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Full text of "Die Grenzboten; Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst"

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ANNEX 118. 


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Die 


Örenzboten. 


Heitfchrift 


für 


Politik, Siteratur und Kunſt. 


44. Jahrgang. 


Drittes Quartal. 


Leipzig. 


Derlag von fr. Wilh. Brunow, 
1885. 





Inhalts-Derzeichnis. 


Jahrgang 1885. 


Bolitif. Vollswirtſchaft. Rechtspflege. 


Die Reden des Fürſten Bismarck. S. 105. 


Der Liberalismus und der prinzipielle Kon— 
ſervatismus. ©. 150, 
Ungehaltene Ferienrede. ©. 274. 


Zur — der u S. 39. 
arolineninjeln. S. 438 

Der Streit über die Karolinen. S. 608, 

Der Minijterwechjel in London. ©. 1. 


Das Programm des Torykabinets. ©. 97. 
— Politiker. Aus 


——* und der Mahdi. S. 182. 

Die Ruſſen in Zentralaſien. 1. ©. 193. — 
2. S. 320. — 3. ©. 481. — 4. ©. 529, 

Der Tod des z ©. 280. 

Sanjibar. ©. 337, 

Wahlen und Bartcien i in Frankreich. ©. 385. 

= Proftitutionsfrage. S. 58. 
ad Wachstum Berlins und der Maurer» 
ftreil. ©. 202. 

Zur Frage der innern Kolonijation in Deutic- 
land. ©. 342. 

Die Handwerferbewegung und ihr mögliches 
Biel. ©. 395. 


Der Notitand des Privatfapitald. S. 538. 
584. 


Der — Farmer und der deut- 
ſche Landwirt. S. 249. 


Nordamerilaniſche Eiſenbahnzuſtände. S. 490. 





Das richterliche Urteil und die Phraſe. 

Rechtspolitiſche Streifzü S. 241. 

Der deutſche — in praktiſcher Be— 
thätigung. S. 

Die Aufgabe der —— im Straf⸗ 
verfahren. ©. 444. 

— Straſabmeſſung. Karl Meiſel. 


Fu 


S. 7. 


Geſchichtliches und Biographiſches. Länder: 
und Völlerkunde. 


Zwei fürſtliche Frauen des achtzehnten Jahr- 
hundert. Chrijtian Meyer. 1. Die 
grobe LZandgräfin. ©. 448. — 2. Fürftin 

feonore Liechtenſtein. S. 505. 
Die erite Konjtitution * Oeſterreich S. 483. 
u Nachtigal in Tunis. G. Meinede. 
10. 159. 


Yo 
7 
0 


Oeſterreich. 


Engliſche Muſik. 


335687 


Drittes Vierteljahr. 


Oſtpreußiſche Skizzen. 6. Politiſches. ©. 49. 
Eichsfelder Arbeiter. Berghoff— Sn 


S. 258. 
Meuere Literatur über Nordbamerifa. ©. 577. 


Literaturwiſſenſchaft. 
ar Armer Heinrich. Mar Rod. 
4 


Ein politifher Dichter und Zeitungsichreiber 
des achtzehnten Jahrhunderts. (EhHrijtian 
un Daniel Schubart.) Mar Kod. 
a 6 62 

Goethiana. Zu Goethes Verhältnis zu 
Carlyle. —8 Flügel. 2. Goethes 
Logengedichte der Jahre 1815 und 1816. 
Heinrich Dünger ©. 558. 

Zum Weimarer Jubilate. ©. 

Heinrich Leuthold. M. Neder. ©. 214. 

Deartin Greif als — * Dichter. S. 309. 

Die dramatiſche Kunſt v. Wildenbruchs. 
Arnold Fokke. 2. ©. 365. 

Blattdeutiche Erzähler. M. Neder. ©. 29. 

Alberta von Puttlamer. M.Neder. ©. 119. 

Populäre Schriftiteller. — Stinde und 
Max Nordau.) S. 4 


Hippolyte — — Taine. 
ra itteilungen. 


. 168. 


Kunſtwiſſenſchaft und Kunitpflege. 


Deutihes Künjtlerleben im fünfzehnten und 
Bauen Jahrhundert. Rich. Muther. 


Mit Benupung 
®. Egelhaaf. 


— zur Geſchichte der neuern deutſchen 
Kunſt. H. A. Lier. 4. Die Aufnahme 
DER Bilder in Deutſchland. S. 302. 


Neifebriefe aus Italien vom Jahre 1882. 
Aus dem rg von W. Nofmann. 
©. 126. 228. 


Ein Grundproblem des Kunftgewerbes. Veit 
Balentin. ©. 64. 


©. 519. 


Verſchie denes. 


— und DE UMGCH TERN 
Trip Kögel. ©. 7 

Sommerfriide in —8 ©. 79, 

Unpolitijhe Briefe aus Wien. 3. Neue Ardhis 
teftur und Plaſtik. S. 355. — 4. Die Ma- 





lerei. ©. 569. 601. 

Ein Knopf von Goethe. ©. 408. 

Braud und Mißbrauch. ©. 418. 

Budget d'une femme incomprise (frau Gar: 
Iyle). ©. 461. 


Moman. 


Um eine Perle. Robert Waldmüller 
(Ed. Duboe). ©. 34. 84. 136. 188. 231. 
276. 329. 876. 417. 478. 


Notizen, 
rar Bismard und die Sonntagsruhe. 
©. 45 


©. 45. 

Beiftliher und Politiker. ©. 92. 

In Männerkleidern. ©. 98. 

Wider den Schwindel in geihäftlihen An— 
preifungen. ©. 9. 


Bildung und Schule. S. 288. 
Lord Beaconsfield8 Home Letters. ©. 425. 
Gemischte Ehen. ©. 478. 
Marariihe Bewegungen in Oberitalien. 
528 
Die tonfejfionelle Schule in neuer Beleuch— 
tung. ©. 614. 


Eine „phantaftifche‘ See. ©. 615. 


Beſprochene Bier. 


(Die mit * bezeichneten u. find in größern Auffägen 
—— — Harten Leina. Berlin, 1884. 
S. 
Kr ni, * Wiehnachten. 
S. 3 


u! — Fr Leben des Freiherrn vom 
Stein. Karlsruhe und Leipzig, 1885. ©. 46. 

U. Aſcharin, — — — und 
Lermoniow. Reval, . 

— —— re — 1885. 


Furſt Bismard als Redner. Kollektion Spe⸗ 
mann. ©. 105. 


Stuttgart, 


iv 


— von — Dichtungen. Leipzig, 
©. 

F. Berghoff⸗ — Das ſtaatliche — 
— die Erbſchaftsſteuer. Leipzig, 1 


A. —2 — Die Sprachenrechte in den Staaten 
gemiſchter Nationalität. Wien, 1885. S. 142. 

Zur bäuerlichen Glaubens— und Eittenlehre. 
Gotha, 1885. S. 148. 

J. =. Ed, Seine Schuld. Leipzig, 1885. 


Salat Farina, Mein Sohn. Berlin, 1881. 
W — Gedichte. Frauenfeld, 1884. 


E. —— Die geltenden ——— 
der evangeliſch-deutſchen Landeskirchen. 
Freiburg, 1885. 38. 

M. Schwalb, Zur Beleuchtung des Stöcher— 
mythus. Berlin, 1885. S. 239 

*G. Hauff, ( Eprijtian Friedrich Daniel Schu: 
bart. Stuttgart, 1885. 263. 

A. F J Bali Fürſtengunſt. Leipzig, 1834. 


K. E. Edler, Der legte Jude. 
©. 288, 


F. 8. ChHleborad, Der Kampf um den Befip. 
Wien, 1885. ©. 888. 

*Hartmanns Armer vr von W. Toiſcher. 
Bajel, 1885. ©. 404 

*A. Springer, Prototolfe des Verſaſſungs⸗ 
ausſchuſſes im öſterreichiſchen Reichstage 
1848—49. Geipaig, 1885. ©. 485. 

erg er — zens in Italien. Berlin, 


M. Nordau, — Leipzig, 1885. S. 469. 
*v. d. Lehen Die nordamerilaniſchen Eiſen⸗ 
bahnen. Leip ig, 1885. ©. 491. 
C. Bornhak, —28 des —— en 
waltungsrechtes. Berlin, 1884. ©. 6 
dr. Graf Berg, — — aus * 
Krim. Reval, 1885. S. 619. 
J. S. Turgenjem, EIN Aufſätze. Ber- 
lin, 1885. ©. 6 


©. 


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S. 


Leipzig, 1885. 


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Der Minifterwechfel in Sondon. 


> SA der leßtvergangenen Woche hat ſich in England eine Thatjache 
| IF — vollzogen, die man dort und in ganz Europa furz vorher nod) 
| nahezu für eine Unmöglichkeit gehalten hätte, und die in Wirk- 
lichkeit einen jchwer erfochtenen Sieg einſchließt. Wolle vierzehn 
Tage dauerte die Krifis, durch welche die Regierung des bri- 
tischen Reiches aus den Händen der liberalen Partei in die der fonfervativen 
oder richtiger, da auch die Sieger in gewiſſem Maße liberalen Grundjägen 
folgen werden, aus den Händen der mit Radifalen verbundenen Whigs in die 
der Toried überging. Es war ein langjames Sterben und eine ſchwere Ge— 
burt, es war in andrer Auffaffung cin jehr intereffantes, jehr charakteriftiiches 
fonjtitutionelles Schadjjpicl, bei welchem den Tories das Gewinnen dadurd) er- 
leichtert wurde, daß fie zulegt unter ihren Figuren eine Königin behielten. 
Nachdem Gladjtone in einer nicht jehr bedeutenden Budgetfrage in der Mino- 
rität geblieben war, gaben er und jeine Kollegen ihr Entlafjungsgejuch ein, 
und Salisbury begann die Bildung eines neuen Kabinets. Er unternahm dies 
mit der Vorausſetzung, daß ihm die Führer der Liberalen im Unterhauje bei 
Erledigung der laufenden Gejchäfte während des Reſtes der parlamentarijchen 
Seſſion feine Schwierigfeiten bereiten würden. Am 18. Juni wurde ein dahin: 
gehendes Verlangen an diejelben geſtellt. Es jchloß feine Unterftügung der 
Beichlüffe des im Entjtehen begriffenen Minifteriums in auswärtigen Fragen 
oder in Betreff neuer legiglativer Vorlagen ein. Es wurde nur gefordert, daß 
der Regierung bei der Abwicklung der dringenden Gejchäfte der gegenwärtigen 
Seſſion feine Oppofition gemacht werde, welche ihr Anjehen im Lande unter: 
graben fünne. Nach Empfang diefer Mitteilung beriet jich Gladjtone mit jeinen 
bisherigen Amtögenofjen, und man fam zu dem Beichluffe, zu erklären, daß 
Grenzboten III. 1885. 1 





