ce qui est des cas 
de delire aigu qae j'ai observes, l'injection, la rougeur de ces 
enveloppes, la combinaison du sang avec leur tissu etaient loin 



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1130 Medicin. 

dy etre coostant. D'abord elles n'existoient pat dans plus dun tiers 
de ces cas. — obgleich ich wohl weifs, dals es auch früher schon 
Schriftsteller gegeben hat, die ebenso einseitig waren als der Vf. 
Nichts ist aber verderblicher für die Praxis. 

Das zweite Kapitel soll die Fragen über das Wesen der 
Verrücktheit, über die causa proxima und die causae rerootae 
beantworten und die Resultate der Sectionen liefern , und da heifst 
es denn (p. 65) : » Verrücktheit ist ihrem Wesen nach eine Krank- 
heit, welche auf einer Störung der normalen organischen Hirn- 
funetion beruht (was der Vf. darunter versteht , ist eben roilge- 
theilt); diese Störung ist die Ursache, und zwar die nächste, aller 
Geisteskrankheiten von dem niedrigsten bis zum höchsten Grade.« 
Dafs eine Section nie das Wesen oder die causa insania proxima 
verrat he, darin ist Ref. übrigens mit dem Vf. ganz einverstanen. 

Das dritte Kapitel handelt von den schädlichen Einflüssen, 
welche die Krankheit begünstigen : ursprüngliche Disposition (p. 
80) wird als durchaus nöthig angenommen zur Entstehung der 

Verrücktheit. Diese bat »allein im Gehirn ihren Sitz«, 

v fehlt solche Disposition, so mag das Herz das Blut noch so 
heftig zum Gehirn treiben, der Mensch wird nicht wahnsinnig« — . ^ 
Wie stimmt das zu der obigen Behauptung von der organischen 
Hirnfunction oder der Bewegung des Hirns durch die Blutwelle? 
Die erbliche Anlage wird (p. 86) ohne alle Angabe der Art, wie 
sie begründet werden kann, und ohne Unterscheidung der Anlage 
zu besondern physischen Krankheiten abgehandelt, aber mit Recht 
geringer angeschlagen, als es bei manchen, besonders englischen, 
Schriftstellern geschieht. Bei der Anlage nach dem Geschlechte 
vermissen wir wieder die Unterscheidung nach den verschiedenen 
Krankheitsarten (doch der Verf. will ja nur überhaopt von zwei 
oder höchstens drei Arten wissen, wie wir unten sehen werden), 
und ebenso nach den verschiedenen Schädlichkeiten , welche bei 
jedem Geschlechte vorzugsweise vorkommen. Ebenso vermifst 
Ref. die Angabe, dafs bei verschiedenen Nationen nicht dasselbe 
Geschlecht die meisten Krankheitsfälle darbietet, wie denn na- 
mentlich in Frankreich mehr Frauen psychisch erkranken. Dies 
wird wohl erklärlich aus der Stellung der Frauen, welche weni- 
ger auf das häusliche Leben beschränkt sind und mehr am bür- 
gerlichen Geschäfts- ja Staatsleben Antheil nehmen und dadurch 
mehr stürmischen Bewegungen der Seele ausgesetzt sind. p. 9t 
Lebensart, p. 93 Krankheiten, ebenso dürftig abgehandelt ; beson- 
dere Aufmerksamkeit ist dagegen auf den Einflufs der Witterung 
verwendet, und der Vf. theilt seine Beobachtungen, 6 Monate lang 
durchgeführt, hierüber mit in Vergleichung mit dem herrschen- 
den Krankheitsgenius ausserhalb der Anstalt, eine gewifs uützliche 
Vergleichung. Bei der geographischen Verbreitung weist der Vf. 
den Wahnsinn vorzüglich den hoher, die Melancholie den flacher 
gelegenen Gegenden zu. p. 119. Auch hier leider wieder zu 
wenig Unterscheidung der verschiedenen Formen , abgesehen da- 
von, dafs solche Zusammenstellungen bei der unbestimmten und 



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Medicin. 



1131 



verschiedenen Bezeichnungsweise derKrankbeitsartcn sehr uosicher 
sind. p. 120 ff. erhebt sich der Vf. gegen den Einflufs der Ci- 
vilisation und Religion, und Ref. findet auch diese Bezeichnungen 
unpassend, aber der falschen Bezeichnung liegt doch etwas Wah- 
res zum Grunde. Nicht das Licht der Civil isation ist es, sondern 
der stärkere Schatten , den das stärkere Licht wirft. Die Beglei- 
ter der Civilisation : Luxus nämlich , Ausschweifungen und Ent- 
behrungen , durch ungleiche Vertheilung der Glucksgüter ver- 
anlagst, überhaupt gesteigertes psychisches Leben bedingt auch 
gröTsere Krankbeit&anlage. Ebenso kann mifsverstandene religiöse 
Beschäftigung auch Veranlassung zu psychischer Krankheit wer- 
den und die eine Confession (nicht Religion, denn die ist über- 
haupt nur eine) kann mehr Gelegenheit geben als die andere. So 
geht z. B. aus der Vergleichung der Krankheitsfälle im GH. Baden 
hervor, dafs im Verhältnifs zu der Zahl der Einwohner jeder 
Confession die wenigsten Jaden, mehr Katholiken und die mei- 
sten Protestanten geisteskrank sind. — An und für sich gesunde 
Speisen können ja auch einen schwachen Magen gefahrlich krank 
machen. Dies giebt der Verf. auch selbst in Beziehung auf den 
Mifsbrauch der Studien an (p. 147), und die Wissenschaft ist 
gewifs an und für sich ebenso wenig verwerflich als die Religion, 
und hängt gewifs mit der Civilisation innig zusammen, p. 149« 
Mifsbrauch der Arzneien. 

Nachdem der Vf. im vierten Kapitel »die Zustände, welche 
ausser den Grenzen der Kunst liegen, z. B. den Cretinismus , * 
wohl mit Unrecht ausgeschlossen bat, denn das Objekt der Me- 
dicin ist nicht blos zu heilen, sondern auch für den Unheilbaien 
das Passende anzugeben und noch mehr — , vorzubauen, nachdem 
er früher schon die Unterscheidung besonderer Krankheitsformen, 
namentlich Nostalgie, delirium tremens, mania puerperalis, men- 
strualis, haemorrhoidalis, als unnütz verworfen bat. Im sechsten 
Kapitel schliefst er ferner die Hypochondrie aus, von welcher er 
unrichtig genug sagt (p. 168), dafs ein Wort des Arztes, dem 
die Kranken vertrauen , oder ein unschuldiges Mittel die Aufre- 
gung und alle eingebildeten Krankheiten hebt; und ebenso schliefst 
er aus: Hysterie, einfach melancholische Zustände (?), Zustände 
nach Epilepsie, Hirnhautentzündung mit verletztem moralischem 
Gefühle nach Hirnverletzungen und die Zustände mit sogenann- 
ten fixen Ideen, von deren wahrer Bedeutung der Vf. gar keine 
Idee hat, und will dann im sechsten Kapitel die Eintheilung in 
Wahnsinn und Melancholie als die einzig wirklich zu unterschei- 
denden Species vertheidigen; den« mit weiterer Unterscheidung 
werde das Gedächtnifs nur belastigt und die Praxis gewinne Nichts. 
p% »89. Ref. ist gänzlich verschiedener Meinung; je besser und 
genauer die besondern Arten der psychischen Krankheiten unter- 
schieden werden , aber natürlich nicht nach willkührlicber Sehe- 
matisirung , wie Heinroth thut, desto besser läfst sich die jeder 
angemessene Behandlung angeben. Die Behandlung aber kann 
sich nicht auf Verminderung und Vermehrung der k » Hirnpulse« 



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1132 



Med i ein 



im Wahnsinn und Melancholie bescheänken. So ist denn auch 
hierin der Vf. wieder, tiotz des versprechenden Aushängeschil- 
des auf dem Titel , gänzlich unpraktisch. Weil eben die mehr- 
fachen Arten der psychischen Krankheiten auf diese beiden be- 
schränkt sind , so ist es denn auch leicht erklärlich , warum das 
»Bild« derselben Kap. 7 sq<| höchst verworren ausgefallen ist. 

Oer Behauptung, dafs die Sinnestäuschungen (Kap. 11) bei 
Irren gewöhnlich nicht durch Abnormitäten in den Sinnesorganen 
bedingt sind, stimmt Ref. bei, findet sie aber in dem Kapitel 
sehr wenig begründet. > 

Zwölftes Kapitel: Intermittirende Verrücktheit, Selbstmord, 
Heimweh; i3tes Kapitel: Complicationen mit andern Krankheiten. 
Mania potatorum. Mania occulta. Klarheit vor dem Tode. — 
Es konnte aus diesen Überschriften scheinen, als ob der Verf. 
doch noch einige andre Arten ausser Wahnsinn und Melancholie 
anerkennen wollte. Aber es ist nur Wiederholung des Früheren, 
dafs es keine besondere Arten seyen. Das Verkehrte tritt hier 
besonders stark in dem hervor, was der Verf. (262) über mania 
potatorum sagt, wo er den Wahnsinn, wozu auch Mißbrauch gei- 
stiger Getränke Veranlassung geben kann, mit dem eigentlichen 
delirium tremens gänzlich verwirrt. Alles zur Vereinfachung und 
leichtern Auffassung!! Der praktische Arzt mag versuchen , wie 
weit er mit einer solchen Vereinfachung kommt. Hie Hhodus, 
hic salta! — Unter den Complicationen fuhrt der Vf. Fieber, Ent- 
zündung, Wochenbett, Epilepsie, Schwindsucht, Wassersucht, 
Hautausschläge an. Abgesehen davon, wie wichtige Complicatio- 
nen hier vergessen sind, z. B. Apoplexie, Lähmungen, organische 
Herzkrankheiten, Stockungen des Unterleibes etc., vermissen wir 
wiederum die besoneere Beziehung der einzelnen zu den ver- 
schiedenen Arten der Seelenkrankheiten. 

Im i4ten Kapitel: Ausgang der acuten Verrücktheit in die 
chronische. 

i5tes Kapitel. Zur Verbreitung psychischer Studien wieder- 
holt der Vf. seinen Vorschlag zu einer Akademie für psychische 
Heilkunde, und fordert ferner Vorlesungen auf Universitäten, kli- 
nischen Unterricht, Examen über Psvchiatrie. Was den klinischen 
Unterricht anbetrifft , so ist Bef. ganz des Vis. Meinung, (s. des 
Ref. Aufsatz in den Heidelberger klin. Annalen. i83*7. ) Wenn 
das praktische Studium der Psychiatrie auf Universitäten erst all- 
gemein und mit den übrigen Fächern der Medicin in gleiche Reihe 

§estellt wird, dann wird auch manche Pathologie und Therapie 
er psychischen Krankheiten für praktische Ärzte allgemeiner so 
gewürdigt werden, wie sie es verdient. 

Die Behandlung im 16. bis i8ten Kapitel ist gänzlich symp- 
tomatisch , z. B. bei pletbora abdominalis venosa , Blutegel ad 
anum, cremor tartari etc. Und dem, ut finis Coronet opus, folgt 
ein alphabetisches Verzeichnifs einiger beliebigen Arzneimittel!!! 
Drauf p. 35i die äussern Arzneien, chirurgischen Hülfsmittel und 
psychische Behandlung, auch noch ein Schlußwort zum Ganzen. 



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I 



1133 



Ich habe manche einzelne Unrichtigkeiten übergangen ; die 
sind nicht der Gegenstand einer solchen Anzeige. Ich habe das 
Charakteristische des J luchs hervorzuheben gesucht, welches in 
der Erklärung der Seelenstörung aus Abnormität der pulsirenden 
Hirnbewegungen und in der Reduction der verschiedenen Arten 
von Seelenstörung auf Wahnsinn und Melancholie besteht. Zu 
dieser Darstellung habe ich schließlich nur hinzuzufügen, dafs 
auf die Behandlung der Kranken in der Privatpraxis gar keine 
Bücksicht genommen ist, was bei der angeblichen Bestimmung 
des Buches für praktische Ärzte ein bedeutender- Mangel ist, und 
dafs die Darstellung und Anordnung höchst flüchtig und verwirrt 
sind. Mochte der Verf. künftig des Horaz Spruch etwas beher- 
zigen: nonum prematur in annum ! 

3. Amelung und Bird etc. — Ref. beginnt, um besser 
eins ans andere zu reihen, mit Birds Beiträgen, die Lehre 
von der psychischen Bedeutung der Organe. — Zur 
Begründung seiner Ansicht über den Sitz der Verrücktheit, die 
wir schon aus dem Vorigen kennen und welche der Vf. in Kur- 
zem vorausschickt, führt er eine Zusammenstellung von 268 Krank- 
heitsfallen , nach dem Monate der Aufnahme in Siegburg , an. 
Die Zahl steigt im Allgemeinen vom Februar bis zum September, 
und nimmt von da wieder ab bis zum Januar; doch macht April 
und November eine Ausnahme durch eine geringere Anzahl von 
aufgenommenen Kranken. Darauf folgen vierzehn Beobachtun- 
gen. Bei diesen können wir unser Befremden darüber nicht un- 
terdrücken, dafs darunter nur Ein Fall aufgeführt ist, wo Hei- 
lung eintrat, und zwar, »wo bessere Pflege und reichlichere 
Nahrung hinreichten, den Mann zu genesen.« (!) Von den übri- 
gen ist einer, der mit dem Tode endete, aber ohne Leichenbe- 
fund, die andern alle unvollständig, da keine Genesung eintrat 
und auch nichts vom Tode gesagt ist. Der Verf. mag selbst mit 
seinen eignen Worten aus seinem unter Nr. 2 angezeigten Buche 
p* 46 über diese Wahl das Urtheil sprechen : » Fälle von psychi- 
schen Krankheiten, die nicht von Anfang bis zu Ende genau be- 
obachtet sind, haben durchaus keinen Werth, und unbedingt ent- 
behrt die Psychiatrie bis jetzt am meisten der guten, d. h. voll* 
ständigen Krankenberichte.« Dafs unvollständige Beobachtungen 
durchaus keinen Werth hätten , will Ref. nicht gerade behaupten, 
aber warum der Vf. gerade, um seine Meinung zu vertheidigen , 
so viele und so wesentlich unvollständige Beobachtungen ausge- 
suchi hat , darüber liefse sich allerlei vermuthen : z. B. dafs die 
vollständigen nicht zur Theorie pafsten ; oder dafs noch keine 
Fälle vollständig verlaufen waren, als wieder Beiträge gedruckt 
werden mufsten, oder — — . p. 398. »Die Geistesalienationen 
erfolgen stets durch Vermittlung einer acuten Periode, unter ar- 
terieller Aufregung , wo das Hirn mehr oder minder entzündlich 
gereizt wird , und wer das leugnet , der hat solche Kranke nie 
im ganzen Verlauf ihrer Krankheit beobachtet , auch wenn sie 



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1184 Modicin 

« 

unter seinen Augen lebten.« Schon wieder der ganze Krankheits- 
verlauf! Ich frage hier, wieviele Falle bann irgend ein Arzt an 
einer Irrenanstalt in ihrem ganzen Verlaufe beobachten? Kom- 
men sie etwa schon hin, wenn sie krank werden wollen, wie die 
Schwangern in eine Gebäranstalt ? Und der Vf. beruft sich doch 
auf seine Beobachtung an der Irrenanstalt zu Siegburg. Und soll 
nicht gerade diese acute Periode in den Anfang der Krankheit 
fallen? also wo meistens die Beobachtung fehlt? — Ol wenn 
die Autoren doch bedächten, was sie schreiben! Nochmals: no- 
num prematur in annum ! Doch zur Probe von den vollständi- 
gen Beobachtungen Etwas von der ersten der £, schreibe zwei! 
Thatsachen, die der Verf. zum Beweise seiner Behauptung, dafs 
stets eine solche entzündliche Periode Statt finde, auffuhrt: 

Erste Thatsache. 

»Ein gesunder, kräftiger, sanguinischer Manu verfiel in eine 
bedeutende arterielle Blutaufregung, und damit verband sich nach 
allen vorliegenden Zeichen eine gleichfalls bedeutende Hirnrei- 
zung, die um so weniger moderirt war, weil Patient durchaus 
reizend behandelt wnrde. Der Mann starb nach 'V et lauf einiger 
Jahre, und die Section gab diese Resultate: etc. 

Diese sind im Einzelnen angegeben , wir können sie aber 
kurz zusammenfassen in übermäfsigem GefaTsreichtbum des Hirns 
und seiner Häute. 

Ist das eine Beobachtung? Auch nicht eine einzige Krank- 
heitserscheinung angegeben ! Nichts als die subjektive Ansicht 
des Vcrfs. Und wenn man nun vollends, wie Ref. das Gluck 
hatte, mit eignen Augen gesehen hat, was der Vf. unter grofsen 
und vielen und ausgedehnten Gefäfsen versteht, so glaubt man 
davon gar Nichts, und hält es für seine Pflicht, das öffentlich 
zu erklären, (vgl. oben Lelut.) Nach einem Glaubensbekenntnifs 
des Verfs. , welches wir aus der vorigen Schrift schon kennen, 
folgt denn die Krankengeschichte der Frau , an welcher der Vf. 
durch die von Karies entstandenen Offnungen im Schädel die 
Hirnpulsationen beobachtete, welche allerdings interessant ist, uro 
so mehr, da sie für sich selbst zeigt, dafs sie auf sorgsamer Be- 
obachtung beruht (sie stammt aber auch aus einer Zeit, wo der 
Vf. nicht jedes halbe Jahr ein Buch schrieb); und obgleich diese 
auch nicht bis zu Ende verfolgt ist , da der Vf. die Kranke nicht 
bis zum Tode sah, so hat sie doch — trotz des Vfs. eignem wi- 
dersprechenden Urt heile, was wir oben angeführt haben — Werth; 
nur beweist sie nicht die Ansicht, wozu sie den Vf. irregeleitet 
bat, dafs nämlich die Hirnpulsalionen die nächste Bedingung der 
psychischen Functionen seyen ; denn dafs das Gehirn ohne Blut seine 
Verrichtungen nicht besorgen könne, und dafs vom einströmenden 
Blute die eine Bewegung des Gehirns abhängig sey, weifs man 
auch ohne jene Beobachtung, dafs aber die mechanische Lagen» 
Veränderung des Gehirns der nervus rerum gerendarum sey,* wird 
man daraus ebenso wenig zu schliefsen berechtigt seyn, als man 
annehmen wird , dafs z. B. durch die Ortsveränderung der Arteric 



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■ 



Riichtawistentcliaft. 1135 

beim Pulse die Mushein ihre eigentümliche Kraft der Zusammen- 
ziebung erhielten 

Amelung gibt in demselben Bande dieser gemeinschaftlichen 
Beiträge eine Reihe von Beobachtungen mit Bemerkungen , aus 
denen sich natürlich, da sie, wie die Gelegenheit sie gegeben 
bat , mitgetbeilt sind , keine übersichtliche Darstellung geben laTst. 
Wenn Ref. hier auch zuweilen gern eine genauere Darstellung der 
psychischen Alienation gewünscht hätte, — gewifs aber die schwer- 
ste Aufgabe, welche die Mittbeilung ärztlicher Beobachtungen 
darbietet, — wenn Ref. sich bei manchen Beobachtungen über 
den häufigen Wechsel der angewandten Mittel und mehr noch 
über die grofsen Gaben mancher Arzneimittel, z. B. hrb. digit. 
gewöhnlich zu gr. 2 viermal des Tags, die denn auch zu bal- 
digem Aussetzen npthigen, wundern mufs, und wenn Ref. be- 
sonders es bedaue'rt, dafs nur in Einem Falle von der Section 
etwas gesagt ist und auch da nur von der des Hopfes, ja wenn 
sich auch im Einzelnen noch dies und jenes zu erinnern fände, — 
so sind diese Beobachtungen doch als wirkliche Beiträge zur Lehre 
von den Geisteskrankheiten zu betrachten, und versöhnen Ref. 
mit der Aufgabe, die neuen literarischen Producte des Faches, 
worüber er auch akademische Vorträge halt, nicht blos anzu- 
sehen, sondern auch zu lesen. 

(Der Schlufs folgt im ndeheten Hefte.) 

Heermann. 



RECHTSWISSENSCHAFT. 

Almac Georgiae Augustae prima »olennia saecularia die WH. Septembri» 
MDCCCXXXVH , Guatavo Hugoni ejusdem universitatia litterariae 
doctori celeberrimo semisaecularia mox celebranda cx animo grattdatur 
Edußrdus Sc hrader, olim Gottingensis , nunc Tubingensis. Addi- 
tur editionis Digestorum Tubingensit speeimen complectens D. de 0. J. 
/, t. L. % §.41 — 44. Herolini ap. Heimerum 1837. VI u. 14 S. 4. 

Unter diesem Titel hat Herr OTRath Schräder ein an die 
Gottingischen Gelehrten gerichtetes Glückwünschungsschreiben , 
und die angegebenen , den Q. Mucius Scävola , welcher pontifex 
maximus war, den Servius Sulpitius und ihre Schüler betreffen- 
den Paragraphen der L. 3. de O. J. mit kritischen und exegeti- 
schen Anmerkungen als Probe seiner grofsen Pandecten- Ausgabe 
drucken lassen. — Der Text jener Paragraphen ist hier, wie 
man erwarten kann , und wie dies auch die kritischen Anmerkun- 
gen hinlänglich zeigen, mit vieler Sorgfalt neu constituirt- Ver- 
gleicht man ihn mit dem Haloandrischen , Taurellischen und Ge- 
bauerschen Texte; so zeigt sich folgendes zwischen diesen vier 
Texten stattfindende Verhältnis : In dem §.41, welcher aber nur 
sehr klein ist, stimmen alle diese Texte fast völlig mit einander 



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1130 



Rechtswissenschaft. 



uberein. (Bios bei dem Namen Mucius weicht der Ilaloandrische 
Text in Rücksicht der Orthographie von den übrigen drei Tex- 
ten ab.) In den drei folgenden §§en ist der Schradersche Text 
weit weniger von dem Gebauerschen als von den beiden andern 
l exten verschieden ; aber immer stimmt er doch mit dem Ge- 
bauer'schen Texte nicht uberein, und immer weicht er auch nicht 
von jedem der beiden andern Texte ab. So ist z. B. im §. 43 
das im Taurcllischen und Gebauerschen Texte vor omnes adpetant 
stehende ad im Schrader'schen Texte ebenso nie bei Haloander 
weggelassen. So sind lerner in diesem Texte die Namen der im 
§. 44 vorkommenden zehn Juristen nicht so, wie im Taurellischen 
Texte, und auch nicht so, wie in der Gebauerschen Ausgabe 
(nach welcher eilf Juristen genannt seyn würden) , sondern eben- 
so, wie bei Haloander, durch Commata abgetheilt. So lauten 
umgekehrt die letzten Worte des §. 42 im Schrader'schen Texte 
so wie im Taurellischen und Gebauer'schen (pro cujus etc.), nicht 
so, wie bei Haloander (ex cujus etc.). Ein Fall, in welchem 
weder die Taureiiische , noch die von dieser abweichende Haioan- 
drische , sondern eine dritte Lesart in den Schrader'schen Text 
aufgenommen ist , kommt im §. \i vor, wo nicht das Taureiiische, 
auch in die Gebauer'sche Autgabe übergegangene tractatus, auch, 
nicht das Haloander'sche tractatus, sondern, wie dies -fast alle 
Handschriften ( v libri tantum non omnes«) haben sollen, tactus 
gedruckt ist. — Bei der Frage : ob dem Herrn OTRath die 
Restitution des Textes der L. 2. dergestalt gelungen sey , dafs 
man es für wahrscheinlich halten dürfe, dieser Text sey von Pom- 

1>onius, oder doch von Justinians Compilatoren so, wie er nun 
der gedruckt ist, wirklich niedergeschrieben worden? mochte 
besonders in Betrachtung kommen der Anfang des §. 44. Ob 
hier Pomponius, oder doch Justinians Cömpilator, wenn er hin- 
ter den Namen der zehn Juristen die Worte: ex his decem, oclo 
libros conscripserunt geschrieben hat, diejenigen zehn Schuler 
des Servius, welche er nennen wollte, durch die Worte: fere 
hi libros conscripserunt, sollte bezeichnet haben, konnte wohl 
zweifelhaft zu seyn scheinen. Warum schrieb er nicht etwa: 
celebriores hi fuerunt: Alfenus etc. ? Diese Betrachtung wird 
uns indessen doch nieht berechtigen , die Worte lere hi libros 
conscripserunt, wie dies zufolge einer bei Simon von Leeuwcn 
(de orig. et progr. jur. civ. Seite 71) vorkommenden Bemerkung 
Einige werden haben thun wollen , aus dem Texte wegzulassen. 
Und so wird denn auch der , dem die ersten Zeilen des §. 44 
verdächtig scheinen , deshalb den Schrader'schen Text noch kei- 
neswegs geradezu tadeln. 

(Der Resr.hlufs folgt.) 



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N°. 72. HEIDELBERGER i837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Rechtswissenschaft. 

( lieschlufs.) 

Die kritischen Anmei liungen enthalten: i) viele Lese- 
orten , welche vorkommen a) in Handschriften der Pandecten, 
namentlich in der florentinischen , in einigen venetianischen und 
andern italienischen, in zwei göttinger, in einigen leipziger und 
mehreren andern Handschriften, b) in Ausgehen der Pandecten, 
namentlich in mehreren alten Ausgaben , in der Haloandrischen 
und Taureilischen , c) in verschiedenen andern Büchern , nament- „ 
lieh in dem Werke des Vacarius, in dem jetzt von Herrn Dr. 
Beimarus herausgegebenen hauptsächlich can. Recht betreffenden 
Schritt des Petrus Blesensis und im Pomponius Laetus de magist. 
rom. (Genommen sind a) die Lesearten der tlorentinischen Hand- 
schritt nicht blos aus der Taureilischen und Gebauerischen Aus- 
gabe, sondern auch aus den , jetzt bekanntlich der Göttingischen 
Bibliothek gehörenden ßrenkmannischen Papieren, welche zufolge 
der im Specimen Seite 2. Col. 2. Z. 6 und Seite 3. Col. 2. Z. 2. 
gemachten Bemerkungen , selbst bei den Stellen, bei welchen sie 
Gebauer bereits gebraucht hat, wohl noch Aufmerksamkeit ver- 
dienen konnten; genommen sind ferner b) die Lesearten der va- 
ticanischen und andern italienischen Handschriften aus eben die- 
sen, auch in dieser Rucksicht schon bei der Gebauerischen Aus- 
gabe benutzten Papieren, c) die Lesearten der leipziger Hand- 
schriften aus Wenks Vacarius and aus Schneiders Quaestt. ad 
Serv. Sulpicium, d) die Lesearten des Vacarius nicht blos aus dem 
Wenk*ischen Buche, sondern auch aus der Präger Handschrift des 
Vacaiius). — Ferner enthalten die kritischen Anmerkungen auch 
2) viele den Text betreffende, von verschiedenen Schriftstellern 
vorgeschlagene Conjecturen; 3) Urt heile über die liesarten 
und Conjecturen, welche öfters durch Grunde gerechtfertigt sind; 
und 4) viele, zum Theil ausführliche, die Orthographie von 
Wörtern und Namen betreffende Erörterungen, bei welchen 
besonders Brenk mann« Papiere und Schneiders Grammatik ( von 
welcher in der Vorrede zum Sehröderischen Prodromus S. VH. 
die Rede ist) benutzt sind. — Sehr Vieles, und namentlich auch 
Vieles, was bei der L. 2 noch nicht gebraucht ist, enthalten die- 
semnach die kritischen Anmerkungen gewifs. Dies kann und wird 
Niemand leugnen. Aber fragen kann man vielleicht: Ob diese 
Anmerkungen nicht zu viel enthalten? Ob nicht entschieden un- 
richtige oder für den Sinn ganz unbedeutende Lesearten (inson- 
derheit manche derjenigen Lesearten, welche blofs in Rücksicht 
der Ordnung einzelner Wörter abweichen), nichts für sich habende 
Conjecturen, und besonders alle die Orthographie betreffenden 
Untersuchungen (welche wobl besser in einer eigenen Abband - 

XXX. Jahrg. 11. Heft. 72 



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RechUiriMeDicbaft. 



lung zusammengestellt werden konnten) ans diesen Anmerkungen 

ganz hätten weggelassen werden sollen ? Ferner : Ob diese An- 
merkungen nicht öfters aar zu kurz gefafst seyen ? Oh nicht na- 
mentlich der Gebrauch der Verborum in ihnen (ganz anders, als 
in den Anmerkungen des Gebauerischen Corpus Juris ) gar zu 
sehr vermieden, und zu vieles abbrevirt sey? Endlich: Ob nicht 
in diesen Anmerkungen Manches, was Ein Ganzes ausmache, und 
nur dann, wenn man es als Ein Ganzes betrachte, gehörig ver- 
standen werden könne, zuweilen dergestalt zerrissen sey, da fs man 
die Bedeutung der einzelnen Thcile gar nicht mehr ahnen k5nne? 
Wer geneigt ist, diese Fragen zu bejahen, der kann, wie sich 
dies leicht ergibt, sehr vieles für seine Behauptung sagen. Aber 
gestehen wird man doch müssen, dafs sich auch Gründe für die 
Verneinung , wenigstens mehrerer jener Fragen Averden angeben 
lassen. — In den exegetischen Anmerkungen sind beson- 
ders sehr viele Stellen der nicht juristischen Classiker, welche 
zur Erläuterung dessen , was Fomponius erzählt hat, gebraucht 
werden können, und dann auch Stellen des Corpus juris Und neuere 
Schriftsteller angeführt. Aber blos Citate enthalten diese Anmer- 
kungen keineswegs. Und sagen wird man nicht können, dafs sie 
auf keine Welse als ein Commentar betrachtet werden könnten« 
— In einem kleinen, auf das Glückwünscbungsschreiben folgen* 
den, zu dem Specimen edilionis Digestorum gehörenden Vorworte 
berichtet der Herr OTRath über den Fortgang seiner Corpus 
juris Arbeiten Folgendes: Sein College, Herr Professor Tafel, 
leiste ihm bei diesen Arbeiten noch immer treue Dienste. Aber 
seinen ehemaligen, vieljährigen, fleifsigeti Gehülfen Maicr habe 
er vor zwei Jahren, bald nach seiner Anstellung als Archivar (in 
Stuttgart) durch dessen frühzeitigen Tod verloren. Er sey jedoch 
so glücklich gewesen, an dem Herrn Bierer, den er urbis nostrae 
magistratum nennt, und an dem Herrn Dr. Beimarus, der be- 
kanntlich schon vor einigen Jahren über die Blumesche, die 
Ordnung der Pandectenstellen betreffende Behauptung eine eigene 
Schrift vertatst, und jetzt (nachdem er seinen Wohnsitz von Ham- 
burg nach Tübingen verlegt hatte) die in dieser Anzeige bereits 
angeführte Ausgabe des Petrus Blesensis besorgt hat, zwei neue 
Gehülfen zu erhalten. — Am Ende des Glückwünschungsschrei- 
bens ist die Bede von der prima pars Digestorum mox edenda, 
und in dem erwähnten Vorworte ist versprochen eine Dissertatio 
praeliminaris ipsius Digestorum editionis, welche ohne Zweifel 
die bei dieser Ausgabe gebrauchten und noch zu gebrauchenden 
Subsidia betreffen, und also wohl das, was in dem im Jahre i8a3 
erschienenen Prodromus für die Jnstitutionen geleistet worden ist, 
für die Pandecten leisten wird. Diesemnach darf man wohl hof- 
fen, dafs die grofse* Ausgabe der prima pars Digestorum nun 
bald, und die Dissertatio praeliminaris, da ohne sie die Anmer- 
kungen der prima pars Digestorum wohl nicht ganz verständlich 
seyn mochten, vielleicht zugleich mit jener prima pars erscheinen 
werde. Walch. 



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1139 

LITKRÄBGESCHICHTE — SCHULSCBBIFTEN. 

Gedäehtnifsrede, bei erfolgtem Ableben der Frau Herzogin 
von St. Leu, gehalten in der Pfarrkirche zu Ermatingen . den Ilten 
Oct. 1837, von Joseph ftikolai, Professor am Lyceum zu Konstanz. 
Konstanz 1837. 16 V 8 

Zwei Königinnen der Niederlande fast zugleich dieser Zeit- 
lichkeit entruckt, die eine nach abgelegter Krone, die andere im 
Vollglanz irrdischcr Herrlichkeit dem allgemeinen Loose das hohe 
Haupt heugend, welcher Stoff ernster Betrachtungen ! — 

Der auf dem Titel dieser Schrift bezeichnete Tag versam- 
melte au Ermatingen, einem Dorf im Thurgau unweit dem Schlofs 
Arenenberg, eine zahllose Menge Theilnehmender aus der Schweiz, 
Baden, Baiern, Würtemberg und dem Vorarlbergischen, beson- 
ders von den gesammten Ufern des Bodensees. Hortensia, die 
berühmte Hortensia, war nicht mehr; dieser Tag war bestimmt, 
einer der edelsten ihres Geschlechts die letzte Ehre zu erweisen, 
und Keiner, dem die Umstände es irgend verstatteten, entzog 
sich dieser heiligen Pflicht. Die Ermatinger Kirche vermochte 
nicht, alle Schaaren Trauernder zu fassen, um! fast binderte das 
Gedräng, die gefühlvollen Worte des Leichenredners zu verneh- 
men, der, allen oratorischen Prunk vermeidend , sieb begnügte, 
das vielbewegte Leben der hohen Verblichenen durch wenige 
charakteristische Zuge zu bezeichnen. 

Ref. will das Wesentliche dieser Trauerrede mittheilen.- 

Hortensia Eugenie Beauharnais war die Tochter des Grafen 
Alexander von Beauharnais und Josephincns Tacher de la Page» 
rie. Der Graf, Deputirter des französischen Adels bei der be- 
rühmten konstituirenden Versammlung, schlofs sich zwar, seinen 
Grundsätzen gemäfs, den Interessen des dritten Standes an; allein 
dennoch entging er so wenig als soviel Andere seines Gleichen 
den Pfeilen revoluzionärer Verläumdung, und endigle sein Lt en 
auf dem Blutgerüst , während Josephine im Kerker schmachtete, 
selbst des Trostes beraubt, das Unglück des edlen Vaters in den 
Armen der Kinder zu beweinen. Unter dem Schulze der Prin- 
zessin von Hohenzollern - Sigmaringen entfloh Eugen Beauharnais 
mit seiner Schwester, als plötzlich ein Glücksstein über ihnen 
aufging. Der Sieger von Marengo, dem Frankreich sein Schick- 
sal anvertraut hatte, bot Josephinen seine Hund als Gemahl, und 
verband die junge Hortensia mit seinem Bruder Ludwig, den er 
wie seinen Sohn erzogen hatte. In Kurzem bestieg er selbst den 
Kaiserlhron, und schmückte seinen Bruder mit der Krone der 
Niederlande. 

Wem schien damals nicht der hohe Standpunkt dieser Indi- 
viduen beneidenswerth 1 Wer fürchtete die Wandelbarkeit des 
Schicksals ? Und doch hatte es seine Hand schon über dem Haupt 
der jungen Konigin erhoben. Der Tod raubte ihren Erstgebor- 
nen. Diesem ersten Schlage folgten noch härtere. Ihre Mutter 
vcrliefs resignirend Frankreichs Thron, dessen Glanz sie durch 



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1140 LilerargeschichU - Schulschriflen. 

ihre Tugenden verdoppelt hatte; bald darauf verlor ihn der 
mächtige Napoleon selbst; die einst Ueberwundenen zogen sieg- 
reich in Paris ein, und Hortensia, so achtungsvoll man ihr be. 
gegnete, von ihrer Familie gelrennt, fand nur Trost bei der ge- 
beugten Mutter, die plötzlich in den Armen ihrer Kinder eine 
Welt verliefs , deren Freude und Leid sie in so vollem Maafse 
erfahren hatte. Noch einmal blickte Fortuna zurück , als Elba's 
Verbannter durch seine Heimkehr Frankreich und Europa er- 
schütterte. Sein rasches Vordringen hinderte die Flucht der kö- 
niglichen Familie, und Hortensia fand die schönste Gelegenheit, 
ihren Edelmuth zu zeigen , indem sie den besondern Schutz des 
Kaisers für sie erlangte, und nach allen Seiten Trost und Hülfe 
verbreitete. Jedoch die überraschten Sieger legten die Hände 
nicht in den Schoofs; unerwartet fiel bei Waterloo der grofse 
Würfel, und der Held des Jahrhunderts, der Wiederherstei/er 
Frankreichs, der Schiedsrichter Europas, von den Seinigen ver- 
lassen, von Feinden verfolgt, vernahm von den Lippen der ge- 
treuen Schwägerin die letzten Trostworte; dann vertraute er sich 
und sein Schicksal dem Belierophon. Auch die Konigin fand nur 
Heil in der Flucht.* Dem geliebten Vaterlande entsagend, durch- 
zog sie unstät die Schweiz, begab sich dann zu ihrem Bruder an 
den Hof des verwandten Königs von Baiern , der ihr eine .Ruhe- 
stätte zu Augsburg bewilligte, und erwarb, bald darauf die freund- 
liche Anhohe des Arenenbergs im Thurgau. Hier lebte sie seit- 
dem ruhig in der schönem Jahreszeit , dem edlen Eugen nahe 
genug, um ihn oft zu sehen. Allein der Becher der Leiden war 
noch nicht geleert. Im Jahre 1824 trennte der Tod sie von dem 
Bruder, und bekümmert floh sie Deutschland und die Schweiz, 
wo Alles an den harten Verlust erinnerte. Nur Italiens heiterer 
Himmel wiegte sie in Vergessenheit, und zu Rom gewährte ihr 
die Hekuba der Napoleoniden den besten Trost der Leidenden, 
vereinte Klage. 

Nach Rom eilte sie nun jährlich von ihrem Sommersitze, bis 
i83i dieser angenehme Lebensplan gestört wurde. Jugendliche 
Täuschungen, die damals das schone Welschland zum WaiVen- 
platzc machten, beraubten sie auch ihres zweiten Sohns, und mit 
genauer Noth rettete sie durch Frankreich, nur von der neuen 
Königsfamilie erkannt nnd dankbar geschützt, ihren letzten Spröfs- 
ling in das gastfreundliche Inselland, wo früher schon ein vor- 
maliger Kronenträger ihres Hauses Zuflucht gefunden hatte. Hier 
hoffte sie ungestörte Ruhe; ja das Schicksal schien, besänftigt, 
der vielgeprüften Fürstin noch mehr gewähren zu wollen, als sie 
erwartete. Die Unruhen Italiens waren bald gedämpft; man ver- 
zieh sie, und Hoitensia durfte heimkehren zu ihrem geliebten 
Arenenberg, um dort sorgenlos in stiller Zurückgezogenheit, an 
der Seite des hoffnungsvollen Sohns, ihre letzten Tage zu ver- 
leben. 

Wer erinnert sich nicht mit Bedauern der unerwarteten Er- 
eignisse, die auch diese bescheideoe Hoffnung trübten? Sogar 



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Liter&rgeacbichle - Srhulschrlften. 1141 

der einzig ihr noch übrige Sohn roufste iiieben an ferne Husten, 
Wie sein berühmter Oheim, and haam wurde dem Unglücklichen 
die Rückkehr an den heimischen Heerd vergönnt, um denScheide- 
kufs der sterbenden Matter zu empfangen. Längst hatte ein un- 
heilbares Uebel an dem Leben der erhabenen Frau genagt und 
sie ans Krankenbett gefesselt. Ihr kunstvolles Saitenspiel ver- 
stummte, and Arenenberg, der Sitz geistreicher Geselligkeit, ward 
ein Traaerort. Am Abend solches Tages erwartete Hortensia den 
Tod wie einen Freund; nur ihren Sohn wünschte sie noch ein- 
mal zu sehen. Und dieser Wunsch ward erfüllt; in den letzten 
Wochen ihres verhängnifsvollen und früh gehemmten Daseins 
war Prinz Ludwig wieder an ihrer Seite; er empfing den Ab- 
schiedsktifs der getrösteten Mutter; er drückte ihr die Augen zu. 
Mit 'seinen Thränen vereinigen sich die der Wissenschaft und 
Kunst, die sie liebte; zahllose Bedürftige, deren Schutzengel sie 
war, rufen ihr Segen nach und beten für das Heil ihrer Seele; 
die Geschichte aber zeichnet lächelnd in ihre Tafeln das Bild ei- 
ner Frau, die im Glücke nie vergafs, dafs sie eine Sterbliche war, 
und im Unglücke nie daran verzweifelte, nach dein Sturm eine 
höhere Zuflucht zu finden. 

Konstanz. Dr. F. //. B 0 t h e. 



Kncyclopidie des Gend du Monde. Tome huiticmc. Premiere, se- 
conde Partie. Pari*, Treuttcl et ff'ürts, rue de Lille no. 17. Strass- 
bourg, meme muison, »rand'ruc no. 15. 1837 805 & in gr. 8. 

Wir freuen uns, nachdem *ir im Februarheft dieses Jahr- 
gangs S. 209 fT. den siebenten Band dieses Werkes angezeigt, 
schon so bald von dem Erscheinen des vorliegenden achten 
Bandes, der in seinen beiden Abtheilungen von Depart bis an 
das Ende des Buchstabens D reicht, berichten und unsern Lesern 
die gleiche Versicherung wiederholen zu konneu, wie diese für 
ein gröfseres und gebildetes Publikum bestimmte Encyclopädie in 
ihrem raschen Fortgang immer mehr den Erwartungen entspricht, 
die man von einem so zweclimäfsig angelegten W erke schon bei 
dem ersten Erscheinen zu machen berechtigt war. Die beiden 
vorliegenden Theile enthalten wieder eine Reihe von interessanten 
Artikeln, von den verschiedenen gelehrten Mitarbeitern, die un- 
sern Lesern schon aus der Anzeige der früheren Bände bekannt 
sind, abgefafst ; wir erinnern nur, um doch wenigstens einige 
Proben und Belege unsers Urtheils anzuführen , an so manche 
biographische Artikel, die gewifs nicht verfehlen werden, die Auf- 
merksamkeit an sich zu ziehen und die wir zum Theil auch der 
Feder des gewandten und kenntnisreichen Redacteurs Herrn 
Schnitzlet' verdanltep, wie z. B. die Artikel Didot t Duchdlel, M. 
Dudevant (George Sand), Dumouriez, Dupin, Dupont, Malhieu 
Dumas und der Dichter Alexander Dumas oder der treffliche 
Artikel über Diodor von Daunou , die Artikel Descarles, Duns 



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1142 



Literärgeachichtc — SchoUcbriften. 



Scot u. a. von Amedee Prevost, oder der merkwürdige Artikel 
Doctrinaire von dem oben genannten Herausgeber des Ganzer», 
oder die Artikel Dieu von Gtidlon, Dogme von Matter , Droit in 
seinen verschiedenen Beziehungen ( Droit Canon, civil, comnter- 
cial, public, feodal, franc/m, international etc.) von dem Her- 
ausgeber und andern Mitarbeitern, unter denen wir mir die Na- 
men Labouderie ( für Droit Canon ), Taillandier voo dem auch 
der Artikel Divorcc und einige andere), Rossi , Savagner, Klim- 
rath, Paul Rojer-Collard u. A. nennen, ferner manche geographi- 
sche Attikel von Depping , oder antiquarische von Golbery, 
Delcasso u. A. 

f'itam Coro Ii Sigonii, viri »ingutari virtute , mortbus , ingenio, doctrina 
meritis praediti, ad inritundum juventuti expouuit indicemque ejus Uli n- 
rum adjerit J o. PA. Krt b $ tut , ph. Dr. et profeas. litter. antiqq. 
Programma, quo lusttatio vcmali* DD. XX — XXII mensis Martii 
MflCCCXXXPIl habcnda indicitur. H'citburgL Kx officina L. Aem. 
Lunzii 4(> S. (mit den Schulnachrichten (18 S.) in 4. 

» 

Der gelehrte Herr Vf. wählte sich diesmal zum Gegenstand 
eines Festprogramms die Schilderung des Lebens und der wis- 
senschaftlichen Leistungen eines der berühmtesten Humanisten 
des sechzehnten Jahrhunderts, des durch seine zahlreichen Schrif- 
ten über verschiedene Gegenstande des classischen Alterthums ^ 
auch jetzt noch hoch geachteten und gefeierten Carl Sigonius, 
dessen Werk über Athens Staatsverfassung nach dem richtigen 
Urthcile C. Fr. Hermanns noch immer seinen Werth als selbst- 
ständige Forschung und Grundlage der meisten folgenden Unter- 
suchungen behalt, so vieler anderen werthvollen Schriften über 
römische Geschichte und Staatsverfassung, Chronologie u. a. nicht 
zu gedenken. Herr Prof. Krebs liefert uns zuerst eine recht an- 
ziehend geschriebene Darstellung der Lebensverhältnisse und Le- 
bcnsschieksale dieses gelehrten Italieners, der im Jahre i5a3 zti 
Modena geboren, im Jahre i584 auf seinem in der Nabe dieser 
Stadt gelegenen Landgute starb, nachdem er lange Jahre hin- 
durch eine Zierde der Universität Bologna gewesen war. Dafs 
in diese Darstellung auch die interessante Geschichte seiner lite- 
rarischen Streitigkeiten mit Roborfellus, und zuletzt noch kurz 
vor seinem Tode ( 1 583 ) mit Riccobonus über die angebliche 
Consolatio Ciceronis, als deren Verfasser aber Sigonius, wie auch 
hier befriedigend nachgewiesen, nimmer mehr zu betrachten ist, 
u. A. der Art eingeflochten , bedarf kaum einer besonderen Er- 
wähnung, da eben in dieser Schilderung hauptsächlich auf die 
Jitei aVbchc Thätigkeit des Sigonius und seine einzelnen wissen* 
schaftlichen Leistungen, wie sie nach und nach hervortraten, 
Rücl'.sicht genon nen worden ist. Eine im pari heiische Würdigung 
seines Charakters und seiner Persönlichkeit beschliefst diese Schil- 
derung, an welche dann von S. 33 an eine genaue Uebersicht 
der einzelnen Schriften des Sigonius, mit allen nutbigen literari- 



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LUerirgeachtchte — SchuUchriftca 1143 

s 

sehen 'Notizen und Nachweisungen versehen, so wie mit Angabe 
der verschiedenen Ausgaben der einzelnen Schriften sowohl als 
der Opera, sich anreibt. Es sind in Allem vier und dreifsig 
Nummern, an welche sich unter eilf Nummern noch die erst 
nach seinem Tode im Druck erschienenen Schriften anschliefsen, 
so wie unter fünf oder vielmehr sechs Nummern die mit Un- 
recht dem Sigonius von Mehreren beigelegten Schriften. Aaf 
diese Weise enthält diese Monographie nicht blos für den Ge- 
lehrten, zunächst für den Literarhistoriker manches Schätzbare, 
sondern sie wird auch jungem Lesern als eine recht nützliche 
Leetüre empfohlen werden können. 

Wir verfehlen nicht bei dieser Gelegenheit eine andere ähn- 
liche Biographie zu nennen , auf deren Inhalt uns freilich 
nach den Gesetzen des Instituts nur im Allgemeinen aufmerksam 
zu machen erlaubt ist. Als Festprogramm der Universität Frei- 
burg erschien nämlich in diesem Jahre: 

Heinrich Loriti Glareanus, gekrönter Dichter, Phihlog und Ma- 
thematiker an» dem sechzehnten Jahrhundert. Biographitehe Mitthei- 
iung zur jährlichen Geddehtnifsfehr an der Ulbert - Ludwig shoehschule 
»u Freiburg im Hrcug au. Ion Dr. Heinrich Schreiber, grofeh. 
bad. geietl. Ruthe und ordentl. offen tl. Profeseor. Freiburg, Univerei- 
tätebuchdruckerei der Gebrüder Grooa 18*7. 13« 9. in gr. 4. 

Auch hier erhalten wir eine sehr vollständige, mit literari- 
schen und andern für die Geschichte jener Zeit wichtigen Noti- 
zen ausgestattete Schilderung eines, obwohl etwas älteren Zeitge- 
nossen des Sigonius, eines geborenen Schweizers aus Glarus (da- 
her wohl Glareanus), der als Lehrer und als Gelehrter ebenfalls 
im sechzehnten Jahrhundert (er lebte von 1488 — i563) mit Aus- 
zeichnung genannt wird. Auch in dieser Schilderung ist es be- 
sonders die wissenschaftliche und geistige Richtung, welche vor- 
zugsweise berücksichtigt wird j daher wir denn auch nähere Nach- ( 
richten über die Verbältnisse dieses auch durch seine schone la- 
teinische Sprache ausgezeichneten und in verschiedenen Zweigen 
gelehrter Bildung wohlbewanderten Mannes erhalten, namentlich 
über seine Verhältnisse zu Erasmus, zu den Züricher Gelehrten, 
zu Zwingli u. A ; Glareanus erscheint darin als ein eifriger An- 
hänger der älteren Lehre und als Gegner der Reformation. 
Dieser umfassenden Schilderung folgt dann S. cp ff. eine Wür- 
digung der Leistungen des Glareanus als Schriftsteller sowohl indem 
Kreise der schonen Wissenschaften, als in der elassis< • <i Litera- 
tur (wo besonders seine Leistungen über Livius bekamt sind), 
und daran reiht sich ein mit vieler Sorgfalt gemachtes und mit 
ollen literarischen Notizen und Nach Weisungen versehenes Vet- 
zeiciinifs der im Druck erschienenen Schriften Desselben. 



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1144 Literärgetcbicbte - SchuLchriftcn 

1) Bericht vom Jahre 1885 an die Mitglieder der deut ecken Gesell- 
echaft zur Erforschung vaterländischer Sprache und Alterthümer in 
Leipzig. Herausgegeben von Karl August Espe, zeitigem Ge- 
eckichtsekreiber der Gesellschaft. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1835. Vlll 
und 69 S. in gr. 8. 

2) Bericht vom Jahre 1836 « t. w. 78 8 in gr. 8. 

Z) Bericht vom Jahre 1831 uf e. w. Heraungegeben von den Geschäfte- 
führern der Gesellschaft Dr. Aemilius Ludwig Richter, Professor 
der Hechte und Dr. Karl August Espe. Leipzig, F. A. Brockhaue. 
1837. 79 & in gr. 8. 

Die hier anzuzeigenden drei Berichte von den Jahren 1 835 
bis iHJ- sind ein erfreulicher Beweis der ununterbrochenen Thä- 
tigkeit dieses gelehrten Vereins, so wie des regen Eifers ihrer 
gelehrten Vorsteher, deren Sorge wir zunächst die Herausgabe 
dieser Berichte und damit die Bekanntmachung mancher schätz- 
baren Forschung verdanken. Die Einrichtung dieser Berichte ist 
im Ganzen derjenigen gleich geblieben, die wir schon bei An- 
zeige der früheren Berichte von den Jahren i833 und i834 ( s * 
Jahrg i834 p. 5üi ff. und Jahrg. i835. p. 916 ff.) in diesen 
Blättern nahmhaft gemacht haben Wir finden theils Abhandlun- 
gen , theils kürzere Mittheilungen über wissenschaftliche Gegen- 
stande, welche in den Kreis des Vereins fallen, dann auch regel- 
mä'fsig Nachrichten über die Geschichte der Gesellschaft, und die 
Vermehrung ihrer Sammlungen an Gegenständen des Alterthums 
wie an gedruckten Büchern. VVir wollen hier, unserem Zweck 
gemäfs, der sich zunächst auf Anzeige der in diesen Berichten 
enthaltenen Forschungen wissenschaftlicher Art beschränkt , aus 
den Abhandlungen einige nennen, die zugleich auch ein allgemei- 
neres Interesse haben und durch diesen Abdruck auch einem grös- 
seren Kreise von Lesern mit Recht zugänglich geworden sind. 
Wir rechnen dahin die beiden in dem Bericht von i835 abge- 
druckten Aufsätze von Ch. L. Stieglitz: „Ueber die in den alten 
Gräbern Deutschlands aufgefundenen Alterthümer, als die Zeichen 
germanischer Ausbildung u , und: „die Sage von Wieland, dem 
Dädalus der Deutschen", eine recht interessante Abhandlung. 
Mit gleichem Interesse haben wir aber auch den Aufsatz des 
Herrn Dr. Puttrich, des gelehrten Herausgebers der mit verdien- 
tem Beifall aufgenommenen „Denkmale der Baukunst des Mittel- 
alters in Sachsen* 4 durchgangen; es verbreitet sich dieser Auf- 
satz im Ganzen über denselben Gegenstand ; der Verf. macht zu- 
erst auf die grofsen Schwierigkeiten aufmerksam, welche bei nä- 
herer Prüfung der Baudenkmale des Mittelalters schon darin uns 
entgegen treten, dafs wir in ihnen nicht, wie bei ähnlichen Resten 
des heidnischen, griechischen wie römischen Alterthums, Werke 
einer und derselben Zeit , aus einem Gusse hervorgegangen , er- 
blicken, sondern Werke , die oft Jahrhunderte lang, unter länge- 
ren Zwischenräumen aufgebaut worden sind, und so Spuren des 
Baustils verschiedener Länder, Oerter und Zeiten an sich erken- 



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Literärgeichichte — SchuUchriften. 1I4S 

nen lassen, wie denn der (byzantinische) Rundbogenstyl und der 
({sogenannte gothische) Spitzbogenstyl Jahrhunderte neben einan- 
der laufen. Nun giebt der Verf. ein genaues Verzeichnis der 
Baudenkmale, wie sie vom zehnten Jahrhundert an in ununter- 
brochener Stufenfolge bis gegen die Mitte des dreizehnten hin in 
Sachsen noch vorhanden sind, und knüpft daran eine .Reihe von 
Bemerkungen über drei insbesondere ausgezeichnete Denkmale, 
die Kirche zu Memleben (um 968 — 975 erbaut), die Schlofskii che 
zu Querfurt (um 994) und den Dom zu Merseburg (um ioi5 
bis io65). 

In dem Bericht des Jahres 18 3b tritt uns zuvorderst entge- 
gen eine Abhandlung des Herrn Oberbibliolhekars Gersdorf über 
das schwerlich vor dem Tode Friedrichs II. (is5o) gestiftete 
Franciscancrkloster zu Meifsen , dessen erste urkundliche Nach- 
richt von dem Jahr 1203 stammt. Wir verbinden mit dieser 
gründlichen und gelehrten Abhandlung einen andern Aufsatz, der 
sich durch gleich gründliche und umfassende Behandlung des Ge- 
genstandes auszeichnet: „Zur Geschichte des Stift Meifsniscben 
Archidiakonats in Nisan," von K. A Espe. Die dankenswerten 
Mittheilungen ans Handschriften der leipziger Universitätsbiblio- 
thek, die wir der Gute desselben Herrn Oberbibliothekars Geils- 
dorf verdanken, sind aus einer Handschrift des eilfien Jahrhun- 
derts entnommen; die erste Mittheilung über das Monochord in 
althochdeutscher Sprache erscheint hier zum erstenmal gedruckt, 
die andere, über das Maafs und die Tonverbaltnisse gewisser mu- 
sikalischer Pfeifen, findet sich zwar schon in Gerbarts Scriptt. 
eccless. de musica T. I., aber der hier nach der leipziger Hand- 
schrift gelieferte Abdruck zeigt wesentliche Verschiedenheiten 
von der St. Gallen sehen Handschrift, nach welcher Gerbert den 
Text gegeben hatte. 

Den Bericht des Jahres 1837 eröffnet ein billig an den Ein- 
gang gestellter interessanter Vortrag des Herrn Conrector Jahn : 
„Welches ist der natürlichste und allgemeinste Erforschungsge- 
genstand eines Vereines des vaterländischen Alterthums?" Daran 
schliefsen sieh Mitteilungen von ungedruckten Liedern des Mit- 
telalters durch Herrn Dr. Leyser; darunter insbesondere das aus 
einer leipziger Handschrift mitgctheilte Bruchstück aus dem durch 
Fischer und Molter bekannt gewordenen lateinischen Epos von 
den Kämpfen Attilas, der Flucht Walters u. s. w. Der hier ab- 
gedruckte Text, dessen Schuf t dem Anfang «'es dreizehnten Jahr- 
hunderts angehört, bietet manche Abweichungen von dem bisher 
bekannten dar, und dtlifte daher bei der zu erwartenden neuen 
Ausgabe dieses durch Form und Inhalt merkwürdigen Produktes 
mittelalterlicher Pnesic wohl zu berücksichtigen seyn. 

Aus der Jahresgesehichte der Gesellschaft erwähnen wir ins- 
besondere den in einer Sitzung vom 26. Oct. i836 zur Sprache 
gekommenen Plan, Schriften der deutschen Gesellschaft 
erscheinen zu '.assen; ein Plan, dessen Ausfuhrung um so er- 
wünschter scheinen mufs, als bereits zwei der ausgezeichnetsten 



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114« 



Literärgttchiehte — Sc ha lach ritten 



Mitglieder des Vereines, die schon oben genannten Hrn. Gers- 
dorf and Espe dazu ihre Bereitwilligheit durch die Erklärung 
bewiesen, die von ihnen beabsichtigte (gewifs recht erwünschte) 
Handausgabe eines Corpus praecipuorum historiae germanicae scrip- 
torum mcdii aevi unter doppeltem Titel (also zugleich mit dem 
besondern Titel: „Schriften der deutschen Gesellschaft* 4 ) erschei- 
nen zu lassen. Ein solches Unternehmen , gewifs würdig einer 
deutschen Gesellschaft, k&inte nur allgemeinen Beifall finden und 
allgemeine Theilnabme erwecken; wir sehen sehr verlangend nä- 
heren Nachrichten über die Art und Weise der Ausführung die- 
ses Unternehmens entgegen. 

Unter den beklagenswertren Verlusten, welche die Gesellschaft 
erlitten hat, ist vor Allem der Tod ihres mnhr jährigen, bis. in 
sein hohes Alter unermüdet thätigen Vorstehers, des Dompropsts 
Dr. Stieglitz am 17. Juli i836 zu nennen. Die „Worte der 
Aufforderung an die verehrten Mitglieder der deutschen Gesell- 
schaft, feierlich die irdische Hülle des Verewigten nach dem Grabe 
zu begleiten, ausgesprochen im Namen des Vorstandes durch 
Karl August Espe-, Geschichtsschreiber der deutschen Gesell- 
schaft ( 9 S. in gr. 4. ) u zeugen von der innigen Tbeilnahme, 
welche sich bei diesem Verluste aussprach. Einer schon früher, 
zur fünfzigjährigen Promotionsjubelfeier des Domprobst Stieglitz 
erschienenen Schrift desselben Herrn Espe „Ueber die Feate 
Grona in der sin vischen Zupanie Hlomazi" haben wir schon frü- 
her in diesen Jahrbüchern Jahrg. i835. S. 918 verdientermaafsen 
gedacht. 

• 

Fünfter J ahresberieht an die Mitglieder der Sinsheimer Gesell 
seh aft zur Erforschung der vaterländischen Denkmahle der Forzeit, 
von Stadtpfarrer A. IV ilhelmi in Sinsheim, d. Z. Direetor % der Sins- 
heimer Gesellschaft , wirkt. Mitgticde der naturforschenden Gestilsehaft 
in Görlitz und der königl. Gesellschaft für nordische Alterthumskunde 
in Kopenhagen u. t. w. Sinsheim 1836. Auf Kosten der Gesellschaft. 
4ß V. in gr. 8. 

Wir sind auch bei diesem Berichte, wie bei den früheren 
(s. Jahrg. 1834. S. 519 f. und 1 836. S. 941 f.)i den Gesetzen des 
Instituts gemä'fs, auf eine einfache Relation des Inhalts beschränkt, 
der uns einen neuen Beweis von der unermüdlichen Thätigkeit 
des gelehrten Herausgebers liefert, dem wir schon so manche 
Bereicherung der vaterländischen Alterthumskunde verdanken. 
Der Bericht beginnt mit einer genauen Nachricht über die Er- 
gebnisse einer bei Rappenau, wo sich eine zweifache Gruppe von 
Grabhügeln findet, unternommenen Aufgrabung von drei kleine- 
ren solcher Hügel, welche der zweiten, aus wenigstens zwölf 
Hügeln, die etwas weiter auseinanderliegen, und von denen sich 
einer durch ungewöhnliche Gröfse auszeichnet, bestehende^ Gruppe 
angehören. Wir finden hier dieselbe musterhafte Genauigkeit in 
allen einzelnen Angaben, welche des Verf. Beitreibungen der 



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Literärgeachicht« - Sehulichrlftdi. 11« 

i 

früher unternommenen Ausgrabungen ähnlicher Grabhdgel bei 
Sinsheim und anderwärts auszeichnet , und bemerken nur so viel, 
dafs im Ganzen diese Rappenauer Hügel dieselben Erscheinungen 
darbieten, wie die bei Sinsheim bekannt gewordenen, dafs in- 
zwischen die darin gefundenen Gegenstande nicht von der Reich- 
haltigkeit sind, und auch schon einer spätem Zeit anzugehören 
scheinen, so wie einen weniger kriegerischen Volksstaram verta- 
then; die darin gefundenen Ornamente sind im Allgemeinen künst- 
licher; die steinernen Opferwerkzeuge fehlen und Warten treten 
selten hervor. Die Leichname selbst waren fast gänzlich ver- 
wesen. 

An diese Nachrichten schliefen sich von S. 10 an ähnliche 
über die Grabhügel in dem alten germanischen Gau Grabfeld 

S zwischen Meiningen, Römhild, Honigshofen und Ostheim), welche 
ibrigens anderer Art sind und namentlich keine Leichname, die 
un verbrannt darin niedergelegt waren, sondern in Urnen gesam- 
melte Knochenreste verbrannter Leichname enthielten , wie man 
sie, zumal in Norddeutschland öfters, ja selbst hie und da in Sud- 
deutschland gefunden hat. Da man solche Urnenhügel theiiweise 
für älter als die mit ungebrannten Leichnamen hat erklären wol- 
len ( was wir mit dem Verf. keineswegs zugeben möchten) , so 
veranlafst diefs den Vf. hier eine nähere Classification der sämmt- 
lichen in Deutschland bekannten Grabdenkmahle nach ihrem Al- 
ter zu versuchen, wie diefs auch von ihm in diesen Jahrbüchern 
(Jahrg. i836 S. 1180 ff.) bei Gelegenkeit einer Recension von 
Klemms Handbuch der germanischen Alterthumskurtde angedeutet 
-worden ist. Die hier aufgestellte Unterscheidung von drei Arten 
von Todtenstätten auf deutscher Erde wird von dem Verf. im 
Einzelnen näher erörtert und es werden dann sorgfältig die ein- 
zelnen Grabdenkmale, wie sie der einen oder der andern dieser 
drei Gattungen zufallen, nahmhaft gemacht. Gewifs einer nähe- 
ren Untersuchung in dieser Beziehung würdig wäre die vom Vf. 
am Schlüsse seiner Darstellung ausgesprochene Wunsch einer 
näheren Bestimmung, wann eigentlich in Deutschland • überall die 
Särge aufgekommen sind. Die von S. 24 an mitgetheilte Be- 
schreibung eines neben dem Dorf Steinsfurth gelegenen römischen 
-Gebäudes, dessen völlige Ausgrabung Herr Heckmann vollführte, 
zeigen uns immerhin, wie auch in dem Eisenzgau frühzeitig Rö- 
mer sich angesiedelt und auch hier, wie in andern Oi ten* unseres 
Vaterlandes den Grund zu der Cultur des Bodens gelegt haben. 
Aus den genauen Nachrichten über die einzelnen Bestandteile 
dieses grösseren Gebäudes sehen wir, dafs dasselbe eine Thinge 
von i5o Fufs neu badischen Maafses hesafs! Feuersgewalt scheint 
dasselbe zerstört zu haben; und es mögen wohl die werthvollstcn 
Gegenstände, die dasselbe enthielt, entweder geraubt und geplün- 
dert oder zerschlagen und zerstreut worden seyn. Denn unter 
den beim Ausgraben vocgefundenen Gegenständen aus Bein, 
Metall, Stein und Thon, wie sie hier anfs sorgfältigste beschrie- 
ben werden, findet sich im Ganzen Nichts Bedeutendes, auch 



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1148 Literirgeachichte — Schulich riftcn 

keine Münze and kein einziges ganzes Gefäfs. — Den Beschlufs 
macht die Beschreibung einer Anzahl römischer Münzen aus der 
Kaiserzeit, welche zu der Sammlung der Gesellschalt neu hinzu- 
gekommen , sind. 



De philosopkiae in gymnusits studio Difputatio. Scripsit Georg. Carol. 
Liebet, phil. Doct. Artt. libb. Mag. Gymnasii Dretd. Colleg. III. 
Dresdae et Lipsiac, in commissi* apud Arnoldum, 1837. 53 S. in gr. 8. 

Ref. bat diese Schrift mit vielem Vergnügen durcbgangen, 
thcils wegen der vollständigen und befriedigenden Entwicklung 
des Gegenstandes, theils auch wegen der angenehmen und klaren 
Darstellnngsweise, und der iliefsenden lateinischen Sprache, welche 
wahrhaftig nicht der Entschuldigung bedarf, die der Herr Verf. 
am Schlüsse des Vorworts einlegt: „Qua in scriptione mea si 
haud pauca occurrent, quae a probatae Latinitatis [elegentia ab- 
horrere videantur, ignoscant, quaeso, aequi judices homini et ptU 
mum scribere aliquid conanti et in eo genere versanti, quod ne- 
gotium facessere possit vel exercitattssimis (was wohl wahr ist). 

Gegenstand dieser interessanten Schrift ist die in der jetzi- 
gen Zeit, wo man sich fast aller Orten, bald mehr bald minder, 
mit Reformen des höheren (wie auch des niederen) Schulwesens 
beschäftigt, oder mit neuen Plänen umgeht, welche dasselbe sei- 
ner Bestimmung und seinem Zweck immer näher bringen sollen, 
viel besprochene Frage über die Behandlung der Philosophie auf 
Gymnasien, und über die Stelle, welche die Philosophie in den 
zu den Universitätsstudien vorbereitenden Unterrichtsgcgenständen 
einnehmen soll. Wie verschieden, aber auch wie schwankend 
und unbestimmt die Ansichten darüber sind, kann man ans der 
sorgfältigen Zusammenstellung, wie sie uns im ersten Abschnitt 
dieser Schrift geboten wird, zur Genüge ersehen. Es hat näm- 
lich der Vf. darin die Ansichten der Gegner des philosophischen 
Unterrichts auf Gymnasien , so wie der Vertheidiger desselben 
in einer klaren, f'afs liehen Uebersicht vorgelegt, um dann im an- 
dern Abschnitt eine nähere Beleuchtung oder, wie man will, eine 
Widerlegung der zuerst erwähnten Ansicht folgen zu lassen, worin 
ihre Unzulänglichkeit, so wie die Notwendigkeit, den philosophi- 
schen Unterricht beizubehalten , dargethan wird. Da an diese 
polemische und somit mehr negative Erörterung sich nun am 
Schlufs auch eine bestimmt positive Darstellung knüpft, wotm 
der Verf. (und darauf wird es allerdings bei dieser ganzen Frage 
am meisten ankommen) zu zeigen sucht, wie dieser Unterricht, 
um nützlich und erspriefslich zu seyn, und also auch nicht Ge- 
genstand gerechten Tadels und Verwerfung zu werden , einzu- 
richten sey, so wird man nichts vermissen, was zur vollständigen 
Erörterung des Gegenstandes gehört, da der Verf. kein bei die- 
ser Untersuchung zu berücksichtigendes Moment übet gangen und 
eine reichhaltige Literatur überall beigefügt bat. 

Es wird uns daher wohl vergönnt seyn, den Gang der ün- 



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LÜcrärgeschichte - Schulten riften. 1149 

i 

tersuchung des Vf. in der Kurze unsern Lesern vorzulegen und 
sie zugleich auf das Resultat aufmerksam zu raachen, welches 
daraus gewonnen wird, da wir zugleich überzeugt sind, dafs bei 
der Klaren Entwicklung und dem angenehmen Kluis der Sprache 
— Eigenschaften , die wir in manchen über diesen Gegenstand 
deutsch geschriebenen Aufsätzen vermissen — Jeder, der die 
Schrift in die Hand nimmt, gern längere Zeit dabei verweilen 
wird. 

Der Verf. geht in dem ersten Abschnitt von dem Streben 
nach Neuerungen, Verbesserungen u. dgl. aus, das in unsern Ta- 
gen uberall rege geworden , alle Zweige und Verhältnisse des 
äu&eren Lebeus durchdrungen und so denn auch seinen rückwir- 
kenden Einflufs auf die Wissenschaft, zunächst auf Erziehung, 
Unterricht und Bildung auf eine nicht immer gerade erfreuliche 
Weise geäufsert hat, namentlich in Aufstellung des sogenannten 
Nützlichkeitsprincips, nach welchem auch in der Wissenschaft 
verfahren, und alle Erziehung und Bildung, aller Schulunterricht 
eingerichtet werden soll. Es ist nur zu sehr bekannt, welche 
Nachtheile dieses, alle wahre Wissenscheft entwürdigende und 
alle edlere, höhere und somit wahrhafte Geistesbildung hemmende 
und unterdruckende Princip mit sieb gebracht hat oder weiter 
mit sich zu bringen droht, und wir können uns nur freuen, bei 
dem gebildeten Theile unserer Nation eine gerechte Abneigung 
und einen wahren Unwillen dagegen allgemein zu bemerken. In 
einer milderen Form ist diese Ansicht auch da hervorgetreten, 
wo man z B. die Mathematik, allerdings eine bei dem Unterricht 
nothwendige, aber doch immerhin nur subsidiäre Wissenschaft, 
über Gebühr begünstigen und an die Spitze der gesammten hö- 
heren, gelehrten Bildung hat stellen wollen. Aus demselben 
Nütztichkeits- und setzen wir hinzu, auch Faulheits- und Träg- 
heitsprineip sind denn Behauptungen hervorgegangen, wie sie nur 
Unverstand und Unkenntnifs aller unserer Lebensverhältnisse und 
unserer ganzen historischen, religiösen wie politischen Bildung 
erzeugen konnte; wenn man z. B. das Studium der alten Spra- 
chen gänzlich bei Seite setzen oder an ihre Stelle, lächerlich ge- 
nug, die neuern Sprachen setzen zu können wähnte, oder gar die 
Naturwissenschaften in ihrem ganzen weiten Umfang in das Ge- 
biet der Schulwissenschaften einführen wollte u. dgl. m. Der Vf. 
Iiat diese Gegenstände mit berührt und zuletzt noch der gymna- 
stischen Uebungen und selbst des unsere Zeit, insbesondere Nord- 
deutschland so lebhaft berührenden Lorinser'schen Streites ge- 
dacht, wobei er, als guter Sachse, in einer Note gelegentlich die 
Bemerkung beifügt, deren Würdigung tief. Andern überlassen 
roufs, die diese Verhältnisse besser kennen, als er. Er schreibt 
nämlich S. i3. not. 3i : „Ceterum si omnia recte se habent, quae 
de hac Lorinseri causa a viris rei scholasticae bene gnaris profe- 
runtur, multum detrahitur de summis illis laudibus, quibus usque 
ad hunc diem totam Gymnasiorum in Borussia rem atque institu- 
tionem extollere solent." 



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1150 Litcrär^ i hichtc - SchuUchri tten. 

Mit S. i5 kommt der Herr Verf. nun naher auf das, was 
zunächst Gegenstand seiner Schrift ist, auf die Philosophie nnd 
deren Unterricht auf Gymnasien, und er bat mit ähnlicher Offen- 
heit und Entschiedenheit gleich am Eingange seine Ansicht aus* 
gesprochen : „Id unum jam ago, ut pbilosophiam ejusque in gym- 
nasiis Studium, artioribus quidem illis, quos ratio atque usus sua- 
det, finibus oircumscriptum in tuto colfocera." Der Verf. zwei- 
felt auch nicht, dafs er selbst jetzt noch solche finden werde, 
die seiner Ansicht Beifall zollen und mit ihm das Unrecht erken. 
nen, welches diejenigen begehen, die die Philosophie „hanc 
omnium artium proereatricem et quasi parentem u aus dem Gym- 
nasialunterricht ganzlich verbannt wissen wollen. Er versäumt 
es dann auch nicht , die gewichtigen Stimmen und Autoritäten 
derer anzuführen, welche theils durch Abfassung eigener, für den 
philosophischen Unterricht auf Gymnasien bestimmten Schriften 
oder Compendien, theils durch anderweitige empfehlende Aeufse- 
rungen sich für die Beibehaltung oder Aufnahme der Philosophie 
in die Unterrichtsgegenstände der Gymnasien ausgesprochen ha- 
ben. Wer die in- dem letzten Decennium darüber in Deutsch- 
land geführten Untersuchungen und selbst Streitigkeiten kennt, 
wird sich nicht befremden, hier die Namen der angesehensten 
Schulmänner und Gelehrten Deutschlands zu finden: und er wird 
es dann auch erklärlich finden, wenn iu Folge dessen in den ver- 
schiedentlich und in verschiedenen Ländern erlassenen Verord- 
nungen ein mehrstündiger Unterricht in der Philosophie als vor- 
bereitend zu den akademischen Studien für die Gymnasien vor- 
geschrieben worden ist. 

Im zweiten Abschnitt finden wir zuerst eine nähere Prü- 
fung der allem Unterricht der Philosophie auf Gymnasien entge- 
gengesetzten Ansicht, oder vielmehr eine Widerlegung derselben, 
in welcher der VI. zuvorderst zu zeigen sucht , wie die von den 
Gegnern vorgebrachte, angebliche Schwierigkeit der Auffassung 
philosophischer Gegenstände kein genügender Grund seyn könne, 
den Unterricht in der Philosophie gänzlich wegzulassen, zumal 
wenn es sich um die mehr propädeutischen» Wissenschatten , um 
Logik, Geschichte der Philosophie u. s. w. handelt. Die Schwie- 
rigkeit liegt dann nicht sowohl in der Sache selbst, als vielmehr 
in der Art und Weise des Vortrags, in der Behandlung der Phi- 
losophie , und allerdings wird es dann eher der Schuld des Leh- 
rers beizumessen seyn, wenn er den philosophischen Vortrag 
nicht auf diese Weise einzurichten und den Gegenstand auf eine 
solche Art zu behandein versteht, dafs sich davon wesentliche 
Vortheile erwarten lassen. Von nicht grofserem Gewicht ist- ein 
anderer Grund , den man in dem den ernsteren Studien der Phi- 
losophie abgeneigten Sinn jugendlicher Gemuther hat linden wol- 
len, oder in dem durch solche Beschäftigung nicht selten ange- 
regten Stolz, der sich des jugendlichen Gemuthes bemächtigt 
und leicht in ihm die Anmafsung erregt, für einen vollkommenen 
Philosophen gelten zu wollen u. s. w. Ein solcher Vorwurf kann 



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Literäreeochichtc — SchuUchriftcn. U51 

weder in dem. einen noch in dem andern Fall die Sache selbst 
treffen , sondern mur die Personen oder den Mißbrauch und die 
falsche Behandlung des Gegenstandes. Noch weniger aber wird 
man, wegen der Masse anderer Lehrgegenstande, oder wegen be- 
sonderer Lage und Verhältnisse der Gymnasien, die Philosophie 
aus dem Gymnasialunterricht ganz verweisen oder etwa nur gele- 
gentlich bei dem Religionsunterricht oder der Behandlung ande- 
rer Lehrgegenstände mit behandelt wissen wollen: das letztere 
wird eben so wenig angehen ( vgl. S. 33. 34 ) und es wird sich 
namentlich an die Stelle des philosophischen Unterrichts keines- 
wegs, wie wohl behauptet worden, ein mathematischer Unterricht 
setzen lassen, da der letztere eben ein philosophisches Studium 
selbst nothig macht und dieses dann nicht blos der Universität 
überlassen bleiben sollte. Will man endlich noch geltend ma- 
chen, dafs der naturliche, gesunde Sinn der Jugend, kurz das, 
was man wohl die naturliche, so zu sagen, angeborne und 
durch den Sprachunterricht weiter ausgebildete und entwickelte 
Logik nennt, ein besonderes Studium der Philosophie, insbeson- 
dere der Logik, auf Gymnasien überflussig und unnothig mache, 
so hat auch hier der Verf. die Nothwendigkeit eines propädeuti- 
schen Studiums der Philosophie, insbesondere der Logik, und den 
Einflufs dieses Studiums auf die ganze folgende Lebenszeit und 
den zu erwählenden Beruf, es sey ein rein wissenschaftlicher oder 
ein mehr praktischer, nachzuweisen gesucht „Itaque Logicae quo* 
que, so ruft derselbe S. 4& aus, Studium vigeat, perque omne 
aevum, quidquid ejus osorcs contradicunt, vigebit, quamdiu homi- 
nes recte sapere cupient. Neque vero in Acadcmiis solis vigeat, 
sed in Gymnasiis etiam, modo recte tractetur, locum suum obti- 
neat, quum illud et telum sit . ut modo vidimus, haud medioere 
ad res scholasticas recte gerendas, et quod jam demonstrabimus, 
adjunetis aliis rebus philosophis praecursionem quandam ad altiora 
Pbilosophiae in Acaaemiis studia adhibeat eamque minime con- 
temnendam." Es hat daher der Verf. diesem Gegenstand eine 
besondere Aufmerksamkeit gewidmet, um darzuthun, wie ein phi 
losophischer Unterricht auf Gymnasien als nothwendige Vorbereu 
tung und gewissermafsen als Vorlaufer zu den eigentlichen, tie- 
feren und höheren Studien der Philosophie auf der Universität, 
nothwendig sey und in dem Wesen, in dem Zweck und in der 
Bestimmung des ganzen Gymnasialunterrichts begründet erscheine, 
wie es daher viel zu spät sey, erst auf der Universität mit philo- 
sophischen Studien, zu denen dann die nothtge Vorbereitung und 
Vorkenntnis fehlt, anzufangen und wie dann jedenfalls nicht der 
zu erwartende Gewinn für die gesammte wissenschaftliche Bil- 
dung daraus hervorgehen könne ; er giebt dann noch S. 48 ff. in 
der Kürze an , wie weit dieser propädeutische Unterricht auszu- 
* dehnen sey, und welchen Umfang er überhaupt besitzen solle. 
Ein Mifskennen dessen, was hier nöthig ist, was die Bestimmung 
und der Zweck der Schule, als Vorbereitung zum akademischen 
Unterricht erfordert, hat allerdings manche Uebelstände veran- 



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lafst und gewifs auch mit die Abneigung gegen den philosophi- 
schen Unterricht auf Schulen überhaupt hervorgerufen. Nach 
der Ansicht des Verf., die sich ihm an seiner Anstalt als bewährt 
gezeigt hat, soll sich dieser Unterricht, dem propädeutischen 
Zwecke gemäfs, auf den Vortrag der Logik beschränken und 
zwar auch hier mit besonderer Rucksicht auf einzelne Haupt» 
lehren („ne Lngicae quidem praeeepta omnia videntur tradenda, 
immo quaedam tan tum hu jus diseiplinae partes, in his vero iipri- 
mis eae, quae de cogitandi legibus, -de notionibus, judieiis, ratio- 
cinationibus atque ideis, quas nostri appellant pbilnsophi, de defi- 
niendo, dividendo et augmentando tractant" S. 4&M , fernerauf 
einen Abrifs der Geschichte der Philosophie und der empirischen 
Psychologie ; der Vf. pflegt an seiner Anstalt beides abwechselnd 
in einem zweijährigen Cursus in einzelnen wöchentlichen Stunden 
vorzutragen. 

Wenn Ref. am Schluls dieser Anzeige seine eigene Ueber- 
zeogung aassprechen soll, so muPs er allerdings ein tieferes Ein- 
gehen in das Gebiet der Philosophie , also die Beschäftigung mit 
der Metaphysik, und ähnlichen Zweigen, aaf Gymnasien, d. i. in 
Vorbereitungsanstalten für unzweckmaTsig und selbst in gewissen 
Beziehungen für narhtheilig halten; aber er wurde sich darum 
noch nicht denen Lei/ahlen wollen, weiche die Philosophie gänz- 
lich aus dem Kreise des Gymnasialunterrichts bannen wollen, da 
ihm eine solche propädeutische Philosophie, wie sie der Vf. vor- 
geschlagen hat, vielleicht selbst noch etwas mehr beschränkt und 
auf einige Theile der Logik und Psychologie zurückgeführt, 
nutzlich und erspriefslich erscheint, zumal wenn der Lehrer (und 
darauf wird e» immer am ineisten ankommen) es versteht, damit 
in dem jugendlichen Gemuth einen Sinn und Eiter für philoso- 
phische Studien anzuregen, der leider immer seltener auf unseren 
Universitäten angetroffen wird. Worin der Grund dieser Ab- 
nahme, dieses Mangels an Eifer auf so mancher unserer Universi- 
täten liegt, wollen und können wir hier nicht weiter untersuchen. 
Fehlerhafte und mangelhafte Vorbildung, Ansichten der Zeit, wie 
sie zum Theil oben von uns berührt worden sind , haben dazu 
gewifs eben so gut beigetragen, als der Wirrwarr der philoso- 
phischen Systeme, der Mangel aller Methode, die Dunkelheit and 
Unklarheit in allen Begriffen und Erörterungen, die man leider 
unserer Zeit nicht mit Unrecht vorwerfen kann. 

Chr. Bahr. 



* 



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N°. 73. HEIDELBERGER 1837, 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Über das IVesen und die Bedeutung der speculativen Philosophie und Theo- 
logie tn der gegenwärtigen Zeit, mit besonderer Rücksicht auf die 
Religionsphilosophie. Specielle Einleitung in die Philosophie und spe 
eulatwe Theologie. Von Dr. Sengler t ordentl. Professor der Philo- 
sophie an der Universität Marburg. Heidelberg bei Mohr 1837. 

Der Herr Verf. bat schon im Jahr i834 eine allgemeine Ein. 
leitung in die speculative Philosophie und Theologie erscheinen 
lassen. Die vorliegende specielle Einleitung kann als ein selbst- 
ständiges Werk betrachtet werden, da sie die in der allgemeinen 
Einleitung enthaltenen Ideen durch die Darstellung und Kritik 
der philosophischen Systeme vielseitiger begründet und rechtfer- 
tigt und in der letzten Abtheilung die Grundbegriffe eines spe- 
culativen Systems im wissenschaftlichen Zusammenhange entwickelt. 
»Die Geschichte der neueren Philosophie«, sagt der Verf. am 
Ende der Vorrede, »in der folgenden Darstellung ist die negativ 
dialektische Erzeugung der Idee des menschlichen Geistes in allen 
ihren Momenten und die diabetische Vermittlung und Vollendung - 
des Selbstbewofstseyns und der Selbsterkenntnifs des menschlichen 
Geistes, die ein positives Resultat hat, und die positive oder ob- 
jektive Philosophie subjectiv begründet. Dies folgt nun auch nach 
dieser Vermittlung in allgemeinen Grundzugen. Indem nun diese 
Schrift hiemit die Einleitung in die Philosophie und speculatire 
Theologie überhaupt beschliefst, ist es nun meine Aufgabe, die 
hierin gegebenen allgemeinen Grundzuge zum System der Philo- 
sophie auszufuhren, was für jetzt am geeignetsten zunächst in einer 
Encyclopädie der philosophi eben Wissenschaften geschehen soll. « 

Der Verf. unterscheidet die neuere Philosophie nach drei 
Hauptabtheilungen, von denen die erste — Cartesius, Kant, 
Fichte, Jacobi — »die subjective Selbstbegrundung der Philol 
sophie«, die zweite: — Spinoza, Leibnitz, Schelling , Hegel t 
TVeifse und Fichte d. J. — die »objective«, und die dritte: — 
Gunther, Baader und Schelling in seiner neuen Periode — »die 
absolute Selbstbegrundung der Philosophie« darstellen sollen. 

Die Philosophie des Cartesius ist allerdings insofern Subjecti- 
vitäts- Philosophie, als Cartesius das Selbstbewufstseyn als das 
Princip und die Form aller Wahrheit bestimmt hatte. 
XXX. Jahrg. 18. Heft. 73 * 



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1154 Scngler: Über da« Wtaen u. die Bedeutung 



Auch Kant, der den von seinem Vorgänger, Hume, einge- 
schlagenen Weg verfolgte, verleugnete diese subjective Methode 
des Pbilosophirens keineswegs, sondern er suchte sie vielmehr 
durch die vollständige Kritik des Bewufstseyns durchzuführen und 
zu beendigen. 

Cartesius betrachtete die Theorie des Selbstbewufstseyns nur 
als die Voraussetzung der objectiven Philosophie, deren Grunder 
er im Gegensatze zu der Scholastik geworden ist, und selbst Kant 
ging von seiner Kritik der reinen Vernunft zur Philosophie der 
Religion, des objectiven Geistes und der Natur über, wenn er 
gleich um des destructiven Verfahrens seiner Kritik willen zu kei- 
ner objectiven Gewifsheit der Vernunflideen gelangen tonnte. Erst 
Fichte vollendete die Subjectivitätsphilosophie , indem er das Ich 
des (menschlichen) BewufstseyQS *) als das absolute Princip des 
Objectiven und des Subjectiven : des Seyns wie des Bewufstseyns 
bestimmte. Dadurch gcrieth aber seine Philosophie mit sich selbst 
in Widerspruch, indem die Dialectik beständig zwischen dem 
BegrifTe des absoluten Urichs und des subjectiven Ichs schwankt« 
Jacobi's Philosophie ist das Bewufstscyn über die Vollendung der 
Subjectivitätsphilosophie, indem er erkannte, dafs sie durch die 
Apotheose des Ichs oder des Selbstbewufstseyns *) sich selbst auf- 
lost. Diese Einsicht ist so zu sagen die Wahrheit der Jacobi- 
schen Kritik, während Jacobi's positive Philosophie, so tiefe Ah- 
nungen sie enthält, als Philosophie des Gefühls, d. h. hier des 
unmittelbaren Selbstbewufstseyns selbst einen subjectiven Charak- 
ter hat. 

Auf diese Weise glauben wir den wesentlichen Sinn von des 
Vfs. Charakteristik der von ihm sogenannten »subjectiven Selbst- 
begründung« der Philosophie so klar und einfach wie möglich 
dargelegt zu haben. 

Die »objective Selbstbegründung der Philosophie« läfst der 
Verf. mit Spinoza beginnen. 

Spinozas Princip ist ein objectives, nämlich das absolute 
Grundwesen des endlichen Seyns. 

Auf den Gedanken dieses absoluten Grundwesens kam Spinoza 
durch die allgemeine Nothwendigkeit des Denkens, wornacb die 
Vernunft von dem Bewufstseyn des Endlichen zum Begriff des 
Unendlichen aufsteigt 



•) Sehr geistreich sagt der Verf., Fichte habe das Carteaitche Princip 
cogito ergo «um xu absoluter Bedeutung erhoben. 



der Philosophie and Theologie. 



1155 



Data er aber den Begriff des Unendlichen nur in der Form 
der dem endlichen Seyn zu Grunde liegenden Substanz fafste, 
dies ist eine Un Vollkommenheit seines Denkens, indem nach die- 
ser Vorstellungsweise die Attribute und Modi der Substanz nicht 
aus ihrer Selbstbestimmung abgeleitet oder begriffen , sondern nur 
ausser lieh von derselben prädicii t werden: 

Ist das Absolute thätiges Princip, so ist es nicht blos abso- 
lute Substanz, sondern es ist absolutes SubjecL Die Idee der 
absoluten, sich selbst und alles Seyn bestimmenden Individualität 
ist -das Princip der Leibnitzischen Philosophie. 

Wenn Leibnitz die Gottheit als ürmoaaa, d. b. als sich selbst 
bestimmendes und sich selbst wissendes Urindiriduum denkt, so 
unterscheidet er sie ebenso sehr von der Welt, wie er diese als 
ein von ihr (der Gottheit) abhangiges Seyn, als objective Offen- 
barung oder als Schöpfung derselben begreift. 

Dies ist der Punkt, in welchem wir von der Charakteristik 
des Vfs. wesentlich abweichen 3 indem er ohne alle Berechtigung 
Leibnitzen zu einem Pantheisten macht, wornach er das Wesen 
Gottes mit dem objectiven Geiste confundirt hätte. Leibnitz war 
von einer solchen Identification des absoluten göttlichen Geistes 
mit dem Weltgeiste oder dem objectiven Geiste so weit entfernt, 
dafs er in der Überzeugung von der Persönlichkeit und Über- 
weltlichkeit *) Gottes bis zu der Behauptung fortging, Gott exi- 
stirte, wenn auch die Welt nicht existirte, ein Satz, den ein 
Pantheist ohne die offenbarste Inconsequenz nicht behaupten kann. 

Leibnitzens Philosophie bildet, in ihrer Wahrheit erfafst, den 
Anfangspunkt derjenigen Entwicklungsreihe, deren Systeme der 
Vf. als Versuche der absoluten Selbstbegrundung der Philosophie 
bezeichnet. Denn Leibnitz bat das absolute Princip sowohl in 
seiner innern Wahrheit als Urindifiduum, wie in seiner allseitigen 
Beziehung zu dem durch seine schöpferische Offenbarung gesetz- 
ten Systeme der objectiven (weltlichen) Idee erfafst und bestimmt, 
wenn er gleich die seiner Philosophie immanente Grundansicht 
nicht in der speculativen Form darzustellen vermochte , in wel- 
cher sie auf dem gegenwärtigen Standpunkt der Wissenschaft ent- 
wickelt und erwiesen werden kann. Wie die Gottheit nach die- 
ser dem Begriff des Absoluten entsprechenden Denkweise an sich 

— 1 ■ « 

i 

* ) Überwelt I ich ist Gott , indem er nicht nur schöpferische Ursache 
der Welt, sondern in höherem Sinne ewiges Princip seiner eignen 
Wirklichkeit int. 



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1156 



Scngler: Über da« Wesen u. die Bedeutung 



selbst vollendetes Urindividuum ist, so offenbart sie sich auch 
als schöpferische Ursache der Welt in einem System von Indivi- 
duen (Monaden), welche die absolute Idee nach bestimmten Stu- 
fen oder besondern (relativen) Einheiten darstellen , und mithin 
vorbildliche oder ebenbildliche Positionen derselben Idee sind, 
deren absolute Einheit die Gottheit als Urbild aller Wesen an 
und für sich ist. 

Die Leibnitzische Philosophie befriedigt wie die ihr ver- 
wandte Platonische ebensosehr die denkende Vernunft, indem sie 
das System der objectiven Ideen auf den Einheitspunht der abso- 
luten Idee zurückfuhrt und jenes aus dieser begreift, wie sie 
dem religiösen Bewufstseyn entspricht, indem sie die Gottheit als 
in sich selbst vollendeten Urgeist, die Welt als freie Schöpfung 
Gottes betrachten lehtt, in welcher sich Gott nach seiner Macht 
und Gerechtigkeit als Vater, nach seiner Liebe als Erlöser, und 
nach seiner Weisheit und Heiligkeit als Vollender seiner Ge- 
schöpfe offenbart. Diese wahrhaft theokratische Denkweise hat 
Leibnitz, wie überall so am Schlüsse seiner Monadenlehre, mit 
solcher Entschiedenheit begründet und hervorgehoben , dafs es 
befremden mufs, wenn der Vf. seine Ansicht mit der der neuern 
Pantheisten verwechsek, nach welchen die Welt nicht die freie 
objective Schöpfung sondern die Selbst .Verwirklichung Gottes dar- 
stellt 

Mit Recht unterscheidet der Verfasser Sendlings System als 
»ideellen Pantheismus« von Spinoza 's System des »substantiellen 
Pantheismus«. Aber wenn er die substantielle objective Vernunft, 
welche Schelling als das Princip seiner Philosophie erklärte , schon 
als Princip Spinozas betrachtet, so unterlegt er diesem einen 
Gedanken, der nicht sein eigener Gedanke war und der realisti- 
schen Tendenz seiner Philosophie widerspricht. 