2 Der Minifterwechfel in London. 





man den Führern der Tories nicht mehr als die allgemeine Verficherung er- 
teilen könne, man werde, joweit man Einfluß habe, den Nachfolgern die Ab: 
widlung der Seſſionsgeſchäfte weder durch faftiöfe Oppofition noch (in der 
Weife der Parnelliten) durch Objtruftion das Negieren erjchweren. Dieſer Bes 
ſcheid befriedigte im Lager der Sonfervativen nicht, in der Bildung des 
Kabinets trat eine Pauſe ein, und es erichien einige Tage möglich, daß die Li- 
beralen ang Ruder zurüdkehrten. Indes jeßte Marquis Salisbury die Unter: 
handlungen fort, und zuleßt hatte er damit Erfolg, indem mit Gladjtone ein 
modus vivendi vereinbart wurde, welcher befriedigte. Am 24. fand unter Vor: 
jig der Königin in Windjor ein Kabinetsrat jtatt, in welcher die bisherigen 
Minifter der Souveränin die Siegel der von ihnen innegehabten Departc- 
ments überreichten, die fodann den neuen Minijtern übergeben wurden. Mas 
die nähern Umstände bei den Verhandlungen zwijchen den Barteiführern bes 
trifft, jo erklärte Salisbury im Oberhaufe, daß er anfänglich im Hinblick auf 
die abnormen, durch die Gladftonefche Wahlreformbill gefchaffenen Verhältniffe 
der Königin geraten habe, die Demiſſion der Liberalen Minifter zu verweigern, 
Indes habe Sladjtone telegraphiich die Möglichkeit, jein Entlaffungsgefuch zurück— 
zunehmen, entjchieden in Abrede geftellt, und jo jei es nötig geworden, über 
die parlamentarische Lage eine Verftändigung herbeizuführen. Gladftone habe 
zwar jpezielle Zujagen verweigert, in einem letten Briefe aber doc) genauere 
Verſicherungen erteilt, welche der Königin billig und befriedigend erichienen feien, 
und da diejelbe zugleich eindringlich auf die Nachteile aufmerkſam gemacht habe, 
welche fich aus längerer Verzögerung für den Staatsdienjt ergeben müßten, jo 
habe man fich micht Länger bedenken dürfen, Die Regierung zu übernehmen. 
Über die Politit, welche das neue Kabinet befolgen werde, behielt er fich eine 
Erklärung vor, und in bezug auf die Prophezeiung einiger Politiker, dasjelbe 
werde fich nicht lange behaupten können, bemerkte er, man möge fid) erinnern, 
daß frühere Regierungen, denen man gleichfalls eine furze Amtsdauer voraus— 
gejagt habe, jpäter neun oder zehn Jahre am Ruder geblieben feien. 

Das neue Minijterium ift im ganzen wohlgewählt. Der Chef desjelben, 
der zugleich) die auswärtigen Angelegenheiten übernommen bat, Marquis von 
Salisbury, ragt zunächſt ducch alten Adel und großen Reichtum hervor, und 
jeine parlamentarische und diplomatische Vergangenheit fichern ihm ein bedeu- 
tendes Anfehen. Er hat als Lord Eecil und Biscount Cranborne viele Jahre 
im Unterhaufe gejejfen und fich dabei, jowie als Mitglied des Kabinets Derby, 
das er 1867 verlieh, weil Disraelis Neformpläne ihm zu weit gingen, als 
itrenger Tory erwieſen. Als Diplomat machte er fich zunächjt 1876 auf der 
Konferenz zu Konftantinopel einen Namen, der in den Ohren der Türfen keinen 
wohlthuenden Klang hatte. Danır erjchien er neben Beaconsfield auf dem Ber: 
liner Kongreffe, wo er am 28. Juni 1878 den Antrag auf Bejegung und Ver— 
waltung Bosniens und der Herzegowina durch die Ojterreicher ftellte und be- 


Der Minifterwechfel in London. 3 


Gegner Gladjtones, fodag man jagen konnte, der eigentliche Führer der Oppo— 
jition ſitze jegt nicht, wie font üblich, unter den Gemeinen, fondern unter den 
Peers. Sir Stafford Northcote oder, wie wir ihn fortan nennen müfjen, 
Lord Iddesleigh, der neue erfte Lord des Schafamtes, ift eine weichere und an- 
ſpruchsloſere Natur und mit diefer Eigenschaft allgemein beliebt. Er ift zwölf 
Jahre älter als Salisbury und gehört ſchon feit 1855 dem Unterhaufe an, in 
welchem er zuletzt mehrere Jahre die Oppofition gegen Gladjtone leitete Er 
beobachtete dabei immer, teil jeinem Charakter gemäß, teil® wohl in Erinnerung 
an den Umftand, daß er einmal Privatjefretär Gladjtones als Präfidenten des 
Handeldamtes gewejen, eine gewiſſe Schonung und Zurüdhaltung, die zuweilen 
wie Mattheit ausfah. Dagegen war er ein fleißiger und jolider Arbeiter und 
in finanziellen Dingen wohlerfahren, Eigenjchaften, mit denen er fich auch in 
jeiner neuen Stellung nüßlidy machen wird. Für die auswärtige Politik kommt 
er nicht in Betracht. Was ihm an Schärfe und Thatfraft abgeht, befitt in 
hohem Grade fein jüngerer Kollege Lord Randolph Churchill, ein Nachkomme 
de3 berühmten Feldherrn Marlborougd, dejjen fünften Nachfolger in der Her- 
zogswiürde er zum Bater hat. Kaum fechsunddreigig Jahre alt und erſt feit 
zehn Jahren Mitglied des Parlaments, bildet er, dem das wichtige Departe- 
ment der indischen Angelegenheiten zugeteilt worden ift, das fenjationelle Ele- 
ment in dem neuen Sabinet. Er ift ein recht eigentümlicher Konfervativer, 
biefer Lord, ein Vertreter des radikalen Torytums. Wie die Whigs einen linfen 
Flügel haben, jo haben die Torics in ihm und feinen Freunden, die fich neben 
den Parnelliten, der „dritten Partei,” als „vierte Partei“ gefallen, ebenfalls 
ein jolches Nebenglied, das bejonders jozialpolitiiche Zwede verfolgt und, halb 
aus Laune und zum Vergnügen, halb aus praktischen Erwägungen, das Loos 
der Arbeiter zu verbefjern ftrebt. Lord Churchill ift ein Feuerbrand, ein Stürmer 
und Dränger, aber zugleich ein Talent, das eine Zukunft zu haben jcheint. 
Diefer brillante Rekrut der Altkonfervativen mit dem ſozialiſtiſchen Anfluge Hat 
fi die hohe Stelle, welche er jett einnimmt, ohne Zweifel mehr durch feinen 
Einfluß außerhalb der Schranken des Parlaments als durch feine leidenjchaft- 
liche und nicht jelten maßlofe Polemik im Haufe der Gemeinen erworben. Das 
Land ſchätzt und bewundert feine Unerjchrodenheit, fein dreijtes Auftreten, fein 
Selbitvertrauen; fein vulfanijches Wejen imponirt, bejonders neben der Weije 
Northeotes, alles mit Sammethandichuhen anzufaffen und fich ängſtlich vor Ver— 
fegung zu hüten, feine Reden werden von Freund und Feind mit Begier an— 
gehört und gelefen, und troß mancher Stellen, welche die Klugheit bedauern mag, 
ift nicht zu leugnen, daß der geiftvolle Spott und Tadel, mit dem er, in Diejer 
Beziehung an den Bismard der Revolutionszeit und der Jahre des Konflikts 
erinnernd, die Gegner überjchüttete, feiner Partei jehr nügliche Dienjte geleiftet 
und manchem ein Licht über die Schwächen und Thorheiten der Liberalen auf: 


— ULLI LU EEE 


4 Der Minifterwechfel in London. 











geftet hat. Es giebt Leute, die ein nervöſes Zittern überfällt, wenn fie jehen, 
wie ein derartig gearteteter Politifer die indischen Angelegenheiten leiten foll, 
und man muß ihre Befürchtung in gewiſſem Maße teilen. Indes ift andrer- 
jeits zu hoffen, daß Lord Randolph Churchill Sachkenntnis und Selbſterkenntnis 
genug befigen werde, um ermefjen zu fünnen, wie weit er feiner hitzigen und un— 
geftümen Natur in diefer Beziehung vertrauen und die Zügel Schießen laſſen darf. 
Er hat Indien gejehen und muß wiſſen, daß es feine Nation, fondern ein Ge- 
miſch jehr verichieden gearteter Völkerfchaften, feine Infel, jondern ein Stüd des 
aftatischen Feſtlandes ift, welches mit jo wenig ausjchweifender Theorie und fo 
viel gefundem Menſchenverſtande als möglich regiert werden muß. Wenn er über 
Gegenjtände feines neuen Wirkungskreiſes im Unterhaufe fich zu kräftig geäußert 
hat, jo darf man ihm wohl das Benefizium der neuen, freilich nicht ungefährlichen 
Negel zuteil werden lafjen, welche Politikern für das, was fie „in Stellungen 
von größerer Freiheit und geringerer Verantwortlichfeit“ gejagt haben, Ablaß 
zu erteilen erlaubt, wenn fie ins Amt gelangen. Ob Hids Beach den Erwar— 
tungen entjprechen wird, die fich am feine Wahl zum Kanzler der Finanzkammer 
und Führer im Unterhaufe fnüpfen, muß fich erft noch zeigen. Über die Be— 
fähigung des neuen Lordlanzlers, Sir Hardinge Giffard, der ald Lord Halsbury 
fortan einen Wollfad im Oberhaufe einnimmt, herricht feine Meinungsverjchteden- 
heit. Der neue Kriegsminifter, Smith, gilt als ein fachkundiger und energifcher 
Mann in Marinejachen, als welcher er fich in feiner früheren Stellung als erjter 
Lord der Admiralität bewährte, und man kann nur fragen, warum man ihm 
jene nicht wiedergegeben hat. Vielleicht beantwortet ſich dies aber dadurch, 
daß in der Admiralität die Arbeit durch ein Kollegium bejorgt wird, wogegen 
jegt im Sriegsdepartement rajcher Erfolg bei der jehr notwendigen Reformi- 
rung der Armce jehr von der Energie des oberjten Adminiftrators abhängt. 
Ob ſich Salisburys Hoffmung auf ein langes Leben des Kabinets erfüllen 
wird, läßt fich jet noch nicht jagen. Möglich, fait wahrfcheinlich ift cd, daß es 
bei den Herbitwahlen fällt, möglich auch, daß es fein Schiff durch dieje Hin- 
durchftenert und dann jahrelang gute Fahrt hat. Viel wird dabei auf die 
Haltung der Liberalen ankommen, viel auch auf die Politit der Tories, die 
infolge der liberalen, richtiger radifalen Strömung, welche feit Jahrzehnten jchon 
und ganz bejonderd in den legten Jahren England immer weiter nach links 
und tiefer in demofratische Zuftände treiben ließ, fich wie Beaconsfield ge- 
zwungen jehen werden, gegen ihre eigentlichen Grundjäge und Abfichten in 
innern Angelegenheiten zu verfahren. Sie werden hier nicht jehr wejentlich von 
Gladſtones Wegen abweichen können, und die Freunde Englands werden zu: 
frieden fein müffen, wenn die neuen Minifter c8 mit der einen und der andern 
Maßregel für einige Zeit auf der abjchüffigen Bahn, auf der es ſich befindet, 
aufzuhalten imjtande find. Wielleicht gewinnt ihnen Churchills Auf die Ar— 
beiter, welchen das neue Wahlverfahren Stimme und Einfluß verleiht. Die 