Im Unterschied von Sendlings »Pantheismus des Geistes« 
bezeichnet der Verf. Hegels Lehre sehr treffend als »Pantheis- 
mus des Begriffs « *) , und er setzt sein Verdienst darein, worein 
es Hegel selbst gesetzt wissen wollte , in die' Begründung der 
logischen Methode , durch welche Sendlings intellectuelle An- 
schauung des Absoluten zum absoluten Begriffe erhoben werde. 
Zuletzt macht er aber darauf aufmerksam, dafs in Schillings spa- 



*) Das höchste Resultat der Hegelschen Philosophie ist III. Bd. Log. 
i S. 374: „der sich selbst wissende, sich als das Absolute, sowohl 

Subjective als Objective cum Gegenstand habende Begriff. " 



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der Philosophie und Theologie. 1157 



teren Schriften nicht die reine Vernunft, sondern die Freiheit 
das Princip des Systems ist, und dafs mithin seine Philosophie im 
Unterschied von dem System Hegels, welcher nur von einer ab- 
stiacten Notwendigkeit wisse, als System der Freiheit zu fassen 
sey, welches keinen nur logischen Charakter habe, sondern die 
durch die gottliche That der Selbstoftenbarung verwirklichte ob- 
jective Ordnung des Seyns oder den realen Entwicklungsgang des 
naturlichen und geistigen Universums wissenschaftlich wiederzu- 
geben suche. 

Weisse 's and Ficbte's philosophische Schriften betrachtet er 
als Versuche, das Hegeische Vernunft- und das Schelling'sche 
Freiheitssystem zu vereinigen. Nachdem er ihren Schriften eine 
ziemlich ausführliche Charakteristik gewidmet hat, erklärt er ihre 
Vermittlungsversuche für mifslungen. Er beweist mit schlagen- 
dem Scharfsinn , dafs Weifse einerseits die Metaphysik d. h. in 
seinem Sinne die formelle Wissenschaft der Kategorien als ein 
Wissen des Nichtseyenden (Negativen) erklärt, andrerseits durch 
eine angeblich immanente metaphysische oder vielmehr logische 
Entwicklung des Denkens den Übergang zur Wirklichkeit zu ma- 
chen sucht, welche, wie Weifse selbst gegen Hegel behauptet, 
durch das immanente, d. h. rein logische oder abstracte Denken 
nicht erkannt werden kann. 

J. G. Fichte's Grundirrthum ßndet er dagegen darin, dafs er 
von der Selbsterkenntnifs des sobjectiven Geistes zu Gott über- 
gebe , statt zur Selbsterkenntnifs des objectiven Geistes und durch 
diese zur Erkenntnifs Gottes uberzugehen. 

Auch Ref. hat in seiner Bcurtheilung von Fichte's Cytolo- 
gie, worin er sein Verdienst aufs rühmendste hervorhebt, auf die 
Unwissenschaftlichkeit aufmerksam gemacht , mit der Fichte er- 
stens die subjective Logik vor die objective und zwar nur in ei- 
nem Abschnitte seiner propädeutischen Erkenntnifslehre abhandelt, 
und zweitens von der Ontologie d. h. der objectiven Logik un- 
mittelbar den Übergang zur speculativen Theologie macht, indem 
die Idee Gottes ohne wissenschaftliche Berechtigung den letzten 
Abschnitt der Kategorienlehre bildet. Die speculative Theologie 
ist nach dem Plan , den Ref. in seiner Metaphysik bezeichnet und 
gerechtfertigt hat, als höchste Wissenschaft, die durch alle übri- 
gen reale philosophischen Wissenschaften ermittelte und mitbin 
letzte Wissenschaft. 

Des Verfs. Vorwurf, dafs nicht nur Weifse, sondern auch 
Fichte die Idee des menschlichen Geistes zum Absoluten gemacht 



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1158 Sengler: Über du Wesen n. fit Bedeutung 

und hiemit den alten Pantheismus aufs Neue aufgewärmt haben, 
verdient doch einige Beschränkung, indem jener die Persönlich- 
heit Gottes aber freilich im Widerspruch zu seinen anderweitigen 
pantheis tischen Erklärungen behauptet hat, dieser aber sich in 
seiner Ontotogie ausdrücklich von dem Scheine einer pantheistU 
sehen Denkweise zu rechtfertigen sucht, und sich wenigstens in 
einer von dem Ref. erwähnten Stelle entschieden über den Pan- 
theismus erhebt. Nur schade, dafs er in einem andern Abschnitte 
desselben Werks von einer »Selbstverwirklicbung Gottes als Wehe 
redet, und mit dieser Vorstellangsweise in den Pantheismus zu- 
ruckfällt. Wenn wir übrigens bedenken, wie unendlich schwer 
es ist , ebensosehr Gottes Einheit mit sich selbst und mitbin seine 
Freiheit ?on der Welt wie seine Einheit mit der Welt (d. h. sein 
reales Verhältnifs zu derselben als seiner Schöpfung) Wissenschaft- 
lieh zu begreifen, so sind jene lnconsequenzen leicht erklärbar, 
und wir wollen über die Ruckfälle in den Pantheismus nicht die 
Erhebung über denselben in Fichte s neuester Schrift übersehen. 
Der Vf. verkennt, dafs Fichte im letzten Abschnitte seiner erst 
im Jahr i836 erschienenen Ontotogie die Idee Gottes in anderem 
Sinne fafst als in seinen früheren Schriften. Wenn übrigens der 
Verf. von Weifses und Fichte s Vermittlungsversuchen zwischen 
Schellings und Hegels Philosophie spricht, so hätte er es nicht 
unerwähnt lassen sollen, dafs bis jetzt keiner dieser Forscher den 
Versuch gemacht hat, das System der Natur und des objectiven 
Geistes wissenschaftlich zu entwickeln, Wodurch sie allein bewei- 
sen konnten, in welchem Sinne sie Hegels Methode mit Schellings 
Philosophie vereinigen wollen. Und wenn der Vf. von den spe- 
culativen Versuchen der sogenannten Naturpbilosophen nur Baa- 
ders speculative Mystik einer Charakteristik würdigt, so geben 
wir zu bedenken, dafs Weifse und Fichte, wie jedem Kenner 
bekannt ist, ausser Hegel und Schölling eben jenen Naturphilo- 
sophen , z. B. einem Steffens und Schubert, ihre sämmtlichen spe- 
culativen Begriffe und Ideen verdanken. 

Der ; Versuch Weifses und Fichte's, durch die Vereinigung 
der Hegeischen Methode mit der Naturphilosophie einen Fort- 
schritt zu begründen, verdient gewifs alle Anerkennung, aber 
ausserdem, dafs diese Forscher der Hegeischen Methode nicht 
vollkommen mächtig sind, sondern vielfach mehr nur raisonniren 
und rbetorisiren als wirklich philosophiren , ausser diesem sind 
durch ihre Schriften die gehaltvollen Werke eines Steffens, Schu- 



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der Philosophie und Theologie. 1159 

■ ■ 

bert U. A. , die ebensogut Geistesphilosophen wie Naturphiloso- 
phen genannt werden konnten, nicht antiquirt. 

Des Vfs. Darstellung von Baaders speculatirer Mystik halten 
wir für desto verdienstlicher, da dieser Forscher ausser dem mehr 
nur räsonnirenden Gunther der einzige Schriftsteller unserer Zeit 
ist, welche die von dem Verf. sogenannte absolute Selbstbegrün- 
dung der Philosophie angefangen und mit originellem Geiste aus. 
gefuhrt hat. Kein folgender Denker darf seine genialen Versuche 
unberücksichtigt lassen. Mit dem blofsen Vorwurfe formeller 
Mängel kann, so gerecht er ist, Baaders reelles Verdienst nicht 
bestritten werden. 

So geistvoll und tiefgedacbt des Verfs. Charakteristik der 
neuern Systeme ist, und so trefflich er auf die schlagenden Punkte 
in derselben aufmerksam gemacht hat , so steht doch die zwar 
scharfsinnige aber zu gedrängte Kritik in keinem befriedigenden 
Verhältnisse zu der ausfuhrlichen Darstellung der Systeme. Auch 
bätten wir gewünscht, dafs er die philosophischen Systeme weni- 
ger historisch und mehr dialektisch entwickelt hätte, um ihren 
innern Zusammenhang zu beleuchten und ihre inneren Wider- 
spruche schon durch die Darstellung selbst zum Bewufstseyn zu 
bringen. Doch hat der historische Theil seines Werks jedenfalls 
das Verdienst einer objectiven , auf fleißiges Quellenstudium ge- 
gründeten Darstellung. 

Am meisten verdient die 4te Abtheilung des Werks, worin 
der Verf. die Grundzuge eines positiven oder objectiven Systems 
entwickelt, ein wissenschaftliches Interesse. 

Als die Voraussetzung des Philosophirens bestimmt der Vf. 
den Willen, die Wahrheit denkend zu erforschen. Abstract ge- 
nommen ist dieser Trieb oder diese Liebe zur Wahrheit der 
Grund alles Philosophirens. Aber der Verfasser leitet hieraus 
die Consequenz ab, dafs man nur erkennt, was man erkennen 
will , und dafs mithin die angebliche Voraussetzungslosigkeit des 
Philosophirens eben bloses Vorgeben ist. Jede Philosophie anti- 
cipirt das Resultat in ihrem Principe, denn sonst würde völlig 
ins Blaue oder Unbestimmte hinein philosophirt , und selbst He- 
gel, der nichts vorauszusetzen vorgab, setzt in dem Werke, wel- 
ches nach seiner eignen Erklärung die Vermittlung des reinen 
logischen Wissens darstelle, das erscheinende empirische Bewufst- 
seyn zum Zwecke einer allseitigen Kritik seiner Formen voraus. 
Aber in welcher Gestalt setzt er das Bewufstseyn des Seyns vor- 
aus? — In einer solchen, in welcher es sich zum Material einer 



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1160 Senglor : Ober d. Wesen u. d. Bedeut. d. Philosophie u Theologie. 

Dialektik eignet, welche alle und selbst die höchsten Gegenständ© 
% des Bewufstseyns zu blofsen Momenten eines Denkens herabsetzt, 
welches seine Wahrheit da erreichen soll , wo es in dem Gegen* 
stände nur sich selbst d. b. die reine Form seines Begriffs denkt. 
Dieses Resultat hat Hegel schon im ersten Abschnitte seiner Phä- 
nomenologie antieipirt, und diesem negativen rein formellen Re- 
sultat opfert er die Realität einer objectiven Erkenntnifs. 

Die Philosophie kann die Gegenstände des Bewufstseyns oder 
der Erfahrung im weitesten Sinne nur denkend erkennen oder 
begreifen, hervorbringen kann sie dieselben nicht, man mag nun 
dieses vermeintlich produetive Wissen ein Construiren oder Deck- 
en en a priori oder die immanente Entwicklung .des Denkens nen- 
nen , wodurch alle Wahrheit erkannt werden solle. 

Es kommt mithin in allem Pbilosophiren darauf an, was man 
durch das Philosophiren wissenschaftlich erkennen will ? 

W ? er von der Natur eine gemeine verkehrte Ansicht hat, 
wem das Seelenleben keine religiös - sittliche Bestimmung hat, 
wer die Idee der Menschheit, welche sich durch den Verlauf der 
Geschichte zu einem Gottesreiche zu vollenden hat, nicht in ihrer 
hohem Wahrheit erfafst, und wer endlich vou Herzen wünscht, 
dafs wie keine sittliche Freiheit so auch kein ewiges Leben und 
kein persönlicher Gott sey, ein solcher wird auch philosophisch 
auf kein anderes als ein negatives Resultat kommen. Wer sich 
aber der Wahrheit der ewigen Vernunftideen durch Erfahrung 
oder im geistigen Lehen bewufst zu werden sucht, ein solcher 
kann die Gottheit, die er in unmittelbarem Bewufttseyn inne wird, 
zwar nicht durch den Begriff ergrunden, aber wissenschaftlich \ 
erkennen, er wird die Idee der Menschheit, die er in sich und 
in Andern auszubilden und wie in der Sphäre des individuellen 
Daseyns so in den Gebieten der Weltgeschichte in den mannig- 
faltigsten Formen anzuschauen bestrebt ist, in ihrer Systernatisi- 
rung zur Philosophie des subjectiven und objectiven Geistes er- 
fassen, und sieb von der sittlichen Freiheit und von dem ewigen 
Leben , das er schon im zeitlichen Leben antieipirt , wissenschaft- 
lich überzeugen lernen. 

Die Einheit des Geistes und des Gemuths und der daraus 
hervorgebende tiefe Drang, die erlebte d. h. gefühlte und ange- 
schaute Wahrheit denkend zu erkennen , bürgt für die Möglich- 
keit einer freien, durch wissenschaftliches Denken zu begründen- 
den Übereinstimmung des Wissens mit dem Glauben. 



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Kopp : Denkwürdigkeiten in der ärzll. Praxis. 



116L 



In der Tbat gibt die neuere Philosophie immer bedeutendere 
Proben dieser Übereinstimmung , und als Beitrag zu der Beali- 
drang dieser wichtigen Aufgabe betrachten wir das vorliegende 
Werk des geist- und gemüthvollen Verfassers. 

In grofsartigen Zügen entwickelt der Verf. die Idee der 
Gottheit, der Menschheit und der Natur, und man ersieht aus 
seiner ganzen Darstellung , dafs die ethisch religiöse Denkweise, 
die seinen Standpunkt charakterisirt , nicht eine willkührlich an- 
genommene ist, die blos in Phrasen besteht , sondern dafs sie die 
Seele seiner ganzen Philosophie ist. 

Wenn die alien wahrhaft Philosophirenden gemeinsame Idee 
eines realen Systems der Natur und des objectiven Geistes, wel- 
ches nicht durch subjective Denkthätigkeit hervorgebracht , son- 
dern nur in seiner Bealität erkannt zu werden braucht, jeden 
Versuch eines sogenannten neuen Systems überflussig macht, so 
wird dagegen jeder Beitrag, welcher jenes uralte ewige System 
in so bedeutungsvollen Zügen entwickelt, wie das Werk des 
Verfs. , jedem billig Denkenden eine doppelt willkommene Er- 
scheinung seyn. 

Möge der ächte Gehalt und Charakter der Philosophie , de- 
ren Entwicklung der Verf. sein wissenschaftliches Leben widmet, 
seinem Werke immer mehr die Theilnahme verschaffen, die es 
in so hohem Grade verdient. 

Bef. schliefst mit dem Wunsche, der Verf. möge das philo- 
sophirende Publicum bald mit der Herausgabe der versprochenen 
Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften erfreuen. 

Fi* eher in Tübingen. 



Denkwürdigkeiten in der ärztlichen Praxi» von Dr. Johann Heinrieh 
Kopp, kurfuntl. hess. Geh. Obcrmedicinalrathe etc. Erster Hand 315 .V. 
Zweiter Uand 533 S. Dritter Band 40? S. 8. Frankfurt a. M in 
der Joh. Chr. Hermann'tchen Buchhandlung. 1830 — 1836. 

Die vorliegenden Bande sind reich an vielen schonen Beob- 
achtungen , denen zum Theil das Gluck — mit Becht — zu Theil 
geworden ist, die Aufmerksamkeit der Ärzte auf Gegenstände zu 
leiten , weicht zum Nachtheil der Kranken bisher völlig unbeach- 
tet geblieben waren. Dies gilt namentlich vom Asthma thymi- 
cum, von Andern Spasmus glottidis genannt, über welche ge- 
fährliche Kinderkrankheit wir die ersten Aufschlüsse dem geehrten 



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1162 ^ Kopp: Denk Würdigkeiten la d. urztl. Praxi«. 

Verf. verdanken, die durch ihre innere Gediegenheit eine Reihe 
interessanter anatomischer, pathologischer and therapeutischer 
Untersuchungen hervorriefen. Wir finden es nicht geeignet, hier 
bei dieser Abhandlung länger zu verweilen, da dieselbe von uns 
und Andern vielfältig schon anderweitig discutirt worden ist, und 
bemerken nur, dafs der Verf. im dritten Bande noch einmal auf 
diesen Gegenstand zurückkommt, einige neue Fälle mittheilt und 
sodann über die Diagnose, die Behandlung und die Literatur der 
Krankheit sich äussert, die wir nur durch die später erschienene 
Abhandlung Job. B. Kyll s in Rusts Magazin 49. Bd. S. 388 er- 
ganzen. 

Die weitern Aufsätze des ersten Bandes betreffen einen Fall 
von Physconia scirrhoidea; die Anwendung des Kupferfitriols in 
der häutigen Bräune; den Schwindel, welchen K. ein wahres 
Narren-Gehirnleiden nennt und nicht ohne Erfolg durch die Brech- 
nufs behandelt ; die Jodine , deren nachtheilige Folgen beim inner* 
liehen Gebrauche hier treffend geschildert werden ; den Keich- 
husten , den er für ansteckend hält und nach überschrittener 
Acme mit dem stinkenden Asant behaodelt ; einen Fall von Spha- 
celus senilis; die Leucorrhoe, gegen welche er das Einbringen 
eines zugeschnittenen Stucks Schwamm, der in eine concentrirte 
Abkochung der Ratanhia mit einem Zusätze von Extractum ra- 
tanhiae, Tinclura kino und TinCt. catechu getaucht wird, wäh- 
rend der Dauer der Nacht sehr wirksam findet; die China und 
das Chinin , welches letzte nach K. , wie auch nach den Beobach- 
tungen Anderer, zwar das Wechselfieber heilt, aber nicht vor 
Rückfällen sichert, was wir eher von der Chinarinde hoffen dür- 
fen; die Anwendung des Kupfer- Salmiaks in der Atrophie der 
Kinder aus Unterleibsfehlern; die Klystiere mit kaltem Wasser 
gegen habituelle Verstopfung; die Anwendung der Sabina bei 
Unfruchtbarkeit wegen Unthätigkeit des Uterinalsystems ; einen 
merkwürdigen Fall von Milchmetastase; die hitzige Gehirnhöhlen- 
wassersucht, welche K. gewifs mit Recht in ihrem Auftreten und 
Verlaufe tückisch und selten heilbar erklärt; einen Fall von Hä- 
moptisis und Lungenentzündung bei einer Schwangern , welche 
dennoch ihr Kind austrug; die Behandlung der Scrophulosis mit 
Ätzkali; einen Fall von Carcinoma pancreatis et ventriculi (in 
Gegenden, wo der Magenkrebs nicht zu den Seltenkeiten gehört, 
wie in der vom Ref. bewohnten, findet sich das gleichzeitige 
Vorkommen beider Übel häufig.) 



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Kopp: Denkwürdigkeiten In d. ärstl. Praxi«. 1163 



Unter dem Namen Hysteranesia beschreibt der Verf. eine ei- 
gentümliche Atonie des Uterus, io Folge welcher die Gebär- 
mutter nach einer vorhergegangenen Entbindung sich nicht bis 
auf ihr normales Volumen zusammenzieht oder im Fall einer nicht 
statt gehabten Schwangerschaft durch andere Ursachen in diesen 
Zustand von Erschlaffung gerat h , zu welchem sich grofse Em- 
pfindlicbkeit , Metrorrhagien etc. gesellte. Hier fand er in der 
Sabina ein sehr wirksames Mittel. 

Der Aufsatz über das kohlensaure Eisen ist ein gediegener 
Beitrag zur Pharmacodynamik. Nicht minder beachtungswcrth 
sind des Vis. Äusserungen, obwohl wir gewünscht hätten, dafs 
der Ergebnisse der Stetboscopie und Percussion Erwähnung ge- 
schehen wäre. Der Husten fehlt immer in der Lungenentzündung 
kleiner Kinder, überhaupt wird diese our mit Hülfe der Auscul- 
tation erkannt. Bei occulten Lungenentzündungen , wie sie zu. 
weilen bei Nervenfiebern und bei der Grippe wahrgenommen wer- 
den, ist ebenfalls kein Husten. Die Blasenpflaster scheint K. zu 
früh anzuwenden. 

Zu den Krankheiten vom Mifsbrauche geistiger Getränke , die 
der Verf. wiederholt beobachtete , gehören unter andern Dyspha- 
gie und organische Übel der Schlingorgane. 

Über den Einflufs der Witterung auf Gesundheit und Krank- 
heiten der Menschen äussert K. nach seinen Beobachtungen sich 
dahin, dafs in Deutschland das Frühjahr der menschlichen Ge- 
sundheit am wenigsten, der Herbst dagegen am meisten zusage, 
welches letzte im höheren Grade vom September gelte, was Ref. 
gemafa seinen in Trier und an seinem jetzigen Aufenthalte ge- 
raachten Erfahrungen wohl zu unterschreiben geneigt ist. Da- 
gegen müssen wir dem Verf. darin widersprechen , dafs im März 
und April in Deutschland die meisten Geburten vorkommen. Nach 
allgemeinen Berechnungen ist dies im Januar und Februar der 
Fall , was die Untersuchungen Quetelet's auch von Holland und 
Belgien , und die von Villerrae rucksichtlich Frankreichs nach- 
gewiesen haben. — Die vom Verf. beschriebene Einbalsamir- 
mcthode verdient ihrer Wohlfeilheit wegen Beachtung. Das Was- 
sertrinken empfiehlt er besonders beim Magenkrampf, Sodbren- 
nen, Verstopfungen und Hartleibigkcit. 

Der zweite Band , welcher auch den Titel : » Erfahrungen und 
Bemerkungen bei einer prüfenden Anwendung der Homöopathie 
am Krankenbette« fuhrt, ist von homöopathischen und allopathi- 
schen Ärzten gleich sehr verschieden beurtbeilt worden. Wir 



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1164 Kopp: Denkwürdigkeiten in d. Intl. Praxi«. 



können dem Vf. darüber keinen Vorwarf machen , dafs er prak- 
tische Versuche in dieser Beziehung angestellt, mögen sie im 
Ganzen auch nur zu den Resultaten gefuhrt haben, dafs aller 
Nutzen der Homöopathie ein rein negativer ist. Er nennt die 
Prüfung der Arzneimittel an Gesunden eine Glanzseite von Hahne, 
manns Metbode, widerlegt sich aber gewiasermafsen dadurch selbst, 
dafs er einige Seiten später zugeben raufs , dafs es überhaupt Stoffe 
in der Natur gibt, die bei Gesunden angewendet keine auffallende 
Symptome erregen und deshalb doch bei Kranken, die dafür ge- 
eignet sind , Heilmittel werden. Er nennt in dieser Beziehung 
das Kochsalz und den Salmiak. Ref. fugt auch das Nilrum, das 
Kali tartaricum, das Kali aceticum hinzu, und könnte diese Zahl 
leicht verzwanzig fachen. Die Meinung, dafs das Chinin Wechsel- 
fieberähnliche Zufälle errege, kann ich auch nicht unterschreiben, 
wenigstens habe ich zur Zeit der Cholera in Berlin, wo viele 
sich durch tägliches Chininessen vor dieser Krankheit sichern 
wollten, nichts dieser Art beobachtet. Sehr Recht hat der Vf., 
wenn, er, sich gegen das Selbstdispensiren der Ärzte aussprechend, 
auf die schlechte Zubereitung der Arzneien in den Hausapotheken 
der Ärzte aufmerksam macht, was Ref., der sich, wie der Vf., 
mit dem Medicinalwesen administrativ beschäftigt hat, vollkom- 
men bestätigen kann. 

Die Wirksamkeit homöopathischer Verdünnungen betrachtet 
K. als eine erwiesene Thatsache, indefs Ref. sich durch die von 
K. angeführten Beispiele nicht überzeugt erklärt. So mochte es 
Ref. namentlich eher bedünken, dafs bei jenem Häraopticus, der 
bei einer durch K. verordneten Gabe von 1 f% Gran rothen Finger- 
hut sich übel, bei einer homöopathischen Dosis dagegen sich gut 
fühlte, die Digitalis überhaupt nicht angezeigt war, woher es kam, 
dafs derselbe bei der, demZero analogen, homöopathischen Gabe sich 
bessern mufste. Dem Abusus medicaminum, von denkenden Ärz- 
ten früh schon verworfen, ist allerdings durch die Homöopathie 
kräftig entgegengetreten und der, von den Homöopathen nicht 
anerkannten, vis roedicatrix naturae ihr Recht restituirt worden. 
Auch ist es Thatsache und neuerdings vom geistreichen Jahn 
nachgewiesen, dafs bei einem strengen diätetischen Verhalten in 
der Regel die Kranken nur geringere Arzneigaben, in gröfsern 
Zwischenräumen, bedürfen und ertragen, obgleich die Individua- 
lität, das Alter und das Geschlecht des Patienten sowie viele an- 
dere Verhältnisse hierbei von wesentlichem Einflufs sind. K. gibt 
das auch zu, indem er S. 19t aus einer Anzahl Beispiele folgert, 



v 



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Kopp: Denkwürdigkeiten in d. urztl. Praxi«. 



1165 



dafs dem kranken menschlichen Organismas nicht immer kleine 
Dosen genügen, und S. 217 sogar sagt: »die vielseitige Natur 
bleibt es auch im kranken Zustande , und bietet mehrere Wege 
dar , um den gesunden Zustand herzustellen , wozu bald das Ver- 
fahren mit speeifischen Arzneien , bald die antipathische, bald die 
ableitende Behandlung, bald eine Mischung dieser (??) dienen. c 
Da sich Homöopathie und Allopathie aber wie Feuer und Was. 
ser entgegenstehen, so begreift Ref. nicht wohl, wie beide in ei- 
nem und demselben Falle und in derselben Zeit sich mit einander 
verbinden lassen, denn man kann nicht zugleich nach allopathi- 
scher Weise eine allgemeine Blutentziehung vornehmen und nach 
homöopathischer Schule, die solches durchaus verwirft, keine 
Blutentziehung machen. Recht bat der Vf., wenn er möglichst 
einfache Arzei Verordnungen haben will; dafs wir aber die zusam- 
mengesetzten nicht ganz entbehren können, beweist unter andern 
die nicht abzuleugnende Wirksamkeit des Zittmannschen Decocts, 
der Potio anttbygropica Schneiden etc. Nur verlangen solche zu- 
sammengesetzte Arzneimittel eine besonders sorgfältige Bereitung, 
wenn die gewünschte Wirkung erzielt und das Mittel vertragen 
werden soll, was auch der vom Verf. angeführte Punsch be- 
weist, der bei einer guten Bereitung, mäTsig genossen, keine 
Beschwerden verursacht, indefs eine sehr geringe Dosis von die- 
sem Getränk, unzweckmäßig bereitet, sehr üble Zufälle allgemein 
hervorruft. 

Die im §. 67 mitgetheilten eigenen Erfahrungen über den 
Erfolg des von ihm angewandten homöopathischen Verfahrens in 
einzelnen Krankheitsformen sind so beschallen, dafs sie mich we- 
nigstens nicht überzeugen können. Heilst es homöopathisch einen 
Croup durch Tr. VI — IX Spong. tost, und des Pulv. II — III 
calc sulph. oder durch Aconit heilen , wenn man sich gezwungen 
sieht, zum Cuprum sulphuricum, Calomel und Sulph. aurat. an- 
timonii seine Zuflucht zu nehmen? Wo das Aconitum in ho- 
möopathischer Dosis den Croup geheilt haben soll , da hätte auch 
warmes Zuckerwasser oder Succus liquiritiae ausgereicht, wie dies 
häufig beim Wolfsbusten geschieht, der so leicht und so oft für 
Angina membranacea gehalten und dem gemäfs behandelt wird. 

Der Abschnitt über die Psoratbeorie ist einer der gelungen- 
sten im Buche. Die Homöopathie leidet, wie K. sich ausdrückt, 
an dem Gehrechen aller Systeme , an der Einseitigkeit , daher 
wird sie wieder verschwinden. Bleiben dagegen dürften nach K. 
Hahnemanns Erfahrungen über speeifische Arzneien. Er tadelt 



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116« 



Kopp: Denkwürdigkeiten in d. ärztl. Praxis. 



zugleich , dafs die Homöopathie zur Volkssache gemacht wurde, 
wodurch von Neuern das: » Fiogunt se medicos omnes, histrio, 
rasor, anus» ins Leben gerufen worden ist; er rügt die Art des 
Auftretens Hahnemann's gegen Ärzte, die nicht zu seiner Fahne 
schworen, und mifsbilligt das Treiben der Junger. 

Das Sohlnfscapitel über die Cholera enthalt beherzigung*. 
würdige Wahrheiten, die ans bestimmen, es zum Nachlesen be- 
sonders Staatsärzten zu empfehlen. 

Im dritten Bande theilt der Verf. wieder einzelne Beobach- 
tungen mit, und hier folgen wir ihm mit grÖTserer Lust, als 
durch den Irrgarten der Hahnemannschen Lehre (Leere?) 

Es gibt Witterungszustande, unter deren Einflufs die vor- 
handenen Krankheiten gutartig bleiben und wenig Sterbfalle statt 
finden, während bei andern das Gegenthei! geschieht. Nament- 
lich gewann K. die Überzeugung (was auch Ref. immer bestätigt 
fand) , dafs die der menschlichen Gesundheit nachteiligen Eigen- 
schaften der Atmosphäre beim Austrocknen der Erdoberfläche 
und nicht beim Anfeuchten derselben erzeugt werden , und dafs 
durchgängig , namentlich in wasserreichen Ebenen and in Küsten- 
gegenden anhaltendes nasses Wetter der Gesundheit im Allgemei- 
nen zuträglicher ist, als anhaltend trockne Witterung. Der Vf. 
weist dies näher nach, und gewifs jeder praktische Arzt wird dazu 
Belege liefern können. Zur Entwicklung der Epidemien gehören 
gewisse eigentümliche atmosphärische Verhältnisse: die Ruhr 
fordert heifse Tage bei kühlen Abenden und Nächten im Spät- 
sommer und Herbst. Die Cholerajahre haben immer eigentüm- 
liche atmosphärisch -tellurische Verhältnisse. K. sagt, die Lun- 
gensucht sey häufiger in wasserreichen Ebenen, als in trocknen 
und gebirgigen Gegenden. Hierin kann Ref. nicht beistimmen, 
die Todtenlisten der Gebirgsländer zeigen das Gegentheil , vor 
allen aber ist die schwäbische Alb ein Gegenbeweis; die Winter 
sind hier zu rauh und zu lange anhaltend und daher den Lungen 
nicht gunstig. Interessant ist des Vfs. vergleichende Zusammen- 
stellung der Influentiaepidemie von i8o3 und von 18 33, was wir 
aber im Buche selbst nachzulesen bitten müssen, da der Raum 
der Jahrbücher nicht wohl gestattet, hierauf besonders einzugeben. 
In Bezug auf die Verschiedenheit der rechten und linken Seite 
bei dem Menschen sucht K. darzuthun , dafs im gesunden und 
kranken Zustande die rechte Seite sich vor der linken im Vor- 
teile befinde. 



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Kopp: Denkwürdigkeiten in d. änU. Praxis 11 '.7 

Unter der Überschrift: Wurstgift, erzählt er eine beach- 
tungswerthe Vergiftungsgeschichte von 58 Personen , die auf einer 
Hochzeit ranzig schmeckende Bratwürste gegessen halten. Be- 
rücksichtigung verdient es, dafs die Vergiftungszufälle sich erst 
14 Tage und bei einigen sogar erst drei Wochen nach dem Ge- 
nufs der Wurste , bei Erwachsenen starker als bei Kindern (wahr- 
scheinlich weil diese weniger davon genossen hatten, Ref.) äus- 
serten. 

Das an Brom sehr reichhaltige Kreuznacher Multerlaugensalz 
fand er sehr wirksam zu 3 — 6 Pfund in Bä'dern bei allen For- 
men der Scropbolosis , bei chronischen Hautkrankheiten, bei se- 
cundä'rer Lustseuche, bei Menstrualbeschwerden in den klimak- 
terischen Jahren , bei Rheumatismus und Gicht plethorischer Per- 
sonen , bei Neigung zu Congestionen und Kopfschmerzen vollsaf- 
tiger Leute, bei regelwidriger Hautthätigkeit und dadurch ent- 
stehendem Stockschnupfen. 

Was er über Menschenpocken, Varioloiden, Schatzpocken 
und Varizellen sagt, bestätigt im Allgemeinen die auch ander- 
weitig gemachten Erfahrungen, widerlegt die Ansicht derer, dafs 
Variola und Variolois von einander ganz verschiedene Krankhei- 
ten seyen, und verdient hauptsächlich auch wegen der für die 
Medicinalpolizei von ihm gemachten Folgerungen gelesen und be- 
achtet zu werden. 

Unter der Aufschrift: Krankheiten des Herzens und der gro- 
fsen Gefäfse etc. sind mehrere einzelne Fälle von wissenschaftli- 
chem und praktischem Interesse mitgetheilt, an welche der Vf. 
Bemerkungen über Angina pectoris, das Asthma und die Anwen- 
dung des salpetersauren Silbers reiht. Die Angina pect., welche 
er lieber Asthma dolorificum genannt wissen müchte, beobachtete 
K. gleich Andern häufiger bei Männern als bei Frauen. Er ist 
der Meinung, dafs es keine andauernd bestehende Angina pect, 
aus blos dynamischer Ursache gebe, sondern dafs einer perma- 
nenten Brustbräune stets ein organisches Leiden des Herzens 
oder der grofsen Gefäfse zum Grunde liege. Das salpetersaure 
Silber leistet nach K. in solchen Fällen grofse Dienste, ebenso 
wandte er es bei passiven Blutilüssen und in chronisch - krank- 
haften Zuständen der Blutgefäfse , die mit nervösen Symptomen 
in Wechselwirkung stehen, mit Erfolg an, und überzeugte sich, 
dafs es den Stuhlgang eher zurückhielt , als vermehrte , die Urin- 
absonderung dagegen verstärkte. Des Vfs. Äusserungen über das 



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Kopp: Denkwürdigkeiten in d. ärstl. Praxu. 



Asthma Millari unterschreibe ich , überzeugt , dafs dies ihm von 
allen wahrheitsliebenden Ärzten zu Theil werden durfte. 

Fast die Hälfte des dritten Bandes füllen Varietäten , wo in 
aphoristischer Form praktische Wahrheiten mitgetheilt sind. Wir 
machen die Leser besonders aufmerksam auf K's Mittheilungen 
über Jodquecksilber, über die Anwendung des WacbstafFent bei 
Dispositionell Halsentzündungen , über Diarrhoe bei Hindern , 
Unruhe und Schlaflosigkeit bei Säuglingen, über die Pillen- 
farn), über Menses nimii , Natron, über die Anwendung des 
salzsauren natronbaltigen Goldes zur Heilung krankhafter Zustande 
des Mundes und der Nase , besonders scrophulösen Ursprungs ; 
über den innerlichen Gebrauch der Sabina bei nicht -plethori- 
schem schmerzhaftem Monatsflufs , bei stinkenden monatlichen 
Blutabgängen, in der Bleichsucht, in gewissen Arten von Leu- 
corrboe, besonders bei schlaffen phlegmatischen Personen, über 
den Gebrauch des Zincum hydrocyanicum in allen reinen Narren- 
krankbeiten, über die innerliche und äusserliche Anwendung des 
Berger Leberthrans, in welchem eine vom Verf. veranlasste Ana- 
lyse durch Hopfer de l'Orme Jod nachwies, über das krankhafte 
Unvermögen in der Hand zum Schreiben, über weichet ähnliche 
Beobachtungen von Giest, Sicbold, Albers und Ref. bekannt ge- 
macht wurden. Die Schrift zeichnet sich durch Klarheit der 
Darstellung und einen fliefsenden angenehmen Styl, wie er leider 
in den Schriften der Ärzte selten gefunden wird, sehr vorteil- 
haft aus. Wiewohl wir nicht selten uns in Opposition mit dem 
Verf. gesehen und diese auch rücksichtslos geäussert haben, so 
finden wir uns doch veranlafst , den Wunsch auszusprechen, dafs 
K. Muse finden möge, bald einen vierten Band so gediegener 
Beobachtungen dem Druck zu übergeben. 

H ey fe Ider. 



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N°.74. HEIDELBERGER i837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Geschichte der Einführung des Christenthums im südwestlichen Deutschland, 
besonders in Hürtemberg. Von C. J. Ilcfele, ausserordenll. Professor 
an der katholisch - theologischen yacultut zu Tübingen. Tübingen, in 
der II. Laupp'schen Ouchhnndlung. 1837. X u. 421 & in gr. 8. 

Wir haben verschiedentlich in diesen Blättern der neuesten 
Versuche gedacht, das Gebiet vaterländischer Geschichts- und 
Alterthumskunde in eigenen Schriften von geringerer oder gröfse- 
rer Ausdehnung aufzuhellen, und werden daher auch um so we- 
niger das votliegende Werh unbeachtet lassen dürfen, weil es als 
das Resultat gründlicher und umfassender Quellenforschung, eben- 
sowohl durch die Vollständigheit in der Behandlung des Gegen- 
standes als durch eine unbefangene, vorurteilsfreie Darstellung 
und einen würdigen , selbst gefälligen und anziehenden Styl sich 
in jeder Hinsicht allen Freunden vaterländischen Alterthums vor- 
teilhaft empfiehlt, und auch von diesen — nicht etwa Mos von 
dem Kirchenhistoriker — ! vorzugsweise beachtet zu werden ver- 
dient Denn die Geschichte der Einführung und Verbreitung 
christlicher Lehre , der Gründung christlicher Kirchen und Ge- 
meinden in unserm Vaterlande ist innig verknüpft mit der Dar- 
stellung der politischen und bürgerlichen Verbältnisse , der gan- 
zen Cultur und Civilisation des sudwestlichen Deutschlands, so 
dafs das Eine vom Andern nicht füglich getrennt oder abgeson- 
dert vom «Andern behandelt werden kann ; wie dies eben diese 
Schrift am deutlichsten beweist, die man demnach auch zugleich 
als eine Darstellung des Lebens und der Verhältnisse, des Gangs 
der Bildung und Civilisation des südwestlichen Deutschlands wird 
bezeichnen können. Neben dem Interesse, das wir an den Denk- 
malen heidnischer d. i. römischer oder auch vorrömischer Zeit 
in unsern Gegenden diesseits des Rheins nehmen, tritt uns doch 
auch zugleich noch ein höheres entgegen , zu erfahren , auf wel- 
shem Wege, in welcher Weise und durch welche Mittel das 
Licht christlicher Lehre und damit . überhaupt christliche Cultur 
und Sittigung in unsere Gaue gekonuneii und hier für alle Zeiten 
dauernd begründet worden ist. Eine solche Forschung wird nicht 
allein dem Gebiete der Kirchengeschichte, im Allgemeinen , son- 
dern auch und insbesondere der vaterländischen Geschichtskunde 
XXX. Jahrg. 12. Heft. 74 



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1170 Hcfelc: Geschichte d. Einführung d. Christenthunu 

auf die v\ir hier zunächst Buchsicht nehmen, zufallen. Es hat 
nämlich der Verf. versucht , unter sorgfältiger Benutzung aller 
Quellen und Hülfsmittel, die er uns im Anfang des Werltes ge- 
nau verzeichnet, und auf die er bei jedem einzelnen Punkte ge- 
nau hinweist, eine * Christianisirungsgeschichte des sudwestlichen 
Deutschlands« zu liefern, welches allerdings in jenen Jabrhun. 
derten, die hier zunächst in Betracht kommen, ein geschlosse 
ncs Ganze bildete, das nicht blos in die Gräozen des heutigen 
Königreichs Würtemberg eingeschlossen, auch die südwärts an- 
grenzenden Landschaften der Schweiz, sowie die westwärts daran 
stofsenden '1 heile des jetzigen Grofsherzogthums Baden in sich 
schlofs und daher einen und denselben Entwicklungsgang, mithin 
auch eine und dieselbe Geschichte hat. Es war des Verfs. Ab- 
sicht, um seine eigenen Worte S. 5 anzuführen — »die Geschichte 
der Christianisirung Wurtembergs in Kurze zu bearbeiten, das in 
grofsen , bändereichen Werken Zerstreute zu sammeln , das Ge- 
sammelte zusammenzufügen, neue Forschungen und Untersuchun- 
gen anzustellen, seine eigenen Gedanken und Ansichten mitzu- 
theilen und so dem historischen Forlgange von Stufe zu Stufe 
zu folgen, t>is zu jenem Punkte hin, wo zweifelsohne schon in 
allen Theilcn und auf allen Höhen unseres Vaterlandes Christi 
Namen verehrt ward.« Er fuhrt dann weiter aus, wie die Chri- 
stianisirungsgeschichte von Würtemberg im Zusammenhang steht 
mit der Bekehrungsgeschichte des ganzen südwestlichen Deutsch- 
lands und von ihr unzertrennlich, mit ihr Ein Ganzes bildet. 

Der Verf. hat den ganzen Stoff nach drei Perioden oder 
Abschnitten behandelt; sie liegen in der Natur der Sache und 
sind durch diese gewissermafsen geboten, durften daher nicht 
leicht beanstandet werden. Es wird dies aus dem Verfolg unse« 
rcr Anzeige noch deutlicher hervorgehen , wenn wir den Inhalt 
näher durchgehen und den Gang, 'den die Untersuchung des Vfs 
genommen hat , unsern Lesern vorlegen. Die erste Periode oder 
der erste Abschnitt begreift die Zeit der römischen Herrschaft; 
die zweite die Zeit der freien Alemannen nach dem Sturz der 
Kömerberrschaft bis zur Unterwerfung der Alemannen unter die 
Franken nach der Schlacht bei Zülpich ; die dritte die Zeit der 
fränkischen Herrschaft, oder die Zeit der allgemeineren Ausbrei- 
tung und eigentlichen Begründung des theilweise schon früher 
in diese Gegenden gedrungenen Christenthums. Dafs dieser letzte 
Abschnitt der ausfuhrlichere, ungleich umfassendere ist, indem 
hier die Quellen, die für die beiden ersten Abschnitte so spärlich 



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im südwestlichen Deutschland. 1171 

fliefsen , schon weit reichlicher uns zugekommen sind , liegt eben- 
falls in der Natur der Sache. Diese Quellen sowie die verschie- 
denen daraus hervorgegangenen mehr oder minder ausfuhrlichen 
Werbe neuerer Zeit sind von 8. 8 ff. an genau verzeichnet und 
mit Urtheilen über ihren Werth , ihre Benutzung u. dgl. m. be- 
gleitet, welche der, der sich näher in diesem Kreise umgesehen 
hat, gewifs nicht mifsbilligen wird. Die Arbeiten der gelehrten 
Benedictiner von St. Blasien, eines Gerbert, Neugart u. A. neh- 
men hier mit Recht eine Hauptstelle ein. Wir erfahren bei die- 
ser Gelegenheit, dafs Neugarts Manuscript zum zweiten Bande 
des Episcopatus Constantiensis AlemannicuS in den Händen des 
für die alte deutsche Literatur und für vaterländische Geschichts- 
ltundc so unermüdet thätigen Freiherrn von Lafsberg sich be- 
findet, der zu dessen Herausgabe eine Hoffnung macht, deren' 
Erfüllung mit Bcf. gewifs alle Freunde vaterländischer Forschung 
mit .Verlangen entgegensehen. 

Der erste Abschnitt, oder die Zeit der Romerherrschaft 
über das südwestliche Deutschland beginnt mit einer Untersuchung 
über die ältesten Bewohner dieses Landes zu der Zeit, als die 
Römer von dem andern Ufer des Rheins ihre Einfälle in das dies- 
seits gelegene Land begannen. Als solche erkennt der Vf. Mar- 
komannen , welche dann, um Christi Geburt, Marbod in das frü- 
her von Bojern bewohnte Böhmen führt. Die nächsten Bewoh- 
ner stammten, wie auch unser Verf. und wohl mit Recht gegen 
Sattler u. A. annimmt, keineswegs aus Helvetien; es waren viel- 
mehr, schon nach dem klaren Sinne der hfer in Betracht kom- 
menden Stelle des Tacitus (German, cp. 29. vgl. S. 27 ff.), gal- 
lische Einwanderer, die das von den Markomannen verlassene 
Land einnahmen, auch wohl, zum Theil wenigstens, schon frü- 
her über den Rhein gekommen waren, bevor noch die romische 
Gränze dieses Land einschloß, dafs wir durch denselben Tacitus 
als das Zehntland (agri decumates) bezeichnet finden. Wir kön- 
nen und wollen hier nicht in eine Untersuchung über das romi- 
sche Zehntland — ein in unsern Tagen wieder so viel bespro- 
chener Gegenstand — eingehen, auch der Verf. hat sich, wie 
billig , darauf nicht weiter eingelassen , und nur in einer Note 
seine unmafsgebliche Meinung dahin ausgesprochen, 'dafs er den 
eben bemerkten Ausdruck des Tacitus geradezu und unbedenk- 
lich von dem Verhältnisse der Zehntpflichtighcit gegen Rom ab- 
leitet; eine Ansicht, die auch Ref. stets in seinen Vorlesungen 
über die Germania des Tacitus als die ihm allein haltbare und 



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1172 Hefcle s Geschichte d. Einführung d. Christentum« 

richtige ausgesprochen hat, ohne weiter auf die zum 1 heil merk- 
würdigen Erklarungs- und Deutungsversuche dieses Wortes ein- 
zugehen. Wahrscheinlich — so behauptet der Verf. S. 55 — 
ging das Zebntland anfangs nur bis an den Neckar, weshalb auch 
an diesem Fiufs bei weitem die meisten romischen Alterthümer 
sich finden, z. B. bei Rothweil (Arae flaviae) , bei Rottenburg 
(Samuiocennae s. d. Jahrbb. 1837 P* ,0 7 &) 1 hei Canstadt u. s. w. 
Gegen Ende des dritten Jahrhunderts erweiterte und befestigte 
Probus von Neuem die Gränzen der romischen Herrschaft, wo- 
durch dem Zehntland sein Bestand von Neuem gesichert wurde ■, 
er war es, der die befestigte Linie (limes Bomanus) erneuerte, 
die von Cöln am Niederrheine an stromaufwärts und dann in mehr 
ostlicher Bichtung in verschiedenen Beugungen bis oberhalb Re- 
gensburg sich hinzog und so an der Onnau auslief. Wir über- 
gehen, was der Verf. weiter über Schicksale und Zustand dieses 
Zehntlandes bemerkt, um auf das zu kommen, was er $.4, in Be- 
zug auf seinen speciellen Zweck, über den im Zchntland herrschen- 
den Cultus nach Anleitung der davon zeugenden , noch vorhan- 
denen Denkmale jener Zeit bemerkt, in denen er mit Becht die 
Hauptaufschlüsse darüber aufsucht. Diese Denkmale römischen 
Ursprungs — es sind deren wohl über hundert und zwanzig in 
Würtemberg bis jetzt gefunden, raeist Altäre, Götterbilder, Stein- 
schriften u. s. w., wie sie der um diesen Zweig der würtember- 
gischen Alterthümer so sehr verdiente Herr Prof. u. Bibliothekar 
Stalin zu Stuttgart, der die Aufsicht über diese alterthumlichen 
Schätze fuhrt, in einem sehr genauen Bericht in Memmingers 
Würtemb. Jahrbb. i835. I. zu Eiogang beschrieben hat, — wei- 
sen alle auf einen heidnischen Cultus; sie zeigen zugleich ein 
wahrscheinlich durch die Vermischung der eingewanderten Gallier 
mit den hier stationirten Romern entstandenes merkwürdiges Ge- 
x misch eines gallischen und romischen Cultus, der durch lokale 
Verhältnisse noch besonders modificirt erscheint Wollte man 
indessen aus diesem Vorhandenseyn blos heidnisch - romischer 
Denkmale des Cultus einen Schlufs machen auf das gänzliche 
Nicbtvorhandenseyn von Christen unter der zahlreichen bürger- 
lichen, wie militärischen Bevölkerung dieser Gegenden , so dürfte 
dieser Schlufs doch zu weit geführt seyn ; im Gegentheil, es 
scheint nach dem, was der Verf. im nächsten fünften Paragraph 
weiter ausführt, selbst wahrscheinlich, wenn auch nicht durch 
bestimmte Zeugnisse erweisbar, dafs in den drei ersten Jahrhun- 
derten während der Römerherrschaft in unsern Gegenden zwischen 



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im südwestlichen Deutschland im 

dem Rhein und der Donau unter den Bewohnern der Zehntlande, 
unter den Colonisten und Soldaten schon frühe einzelne Christen 
gewesen oder sich angesiedelt, wie denn die politische Verbin- 
dung des Zehntlandes mit Gallien, der Verhehr mit dem jensei- 
tigen Rheinufer und mit den dort befindlichen Festen und Städ- 
ten , wo wir schon im zweiten Jahrhunderte Christen, ja selbst, 
wie es scheinen will , gegen Ende dieses Jahrhunderts christliche 
Gemeinden antreffen, es kaum zweifelhaft machen hann, dafs von 
dort aus auch in das Zehntland die ersten Heime des Christen- 
thums in jener Zeit gedrungen sind. Von den südwärts von der 
Donau gelegenen Gegenden läfst es sich durch bestimmte Zeug- 
nisse nachweisen, dafs in ihnen schon zu Zeiten der Romerherr* 
schaft Christen gewohnt und gelebt haben. Constanz, Vindonissa 
oder Windisch , Bregenz und Chur treten hier als die ersten Orte 
hervor, wo eine christliche Bevölkerung sich bildete und ein 
christlicher Cultus entstand. Vgl. §. 6. 

Wir haben diese Punkte, als Hauptergebnisse der Unter- 
suchung des Verfs. hier hervorbeben wollen, ohne naher in die 
Untersuchung selber, die auch so manches Andere, damit in nä- 
herer oder entfernterer Berührung stehende , behandelt , einzu- 
gehen , da uns dazu der Raum fehlt , der uns auch für die fol- 
genden Theile der Schrift gleiche Beschränkung auferlegt. Für 
den aufmerksamen Leser , für den Freund unserer vaterländischen 
Geschichte wird es dann keiner besonderen Aufforderung bedür- 
fen, sich weiter mit der Schrift selbst bekannt zu machen und 
der gründlichen Forschung selbst Schritt vor Schritt zu folgen. 

Der zweite Abschnitt oder die zweite Epoche befafst, wie 
bereits bemerkt worden, die Zeit der freien Alemannen. Der 
Verf. sucht zu zeigen, wie die ersten Heime eines christlichen 
Lebens und die ersten Anfänge christlicher Cultur unter der Rö- 
merherrschaft im südwestlichen Deutschland, in ihrer weiteren 
Entwicklung und immer grofseren Ausbreitung gehemmt wurden 
durch die Einfälle der Alemannen und den dadurch herbeigeführ- 
ten Untergang der römischen Herrschaft , ungeachtet der frucht- 
losen Siege eines Probus und eines Valentinian (bei Solocinium, 
auch nach unserm Verf. S. 90 das am Neckar gelegene wurtem- 
bergische Städtchen Sulz) , welche die schwache Herrschaft Roms 
nicht mehr auf die Dauer zu sichern vermochten; er zeigt 
uns aber auch weiter, wie selbst bei den heidnischen Aleman- 
nen in dieser Periode die allgemeine Ausbreitung des Christen- 



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1174 Hefele: Geschichte d. Einführung d. Chrittenthunu 



thums, die wir in der nächsten Periode oder im nächsten Abschnitt 
eintreten sehen, vorbereitet ward durch die Nähe mancher schon 
christlichen Städte und Gegenden , mit welchen die Alemannen 
in Berührung kamen oder in näherem Verkehr standen, u. A. 
An die Stelle der vertriebenen Romer hatten Alemannen das 
ganze Zehntland nördlich von der Donau besetzt ; sie hatten sich 
bald darauf auch südlich von der Donau im romischen Rhüden 
ausgebreitet und seit dem fünften Jahrhundert die ganze Gegend 
von der Donau bis zum Bodensee und noch tiefer hinein in die 
Schweiz, sowie selbst aosgedehnte Landstriche jenseits des Rheins 
im Elsafs eingenommen ; und wenn wir auch von ihren Lebens- 
verhältnissen wenig unterrichtet sind, so zeigt uns doch Alles 
unzweifelhaft , dafs das ganze Alemannien , die Masse der Aleman- 
nen, heidnisch in jener Epoche gewesen, also in religiöser Be- 
ziehung auf derselben Stufe, wie zur Zeit des Einfalls, noch in 
der Mitte des vierten Jahrhunderts geblieben, ja noch im fünften 
und sechsten Jahrhundert den altgermaniseh heidnischen Cultus 
beibehalten. Aber bei den\ Allem darf es auch nicht übersehen 
werden, wie die Nähe vieler christlichen Städte, der Kriegsdienst 
der Alemannen in den nun chrfstlich gewordenen Heeren der 
römischen Kaiser, der vielfache Verhehr und die perührung mit 
Christen die Alemannen mit dem Christentbum selber auf eine 
Weise bekannt machen mufste, die besonders in den südlich von 
der Donau gelegenen Landstrecken hervortritt, weil hier Aleman- 
nen mit einer schon früher zum Christentbum bekehrten Bevöl- 
kerung zusammenlebten und , wenn sie auch nicht unmittelbar 
zum Christenthum übertraten, doch dafür gewonnen oder zu ihm 
durch eine aus diesem Zusammenleben hervorgebende Bekannt- 
schaft vorbereitet wurden. 

Der dritte Abschnitt, der umfassendste des Ganzen (S. 112 ff.), 
beginnt mit einer allgemeinen Charakteristik der Zeit der frän- 
kischen Herrschaft, unter welche die eigentliche Cht islianisirung, 
d. h. die allgemeine Verbreitung und Feststellung des Christeo- 
thums im alten Alemannien fällt. Die Bekehrungsgeschichte Ale- 
manniens ist die Folge der Zülpicher Schlacht (490), welche, in- 
dem sie Alemannien zu einer dem F rankenreiche unterwürfigen 
Provinz machte, auch in der Geschichte der Religion und Kirche 
dieses Landes eine grofse Bedeutung gewinnt , weil sie , jedoch 
nicht auf gewaltsamem Wege oder mit einemmale , sondern nach 
und nach in einem längeren Zeiträume die Bekehrung der Masse 
der heidnischen Bewohner Aleraauniens herbeiführte. In welcher 



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im südwestlichen Deutschland. ll?5 

Weije nun dies nach und nach im Laufe der nächsten Zeit ge- 
schehen oder vielmehr nach der Lage der Verhältnisse geschehen 
mufste, dies bildet Gegenstand einer ausfuhrlichen Untersuchung, 
in welcher der Verf. sorgfältig alle einzelnen Momente hervor- 
gehoben hat, welche zur vollständigen Entwicklung und richtigen 
Auffassung des Ganzen allerdings beachtet werden mufsten. Er 
geht daher aus von dem religiösen Glauben der Alemannen selbst, 
von dem er uns eine kurze Darstellung giebt eben in der Ab- 
sicht, um hier die Anknüpfungspunkte, die in ihm für das Chri- 
stentum sich boten, nachzuweisen. Diese Darstellung hält sich 
freilich mehr oder mufste sich vielmehr halten an die Darstellung 
des religiösen Glaubens der alten Germanen überhaupt , da speciell 
von dem Glauben der Alemannen kaum etwas Näheres berichtet 
wird, das aber, was wir im Allgemeinen durch Tacitus u. A. über 
die Religion der Germanen erfahren , zweifelsohne auch von den 
Alemannen gelten und auf sie bezogen werden kann. Solche 
Annäherungspunkte , welche den Anscblufs der Alemannen an die 
christliche Lehre erleichtern, einleiten und vorbereiten konnten, . 
findet der Vf. in dem religiösen Glauben dieser Heiden, in dem, 
was wir die Glaubenslehre nennen würden , wie in der Sitten- ■ 
lehre und selbst im Cultus. 

Nach diesen mehr allgemeinen Ursachen geht aber dann der 
Verf. mit §. 17 zu Angabe der einzelnen, speciellen Momente 
über, welche die Bekehruug der Alemannen in dieser Periode der 
fränkischen Herrschaft nothwendig herbeigeführt haben. Als er- 
stes Moment erscheint der Aufenthalt der aus ihrem Vaterlande 
zu dem ostgothischen König Theoderich entflohenen Alemannen 
in Italien, wo sie mitten unter einer christlichen Bevölkerung, 
mit der sie in stetem Verkehr standen , unter dem Schutz eines 
christlichen Königs mehrere Decennien lebten, bis sie nach des- 
sen Tode sich genothigt sahen, dein Enkel Chlodwigs , dem frän- 
liischen Könige Theodobert von Austrasien, sich zu unterwerfen, 
was natürlich nur einen wohlthätigen Einflufs auf diese. Aleman- 
nen und die Annahme der christlichen Lehre äussern konnte. In 
dem Land Alemannien selbst scheint die fränkische Herrschaft, 
welche die Folge der Zülpicher Schlacht war, auf keine Weise 
Viel in die innern Verhältnisse des unterwürfig gewordenen Vol- 
kes eingegriffen zu haben ; man liefs dem besiegten Volke , das 
■ nun ein tributpflichtiges geworden war, seine alten Uechtc , Sit- * 
ten und Gewohnheiten, also gewifs auch seine Religion, von der 
sich sichere Spuren noch aus der Mitte des sechsten Jahrhunderts 



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1176 Hefele: Geschichte d. Einführung d. Christen thutui 

■ 

vorfinden. Von einer gewaltsamen Bekehrung , wie sie etwa spa\ 
ter Karl der Grofse bei den Sachsen vornahm, war durchaus 
nicht die Rede; es findet sich auch in der That nicht die min- 
deste Spur, dafs irgend etwas Auffallendes in dieser Beziehung 
geschehen oder gar gewaltsame Mafsregeln durch Machtgebote zur 
Erreichung dieses Zweckes ergriffen worden wären. Um so mehr 
aber wirkte das Christenthura im Stillen und auf desto sicherem 
Wege , als schon die ganze Stellung Alemanniens und die Ver- 
bindung, in die es mit einem christlichen Reiche trat, die Heime 
der Entwicklung fordern mufste, die früher oder später Aleman- 
nien zu einem völlig christlichen Lande gemacht haben. Vgl. 
S. i55. Fafst man diese ganze Stellung des unterworfenen Vol- 
kes und Landes zum fränkischen Reiche und dessen Herrschern, 
so wird man , auch ohne gewaltsame Versuche von Seiten der 
Letztern zu Einführung der christlichen Religion zu finden, doch 
im Ganzen darin gewifs ein zweites Moment für die Christianisi- 
rung dieses Theiles von Süddeutschland erkennen dürfen ; ein 
drittes liegt in der Stellung und in den Verhältnissen des aleman- 
nischen Adels und der Beamten zum fränkischen Hof und zur 
fränkischen Regierung ; der häufigere und nähere Umgang mit 
den fränkischen Grofsen und dem die Staatsgeschäfte leitenden 
Clerus mufste den alemannischen Adel immer mehr aus seinen 
heidnischen Ansichten heraus zu christlicher Bildung führen und 
dem Christenthum immer näher bringen. Als ein viertes Moment 
tritt dann das alemannische Elsafs hervor. Dieses Land hatten die 
Alemannen schon zu Anfang des fünften Jahrhunderts grofsen- 
theils eingenommen und bis zur Zülpicher Schlacht darin als Her- 
ren sich behauptet; obschon als solche durch die Kranken ver- 
drängt, blieben sie doch in ihrem ganzen Güterbesilz, und es 
blieb auch unter der fränkischen Herrschaft über ein Jahrhundert 
lang das Elsafs politisch gar nicht von Alemannien getrennt, son- 
dern bildete mit ihm Ein Herzogthum. Da nun aber im Elsafs 
schon zur Zeit der-Rümerherrschaft das Christenthum sich aus- 
gebreitet , und schon vor de*' Mitte des vierten Jahrhunderts ganz 
festgestellt und in seinen kirchlichen Verhältnissen organisirt er- 
scheint, auch das, was in den nachfolgenden Kriegszügen zerstört 
wurde, unter der Regierung der frommen Merovinger gewifs wie- 
der aufgerichtet ward, so müfste es mehr als befremden, wenn 
bei einer hundertjährigen Verbindung mit einem christlichen Volke 
das Christenthum nicht auch seinen Einflufs auf die alemannische 
Bevöikeiung geäussert hätte, zu deren Bekehrung die versebie- 



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im südwestlichen Deutschland. 1117 

» 

denen Guter der fränkischen Könige, die Villen und Hurten der 
Herzoge und des Adels, sowie die Mallstatten um so mehr bei- 
tragen mufsten , als an solchen Orten meistens auch frühe Kapel- 
len und Kirchen zur Andacht der Besitzer wie der Bebauer ge- 
stiftet wurden. Man bann darin mit dem Verf. ein fünftes Mo- 
ment erkennen; ein sechstes und gewichtiges aber bildet die Grün- 
dung des Bisthums zu Consta nz im sechsten Jahrhundert, oder 
vielmehr die Verlegung des Bischofssitzes ron dem in den Krie- 
gen zerstörten und herabgekommenen romisch - burgundischen 
Windisch in das alemannische Constanz, um 55i — 56i. Damit 
war den einzelnen Christen, die in der Nähe des Bodensees, in 
Vindelicien , und in den verschiedenen alemannischen Gauen leb- 
ten , ein fester Anhaltspunkt gegeben und die allgemeine* Bekeh- 
rung des Landes gieng daher auch von hier zunächst aus. Dies 
zeigt Insbesondere die ungemeine Ausdehnung der Constanzer 
Diocese in diesen Gegenden bis in die jüngsten Zeiten herab. 
Wenn man bedenkt , dafs in Würtemberg vor der Reformation 
von beinahe neunhundert Pfarrern und Kaplänen immerhin an 
sechshundert auf die Diocese Constanz kommen, so wird man 
wohl geneigt seyn, die Constanzer Kirche für die Mutter der 
meisten christlichen Kirchen und Gemeinden in Würtemberg an- 
zuerkennen. Vgl. S. 182 ff. Es kommen zwar neben Constanz 
auch noch die Bisthumer zu Augsburg, Speier und Worms in 
Betracht, und der Verf. hat sich mit gleicher Sorgfalt bemüht, 
S. t83 ff. im §. 24 nachzuweisen, was auch von ihnen für die 
Bekehrung Alemanniens geschehen sey, wenn auch gleich immer- 
bin dem Bisthum Constanz der meiste Einflufs in dieser Hinsicht 
zuzuschreiben ist. Wir müssen , was das Detail dieser Unter- 
suchung über die Gründung und Anlage dieser ersten Bischofs- 
sitze und Cathedralen des südwestlichen Deutschlands betrifft, 
auf das Buch selbst verweisen, und finden es, auch abgesehen 
von allen andern positiven Beweisen , weit naturgemäßer und in 
dem natürlichen Gange der Entwicklung begründet, von den ge- 
nannten Kirchen und den erwähnten Verhälthissen und Momenten 
die allgemeine Bekehrung des Landes abzuleiten, als von einzel- 
nen Aposteln , die das Licht christlicher Lehre in diesen Gegen. 
cJen angezündet, und somit Können wir auch in jenen iriseben 
Missionären , welche die Tradition in diese Gegenden kommen 
läTst, nicht sowohl die ersten Boten, die ersten Verkündiger des 
Christentums erkennen, sondern müssen vielmehr der Ansicht 
des Verfs. durchaus beipflichten: »dafs das Erscheinen dieser 



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ins 



Hefele: Geschichte d. Einführung d. Christcnthuau 



irischen Missionäre , ihr Weilen an den Ufern des Bodensees und 
des Oberrbeins eher eine Mission zu Christen als zu Heiden ge- 
wesen sey und dafs wir in ihnen eher Förderer und Pfleger des 
Christenthums, als Pflanzer desselben zu verehren bnrechtigt und 
verpflichtet seyen. « S. 190 vgl. S. 14a ff., wo über diesen Ge- 
genstand ausführlichere Erörterungen gegeben werden , die diese 
Behauptung ausser Zweifel setzen. Dazu kommt nun noch und 
wird auch mit Recht vom Verf. als ein neues Moment — das 
achte — für die völlige Bekehrung Alemanniens hervorgehoben, 
dio durch Dagobert zwischen 628 — 638 bestimmte Diöcesauein- 
thcilung, auf welche später Friedrich 1. in einem Diplom vom 
17. November 11 55 datirt und au Constanz ausgestellt, wieder 
zurückkam ; den Streit über die Achtheit der Urkunde hat der 
Verf. mit siegenden Gründen, wie uns scheint, beseitigt. Eine 
solche Diöcesaneinlheilung zeugt doch vor Allem, oder sie setzt 
vielmehr voraus das Vorhandenseyn christlicher Gemeinden, die 
in den verschiedenen Districten des Landes von den verschiede- 
nen bischöflichen Sitzen aus gestiftet und gegründet worden wa- 
ren. Überhaupt zeigen die austrasiseben Könige vor Dagobert 
ein Bestreben, das Kirchenthum in ihrem Reiche zu ordnen, und 
die bemerkte Anordnung Dagoberts ist gewifs als eine Folge die- 
ser Fürsorge der genannten Herrscher für die Kirche anzusehen. 
Dies führt denn auch den Verf. auf eine wichtige Urkunde jener 
Zeit, die, selbst abgesehen von ihrem sonstigen Werth und ihrer 
vielseitigen Bedeutung, allerdings für ein bedeutendes Moment 
in der Bekehrungsgeschichte Alemanniens anzusehen ist* Es ist 
dies die Lex Alamanorum , über welche der Verf. §. 27 S. an ff. 
sich ausführlicher, dem Zwecke seines Buches gemäfs, verbrei- 
tet.. Dafs zunächst diejenigen Bestimmungen des Gesetzbuches, 
welche auf die kirchlichen Verhältnisse sich beziehen , hier in 
Betracht kommen, brauchen wir wohl nicht besonders zu bemer- 
ken, wohl aber müssen wir anführen, dafs der Verf., nachdem 
er die betreffenden Abschnitte des Gesetzes durchgangen, daran 
eine umfassende Untersuchung knüpft über die mehrfach aufge- 
stellte Behauptung eines späteren Ursprungs dieser Abschalte, 
welche dann von den späteren Nachfolgern Dagoberts abgeleitet 
werden und als ein Zusatz einer weit späteren Zeit erscheinen. 
Der Verf. hat diese Ansicht widerlegt, und Bef., der sich vor 
Kurzem gleichfalls im entgegengesetzten Sinne ausgesprochen 
hatte, (Supplem. d. Böm. Literat. II. 494) freut sich, in dieser 
Ansicht durch des Verfa. Deduction noch mehr beatärkt worden 



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im iüd westlichen Deutschland. 



117« 



zu seyn. Sonach wird es kaam noch einem weiteren Zweifel 
unterliegen können, dafs auch dieser Theil des alemannischen Ge- 
setzbuches, welcher von den kirchlichen Bestimmungen handelt, 
wenigstens in die Zeit Dagoberts, wo nicht schon früher, fallt, 
und einer Periode angehurt , in welcher zwar ein beträchtlicher 
Theil Alemanniens, besonders der Adel und die Grofsen des Volks, 
bereits christlich waren , die Masse des Volks aber noch dem 
heidnischen Cultus der Vorfahren anhieng. Diese Masse aber 
nun auch völlig von den heidnischen Gewohnheiten abzubringen 
und zum Christenthum zu fuhren, das in das ganze Leben des 
Volks übergehen und alle Verhältnisse desselben durchdringen 
sollte, betrachtet der Vf. als einen besondern Zweck des Gesetz- 
buches (vgl. S. 227 fr. 23 1 AT.) und er sucht diesen pädagogischen 
Charakter desselben in dem Inhalt und Charakter des Gesetzes 
selber, in den einzelnen, namentlich kirchlichen Bestimmungen 
desselben, näher nachzuweisen, insofern sie deutlich aus dem Be- 
streben und aus der Absicht hervorgegangen sind , ein noch nicht 
völlig christianisirtes Volk immer mehr zum Christenthum zu 
fuhren. Vgl. S. 232 fl. 2 3o, ff. * 

Auf diese Erörterung folgt eine Darstellung der irischen Mis- 
sionen, welche um die Zeit der Abfassung des alemannischen Ge- 
setzbuches verlegt werden. Wir haben schon oben im Allgemei- 
nen der Ansicht des Verfs. gedacht, die wir als die im Ganzen 
richtige betrachten zu müssen glauben, wir bemerken hier nur 
noch, dafs der Vf. hier in eine nähere Prüfung dessen eingeht, 
was Sage und Geschichte von den berühmtesten und gefeiertsten 
dieser irischen Glaubenslehrer melden, weil er allerdings in dem 
Wirken derselben, wenn auch nicht die einzige oder die Haupt- 
quelle der Bekehrung der Alemannen zum Christenthum, so doch 
ein dieselbe förderndes und in dieser Hinsicht wesentliches Moment 
— das eilfte in der Reihe — anerkennt. Er spricht zuerst §. 29 
S. a43 fl. vom heiligen Fridolin, der als der erste uns be- 
kannte irische Missionar im Anfange des sechsten Jahrhunderts in 
Alemannien und in der nordwestlichen Schweiz erscheint, und 
namentlich durch die Stiftung eines Klosters zu Seckingen , der . 
ersten Pflanzschule geistlicher Hirten für den südwestlichen Theil - 
Deutschlands, gewifs auf die Chi istianisirung des Schwarzwaldes 
und der Baar von wesentlichem Einflufs war. Daran schliefsen 
«ich die Nachrichten über den heiligen Columbanus und über 
den heiligen Gallus §. 3o S. a6i ff., über die St. Gallenzelle 
§• 3i S. 280 ff., über Gall und Gunzo, den christlichen Herzog 



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1180 Hefelc: Geschichte d. Einführung d. Christcnthuiui 

Alemanniem am 6i5 zu Anfang des siebenten Jahrhunderts §. 3a , 
S. i83 ff. Das Resultat dieser Untersuchungen ist auch hier Ii ein 
anderes, als dafs zu den Zeiten des heiligen Gallus, im Anfang 
des siebenten Jahrhunderts , die Gegenden des Bodensee's grofsen- 
theils schon christlich waren, demnach Gallus nicht sowohl als 
ein Apostel des Christenthums unter den Heiden, sondern unter den 
Christen und halbbeidnischen Christen zu betrachten , dafs aber, 
da unter den Christen des Landes auch immerhin noch heidnische 
Familien gewohnt, auch für diese St. Gall's Mission segensreich 
gewirkt habe. Vgl. S. 295. Den Tod des Gallus setzt der Vf. 
um 627, wo Gallus, etwa 70 Jahre alt, zu Arborn gestorben-. 
Bei den widersprechenden Angaben und Behauptungen über die- 
sen Punkt wird diese Annahme, wie sie durch die im §. 33 ge- 
führte Untersuchung gerechtfertigt erscheint, wenig Anstofs er- 
regen können. Der Einflufs der St. Gallenstiftung zeigt sich dem- 
nach, wie auch im nächsten Paragraph weiter ausgeführt wird, 
nlehr in der weiteren Pflege und Verbreitung der schon vorban- 
denen christlichen Heime als in der Pflanzung völlig neuer; dafs 
aber dieser Einflufs immerhin bedeutend gewesen, zeigen onwi- 
dersprechlich die vielen dem Andenken des h. Gallus gewidmeten 
Kirchen und Kapellen , deren uns der Verf. hier eine bedeutende 
Anzahl in den Seegegenden und im eigentlichen Wurtemberg 
namhaft macht , insbesondere aber die bedeutenden Schenkungen , 
welche in jenen Zeiten aus Wurtemberg an St. Gallen gemacht 
wurden. Zahlreiche Belege sind hier uberall angeführt ; sie 
beschränken sich auf das achte Jahrhundert, indem' die zahlrei- 
chen Schenkungen späterer Zeit ubergangen sind. In ähnlichem 
Sinn, wie der heilige Gallus, wirkte auch gegen die Mitte des 
siebenten Jahrhunderts der b. Trudpert, dessen Kloster, das 
erste im eigentlichen Schwarzwald , ein Anhaltpunkt für die schon 
vor ihm begonnene Christianisirung dieser Gegenden zu weiterer 
Pflege und Forderung ward , und bald seine Wirksamkeit weit 
umher im Breisgau und selbst weiter tief ins Würteni bergische 
hinein ausdehnte. Der Yeti, hat darüber in einem eigenen Ab- 
schnitt gehandelt und darauf im nächsten (§. 36) einige Angaben 
über die beiden im jetzigen Grofsberzogthum Baden gelegenen 
Kloster Schuttern und Ettenheimmünster folgen lassen , da 
beide Kloster fremden Missionären aus Irland ihren Ursprung ver- 
danken sollen, jedenfalls aWr noch älter sind als des h. Trudpert 
Ansiedelung , und immerhin als die ältesten Stiftungen der Art im 
westlichen Alemannien erscheinen ; wenn auch gleich damals schon 



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im BuclwcitHchen DeuUchland. 1181 

zu beiden Seiten des Rheins allgemein das Christenthum in einer 
Weise verbreitet war, die kaum noch irgend eine Spur des Hei- 
denthums in diesen Rheingegenden erwarten läfst. Damit bringt 
denn auch der Vf. im nächsten Paragraph weiter in Verbindung 
die Mission des heil. Pirminius und die Stiftung des Klosters 
Reichenau, um 724, bestimmt den um diese Zeit, also am 
Anfang des achten Jahrhunderts, im Süden Alemanniens schon 
sehr erkalteten Eifer für das Christenthum von neuem zu be- 
leben und vor der Fäuluifs zu bewahren. Dies setzt aber eben 
voraus , dafs schon früher die Bebehrang der Bewohner zum Chri- 
stenthum stattgefunden , und wir können dem Verf. nach Allem 
dem, was er hier beigebracht hat', wohl die Behauptung zuge- 
ben, dafs dafür das Meiste seit Ende des sechsten und im Laufe 
des siebenten Jahrhunderts geschehen sey. Vgl. S. 348. 364. 
Was endlich den h. Bonifacius betrifft, dessen apostolischer Thä- 
tigheit der Verf. einen eigenen Abschnitt gewidmet hat, so er- 
streckte sich diselbe keineswegs über Alemannien , das vielmehr 
ora diese Zeit schon sein geordnetes Kirchenthum batte und längst 
für das Christenthum gewonnen war. Vgl. S. 36i. 364. Den 
Beschlufs macht die Mission an der nordlichen Granze von Wür- 
temberg und das Bisthum Würzburg §. 3q. S. 365, wo der Vf. 
zeigt, dafs die Bewohner des jetzigen Frankens Thüringer wa- 
ren, dafs die Masse derselben in der zweiten Hälfte des siebenten 
Jahrhunderts noch heidnisch war, mithin der h. Kilian , dessen 
Vaterland auch der Vf. in Irland sucht, als ein wirklicher Apo- 
stel unter den Heiden, also nicht wie die andern irischen Missio- 
näre unter einer schon grofsentheils christlichen Bevölkerung, 
erscheint. 

Im testen Paragraphen folgt als Beschlufs des Ganzen, ein 
Verzeichnis der ersten bekannten christlichen Kirchen und Ge- 
meinden Würtembergs in streng chronologischer Folge, soweit 
deren Stiftung noch ins nennte Jahrhundert hereinfällt, weil diese 
Zeit den Gränzpunkt der Übersicht bildet. Die erste Stelle dar- 
unter nimmt Hirsau und Calw ein ; schon in der ersten Hälfte des 
siebenten Jahrhunderts bestand in Calw eine christliche Gemein- 
de, und zu dem nachher so berühmt gewordenen Kloster Hirsau 
ward im Jahr 645 der Grund gelegt: eine Annahme, die auch 
w ir für die richtige halten. Dann folgt der Zeit nach Otters- 
wang und Gaisbeuren im Oberamt Waldsee, um 680 — 690, dann 
Canstadt um 706, Bettensweiler im Oberamt Wangen 735, Lau- 
fen und Heilbronn zwischen 741 — 747, Ellwangen um 744 oder 



1182 Mitlheill. d. Gesellschaft f. nördliche AUerthamakunde. 



nach Andern am 764 ti. s. w. Den Beschlufs macht unter Num- 
mer 75 Dußlingen im Oberamt Tubingen am 888, ond anter 
Nummer 76 Nusplingen im Oberamt Spaichingen um 889. Man 
wird die näheren Belege und Beweise für die Stellung, die den 
einzelnen Gemeinden und Kirchen hier ertheilt ist , sowie die 
Nachweisungen ihrer Stiftung und Gründung nirgends vermissen , 
indem vielmehr dieser Punkt mit besonderer Sorgfalt bebandelt 
ist Zwei dem Werbe beigefugte Tabellen lassen uns den Stamm 
der Merovinger und Karolinger in ihren vielfachen Verzweigun- 
gen mit leichter Muhe überschauen. 

Chr. Bahr. 



nittoriich-antiquarische Mittheilungen, herausgegeben von der 

königl. Gesellschaft für nordische Alterthumskundc. Kopenhagen , ge- 
druckt bei J. D. Quist. (Nicht im Buchhandel zu haben.) 1835. Pill 
Seiten Einleitung und 117 Seiten Text, in gr. 8. schön mit lateinischen 
Lettern gedruckt, und mit 5 Tafeln in Kupfer gestochener vortrefflichen 
Abbildungen, $owie mit noch andern Abbildungen neben dem Texte. 

Klar einleuchtend und unläugbar ist der innige und vielseitige 
Zusammenhang, in welchem die Geschichte und das ganze Leben 
der alten Scandinavier und Germanen mit einander stehen. Alles: 
Alterthumer, Sprache, Glaube, Sitten und Gebräuche, Gesetze, 
Sagen und Gesänge, — alles stellt sich dar, als aus Einer ge- 
meinsamen Wurzel hervorgegangen , vielleicht zum Theil schon 
vor raehrern Jahrtausenden, da das Urvolk, von welchem Ger- 
manen, Gothen und Scandinavier abstammen, noch im fernen 
asiatischen Hochlande vereint war. Und was die berühmte ver- 
dienstvolle königliche Gesellschaft in Kopenhagen zur Erforschung 
des Nordens thut, thut sie daher auch für uns und ist für uns 
von der höchsten Wichtigheit. Es setzen sich daher auch die 
deutschen Geschichts- und Alterthumsfreunde mit ihr in immer 
nähere Verbindung , und sie sucht auch von ihrer Seite dieser 
Verbindung mehr und mehr freundlich zu pflegen. Nun ist zwar 
die Herausgabe, Übersetzung und Erklärung der isländischen AI- 
terthumsschriften der Hauptendzweck ihrer Bemühungen, aber 
dennoch gehört zu ihren Unternehmungen auch das Herausgeben 
altbistorischer und antiquarischer Untersuchungen und Abbandlun- 
gen. Sie hat für dieselben eine eigene archäologische Zeitschrift 
(Nordisk Tidsskrift for Oldhyndighed) , von welcher bis jetzt zwei. 
Bände erschienen sind. Und um wenigstens diejenigen Abhand- 



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Mittheill. d. Gesellschaft f nordische Altenhnmskunile. 1183 



hingen derselben, welche für ihre deutschen Freunde das gröfste 
Interesse haben mochten , denselben zugänglich zu machen , hat 
sie für sie jene Abhandlungen auf ihre Kosten in die deutsche 
Sprache übersetzen und drucken lassen, AJso ist die vorliegende 
Schrift entstanden. Und in der That, Interessanteres hätte die 
honigliche Gesellschaft ihren Freunden nicht mittheilen können ! 
Es sind auch ihre Mittheilungen für Alle, welche mit der Zusen- 
dung derselben beehrt worden sind, eine um so werthere und 
willhommnere Gabe, als sie gar nicht in den Buchhandel gekom- 
men und käuflich zu haben sind. 

Diese Mittheilungen aber bestehen in dreizehn grofsern und 
kleinern Aufsätzen , theils von allgemeinerem archäologischen 
und historischen Inhalte, theils über einzelne gefundene merk- 
würdige Alterthumsgegenstände. Wir halten uns jedoch hier 
nicht an die gegebene Folge dieser Aufsätze, sondern ordnen, zu 
schnellerer Obersicht, zusammen, was zusammen gehurt. Und 
zwar machen wir 

I. mit den Aufsätzen über die einzelnen Alterthums- 
gegenstände bekannt. Diese letztern sind theils aus Stein, 
theils aus Thon , theils aus Bronze , theils aus Gold. 

i. Über die Alterthumsgegenstände aus Stein, zwei Aufsätze: 
a) Kurzgefafste Übersicht über nordische steinerne Alteithiimer 
aus der heidnischen Zeit, S. 63 — 86. 

Das grofse berühmte Museum in Kopenhagen enthält unstrei- 
tig auf dieser Erde die meisten steinernen Alterthumer aus der 
heidnischen Zeit der alten nordländischen Volker; die steinernen 
Alterthumer sind zugleich die ältesten, die der ersten frühesten 
Vorzeit dieser Völker angehören, und sind für uns um so merk- 
würdiger, als sie sich auch, wenngleich keineswegs in so grofser 
Verschiedenheit und so ansehnlicher Menge, in den ältesten Grab- 
bugeln Siiddeutschlands finden , wie z. B. in den uralten Hügeln 
in dem schon durch seinen Namen bedeutsamen Osterhol ze bei 
Sinsheim (im Unter-Bheinkreise des Grofsherzogthums Baden). 
Auch sie weisen, wie so vieles Andere, zumal auf ähnliche Ver- 
hältnisse unter den scandinavischen und germanischen Völkern vor 
der eigentlichen Entwickejung der Cultur hin. Jedoch ist in dem 
Aufsatze fürs erste nur eine gedrängte Beschreibung von allen 
Hauptformen jener steinernen Alterthumer gegeben; zu einem 
grofsern den Gegenstand erschöpfenden Werke wird aber ange- 
nehme Hoffnung gemacht; und jene Hauptformen sind: Schleif- 
steine, Beile, Meifsel, Messer und Lanzenspitzen, halbmondför- 



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1184 Mitthcill. d. Gesellschaft f. nordische Alterthunukunde. 



mige Feuersteinstücke, Feuersteinsplitter and Pfeilspitzen, Äxte, 
Axthämmer, Hammer , Schleudersteine , weberschiffförmige Stei- 
ne, Knäufe (Dopper), Scheiben, Kugeln, Ander, Kornquetscher 
und Probiersteine. — Mit diesem Aufsatze aber ist zu verglei- 
chen eine in Schweden, und zwar in der Kopenhagen so nahen 
Universitätsstadt Lund, die sich auch einer grofsen Sammlung 
nordischer Alterthumer zu rühmen hat, erschienenen' Abhandlung: 
Specimen Antiquitatum Borealium. Quod venia ampliss. ord. Phil, 
publice proponunt Magnus Bruzelius, Collega Scholae Lunden- 
sis, Societ. Phyaiograph. Lund. Membr. et Carolas A. Rani, 
Blekingus, P. J. Die XXVIII. Maji MDCCCXVI, welche der sei. 
Busching hat durch einen seiner Schüler f den F. S. Hromatka, 
ubersetzen lassen und mit einer Vorrede sowie mit Anmerkungen 
im Jahre 1827 herausgegeben. 

b) Merkwürdiger Fund von feuersteinernen Sachen, S. 98^- 
100. Bei dem Fortschaffen eines unweit Vanggaard (im Kirch- 
spiele Gjernm) einzeln gelegenen grofsen Steines wurden sicht- 
bar, auf einem flachen Steine in Sand eingebettet, viele Sachen 
von Flint oder Feuerstein, besonders 22 halbmondförmige Stucke 
und 4 Werkzeuge oder Geräthe, deren Gestalt man am besten mit 
der Form des Bodens eines Bügeleisens vergleichen kann (das 
grufste ist 5 s /a" lang und unter i 3 /*" breit). Die letztern sind 
unten viel dunner gehauen, und sie verdienen um so mehr alle 
Beachtung, als sich uns in ihnen eine bisher ganz unbekannt ge- 
wesene Art von feuersteinernen Geräthen darbietet und sie also 
die Zahl der Arten derselben vermehren. 

2. Über die Alterthumsgcgenstände aus Thon, Ein Aufsatz, 
und zwar: Merkwürdige Urnen, S. 100 — 102, besonders eine in 
ihrer Art einzige Urne aus einem Hügel auf Bornbolm. 11" hoch 
und im gröTste Durchmesser Q x /%" weit, rund und bauchig, und 
oben wie ein Ofen gewölbt und verschlossen ; hat sie ihre öa. 
nung etwa 6" über der Grundfläche an der Seite. Diese Öffnung 
ist viereckig, 4" lang und 2 Vi" breit, und neben ihr befinden 
sich rechts und links zwei Öhreben, welche dazu gedient haben, 
den verloren gegangenen Deckel festzuhalten, der sie als Thüre 
zuschlofs und mittelst einer harzigen noch brennbaren und durch 
Hitze zerjliefsenden Materie eingekittet war. 

(Der Bcachluf* folg*.) 



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N°. 75. HEIDELBERGER i837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



Mutheilungen der Gesellsch. für nordische Allertkumskunde. 

(Beickluf*.) 

• * 

Diese eigene Art der Verfertigung scheint bezweckt zu haben, 
die Gebeine so vor jedem Berühren um so mehr sicher zu stellen. 
Denn dafs die Nordbewohncr sehr bemuht gewesen sind , dafs 
man die Gebeine der verbrannten Todten in den gewöhnlichen 
Urnen nicht berühren sollte, ergibt sich daraus, dafs man sehr 
oft über diesen eine Schicht feinen Sandes findet, über welche 
eine Flüssigkeit gegossen worden war, welche mit dem Sande oft 
gleichsam einen lockern Kuchen bildete, wovon die Gebeine be- 
deckt wurden. — Und wir werden hier unwillkührlich an die alt- 
indischen Königsgräber in Lahur erinnert, wo man auch die 
Gebeine der Verstorbenen verbrannte und ihre Asche mit wohl- 
riechenden Flüssigkeiten zu einer Art Teig vermischte, den man 
in goldne Cylinder verschlofs, welche man in eine oder gar meh- 
rere kupferne Kapseln that und in der Tiefe der Grabtempel ein- 
mauerte. 

3) Ucber die Alterthumsgegenstä'nde aus Bronze, vier Auf- 
sätze: a) Einige Alterthurasstüchc aus Bronze, S. 86 — 91, be- 
sonders zwei Bügel mit zweien Schwänen und zwei phantastische 
Thierhöpfe aus einem sechzehen Ellen hohen Grabhügel , » Kam-, 
pehoien«, im Amte Svendborg, der noch viele andre Dinge, zu- 
mal auch zwei vollständige Pferdegebisse, enthielt. Jene Alter- 
thumsstücke sind wohl aus der letzten Periode der heidnischen 
Zeit in dem Norden und recht kunstvoll gearbeitet, haben beson- 
ders schlangen- und drachenförmige Verzierungen und waren mit 
Gold plattirt gewesen. Sie dienten höchst wahrscheinlich zu Pferde- 
schmuck, Die Köpfe waren an dem Sattel und die Bügel mit den 
Schwänen haben am wahrscheinlichsten auf den Häuptern der 
Pferde ihren Platz gehabt. Sehr merkwürdig ist es, dafs, sey es 
auch nur eine zufällige Aehnlichkeit , die Verzierungen verschie- 
dener in Süddcutschland, z. B. bei Kottweil am Neckar und bei 
Wiesenthal unfern Philippsburg am Rheine, gefundenen Anticag- 
Hen denen auf jenen Bügeln und Thierköpfen gar sehr gleichen. 
Zumal die Schwanenköpfe und acm>ngenartigen Windungen er- 
XXX. Jahrg. lt Heft. ?5 



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1186 Mitllieill. 4. GeaelUcbafl f. nordisch. Alter U, umstünde. 



scheinen auch auf jenen, b) Grofser Hammer von Bronze, S. 91 
und 93; in dem Jahre 1 83 1 auf Storo, einer kleinen Insel, ge- 
funden , Ton unvergleichlicher Arbeit , ungewöhnlich gut erhalten, 
sieben Pfund schwer und i5" lang; der grofste aller bekannten 
Bei Ih am in er. c) Eine Krone von Bronze, S. 102 und io3, nicht 
unähnlich den Kronen auf den ältesten Fränkisch -Mcrovingisehen 
Monumenten und bei dem Torfstechen im Tünderinger Moore an 
das Licht getreten; ein Seitenstuck zu der auf der Universitatt- 
Bibliothek zu Rostock aufbewahrt werdenden Krone, auf die man 
auch bei dem Torfstechen in dem Mecklenburgischen gestofsen 
seyn soll, d) Ueber einige, in heidnischen Grabhügeln in Nor- 
wegen gefundene Schalwagen und Gewichte, S. io3 — 106. Dreier 
solcher Wagen wird gedacht : einer in Christiania aufbewahrten 
und den heuligen Goldwagen sehr ähnlichen, und zweier indem 
Museum in Kopenhagen sich befindenden. Der hohe Werth der 
edeln Metalle vor der Entdeckung von Amerika, der Umstand, 
dafs man oft nach der gewägten und nicht nach der gezählten 
Mark rechnete, und der andre Unistand, dafs man auch das un- 
gemünzte Gold und Silber als Zahlungsmitte) allgemein gebrauchte} 
diefs alles macht es einleuchtend, dafs dergleichen Wagen sehr 
nothwendig und gewifs sehr allgemein gewesen sind. 

4) Ueber die Alterthumsgegen&tande aus Gold, zwei Aufsätze: 
a) Goldene Sachen, gefunden in Fünen, S. 92 — 0/7. Es waren 
49 Stücke, die in dem Frühjahre i833 auf dem Stammgute Bro- 
holm ausgepflügt wurden und deren Gesammtge wicht 8 Pfund, 
7 Loth und 2 Vi Qt. oder etwa 1120 Species - Ducaten beträgt. 
Sie gehören dem fünften Jahrhunderte an, und es sind nicht nur 
sehr kostbare Stucke in unbeschädigtem Zustande , sondern auch 
viele einzelnen Fragmente ähnlicher Stücke, welche in dem. AU 
terthume zerbrochen und zum Theiie zusammen gebogen worden 
sind; und sie müssen zugleich als die Kostbarkeiten und die Bar. 
Schaft eines reichen Mannes angesehen werden. Die Stucke selbst 
aber sind: theils Bracteaten mit Henkeln zum Anhängen, theils 
Hals-, Hand- und Fingerringe, theils mehrere zerhauene zusam- 
men gebogene, an einander gehängte Ringe, zum Behufe des 
Verkehrs, theils der Beschlag irgend eines prächtigen Stabes, theils 
eine vollständige Fibula von der gewöhnlichen Einrichtung etc. etc. 
Auch zu diesen Ringen allen lassen sich zahlreiche in Deutsch- 
land , und zumal in dem südlichen, gefundene Gegenstücke auf- 
weisen, und vorzüglich merkwürdig ist, dafs die auf verschiedenen 
der Bracteaten , besonders auf Fig. 1 und 6 der Tafel V der Ab- 



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> 



MiUhcill. 4. Gcclladiait f. nordisch. Ahrrthiimikundc. 1181 

biidnogcn, befindlichen wundersamen gehörnten Thiere, auf de- 
ren Bücken , nach Art der Barbaren , um einen Heiter vorzustel- 
len , nur ein Mannskopf unmittelbar placirt ist, gar viele Aehn- 
Itchkeft haben mit den springenden Thieren auf der einen Seite 
der vielen goldnen Regenbogenschüsseln , welche in dem Anfange 
des Januars i835 ein Bauersmann aus Odenbach (in dem konig), 
haierischen Rhein kreise ) beim Umrotten eines Ackerstückes aus- 
gegraben hat. b) Prachtvolles Brustgeschraeide, S. 97 und 98» 
einer der ausgezeichnetsten und kostbarsten Gegenstände des Ko- 
pen hager Museums für nordische Alterthümer, 12% Loth schwer, 
und wahrscheinlieb aos dem sechsten oder siebenten Jahrhundertc. 