Der Minifterwechfel in London. 5 


Bornelliten — durch ihren Führer erklärt, ſich — — zu — 
falls keine neue iriſche Zwangsbill aufs Tapet gebracht und durchgeſetzt würde. 
Das Kabinet Salisbury wird hauptſächlich in auswärtigen Fragen zu zeigen 
haben, was es kann. Wenn von Gladftone und Genofjen gejagt wird, fie 
hätten abgewirtjchaftet, jo kann ſich das nur auf jene Frage beziehen. Aber 
es erheblich beſſer als der abgetretene Premier zu machen, wird feineswegs 
feicht fein. Der Wille thut es hier nicht allein, man muß Wege und Mittel 
finden, wenn der verfahrene Staatswagen \weitergebracht und wieder in raſchen 
und regelrechten Gang nach dem durch fein Jutereſſe gefteckten Ziele geſetzt 
werden fol. 

Bon Leuten, welche fi) als Eingeweihte angejehen wiffen wollen, wird 
die äußere Politif des Toryfabinets im allgemeinen als von dem Bejtreben 
ausgehend charafterifirt, dem Lande zu zeigen, daß die Konſervativen die wahren 
Freunde des Friedens ſeien, da fie nicht Die Abficht hätten, fich wie die bis— 
her herrichenden Staatsmänner dem Unvermeidlichen zu widerjegen, um dann 
nachzugeben, und da fie fich nicht von demokratischen Liebhabereien zur Hin— 
neigung zu republifaniichen Staaten und zur Bevorzugung derjelben verleiten 
liegen, was dem Lande nur Demütigung zugezogen und es ifolirt habe. Salis- 
bury werde in erjter Neihe ein inniges Einvernehmen mit Deutjchland und 
Ofterreich-IIngarn erftreben und zunächft verfuchen, die Frage wegen ber ruſſiſch— 
afghanischen Grenze emdgiltig zu löſen, und er und Churchill würden fich dabei 
gegen Rußland entgegenfommender zeigen als Lord Granville. Sie würden 
nicht wie die Liberalen fich bemühen, Imdien durch Verhandlungen und Ber: 
träge zu jchüßen, Die nach den Lehren der Gejchichte nur geringen Wert hätten, 
jondern England cine jo feſte Stellung zwiſchen Indien und Rußland jchaffen, 
daß die britiiche Macht zwiſchen Indus und Ganges fortan nicht mehr gefährdet 
werden könnte. Im Hinbli auf Ägypten werde Salisbury fich angelegen fein 
laffen, die Stellung Englands dadurd) zu befeitigen, daß das britische Kabinet 
jich offen für die Mafregeln der dortigen Regierung verantwortlich erkläre und 
im Lande eine Armee zurüdlaffe, welche Hinreiche, die Ordnung aufrecht zu er: 
halten und einen Einbruch des Mahdi in das untere Nilthal abzuwehren. 

Das wären gewiß recht lobwürdige Abfichten, nur erfahren wir nichts be- 
ſtimmtes und augreichendes über dad Wie ihrer Ausführung. Gewiß wird 
man in Berlin und Wien die Erjegung Gladftones durch Salisbury nicht un— 
gern gejchen haben, obwohl feine jchroffe Art in diplomatischen Gejchäften den 
Verkehr mit ihm einigermaßen unbequem machen fünnte. Er ijt ehrlicher, kon— 
ſequenter und zuverläſſiger als Gladftone, ſodaß man im allgemeinen wiffen 
wird, wie man mit ihm daran ift. Es wird fich wenigftens in Kolonialjachen 
mehr guter Wille fundgeben ala bisher; nur werden die Handlungen ber be: 
treffenden Herren micht über das hinausgehen können, was man hergebrachter- 
maßen ala englisches Intereffe anfieht. Auch wird alles, mindejtens bis zu den 


6 Der Minifterwechfel in £ondon. 








Wahlen, mehr oder minder den Charakter des Proviforischen und Halben tragen. 
Die Regierung, welche vom Parlament abhängt und hier nur die Minorität 
für ſich Hat, wird nicht wohl imftande fein, volljtändig nad) ihrer Überzeugung 
zu handeln, und man wird ſtets zu befürchten haben, daß die Wähler das, was 
mit ihr ausgemacht ift, durch Gegner ihrer Politik umſtoßen laſſen. Endlich 
muß Die beutjche Staatsleitung zwar nicht notwendig eine antienglifche fein, 
wohl aber weiſt fie das Intereffe des Neiches mehr auf Verüdfichtigung der 
Bedürfniffe, Stimmungen und Wünfche der benachbarten Kontinentalmächte Hin, 
die unter feinen Umftänden von einer Annäherung zwifchen uns und England 
gefährdet umd gejchädigt werden dürfen. Mit diefen Mächten in gutem Ein- 
vernehmen zu bleiben, ihr Vertrauen weiter zu genießen, ift die Hauptjache; will 
England mit uns zu einem befjern Einverftändnifje gelangen, jo ift das will- 
fommen zu heißen, da es den Frieden befeftigen würde, nur wird dann Eng— 
fand Opfer bringen müffen, nicht aber an uns das Anfinnen ftellen dürfen, 
diejer Freundichaft alte und neue Freundfchaften im Dften und Weften zu opfern 
oder irgendwie zu lodern. 

Darnach ift auch das zu beurteilen, was jene „Eingeweihten” über die 
afghanische und die ägyptische Frage fagen. Wir werden uns als Freunde und 
Förderer des Weltfriedens freuen, wenn es dem neuen englischen Kabinet ge— 
fingen jollte, hier wie dort eine Löfung zu finden, welche alle Teile befriedigt 
und die Verlegenheiten befeitigt, die Gladſtones Ungefchiet heraufbeichworen hat. 
Aber ung zu irgendwelchen Dienften Hier gegen Frankreich, dort gegen Rußland 
bereit zu erflären, darf man uns nicht zumuten. England wird fich in beiden 
Beziehungen am bejten jelbit dienen, wenn es der Billigfeit Gehör giebt. Was 
wir darunter verftehen, wollen wir nicht formuliren. Wie die „Eingeweihten” fich 
die Schugmauer zwilchen Rußland und Indien vorjtellen, welche nad) ihren Be- 
richt Salisbury und Churchill zu erbauen vorhaben, können wir ung nicht recht 
flar machen, und ob das, was fie über die Abfichten der Toryminifter in betreff 
Agyptens jagen, der rechte Hebel fein wird, der den Engländen aus der dortigen 
Berlegenheit heraushilft und fie namentlich wieder an Frankreich Seite ftellt, 
ift uns fehr zweifelhaft. 

Wir erwarten aljo bi3 auf weiteres feine großen Erfolge für das neue 
Kabinet, es müßte fich denn unerwartet ein ungewöhnliches politifches Element, 
ein Genie aus deffen Mitte erheben. Bis dahin wollen wir hoffen, daß es fich 
wenigftens befjer zeigen werde als Gladſtone und Genoſſen. Es gehört nicht 
allzuviel dazu, und die Hoffnung ift begründet. Man wird bei ihm feinen 
Launen und unpraftischen Theorien, feinen ſchwächlichen Vorſätzen und feinem 
ewigen Schwanfen zwijchen Dreiftigfeit und Verzagtheit, feinem zu ftarfen Ge— 
brauch der Notlüge begegnen. Man wird e3 ein verjtändliches Spiel beginnen 
jehen und geneigt fein, feinen Verficherungen, joviel an ihm tft, zu vertrauen. Man 
wird in Berlin endlich einmal gehörig erfahren, was England eigentlich wünſcht 


Das richterliche Urteil und die Phrafe. 7 


und nicht wünjcht, und was es zu bieten hat, wenn man ihm dabei, joweit man 
fich dadurch nicht ſelbſt anderswo ing Licht tritt, Unterftügung zu gewähren 
bereit iſt. 


HE —X — I 
J III URN 





Das richterliche Urteil und die Phrafe. 


ge lah zu dieſer Beſprechung giebt uns ein im jüngfter Zeit ent- 
ſchiedner Strafprozeß, der Prozeß wider den Redakteur der in 
1 Berlin erfcheinenden „Freien Zeitung“ wegen Beleidigung des 
A Hofpredigers Stöder, ein Prozeß, der, nächjt dem vor elf Jahren 
verhandelten Proze Arnim, wohl mehr als jeder andre Die 
öffentliche Aufmerkfamfeit in Deutjchland auf fich gezogen hat. Die Tages- 
blätter haben ausführliche Mitteilungen über die Verhandlungen in diefem Pro— 
zeſſe gebracht, auch das von dem Vorfitenden des Gerichts verkündete Urteil um: 
fajjend wiedergegeben. Wenn auch nach $ 267 der Strafprozekordnnung bei 
erfolgter Ausfegung der Enticheidung die Urteildgründe zur Zeit der Verkün— 
digung ſchon fchriftlich feftgeftellt fein mußten, fo jcheint doch, wie man nad) 
Inhalt der Verkündigung annehmen muß, der Vorfigende von der Befugnis 
Gebrauch gemacht zu haben, die Urteilsgründe, ftatt fie aus der jchriftlichen 
Aufzeichnung zu verlefen, „ihrem wejentlichen Inhalte nach“ in freier mündlicher 
Rede mitzuteilen, und es wird daher die veröffentlichte Entjcheidung auf einer 
ftenographijchen Aufzeichnung diefer mündlichen Rede beruhen. Da nun aber 
einmal das Urteil in diefer Form in die Öffentlichkeit gelangt ift, fo werben 
wir dieſe Form einjtweilen auch als die authentische betrachten und an fie unfre 
Bemerkungen fnüpfen dürfen. 

Bon vornherein wollen wir ausfprechen, daß es uns hier nicht um eine 
Verteidigung des Hofpredigers Stöder zu thun if. Wir befennen offen, daß 
wir feine Anhänger diejes Mannes find. Wenn wir auch glauben, daß derjelbe 
in voller Überzeugungstreue für Zwecke, die er für gut hält, in die Bewegung 
der Zeit eingetreten ift, jo erachten wir doch die von ihm gewählten Mittel und 
Wege nicht für die richtigen. Das, was uns zur Feder greifen läßt, ijt allein 
der Wunſch, daß in Prozefjen diefer Art die Gerichte ſtets eine ihrer völlig 
würdige Haltung einnehmen und nicht — wenn auch nur unbewußt — fich zu 
Werkzeugen politifcher Agitation hergeben möchten. 