Gehen wir nun II. zu den Aufsätzen von mehr allge- 
gemein archäologischem und historischem Inhalte 
über, so verbreiten sich drei derselben über die Runensteine und 
einer über die isländische Geschichtschreibung. i) Ein Runen- 
stein aus dem Heidenthume in Norwegen, S. 106 und 107. ür. 
sprünglich in dem Glomshaug, einem alten heidnischen Grabhü- 
gel gewesen, liegt dieser Bunenstein jetzt als Treppenstufe vor 
der Kirchenthiir zu Fladdal. Die königliche Gesellschaft glaubt 
die sehr abgetretene Inschrift desselben folgender Mafsen dechifF- 
riren zu Können : » Ögmund ritzte diese Birnen und flehet den 
Thor, den allmächtigen (oder sehr starken) Gott an, er wolle 
empfangen den Glum , über welchem dieser Stein liegt.« Die In- 
schrift bestätigt also die alte Sag», nach der ein Biese Namens 
Glom (Glumr) in jenen Hügel begraben worden sey; und dieser 
Runenstein ist, was gewifs nur von wenigen gilt, ein bestimmtes 
üeberbleibsel aus den Zeiten des Heidenthumes in Norwegen. 

2) Färöiscber Bunenstein, S. 107—108, ein späterer sehr 
beschädigter Bunenstein wahrscheinlich aus dem zwölften Jahr- 
hunderte. Die Bunen stehen verkehrt , so dafs man sie von der 
Rechten zur Linken lesen mufs. 

3) Die Bunamo- Inschrift, S. 108 — 117. Die Klippenrunen 
im Norden sind bekannt , und man findet solehe nicht blofs in 
Scandinavien , sondern man sieht aus der in dem Jahre 182a auf 
Kosten des russischen Reichskanzlers, Grafen N. v. Bomanzow, 
herausgekommenen Schrift: »De antiquis qufbusdam Sculpturis et 
lnscriptionibus in Siberia rcperlis scripsit Grcgorius Spasskr,« dafs 
auch Sibirien Klippen mit alten Inschriften hat. Doch das be- 
rühmteste und, so viel man weifs, älteste Denkmal dieser Art in 
Nprden ist die Bunenschrift auf einer flachen Klippe bei Hoby 
zwischen Carlsham and Bönnemo in Bleking (jeUt einem Tbeile 



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1188 Mitthcill. d. Gesellschaft f. nördlich. AHcrthnraskonde. 

von Schweden , sonst ron Dänemark). Schon Saxo Grammaticaa 
gedenkt derselben; doch alle Versuche, so fiele man auch bisher 
mit jedem Scharfsinne und jeder Wissenschaft gemacht hatte, 
sie zu lesen und zu erklären , waren vergebens; bis endlich der * 
ausgezeichnete dänische Gelehrte Kinn Magnusen , wie von Un- 
gefähr, am 11. Mai iB34 cs versuchte, sie von hinten, oder von 
der Rechten zur Linken , zu lesen ; and in weniger als zweien 
Stunden war die ganze Inschrift dechiftrirt. Die blutige Bravalla- 
Schlacht (nach Einigen schon im Jahre 680, nach der wohn- 
lichen Annahme aber erst in dem achten Jahrhunderte, 717, 73o t 
735 oder 760) war nämlich die berühmteste Schlacht in dem gan- 
zen Norden und sie fand bei Bravik in Oestergothland zwischen 
dem dänischen Honige Harald Hildetann (oder Hildekinn) und 
zwischen dem schwedischen Konige Sigurd Bing statt. Runarao 
hat hart an dem Wege oder unweit des Weges gelegen, auf 
welchem Harald und sein Heer, der Saga nach, zu dem voraus 
bestimmten Walplatze gezogen sind. Der Skalde Gard hat, als 
ein Kämpfer des Koniges Harald , die Bunen kurz vor der Schlacht 
in der alten nordischen , jetzt sogenannten isländischen, Sprache 
und in regelmäßigen allitterirtc'n Versen scharf und deutlich ein- 
gehauen. Sie sind ein magisch- religiöses Gebet zur Verwün- 
schung des Feindes, und Haralds Heer hat wahrscheinlich, als 
es an Bunamo vorbei zog, dasselbe gegen diesen abgesungen. 
Wir geben es hier der Merkwürdigkeit wegen. Es lautet nach 
der wörtlichen Uebersetzung : 

Hildekinn das Reich nahm,*) 
Gard haute (die Runen) ein; 
Ole den Eid gab;**) 
Odin weihe die Runen ! •-••) 
Möchte Ring- bekommen 
Fall auf die Erda (Boden) ! — \ ) 
Alfen, der Treue Götter, 
Den Ole hassen ! -ff) 

•) Kam an die Regierung, war König. 

") Ole, ein Schwestersohn des Königes Harald, der ihm den Eid der 
Treue geschworen und seine Flotte geführt hatte; dann aber den 
Eid brach und zu seinem Feind*, dem Könige Ring, uberging 
und gegen ihn focht. 

"*) Weihe, d. i. heilige die Runen, gebe ihnen ihre Zauberkraft ge- 
gen den Feind ! 
t) Möchte er getödtet werden! 
++) Verlanen, verderben, als einen Meineidigen. 



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MHtheill. d. Gesellschaft f. nordisch. AUrrthuuiekunde-. U« 



Odin und Frei 

Und der Äsen Geschlecht 

Zernichte, sernichte 

Untre Feinde! 

Gönne dem Harald 

Einen groften Sieg ! 

Welche für die Geschichte erleuchtende und interessante Resul- 
tate die Dechiffirung dieser Inschrift gibt, lese man in der Ab- 
handlung über sie selbst! 

4) Ueber den Ursprung, die Blüthe und den Untergang der 
isländischen Geschichtschreibung, von Dr. P. E. Muller, Bischof 
des Stiftes Seeland, S. i— 63. Diese Abhandlung ist, wie die in 
den Mittbeilungen selbst zuerst gestellte und die Hälfte derselben 
einnehmende , so unstreitig die wichtigste und die Hauptschrift 
über diesen Gegenstand. Der erste dänische Text derselben ward 
jedoch gar nicht gedruckt, sondern sie wurde zuerst durch eine 
deutsche Uebersetzung von L. C. Sander, Kopenhagen i8i3, be- 
kannt In einer Umarbeitung erschien sie i83a in dem ersten Hefte 
der Nordisk Tidsskrift for Oldhyndighed , und die in den Mittei- 
lungen gegebene Uebersetzung derselben ist von Dr. Gottlieb 
Mohnike, dem wir noch andre vortreffliche Uebersetzungen aus 
der nordischen Litteratur, wie z.B. der so herrlichen Fridthjofs- 
sage von K. Tegner und der so lesenswerthen Heimskringla von 
Snorre Sturlasoo, verdanken. Dr. Peter Erasmus Müller loset 
aber die so interessante Frage: wefshalb es gerade die Isländer 
waren, welche im Norden die Fackel der Geschichte anzündeten, 
und wie deren Schein so weit hin von der fernen Insel leuchten 
konnte, in drei andre Fragen auf, die wir der Reihe nach ver- 
folgen wollen, a) Die erste Frage ist: Warum erinnerten gerade 
die Isländer sich so sorgfältig der Begebenheiten sowohl der Vor- 
zeit, als der Gegenwart? Island war bereits gegen das Ende des 
neunten Jahrhnnderts von Wikingern, die von Norwegen nach 
den Färoern segeln wollten , aufgefunden , als Harald Haarfager 
(Schonhaar) seine Herrschaft in dem bisher in viele kleine Staa- 
ten getheilt gewesenen Norwegen erhob (zwischen 865 und 875). 
Viele freie Häuptlinge, die sieb nicht unter dieselbe beugen und 
Mannen eines Utiniges werden wollten, — reiche Männer, die 
grofse Schiffe besafsen, — verliefscn nun mit Familien, Gesinde, 
Sklaven und Vieh das Land der Väter und fuhren nach jener In- 
sel, um sich dort eine neue Heimath friedlich anzubauen. Ihnen 
folgten andre kühne Männer nach, und binnen aeohzig Jahren 



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/ 



1190 Mittheltl. d. Geielltchaft f. nördlich. Alterthum« Wand* 

war die ganze Insel besetzt. Den früher an Seezüge gewohnten 
Ansiedlern ( Landnama - Mannern) waren diese jedoch hier weniger 
möglich, weil Islands Wälder mit ihren Iiieinstämmigen Bäumen 
nicht das zu jenen nSthige Schiflsholz schenkten. In Ruhe safsen 
sie vielmehr auf ihren freien Hofen. Der Thaten mufsten sie nun 
entsagen. Um so lieber und mehr weilte ihre Erinnerung bei dem, 
was sie selbst früher vollbracht und ihre glorreichen Väter ge- 
than, so wie bei ihrer edeln Abkunft, welche ihnen diese Tapfer- 
keit und diesen Mannessinn verliehen hatte. Ein Ausgewanderter 
pries dem Andern die Herrlichkeit seiner Vorfahren, und der Va- 
ter erzählte gern dem Sohne, der Sohn dem Enkel die Thaten 
der Väter. Sie erhielten sich so von Geschlecht zu Gesohlecht. 
Zugleich hatte einst, wie bei den alten Griechen und Celten , so 
auch bei den Germanen und Gothen der Gesang hoch ertont zum 
Ruhme der Götter und des Heldenlebens; und was die Skalden 
einst gesungen, der Skalden Lieder, wurde auch von den Ansied- 
lern in die neue Heimath mitgebracht und fort und fort gesun- 
gen. Ja, Skalden zogen mit den Häuptlingen und ihnen nach. 
Die Häuptlinge waren zum Theile auch selbst. Skalden zugleich. 
Es pllanzten sich also um so mehr die Namen ,- Geschlechter, Tha- 
ten fort. Man kam selbst dem Gedächtnisse dadurch zu Hülfe t 
dafs man die Verse mit Runen auf Stäbe schnitt. Und da we- 
nige neue Thaten und Sagen und Sange mehr hinzukamen, so 
bildete sich bald ein mehr abgeschlossenes Ganze, das sich um 
so treuer und fester bewahrt, als nicht, wie indem Mutterlande, 
ein Strom von neuen Begebenheiten die alten Erinnerungen ver- 
drängte, und als in Island die ältesten und angesehensten Fami- 
lien, die gerade die Inhaber und Be wahrer jener Sagen und Gesänge 
waren, sich Jahrhunderle hindurch ungestört erhielten, und nicht 
durch Kampfe und Sachlachten, nicht durch für das Christen- 
thum eifernde Olafe, nicht durch unglückliche Zuge nach Eng- 
land und Irland und nicht durch lange blutige Bürgerkriege ver- 
tilgt wurden. — Wenn aber so die Lust , von den alten Zeiten zu 
reden , die Saga schuf und erhielt , so stellet nun Müller b) die 
zweite Frage: Was bewog die Isländer, ihre Erinnerungen in 
zusammenhangende Erzählungen zu bringen ? Es war, kurz zu 
sagen, der Sinn für Dichtkunst," das Gefühl der Ehre und das 
Bedürfnifs der Unterhaltung in den vielen müfsigen Stunden , 
welche das Klima und die Lebensweise gewährten, und bei den 
mannigfaltigen gesellschaftlichen Belustigungen. So beschränkte 
man sich auch nicht auf die Sagen und Gesänge, welche die 



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MiUhtill. d. Gesellschaft f. nordisch. Alterthumskunde. 1191 



ersten Häuptlinge mit nach Island gebracht; auch die kleinern 
Kämpfe, die m Island unter den Angesiedelten geschahen, wur. 
den erzählt und besungen; gute Erzähler (Sagenmänner) und Shal- 
den bildeten sich fortdauernd. Die Theilnahme an dem, was sich 
in dem Mutterlande begab, dauerte auch fort; und Kaufleute, 
die zwischen demselben und der Insel hin und her fuhren, mu Ig- 
ten erzählen, wenn sie ankamen. Ja, die Isländer nahmen nicht 
blofs Nachrichten von Norwegen entgegen, sie holten sie sich 
auch selbst. Zumal zogen die Skalden und Sagenmänner von Is- 
land nach England, nach den Orkney- Inseln, und besonders nach 
allen Hofen des Nordens, um Ehre und Belohnung (Bragelohn: 
prächtige Waffen, Kleider, am gewöhnlichsten Goldringe) zu su- 
chen. Und wenn der geringste Mann heimkehrte, wurde er mit 
der gröTsten Aufmerksamkeit empfangen; auf dem Althing suchte 
man ihn, und nun mufste auch er von seiner Fahrt erzählen. 
Und jeder suchte den andern in der Kunst des Gesanges und der 
Erzählung zu ubertreffen. War es aber nun eine Kunst gewor- 
den, gut zu erzählen, und war also selbst die Form der Erzäh- 
lung ein Gegenstand der Aufmerksamkeit; so war der Uebergang 
leicht, die Form zur Hauptsache zu machen und durch erdichtete 
Erzählungen unterhalten zu wollen. Es treten die erdichteten 
Sagas in dem Anfange des zwölften Jahrhundertes neben die hi- 
storischen ; man sonderte jedoch immer jene bestimmt von diesen. 
Und blicken wir nun zurück auf den Kreislauf der mundlichen 
Erzählung in Island, so beginnt er mit dem mythischen Stoffe, 
< entfaltet er sich durch den historischen und endet er mit dem 
fabelhaften, c) Die dritte Frage endlich ist : Was veranlafste die 
Isländer, diese Erzählungen niederzuschreiben? — Denn es geht 
hervor sowohl aus der eigenen Beschaffenheit der Saga's und 
deren gegenseitigem Verhältnisse, als auch aus ausdrücklichen Zeug- 
nissen, dafs vielleicht die meisten Saga's sowohl von den Bege- 
benheiten in Island selbst, als von den Ereignissen in den nordi- 
schen Reichen, spätestens in dem Laufe des zwölften Jahrhunderts, 
niedergeschrieben worden sind. Die schriftliche Abfassung der 
Sagen und Lieder ist eigentlich eine Frucht des Christcnthumes 
gewesen, das in dem Jahre 1000 auf Island ohne grofses Wider- 
streben, bei dem von dem Mutterlande gegebenen Beispiele, durch 
die Hinneigung einiger Oberhäupter zu der neuen Lehre und durch 
die Gleichgültigkeit des Volkes gegen die alte, gesetzlich ange- 
nommen wurde. Bücher, und zwar lateinische, kamen zuerst mit 
dem lateinischen Kirchendienste nach Island, und es konnte um 



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I 



so weniger schwer fallen, das neue lateinische Alphabet zu er- 
lernen, als man bereits durch die Runen gewohnt war, Buchsta- 
benschrift zu gebrauchen. Fünfzig Jahre nach der Einfuhrung 
des Christenthums wurden auch allmäblig Schulen angelegt. Die 
vorangegangene Bildung hatte in Island mehr Sinn für Lesen und 
Kenntnisse geweckt , als in dem übrigen Norden ; ond die bür- 
gerlichen Verhältnisse boten daselbst gröfsere Ruhe dar. Und es 
eröffnete sich durch die Bekanntschaft mit der lateinischen Sprache 
für den Isländer eine unerschöpfliche Kenntnifsquelle. Der rei- 
sende Isländer zumal konnte durch dieselbe auf den fremden Schu- 
len mit allen Kenntnissen des Zeitalters bekannt werden, und sie 
durch Hülfe der lateinischen Bucher nach seiner Heimath hinüber 
bringen. Unter diesen sagten am meisten die historischen den 
Isländern zu, und sie kamen bald dahin, selbst Annalen von der 
Schöpfung an aufzusetzen und ihre nordische Geschichte zu be- 
schreiben. . Es beginnen nun die Reihe der isländischen Schrift- 
steller Arn Frode, welcher den Grundstein "zu der ganzen nor- 
dischen Gcschichtschreibung legte, und dessen Freund Sämund 
Frode, auf deren jedoch mehr nur chronologische Werke das 
Landmmabuch, die Erzählungen von den Thaten der beiden Olafe 
und des Harald Haarfager und die nordischen Königssaga's alle, 
die Skjoldungasaga , die Sagen von den Wolsungen und Gjukun- * 
gen etc. folgten. Aber von diesen Sagas war noch schwerlich 
eine, die eigentlich ein Buch genannt werden konnte, nämlich 
eine zur Belehrung Anderer ausgegebene Schrift ; alle Saga's wa- 
ren bisher nur Aufzeichnungen zu eignem Gebrauche. Die ersten 
eigentlichen Geschichtschreiber, die Island hervorbrachte, näm> 
lieh die ersten Männer, die einen historischen Stoff sammelten, 
den sie in der Absicht selbstständig bearbeiteten , um ihren Mit* 
burgern Nachrichten von merkwürdigen Begebenheiten mitzuthei- 
len, waren solche, welche die Geschichte ihrer Zeit schrieben: 
Crik Oddson, und Karl Jonson, der 1169 Abl in dem Kloster 
Thingore ward; und das zwölfte Jahrhundert wurde in Island der 
Zeitraum, in welchem die Erzählung, die bisher von Mund zu 
Mund gegangen war, mit der Feder aufgefafst wurde, und in 
welchem das Bucherschreiben begann. Das folgende Jahrhundert 
wurde das goldene Alter der besonnenen Geschichtschreibung , 
und zwar vorzüglich durch Snorre Sturleson , der zuerst aus den 
zahlreich vorhandenen Quellen mit Kritik, Geschmack und Unbe- 
fangenheit geschöpft hat. Mit dem vierzehnten Jahrhundert ver- 
lor sich in Island die selbstständige Gcschichtschreibung, deren 



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Reinbeck: Reiseplauderelen. 



ganzlichen Verfall auch ans Dr. Muller auf eine «ehr lehrreiche 
und anziehende Weise entwickelt 

Die Mittheilungen der königlichen Gesellschaft überhaupt 
hatten sehr verdient, öffentlich in dem Buchhandel erschienen 
Xu scyn; und es ist nichts mehr zu wünschen, als dafs die könig- 
liche Gesellschaft in Kopenhagen recht bald ihre deutschen Freunde 
mit ähnlichen Mitteilungen erfreuen möchte. 

C. Wilhelml 



Reiseplaudereien von Dr. Georg Reinbeek, königl. vürtemb. Hof rat h 
und Profeuor. Stuttgart, Brodhag. 8. Erstes Bdehn. XU. und 3?6 S. 

Zweite» Bdchn. 397 & 

Man rühmt sonst vorzugsweise die Franzosen, ihrer jugend- 
lichen Greise wegen. Aeltere Manner, in Deutschland , aus der 
Kaste der Gelehrten und Geschäftsmänner, denkt man sich ge- 
wöhnlich als abgeschafft und lebensmüde, und man mag häufig 
Recht haben. Um so angenehmer ist es, hier und da auf einen 
Schriftsteller vorgerückten Alters zu stofsen, der sich Jugend im 
Empfinden und IM heilen zu erhalten gewufst bat. Auch die Le- 
ser dieses Buches, in dessen Vorrede ein Greis, und zwar ein 
siebzigjähriger, sehr bescheiden von seinen Lebenserinnerungen 
spricht, werden die mannichfaltige Lebendigkeit dessen, was der 
Verfasser anspruchlos »Plaudereien« nennt, mit Dank aufnehmen. 
Seine frühere Lebensbahn hat den Veteranen, der hier erzählt, 
interessante Wege geführt; er hat darüber in seinen »flüchtigen 
Bemerkungen auf einer Reise im J. i8o5, von St. Petersburg 
über Moskau u. s. w. nach Deutschland« vor dreifsig Jahren be- 
richtet, und Göthe hat, wie wir aus dem zweiten Bande des 
vorliegenden Werkes (S. 107) ersehen, dieser Schilderung ein 
aignificantes Lob ertheilt. Spater war R. so glücklieb, nur Lust- 
reisen machen zu dürfen, und die Ergebnisse der meisten sind 
in diesen Blattern mit willkommner Leichtigkeit niedergelegt. 

Die erste Reise schildert einen Ausflug nach Wien im Mai 
1811, und eilt mit zweckmäßiger Kürze ihrem Ziele zu, ohne 
jedoch die Beschreibung der Donaureise von Regensburg an all- 
zusehr Zu verkürzen Nach einer allgemeinen Schilderung Wiens, 
die individuelles Leben hat (8.46 — 69), und der Wiener Buhne, 
welcher der dramatische Dichter naturlich eine besondre Auf- 
merksamkeit schenkt (S. 74 — 97) , werden wir sofort , durch ein 
Mahl beim Grafen Palfy, in die Gesellschaft der Frau von Weis- 



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1194 Reinbcck: Rciicplaudereten. 

I 

«cnthurn, Fried ri ch S c h I e g c 1 s , A d a m Mul I e rs, »mit 

dem kränklich -katholischen Gesichte « geführt und erfahren man- 
cherlei Interessantes. »Das Wetter war schon, erzählt der Verf. 
S. 99, und es traf sich, dafs ich mit Friedrich Schlegel, Adam 
Muller und einigen andern Literatoren zugleich den Ruckweg zur 
Stadt antrat. Ich war ebeu mit Schlegel im Gespräche, als er 
plötzlich mich verliefs und auf einen Geistlichen, der uns entge- 
genkam , zueilte, diesem die Hand küfste, und sich den Segen 
geben liefs, dann zu mir zurückkehrte und das Gespräch unbe- 
fangen fortsetzte , bis unsere Wege sich schieden. Ich sah ihm 
ganz verdutzt nach, und konnte mich darauf kaum des Lachens 
erwehren, da ich glauben mufste, er habe sich durch den Segen 
das Gedeihen der reichlich genossenen Mahlzeit sichern wollen. x 
Uebrigens gab es damals noch keinen Vereinigungspunkt für 
die Wiener Literatoren, wie nachmals in der LudlarashÖhle, und 
wie gegenwärtig im Neun ersehen CafFeehause, wenigstens für die 
Belletristen, und unser Reisender begnügte sich mit den gele- 
gentlichen Bekanntschaften in diesem Rreise. Unter diesen wird 
(nach einer lesenswert hen Digression auf die Wiener im Allge- 
meinen S. 106 — 108) der damalige Uofsekrctär und Censor Arm- 
brust er ausgezeichnet, ein geborener Würtemberger und jün- 
gerer Akademiegenosse Schillers, durch frühere Schicksale und 
seine Wirksamkeit als ausgezeichneter Volks- und Jugendschrift- 
steller interessant. Er verliefs im J. 1775 die hohe Carlsschule, 
178a sein Vaterland, und ward Lavalers Amanuensis in Zürich. 
»Sein schwäbisches Museum, ein Journal fürs Volk, ging aus 
seinem Innern hervor, denn zum Voiksschriftsteller fühlte er sich 
berufen , und nicht leicht hat wohl ein Schriftsteller den Volks, 
ton besser getroffen, als er: seine Sprache bildete er durch das 
Studium der Bibel.« Ein Aufsatz über die Solothurner brachte 
ihn ins Gefängnifs; er flüchtete mit einer jungen Frau 1786 nach 
Constanz, gab dort in kümmerlicher Lage 1793 — 99 einen anti- 
franzosischen Volksfreund heraus, und kam dadurch in österrei- 
chische Dienste t bis 1801 in Günzburg, dann in Wien, wo er 
i8o5 wirklicher Hofsekretor und (möglichst liberaler) Censor 
wurde und auf mannigfache Weise literarisch wirkte« R. fand in 
Armbruster einen liebeuswürdigen und witzigen Gesellschafter; 
aber ein höchst widriges Schicksal hatte ihn mit sich selbst in 
Widerspruch gebracht, dazu geseilte sich häusliche Zerrüttung , 
und er gab sich 1814 mit einem Pistolenschüsse den Tod. 
(S. mo— 114). 4 



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Reinbeck: Rcisepteudereien. 1190 

Aas Veranlassung des Baron v. Beizers gedenkt unser Hei- 
sender des französisch - gebildeten Feld marsch aMieuteaants von 
Agrenhof, dessen Name in der Literaturgeschichte wenig er- 
wähnt ist, von welchem aber hier ein selbständiges Urtheil über 
Göthe's Iphigenie aas dem Staube der Vergessenheit gerettet wird, 
and werth ist, erhallen zu werden. »Konig Thoas, sagt hier v. A., 
ist beiden Dichtern (Euripides und Göthe) die Haupt triebfeder 
der Handlung. Euripides schildert ihn als einen abergläubischen 
Barbaren, der blos aus wildem Heligionseiier alle in sein Reich 
kommende Griechen der Diana opfern läfst. Bei Göthe ist er 
tbeilt Liebhaber der Iphigenie, theils Freigeist, der zwar seines* 
Geliebten zu Gefallen den grausamen Götzendienst abgeschafft 
hat, jetzt aber ihn wieder einführt, weil die Spröde sich wei- 
gert , ihm ihre Hand als Gemalin zu reichen. Dieser Beweggrand 
des Dichters macht ihn (und zwar sichtbarlich wider die Absicht 
des Dichters) aus einem Gegenstande des Schreckens, der er beim 
Euripides ist , zu einem Gegenstande der Verachtung , und macht 
öberdiefs (was in poetischer Rucksicht noch schlimmer ist) , dafs 
wir um das Leben Iphigeniens und Orests , für welches wir beim 
Euripides immerfort zittern, bei Göthe niemals beängstigt sind, 
weil wir die Rettung beider, und sogar das Gluck des verliebten 
Königs, von der Willkuhr der Iphigenie selbst abhangen sehen. 
Furcht und Mitleid sind so merklich geschwächt, dafs ich mich 
sehr irren müTste, wenn bei der Vorstellung derselben — ihrer 
Schönheit der Details ungeachtet — sich nicht fühlbarer Mangel 
an Interesse und Langeweile der Zuschauer veroffenbarten.« 

Der Herr Verf. entwirft sodann mit wenigen Strichen die 
Porträts des Operndichters Kanne, des nachmaligen prenss. Re- 
sidenten in Rom Barth oldy, der Frau Caroline von Pich ler, 
die edelste Weiblichkeit, die er in der grofsen Welt kennen ge- 
lernt, und bei der sogar nichts an den Blaustrumpf eiinnerte. 
(3. 131 — >S4«) Von den Kunstlern werden der Kupferstecher 
Leybold und der grobe Direktor Füg er charakterisirt (S. i3of.), 
und gelegentlich wird der Hi.ob unsres geistreichen Wächter 
erwähnt (S. i3o f.), sodann die kaiserliche Gallerie (S. iSt ff.) 
und die Wiener Akademie der zeichnenden und bildenden Künste 
<S. i37— - 148) und mit besondeim Lobe der Hebe von Ignaz 
üntei berger, einem jetzt verstorbenen Tjroler Meister, ausführ- 
lich gedacht (S. 148—156). Das musikalische Wien wird kurz 
berühit, da der Sommer nicht die geeignete Zeit war, es kennen 
zu lerneif (S. 167 ff.). Dann folgen recht lebendige Sfhilderun- 



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1196 Reinbeek: BeUeplaadereiea. 

gen des Frobnleichnamfestes (S. 158—170), und des Flugver- 
suchs, den der Mechaniker Degen auf dem Feuer werkspl atze 
anstellte (S. 171 ff.): »der Ballon war ron mittlerer GroTse, und 
es hing ein spitzzuiaufender Korb daran ; an einem Stricke wurde 
er in die Mitte des Platzes gebracht, hier legte sich der neue, 
aber glucklichere Ikarus die grofsen buntgefiederten Flügel an, 
die eine besondere Maschine ausmachen, welche an den Horb 
befestigt wird. Der Luftsegler wird in die Maschine eingeschraubt, 
und bewegt die Flügel durch den Druck der Arme und Füfse. 
Ein kleiner Ballon erforschte den Luftzug, und bald erhob sich 
mit mächtigem Flügelschlage der Menschvogel langsam, da der 
Ballon nicht ganz gefüllt war, um den Versuch des Schwebens 
und wülkührlichen Auf. und Niedersteigens anzustellen. Das Seil 
wurde dann gelöset, und im ungehemmten Fluge schwang sich 
der kühne Erdbewohner zu einer betrachtlichen aber nicht un- 
gewöhnlichen Höbe in sein zu eroberndes Reich hinauf, blieb 
hier einige Minuten nach Willkühr schweben, und flog dann, 
dem Luftstrome sich überlassend, der untergehenden Sonnenach, 
über den herrlichen Eichen - und Bachenwald weg, die Donau 
hinüber und herüber, nach dem' eine kleine Stunde entlegenen 
Nufsdorf zu , wo er sich bald darauf wohlgehalten niederliefsaa 

Der Rest des Reiseberichts ist dem Prater ( S. 174—182), 
dem Augarten (S. 182 ff.) und andern Promonaden, so wie den 
Umgebungen Wiens gewidmet (S. i85 — 207), und dann die Rück- 
reise über Salzburg und München nach Stuttgart kurz skizzirt 
(S. «07 — 214)« 

Der zweite Ausflug vom Sommer i834* iimfaPst das Salz- 
kammergut in Oberösterreich und die Lebendigkeit der schildern- 
den Imagination , die Frische der Farben verläugnet nicht nur 
weit nähere Vergangenheit , wohl aber verläugnet sie die Feder 
eines Greisen. Der Verf. hat das Geheimnifs, sich jung zu er- 
halten , im warmen Umgang mit jüngeren Geistern gefunden. So 
bringt er »die siebzig Frühlin^e, die über seinem Haupte hin- 
geflogen sind«, nicht in Anschlag, und wie er mit Jüngern zu 
geniefsen weifs, so verjüngt er sich auch in der heiteren Erzäh- 
lung des Genossenen. Am 6. Aug. 1 834 machte er sich auf »aus 
dem grünen Kessel , in welchem eine Masse von einigen tausend 
— nicht durchweg schönen — Häusern Stuttgart beifst, leider 
am Nesenbach, der durch alle Strafsen geleitet zu seyn scheint, 
jedoch den deutschen Musen eine liebliche Heimath« — in Ge- 
sellschaft seiner Frau und eines Dichters: »die erstcrc mit ei- 



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Reinbeck: Reiseplaudereien. 1191 

nem offenen Blich für landschaftliche Natur,« (Fr na Hofrätinn 
t. Beinbeck ist eine aasgezeichnete Künstlerin) »der letztere ein 
Freund, von dem es nur des Namens bedarf, um den Neid aller 
Beisenden zu erregen.« Dieser zweite Beisefäbrte war der Dich- 
ter Nicolaus Lenau. Die Beisenden gehen über Ulm und 
München , das dem Verf. Stoß zu interessanten Kunstbetrachtun« 
gen giebt (S. 23 1 — s53) nach Salzburg. Dieses »existirt mit 
seinen pittoresken Bergen und Floren schon ziemlich lange und 
wurde stets seiner Lieblichkeit wegen gepriesen ; allein es war 
gerade nicht in der Mode. Jetzt ist es — ob zu seinem Glocke, 
steht dahin — dazu gelangt, und wurde in neuerer Zeit beson- 
ders von Norddeutschen besucht, denen die politische Zugluft 
der Schweiz Besorgnisse erregte.« Die nachfolgenden Schilde- 
rungen von Stadt und Gegend , die sich zu keinem Auszuge eig- 
nen (S. 260 — 273), werden um so willkommener seyn, weil sie 
über manches weniger Bekannte sich erstrecken. Noch mehr ist 
diefs mit dem Salzkammergote der Fall; und die Beschreibung 
des Verfassers, der den Pinsel hier mit dem Geschroacke und der 
Anmuth seiner künstlerischen Frau fuhrt und mit dem hellen Ju- 
gendauge seines Begleiters, des Dichters, in die Wette schaut, 
mufs jeden, der sie hinter dem Ofen sitzend liest, lustern ma- 
chen. Die ganze Gegend, die er uns (S. 273 — 342) schildert: 
Gmunden mit dem Traunstein, Traunsee und Budachsee, Traun- 
kirchen , Ischel u. s. w. ist ein Naturpark im grofsten and doch 
enmuthigsten Style. »Die Annäherung zum eigentlichen Hochge- 
birge, sagt der Verf., erfüllt die Brust mit einem sonderbar be- 
wegten Gefühl der Erwartung, als ob uns ein Rothsei hier auf- 
geschlossen werden sollte. Am folgenden Abend fanden wir vor 
dem wogenden Wasserspiegel in dem reizendsten Rahmen , den 
man den Gmünder- oder auch nach der 4000 Fufs hohen rothli- 
cben Felswand, die sich daraus erhebt, den Traunsee nennt. Er 
trägt seinen sanften Wellenschlag plätschernd zu dem breiten, 
geräumigen, von hohen Gebäuden umschlossenen Marktplatz von 
Gmunden. Links steigt ein mit Laubholz bedeckter grüner Berg 
zu den Wolken auf, der auch davon seinen Namen trägt. Auf 
dem schmalen Uferrande zieht sich eine Beibe einzelner Häus- 
chen in Bäumen versteckt hin. Dicht daran erhebt sich der ge- 
waltige Traunstein , auf dessen Scheitel der Adler horstet und die 
, Gemse weidet Weiterhin tritt das Gebirge zurück and das rei- 
zende, vom See bespülte offene und dann wieder sanft aufstu- 
fende Ufer trägt nun, Gmunden gegenüber, und die rechte Seite 



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1198 Heinbeck: Rebcpluudercien. 

des Rahmens bildend, lachende Dorfer und Schlösser in einer 
üppigen Vegetation.« 

Die Beisenden sachten in dieser Gegend einen Freund Le- 
na us, den Dichter Schiufer, einen wackern, gern üt bleichen 
Mann, auf, den Pfleger der beträchtlichen Salinen, in dessen Ge- 
sellschaft sie nun einen grofsen Theil der herrlichen Umgegend 
durchwandelten und durchschifften. Hier nur noch eine hieine 
Probe vom Reisehumor unsrer Wandrer. Die Scene spielt am 
gebirgumsohlossenen Budachsee, vor einer steinernen Almenhütte, 
dereo Mitbewohnerin eine der schmucksten Gebirgsnymphen ist 

»Als wir Männer einmal allein zur Hütte kamen, uns mit 
einem Glase Milch zu erquicken und die Jägeratochter ohne ihre 
Gespielinnen dort fanden, drang diese von neuem in ihn (Lenau), 
etwas zu. erzählen Er liefs sich bereit finden, und fragte sie, 
ob sie auch wisse, dafs auf diesem Felsen ein Berggeist hause, 
welches sie als bekannt zugab. Hast du auch wohl die Felsen 
schon verhüllt gesehen? du glaubst das seyen Nebel, aber da irrst 
du sehr. — Sie wurde sichtbar gespannt. — Und was wär's denn 
sonst?—- Siehe, sagte er, der See ist der Waschzuber des Berg- 
geistes, darin wäscht er seine Heroden und Hosen und die hängt * 
er dann an den Felsen umher zum Trocknen auf und das haltet 

ihr für Nebel So wollte er nun fortfahren 5 aber sie unter- 

brach ihn und wollte nichts von dem Berggeist und seiner Wä- 
scherei wissen , sondern , er sollte von den Städten und Menschen 
erzählen, die er gesehen habe.« 

S. 349, erzählt uns der Verf., von der Gabe Lenau's vor- 
zulesen, v Lonau s Vorlesen übt einen eigenen Zauber: es ist 
ächte, roine Recitation , gehalten, ohne alles decloinatorische Pa- 
thos, in sehr sonoren tiefen Tonen sonder grofse Abwechslung 
und doch tief eindringend. Jedesmal , bevor er beginnt , macht 
er eine längere Pause, den Blick auf das, was er vorlesen will, 
geheftet, so dafs der Zuhörer sich zur Aufmerksamkeit sammelt: 
ein Gebrauch, der sehr zu empfehlen. Wie Tiech, stört es ihn, 
weno die weiblichen Zuhörer sich mit Arbeiten beschäftigen wäh- 
rend er liest. Uehrigens kann nichts verschiedener seyn , als bei- 
der Vorlesen, und doch ist jedes meisterhalt.« 

Hierauf folgt eine ausfuhrliche ästhetische Betrachtung über 
des Dichters vielbesprochenen Faust S. 343— 354 1 welche dem 
Sinne dieser ausgezeichneten Dichtung, verglichen mit Güthe's 
Faust, näher zu kommen sucht, und ganz gelesen seyn will. 

Der Heimweg der Reisenden wird wieder über Salzburg 



1 



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Ruinbeck. Rciseplaudereien. 1199 

and München genommen. In letzterer Stadt sehen sie im Ronig 
Lear den immer noch berühmten Efslair. »Es bleibe unentschie- 
den, sagt der Verf., ob dieser grofse Kunstler mehr der Natur 
oder dem Studium verdanke. Die Natur hat für ihn in Gestalt, 
Organ, Adel der Bewegung, Takt in der Auffassung, alles ge- 
than, und seine Erscheinung ist immer eine ausgezeichnete: er 
ist ein praktisches Genie, und das ist in der Schauspielkunst die 
Hauptsache. Ein solches kann zuweilen fehlgreifen ; allein schlim- 
mer ist doch bei der tiefsten Einsicht der Mangel an Mitteln, sie 
geltend zu machen. Dieser verleitet denn oft zu Künsteleien , 
um die Natur zu zwingen, und Natürlichkeit ist auch hier die 
höchste Schönheit. Zwar eine verschrobene Natur (oder der 
Ungeschmack) nimmt die ihr gleich verzwickte leicht für die 
wirkliche, oder bildet sich ein, es gebe eine besondere Kunstna- 
tur; aber dem gesunden Geschmack widert sie." 

In dem zweiten Bande der »Reiseplaudereien« verweilen wir 
bei dem ersten Aufsatze: »Ausflug nach Weimar im Ok- 
tober 1806« betitelt, der eine grofse Zahl höchst interessanter 
Details aus einer verhängnisvollen Zeit und von einem unsterb- 
lichen Sitze der deutschen Musen enthält. Beinbeck war von 

• 0 

Dresden über Leipzig, wo sein erster Gang »zu dem Mann aus 
dein Kerne der Vorzeit, zur mildesten Seele in der rauhest en 
Form, zu Seome«, gewesen, nach Weimar gegangen und hier 
von Bertuch, Gruber, Fernow, Göthe, Stephan Schutze 
u. A. sehr freundlich aufgenommen worden. Er hoffte auf ein 
friedliches, an geistigen Genüssen reiches Leben. Da veränderte 
sich auf einmal die ganze Scene. Es erscholl das unglückliche 
Gerücht, dafs die Preufsen von den Franzosen umgangen seyen, 
und jetzt ihre Fronte gegen das eigene Land richten müfsten. 
Zugleich wurde für die Preufsen bei Weimar ein Lager abge- 
steckt, und bald zogen sich von den Anhöhen herab unabsehbare 
weifse Linien — Thiere mit Zelten und Bagage ... Jetzt scholl der 
Bienenschwarm des Lagers zur Stadt herüber. Im erleuchteten 
Herzogspallaste wimmelte es von den glänzenden Uniformen der 
preufsiseben Garden, und lustige Tanzmusilj ertönte durch die 
schöne Nacht. (II, 19 — 21). Da erscholl die Nachricht von dem 
unglücklichen Treffen bei Saalfeld. Flüchtlinge kommen an ; der 
.König von Preufsen trifft ein, sein Cabinet mit ihm. »Die Her- 
ren wandelten in weifs seidenen Strumpfen, gestickten Uniformen, 
gepuderten Haaren, und Haarbeuteln oder Zöpfen durch die 
Strafsen. Die ganze Nacht hindurch zogen Geschütz und Pon- 



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1200 Reinbeck: Reiseplaudereien. 

tons mit dumpfem Gerassel an meiner Wohnung vorüber. Das 
Lager war aufgebrochen. Am frühen Morgen ertonten die damp- 
fen Schläge des groben Geschützes.« Franzosische Gefangene 
werden eingebracht, ein heransprengender Adjutant verbreitet die 
• Nachricht eines errungenen Vortheils. Aber ein durrer, gelbli- 
eher Mann, in preufsischer Staatsuniform, an einem Erkpfeiler 
gelehnt, sagt dem Verf. unverholen: tglauben Sie] mirj, die Schlacht 
ist verloren.« Es war Lucchesini. 

Nun flüchtete Reinbeck, der Fremdling, mit seiner Frau in 
das Haus eines Freundes , des Generalsuperintendenten Vogt , wo 
er mit offenen Armen aufgenommen ward. Sie beschlossen, zum 
Schutze gefangene und verwundete Franzosen ins Haus zu neh- 
men. Bald wird in der Stadt gefochten, die Bomben fliegen« 
Wie nun Vogts Haus, und in ihm unser Freund, durch einen 
braven, französischen General, einen Chef ordonnateur geschirmt 
wird, überlassen wir dem Leser, aus dem Buche zu erfahren 
(S. a8 ff.). Hier nur einige auch für die Geschichte nicht un- 
wichtige Notizen: 

»Schon brach die Dunkelheit ein. — Unterdessen hielt der 
Donner des Geschützes, das seine Kugeln auf das herzogliche 
Schlofs gerichtet hatte, plötzlich inne, und es kam die Hunde, 
dafs Murat auf den Schlofsbof gesprengt sey und dort zu seinem 
Erstaunen auf dem Balkon eine Dame mit Stern und Ordensband 
^erblickt habe, welche Anordnungen traf. Auf seine Erkundigung 
wurde ihm gesagt, es sey die regierende Herzogin, die Schwe- 
ster des den Franzosen verbündeten Herzogs von Hessendarm- 
Stadt, welche das Loos ihrer Unterthanen habe theilen wollen. 
Die ehrwürdige Herzogin Mutter war mit ihrer Grofstochter ent- 
fernt: der Herzog befehligte ein preufsisches Corps. Sogleich 
flogen die Adjutanten zurück, um das Feuern abzustellen, und 
das Schlofs war gerettet.« (S. 33.) 

Aber die Stadt Weimar wurdejder Plünderung preisgegeben 
(S. 33 — 4a). Nach einer angstvollen Nacht kam Napoleon an 
und besuchte das Schlofs. üebermuth der Sieger (S. 4a— 4o). 
Der Kaiser durchritt mit grofsem Cortege die geplünderte und 
gebrannte Stadt, vlch ging in ein hinteres Zimmer , um ihn nicht 
zu sehen. — Einen Tscbang ischan hätte 'ich nur als Gefangenen 
sehen mögen.« 

(Der Betchl+f» folgt.) 



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N°. 76. HEIDELBERGER 1837 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



gg=g= I I BB=g=gg!^ ■ 1 

Reinbeck: Reiseplaudereien. 

■ 

(Besohlufa.) 

Am 19. OKI. lieft sich Gothe mit Demoiselle Vulpius trauen. 
»Die Dame war in jeder Hinsicht praktischer Natur. Sie hatte, 
überzeugt, dafs der Geheimerath, wie sie ihn nannte , vro's aufs 
Handeln ankam, gänzlich rathlos sey, sich mit reichlichen Vorrä- 
then versehen und unten im Hause Tische mit Speise und Getränk 
aufstellen lassen, dafs jeder Herzutretende gleich Befriedigung 
fände und der Gebeimeralh oben in seinen Zimmern nicht belä- 
stigt wurde. Sie selbst war dabei geschäftig. Diefs war für den 
ersten Anlauf sehr verständig berechnet, und bald erhielten die 
beiden Mitglieder der Ehrenlegion, Gothe und Wieland Sau-' 
vegarden und Marschall Augerau nahm bei Gothe Quai'tiei. Der 
Marschall sah die Geschäft ig keit der Demoiselle Vulpius und ihre 
verständigen Anordnungen, Geithe stellte ihm seinen Sohn vor — 
und es war sehr naturlich, dafs er die unten geschäftige Hausfrau „ 
für Göthe's Gattin hielt, und überrascht war, zu hören, dafs sie 
zwar die Mutter des einzigen Sohns Gölhe's, aber nicht seine 
Gattin sey ! — Er überredete Güthe, sie als solche anzuerkennen 
und dazu diesen Augenblick zu benutzen, wo die Aufmerksamheit 
des Publikums getheilt sey und nicht lästig fallen werde; und als 
es geschehen war , war's geschehen " (S. 56 f.) Diese Version, 
die gewissermafsen von einem Augenzeugen herrührt, entkräftet 
andre Darstellungen derselben Geschichte. Wir geben sie, wie 
Beinbeck selbst, ohne alle weitere Reflexion. 

S. 59 — 98 folgen episodische Bemerkungen, die der Verf. 
gleich nach den Tagen des Sturms niederschrieb, Aphorismen, 
welche andeuten, was damals, in der Nähe so bedeutender Er- 
eignisse, Geist und Gcmüth bewegte. Sie machen beiden Ehre 
und lauten in manchen Tbeilen wie Prophezeihungen. 

Nach und nach knüpfte sich in der beruhigten Stadt der ge- 
sellige Umgang wieder an. Hier ist eine Anekdote über den be- 
rühmten Dichter Klinger eingeflochten, von welchem EL , der 
ihn aus langem, genauen Umgang zu Petersburg kannte, als Men- 
seben eine weit geringere Meinung hat, denn als Dichter. Dieser 
XXX. Jahrg. 12. Heft. ?6 



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1202 Rcinheck: ReUrpla tidereien. 

Klinger gab einst dem Dichter Göckingk und dessen Gefährten, 
dem Abbt> Piatloli (nachmal. russ. Staatsrath , dem eigentlichen 
Verfasser der polnischen Constitution von 1791) ein glänzendes 
Mittagessen. „In einem der Zimmer hing ein Bild von Illingen 
Göckingk betrachtete es, und Klinger fragte ihn. ob er es ähn- 
lich finde. Göckingk fand es nicht so. Klinger liefs ein andres 
und noch ein anderes Bild hei -beibringen , und immer \ ei nniste 
G. den eigentümlich charakteristischen Zug. 4 Ich will Ihnen 
ein Bild meines Mannes zeigen, sagte Frau von Illinger , eine 
Tochter aus einer getrennten Ehe des Lieblings Catharina's Oi low 
und eine Frau von Geist, und liefs sich Klingers Faust geben, 
vor welchem das Titelkupfer den M e phistopheles darstellt. 
Diefs ist Klinger,' sagte sie zu Göckingk, und dieser rief in der 
Ueberraschung: k Ja, das ist ähnlich!' Klinger lachte , und meinte, 
man wollte es so finden." (S. 101 f.) 

Nun fuhrt uns Beinbeck noch im interessanten Kreise der 
geistvollen Hofräthin Schopenhauer eiu, wo sich Göthe im 
ganzen Glänzt* seiner Liebenswürdigkeit zeigte; auch Bertuch 
Vater und. Sohn , Biemer , Falk u. A. lernte er hier kennen. Die 
weimar'sehc Bühne, welche B weit hinter seiner Erwartung fand, 
gab unter anderm auch ein Stück des Verf. Ein andres seiner 
Lustspiele: „Er mufs sich malen lassen u , ward auf Gölhe/s Em- 
pfehlung in ausgezeichneter Gesellschalt gelesen und gefiel. Auch 
Wieland sab der Verfasser: „Ein kleiner Greis- von zierlich 
feinem Weseu mit schneeweifsem gelocktem Haare und einem 
sammtnen Magisterkappchen darauf, den Annenorden um den Hals, 
eine gar freumlliche und Achtung gebietende Erscheinung kam 
uns entgegen." Diese Begegnung war zufallig bei Schopenhauers. 
Später suchte der Verf. den berühmten Greis auf, konnte aber 
das Lachen kaum halten, als er richtig mit dem bannalen Compli- 
ment entlassen wurde, was ihm Wielands Freunde prophezeit 
hatten: „Ich freoe mich, in Ihnen einen unsrer ausgezeichnet- 
sten Köpfe kennen gelernt zu haben. 44 (S. 110 — 116.) 

B. war auch so glücklich, Göthe'n eine Bolle aus Calderon 
vorlesen zu boren. Im Tragischen gefiel ihm Göthe's Vortrag 
nicht, er fand zuweilen falsches Pathos darin; aber im Komischen 
war er ganz unvergleichlich (S. 100 f). Her interessante Ab- 
schiedsbesuch bei Göthe (S. 123 — is5) beschliefst den Aufsatz, 
mit welchem wir hier von dem Werke uns verabschieden. Der 
Ausflug in die schwäbische Alb und der in die Schweiz 
enthält recht viel Angenehmes , der Natur der Sache nach aber 
meist andre Dinge, als eine Literaturzeitung ad notam zu neh- 
men hat. 

Gustav Schwab. 



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» » 

ÜBERSICHTEN und KURZE ANZEIGEN. 



M K D I C I N. 

(Fortsetzung der in Aro 71. des Kovemberhefte abgebrochenen Hecention 
der Schriften von Gnittkell, Dr. J. Mich. Lcupoldt, Dr. Fritdr. 
Aug. Hilgen, Dr. C. Ph. Möller, J. B. Helhomme, Falret, 
E. Lelut, Dr. Fr. II. Hagen.) 

4) Hie Schrift von Gaitskell, übersetzt von Hornisch, 
eine höchst dürftige Darstellung der gewöhnlichen Lehren der 
Psychiatrie, verdient keine weitere Anzeige, und lohnt wahrlich 
nicht die Mühe der Uebersetzung. 

5) Leopold ts oben angeführtes Werk hat Rf. defshalb hier- 
her ohngefahr in die Mitte gestellt, weil es am freisten von ein- 
seitiger Systemsucht sich hält. Doch hat es schon eine vorwie- 
gende Neigong zur sogenannten speculativen Autlassungsweise im 
Gegensatze der Schriften von Bird, noch mehr von niumrödcr, 
ja selbst einen mystischen Anstrich, zeichnet sich aber vor die- 
sen durch eine würdigere Sprache und eine geordnetere Darstel- 
lung aus und gibt so ziemlich, was der gegenwärtige Standpunkt 
der psychiatrischen Literatur bietet, leider damit aber, da dieser 
noch ein sehr trauriger ist, dessen Mängel, und ohne etwas Eig- 
nes zur Hülfe und Forderung beizutragen. 

Der vorläufige „formelle* 1 BegrifT der psychischen Krankhei- 
ten ist zu weitschweifig und unbestimmt und wäre wohl besser 
gar nicht gegeben, da spater doch ein andrer auf das Wesen der 
psychischen Krankheit gegründet wird. 

In der Geschichte sind mit Hinweisung auf Heinroths 
Darstellung derselben in dessen Lehrb. der Seelenslorungpn die 
früheren Schriftsteller spärlicher und kürzer angeführt , die neue- 
ren aber: Heinroth, Nasse, Jacobi, Groos, Friedreich, Blumröder 
ziemlich richtig charakterisirt , und am Ende das Bedwrfnifs einer 
gründlichen Anthropologie zur Grundlage der Psychiatrie gefo- 
dert. Dieser bedarf es allerdings, aber nicht einer, welche vom , 
Christenthum oder selbst auch von der Philosophie beleuchtet 
werde. Die Anthropologie ist rein erfahl ungsmäfsig zu behan- 
deln Der Fehler ist auf der entgegengesetzten empirischen Seite 
nur der, dafs Fragen beantwortet werden sollen, die gar nicht 
aus der Erfahrung beantwortet werden können und nicht in die 
Anthropologie gehören; z. B. über Unsterblichheit. 

In der „anthropologischen Grundlegung 4 ' gibt Vei f. zunächst 
3 Ansichten der Art der Verbindung von Seele und Leib; nach 
der ersten besteht er aus Leib und Seele, nach der zweiten, in 



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I 




welcher aber zwei ganz entgegengesetzte Ansichten zusammen gefafst 
sind, ist ein Theil nur die Aeulserung des andren, and entweder 
die Seele oder der Leib das eigentlich Wesentliche und Ursprüng- 
liche. Wenn Verf. aber Carus mit zu den Anhängern der An- 
sicht von der Priorität der Seele rechnet, so hat er sich dabei 
mehr nach dem Worte gerichtet, als nach dem Begriffe, den 
Carus nem Worte Seele, allerdings gänzlich unbefugt, willkühr- 
1 ich und wider allen Sprachgebrauch beilegt, indem C. darunter 
das ewig Wesentliche, das der zeitlichen Erscheinung zum Grunde 
Liegende eines jeden Einzelwesens versteht. Diese willkührliche 
und verschiedene Bezeichnung gehurt auch mit zu dem Fluche , 
welcher die Psychologie druckt. Was wurde man sagen, wenn 
in der Physiologie mit einem Mahle ein Schriftsteller aufträte 
und den Bildungstrieb Gehirn nennte ! Nach der dritten ist der 
Mensch zuhochst ein Ganzes, und äussert sich einerseits im Räume 
als Leib, andererseits in der Zeit als Seele. Ref. bekennt sich auch 
zu dieser Ansicht, wenn sie nur richtiger ausgedruckt wird. Die 
Begriffe von Raum und Zeit gebären mit zu denen , .welche viel 
unheilvollen Spuck treiben, indem sie ganz verkehrter Weise ge- 
wöhnlich als Gegensätze aufgefafst werden. Das Einnehmen eines 
bestimmt«-' Raumes ist das allgemein - Eigenthümlichc des Körper- 
lichen , Materiellen, Leiblichen; diese Eigenschaft, diefs Vermö- 
gen kommt aber dem Materiellen auch vor aller zeitlichen Er- 
scheinung zu, äussert sich aber auch in der zeitlichen Erscheinung. 
Die Zeit dagegen beruht wesentlich darauf, dafs irgend ein We- 
sen sich ändert. Dieses Aendern aber geschieht bei allen Ein- 
zelwesen, sie mögen seyn, wie sie wollen. Der Verf. ist auch 
nicht von dieser fälschlichen Gegensetzung der Begriffe frei, nur 
meint er, diefs sey in Beziehung auf Leib und Seele nicht so 
ju- Uiefalich der Fall , dafs nicht der Leib auch zeitlich sey ; 
ja freilich ist er zeitlich und die ,, Zeitlichkeit " ist ihm nicht 
allein „nicht ganz fremd sondern kommt ihm ebenso zu wie 
der Seele. Wenn aber der Verf. meint, dafs man auch dem 
Psychischen etwas Räumlichkeit zugestehen müsse, so mufs Rf. 
dabei bemerken, dafs er an seinem Denken , seinem Gefühl, seinem 
Willen u. s. w. an und für sich selbst nichts Raumerfüllendes 
wahrnimmt. Will man der Seele aber defswegen Räumlichkeit 
zusprechen, weil sie im Menschen an entsprechende Zustände und 
Verrichtungen raumerf jllender Organe geknüpft sich zeigt, so 
hat die Seele nicht allein etwas , sondern gerade so viel Räum- 
lichkeit als alle andere Organe auch. < 

Der Verf. verwirft die dichotomische Eintheiluxig und kommt 
nach einer geschichtlichen Uebersicht der Ansicht, dafs der Mensch 
aus Leib, Seele und Geist bestehe, zu einem „eigentümlichen 
Versuch, zugleich die Eiuheit und Grundgliederung des Menschen 
zu ermitteln Hior wird denn aus der Entwicklung des' einen 
innren Lebensgrundes zum Mannigfaltigen: Leib und Seele und • 
dann aus dem „umgekehrten üebergange dieser einwärts in jenen 44 
(den ursprünglichen Lebensgrund) und „selbst aus dem Ueber- 



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gange vön dorn als allgemeine Lebenskraft übrigbleibenden Beste 
der ursprünglichen Einheit in eine höhere Einheit, wodurch nicht 
blos Mannigfaltigkeit überhaopt and materielle Erscheinung ins- 
besondere wieder negirt werden, sondern auch zugleich eine ganz 
heue Potenz erreicht wird, — Geist im engeren Sinne des 
Wortes u deducirt! p. 49. p. 5o, 5i ,,Getst im engeren und im 
eminenteren Sinne des Wortes wäre demnach das in der irdi- 
schen Sphäre [Gott] nächste und vorzüglich Gottäbnliche. — P. 5t 
„und demnach wohl Geist des Menschen, so zu sagen, als das 
Prinzip, als das Principale der Persönlichheit , als das Persönlich- 
machende, die Seele des Menschen dagegen als die Basis, das Ba- 
sische ond Zupersonificirende zu betrachten. 4 * — — 

„Nach allem Uebrigen und selbst seinem Seelenleben an und 
für sich nach, ist def Mensch, wie jedes Thier (und jede 
Pflanze) ganz und gar nur organisches Wesen, Organismus. 41 

Nachdem Rf„ so gesucht , das Wesentliche in Vrfs eignen 
Worten wieder zu geben, mag eine Bemerkung gegen die ganze 
Deduotion und Methode der Darstellung hier Platz linden : Wo- 
ber soll der Leser wissen, was VrK unter Geist, Seele und Leib 
versteht, wenn er nicht sagt, welches das Eigentümliche ihrer 
Tbätigheitsäufserung ist. Nur dann läfst sich der Begriff erken- 
nen, den gerade Vrf. damit verbinden will. So lange diefs nicht 
geschieht, läfst sich nichts darüber sagen, als dafs damit nichts 
gesagt ist. 

Da der Vrf. in folg. p 64 das Gemuth als die Quelle der 
sogenannten Gemütbsbewegungen bezeichnet, und Gemflthsbewe- 
gungen, Gefühle und Zustände besonderer Erregungen von Seele 
und Geist, die man A flehte und Leidenschaften nennt, so hat 
man doch , — so höchst oberflächlich auch diese Bestimmung 
des Gemüths ist — darin einen Anhaltspunkt, um das zu beur- 
theilen, was p. 66 vom Gefühl gesagt ist: „im Gefühle scheint 
die Indifferenz zwischen beiden Bichtungen (der Seelen - und 
Geist estha ligheit ) dem reeeptiven, centripetalen, dem Erkennen > 
und dem reactiven, centrifugalen Wollen — gegeben." Da sieht 
man wieder, wohin das Spielen mit Begriffen oder vielmehr mit 
Worten fuhrt! Sind Gefühle, Affecte, Leidenschaften etwas In- 
differentes, — kann man d i e eine Indifferenz nennen! Uebrigens 
wird das Gemuth p. 71 „zur Unterscheidung von Seele mehr nur 
als besondere Function und Provinz von der Seele , die aufserdem 
noch die andre durch Kopf, Intelligenz etc. bezeichnete Sphäre 
darbiete , u dargestellt und die Vermittlung zwischen Physischem 
and Psychischem soll insbesondre am Innigsten durch das Ge- 
muth,— - die Quelle der AtTecte und Leidenschafteq und Ge- 
fühle geschehen! 

Eine besondre Stelle findet danach zunächst das Ces^Mechfs* 
leben. Am Schlüsse der anthropologischen Grundlegung wird 
„das Selbstbewufstseyn im vollsten Sinne des Worts als die ihrei* 
selbst bewufste Freiheit" etc. bestimmt, in welcher das Welt* 
und Gottbewufstseyn enthalten sey, dem Thiere mehr nur Selbst- 



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geföhl, [also Gefühl = Indifferenz: Selbstindifferenz!] zugeschrie- 
ben. Auch hier die allgemeine, aber gänzlich irrige Ansicht, 
dafs „das Individuum erst zum Selbstbewufstseyn komme, wenn 
es sich mit Ich bezeichne/ 4 da diefs doch blofser Fortschritt in 
der Sprache ist. Das Kind wei fs sich selbst schon eben so gut 
unter dem Namen Karl, Heinrich etc.; es gebraucht anfangs 
überhaupt keine Pronomina, sagt auch nicht: du, nicht: er; die 
Pronomina können ihrer Bedeutung nach , da sie Stellvertreter 
der Nomina sind, auch erst nach diesen in die Entwicklung der 
Sprache eintreten. 

Bf. findet nicht, dafs diese ganze anthropologische Grund- 
legung in das Wesen des Gegenstandes eingehe, und glaubt nicht, 
dafs mit Bearbeitung blofser Worte etwas gethan sev. 

Das zweite Buch enthalt die Pathologie der psychischen 
Krankheiten und zwar nach einer Einleitung von den übergan- 
gen einerseits in eigentliche geistige Abnormität, Sunde, Laster- 
haftigkeit, und andrerseits in eine somatische Krankheit: eine all- 
gemeine Symptomatologie der psychischen Krankheiten, wobei, 
wie das leider aber gewöhnlich vermifct wird, die nähere Bezie- 
hung einzelner Krankheitserscheinungen zu besondren Krankheitsar- 
ten und somatischen Leiden fehlt. 

Die Begriffsbestimmung , p. "107, sefzt die psychische Krank- 
heit fest als: „eigenthiunliche, fieberlose ( [? ), sich wesentlich 
durch dauernde (?) oder öfter wiederkehrende Störung des 
normalen Selbstbewufstseyns und (oder) der Selbstbestimmung 
charakterisirende Krankheit des an das Gehirn, besonders das 
grofse, geknüpften Seeleulebens, wobei das kranke Individuum 
mehr oder weniger vollständig unvermögend ist, sich selbst, am 
wenigsten im eignen Selbstbewufstseyn [? !] für krank zu erkennen, 
deiugeninfs sich selbst, so wie Aeufsres und sein VevhähniCs 
zu demselben mehr oder weniger auffallend verkennt und dem- 
nach falsch urlheilt und handelt." Die Begriffsbestimmung leidet 
an mehren Fehl ern ; ,, fieberlos li hätte können ganz wegbleiben, 
da es solche Krankheiten mit und ohne Fieber gibt; — bei dauernd 
entsteht die Frage wie lange? es gibt auch sehr kurz dauernde 
Fälle von psychischer Krankheit und selbst ohne Wiederkehr; — 
die Anknüpfung des Seelenlebens an das grofse Gehirn ist hypo- 
thetisch; — das kranke Individuum verliert nicht immer das Be- 
wufstseyn seiner Krankheit, in den höchsten Graden allerdings 
wohl immer, aber warum soll man die Zustände, pathologisch 
betrachtet, trennen? da müO>te man auch Amblyopie und Amau- 
rose eben so weit trennen. Der Verf. ist offenbar mifsleitet durch 
den Begriff der Zurechnungsfähigkeit, der uns bei eiurr rein 
pathologischen Betrachtung gar nichts angeht; so hat er nach 
Rf. Meinung auch Unrecht, Hypochondrie und Hysterie auszu- 
schliefsen; denn Rf. glaubt, dals wir in der Psychiatrie die Be- 
trachtung der Krankheiten begreifen müssen, wo das Wesentliche, 
oder der Mittelpunkt der Krankheitserscheinungen in der psvehi- 
seben Sphäre des ^Nervensystems anzunehmen ist , d. h. in den 



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m 



Meilicin. 

Verriebtungen des Nervensystems , weiche die psychischen Reactio- 
nen vermöge eigentümlicher, gemeinsam geistiger und leiblicher 
Natur des Menschen von Seiten des Leibes bedingen. — p. ioö. 
Synonyme. — 

Rf. wurde die Grenze dieser Anzeige überschreiten, wenn 
er weiter im Einzelnen der Darstellung folgte. Dieser eigentlich 
psychiatrische Tbeii ist nach Rf. Meinung ungleich gehaltvoller 
und klarer als die anthropologische Grundlegung und einige my- 
stische Anklänge abgerechnet auch unbefangen und vorurtheils- 
freL Aber durchgängig vermifst Rf. darin die Beziehung be- 
sonderer Ursachen, Erscheinungen , somatischer Abnormitäten z. B. 
Leichenerscheinungen, besonderer Behandlungsweisen zu besondren 
Kranhbeitsarten; ferner ist die Unterscheidung der Krankbeitsarten 
in Manie, Melancholie, vagen Wahnsinn, fixen Wahnsinn und Blöd- 
sinn wohl von der am meisten gewöhnlichen nicht sehr abweichend, 
aber keinesweges das, was man in dieser Beziehung findet , wenn 
mau die in der Natur vorkommenden Fälle nach dem Charakte- 
ristischen möglichst zusammenzustellen sucht. Insbesondre aber 
ist hier die Vermenguug der Moria, Verwirrtheit und Incohärenz 
der Ideen mit gewöhnlichem oder vagem Wahnsiun und die Tren- 
nung dieses von der Manie zu tadeln , auch das Wesen der fixen 
Ideen gänzlich falsch aufgefafst, wie schon der Ausdruck primai- 
rer fixer Wahn zeigt, denn nie ist ein fixer Wahn eine priinaire 
psychische Krankheit, sondern immer nur aus einer andren ent- 
wickelt. Endlich, wie scho.'i oben bemerkt, finden wir in dem 
ganzen Bucbe nichts, was die selbststaixJige Darstellung aus eig- 
ner Naturbeobachtung documentirte. 

In dem Bucbe von Ritgen findet Rf. diefs aber noch viel 
weniger. Ja wie es wohl schwer fallen würde, in dem Namen: 
Persönlichkeitskrankheiten, die psychischen Krankheiten zu vermu- 
then, wenn Verf. nicht die Vorrede damit anfinge, dafs die Ueber- 
nahme des Lehrfachs der Psychiatrie ihn zur Herausgabe des 
Buches veranlaßt habe, so ist es eben so schwer in dem ganzen 
Buche die psychischen Krankheiten zu erkennen. Der Spruch des 
alten Baco von Verulam , dafs einige Gelehrte den Spinnen glei- 
chen, die aus sich selbst ein Ilirngespinnst weben, findet hier 
seine Anwendring. Doch hoffe ich, dafs aufser denen , welche 
sich in diesem Netze fangen lassen müssen, nicht viele darin ver- 
strickt werden, und dafs auch die dazu gezwungenen mit jungen 
kraftigen Geistesflügeln es zerreifsen werden. Doch müssen wir 
zur Steuer der Wahrheit die allgemeine Einleitung ausnehmen, 
wo abgesehen von unnöthigerweise sonderbaren neuen Ausdrücken 
in eigentbümlicber Weise von dem Seelenleben Eiuiges richtig 
entwickelt ist, was in den gewöhnlichen und herrschenden psy- 
chologischen Lehren in grundverkehrter Oberflächlichkeit darge- 
stellt wird ; namentlich rechnet Rf, dahin die gesetzmafsig statt- 
habende Verbindung des Gefühls vom Angenehmen uud Unan- 
genehmen mit der Willensbestimmung, verglichen mit der ge- 
wöhnlichen Darstellung der Willkühr. 



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Med i ein. 



In Beziehung auf Baco'S Ausspruch in gleichem Range steht 
Müllers Werk. Wie beim vorigen schon nomen et omen, SO 
auch hier der Titel : anthropologischer Beitrag zur Erfahrung der 
(über die) psychischen Krankheiten , oder (so?) der Standpunkt der 
psychischen Medicin etc.— Rf. kann sich hier unmöglich entgeh He- 
lsen, ins Einzelne einzugehen. Um aber doch dem Leser dieser 
Anzeige Gelegenheit zu eigner Beurtheilung zu geben, wähle ich 
das aus. was Vi F. über die Methode, in welcher das Studium 
der psychischen Krankheit getrieben werden soll und über die 
einseitigen Weisen, mit denen es bis jetzt getrieben werde, sagt: 
(p ao. 21 § 35) r Der Standpunkt der wirklichen Erfahrung bann 
nicht blofs auf einem einseitigen Prinzip beruhen, sondern er 
mufs mittelbar aus dem Zusammenhang entgegengesetzter beste- 
hen, die, wenn sie vereinzelt als abstracte Standpunkte aufgefafst 
werden, nur als Voraussetzungen oder Hypothesen und Vorur- 
theile gelten können Als solche Hypothesen oder einseitige Wei- 
sen der Erfahrung, oder als blolse Ansichten und Theorien der 
Erfahrung, die auf einseitigen Prinzipien der Methode beruhen, 
sind folgende herrschende Haupturlheile noch anzusehen: 1) Dafs 
nämlich die Erfahrung entweder nur sinnliche Auflassung äusse- 
rer Gegenstände und davon abhängige Abstraktion seyn Könne, 
welches das Prinzip des Sensualismus und Empirismus ist» Oder 
s) dafs die Erfahrung nur durch die Form der Anschauung and 
formelle Vergleichung , Ordnung und Subsumtion der sinnlichen 
Anschauungen unter einseitige Kategorien des Verstandes und den 
daraus gezogenen sogenannten Schlüssen von formellem Werth 
bestehe, welches das Prinzip des sogenannten Criticismus ist. 
3) Dafs die Erfahrung nur in der unmittelbaren Anschauung der 
Gegenstände mit dem intellektuellen Auge der Vernunft nach 
dem einmal für allemal identisch erkannten Schema des polaren 
Verhaltens einer absoluten Indifferenz bestehe, Welches das Prin- 
zip der neueren Naturphilosophie ist." Und Wetter unten p. 5g. 
§ 38. „Die Erfahrung also, welche das Wissen dtirch das Ceber- 
gehen dieser seiner Prinzipien in einander selbst macht, ist zu- 
nächst di»;se: dafs sie dem Begtilf der Vcrmittelung oder dem 
wahren Unterschied von Materie und Form als Solche noch nicht 
entsprechen, d. h. dafs weder ihr Gegensatz noch ihre Einheit 
die wahre Form des verschiedenen Inhalts Selbst hat, und dem- 
nach in eine andere Einheit zusammengehen , worin beides sich 
in Form selbständiger Momente vermittelt.'* Der Vrf. .Setzt den 
Sitz der psychischen Krankheiten in die Seele, welche er als den 
b Grenzpunkt zwischen willkührlicher und unwillkührlicher geisti- 
ger Thätigkeit, zwischen Geist und Körper einschiebt, s. ebenda*, 
p. 33 §. 45. 46. — und hofft dann damit „die Erfahrung über 
psychische Krankheiten in ihre Rechte eines objectiven Wissens 
einzusetzen und sie damit theils von empirischen Einseitigkeiten, 
theils von thenrniischen Irrthümern der subjectiven Reflexion 
und Abatractiou bisheriger Zeit zu befreien, um ihren vermit- 
j-elifden Standpunkt von Gegenstand und Begriff behaupten tu 

* 



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Medicin. $20» 



Ein Gegenstück zu deutschen Hirngespinsten bieten in 1 1 au. 
Äösischer Oberflächlichkeit die Schriften von Bilhomme. Der 
Titel des Verf. directear dun etablissement specialement destine 
aux alienes erklärt die Entstehung derselben und den Ursprung 
des Berufes zd psychiatrischer Scbriftstellerci. 

Faire t's observations dagegen sind schon in sofern eine er- 
freuliche Erscheinung, als man daran sieht, dofs die französische 
Gesetzgebung sich mehr um die Geisteskranken bekümmert and 
Sachverständige zu Käthe zieht. Auch sind die Bemerkungen 
über den Gesetzvorschlag , welche sich auf die bei der Uebcr* 
bringüng in eine Irrenanstalt und bei der Unmundigkeitserklärung 
zu beobachtenden rechtlichen Formen bezieht 4 treffend und rieh* 
tig. Statt der Ausdrucke imbecillite, demenCe et fureur schlägt er 
den allgemeinen älieoatinn mentale vor. Dasselbe könnte auch für 
heuere deutsche Gesetzbucher gesagt werden. Im aten Artikel 
Verlangt F. mit Recht, dafs zu der autorite militaire , welche die 
Befugnifs ert heilt , einen Soldaten in ein Irrenhaus zu bringen, 
der Militärarzt mit zugezogen Werde; — spricht besonders ge* 
gen die Commission, deren Meinung über einen Kranken der Prä- 
fect einholen soll und schlägt vor, dafs, wie es auch zu Park 
üblich sey, zwei Acute mit einem Polizeicommissär den Kranken 
bei der Aufnahme in fein Privatirrenhaus sehen und überhaupt 
dort von Zeit zu Zeit Besuche machen und im Fall die Verwand- 
ten die Entfernung eines nicht Genesenen terlangen , untersu- 
chen, ob er gefährlich sey. — Vrf. erhebt sich gegen die zu 
frühe Interdiction ; und will mit Becht diese von der Befugnifs 
zur Verwahrung in einer Irrenanstalt gänzlich getrennt wissen, 
und warnt vor Uebcreilüng So kurz diese Bemerkungen sind , 
so zeigen sie doch den in die Eigentümlichkeiten der Geistes- 
kranken Eingeweihten und das Bestreben, auch in den Einrich- 
tungen des Staats das ihrem Zustande Entsprechende bewirken zu 
helfen. Besonders aber hat es Bf. angesprochen, dafs Vrf. sich 

fegen die Trennung der Heilbaren und Unheilbaren erklärt und 
a unter andern auch den gewichtigen Grund anfühlt, dafs die- 
selbe der Ausbildung der Psychiatrie schade: Enfin cest ün obstacle 
aüx progres de Part que de morceler l'htstoife d'uhö partie des 
maladies mentales. ' 

Wenn die kurzen Bemerkungen Falret's ein besondres In- 
teresse für medicinische Gesetzgebung und Polizei haben , und 
mir nebenbei einige auch wissenschaftlich interessante Beobach- 
tu ngen enthalten, so hat Lei u t's Schrift ein näheres Interesse 
für die Wissenschaft seihst, und ist für diese eine wesentliche 
Bereicherung, trotz der nach Bf. Meinung mufsigen und unpas- 
senden Unterscheidung des delire aigu als besondrer Krankheits- 
fbrm, da es vielmehr ein Symptom ist. Vi f. gibt in seiner Schrift 
vorläufig die Resultate seiner Beobachtungen und Leichen unter' 
auchungert, und Verthriehl diese selbst später nachfolgen zu las- 



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2210 Medicin. 

•en. Vor den meisten andern französischen Arbeiten, namentlich 
dem früheren Werke von Bayle, zeichnet sich diese durch Un- 
befangenheit und nicht einseitige, und nicht ausschliefsüche fte- 
duction der Krankheitserscheinungen auf anatomische Veränderun- 
gen aus. Diese sind auch hier so genau und wahr, und so mit 
Berücksichtigung der betreffenden Krankheitsformen gegeben, 
wie Rf. sie bis dahin nicht dargestellt fand. Besonders sind in 
dieser Beziehung 'zu erwähnen die feinen Hörnchen, welche man 
manchmal auf der Haut der Ventrikel sich erheben sieht, wobei 
Bf. hinzusetzen möchte, dafs sie vorzugsweise häufig stark und 
dicht auf dem Boden der vierten Uirnhöhle vorkommen ; ferner 
die Verkleinerung des Gehirns, später unten p. 99. un relrait 
plutot qu'une atrophie, sehr bezeichnend genannt, nach chroni- 
schem Wahnsinn besonders aber in seeuhdärem Blödsinn mit Läh- 
mung, wobei die Furchen zwischen den Windungen weiter wer- 
den , die pia mater und arachnoidea über den Windungen sich 
mehr von einander entfernen, die Windungen schmaler und nicht 
im mindesten abgeflacht sind, und Flüssigkeit in dem entstande- 
nen leeren Baume sich angesammelt findet. Rf. stimmt nach eig- 
nen öfteren Beobachtungen ganz in dieser Schilderung mit dem 
Vi f. überein, .ebenso wie in der Art von Krankheitsfällen , für 
welche Vrf. sie bezeichnet und hatte sich auch eine ähnliche Er- 
klärung gebildet wie Vrf. sie gibt. Vrf. vergleicht diefs nämlich 
mit der dementia senilis und dem , was man da findet und meint, 
das Hirn habe im Sturme des Wahnsinns zu scnneU gelebt und 
sich verlebt. Rf. dachte dabei an die Verkleinerungen, welche 
manchmal nach Entzündungen und entzündungsähnlicben Zustän- 
den auch in andern Organen sich finden, — z. B. atrophia bulbi 
nach Ophthalmitis. Ebenso nimmt Rf. hier die Wasseransamm- 
lung auch als Folge der Verkleinerung an. Vrf hätte hierfür 
auch besonders zur Begründung dieser Meinung die Form der 
Windungen anführen können, die gar nicht das Abgeplattete zei- 
gen, wie in Fällen primären Exsudats. In Beziehung auf die 
Schwierigkeit, die oberflächliche Erweichung- der W T ände der 
Hirnhöhlen richtig zu deuten, hätte Vrf. auch anführen können, 
dafs diese in manchen Fällen sicherlich Folge der Maceration 
nach dem Tode ist, wo eine krankhafte Menge Serum sich an- 
gesammelt findet. 

Sehr zu bedauern ist es übrigens, dafs Vrf. nur die anato- 
mischen Veränderungen im Gehirn und dessen Häuten berücksich- 
tigt, und Herz, Unterleib, besonders aber, dafs er auch das 
Gangliensystem ganz vernachlässigt; doch vielleicht erstreckt sich 
auch darauf die Beobachtung selbst, deren ausführliche Mitthei- 
lung diese vorläufige Angabe der Resultate sehr wünschen 
laTst. 

Hagen handelt hier einen Gegenstand ab, der in einiger 
Beziehung zu den psychischen Krankheiten steht, der aber au 
einer gründlichen Behandlung vor allen eine bessere Begriffsbe- 



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2211 



* 

Stimmung und Einteilung in der Einleitung gefodert hätte, als 
Verf gibt. Es wäre eine richtige Darstellung der Bildung sinn- 
licher Wahrnehmungen durchaus als Grundlage notbig gewesen, 
namentlich auch eine Darstellung der eigentlich psychischen Mo- 
mente dabei und eine Darstellung des Zusammenhangs des Vor- 
stellungsvermogens mit den übrigen Seelenvermogen namentlich 
dem Gemütbe. Daher denn zuerst die mangelhafte Definition : 
Sinnestäuschungen sind diejenigen Täuschungen, an deren Erzeu- 
gungen die Sinne einen vorzuglichen Antheil haben (p. 2) Solche 
Sinnestäuschungen finden sich aber auch noch bei gänzlich zer- 
störten Sinnesorganen, vgl. Esquirol im Dictionnaire des sciences 
medicales.. T. XX. p. 68 , was ich auch auf eine grofse Reihe von 
Beobachtungen gestutzt in einem Aufsatze über die Träume der 
Blinden bestimmter nachgewiesen habe, welcher nächstens in 
v. Ammons Zeitschrift erscheinen wird. Die Unterscheidung in 
solche, „in welchen äufsre Objecte wahrgenommen werden, aber 
deren Beschaffenheit und Wesen anders aufgefafst winf , als es in 
Wirklichkeit ist, Illusionen; und in solche, wo körperliche 
subjective Zustände wahrgenommen, aber falsch gedeutet oder 
für äufsere Anschauungen gehalten werden, Hallucinationen," 
"ist eine gänzlich unwesentliche, welche ganz verwandte, ja we- 
sentlich gleiche Erscheinungen trennt. Z B. ein Geisteskranker 
mit ängstlicher Melancholie bildet sich in Folge seiner Gemuths- 
verstimmung die Vorstellung von einem Teufel, der ihn verfolgte, 
ohne dafs er irgend einen äußren Gegenstand dafür ansähe; er 
kann aber auch Jemand, der zu ihm kommt, für den Teufel an- 
sehen; im ersten Falle wäre es nach Vrf. eine Hallucination, im 
letztern eine Illusion, in beiden ist aber die irrige SinnesvorsteU 
lung wesentlich dieselbe. Wesentlichen Vortbeil hätte es aber 
gewährt, wenn Vrf. unterschieden hätte: 

1) Sinnestäuschungen aufser uns bewirkt, z. B. beim Sehen 
iVs Wasser. 

2) Sinnestäuschungen in den llülfsörganen der Sinne begrün- 
det, z. B. Zungenbeleg, — Geschwür auf der Hornhaut, Blut in 
der vordem Augenkammer ; — Doppelsehen beim Schielen. 

3) Sinnestäuschungen in Sinnesnerven begründet, z.B. mouches 
völantes. 

4) Sinnestäuschungen im Gehirne, und 

5) etuilich solche in andren Seelenvermögen , z. B. durch 
Furcht im Gemfi die begründet. 

Dadurch ist es denn auch nicht zu verwundern, dafs Vrf. 
im zweiten Hapitel , wo er eine Menge von solchen Erscheinun- 
gen aus vielen Schriftstellern gesammelt hat, diese nur nach der 
Beihenfolge der Sinne sonst aber ohne alle Ordnung als eine 
rodis intligestac|ue inules mitt heilt, und die meisten auch so ab- 

gerissen, dafs sie aui diese Weise wenfg wissenschaftliche Aus- 
eute geben können. 

Dieser Fehler wird einigermafsen wieder gut gemacht in den 
folgenden Abschnitten über die entfernteren, "näheren und näch- 



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1212 



sten Ursachen der Sinnestäuschungen, aber auch die Sitze, welche 
Vrf. nachträglich , wo er seine eigne Meinung über die nächste Cr- 
aache der Sinnestäuschungen abgeben will, p. ai5, aufstellt, zei- 
gen , dafs er in die Vorgänge bei der Bildung sinnlicher Wahr- 
nehmungen nicht gehörig eingeweiht ist, um diesen speciellen 
Gegenstand gehörig zu behandeln. So stellt er p. «16 die allge- 
meine Behauptung auf : „ die Erregung der Sinnesempfindungen 
bestimmt zugleich die entsprechende Erregung des Bewu(stsevns. u 
Diefs ist aber keineswegs so unbedingt der Fall; z. B. die Aus« 
dehnung, in der von einem Bildchen die Netzhaut afticirt wird, 
entspricht keineswegs der Ausdehnung , welche wir dem gesehe- 
nen Gegenstande in der Torstellung zuschreiben. Näher erörtert 
findet sich diese Bildung der sinnlichen Wahrnehmungen , welche 
in Bezug auf die dabei stattfindenden psychischen Tbätig keifen 
auch Tourtual schon besonders gewürdigt hatte, in Ref. Abhand- 
lung über die Bildung der Gesichtsvorstellung aus der Gesicht*. 
empfindung. — < Nichts desto weniger und trotz einzelner Irrthu- 
mer, z. B. die Aufführung des Stickstoffoxydulgases einmal unter 
dem Namen Sal[tetergas, einmal unter der richtigen chemischen Be- 
zeichnung ( p. 1 58) als zwei verschiedener Gasarten , welche wir 
ubergehen, ist doch die ileifsige Arbeit dem, welcher sieb näher 
mit diesen Gegenständen beschäftigt , interessant, wenn auch an 
und für sich noch kein klares Resultat zur Aufnahme in die An- 
thropologie, Physiologie, Psychologie, Psychiatrie , Wedicin daraus 
hervorgeht 

Heermann. 



flrtvi» in \ov. Testament um Commentarim cur* «efeettt proe- 
$tanti»simorum Theotogorum sententü$. Particulai continen» 
Mat thaeum. Auetore M. Fried. Aug. Adolph. Naebc, Diac. ap. Re- 

giülopidente*. Up». 6c» Schumann t»31 2*2 S. in 0. 

Lateinisch abgefafst kann dieser Commentarius perpetuus ein 
Mittel werden, die verschiedenen Versuche und Fortschritte der 
deutschen Exegese auch im Ausland bekannter zu machen. Diese 
werden viel vollständiger angegeben , als in dem De Wetteschen 
„ kurzgefaßten exegetischen Handbuch." Im Druck konnten sie 
wohl näher zusammengeruckt werden , um den Preis dem De Wet- 
teschen näher zu stellen. Gegen das Ende scheint der Verf. ab- 
gekürzt zu haben. Gerade dort aber erscheinen manche wichti- 
gere Fragepunkte. Und Gleichförmigkeit ist überhaupt das Er- 
wünschtere. Bei 27, 5o. atpnxt xo wvtvfi« wird p. s3o bemerkt: 
Notisstmum est, alios statuisse veram mortem, alios syncopen. De 
bis ex nostra quidem sententia veri. Paulus rem optime exposoit. 
Es wird defswegen ein wortlicher Auszug aus dem Commentar 
des Ree. gegeben. Ich wünschte, dafs der Verf. die neue Aus- 
gabe des Commentars, welche unter dem Titel Exegetisches 



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Theologie. 



Handbuch teil |833 ausgegeben ist and sehr viele Zusätze and 
weitere Bearbeitungen enthält, benutzt haben rauchte. Abkür- 
zungen sind freilich, wenn alles nach den wenigen Jahren der 
Universitätsstudien bemessen wird , angenehmer. Aber ist maa 
denn Theolog and tüchtiger Kirchenlehrer, wenn man nur unge- 
fähr so weit den Quellen der Urgeschichte des Christenthums 
nachgeht, als es der nichtangelehrte Laye auih vermöchte. Sich 
in die Zeit - und Ortsumstände und die orientalische Denkart so, 
wie es die philologisch* historische Hermeneutik fordert, hinein- 
zuversetzen, giebt mein Handbuch selbst dem, der nicht vom 
rationalistischen Stand nunet ausgeht, die britischen und exegeti- - 
sehen Data für ein selbstständiges ürtheil so umfassend, wie es, 
seit seiner Erscheinung vor fast 40 Jahren, nirgends sonst ge- 
schehen ist« 

Es kann mir nicht anders als erfreulich seyn, dieses auch an 
mehreren Stelleo von dem Verf. anerkannt und bemerklieb ge- 
macht tu finden , wie p. 223. zur Frage : ob Jesus das Pascha- 
lamm so, wie die damaligen Juden, und nicht an einem andern 
Tage, gegessen habe? Die Frage entscheidet sich ganz dadurch, 
dafs ja gar kein Paschalamm zu haben war, ohne dafs es i m 
Tempel am 14. Nisan, vor Anbruch des mit dem Sonnenunter- 
gang beginnenden i5. Nisan, geschlachtet war. Auch wenn 

Marli. 14, 12. Coli. Luc. 22 , 7. das Ott TO TKxoyjx t§vov yon den 
Jüngern verstanden wird, so war doch kein solches Svttv 
anders als am i4> und im Tempel möglich. Eben des- 
wegen können auch die Juden, seit der Tempel zerstört ist, 
kein Pa5chalaram essen, wenn sie gleich „sein GedächtnifsmaP 1 
feiern. 

Zu Matth. 14, 20. wird wegen Erklärung der zwei Speisun- 
gen als Mythen bemerkt: Si optio datur, potius cum Dr. Paulo 
faciamus, qui certe /actum aliguod historicum relinquit, e quo 
muUx) facilius hoc miraculum nasci potucrit. Die jetzt kräftig auf- 
geregten Untersuchungen werden klar machen, dafs die ratio- 
nale = bei allen andern Begebenheiten und Ueberlieferungen 
geltende Exegese und Beurtheilung zwischen den Extremen der 
transcendent- supernaturalen und der mythischen in jener Mitte, 
steht, die das gute Vorurtheil der Wahrheit für sich hat. 

0 

Der deutsche Salome Metrisch. Oder Geist der Salomonischen 
Poesie in möglichst wortgetreuen, grofsentheils gereimten deutschen 
Fachbildungen, vdn M. Imman. Hoch. Karlsruhe bei Chr. Fr. Mül- 
ler. 128 £ in 8. 1837. 

Der Verf. (jetzt zu Heslach bei Stuttgart) betrachtet alle 
nach Salomo benannte Bücher des A. Bundes als Sammlungen 
von Volksgedicbten, wie sie im Orient von natürlichen 
Rapsoden zur Unterhaltung bei Hochzeit- und andern Fest malen, 
auch tagtäglich in den öffentlichen Caffeebäusern vordecUmirt 
oder auch vorgesungen werdet wahrend der an Spazierengehen 



2214 



Theologie. 



■ 

nichtgewohnte Morgenländer, bei den langen, durch den Wasser, 
topf geleiteten Tabakspfeifen ruhend , zuhorcht und das Farniente 
Jtaum durch einige Ausrufungen unterbricht. Dergleichen frag- 
mentarische Unterhailungen auch bei den Joden vorauszusetzen , 
ist nichts allzuwillkührliches. Darüber kann Ree dem Verf. einen 
vollständigen Beleg nachweisen. Als Anhang zu Steph Rittange- 
lii Libra Veritatis et de Paschate tractatus (Pranequerae 1698. 8) 
ist gedruckt als Seder Haggadah Schael Pesach oder Liber Pa« 
schalium rituum, eine Beschreibung von dem ganzen Verlauf dea 
Paschamals. Ist gleich in derselben S. 56. schon das Vorhanden- 
sein der Mischna in sechs Abschnitten angedeutet , so gehört den- 
noch diese Andeutung nur in ein eingeschaltenes Scherzgedicht 
und kann also nicht etwa eine Neuheit des Rituals selbst verra- 
then. Vielmehr ist kaum zu bezweifeln, dafs wir in dem eigent- 
lichen Seder vieles aus dem alten Ritual, welches wegen der all- 
jährlichen Wiederholung sich wahrscheinlich immer sehr gleich 
blieb, beibehalten finden können. Auch hier nun finden sich nicht 
nur mehrere eingemischte Lieder, sondern gegen das Ende zu- 
gleich S. 55—67. manche scherzende Sentenzen und Witzspicle 
als unterhaltende Zugaben der Festlichkeit. 

Wie Hr. M. Hoch sogar den Hobelet als ein solches Frnst 
und Scherz mischendes Symposium sich zu denken vermocht hat, 
müssen wir bei ihm nachzulesen bitten. Daruber allgemeinere 
Beistimmung zu erhalten, mochte wohl das Schwierigste sevn. 
Indessen bleibt, wo die Entstehungsart gar keine Tradition für 
sich hat, jeder Erklärungsversuch beachtungswerth. Bei der 
Sammlung der erotischen Lieder, Hoheslied genannt, ist die Vor- 
aussetzung eines irgend dramatisch geordneten Ganzen am wenig- 
sten wahrscheinlich, und die Auflösung in einzelne Lieder und 
Liederchen fast unvermeidlich. Auch aus den Provcrbien ist man- 
ches ausgehoben und Ps. 45 nebst dem is-rsten als Salomonisch 
übersetzt. Die Texte versteht der Verf. Ob er aber bei der 
Umsetzung in den Volkston nicht öfters mehr das Kräf- 
tige und Gedrängte und Würdigste hätte suchen sollen , darüber 
wird er wohl in der Zukunft sich selbst ein strengerer Beurthei- 
ler werden. Auch aus Horas sind vergleichbare Stellen der 
Übersetzung des Kohelet angehängt. Die Dedication an den 
verehrungswürdigen von Wessenberg ist, denke ich, für 
den Verf. die grofste Aufforderung , seine Arbeiten zu der mög- 
lichsten Correctheit zu erheben. ( 

, Mai i83 7 . 

La Bible, traduttion nouvellc , avee l'hibrev en retard, tie- 
compagni de» pointsvoyelles et den arrens toniques ( 1*113*33 ) avee de$ 
not et p h Hol 0 » 1 7 ti e .<? . ge'ographiqnes et littiraires , et les 
prineipales v ariant et de la Version des septante et du 
texte s n maritain ; Par S. Cohen, direrteur de l'ccolc israi' 
Ute de Paris. Pentateuque Tome troisieme. Le Livitique. 
Paris 1882. 8. $. XVI. 192. Tome IV. Les Nombres. Accom- 
pagne de riflexion* sur le rufte des ancien* hebreux. Par S. Münk. 