Seitdem die Redekunſt in den Parlamenten zu großer Bedeutung gelangt 
ift, ift fie natürlich bemüht geweſen, fich aller derjenigen oratorischen Mittel zu 





— — a u En ma 


= Das richterlihe Urteil und die Phrafe. 





bemächtigen, welche auf die Zuhörer, und wenn nicht auf dieje, dod) auf Die 
Offentlichfeit, vor welcher man redet, einen Eindrud zu machen geeignet er: 
jcheinen. Eingeleitet wird die Parlamentsrede in der Kegel mit einer captatio 
benevolentiae, die dann auch öfters am Schluffe wiederfehrt. Bei der Sad): 
erörterung aber will der Redner nicht allein als ſachkundiger, fondern vor allem 
auch als geiftreicher Mann glänzen. Er ſchmückt alſo feine Rede, wo jich irgend 
Gelegenheit dazu bietet, mit allerhand geiftreichen Zuthaten. Auf dieje Weile 
hat die Phraſe in unjerm öffentlichen Leben eine nicht unbedeutende Herrichaft 
gewonnen. Diefe Übung ift dann feit der Mündfichkeit und Öffentlichkeit des 
Gerichtsverfahrens aus den Parlanıenten aud) in die Gerichtsfäle übergegangen. 
Der Anwalt, zumal wo er vor Geſchwornen redet, aber auch) in audern Sachen, 
die das öffentliche Interefje in Anfpruch nehmen, iſt bemüht, durch oratoriſche 
Künjte jeder Art die Sache feines Klienten zu fürdern. Und auch der Staats- 
anwalt greift, ſei es aus perjönlicher Neigung, jei es, um den ihm gegenüber- 
jtehenden Anwälten cs gleich zu thun, oft zu diefen Mitteln. An diefer ganzen 
Sachbehandlung ijt num, wenn fie auch den wahren Interejjen der Juſtiz wenig 
entipricht, nichts ab- und nichts zuzuthun; wir müſſen fie als eine Folge be: 
jtehender Einrichtungen hinnehmen. Widerfpruch erheben aber müfjen wir da— 
gegen, wenn nun auch der Nichter fich von diefer Tendenz anſtecken läßt und 
fih berufen fühlt, fein Urteil in der beliebten Form oratorischer Leiftungen zu 
geben. Möglichite Einfachheit in der Form und ftrengjte Einhaltung innerhalb 
der Grenzen deſſen, was zur vechtlichen Beurteilung der Sache gehört, das iſt 
es, was dem richterlichen Urteil jeine Würde giebt. 

Leider finden wir in neuerer Zeit das Bewußtſein hiervon innerhalb unjers 
Richterjtandes im Schwinden begriffen. Erinnern wir uns des Urteils in dem 
Prozefje Arnim. Es enthielt eine Einleitung, worin die Rede war von den 
„vielen Richtern außerhalb des Gerichtshofes, die in Diefer Sache ſich berufen 
gewähnt, ihr Urteil abzugeben,“ von den „hochgehenden Wogen der Leidenichaft, 
die jelbjt bis an ſonſt unerreichbare Stellen mit ihrem Giſchte Hinausge- 
ſchlagen“ u.j.w. Es wurde von den Interefjen gejprochen, welche ſich an diejen 
Prozeß knüpfen, dann aber gejagt, daß „alle dieje Interejjen für den Richter 
nur die Staffage und Szenerie des Dramas bilden; während es feine ſchwere 
Aufgabe fei, die nadte, trockne Handlung felbft, frei von allem Musjchmude, 
entfleidet von allem jenen intereffevollen Beiwerk, unter fein kritiſches Sezir- 
mefjer zu bringen, unbelünmert um die Wunden, die feine Schnitte hervorrufen 
möchten, al3 einziges Hilfsmittel in der Hand nur noch das Geſetz.“ Aus dem 
weitern Verlaufe des Urteils wird wohl vielen noch in der Erinnerung fein, daß 
darin unter anderm von Depejchen geredet wurde „über eine jo brennende Frage, 
daß fie auch durd) die Wände des ungeöffneten Koffers hindurchleuchten mußten.“ 

Aus einem vor zwei Jahren verhandelten Brozejje, der unter dem Namen 
des Erpreffungsprozefies des „Unabhängigen“ viel bejprochen wurde, ijt uns noch 


Das richterliche Urteil und die Phrafe. 9 


erinnerlich, daß (nach Zeitungsberichten) das Urteil ſagte: „Die Handlungsweiſe 
der Angeklagten iſt eine ſo unerhörte, daß man ſie kaum für glaublich hält, 
wenn ſie nicht durch die dreitägige Verhandlung beſtätigt worden wäre. Nach— 
dem die Geſetzgebung ſchon lange den mittelalterlichen Schandpfahl abgeſchafft 
hat, haben die Angeklagten einen modernen Preß-Schandpfahl konſtruirt, an 
welchen zahlungsfähige Menſchen geſtellt wurden“ u. ſ. w. 

Auch das jüngſt veröffentlichte Urteil huldigt dieſer Richtung. Es ent— 
hält zuvörderſt wieder eine Einleitung, ganz in dem oratoriſchen Stile des 
Arnim⸗Prozeſſes. Der Vorſitzende entſchuldigt ſich, daß er wegen körperlicher 
Indispoſition nicht mit ganz klarer Stimme publizire. Er entſchuldigt ſich, 
daß er nur einen „Überblid der Gründe“ gebe, indem er darauf hinweiſt, daß 
das Geſetz ihn nur zur Mitteilung, des Wejentlichen verpflichte. (Beiläufig be= 
merkt, ift diefer Überblid fehr ausführlich ausgefallen.) Dann wird der Prozeß 
als ein Partei- und Tendenzprozeß bezeichnet, bei dem, wie die Richter voraus: 
gejehen, die Wogen der Leidenfchaft und Leidenjchaftlichkeit hochgegangen jeien. 
An den fittlichen Wert eines politifchen Gegners habe die jcharf eingehende 
und jcharf einjchneidende Sonde gelegt werden müſſen. Unbeirrt von Leiden- 
ſchaft und Leidenjchaftlichkeit, unbeirrt von dem, was das Parteitreiben da draußen 
verlangte, jei ed Aufgabe des Gerichts gewejen, aus ber förmlichen Mojat von 
Beweilen das Rechte herauszufinden, die Spreu von dem Weizen zu jondern 
und auszufcheiden. Das Ergebnis diejer Ausjcheidung ſolle jegt nach einer 
gewiffenhaften, eingehenden, nahezu achtitündigen Beratung publizirt werben. 
Auch am Schluß verfällt das Urteil wieder in diefen Ton. Es wird gejagt, 
daß das Gericht nad) eingehenditer Erwägung, nach vielfach jtreitenden Für 
und Wider jchlieglich zu der Auffaffung gelangt jei, daß der Angeflagte nicht 
zu einer Geld-, jondern zu einer Gefängnisftrafe zu verurteilen jei. Aber der 
Gerichtshof jei dabei weit unter das beantragte Strafmaß herabgegangen. Der 
Angeklagte werde einjehen, daß fie, die Richter, ihn nicht zu hart bejtrafen wollen, 
und er werde dem Gerichtähofe das Zeugnis nicht verjagen, daß alles, was 
irgend nur mit Recht zu feinen Gunjten in die Wagichale geworfen werden 
fonnte, reiflich und reichlich) von ihnen erwogen worden ſei. Schließlich wird 
im Namen des Gerichtshofes die Hoffnung ausgefprochen, daß dieje Konflikte 
mit dem Strafgefeße im Leben des Angeflagten die legten feien. Aus dem 
übrigen Inhalte des Urteil® wollen wir — andrer jchönredenden Wendungen 
nicht zu gedenfen — nur hervorheben, daß von „dem Falle der gewiſſermaßen 
aus dem Grabe leider wieder erjtandenen Ejther Solymoſſi“ geredet wird, was 
einigermaßen an die aus dem Koffer durchleuchtenden Depejchen des alles 
Arnim erinnert. 

Bir find der Anficht, daß alle folche Auslaffungen eines Gerichts — denn 
in befjen Namen redet doch der Vorſitzende — vom Übel find. Das Gericht 


braucht das, was es thut, nicht zu rechtfertigen, wenn es nur das ai thut. 
Grenzboten III. 1885. 


10 Das richterliche Urteil und die Phrafe. 


— — — — — — —— — 


Über die Natur des Prozeſſes, die ohnehin jeder kannte, war jedes Ausſprechen 
unnötig. Daß das Gericht bei einem ſolchen Prozeſſe wie auch bei jedem 
andern ſeine Schuldigkeit thut, verſteht ſich von ſelbſt; es braucht das nicht 
zu verſichern. Auch wie lange das Gericht beraten hat, ob die Beratung mehr 
oder minder ſchwierig geweſen iſt, gehört nicht vor das Publikum. Vollends 
ſollten ſich die Richter nicht in Verſicherungen darüber ergehen, daß ſie den 
Angeklagten nicht hart behandeln wollen, und dieſen nicht um ein Zeugnis 
bitten, durch welches er ihr Wohlwollen anerlenne. Daß jemand, der ſoeben 
verurteilt wird, künftig nicht wieder mit dem Strafgeſetz in Konflikt gerate, iſt 
ja bei jedem Angeklagten zu hoffen. Eben deshalb aber iſt ein Ausſpruch 
darüber, wenn er nicht etwa eine gutgemeinte Mahnung ſein ſoll, ohne Wert. 
Vor allem aber möchten wir wünſchen, daß unſre Richter in ihren Urteilen es 
ſtreng vermieden, ſich in pathetiſchen und geiſtreichen Wendungen zu ergehen. 
Das richterliche Urteil wiegt in ſich ſelbſt ſo ſchwer, daß es ſolchen rhetoriſchen 
Beiwerkes nicht bedarf. Überdies ift Geiſtreichſein eine gefährliche Sache. Es 
mißlingt mitunter; und dann fällt es als Geſchmackloſigkeit auf den Redenden 
zurück. Doppelt ſchwer aber fällt es auf ihn zurück, wenn der Redende ein 
Richter iſt, weil jedermann fühlt, daß Geiſtreichſein nicht zum Berufe des 
Richters gehört. Je nüchterner und einfacher der Richter ſeinen Ausſpruch 
abgiebt, umſo beſſer erfüllt er ſeine Aufgabe. 