• 

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Theologie. 2215 



Parti 1833 S. 175 u. 78 und 14. 8. Tome V. Lt Dcutcronume , 
«ut'vi (Pune note cur /et Samarit ain»$ par VAuteur de la Noticc tur 
lt Calendrier talmudique. 

Dieses, der Unterstützung sehr würdige Werfe, für welches 
schon eine aufmunternde Anzeige in unsern Jahrbüchern gerne 
Zeuge geworden ist, beweist nicht nur den erwünschten Fort- 
gang der Herausgabe, die in Frankreich, wo diese Studien sel- 
tener sind , ein doppeltes Verdienst hat. Auch die Bearbeitung 
selbst ist der Vollkommenheit näher gebracht, indem der Verf. 
der Begründung der Bedeutungen immer mehr seinen gelehrten 
Fleifs widmet. Im Priesterbuch ist auch für unsere Beligions- 
lehre das, was den Zweck und Sinn der Opfer betraf, erneuer- 
ter Aufmerksamkeit werth. Es ist wichtig , was auch in der Note 
zu 5, i. wohl bemerkt ist, dafs die sogenannten Sundopfer nicht 
für wirkliche Sünden, noch weniger für Verbrechen darzubrin. 
gen waren Der Verf. übersetzt fi}303 involontairement. 
Es bedeutet genauer den Gemüthszustand der Unbedachtsamkeit, 
wo aus Unwissenheit oder auch aus leidenschaftlicher Ueberei- 
lung eine Abirrung vom rechten Wege, d. i. eine chataah ge- 
schehen ist Von einer solchen „Vergehung" kann man später sich 
bewufst werden, dafs sie zwar Unrecht sey, aber ohne Schuld 
begangen war, wenigstens nur aus einer vci meidlichen Nachläs- 
sigkeit geschehen sey. So war und heilst sie alsdann DÜfcfc Des- 

wegen ist dieses Wort vom Verf. auch richtig durch culpabilite 
übersetzt. Ich "wundere mich deswegen, dafs Hr. Münk in einer 
übrigens kenntnifsi eichen , dem 4ten Band angehängten Abhand- 
lung S. 35. den Ausdruck der Babbinen nicht berichtigt, wenn 
dieselben annahmen, dafs auch für un crime geopfert worden seyn 
könne. Sogar der Ausdruck peche oder Sünde ist nicht genau, 
weil ohne vorausgegangenes Wissen des Unrechts die Veritrung 
oder das delictum doch noch nicht eine Sünde zu nennen 
ist. Die ganze althebräische Geschichte, namentlich die von 
Davids Betragen gegen Uriah und Batseba, hätte längst den 
theologischen Bibelerklärern beweisen sollen, dafs der Hebräer, 
viel richtiger als der Heide , längst von der Meinung losgemacht 
war, wie wenn man wegen eigentlicher Sünden oder 
sogar wegen Verbrechen Gott durch Opfer ve^r söh- 
nen könnte oder sollte. Der von Mose eingeführte Cult war 
hierin viel gotteswürdiger, als das, was die Kirchenväter, doch 
erst im dritten Jahrhundert, aus den heidnischen Begriffen von 
blutigen Opfern auf die allerdings sehr wichtige Aufopferung 
Jesu als Messias für die güttliche Sache der bessern Beligiosität 
(Hebr. 9, 14. i5.) ubertrugen. Im Neuen Testament kann die 
Meinung, wie wenn ein blutiges Opfer zur Versöhnung Gottes 
wegen Sünden nöthig gewesen wäre, nicht einmal als Accomo- 
dation nach jüdischen Begriffen gedacht oder eingeschoben wer- 
den, weil die Juden jener Zeit diese Meinung nicht hatten und 



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Theologie. 



nach Mose und den Propheten nicht haben konnten nib bedeu- 
tet eine Bedeckung. Wo dieses Wort gebraucht ist, liegt 
also die Metapher des Zudeckens zum Grunde, nicht die Tom 
Versöhnen des $orns oder der Gerechtigkeit Gottes. Beweist 
der, welcher sich hintennach einer begangenen Verfehlung bewulst 
wird, seine Reue durch den Verlust, den er sich selbst in der 
Hingabe eines freiwilligen Opfers auflegt, so wurde dadurch nach 
Moses Gotteslehre gleichsam eine Decke über die Verfeh- 
lung gelegt. Sinn: Gott nimmt darauf nicht mehr Bücksicht. 
u<p ir;ai = er läßt sie hingegangen seyn. Deswegen ist auch 1£3 

immer mit Vj? construirt. Es bedeutet ein Ueberdeeken. La- 

ther, als er so sehr auf freies (versteht sich's; gewissenhaft freies) 
Fortschreiten in der Bibelerklärung drang, fühlte nach seinem ah« 
nenden Scharfsinn wohl, wie viej Unrichtiges aus der Ignoranz 
der Kirchenväter auf seine Zeit noch ubergegangen war und nicht 
schnell gebessert werden konnte. Hat man 17 Jahrhunderte hin- 
durch dogmatische Hypothesen aus dem patriotischen oder auch 
rabbinischen Standpunkt in die Bibellehre hineingetragen, so mufs 
ein Festatehen auf dem philologisch - historischen Standpunkt erst 
eine Zeitlang wirken , ehe jene Nebel u,nd Bedeckungen durch- 
schaut und gehoben seyn können. 

Wir freuen uns , zugleich anzeigen zu tonnen , dafs diese 
gelehrte und interessante Bearbeitung des \. Testaments auf 
gleich gute Weise schon i836 bis zum siebenten Tome 
fortgeschritten ist. 

Psaltrrium Hcbraicum in vtum tcholarum edidit , textum teeundum optima» 
editionei Heiden heimiannm, Sortiunum, Meselianam, AI humum , Hoog- 
thianam aHwtque arem atisshnc reeognovit vocQbuiarioyu» inttruxti Jo. 
U. Ä Bioenthai, lierolmi. 1837. ffoi Th. Bade. M 5 im IX 

Welch schone Gelegenheit hätte Hr. B. gehabt, die Psalmen 
nach Strophen Abdrucken zu lassen und dadurch schon die 
Schuler an eine richtigere Ansicht dieser althebräischen Schrift- 
reste zu gewöhnen. Wie viel gewinnt dadurch die neue Psalm- 
ubersetzung von Prof. Koester zu Kiel (Königsberg b. Bornträ- 
ger 1837) dafs sie in ihrer strophischen Anordnung dargestellt 
ist Eine Becognition nach den genannten Ausgaben kann 
wenig zur Berichtigung beitragen. Wenigstens die bedeutend- 
sten Varianten aus deBössi, Kennicott und den LXX nach Holmes 
hatten, unter den Text gesetzt, dem Abdruck einen eigenen 
Werth und den Lehrern Gelegenheit gegeben, auf diesen Tb eil 
der philologischen Kritik aufmerksam zu machen. 

Paulus. 



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N°. 77. HEIDELBERGER 1837 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 



ÜBKRSKTZl NGSUTERATUR — SCHUI-SCIIRIFTEN. 

isokratet Pane gyrikus. Aua dem Griechischen übersetzt und mit den 
nÖthigsten Anmerkungen vergehen von Dr. J. floffa, Privatdocenten 
an der Universität tu Marburg. Marburg, bei /V. G. Elvert. 183«. 
IV und. 92 & in 8. 

Der Verf., dessen früher erschienene Übersetzung der Lob- 
rede des Plinius in diesen Blättern seiner Zeit mit dem gebühren- 
den Lobe angezeigt worden (s. Jhrgg. i834 S. n43), übergiebt 
uns hier einen ähnlichen Versuch der berühmten Lobrede des 
Isokrates, die allerdings durch die einfache, natürliche, unge- 
zwungene Darstellungsweise, welche darin durchweg vorherrscht, 
auch einem Übersetzer es möglich machen konnte, seiner Über- 
setzung den Anstrich grosserer Leichtigkeit zu geben , als die oft 
gezwungene, geschraubte und gekünstelte Sprache eines Plinius, 
so sehr dieselbe auch Muster für Alle die geworden ist, die nach 
Plinius in der römischen Welt in ähnlichen Darstellungen sich 
versucht haben. Was der Verf. als Ziel seiner Aufgabe S. IV 
hinstellt: »Möglichste Treue, die bei dem vollen Periodenbau 
des griechischen Schriftstellers zu erreichen gewifs keine leichte 
Aufgabe ist, so wie Reinheit und Verständlichkeit des Ausdrucks 
sind diejenigen Eisenschaften , welche man dieser Arbeit zu ge- 
ben sich bestrebt hat « , — das hat er auch möglichst zu errei- 
chen gesucht. Ref. hat die Übersetzung sorgfaltig durchgangen, 
und mit dem Original verglichen; er bat sich daraus uberzeugt, 
wie der Übersetzer , ohne sich besondere Freiheiten zu gestatten, 
möglichst treu an den griechischen Text anschliefst, und dieses 
Meisterwerk griechischer Beredtsa'mkeit auf eine Weise wieder- 
sieht, die auch dem des Originals Unkundigen einen Begriff von 
der Darstellungsweise sines Isokrates, von seiner einfachen, aber 
gefälligen und wohlgerundeten, durch einleuchtende Grunde über- 
zeugenden Redeweise zu geben vermag. Der deutsche Ausdruck 
ist durchaus klar, einfach und wohl verständlich, er gefällt sich 
nicht in der Nachbildung griechischer Constructionen und Wen- 
dungen , die nun einmal dem Genius unserer Sprache zuwider 
sind, und daher hemmend und störend wirken können. Wir 
haben Nichts der Art in dieser Übersetzung, die sich vielmehr 
recht gut liest, bemerkt, und glauben sie darum auch füglich 
als Führer bei Privatstudien empfehlen zu können. 



XXX. Jahrg. 12. Heft. 



11 



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1218 



tjbcrictzuDcaliterat ur . 



Homer' s Werkt, ubersetzt, mit einer Einleitung und erklärenden An» 
merkungen versehen von Ernst Schaumann. fünfzehntes Bandehen- 
Odyssee X, XI. XII. 159 S. Sechszehntes Bändchen, Odyssee XIII. 
XIV. XV. 142 S. Siehenzehntes Bändchen, Odyssee XVI. XVII. XFIII 
1S6 S. Achtzehntes Händchen, Odyssee XIX. XX. XXI. 128 & iVew- 
zehntes Bändchen, Odyssee XXII. XXIll. XXIV. 148 Ä i. 12. Frenz- 
lau, Druck u. Verlag von F. IV? Kalbergs Buchhandl. 1836. 

Auch mit dem weiteren Titel : 

Übersetzungsbibliothek der griechischen und römischen Klassiker. Erst* 
Abtheilung. Griechische Dichter (Homer*» Werke). XIX-XX1H. 

Mit diesen fünf Bändchen ist die* Übersetzung der Odyssee, 
die sich an die der Ilias anschloß , nun vollendet. Indem wir 
auf unsere früheren Anzeigen verweisen (Jhrgg. »834 8. 407 und 
i836 S. 616), können wir hier nur bemerken, dofs die in diesen 
Anzeigen ausgesprochene Erwartung hinsichtlich der Vollendung 
des Ganzen auf eine recht befriedigende Weise in Erfüllung ge» 
gangen ist, und dafs der Übersetzer keine Muhe gescheut hat, 
seinen Werke die möglichste Vollendung, dem beabsichtigten 
Plane gemäfs, zu verleihen. So ist zwar in der Anlage des Gan- 
zen , in Ton und Farbe und Charakter die Übersetzung den frü- 
hern Tbeilen gleich geblieben und mufste es wohl ; aber man wird 
doch leicht im Einzelnen die gröfsere Feile und das Streben des 
Übersetzers nach immer grosserer Abrundung und VoJJrndung 
erkennen. Auch hier geht jedem einzelnen Gesang eine sx>r&fäU 
tige und genaue Inhaltsangabe oder Übersicht voraus, und Winter 
jedem Gesang stehen die kurzen erläuternden Bemerkungen, wie 
solches auch bei den frühem Bändchen schon der Fall war; am 
Schlüsse des Ganzen aber ist ein reichhaltiges und ausführliches 
Register hinzugekommen. 

Apninn'» Römische Geschichte, übersetzt und mit Anmerkungen uer* 
seLeu von Gustav Gcifs. Erster TheiL Leipzig, bei Cht. E. hoU- 
mann. 18*1. VIII u. 528 & m gr. 8. 

Die jetzt gewifs und mit Recht immer mehr anerkannte Wich- 
tigkeit Appians für die Geschichte Roms mag der nächste Grund 
und die Veranlassung zu dieser neuen Übersetzung sejn , welche 
^ exl '"oglichst treu in einer einfachen, schlichten und ver- 
ständlichen Ausdrucksweise wiederzugeben , ihn an schwierigen 
Stellen durch erklärende Bemerkungen oder historische Nachwei- 
sungen aus anderen Schriftstellern, in Noten unter dem Text, zu 
erörtern, oder auch an einzelnen verdorbenen Stellen- zu verbes- 
sern sucht. So wird für den historischen Gebrauch diese Über- 
setzung, da sie wirklieh getreu ist und sich im Ganzen gut Gest, 
nicht ohne Nutzen seyn ; auch ist Druck und Papier ganz befrie- 
digend ausgefallen. Der vorliegende erste Band enthält die Bruch- 
stücke der fünf ersten Bücher oder der Geschichte der Konige, 
der italischen, samnitischen , celtischen und sicilianischen Geschieh- 
te; dann folgt, was. vom sechsten Buch oder von der iberischen 



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Übersetzung! ileratur 1219 



Geschichte da ist, dann das siebente Buch oder dar Krieg gegen 
Hannibal , nnn die Bruchstucke der libyschen and numidfschen 
Geschichte oder des achten Buchs, des neunten oder der mace- 
donischeo Geschichte, an welche dann als zehntes und eilftes 
Buch die syrische Geschichte and der Krieg mit Mithridates sich 
anschliefst. Der Übersetzer hat nämlich , wie er auch am Schlufs 
seines Vorwortes ausdrücklich bemerkt, der gröfseren Einfachheit 
wegen die noch vorhandenen Bucher in einer Keihe fort gezahlt, 
und die syrische Geschichte als zehntel, die mithridatisebe als eilf- 
tes und die illyrische als zwölftes Buch bezeichnet, obSchon die 
beiden ersten ihm allerdings eine spatere Stelle eingenommen zu 
haben scheinen and die Stelle der illyrischen Geschichte sich nicht 
bestimmen lasse. Noch bemerken wir, dafs jedem Buch ein ge- 
naues InhaltsVerzeichnifs der einzelnen Capitel torausgeschickt ist. 

Sophokles König Oidipua, übersetzt und in Abhandlungen und An- 
merkungen erklärt von Friedriek Stöger. Mit Berichten und Pro- 
ben von einigen englischen und französischen' , einer italienischen und 
einer spanischen Übersetzung dieser Tragödie. Stalle , Druck u. Verlag 
von Karl Grunert. 183Ö. 204 & in 8. 

Schon der eben aufgeführte Titel zeigt, dafs wir hier etwas 
mehr erhalten, als eine blofse Übersetzung eines durch Inhalt und 
Form gleich ausgezeichneten sophokleischen Stucks. Es geht 
nämlich der Übersetzung voran zuerst eine Untersuchung über 
die Zeit, in welche diese Dichtung fällt, nach dem Vi. die Zeit 
hald nach der grofsen Pest zu Athen, zwischen Olymp. 87, 4 
und 89, 1 oder 429 — 424 vor Chr.; zu diesem Zweck InTst der 
Verf. die Schilderung der Pest aus Thucydides und Anderes fol- 
gen, was für seine Behauptung 'sprechen kann. An diese Unter- 
suchung schliefst sich eine zweite über den Gesichtspunkt der 
Betrachtung, wo der Verf. ton dem Satze ausgeht: * Sopho- 
kles wollte seine Zuschauer religiös erheben Und sie in ihrem 
Glauben an die ewigen Gesetze der sittlichen Welt Ordnung be- 
friedigen.« (S. 19). Wie gerade dazu die äusseren Zeitumstände 
und Verhältnisse führen und so dem Dichter selbst eine Veranan- 
lassung bieten mochten , wird weiter auseinandergesetzt, und daran 
knüpfen sich allgemeinere Bemerkungen über das sittlich - religiöse 
Element der alten Tragödie, bei denen jeder Leser gern verwei- 
len wird. Darauf folgt mit S. 4a ff. die Übersetzung des Stücks, 
mit möglichster Treue an den griechischen Teil und an die grie- 
chischen Metren sich anschjiefsend , was freilich des Übersetzers 
Geschäft , der auch der deutschen Sprache und dem deutschen 
Ausdruck dabei sein Hecht widerfahren lassen soll, niehtw enig 
erschweren mufste. Wie dies dem Verf. gelungen , mag z. B. 
folgende Probe aus der Anrede des Ödipus Vs. 58 ff. lehren ; 

Ach, arme Kinder! wohl bekannt, nicht unbekannt 
Ist mir, wae brünstig Ihr begehrt; wohl weift ict» ea, 
Ihr alle traoerti diali es ial, ihr Trauernden, 



, ttbersctzungtllteratur. 



Von euch nicht Einer , der so trauerte , wie ich ; 

Denn euer Schmerz bestürmt doch nur den Einzelnen 

Für ihn allein, und keinen Andern: doch in mir 

Klagt meine Seele um das Volk, um mich und dich, 

80 da Ts nicht aus dem Schlaf der Trägheit ihr mich weckt, 

Nein, wisset , Kinder, viele Thränen weint' ich schon , 

Und in der Sorgen Irrtal ging ich manchen Weg. u. ■. w. 

Dieses möglichst treue Anschlichen an die antike Form zeigt sieb 
in gleicher Weise bei den Choriiedern , wo freilich die bemerkte 
Schwierigkeit doppelt hervortritt , und leicht Härten erzeugt, die 
in unserer Sprache sich schwer rechtfertigen lassen. Wir wollen 
auch hier wieder, um unsere Leser selbst urtbeilen zu lassen, 
ciiic Probe beifugen , und nehmen dazu die zweite Gegenstrophe 
der dritten Scenc (nach der Abtheilung des Vfs. , der das Ganze 
in zwanzig Sccnen eingctheilt hat) Vers 179 (f. : 

Zahllos die Schaar: es stirbt da« Volk! 

Erbarmen, Mitleid fern! Da decken daa Feld die Tod- 

hauchenden [?] Todten ! 

Greisinnen, Mütter darunter und Gattinnen; 
Und Andere dort, an dem hohen Altare 
In banger Noth 

Aufjammern und flehen um Hülfe : 

Ea flammt der Päan 

Und mithallen die klagenden Laute ! 

Darum, o Tochter von Zeus, o du goldene, 

Holdsel'ge, sonder Rettung? 

(Dritte Strophe) Den argen Feind Area, 
Der sonder Erz und Schilde nun 

Mich brennt , und rings umschricen auf mich anatürmt 
LaTs wenden schnell den Lauf zur Flucht aus Vaterlands 
Gebiet , zu der raumigen 
Wohnung Amphitrita'a u. a. w. 

Oder die dritte Gegenstropbe. Vers 207 ff. 
. Lykeios! Herr! o dal« 

Von deines Bogena goldnem Strang 

Die unbesiegten Pfeile auf ihn fahren, 

Errettend abgezielt! — Anruf ich Artemi* 

Lichtbrände [Y]; mit welchen sie 

Lykia's Mohn durchjaget, — 

Auch ihn, den mit Golde gekrönten 

Namenshort des Landes, 

Den glüh'ndcn Bucchos Euins, 

Der Mainaden Heigenfreund, 

Von Lichtglanz der Fackel 

Umstrahlt, zu nab'n entgegen 

Dein Gott , dem Entehrten vor den Göttern ! 

So konnten wir noch andere Stellen anfuhren, in welchen uns 
ähnliche, aus dem Bestreben möglichster Treue im Wiedergeben 
der antiken Form, hervorgegangene Härten vorgekommen sind, 
die wir nicht gegen den Vorwurf zu vertheidisen wüfateo, dafs 
sie dem Genius und den Gesetzen unserer Sprache zuwider seren. 
Wir wollen übrigens darüber mit dem Verf. nicht rechten, der, 



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Übcraetxungsliteratur. 1221 

wie selbst eine oberflächliche Ansicht seiner Übersetzung leicht 
einen Jeden lehren bann , mit ungemeiner Sorgfalt und Genauig- 
keit , sowie mit ausdauerndem Fleifse sein Kunstwerk zu Stande 
zu bringen suchte, da wir durchaus nicht diesen Leistungen die 
gebührende Anerkennung versagen oder des Verfs. Verdienste 
schmälern mochten, zumal da- derselbe , als ein guter Philolog, 
seiner Übersetzung auch eine Reihe von Bemerkungen (S. 141 — 
182) hat folgen lassen, die sich über einzelne, schwierige, dun* 
kele oder verdorbene Steilen des griechischen Textes bald mehr 
bald minder ausführlich verbreiten und in sofern gewifs als ein 
schätzbarer Beitrag zum besseren und richtigen Verstandnifs des 
Stücks und zur Kritik desselben zu betrachten sind. Einzelnes 
davon auszuheben, erlaubt Raum und Bestimmung dieser Anzeige 
nicht. Ein eigenes Interesse gewähren die nun folgenden Beur- 
teilungen und theilweis mitgetheilten Proben von Übersetzungen 
dieses sophokleischeu Stücks in einigen neueren Sprachen. * .Wir 
finden hier drei englische von A. Poller, Th. Franklin und Th. 
Dale aus den Jahren 1788, 17'ji) und. 1824; eine spanische von 
Pedro Estalla vom Jahr -7Q3, eine italienische von Angiolini aus 
1782; eine ältere französische von Dacier von 1692 und eine 
andere von Artaud aus dem Jahr 1827. 

Euripides Werke, verdeutscht von Friedrich Heirieh Bothe. Neue 
Ausgabe letzter Hand. Mannheim , fcrlag von Tobias Löfflcr. 1837, 
8. Erster Band 450 S. Zweiter Band 423 5. 

Die im J 1823 erschienene Übersetzung des Euripides von 
Bothe , obschon nach des Vis. eigenem Geständnifs ursprünglich 
ein Jugendwerk , allein schon damals mit entschiedenem Beifall 
aufgenommen, liegt hier in einer neuen Ausgabe vor uns, die 
gleich der früheren, hauptsächlich die Bestimmung hat, den al- 
ten hellenischen Dichter immer verbreiteter und einem grofseren 
gebildeten Publikum immer zugänglicher zu machen. Darum 
konnte das Bestreben des Ubersetzers nur dahin gerichtet seyn, 
ohne Veränderung des Grundtons und Grundcharakters Einzelnes 
in der Form zu bessern und zu grofserer Vollendung zu brin- 
gen , sowohl im Chorliede wie in dem Dialog. Dafs dies nun. ge- 
schehen ist, wird eine nähere Einsicht in diese neue Ausgabe 
bald einen Jeden lehren b5nnen , da die Spuren der nach, 
bessernden Hand des Verfassers überall hervortreten; und wenn 
ans bei einem Produkte des Inlandes eine nähere Kritik des Ein« 
zelnen nicht gestattet ist, so wird uns doch der gerechte Wunsch 
vergönnt seyn, dafs auch diese neue Gabe eines eben so gelehr- 
ten Kenners griechischer Poesie als geschmackvollen Dichters mit 
dem wohlverdienten Beifall aufgenommen werden möge. Die 
Verbreitung gediegener und kraftvoller Poesien des Alterthums 
auch unter denen , die ihr Beruf nicht zu den klassischen Studien 
des Alterthums geführt hat, ist gewifs das beste Gegenmittel ge- 
gen die Geilst und Sitten verderbende Leetüre, womit jetzt das 



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im Übertetzuagaliterator — SckaUchriften. 

lesende Publikum überschwemmt wird, und wir können uns nur 
freuen, wenn, wie dies in neueren Zeiten geschehen, die Dramen 
des Euripides selbst in grofsern , für ein gebildetes Publikum in. 
Allgemeinen bestimmte Sammlungen auszugsweise Eingang gefun- 
den haben. 

Die bis jetzt erschienenen acht Lieferungen dieser Übersetzung 
des Euripides bilden zwei Bände, von denen der erste »ach fol- 
gende Striche enthalt: Alceste, Andromache, die Haeehant innen , 
der Cjclop, Danoe, Elektra, die Flehenden, die Phönizierinnen. 
Der zweite enthalt: Uekate, Helena, die Herakliden, der wü- 
thende Herkules, Hippoljtus oder Phädra, Iphigenie^ in Aldis. 



Muftloniea. Script* TA. L. F. Tafol. MS. im gr. 4. (Am dem 
Rheinischen Museum besonders abgedruckt.) 

Regiae Uterarum Universitati Gottingenst prima sulemnia saecvlaria diebus 
Xm-XlX Sept. MDCCCXXXrjl agenti gmtulatur Regia Litera- 
rum Vniversilas Tübingens**. Additur De via militari Romano» 
rum Kgnatia qud I llyr icum Macedonia et Thracia junge- 
bantur, Dtstertatio Geographica. Tubingae MDCCCXXXm. Tjpis 
Hopferi de VOrme. 20 S. in 4. 

Die beiden hier angezeigten Abhandlangen Bind als die Fort» 
eetzung der gelehrten Forschungen des VerU. über das alte Ma- 
cedonien zu betrachten, und schlichen sich in dieser Bedienung 
an die schon früher erschienene, auch in diesen Blattern (Jahrg. 
i835 p. 932 ff.) besprochene Monographie ober Thessalonich 
rühmlichst an. In der ersten der hier angezeigten Schriften 
beginnt der Vf. mit einer genauen Untersuchung über den Hafen 
und über den Meerbusen von Thessalonich, wobei er von den 
Stellen der alteren Autoren -allerdings seinen Ausgang nimmt, 
daran aber die Nachrichten der bisher so gut wie gar nicht ge- 
kannten und zu solchen Zwecken benutzten spateren Schriftsteller 
des byzantinischen Zeitalters in seltener Vollständigkeit knüpft, 
und diese dann wieder mit den Berichten neuerer Reisenden ver- 
gleicht, um auf diesem Wege und durch eine solche Zusammen- 
stellung zu möglichst sicheren Resultaten über diese Localilaten 
und deren Geschichte im Laofe der Zeit zu gelangen. Dafs ein 
solches Verfahren in der Behandlang der alten Geographie bisher 
selten eingeschlagen worden , dafs namentlich jene späteren bvzan- 
tinischen Schriftsteller, aus denen doch, wie eben diese Untersu- 
chungen zeigen, so mancher nicht unbedeutende Gewinn gesogen 
werden kann , bisher fast ganz unbenutzt geblieben sind, wird sich 
freilich durch die Muhe und Beschwerlichkeit der Arbeit wohl 
erklären lassen ; wir aber werden um so eher auf diese mit muster- 
hafter Genauigkeit und Gründlichkeit bis ins geringste Detail aus- 
gearbeiteten Forschungen hinzuweisen haben, da der gelehrt« 
yf. keine Muhe gescheut hat, aus den bezeichten Schriftstellern 
die Goldkörner auszulesen, die seinem Zweck förderlich seyn 



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ÜberseUnngslUerutur - 8cltuUc1irirten. 1123 

konnten, und sein Beispiel wohl von Allen denen* beherzigt und 
befolgt werden sollte, die jetzt (and wir haben in neuester Zeit 
manchen schätzbaren Beitrag der Art enthalten) in Monographien 
über einzelne Landschaften und Orte der romischen oder grie- 
chischen Welt ihre Kräfte versuchen. 

Die erste Untersuchung, in welcher auf diese Weise zu 
grofsercr Vollständigkeit des Ganzen und zu besserer Einsicht in 
die Nachrichten der älteren Autoren, die Schriftsteller des grie- 
chischen Mittelalters oder der byzantinischen Zeit berücksichtigt 
sind , beschäftigt sich mit der genaueren Bestimmung einiger 
Flusse des alten Macedooiens in der Nähe von Thessalonich. Wer 
sich nar ewiigermafsen in den Alten, namentlich im HerodotUS 
oder Thucydides umgesehen bat, weifs, welche Ve wirrungen und 
Widerspruche uns in der näheren Bestimmung der dort genann- 
ten Flusse entgegentreten ; er wird darum eine so genaue Unter- 
suchung, wie die vorliegende, mit doppeltem Dank annehmen. 
Zuerst spricht der Verf. von dem Flufs Echedoros, dem Gal- 
liens der Byzantiner, dann folgt die schwierige Untersuchung über 
den Bardarius, oder wie er in älterer Zeit hiefs, Axius, über 
dessen Quellen, dessen Lauf und die Veränderungen desselben, 
über den Namen u. A. , wobei der Verf. keinen, auch den ent- 
ferntesten Punkt bei seiner Untersuchung unbeachtet gelassen hat. 
Er kann sich freuen, jetzt in Vielem die Zustimmung eines Leake, 
der diese Gegenden selbst durchforschte, gewonnen zu haben; 
nur an einer Stelle finden wir in des genannten Leake Travels 
in North. Greece, welche unser Vf. allerdings damals noch nicht 
benutzen konnte, eine abweichende Ansicht; sie betrifft die Stelle 
des Aelianus , Varr. Hist. XV, t, wo Herr Tafel geneigt ist, 
den Flufs 'Aoxpaioq , der allerdings hier den Auslegern schon 
Viel zu schaffen machte, in "A^ioq zu verwandeln, Leake aber 
in dem angeführten Werke T. III. pag. 392 sq. in dem Ast raus 
eine Benennung des Haliacmon erkennen will, dessen auch 
Hr. Tafel in seiner Abhandlung mehrfach gedenkt, sowie er denn 
auch S. 3a noch Einiges über den Flufs Ludias, den Ah flufs 
des Sees von Pella oder Jenidsche, bemerkt. Noch schwieriger 
aber war die Untersuchung über das zuerst gegen Ende des neun- 
ten Jahrhunderts p. Chr. in Macedonien vorkommende Volk der 
Bardarioten — 6 rot» Bap^aptorav Ifrot Tovpxov, wie sie 
in einer Novelle des Kaisers Leo aus dem bemerkten Zeitraum 
heifsen und auch sonst mehrfach in der byzantinischen Geschichte 
vorkommen, einigemal selbst als Hiooai bezeichnet. Diese An- 
wohner des Bardarius erscheinen aber nach der Untersuchung 
des Verfs. als ein turkomannischer , also in der That türkischer 
Stamm, der im neunten Jahrhundert in das griechische Beich 
aufgenommen, nach der in jenen Zeiten minder genauen Aus- 
drucksweise eben so gut IIIpoou wie Torpxo* genannt wird. 

Die zweite mit gleicher Gründlichkeit und Vollständigkeit 
in ganz gleicher Weise abgefafste Schrift verbreitet sich über 
die Via Egnalia , d. b. über die grofsc römische Militärstrafse, 



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1124 



Überset zuiigtlileralur — Svhulschriftcn. 



welche bald nach der Eroberung Macedoniens durch die Römer 
angelegt und immer weiter bis zu einer Länge von wohl zwei- 
hundert Stunden fortgeführt , die Verbindung der jenseits des 
adriatischen Meeres und in Asien gelegenen Besitzungen Roms 
mit dem Mutterlande Italien und mit der Hauptstadt Rom unter- 
halten sollte. Sie gieng von Dyrrachium , dem bekannten Lan- 
dungsplatze der Romer auf der Ostseite des adriatischen Meeres, 
aus , durchzog dann in ostlicher Richtung Illyrien bis nach Ma- 
cedonien, und nahm von Thessalonich , dem Mittelpunkte des 
Ganzen , ihre Richtung in das sudliche Thracien weiter über den 
Hebrus bis Cypsela, an der Ostseite dieses Flusses. Dafs uns 
der Verf. genaue Nachrichten über die Länge, den wug und die 
Richtung der Strafse nach den Angaben der Alten , insbesondere 
des Strabo, da Polybius uns leider hier gerade fehlt, u. A. giebt, 
war zu erwarten ; uberblickt man aber die reichhaltige Übersicht, 
wie sie im zweiten Abschnitt der Untersuchung unter der Auf- 
schrift: Index eorum, qui prisco aevo via Egnatia usi sunt S. 4 Ab- 
gegeben ist, so wird man daraus bald die grofse Wichtigkeit und 
Bedeutung, welche diese Strafse in der Geschichte einnimmt, 
Ton den Bürgerkriegen Roms an bis zu den mit dem vierten 
Jahrhundert beginnenden und nun fast ununterbrochen bis zum 
Tierzehnten Jahrhundert fortgehenden Kriegszügen der byzantini- 
schen Kaiser, oder der Slaven und Bulgaren wie der abendländi- 
schen Ritter und Kreuzfahrer, erkennen, und daraus zugleich 
ersehen, wie alle diese Züge sich doch nur auf den durch Rö- 
merband geebneten Bahnen bewegten! Und Reisende, die, wie 
ein Pouqueville und Beaujour, in der neuesten Zeit einzelne Ge- 
genden, durch welche die Strafse hinzog, besucht haben, stehen 
nicht an, sie die schönste zu nennen, die in Griechenland erbaut 
war , und zwar auf eine so solide Weise , dafs man fast auf je- 
dem Schritte noch jetzt ihre Spuren zu erblicken vermöge ! 

Alles dies, was wir hier nur im Allgemeinen angedeutet, ist 
in der Schrift selbst unter sorgfältiger Benutzung der oben er- 
wähnten , so wenig gekannten und so selten benutzten Quellen 
des Mittelalters ausführlich erörtert und selbst mit manchen an- 
dern Bemerkungen (wie z. B. S. 20. über die Via Appia) gele- 
gentlich begleitet worden. Möchte es neuern Reisenden gelan- 
gen, durch neue Aufschlüsse, an Ort und Stelle selbst eingezo- 
gen, das Dunkel nach und nach aufzuhellen, das über einen 
grofsen Theil des noch so wenig besuchten nördlichen Griechen, 
lands lastet und so den Bemühungen des Verls. , durch gelehrte 
Forschungen aus den Quellen uns ein möglichst vollständiges Bild 
des alten Macedoniens zu geben, die Hand, zu bieten! 



» 



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Überfetsangaliteratur — SchuLchriflcn 1225 

Beiträge zur Geschichte der Studien und de» wissenschaftlichen Unterrichte 
in hiesiger Stadt. Fortgesetzt vom Jahre 1800 — 183? (von Prdfect 
Lender). Constanz. J. M. Bannhard'tcher Druck. 1887. 28 4». und 
85 S. Schulnachrichten. 

Dieses Programm schliefst sich seinem Inhalt nach , als Fort- 
setzung und Schlufs, unmittelbar an die beiden früheren Pro- 

f ramme an, in welchen der H.r Vf. eine vollständige Geschichte 
er in Constanz befindlichen höheren Bildungsanstalt, die unter 
den katholischen Anstalten des sudlichen Deutschlands eine so 
bedeutende Stelle von jeher einnahm, von ihren frühesten Zeiten 
an gegeben und bis zu dem Jahre 1806 fortgeführt hatte. Vgl. 
diese Jabrbb. 1 835. pag. ii3i f. Wenn wir dort diese Schrift 
als einen recht schätzbaren Beitrag zur Geschichte des höheren 
Unterrichts- und Bildungswesens in dem katholischen Suddeutsch- 
land überhaupt bezeichnet haben , so können wir in diesem drit- 
ten Hefte, das die Geschichte der Anstalt unter der badischen 
Regierung bis auf unsere Tage fortsetzt, zugleich ein allgemeines 
Bild der Gestaltung des höheren Unterrichtswesens im Grofsher- 
zogthum Baden seit dem bemerkten Zeitraum bis auf die neueste 
Zeit erkennen, wodurch dieses Programm ein nicht blos lokales, 
sondern ein aligemeineres und aasgedehnteres Interesse gewinnt; 

Wir haben auch diese Beiträge mit gleicher Befriedigung 
durchgangen, und aus ihnen zugleich die gewifs freudige und 
trostliche Uberzeugung gewonnen, dafs in der letzten Zeit, zu- 
nächst seit dem Jahre 1828, in welchem der jetzige Präfect der 
Anstalt (der Verfasser dieser Beiträge) an die Spitze derselben 
gestellt ward , und seit der einige Jahre nachher erfolgten Er- 
richtung einer eigenen Oberstudienbehörde für die verschiedenen 
Lyceen und Gymnasien des Landes, die Verhältnisse der Anstalt 
sich immer günstiger gestaltet haben und bei dem Bestreben der 
Behörden wie der Lehrer, dieselbe zu immer gröfserer Vollkom- 
menheit zu bringen, desto gedeihlichere Fruchte auch für die 
Zukunft erwarten lassen. 

Chr. Bahr, 



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CHRONIK der UNIVERSITÄT HEIDELBERG. 

mm 

I 

- — II, ■ I . - 



Am es. November ward herkömmlicher Weise im der aka- 
demischen Aula das Gebortsfest des erlauchten Restaurators der 
Universität, des höcbstseligeo Grofsherzogs CARL FRIEDRICH, 
gefeiert, womit zugleich die Verth ei lung der akademischen Preise 
yerbunden war. Die von dem zeitigen Prorector, Geb. Radi 
M itter maier, gehaltene und im Druck erschienene Rede han- 
delt : De prtncipio imputalwnh alienaiionum meniis in jure crimts* 
naU rede constiluendo. 

Die Universität verlor in dem abgelaufenen Jahre durch den 
Tod ausser dem Geh. KRatb Daub, dessen schon in der Chronik 
Ton »836 gedacht worden, den Gab. KRath Schwarz und den 
Hof hammerrat h Semer. Von den übrigen Lehrern folgte Privat- 
docent, Bibliothekar Müller einem Rufe als ordentlicher Pro. 
fessor der Mathematik an die Universität zu Zürich; Privatdocent 
Dr. Ühlein verlegte seinsn Wohnstes nach Mannheim. Dr. E. 
Zacharia veriiefs die Universität auf ein Jabr, Rebnfs einer 
gröfseren literarischen Reise. In die theologische Facultät ward 
als ordentlicher Professor und als Director des neu zu errichten, 
den Predigerseminars der Prof. Rothe von Wittenberg berufen. 
In der philosophischen Facultät babilitirte sich für das Fach der 
Geschichte Dr. Hagen. * 

Oberforstrath Gatterer feierte sein fünfzigjähriges Jubiläum 
und erhielt bei dieser Gelegenheit das Ritterkreuz des Zähringer 
Löwen -Ordens. 

Universitäts- Amtmann Christ erhielt den Charakter eines 
Regierungsrathes. 

Geh. Rath Mittermaier ward von der königl. Akademie zu 
Turin zum correspondirenden Mitglied ernannt; Ebendenselben 
ernannte die amerikanische Universität Cambridge bei Roston zum 
»Doctor juris tum naturae et gentium tum civilis, ob summ am 
juris utriusque prudentiam , egregiam scelera jure ratione bumani- 
tateque puniendi peritiam et insignem rerum ad respublicas bene 
constituendas et fauste prospereque administrandas pertinentium 
scientiam. « 



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Dio zoologischen Sammlunsen der Universität haben . ausser 
den aus eignen Fond« bestrittenen Anschaffungen und mehreren 
geringeren Beiträgen, noch einen bedeutenden Zuwachs erhalten 
durch die Gute unseres, von einer nach den Sunda- Inseln im 
Auftrage der holländischen Regierung gemachten zwölfjährigen 
Forschungsreise nach Europa zurückgekehrten Landsmannes, de« 
Herrn Dr. 8. Müller, welchem wir insbesondere viele schone 
javanische und andere exotische Reptilien verdanken. 



, • ... 

• >. 

Von den im vorigen Jahr gestellten Preisfragen waren blof 
die beiden der philosophischen Facultät beantwortet worden. 
Die philologische Frage lautete : 

Exponanlur res Alexandra Polyhistoris , scriptorum ejus fr qg- 
menta ratione st ordins disposita exhibeantur. 

Über die eingegangene mit dem Motto : » Jn magnis voluisse 
sat est * bezeichnete Preisschrif t ward von der Facultät folgende« 
Unheil gefällt s ' 

»Libelli auetor conoprobavit nobis rcl maxime : primum in- 
dustri&ra suam, qua quidquid per plurimo« libros differtur relu 
quiarum hujus Alexandri colligere annisus est Deinde laudamu« 
accurationera rationeraque, quae in apte disponendis borum mo» 
numentorom fragmentis ubivis cernitur. Tertio loco placet acu- 
men ingenü ac sagacitas, quae in critica factitanda ut plurimum 
eminet 

»Cujusmodi virtutes, studia, labores praemio publice rerau- 
neranda judieavit ordo , ita tarnen , ut , si forte in publicum cu- 
piat emittere libellum suum auetor, ei haec tria munera injuncU 
velit: primum diligentiorem investigationera in hujus scriptoris 
indolem, fidem, artem orationemque ; deinde, ut iteratis curis 
circumspiciat commilito, ubi fragmentoruro aliquid latitare videa- 
tur, quod primas curas eflfugerit; denique ut suam ipse oratio- 
nem climare, laevigare comptioremque reddere studeat. « 

Bei Ei Öffnung des versiegelten Zettels ergab sich als Ver- 
fasser: Joseph Rauch aus dem Badischen, Mitglied des philo* 
logischen Seminariums. 

Die andere, historische, Aufgabe lautete: 
Quae de origine foederis Helvctici , de Gessleri ac Teüti rebus 
vulgo traduntur , post Koppium Idclerumque dsnuo disquiran* 

i 



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Chronik der Universität Heidelberg. 



Lur , simulque accuratius quam ab utroque factum est, dispw 
tetur de ßde historica fontium, ex quibus isla narratio ad 
notlra usque tempora ßuxiL * 

Auch für diese Aufgabe war eine Preisschrift eingegangen, 
verseben mit dem Motto aus ThucydiJes : lq uiv äxpöaotv taag 
t6 uij pvSadtq avräv arepnioTtoov qbavtltai. 

Die Facultät fällte darüber folgendes ürtbeil: 
» Auetor hu jus commentationis vim et ambitum quaestionis 
bene perspexit , Scripten es quotquot bac de ic tradiderunt, acca- 
rate collegit, disposuit, percensuit, ita quidem, ut quae a fabulis 
magis quam a justa rerum traditarum ßde pendere viderentur, 
scite indicaret summamque curam adhiberet, ut, quid veri sabesset 
in omni hac narratione, erueret. In quo Ille, ab omni probandi 
aut rejiciendi temeritate aeque alienus , judicii acumen atque sub- 
tilitatem egregie ordini probavit. Quae sola desiderari possant, 
ad accuratiorem carmihum antiquorum fabularumque popularium 
investigationem pertinent aut ad orationem magis magisque Jimän- 
dam ac perpoliendam. Sed cum in reJiquis auetor optime quae- 
stioni praepositae respondisse putandus sit quunique summam di- 
ligentiam atque exiroiam sollertiam tarn in coUigendis croam in 
recte dijudicandis scriptoribus variis adhibuerit, auetorem ho/us 
commentationis praemio ornandum esse censuit ordo philosopho- 
rum. * 

Bei Eröffnung des Zettels ergab sieb als Verfasser: Lud- 
wig Häusser aus Cleeburg, Mitglied des philologischen Seim« 
nariuras. 

« 

— . . . ., 

Für das nächste Jahr sind folgende Preisfragen gestellt: 

I. Von der theologischen Facultät : . 

, Athenagoras Apologela quomodo religio nein chrislianam dejen* 
derit et quid ipsc de singulis ßdei chrislianae capitibus docuerit, 
enarretur x adjecta commenlatione de ejus vita et sertptis.* 

IL Von der juristischen Facultät: ' 

» Historia doclrinae de possessorio ordinario et summario. * 

III. Von der mediciniseben Facultät : 

, De tumoribut in pelvi parlus irnpedimento. * 



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Chronik der Universität Heidelberg. 1229 

IV: Von der philosophischen Facultat: 

i. 9 Iri libris Geoponicorum, qui dicuntur , multa praeeepta , e 
varüs tarn Graecis quam Romanis auetoribus deprompta, vera 
ei utitia cum fahis mixta veperiuntur. Quorum scriptorum 
quaenam sint merila ut inlelligamus simulque perspiciarnus, 

, quaenam ex Ulis vel hodieque aliquem usum praebere possint, 
opus est ut Uli libri sedulb examinentur et secundum eum sta- 
tu m , ad quem rei rusticae" diseiplina nostro aevo provecta est, 
dijudicentur. Itaque postulat ordo philosophorum , ut Geoponi- 
corum Uber secundus ejusmodi examini subjiciaiur accurateque 
illusiretur. 

«... • f v 

a. » Regionis Heidelbergensis locus aliquis, geologica rationc in* 
signis eligatur atque illustretur; quae in eo occurrunl ad mine- 
ralogwm speclantia, accurate exponanlur, cum iis, quae simi- 
lia in aliis regionibus inveniuntur, comparenlur ac dijudicen- 0 
tun — His quaesiionibus qui operam dabunt vernaculi sermo- 
ni$ venia conceditur. 



Von der theologischen Facultat erhielten die Doctor würde 
honoris causa : der von Wittenberg an die hiesige Universität 
(s. oben) berufene Professor Richard Rothe unter dem ?^stcn 
Sept.; Carl Vogt, ord. Professor der Theologie an der Uni- 
versität zu Greifswalde, unter dem 3i. October. 

• • • • • 

* 

Von der juristischen Facultat wurden zu Doctören der 
Recte promovirt : am 5. Februar 1837 Herr Joseph Antoni 
aus Frankfurt; am 4* April Herr Gregor v. Kostahi aus der 
Moldau; am Mai Herr Hermann Migault aus Bremen; am 
34. Mai Herr David Ritchie aus Pittsburg in Nordamerika; 
am 18. Juni Herr Carl Alexander Stahlmann aus Hamburg; 
am 3o. Juli Herr Anton Heinrich Emil v. Oven aus Frank- 
furt a. M.; am 23. August Herr Carl Moritz Wolfgang 
V. Thungen aus Baiern und Herr Paul Calligas aus Smyrna; 
am 36. Aug. Herr Joh. Friedr. Aug. Cropp aus Heidelberg; 
am 3i* Aug. Herr Hugo Friedr. v. Schmerfeld aus Frank* 
furt; am 14. Oct. Heir Leonidas Chrysantopulos aus Agion 
in Griechenland; am 37. Oct. Herr Ferdinand Schrö" tte ringk 
aus Hamburg; am 5. Nov. Herr Alphons Vuy aus Genf. 