Wir wollen nun auch den eigentlichen Inhalt des Urteils etwas näher 
betrachten. Selbſtverſtändlich laſſen wir dabei die rechtliche Beurteilung, die 
das Gericht der Sache hat angedeihen laſſen, völlig unberührt. Nur dasjenige 
ſoll hier beſprochen werden, was uns in der Form des Urteils verfehlt erſcheint, 
wozu wir allerdings auch alle diejenigen Ausſprüche rechnen, die das Gericht 
gegeben hat, ohne daß die rechtliche Beurteilung der Sache dazu nötigte. Wir 
bemerken in dieſer Beziehung, daß es ja unzweifelhaft Pflicht des Gerichtes 
war, das von der Verteidigung geltend gemachte Verhalten des Hofpredigers 
Stöcker aus dem Geſichtspunkte zu prüfen, ob durch dasſelbe die in den be— 
leidigenden Artikeln enthaltenen Vorwürfe ſachlich gerechtfertigt oder doch we— 
nigſtens einigermaßen entſchuldigt werden. Dieſe Grenze hatte aber auch das 
Gericht in ſeinen Ausſprüchen umſo ſtrenger einzuhalten, als es ja von vorn— 
herein klar war, daß es ſich hier um einen Tendenzprozeß handelte, durch 
welchen der Richterſpruch für politiſche Zwecke dienſtbar gemacht werden ſollte. 

Die Hauptfrage war darauf gerichtet, ob das an die Spitze des Schmäh— 
artiklels geſtellte Wort „Lügner“ in dem Verhalten Stöckers einen Anhalt finde; 
ob man aljo demfelben die Gepflogenheit, abfichtlich und bewußt die Unmwahrheit 
zu jagen, vorwerfen fünne. Das Urteil erörtert zu dieſem Zwede eine Reihe 
von Fällen und zieht das Ergebnis, daß in diefen Fällen Stöder mit den 
Thatfachen fich in Widerjpruch geſetzt habe. Bei einigen diefer Fälle wird diefer 
Ausspruch duch Einſchiebung der Worte „teilweiſe“ oder „halb und Halb“ ab» 


Das richterliche Urteil und die Phrafe. 11 





geihwächt und verliert ſchon dadurch an Bedeutung. Bei andern wird dagegen 
beitimmt gejagt, daß der Widerfpruch bejtehe „feitgeftellten und unzweifelhaften“ 
oder „vorhandenen, beitchenden und ermittelten Thatjachen“ gegenüber. Da 
num auch dieſe Thatjachen unzweifelhaft Stöder befannt waren, jo hätte man 
danad) erwarten jollen, das Gericht werde allerdings zu dem Ergebnis ge- 
langen, daß Stöder mehrmals abfichtlich und bewußt die Umwahrheit gejagt, 
aljo gelogen habe. Es folgt dann aber der Ausſpruch, daß der Gerichtshof 
jich nicht zu der Annahme „bequemen“ könne, daß Stöder nicht im Irrtum 
jich befunden habe, was mit der Erregtheit Stöderd und der notorijchen 
Erregtheit und Heftigfeit politischer Debatten motivirt wird. Ohne Zweifel 
wäre es zur Vermeidung mißbräuchlicher Benugung des Urteils dienlicher ge: 
wejen,; wenn man bei jeder einzelnen Thatjache die Frage beantwortet hätte, 
ob dabei Stöder bewußt und abfichtlic die Unwahrheit gejagt habe. Dann 
würde man auch) vielleicht minder entjchieden einen „Widerfpruch mit den That- 
ſachen“ fonjtatirt haben. Denn in Wahrheit lag die Sade jo, da aud in 
jenen beiden Fällen, wo das Gericht unbedingt einen ſolchen Widerſpruch ala 
vorhanden ausſprach, nur ein relativer Widerjpruch mit den Thatjachen vorlag. 
Dies tritt am deutlichſten hervor bei der Frage über die Beteiligung Stöders 
an den Berhandlungen der Thüringer Kirchenkonferenz. Stöder hatte feine 
Beteiligung an diefen Verhandlungen verneint. Nun jtand feit, daß er bei 
diefer Konferenz feine Rede gehalten, daß er aber auf eine dort an ihn ge 
richtete Frage mit einigen Worten geantwortet hatte. War die nun eine Be: 
teiligung an der Verhandlung? Je nachdem man dieſe Frage verneinte oder 
bejahte, konnte man jagen, daß Stöder wahr oder umwahr geiprochen habe. 
Sonderbareriweife erflärt das Urteil, diefe Frage dahingeftellt fein laſſen zu 
wollen, und der Vorſitzende jpricht ſogar feine perjönliche Anficht dahin aus, 
daß er dieje frage nicht bejahen würde; gleichwohl wird unmittelbar darauf 
gejagt, daß Stöder fich durch jene Verneinung mit den feititehenden Thatjachen 
in Widerfpruch gefeßt habe. Ähnlich verhält es fich mit der Unterfchrift der 
Antifemitenpetition. Stöder hatte diefelbe anfangs unterfchrieben, dann aber 
feine Unterjchrift auf Anjuchen des Dr. Förſter zurüdgenommen. Die große 
Mehrzahl der Petitionen war ohne jeine Unterjchrift in die Welt gegangen. 
Nur eine Heinere Unzahl war mit feiner Unterjchrift verjehen. Stöder hatte 
nun auf Befragen verneint, daß er die Petition unterjchrieben habe. Das war 
wahr oder nicht wahr, je nachdem man die Sache auffaßte. Wegen jolcher 
relativen Unwahrheiten, die davon abhängen, wie der Erflärende die geftellte 
Frage aufgefaßt Habe, kann man aber niemand der Lüge zeihen. Dafür liegt 
der deutliche Beweis darin, daß, wenn Stöder in beiden Fällen die an ihn 
gejtellten Fragen jtatt mit „nein mit „ja“ beantwortet hätte, auch dies relativ 
unwahr gewejen wäre, und man dann auch dies für eine Züge würde haben 
erklären können. Der Ausſpruch, daß Stöder in jenen Fällen mit den feit- 


12 Das richterlicye Urteil und die Phrafe. 





jtehenden Thatjachen ſich in Widerjpruch geſetzt habe, paßt aljo nicht und Steht 
zum Teil mit den eignen Enticheidungsgründen des Gerichtes nicht im Einklange. 
Nur in dieſen BVerhältniffen, allenfall3 in Verbindung mit der „Erregtheit“ 
Stöderd, kann aber der eigentliche Grund gefunden werden, welcher den Bor: 
wurf die Lüge ausſchloß. Statt diejes klar auszufprechen, gebraucht das Urteil 
die ungeeignete Form, erjt einen entſchiednen Widerſpruch mit den Thatjachen 
zu fonjtatiren und dann einen unzureichenden Entichuldigungsgrund dafür auf: 
zuftellen — eine Form, die der Agitation gegen Stöder nicht wenig zu jtatten 
fam. Auch die Bemerkung in dem Urteile, daß bei der Antifemitenpetition 
Stöder „umjomehr“ mit den Thatjachen fich in Widerjpruch geſetzt Habe, weil 
er nicht freiwillig, jondern auf Drängen Förfters, feine Unterjchrift zurück— 
gezogen habe, ijt ganz unverjtändlic). 

Nachdem nun das Urteil fich für Annahme eines „Irrtums“ bei Stöder 
ausgejprochen, erklärt es gleich darauf weiter, Daß e8 doch dem Angeklagten 
„Micht verargen fünne,“ wenn er an der Hand der gedachten Widerjprüche ꝛc. 
zu der Annahme gelangt jei, daß Stöder fi) bewußt mit der Wahrheit in 
Konflikt gejept Habe. Es ijt Regel, daß diejenige Beurteilung, die das Gericht 
der Sache angedeihen läßt, auch der Angeklagte gegen ſich gelten laſſen muß; 
und wenn diejer Grundjaß angewendet wurde, jo mußte das Gericht allerdings 
dem Angeklagten jene Annahme verargen. Oder lag etwa für den Angeklagten die 
Beurteilung der Frage anders als für das Gericht? Ohne Zweifel wollte man nur 
jagen, es gereiche dem Angeklagten einigermaßen zur Entfchuldigung, daß Fälle vor- 
liegen, die fich auf dem Grenzgebiet relativer Wahrheit und Umwahrheit bewegen. 

Nod an vielen andern Stellen hat das Urteil Ausfprüche gegeben, die 
offenbar ihre Spige gegen Stöder fehren, ohne daß dieſe Ausiprüche durch die 
Sadjlage veranlagt waren. Wenn, wie das Gericht annahm, die Beichäftigung 
des ꝛc. Aichenbrenner als Redakteur rechtlich nicht in betracht fam, jo war aud) 
die Bemerkung im Urteile überflüffig: „Mag es auch noch jo unangemefjen er: 
jcheinen, einen Bortier mit der Zeichnung von Artikeln zu befafjen.” Der Bor: 
gang mit dem Pfarrer Witte ftand den äußern Thatjachen nach völlig feit. 
Wollte aber das Gericht — worauf es doch vor allem anfam — annehmen, 
daß dabei Stöder aus „Ehrgeiz“ und aus „Rache“ (welche der Vorfigende in 
„Revanche“ überjegte) gehandelt habe, jo hätte dies Doch noch einer bejondern 
Begründung bedurft. Dieje fehlt aber in dem Urteil. Nahm das Gericht an, 
daß der Vorgang mit Ewald, weil er erſt nach Erfjcheinen der beleidigenden 
Artikel Ttattgefunden Habe, nicht in betracht komme (was fi) mit wenigen 
Worten hätte jagen laffen), jo hatte es auch feinen Beruf auszufprechen: „Mag 
man über diejen Eid (Stöders) denken, wie man will, mag man ihn als einen 
borjichtigen oder, was wohl näher liegt, unvorfichtigen anſehen.“ Hatte Stöder 
die Bezeichnung jemandes als Juden mit der Bemerkung zurüdgenommen: 
„Run, dann ift er noch jchlimmer als ein Jude!“ jo war doch das Gericht nicht 