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12*0 



Von der medicinischen Facultat Wurden tu Dectertn der 

Medicin, Chirurgie und Geburtshai fo promovirt : am 3i. Jan. 1837 
Herr Ludwig Hüber aus Rastadt; am 12. Februar Herr C. t. 
Langsdorf aus dem Nassauischen; am 14. Marz Herr Wilh. 
Kaufmann aus Heidelberg; am 22. Marz Herr Carl Haas ans 
Dillenburg; am 99. März Herr Adolph Schab sy aus Hamburg; 
am 6. April Herr Mich, II erschul aus Hamburg; am 92. April 
Herr L. Wnittemore aus Massachusetts in Amerika; am 24. 
Juni Herr C. F. Wilhelrai aus Pforzheim; am 26. Juli Herr 
II. J. Mathysen aUs Holtand; am 12. August erhielt Herr Prof. 
Michaux aus Löwen den Crad eines Doctors der Chirurgie; 
am 6. Sept. Herr C. F. J. Neubert aus I in renstein in Sachsen; 
am 12. Sept. Herr J. Dreycr aus Rostock; am 20. Sept. Herr 
E. Meier aus Karlsruhe; am 10. Nov. Herr A. J. Du« bar aus 
Calcutta; am 24. Nor. Herr C. Streiff aus Glarus; am a5. Dec. 
V. Würz ler aus Anhalt - Bern bürg. 

Von der philosophischen Facultat wurden promovirt: 
Herr Heinrich Härtung, genannt Sch wartzkopf , aus Cas- 
sel am 22. Febr.; Herr Hermann Fehling aus Lübeck und 
Herr Franz Moniz, Barreto de Aragone aus Bahia am 18. 
Marz; Herr Joseph Franz Böhlig aus Wotfsmunater Am 9. 
Mai; Herr Carl Friedr. Wilhelm Pauicl, erangel. Pfarrer 
in Ziegelhausen, anri 3o. Juli; Herr Juliui Kran», Johann 
Maria Yuy aus Genf am 25. Aug.; Herr FranZ Josäph van 
Gronckel aus Belgien am 3i. Oct. ; Hers* Salomon Müller 
aus Heidelberg, königl. hol 1 and. Naturforscher, am 21. Dec. 

I ■ 1 " H 

. : 

Verhandlungen der Gesellschaft f«r Naturwissenschaft 

und Heilkunde «1 Heidelberg. 

Am 7. Januar hielt Geh. Hefrat* Munoke einen Vortrag 
über die Eigenthümliohkeit der phytiologiscben Wirkungen der 
durch Induction erzeugten Elektricitat. 

Am 21. Januar las Gelb Hofrath Gmelin eine Abhandlung 
über die Anwesenheit von Quecksilber im Speichel eines stark 



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Cntoaik der Universität Heidelberg. 1231 

seJivirenden Kranken, und Geb. Rath ?• Leonhard über* Zer. 
klüftung der Gesteine and Ute damit in uäobttaa Züßammenhonge 
•iahenden Phänomene. 

* 

Am 4. Februar hielt Geh. Hofrath Chelius einen Tortrag 
über da» Staphyloma der Skleroüca. 

1 

Am 18. Februar theilte Geh. Rath Naegele" einen merk- 
würdigen gerichtlich- med icinischen Fall ton Verwundung einer 
Schwängern mit, nebtt dem Gutachten über die ihm gestellte 
Frage: Ob es möglich sey , dafs die Verstorbene sich die Ver- 
letzung selbst beigebracht? 

• • 

Am 4. Miirz las Geb. Rath v. Leonhard eine Abhandlung 
über die Urbild ung der Erdkruste and deren all mal ige Verände- 
rungen , wobei die aufgestellte Hypothese durch Zeichnungen 
erläutert wurde. % 

Am soften Hai zeigte Geh. Hofrath Gmelin regulinisches 
Quecksilber, welches von ihm im Speichel eines salivirenden Pa- 
tienten gefunden worden. Geh. Rath Tiedemann erläuterte 
vermittelst vorgezeigter Exemplare den Bau des Rückenmarks. 

Am 34. Juni theilte Geh. Hofralh Muncke die Resultate der 
Beobachtungen mit T welche an eingegrabenen Thermometern vom 
Jahre i8ao bis i834 angestellt wurden. 

Am 8. Juli zeigte Geh. Hofrath Gmelin Proben des von 
ihm dargestellten Holzgeistes, und gab die Resultate seiner Un- 
tersuchungen der Bestandtheile desselben. 

Am aa. Juli beschrieb Geh. Hofrath Chelius eine von ihm 
verrichtete Operation der Unterbindung der Carotis bei aneurysma 
varicosum, desgleichen die der Bildung eines neuen Augenliedes. 
Geb. Rath Tiedemann las über die verschiedenen Functionen 
des Ruckenmarks und der davon abhängenden Nerven. 

• 

Am 6. Äug. hielt Geh. Rath Naegelö einen Vortrag über 
die Entstehung der schräg ovalen Becken mit Synoste des 
Kreuzbeines und eines Hüftbeines u. s. w. 



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1282 



Am •<). August, dem hocherfreulichen Gebartstage Sr. Kö- 
niglichen Hoheit des Qroftherzogu war öffentliche Ver- 
sammlung. Der zeitige Diiector, Geh. Rath Tiedemann, er- 
öffnete diese, und sprach zugleich die besten Wünsche für das 
lange Leben des erhabenen Regenten und das Wohl des ganzen 
erlauchten Herrscher - Hauses ans. Hiernach wurde observanz- 
mäfsig die Chronik der Gesellschaft mitgetheilt. Demnächst hielt 
Geh. Rath Tiedemann einen Vortrag über das Gehirn des Ne- 
gerstammes, um die Frage zu entscheiden, ob dasselbe an Form 
und Gewicht von dem der Europäer verschieden sey, und sich 
mehr dem des Orang-Outang nähere, wie manche Gelehrte zur 
Begründung des Urtheils über die untergeordneten geistigen Fä- 
higkeiten dieser Menschen-Race angenommen haben. Aus der 
Untersuchung ergiebt sich als Hauptresultat, dafs zwischen der 
Grofse und dem Bau des Gehirns der äthiopischen und der kaa* 
hasischen Race kein wesentlicher Unterschied obwalte. Endlich 
hielt Geh. Hofrath Groelin eine Vorlesung über den Holzgeist 

Am 18. Nor. hielt Geh. Rath v. Leonhard einen Vortrag 
über das Aufsteigen des kornigen Kalkes mit eingeschlossenen 
vielen und meistens kleinen Brocken im Kohlensandstein. 

• * 

Am 10. Decbr. erläuterte Geh. Hofrath Muncke die Con- 
stitution der von Gaofs erfundenen Magnetometer, and zeigte 

den Unterschied der Anziehung, welche Magnete von verschie- 
dener Construction aasüben. 



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N°. 78. HEIDELBERGER i837. 

JAHRBÜCHER DER LITERATUR. 

I I II A Ii T 

der 

Heidelberger Jahrbücher der Literatur. 



Drei fs igst er Jahrgang. 



(Die vorangehenden römischen Ziffern bezeichnen die Zahl de» Heftes. 

die deutsehen die Seitentakl) 



Adler, die Grabbügel, Ustrinen u. Opferpla'tze der 

Heiden im Orlagau. Von K. Wilhelmi. - - IX. q3i 

Alterthüraer , römische, in der Gegend von Rottweil. 

Von U Wilhelmi. ------ IX. 93i 

Annalen des Advokaten- Vereins za Hannover. 5s Hft. 

Von Zacbaria d. Ält. V. 5oo, 

Amelung und Bird, Beiträge zur Lehre von den 

Geisteskrankheiten, ar Bd. Von Heer mann. - XI. 1134 

Antwort auf die Aufforderung Hrn. Weil's im April- 
heft der Jahrbb. d. Lit. - VIII. 829 

Appendini, Fr. Mar., Esame critico della questione 

im orno alla patria di S. Girolamo. Von Bahr. - VI. 508 

Appian's Römische Geschichte, übers. ?on Geifs. 

Von Bahr. - - - - - • - - XII. 1*18 

Des Apolloniua ronPerga zwei Bücher vom Ver- 
hältnifsschnilt. A. d. Latein, des Hallev übers, von 
Richter. Von Müller. L 110 

Arago, Unterhaltungen aus dem Gebiete der Natur- 

künde, ir Theil. Von MuncUe. - - - III. 289 

Archives, ou correspondance inedite de la maison 
d'Orange- Nassau. Becueil public avec autorisation 
de S. M. le roi par G. Groen van Prinsterer. Tom. 
I — III. Von Schlosser. ----- 1.1 

Aristote, polttique, traduite en Francis par J. Bar- 

the'lemy St. Hilaire. Tome l. et IT. Von Bahr. XI. no5 

XXX. Jahrg. 1J. Heft. 18 



Uigitize 



1234 Inhalt. . 

Aschbach, Geschichte Spaniens und Portugalls zor 
Zeit der Herrschaft der Almoraviden u. Almohaden. 
ater Theil. Von Schlosser. ... . VI. 604 

d'Aumerte, das*Seebad zu Scheveningen. * Von 
Heermann. ------ - X. 1012 

1 Bflbu, der, Lebensbilder aus Ostindien. Aus dem 

Engl, ubers. von K. Andree. Von Schwab. - III. a8i 
Dach mann. System der Logik. Von Fischer. - I. 5a 
Ha co, Fr., Bar. v. Verulam, Versuche moralischen, 
ökonomischen und politischen Inhalt, übersetzt von 
A. Günther. Von Schwab. - - - - IX. 900 
Bader, die Bad. Landesgeschichte. Von Schlosser. VI. 595 

Bagge, Vorschule zum lat. Sprachunterricht. 3. Aufl. 

Von Bahr. - - - - - - - VIL 7«$ 

Bauer, allgemeine Weltgeschichte für alle Stände. 

lr und ar Band. Von Schlosser. - - - VI. 596 
Beiträge zur Geschichte der Studien und des wissen- 
schaftlichen Unterrichts in Constanz. Von Bahr. XII. iaaS 
Beitrag zu der Streitfrage über die jeUige Gymnasial- 

bildong. Von Reuter. - - - - - VIII. 8a 1 
B e 1 h o m m e , considerations sor lappreciatton de la folie, 

sa localisation et son traitement. Von Heermann. XI. na4 
— suite des recherches sur la localisation de la folie. 

Von Heermann. ------ XL ufti 

Beneckc, E. F., Lehrbuch der Logik, als Kunstlehre 

des Denkens. Von Fischer. - I. 6a 

Bericht an die Mitglieder der deutschen Gesellschaft 

in Leipzig i835, 36, 3?. Von Bahr, - . - XL 1141 

Biesenthal, Psalterium hebraicum. Von Paulus. XII. 1216 

Bird, Pathologie u. Therapie der psychischen Krank- 
heiten. Von He er mann. ----- XI. 1137 

Blum rüder, über das Irreseyn. Von Heermann. XI, 11*1 

Brigbain, Bemerkungen über den Einflufs der Ve*- 

Standesbildung auf die Gesundheit. Von Beuter. VIII. 841 

Broicher u. Grimm, Handelsgesetzbuch der preufe. J 

Rheinprovinzen. Von üihlein. - - - I. 89 

Bromel, über die Helvetier und ihr Verhalthils zu 

einer altern Bevölkerung d. Schweiz. V. Schlosser. VI. 595 

Bruckmann, die artesischen Brunnen zu Oberdischin-, 

gen. VonMuncke. - - - - - 1H. 389 

Bülow, E. von, Das Novellenbucb. 4 Thelle. Von 
Keller. VH. 658 



V 

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Inhalt 1235 

* 

C/ohen, la bible, traduction nouvelle. Von Paulus. XII. 1214 
Griechische Chrestomathie für die mittleren Abtheilan- 

aen der Gymnasien, ?on Bäum lein und Pauly. 

Von Bahr. - - - - - - - IX. 940 

The Chronicles of Rabbi Joseph, Ben Joshua, Ben 

Meir ?fi the Sphardi. Vol. II. Von Schlosser. VI. 608 

J. Chrysostomi in Entropium eunuchum etc. homi- 
t Ha ed. Sinner. Von Bothe. - III. 3i3 

Ciceronis, 1VJ. Tullii, disputationes Tusculanae. Kli- 
nisch berichtigt und erläutert von B. Klotz. 

Dasselbe, Schulausgabe. Von Moser. - - - XI, 1084 

CiceronisiuP. Vatinium interrogatio elc. od. Orelli. 

Von Rnhr. - I. 90 

epistolae, ed. Billerb eck. 2ter bis 4ter Band. 
VomBähr. - J - - - - - - VIII. 804 

JJehaut, J., essai historique sur )a vie et la doctriue 

d'Ammonius Saccas. Von Paulus. - - - VI. 029 

Doderlein, L., lateinische Synonyme und Etymolo- 
gien. 5tcr Theil. Von Moser. - - - ) II. 166 
DSU, Lehrbuch der englischen Sprache. - -» IV. 406 

Droys-en, J. G. , Geschichte des Hellenismus. Erster 

Theil. Von As.chbach. -r - - . - - II. 141 

Duntzer, Lehrbuch der lateinischen Sprache. Erster 

Cursus. Von Feld bausch. - - - - X. io34 

Ebermaier^ Bemerkungen über den EinÜufs der 
jetzigen Gymnasialbildung auf d. Gesundheitszustand. 
Von Reuter. ------- VIII. 821 

Eisen Uhr r Lehrbuch der Physik. Von Muncke. III. 289 

Eisenmann, die Hejkjuellen des Kissinger Saalthaies. 

Von Heermann. - - - - .- - X. 1012 

Encyclopcdie des gens du monde. T. VII. Von Bahr. II. 196 

< — x — — T. VIII. Von Dems XI 1141 

Engelken, Fr., die Privat -.Irrenanstalt zu Ober- 

neulaod bei Bremen. Von Roller. - - - I. 67 

Epistolae Bund Ii, Manutii, Longoii, ßembi, Sadoleti 

et Palearii, ed. Grauff. Von Bahr, - - VIU. 8o4 

Euripidcs Werke; übersetzt von F. II. Bothe. 

Von Bähr. ------- XU. i**t 

Eutropii breviarium historiae Romanae , herausgeg. 

vom Ramshorn. Von Feldbausch. - - X. io33 

l^alret, observations sur le projet de loi relatif aux 
atienes. Von Heer mann. - - - Xf. 1124 



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Inhalt. 

■ 

Fichte, J. H., Grundzuge zam Systeme der Philo- 

sophie. ate Abth. Die Ontologie. Von Fischer. V. 417 

Föhliscb, Ansichten über Erziehung und Unterricht 

in Gelebrtenschulen. 1. Samml. Von Schwarz. III, $b5 

Forbes, Abrifs einer Geschichte der neueren Fort- 
schritte und des gegenwärtigen Zustandes der Me- 
teorologie. Von Münch e. - - - - III.' 289 

Fresnel, lettres sur Phistoire des Arabes avant i'lsla- 

misme. Von Weil. - - - - -/ - Vi. 611 

Freund, Wörterbuch der lateinischen Sprache, aten 

Bandes iste Abth. Von Moser. - - - VI. 63q 

Friedemannn, Beiträge zur Vermittlung widerstre- 
bender Ansichten öber Verfassung und Verwaltung 
deutscher Gymnasien. 3s Heft. Von Bahr. - VII. 7*3 

Friedemann, orationes latinae de sebolis et ecclesiis 

regundis. Fasel. Von Bahr. - - - VU. 7*3 

Fritsche, de Theodor i Mopsvestini ?ita et scriptis. - 
Von Paulus. ------- VU. bs5 

(jraitskeU, über Ursachen, Symptome und Behand- 
lung der Geisteszerrultung. Von Heerraanna. XL tist 

Gaudy, F.?., mein Romerzug. 3Thle. Von Schwab. VUL 7 83 

Garzetti, della comlizione d'Italia sotto il governo 

degli Imperatori Roraani. P. I. et II. Von Bahr. VI. 5 7 4 

Geist, griechische Chrestomathie für die mittleren 

Classen. Von Bahr. - - - - - VII. 7*3 

Gemälde , historisch - geographisch - statistisches , der 

Schweiz. 5tes u. i8tes Heft. Von Bau. - - V. 47» 

G frörer, Geschichte Gustav Adolphs, Königs von 

Schweden, und seiner Zeit. Von Schlosser. - VI. 6o3 

Graff, Schulatlas der alten Geographie. Von Bahr. VII. 7«3 

Grashoff, Programm i836. Von Reuter. - - VIII. 821 

Gr authoff, historische Schriften, lr bis 3r Theil. 
Von Schlosser. - - - - VI. 

Gregorii Nazianzeni in Caesarium fratrem oratio fu- 

nebris, ed. Sinner. Von Bot he. - - - III. 3 12 

Gronemann, de militum praetorianorum apud Ro- 
manos historia. Von Bahr. - - - - I. 90 

Grotefend, rudimenta Jinguae Umbricae. Part. IV. 

Von Bähr. ------- VIII. 804 

— die Sanchuniathonische Streitfrage. Von Bäbr. II. 196 



v. Ifta gerne ister, Materialien zu einer Geschichte 
d. Landgüter Liylands. ir Theil. Von Schlosser. VI. 595 



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Inhalt. IUI 

Hagen, die Sinnestäuschungen mit Bezog auf Psycho- 

logie, Heilkunde u. Rechtspflege. Von Heer mann. XI. 1124 

y. Hammer- Purgstall , Gemä'ldesaal der Lebens- 
beschreibungen grofser moslimischer Herrscher der 
ersten sieben Jahrhunderte der Hidschret. ir Band. 
Von Schlosser. - - - - - - |X. o,5o 

Handworterbuch der gesammten Chirurgie, herausgg. 

Ton Walther, Jäger o. Radius, 2rBd. V. Heyfelder. V. 5on 

Härtung, die Religion der Romer nach den Quellen 

dargestellt. 2 Theile. Von Creuzer. - - II. n3 

Hävernich, Handbuch der historisch-britischen Ein* 

leitung in das A. Test, ir Tb. 1. Abth. Von Hitzig. I. 44 

Heer wagen, de P. et L. Scipionum accusatione quae- 

^ stio. Ton Bahr.,. - - - - - - VIII. 804 

Hefele, Geschichte der Einfuhrung d. Christenthums 
im sud westlichen Deutschland, besonders in W in- 
tern b erg. Von Bahr. - - - - XII. 1169 

Heinechen, die freie Stadt Bremen und ihr Gebiet 

Von Roller. ------- IV. 364 

Hergt, die Schwefelquellen und Bäder zu Langen- 
brücken. Von Heermann. - - — - X. 1012 

Herrn an nus, G. , de veterum Graecorum pictura pa- 

rietum conjecturae. Von Walz. - - - III. 209 

Van Heusde, de philosophiae Ciceronis fönte prae- 

eipuo. Von Bahr. - - - - - . I. 93 

— oratio de naturali artium et doctrinarum conjun» 
ctione. Von Bahr. - - - - - - I. 

Heyne , Apollodor , griechisches - Lesebuch. Von 

Feldbauscb. ------- IV. 394 

Hevse, Lehrbuch der deutschen Sprache, 5te Ausg. 

i." 2. Von Moser. ------ IV. 397 

Histoirc de la croisade contre les heretiques Albigeois 
ecrite en vers pro?encaux, traduite par Fauriel. 
Von Prätorius. ------ V1H. 7?3 

Hisloire de la guerie de Mchemed Ali contre la porte 
Ottomane en Syrie et en Asie roineure i83i — 33, 
par MM. de Caldavene et Barrault. Von Schlosser. X. 945 

Hitzig, Ostern und ' Pfingsten , zur Zeitbestimmung 

im alten und neuen Testament. Von Schlosser. VI. 5q5 

Hoch, der deutsche Salome Von Paulus. - XII. 121 3 

Hoffmann, F. W. , die Altertumswissenschaft. Von 

Bahr. - - - VIL 7 23 

Hoff mann, H., die deutsche Philologie im Gründl ifs. 

Von Bahr. II. 196 

Hoffmannn, J. G. , Bemerkungen zum Schutze der 

Gesundheit auf Schulen. Von Reuter. - - VIII. 82s 



99 



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1238 Inhalt. 



Horn er i~ carmina , lecognovit et explicuit Bothe; 
j^Odysseae volum. II. et III. etc. Von Bahr. - VII. 723 
Homer's Werke, übersetzt von Scbaumann. Von 

Bahr. - XIL 1S18 

* * 

Honstedt, die Verpachtung der Landguter in ihrem 

ganzen Umfange. Von Zachariä" d.^Ält. V. 5oo, 

Jahn, Versuche über die praktische Heilkunde« Von 

Hey (eider. - - - - - - - V. 5o© 

Jahrbücher des ärztlichen Vereins zu München, ir u. 

2r Jahrgg. Von Heyfelder. - - - - V. 5oo 
Jahrbücher für Deutschlands Heilquellen u. Seebäder 

heransg. von C. v. Gräfe und Dr. Kaiisch, «r Jhrg. 

Von Hey fei der. - - - - - - VII. ?0 5 

v. Jat he uite in , Böhmens heidnische Opferpla'tze , 

Graber und Alteilhümer. Von K. VVilhelmi. IX q3i 

lbyci^ ftbegini carminum reliquiae, ed. Schneide- 
rin. Von Bothe. ------ IX. 884 

Im an u el, über Lorinsers Schrift zum Schutze der 
Gesundheit aul Schulen. Von Reuter. - - VIII. 821 

John, die Malerei der Alten von ihrem Anfange bis 

auf die christl. Zeitrechnung etc. Von Waf*. - ///. 20g 

lsokrates Panegyricus. Aus dem Griechischen von 

Dr. Hoffa. Vou Bätr. - - - - - XIL 1217 



Äeller, Bücherverzeichnifs der 

in Luzern. ir u. 2r Bd. Von Schlosser. VI. > 5<)5 

Kennedy, Mifs Grace , sämmtliche Werke in 6 Bin- 

den. Aus dem Engl, übers. Von Schwab. - X. qq3 
v. Ke Verberg, vom Königreich der NiedeHande. 

Von Schlosser. - - - - - - II* 177 

Kl über, pragmatische Geschichte der Wiedergeburt 

Griechenlands. Von Schlosser. - - - II. 177 
Konig, über die Seitwärtskrümmung des Büchgrates. 

Von Hevfelder. ------ V. 5oo 

flopp, Denkwürdigkeiten in der ärztlichen Praxis. 

3 Theile. Von Hey fei der. - - XII. 1161 

Kort üm, Geschichte d. Mittelalters. Von Sc hl osser. H. 177 

Kram er, die Erkenntnifs und Heilung der Ohren- 

hranhheiten. 2te Aufl. Von Feist. - - - 11. i52 

Krebs, Antibarbarus der latein. Sprache. 2te Aüll. 

Von Moser. - - - - - - X. 933 

— vita Caroli Sigonii etc. Von Bahr. - - XI. 1142 

Kreuzhage, Mittheilungen über den Einflufs d. Phi- 
losophie etc. Von Sen gier. * - r «„ - VUL 746 



■ 



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Inhalt. 12SU 

m 

Kreuz hag c, über die Erkenntnifs d. Wahrheit. Von 

Sengler. - - - - - - VIII. 746 

Kugler, über die Polychroroie der griechischen Ar- 
chitektur und Skulptur. Von Walz. - - - III. 209 

Kuhn, Jacobi und die Philosophie seiner Zeit. Von 

Sengler. ------- IX. Ö74 

Huhn er, Schulgrammatik der griechischen Sprache. 

Von Moser. ------- IV. 397 

- Harz, das Blumenblatt, eine epische Dichtung der 

Chinesen. Von Bahr. - - - - - II. 196 
Katzen, Periklci als Staatsmann etc. V. Schlosser. VI. 5cp 

Ii ach mann, H.H., die Spartanische Staatsverfassung. 

Von Bahr. ----- y. 459 

Landfermann, commentatio in Quinctiu'ani instit. 

üb. X. cap. 1. §. in j. Von Bahr. - - - 1. 90 

Lane, an account of the manners and customs of tbe 

modern Egyptians. 2 Vol. Von Weil. - - XI. 1080 

Lanza, Principe di Scordia, Considerazioni sulia sto- 

ria di Sicilia dal i532 al 1789. Von Schlosser. IV* 33a 

Lau tesch läge r, Karten der westlichen und 05t liehen 

Hälfte des römischen Reichs. Von Bahr. - - I. 90 

Lee, Untersuchungen über die Krankheiten der Wöch- 
nerinnen, übersetzt von Schneemann. Von Hey- 
felder. - - - - - - -V. 5oo 

Lehmann, deutsche Grammatik. Von Tel d bausch. IV. 394 
Leint, induetions sur la valeur des alterations de l'en- 
ccphale dans le delire aigu et dans la folie. Von 
Heer mann. - - - - - - - XI. 1124 

Opere di Giacomo Leopardi I. Von Botbe. - IV. 4*5 

Let rönne, lettres d'un antiquaire ä un artiste sur 
l'emploi de la peinture historique murale dans la de- 
coration des temples etc. chez les Grecs et chez les 
Romains. Von Walz. - - - - - III. 209 

Leupoldt, Lehrbuch der Psychiatrie. Von Heer» 

mann. - - - - - - - - XI. 1124 

Lewit«, Quaestionum Flavianarum Specimen. Von 

Bahr. - - - - - - - - IX. 940 

Li e bei , de philosophiae in gymnasiis studio. Von 

Bahr. -------- XI. 1141 

Lieberkuhn, de auetore vitarum , quae sub nomine 

Comejij Ncpotis feruntur. Von Feld bausch. - .V. 526 

Lieboldt, die Heilkräfte des Meerwassers, mit be- 
sonderer Berücksichtigung der See-Badeanstalt bei 
Travemünde« Von Heermann. X. 1012 



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1240 



Inhalt. 



Lloyd, Geschichte der Fortschritte und des gegen w 

Zustande* der physischen Optik. Von Manche. ül 38g 

v. Läw, Germanistische Rechtefälle. Von Zacharia 
d - A,t I. 85 

Jiubis, Histoire de la restauration. Tome L et II 
Von Schlosser. x , 

Lucia tu somnium. Cum selectis annotationibus etc. 

ed. GraufF. Von Bahr. - . . . _ y n ^ 



VX 56o 
VF. 558 

705 



oilath, Geschichte des österreichischen Kaiser- 
Staates. 2r Bd. Von Schlosser. - VI. 5^5 

Marbach, Ober moderne Literatur. Zweite Sendung. 

Von Schlosser. - - - - - _ yj, Sq5 
Marcard, zur Beurtheilung des National Wohlstandes, 
des Handels und der Gewerbe im Königr. Hannover. 
Von Zacharia d. Alt. - * - . _ 

Maurenbrecher, Grundsätze d. heutigen deutschen 
Staatsrechts. Von Zacharia d. Ält. - 

Mauthner, die Heilkräfte des kalten Wasserstrahls. 
Von Heyfelder. y IL 

Die neue Medea. Ein Roman in 3 Bänden. Von G. 

Schwab. - V. 480 

Meifsner, über schwammige Auswüchse der Veibl. 

Geschlechtsorgane. Von Heyfelder. - . y # 

Memoires de la Socit'te des sciences naturelles ä Neu- 
chate|. Tom. I. Von Bronn. - - - fj. 

Menzel, neuere Geschichte der Deutschen, 6r Bd. 

Von Schlosser. - - m m - VI. 5c;5 

Minnigerode, Bemerkungen üb. den Stand der Ge- 
setzgebung und Jurisprudenz in Deutschland. Von 
Zacharia d. Alt. - 

MittheiluNgen, historisch - antiquarische, herausgegeben 
von der königl. Gesellschaft für nord. Altertums- 
kunde. Von Wilhelmi. ± \ 

Moller, anthropologischer Beitrag zur Erfahrung der 

psychischen Krankheiten. Von Heermann. - XI. 1124 

Monmnenta Germaniae historica. Tom. III. Ed. G. H 

Pertz. Von Knust. - - - _ 1# 3? 

Mühry, Darstellungen q. Ansichten zur Vergleichung 
der Medicin in Frankreich, England uud Deutsch, 
land. Von Hergt. - VIII. 7 63 

— über das Seebaden und das Norderneyer Seebad. 

Von Heermann. ------ X. 1012 



5oo 
»4<> 



!. 85 



XII. 1182 



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Inhalt. 1241 

Muller, Arithmetik and Algebra, nebst einer syste- 
matischen Abhandlung der juristischen, politischen, 
kameralistischen, sowie der im Leben überhaupt vor- 
kommenden praktischen Rechnungen. Von Muller. III. 274 ' 

— die Gesetze der sphärischen Polygonometrie. Von 
Muller. -------- IV. 3 7 4 

Muller, H. A. , Panathenaica. Von Bahr. - - V. 469 

Ma u wer k , Notiz über d. Buch Tohfat ichwan assaFa. 
Von Weil. IX. 885 

Naebe, brevis in novum Testamentum commentarios. 

Von Paulus. - - - - - - XII. 121a 

Nikolai, Gedä'chtnifsrede bei erfolgtem Ableben der 

Herzogin von St. Leu. Von Bot he. - - - XI. 1139 

Nitzscb, meletemata de historia Homeri. Fase. II. 

Pars II. et III. Von Bahr. - - - - V. 45 1 

— — — Fase. It. Pars IV. VI. 62a 

Nizze, über einen neuen Entdeckuogsversuch in der 

Pädagogik. Von Reuter. - - - - VH1. 821 

Nothomb, historisch- politische Darstellung der völ- 
kerrechtlichen Begründung des Königreichs Belgien ; 
übers, von Michaelis. Von Schlosser« - - II. 177 

Nowack, Notizen über die Prager Irrenanstalt. Von 

Roller. L 67 

©ls haiisen, observationes criticae ad vetus testa- 
mentum. Von Hitzig. L 5i 

Orelli, symbolae nonnullac ad historiam philologiae. 

Von Bahr. I. 102 

— lectiones Petronianae. Von Bahr. - - - I. io5 

* * * 

Otto, Grammatik der lateinischen Sprache. Von 

Feldbausch. ------- IV. 394 

Ovidii Metamorphoseon libri XV. ed. Bach. Von 

Bahr. - -- -- -- - I. 90 

J*a Idamus, de repetitione vocura in sermone Graeco 

ac Latino. Von B«hr. ----- VIII. 804 

Pauly, über den Strafsenzug der Peutingerschen Tafel 

von Vindonissa nach Samalocenis. Von Bohr. - I. 9° 

— Realencyclopädie der classischen Alterthumswissen- 
schaft, ir Bd. ite u. 2to Liefg. Von Bahr. - X. io36 

Pfeiffer, praktische Ausfuhrung aus allen Theilen der 

Rechtswissenschaft. Von Uihlein. - - - I. 89 

v. Pfe ilsch i fter , Denkwürdigkeiten der spanischen 
Revolution. Von Schlosser. - - IL 1^7 

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IM lihüit. 

' . « 

Pf ist er, geschichtliche Entwicklung des Staatsrecht* 
des Grofsherzogthums Baden. Erster Theil. Von 

Zachariä dem Alt. L 85 

Phaedri fabulae ed. Bothe. Von Bahr. - - VITI. 804 
Philosophorunx Graecorum reterum operum reliquiae, 

ed. Karsten. Vol. 1. pars 2. Von Bahr. - - III. 319 

Piderit, die kohlensauren Gasquellen zu Meinberg. 

Von Heermann. - - - "X. 1012 

Pinel , Traite complet des alicnes ou roanuel des 

etablissemens, qui leur sont consacres. Von Roller. L 67 

Portal, des coulears syraboliques dans l'antiquite, le 

moyen age, et les temps modernes. Von Bahr. XL m5 

Possart, Grammatik der spanischen Sprache. - IV. 406 

Prieger, Kreuznach und seine Heilquellen. Von 
Heermann. - - - - - - X. 1012 

— Kreuznach und seine Brom- und Jod -haltigen Mi- 
neralquellen. Von Feist - - - - - VIIL 797 



aroadge, die Lungenschwindsucht ist heilbar etc. 
übers, von Hobnbaum. Von Heyf eider. - - V. 975 

— Dasselbe. Von Kam pol d. - - - - X. 5oo 
Raoul-Rochette , peintures antiques inedUes etc. 

Von Walz. - - - - - - HL 209 

Reiche, Beurtheilung des tloftraann'schen Aufsatzes. 

Von Reuter. ------- VIII. 821 

Reinbeck, Reiseplaudereien. 2 Bde. Von Schwab. XII. 1193 

Rettig, de Timaei Platonici initio. Von Bahr. III. 319 

Rhetores Graeci., ed. Walz. Von Finkh. - - IV. $76 

Riesser, Betrachtungen über die Verhältnisse der 

jüdischen Unterthanen der preufsischen Monarchie. 

Von Zachariä* d. Alt. - - - - - IX. 860 

— der Jude. i835. is Heft. Von Zachariä d. A. IX. 860 

— Untersuchung der Frage , ob die kurhessischen 
Kapitalschul Jner durch die ihnen in Napoleons Auf- 
trage ertheilte Quittung von ihrer Schuld befreit 
worden? Von Zachariä d. Alt. - - IX. 913 

BitgenJ, Leitfaden zur Erkenntnifs und Heilung der 

Personlichkeitskrankheiten.' Von Steinheim. - IX. 863 

— Leitfaden für die Erkenntnifs u. Behandlung der 
Persönlichkeitskrankheiten, lr Band. Von Heer- 
mann n. - - - - ' - ' ' - - - XL 1 1 24 

Ritsehl , Ober die Kritil* des Plautus. Von Bahr. VIIL 804 

Röder, Grundzuge der Politik des Rechts, ir Tb. 

Von Zachariä d. Alt. - - - - - V. 609 



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Inhalt. 1248 

Rogers, die^ Freuden des^Gedächtnisses , übers, von 

Di uschi us. Von Schwab. - - . - - IV48$o8 

Die Rolle der Diplomatie bei dem Falle Polens. Von 

Schlosser. - - - - - - - II. 177 

Homer, Fr., die Versteinerungen des norddeutschen 

Oolithengebirges. 2te u. 3te Liefg. Von Bronn. II. 146 

Rösch, die Heilkräfte des Salmiaks. Von Dr. Feist. VH. 717 

Roulez, manuel de Thistoire de la literature Grecque. 

Von Bähe. ------- VI. 617 

de Rae ver Gronemann, diatribe in Johannis Wi- 

clifli v itain, ingenium, scripta. Von Paulus. - XI. 1061 

Samachschari's goldene Halsbänder, von neuem uber- 
setzt und mit krit. u. exeget. Noten von fe. Weil. 
Von Weil. - - - - - IV. 388 

— goldene Halsbänder, von Jos. v. Hammer. Von 

Weil. - - - - - - - - IV 388 

goldene Halsbänder, ubers. u. mit Noten begleitet 
von Fleischer. Von Weil. M - - - - IV. 388 

Sanchuniathonis historiarum Phoeniciae libr. IX. 

ed. Wagenfeld. Von Paulus. - - - - VIR. 737 

Sanchuniathons Phönizische Geschichte, aus dem 

Griechischen übersetzt. Von Paulus. - - VtH. 742 

T. Savigny, Beitrag zur Rechtsgeschichte des Adels 

im neuern Europa. Von Rofshirt. - - II. i37 

Schäfer, Grundrifs der Geschichte der deutschen 

Literatur. Von üähr. - - - - - II. 1 96 

Schaff er, franzosisch -deutsches und deutsch - fran- 
zösisches Wörterbuch, 2ter Theil 2te Äbtheilung. 
Von Moser. - - - - - - -X, 1028 

— französisches Lesebuch, 3te Aufl. Von Moser. X. 1028 

— französ. Sprachlehre, lote Aufl. Von Moser. X, 1028 
Schirlitz, Leitfaden für den Unterricht in der alten 

Geographie. Von Bähr. - - - - VII. 723 

— Vorschule zum Cicero, 2te bis 5te Liefg. Von 
Bähr. -VW. 804 

Schlosser, Geschichte des achtzehnten Jahrhunderls 
und des neunzehnten bis zum Sturze des französ. 
Kaiserreichs. 2tcr Bd. Von Schlosser. - - IX» 8O7 

Schlüter, die Keine des Spinoza. Von Sengler. IV. 357 

Schmalfeld, lateinische Synonymik. Von Feld- 

bauech. - - - 4 - - - IV. 394 

Schneckenburger , M., über das Evangelium der 

Agyptier. Von Paulus. - - - -: - - III. 260 



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1Z44 Inhalt 

Schräder, editionis digestorom Tubingentis Speci- 

men. Von Walch. - - - - - XL 1 135 

Schreiber, Heinrich Loriti Glareanus etc. Von 

Bähr. - - - - - - - - XI. 1143 

Die Schulfragc der gegenwärtigen Zeit. Ein Dialog. 

Von Reuter. ------- YÜL 8ai 

Schultheifs, Lehrbucher etc. Von Schwarz. - III. 3o5 

Schütz, F. H. J. , Christian Gottfried Schutz, Darstel- 
lung seines Lebens, Charakters und Verdienstes, ir 
und 21* Band. Von Paulus. - - - - UL 271 

Schwerd, die Beugungserscheinungen, aus den Fun- 
damentalgesetzen der Undulationstheorie analytisch 
entwickelt. Von Manche. - - - - UL 289 

Seil, die Recaperatio der Römer, eine rechtshisto- 
rische Abhandlung.- Von Rofshirt. - - - \L 592 



Semper, vor r läufige Bemerkungen über bemalte Ar- 



chitektur und Plastik bei den Alten. Von Walz. III. 209 

Seng ler, über das Wesen und die Bedeutung der 
speculativen Philosophie u. Theologie in der gegen- 
wärtigen Zeit. Von Fischer. - - - - XII. 11 53 

Seul , über die Entwicklung und den gegenwärtigen 
Zustand des hohem Schulwesens in Preulsen. Von 
Reuter. - -- -- -- - VI IL 821 

Siebert , zur Kenntnifs und Therapeut ik der epide- 
mischen Cholera und über deren VcrhSltnifs zum 
Morbus miliaris. Von Groos. - - - - VI. 564 

Simons, Johann de Witt und seine Zeit, 2r Thl. 

Von Schlosser. - - - - - - VL £k)5 



Sind die an die Herrlichkeitsbesitzer in der Provinz 
Ostfriesland von den Eingesessenen früher entrich- 
teten , sogenannten suspendirten Gefalle durch fran- 
zösische Gesetze aus der Zeit der Vereinigung Ost- . 
frieslands mit Frankreich aufgehoben worden? 

Die suspendirten Gefälle in der Pro?. Ostfriesland etc. 

Anderweite Bemerkungen zu der Schrift: vSind die 
an die Herrlichkeitsbesitzer« etc. Von Zachariä 
d. Ält. -------- V. 494 

v. Sinner, über das Leben und die Schriften von 

Diamant Coray. Von Bot he. ' - - - - X. 966 

Sophoclis Oedipus, übersetzt von F. Stöger. Von 

Bähr. - - - - - - - XU. 1219 

— Antigona, ed. Sinner. Von Bot he. - - HL 3i2 

R. v. Spruner s historisch-geographischer Handatlas. 

Von Rudhart. ------ IV. 369 



1 



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Inhalt. 1245 

Staatslexicon von Rott eck und Welker. 3r Band 

i, — 5. Liefg. Von Schlosser. - - - VI. 595 

Struve, dem Herrn G. E. Klausen gewidmet etc. 

Von Bahr. - - - - - - - I. 90 

Struve, nonnulla ad historiam belli Punici secundi 

spectantia. Von Bahr« - - - - - VM. 804 

Sturm er, zur Vermittlung der Extreme in der Heil. 

lmnde. Von Heyf eider. - - - - VII. 705 

Tocitus Germania. Text, Übersetzung, Erläuterung 
von Gerlach und Wackernagel. 2te Abth. Heft 1. 
Von Bahr. - - - - - - -VIII. 756 

Tafel , Macedonia. Von Bahr. - - - - XII. 1222 

— de via militari Bomanorum Egnatia etc. Von Bähr. XII. 1222 

Theodori Antiocheni, Mopsvestiae Episcopi, quae 
supersunt omnia. Ed. Wegnern. Vol. I. Von 
Paulus. - -- -- -- - VII. 6a5 

Thierbach, über den germanischen Erbadel. Von 

Schlosser. - - - » - - - VI. 595 

T hier sc h, die Organisation der Gymnasien nach 

Lorinsers Ansichten. Von Beuter. - - - VIII. O21 

Tholuck, die Glaubwürdigkeit der evangelischen Ge- 
schichte. Zugleich eine Kritik des Lebens Jesu von 
Straufs. Von Paulus. - - - - - IX. 833 

Trapp , Homburg und seine Heilquellen. Von Dr. 

Feist -------- VII. 712 

Trede, der Schule Mitgabe für das akademische Le- 
ben. Von-Bähr. ------ X. io36 

Treviranus, Beiträge zur Aufklärung der Erschei- 
nungen und Gesetze des organischen Lebens. 1. Bds 
is Heft. Von Muncke. - - - - - III. 289 

Troxler, die Logik. Die Wissenschaft des Denkens 

und Kritik aller Erkenntnifs. Von Fischer. - I. 52 

Twesten, die Logik, insbesondere die Analytik. Von 

Fischer. - -- -- -- 1. 52 

Übersicht der Schriften über die Lorinsersche Streit- 
frage. (Schlufs der im Augusthefte abgebrochenen 
Recension.) Von Beut er. - - - - IX. 914 

Uli Je, die höhere technische Lehranstalt des Collegü 

Carolini in Braunschweig. Von Schwarz. - III. 3o5 

Unterholzner, de mutata ratione Centuriatorum 
Comitiorum a Servio Tullio institutorum. Von 
Rofshirt. - - - - - - II. i32 



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1240 Inhalt. 

Uschold, Geschichte des trojanischen Kriegs. Von 

Bahr. -------- V. 433 

Vaucher, catalogue de la'Bibliotheque publique de • 

Geneve. Von Bahr. - - - - * IT. 196 

Vclleji Patercuii historiae, ed. Bothe. Von Bahr. VIII. 804 

Verhandlangen dei pädagogischen Vereins Ober die 

Lorinser'sche Frage. Von Beul er. - - -* VITI. 821 

Vigilum Bomanorum Latercula duo Coeliroontana , ed. 

Kellermann. Von Vorne I. - - - V. 52$ 

Virgilii et Calpurnii ßucolica. ed. Grauflf. Von Bahr. V. r " 528 

Volger, Handbuch der Geographie, 4 le Aufl., und ^ 
Lehrbuch. 2 Theile. Von Hautz. - - - HL 3it 

Volk mann, neue Beitröge zur Physiologie des Ge- 
sichtssinns. Von Muncke. - III. 289 

Vollmer, Worterbuch der Mythologie. Von Bähr. II. 196 

au lternage), zur Erklärung von Burgers Lenore. 
Von Schwab. - - - - - - IV. 4 08 

Weber,. Handwörterbuch der deutschen Sprache, ite 

Liefg. Von Feldbausch. - - - - X. io33 

— Geschichtliche Darstellung des Caltinismus im 
Vcrhältnifs zum Staat in Genf und Frankreich. Von 
Schlosser. - - - - - - - IV. 32 1 

Wegener, de aula Attalica. Vol. I. Von lebloser. VI. 
Weichert, de Imperatoris Caesaris Augusti scriptis, 

eorumque reliquiis Commentalio I. et IL Von Bahr. VIIL 804 

Weil, Erwiederung auf die Antwort etc. - - V11L 83i 

— die poetische Literatur der Araber. Von Well. VI. 612 

Westermann, de fontibus historiae Deraosthenis. 

Von V ü rn e 1. ------- VII. 712 

Wiegmann, die Malerei der Alten -in ihrer Anwen- 
dung und Technik, insbesondere als Decorationsma- 
lerei. Von Walz.. - - - - - - III. 209 

Wigand, Wetzlar sehe Beiträge für Geschichte und 

Bechtsalterlbümer, is Heft. Von Schlosser. - VI. 595 

Wilhelmi, fünfter Jahresbericht an die Mitglieder 

der Sinsheimer Gesellschaft. Von Bähr. - - XL 1141 

Wilhelm, klinische Chirurgie, ir Bd. Von Hey- 
felder. - -- -- -- -V. 5oo 

Winterling, poetische Mittheilungen in 4 Büchern. 

Von M. Meyr. - - - - - - - IX. 942 

Wifs, Prodicus, oderJLehrbuch der Hodegetik. Von 

Bähr. - -- -- -- - VII. 7 23 



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Inhalt ** 124? 

Wrangel, über eine Sammlung geschichtlicher No- 
tizcn , den Adel in Livland betreffend. Von Za- 
ch ariä d. Alt. ------ V. 5o<) 

Wucherer, Beiträge zur Physiographie des Grofs- 

herzogthums Baden. Von Muncke. - - - III. 289 

Warm, de jure legibus solvendi seu'dispensandi. Von 

Paulus. - -- -- -- .X. 963 

» 

Zachariri, E. , Imperator um Basilii Constantini et 

Leonis Prochiron. Von E. Zach ariä. - - V* 5i2 

Zern pl in, die Brunnen- und Molkenanstalt zu Salz- 
brunn. Von Heyfelder. - - - - - VU. 707 

Zimmermann, Denk lehre, zum Gebrauch bei Vor- 
lesungen. Von Fischer. ----- 1. 5a 

Zumpt, latein. Grammatik. 7te Aufl. Von Moser. V. 5i6 



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