Das richterlihe Urteil und die Phrafe. 13 


berufen, diefe Bemerkung als eine „unſchickliche, ja gehäffige* zu fritifiren. Bei 
Beurteilung der Strafzumefjungsgründe rechnet das Urteil dem Angeklagten zur 
Milderung an, daß er der jüdiichen Konfeſſion angehöre, und jagt in diejer 
Beziehung: „Derjenige müßte feinen Glauben und dem feiner Väter nicht Tieb 
haben, der nicht jchieglich tief gereizt und innerlic; empört würde, wenn er 
Angriffe fieht und wiederum fieht auf feinen Glauben und die Gleichberechtigung 
ſeines Glaubens, zumal wenn dieje Angriffe von einem Geiftlichen kommen.“ 
Wir lajjen die Frage jenes Milderungsgrundes an ſich völlig dahingeftellt. 
Was aber die angeführte Begründung betrifft, jo iſt ja völlig notoriſch, daß 
nach der Anficht Unzähliger die neuere Bewegung gegen die Juden, an welcher 
auch Stöder hervorragend teilgenommen hat, ihren Grund und ihre Berechtigung 
hat nicht in dem Glauben, jondern in ganz andern Eigenschaften, die man dem 
jüdiſchen Volksſtamme beimißt, Eigenjchaften, für die man auch die angejchul- 
digten Artifel ala Beleg anführen könnte. Es ift auch nicht befannt geworben, 
dag Stöder in einem andern Sinne fi an diejer Bewegung beteiligt habe. 
E3 war daher durchaus nicht wohl angebracht, den Angeklagten gleichjam zu 
glorifiziren, daß: er aus Liebe zu feinem und feiner Väter Glauben in gerechte 
Empörung geraten jei gegen einen Geiftlichen, der diefen Glauben verfolge. 
Ein Glaubensmärtyrer ift der Redakteur der „Freien Zeitung“ doch gewiß nicht. 
Gerade in einer Frage diefer Art jollte jeder Gerichtshof ſich aufs jtrengite 
auch vor dem Scheine einer Parteinahme hüten. Über die Frage, ob Stöder 
in feiner Stellung al3 Geiftlicher einen beſondern Schuß verdiene, jagt dann 
das Urteil: „Der Gerichtshof ift gern gewillt, dem Geiftlichen, als dem Ver— 
fünder des göttlichen Wortes von Liebe und Verjöhnung, den von der Staats» 
anwaltichaft mit Recht verlangten befondern Schuß des Geſetzes angedeihen zu 
laffen, und zwar deshalb, weil gerade die Stellung des Geiſtlichen diejenige ift, in 
der das Vertrauen der großen Menge auf feine Wahrhaftigkeit wurzelt und zu dem 
(zu ihm?) Die große Menge als Zeugen der göttlichen Weltordnung mit befondrer 
Andacht und Verehrung emporblidt. Aber diefer bejondre Schuß des Geſetzes 
jegt voraus, daß der Geiftliche fich nicht miſcht in politische Agitation, daß er 
jeinerfeit3 von der politischen Agitation deshalb fich fern hält, weil er, wenn 
er angreift, Angriffe gewwärtigen muß, und weil, wenn er in der Brandung der 
politiichen Agitation fteht, er fich nicht wundern und fich nicht beflagen kann, 
wenn dieſe nicht immer klare Flut auch ihn mit ihrem Schaum, wenn ich nicht 
jagen ſoll Schlamm, zum Zeil begießt.“ Auch hier wäre die Sache jehr einfach 
auszudrücden gewejen, wenn der Vorfigende gejagt hätte, daß ein Getjtlicher, 
der ſich an politijchen Agitationen beteilige, gegen Angriffe, die auf diejem Ge— 
biete gegen ihn gerichtet werden, feinen bejondern Schuß beanjpruchen fönne. 
Statt dejjen ergeht fi) das Urteil in einem Wortfchwall, der, wenn er auch 
vielleicht nur aus oratorischem Bedürfnis hervorgegangen ift, doch, wie fich das 
Gericht jelbft jagen mußte, zu der naheliegenden Auffafjung führt, es habe damit 


14 Die Abfaffung richterlicher Urteile. 











durch allerhand Anfpielungen eine tabelnde Kritik gegen das ganze Verhalten 
Stöders geübt werden follen. 

Zu einer folchen erhebt ji dann auch noch am Schluffe das Urteil. Dem 
Ausfpruche, daß das Gericht Stöder nicht einen bewußten Konflift mit ber 
Wahrheit „unterjchteben“ könne und wolle, wird der weitere Ausspruch zugefügt, 
daß das ganze Auftreten Stöders ein unvorfichtiges, ja jogar (wie der Gerichts- 
hof ausdrüdlich den Vorfigenden zu jagen beauftragt habe) ein mindejtens [eicht- 
fertiges gewejen jei. Wozu diefer Vorwurf? Gehörte er zur Beurteilung des 
Vergehens des Angellagten? Dder war etwa Stöder jelbjt der „Angeklagte“ 
(wie ihn allerdings der Vorjitende mehrfach aus Verſehen nannte)? Und wenn 
auch der Ausspruch, da Stöder „unvorfichtig” gehandelt — was wohl niemand 
bezweifelt —, notwendig geweſen wäre, weshalb dann noch ihm durch den ge- 
jteigerten Vorwurf der „Leichtfertigfeit“ auch einen jubjeftiven Makel anhängen? 

Zu allen diefen kritiſchen Bemerkungen über Stöder hatte der Gerichtshof 
durchaus feinen Beruf. Durch diefelben hat er aber gerade dasjenige herbeigeführt, 
was er nach dem in der Einleitung des Urteils gefagten vermeiden wollte. 
Er hat ein Urteil erlafjen, welches der von der Verteidigung in den Prozek 
hineingetragenen politischen Tendenz volles Waſſer auf die Mühle gab. Der 
Prozeß wurde num kurzweg „der Prozeß Stöder“ genannt. In ciner Anzahl 
von Blättern erjchien fofort eine Blumenlefe aus dem Urteil, welche alle die 
gegen Stöder gerichteten Spigen dem Publikum preisgab. Und wo das Urteil 
in jeiner Gefamtheit wiedergegeben wurde, da waren jene Spigen mit gejperrter 
Schrift gedrudt, um fie als den eigentlichen Inhalt des Urteils erjcheinen zu 
lajfen. Unzählige Artikel folgten dann, welche aus dem jo zurechtgemachten 
Urteile die gehäffigften Folgerungen zogen. Dieſe ganze wüſte Agitation wäre 
vermieden worden, wenn man mit größerer Vorficht die Enticheidungsgründe 
gefaßt, namentlich fich ftreng auf dasjenige bejchränft hätte, was zur Sache 
gehörte. 

Ihren allgemeinften Grund haben ſolche beklagenswerte Erjcheinungen im 
der Thatfache, daß überhaupt in unfern Urteilsjprüchen eine Redfeligfeit cin- 
geriffen ift, die man früher nicht kannte. Früher war es der Ruhm des Richters, 
ſich möglichit fnapp und präzis auszudrüden, auch nicht ein Wort mehr zu jagen, 
als die rechtliche Beurteilung des Falles erheifchte. Heute betrachten viele Richter 
das Urteil ala die Stelle, wo fie ihren Herzensergiekungen freien Lauf laſſen 
fönnen. Tritt dann noch der Heiz des Senjationsbebürfniffes und vielleicht 
der Mangel an zureichendem Geichid Hinzu, jo fommt es leicht zu den un— 
pafjendjten Auslaffungen. Es würde eine Wohlthat für die Rechtfprechung fein, 
wenn die höheren Suftizverwaltungen gegebene Veranlaſſungen benußten, um 
die Richter von ſolchen Abwegen zurüdzuführen. Sicherlich gehört das Er: 
gehen in nutzloſen Redeweiſen nicht zur richterlichen Selbftändigfeit und Un- 
abhängigfeit. 


Deutfches Rünitlerleben 
im fünfzehnten und fechzehnten Jahrhundert. 
Don Rihard Muther. 


a ic jeit mehreren Jahren, jo benußte ich auch diesmal die Pfingft: 
ferien zu einem Streifzuge durch die ſüddeutſchen Sammlungen 
und Archive. Zwar ift es an jich nur ein geringes Vergnügen, 
mit zweifelhafter Ausficht auf Erfolg die alten Maler- und Zunft: 
bicher, Steuer= und Bürgerlijten zu durchjuchen, aber mitunter 
hat e3 doch jeinen Reiz. Neben den zahllojen der Vergeſſenheit überlieferten 
Namen, über die das Auge gleichgiltig hinjchweift, treten uns auf den vergilbten 
Blättern aud) die großen Namen der Kunjtgejchichte, die Namen eines Herlin 
und Zeitblom, eines Dürer und Holbein, eines Burgfmair und Schäufelein ent- 
gegen. Man lernt die Männer, die man jonjt nur als Künſtler zu betrachten 
pflegt, ald Menfchen fennen; man erhält Aufjchluß über ihren Bildungsgang, 
ihren Verkehr untereinander, ihr Verhältnis zu Auftraggebern und Gönnern, 
ihre Vermögensverhältniffe, ihre gejellichaftliche Stellung, man beobachtet den 
großen Gegenja des deutjchen Kunjtlebens zum italienischen; man verjteht, 
warum erjt jo jpät in Deutjchland ein eigentlicher Künftlerjtand fich entwideln 
fonnte. 

Bekanntlich hat man in der neueren Kiünftlergejchichte drei Perioden zu 
unterjcheiden. Die Künftler des frühen Mittelalters waren Kloftergeiftliche, die 
nicht für ihren Lebensunterhalt zu forgen hatten, ſondern ausſchließlich zur 
Ehre Gottes arbeiteten. Einen Stand, der durch die Kunſt fich ernährte, gab 
es erjt jeit dem dreischnten Jahrhundert. An die Stelle der geiftlichen Künftler 
traten damals die Laienmeiſter, die jtädtiichen Steinmegen, Rotgießer und Maler, 
Ichlichte Handwerker, die ung nur durch ihre Werfe, nicht durch ihre perjün- 
lihen Erlebniſſe fejjeln. Und aus diefem weltlichen Handwerferjtande erft ent- 
widelte ſich im fünfzehnten und jechzehnten Jahrhundert der eigentliche Künftler- 
ſtand. 

Am früheſten ging dieſe Entwicklung in Italien vor ſich, und ſie iſt im 
fünfzehnten Jahrhundert ſchon beinahe abgeſchloſſen. Obwohl noch in Zünften 
vereinigt, erfreuten ſich die italieniſchen Meiſter damals doch ſchon aller Ehren, 
wie ſie nur der wirkliche Künſtler genießt. Die Medici in Florenz, die Eſthe 
in Ferrara, die Gonzaga in Mantua, die Sforza in Mailand waren mit ihnen 





16 Deutfches Künftlerleben im fünfzehnten und fechzehnten Jahrhundert. 


innig befreundet; die Gelehrten und Dichter waren feit Dante und Petrarca bie 
Herolde des künſtleriſchen Ruhmes, und nicht minder wußte das Volk feine 
großen Künstler zu feiern. So waren diefelben jchon damals von jtolzem 
Selbjtbewußtjein durchdrungen und brachten fast auf allen Werfen ihre Injchrift 
oder ihr Selbjtporträt an; fie wußten, daß fie nach ihrem Tode des ehrenden 
Andenkens ihrer Mitbürger ficher feien. Und beinahe ebenjo günftig wie in 
Italien war die Stellung der Künſtler in den Niederlanden. Auch hier genoffen 
fie das größte Anſehen bei den burgundiſchen Fürften, auch Hier wurden fie 
durch pretjende Inschriften und nach ihrem Tode durch ehrenvolle Grabjchriften 
ausgezeichnet. 

Nur Deutichland hinkte den übrigen Ländern weit nad). Ganz im Gegen: 
ja zu dem italienischen und niederländifchen Künstler war der deutjche Maler 
des fünfzehnten Jahrhunderts noch ausschließlich zünftiger Handwerker. Wäh- 
rend dort jchon die Handwerksbande gejprengt waren, bezeichnet in Deutichland 
das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert noch die Blütezeit des Zunftwejens. 
1348 wurde die Prager, 1368 die Augsburger, 1390 die Breslauer, 1410 bie 
Wiener Malerinnung gegründet, und um die Mitte des fünfzehnten Jahrhun— 
dert3 hatte ſich — abgejehen von Nürnberg, wo die Patrizier das Entjtehen 
der Innungen verhinderten — das Net der Zünfte über ganz Deutjchland aus- 
geſpannt. 

Wie im Mittelalter gingen daher auch jetzt noch die meiſten Maler aus 
Handwerkerfamilien hervor. Sie ergriffen das Handwerk des Vaters, wenn ſie 
auch keine beſondre Anlage dazu hatten, ſchon deshalb, weil dem Sohne eines 
Meiſters manche Nachſicht gewährt wurde. 

Die Schulbildung, die ſie haben mußten, brauchte nicht beſſer zu ſein als 
die der andern Handwerker. Die Forderung, die L. B. Alberti an den italie— 
niſchen Maler ſtellt, daß er „in allen freien Künſten erfahren, mit den Dichtern 
und Rednern vertraut ſei, um von ihnen ſeine geiſtigen Inſpirationen zu holen,“ 
wäre in Deutſchland unerfüllbar geweſen. Dürer, der ſchon eine beſſere Er— 
ziehung erhalten hatte, ſchreibt: „Mein Vater, der ſonderlich ein Gefallen an mir 
hatte, ließ mich in die Schule gehen, und da ich ſchreiben und leſen gelernt, 
nahm er mich wieder aus der Schule und lehrte mich das Goldſchmiedwerk.“ 
Die höchſte Forderung, die geſtellt werden konnte, war, daß der angehende 
Künſtler „recht leſen und ſchreiben könne und mit dem Latein auferzogen werde, 
zu verſtehen etliche Schriften." Man mutete damals dem Menſchen eben noch 
nicht jene Summe von Kenntniſſen zu, die in unferm heutigen Staate die all- 
gemeine Bildung ausmacht. 

So konnten die Lehrjahre bedeutend früher beginnen als heutzutage. Ge— 
wöhnlich im dreizehnten Lebensjahre wurde der Knabe im die Werkſtatt eines 
angefehenen Maler gegeben. Worzulegen hatte er dabei ein Geburtszeugnig, 
da nur ehelich Gebornen der Gewerbebetrieb gejtattet wurde. War diejer Ge— 





Deutjches Künftlerleben im füänfzehnten und ſechzehnten Jahrhundert. 17 





burtäbrief beigebracht, jo unterwarf ſich der Knabe einer drei- bis vierwöchent: 
Iihen Probe. Erft wenn dieje zur Zufriedenheit ausgefallen war, wurde der 
Lehrkontrakt abgejchlofjen und im diefem die Dauer der Lehrzeit und das Lehr- 
geld feitgeftellt, z. B. „Iorge ebersbach hat globet czu dinen peter Stritjchen dem 
mofer 4 yor an czu heben czu phingejten, und der vater jol den Jungen cleyden 
und der meilter jal im jchu bejorgen.“ Die Aufnahme bei der Zunft im Kreiſe 
der verjammelten Meijter war der erjte Feittag des jungen Malers. Die Dauer 
ber Lehrzeit betrug drei bis fünf Jahre. Bei dreijähriger Lehrzeit hatte der 
Lehrling dem Meiſter ein Lehrgeld von einer Mark zu zahlen; konnte er das— 
jelbe nicht erjchwingen, jo jollte er vier Jahre dienen; in der Negel diente er 
aber noch länger, wobei freilich der Meifter in den jpätern Jahren ihm Wochen: 
lohn zu zahlen und Kleidung zu liefern hatte. Won theoretiichem Unterricht wie 
in Stalien war nicht die Rede. Der Lehrling lernte feine Kunſt ganz empirisch, 
verrichtete alle Handleiftungen, die jonjt ein Lehrjunge zu verrichten hatte, und 
eignete fich dabei die Bereitung der Farben und deren Behandlung an. Er 
lernte ausschließlich durch den jteten Verkehr mit dem Meiſter, durch den Ein- 
blid in die Art, wie jener fonzipirte und feine Konzeptionen zur Ausführung 
brachte, und jammelte jo gleichjam jpielend beim Meijter feine Erfahrungen. 

Nachdem die Lehrzeit verflojjen war, trat er wieder vor die Zunftlade, 
um durch ein Probeftüd darzuthun, daß er feine Lehrzeit richtig benußt habe. 
Hatte fein „handwerck ein gut gnigen gehabt,“ jo trat er in den Gejellenitand 
über und begann feine Wanderung. Nad altem Handwerfsbraud) von Stadt 
zu Stadt wandernd, hier fürzer, dort länger verweilend, in einer oder der andern 
Malerwerkjtatt arbeitend, fuchte er neue Erfahrungen zu jammeln. Wenn es 
ihm möglich war, pilgerte er nach den Niederlanden, wo gerade damals infolge 
der Beitrebungen der Eycks die Malerei ihren glänzenden Entwidlungsgang be- 
gonnen hatte. Über fein Verhältnis zum Meifter, feine fittliche Führung, die 
Arbeitszeit und dergleichen waren ihm genaue Vorjchrijten gegeben. Er hatte 
eine zweiwöchenttiche Probezeit zu bejtehen, im Sommer mit dem Frühgeläute 
aufzuftehen und bis zum Abendeffen, im Winter auch noch bei Licht zu arbeiten. 
Selbjtändige Arbeiten, wie fie nur den Meijtern zufamen, durfte er nicht über- 
nehmen. Für die Entlaffung war eine zweiwöchentliche Kündigungsfriſt feitgejett. 

War dann der junge Künftler unterrichteter und gejchidter von jeiner 
Banderjchaft in die Vaterſtadt zurüdgefehrt, um ſich dort als jelbitändiger 
Meifter niederzulafjen, jo mußte er zunächſt das Bürgerrecht erwerben, da feiner, 
der nicht Bürger war, eine Werkjtatt halten und öffentliche Aufträge annchmen 
durfte. Zur Erwerbung des Bürgerrechte wurde gewöhnlich das „mannbare 
Alter“ von fünfundzwanzig Jahren gefordert; dag Einfaufsgeld betrug zwei 
bis vier Gulden. Die Eintragung in die Bürgerliften erfolgte etwa mit den 
Worten: „Item Dinftag vor Ulrici anno... ijt N.N. dem maler dag burgrecht 
glihenn. Et juravit prout moris est.“ 

Grenzboten III. 1885. 3 


18 Deutſches Künftlerleben im fünfzehnten und fechzehnten Jahrhundert. 


Erſt jet Eonnte er in die Malerzunft eintreten und hatte zu diefem Zwecke 
ein Meifterjtüd zu liefern, da8 den Meiftern zur Begutachtung vorgelegt wurde. 
Die Anforderungen dabei waren in den einzelnen Städten verjchieden. Beſonders 
groß waren fie in Straßburg, wo der Aufzunehmende in Olmalerei, in Leim- 
farbe und im Bemalen eines Schnitzwerkes jeine Gejchidlichfeit zu zeigen und 
demnach) drei Meifterjtüce zu Tiefern hatte. Nur den Söhnen und Schwieger- 
jöhnen der Meiſter waren einige Erleichterungen gewährt. Wenn das Meifter- 
ſtück genügte und die Eintrittögebühr bezahlt war, wurde der Neuling in das 
Zunftbuch eingetragen: „Item es hat die Zunfft entfangen N. N. der moler uff 
juntag vor ſant michelsdag im .. .ten jar und hat gefchworen der zunft ordnung 
zu halten wie ein ander zunftbruder der Moler.“ So war der junge Meifter 
jegt ein Glied in dem großen Handwerkerverbande feiner Vaterjtadt und ge— 
hörte mit den Glaſern, Sattlern, Buchbindern, Formfchneidern einem Zunft 
verbande an. 

Aber eine jelbitändige Thätigfeit durfte er noch nicht beginnen, bevor er 
verheiratet war. „Welcher in der bruderjchaft meifter werden welde,“ lautete 
ein Hauptjag der Zunftordnung, „der jal ein eliche hausfraw haben“ oder 
wenigjtens bei zehn Mark Strafe „binnen Iar und Tag ein Weib nehmen.“ 
So wurde fajt jeder Künſtler jchon in jungen Sahren Ehemann. Gewöhnlich 
führte er eine Malertochter oder eine Malerwitwe heim, da er in diefem Falle, 
wie jchon gejagt, mehrere Erleichterungen vonfeiten der Zunft zu erwarten 
hatte. Michel Wohlgemuth heiratete 1473 die Witwe des Malers Hans 
Pleydenwurf, Bartholomäus Zeitblom 1483 die Tochter jeines Lehrmeifters 
Schülein, und jo fonnte der junge Künftler glei) in dem Haufe des frühern 
Ehegatten jeiner Frau oder in dem des Schwiegervaters das Gefchäft fortjegen. 

Die Ausfichten, die fi ihm nun boten, waren jehr verjchieden. Sein 
Thätigfeitögebiet war ein weites, da, dem Gebrauche des Mittelalters entjprechend, 
Kunft und Handwerk nod in inniger Verbindung waren. Er hatte nicht allein 
Gemälde auszuführen, jondern anzuftreichen, was mit Farbe zu verfehen war, 
Wände, Fußböden, Möbel, Fahnen und Särge. Seine künftlerische Thätigfeit 
war dafür umſo beichränfter, da die Kunſt damals noch ausjchließlih im 
Dienjte der Kirche ftand. Die Höfe und der Adel waren verarmt; Bilder 
wurden fajt nur von Geiftlichen oder wohlhabenden Bürgern beftellt, die durch 
die Stiftung einer Altartafel ein Bußgelübde erfüllen oder ein gutes Werk ver- 
richten wollten. 

Der Maler arbeitete daher nur auf Beſtellung und erhielt für jeine Dar- 
ſtellungen ein genaues Programm. Bei der Übernahme jedes größern Auftrages 
wurde ein Vertrag geſchloſſen, worin alle Einzelheiten des Kunſtwerkes zwiſchen 
dem Beſteller und dem ausführenden Künſtler kontraktlich feſtgeſtellt wurden. 
Erhalten iſt z. B. derjenige, der 1471 mit Michael Pacher wegen der Über— 
nahme eines Altars in Bozen, 1481 mit dem Breslauer Maler Nikolaus 


Deutfches Künftlerleben im fünfjehnten und fechzehnten Jahrhundert. 19 





Schmidt wegen Übernahme eines Altars in Liegnig, 1508 mit Michel Wohl- 
gemuth wegen Übernahme eines Altars in Schwabad) geichloffen wurde. In 
allen ift der darzuftellende Gegenstand, die Größe der Tafel und der zu zahlende 
Preis genau feitgejeßt. 

Durch) die Art diefer Werke war naturgemäß auch die Art der Ausführung 
bedingt. Die Maler hatten außer den eigentlichen Bildern auch die Heritellung, 
Vergoldung und Bemalung der gejchnigten Mittelfiguren der Wltarwerfe zu 
übernehmen, weshalb fie in den Urkunden auch bald als Maler, bald als Bild— 
Ichniger bezeichnet werden. Un die eigenhändige Vollendung eines jolchen um— 
fangreichen Werfes war natürlich nicht zu denken, fondern der Meifter mußte 
bei der Ausführung eine Reihe von Gejellen zu Hilfe nehmen. Die Zahl 
derjelben war in den meijten Städten unbejchränft, nur in Prag durfte ein 
Dealer als Gejellen nur einen Maler, einen Zubereiter und einen Schniger 
unterhalten. Er begnügte fich, eine Skizze zu entwerfen, auch wohl biejelbe 
mit Dunfeln Pinfeljtrichen auf die Tafel zu übertragen; dieſe Entwürfe wurden 
dann den „Knechten“ zur Vollendung überantwortet, und hieraus erklärt fich 
die an den Altarwerfen jener Zeit oft wahrnehmbare ungleiche Arbeit. 

Im übrigen richtete fich die Urt der Ausführung nach den feitgejeten 
Preifen, die jo verjchieden waren, daß man ſich nur ſchwer ein Gejamturteil 
darüber bilden fann. Der betriebjame Wohlgemuth erhielt für den Schwabacher 
Altar 600, für den Zwidauer jogar 1400 rheiniiche Gulden; Nikolaus Schmidt 
befam für jein Altarwerf in Liegnig 270, Hans Pleydenwurf für fein Wert 
in der Elijabethfirche in Breslau 200 ungarische Gulden. Dieſen Meiftern 
ſteht als der am fchlechtejten bezahlte Künftler der alte Holbein gegenüber, der 
die verjchiednen noch jegt in der Augsburger Galerie bewahrten Bilder für 
unglaublich geringe Summen lieferte. Er erhielt für die ſechs Paſſionsſzenen 
26 Gulden, für die Waltherjche Botivtafel 54 Gulden 30 Kreuzer, für die Bafilifa 
Santa Maria Maggiore 60 Gulden, für die Paulsbafilifa gegen 90 Gulden; nur 
einmal hatte er für die Moritzkirche vier Flügel eines Altarwerkes zu liefern, wofür 
die überrafchend große Summe von 325 Gulden ausbedungen war. Wenn die Maler 
an Ort und Stelle arbeiteten, jo jtanden fie gewöhnlich in der Verpflegung 
ihrer Auftraggeber, auch Fauften Die Befteller dann jelbjt die Farben und be- 
zahlten die Künstler ratenweiſe. Wurde das Werk abgeliefert, jo wurde über 
den ausbedungenen Preis noch der Frau und den Gejellen des Künſtlers ein 
Trinfgeld gegeben. Als der alte Holbein z. B. im Jahre 1508 fein Altarwerf 
an die Morigfirche ablieferte, erhielt jeine Frau 5 Gulden „zu leikoff“ und 
jein Sohn Ambrofius 1 Gulden. Als Wohlgemuth gleichzeitig den Schwa- 
bacher Altar vollendet hatte, wurden außer der ausbedungenen Summe von 
600 Gulden feiner Frau noch 10 Gulden „zum Leihfauf” verwilligt. 

Andre Erwerbözweige neben ihrer Malerthätigfeit hatten die Künftler im 
fünfzehnten Jahrhundert noch nicht. Zwar begannen fie ſeit den achtziger 





20 Deutiches Künftlerleben im fünfzehnten und fehhzehnten Jahrhundert. 


Jahren auch ald SKupferitecher und Zeichner für den Formfchnitt thätig zu 
jein. Da jedoch ſowohl die gedruckten Bilderbücher wie die Heiligendarftellungen, 
Spielkarten, Neujahrswünjche, Ablahbriefe und Kalender damals nur im den 
niedern Volkskreiſen Abjag fanden, denen die Art der Ausführung gleichgiltig 
war, fo vermochten fie nur ſchwer den Goldjchmieden und Briefdrudern Kon- 
furren; zu machen. 

Unter diefen Umftänden waren die Vermögensverhältniffe der Künſtler 
jener Zeit nicht3 weniger als glänzend, und der Klageruf, den im Jahre 1431 
der alte Maler Lukas Mofer ausſtieß, als er fein Altarbild für das Kloſter 
Tiefenbronn vollendet hatte — Schrie Kunft jchrie und Flag dich jer, Din be- 
gert jecz Niemen mer, — ift für die ganze Periode bezeichnend. Das fünf: 
zehnte Jahrhundert war im Deutfchland eine Zeit politiicher und veligiöjer 
Gährung, eine Zeit, in der Hungersnöte wüteten und das Boll von allem 
denfbaren Unglück heimgejucht wurde. Sein Wunder, daß der Abſatz der 
Bilder fo gering und die Bezahlung fo fchlecht war, daß gar oft Nahrungs: 
jorgen an den SKünftler herantraten. Selbft ein jo geichäftiger Geiſt wie 
Wohlgemuth konnte im fünfzehnten Jahrhundert feine großen Erjparnijje 
machen und ging in den jpätern Jahren in feinen VBermögensverhältniffen zurüd. 
Ein Maler Ulrich Altdorfer in Regensburg war jo arm, daß er im Jahre 1499, 
als er die Erlaubnis erhielt, von Negensburg abzuziehen und auf fein Bürgers 
recht zu verzichten, nicht die Gebühr von zehn Pfennigen zu zahlen vermochte, 
was er eidlich befräftigen mußte. Und das traurigjte Bild eines folchen ſtets 
mit Nahrungsjorgen kämpfenden Künſtlers bietet der alte Holbein, der gerade 
in den Jahren, als er fein Hauptwerk, den Sebaftiangaltar, vollendet hatte, 
jämmerlich zugrunde ging. Dieſe Nahrungsjorgen waren umjo ſchlimmer, als 
fie auch nicht mit dem Flitter äußrer Ehren verdedt werden fonnten. Der 
Künftler lebte ganz innerhalb feiner Zunft; hatte er es unter jeinen Genofjen 
zu befonderm Anjehen gebracht, jo fonnte er, wie Stephan Lochner in Köln 
oder Hans Schülein in Ulm, zum Zunftmeiſter gewählt werden; das war aber 
auch die höchite Ehre, die er zu erwarten hatte. 

In einem Handwerker, der ubendrein in jo gedrückten Verhältniſſen lebte, 
fonnte fich naturgemäß noch fein fünftlerifches Selbitbewußtjein entwideln. Er 
war zufrieden, wenn er das Nötige verdiente, um leben zu können, und dachte 
noch nicht an den Ruhm und die Ehre feiner Kunſt. „Wo aber die Tufel an 
einem oder mehreren Orten ungejtalt würde,” heißt es in dem mit Wohlgemuth 
wegen des Schwabacher Altars abgejchloffenen Vertrage, „da joll er folange 
ändern und bejjern, bis fie nad) der bejtändigen Befihtigung, von beiden Teilen 
dazu verordnet, wohlgeftalt erfannt würde; wo aber die Tafel dermaßen großen 
Ungeftalt gewinne, der nicht zu ändern wäre, da fol er jolche Tafel jelbft be- 
halten und das gegebene Geld ohne Abgang und Schaden wiedergeben.“ Wuch 
diefe Stelle ift für das Weſen der beutjchen Kunſt bezeichnend., Während in 











Deutfches Künftlerleben im fünfzehnten und fehzehnten Jahrhundert. 21 


Italien und in den Niederlanden die Meiſter ſchon von einem echten Künſtler— 
ftolze bejeelt waren, ihre Werke eigenhändig zu vollenden fjuchten und fait 
überall ihre Namen beifegten, fuchen wir in Deutichland nach folchen Künftler- 
infchriften vergebend. Die Maler ſelbſt betrachteten ihre Werke noch aus— 
ſchließlich als Handwerkserzeugniſſe, die fie ebenjowenig mit ihrem Namen be 
zeichneten wie ihre Zunftgenoffen, die Tiichler und Sattler. Injchriften auf 
Bildern find äußerſt jelten; die Monogramme, mit denen die Holzjchnitte und 
Kupferftiche öfter verjehen find, können nicht zählen, da fie nicht das geijtige 
Eigentum bezeichnen, fondern lediglich eine Fabrifmarfe find, die ſchon zum 
Zwecke der Befteuerung von den Behörden verlangt wurde. Ebenſo vergeblich 
ſucht man nach Selbjtbildniffen der Künftler. Während in Italien faft jeder 
Maler auf irgendeinem Werfe fein Selbitporträt anbrachte, iſt von deutjchen 
Meiftern nur der ältere Holbein zu nennen, der auf feiner 1504 gemalten 
Baulusbafilifa fich ſelbſt und feine Familie darjtellte. 

Wer hätte auch ein Intereffe an dem Namen oder dem Bildnifje des 
Künstlers haben können! Gab es doch damals in Deutjchland überhaupt noch 
feinen künftleriichen Ruhm. Es fehlte noch jedes äfthetiiche Verftändnis, wie 
es in Italien fchon fo früh feit Cimabues und Ducciod Zeiten ſich geltend 
machte. Die Bilder dienten nur zur religiöfen Erbauung; man war zufrieden, 
wenn fie im Goldglanz auf dem Ultar prangten, der Name der Maler war 
der Mitwelt gleichgiltig. In den Mealerbüchern wie in den Stadtregiſtern 
werden fie nur mit dem Vornamen (michel maler, clawß maler) oder höchitens 
dem Namen ihrer Heimat (niclas von Deljen maler) bezeichnet, und ebenſowenig 
Beachtung fanden fie bei den Gelehrten. Auch diefe wußten noch nicht, daß 
es außer den politifchen Aktionen noch ein andres Gebiet gebe, das der Be— 
achtung des Gejchichtzfchreibers würdig ſei. Und fo hat fein einziger Künstler 
des fünfzchnten Jahrhunderts in der zeitgemöffifchen Literatur eine ehrenvolle 
Anerkennung gefunden. Sie lebten als zünftige Handwerker und wurden, wenn 
fie ftarben, von ihrer Zunft zu Grabe getragen. Keine Chronik meldete von 
ihrem Tode. Wann einer ftarb, fieht man immer nur daraus, daß er nicht 
mehr in den Maler- und Steuerbüchern eingetragen ift, daß ftatt feiner Die 
Witwe oder der Sohn die Steuern bezahlt. 

Die Entwidlung, die in Italien ſchon im vierzehnten Jahrhundert be- 
gonnen hatte, ging in Deutjchland erft im Reformationszeitalter ganz allmählich 
vor ſich. 

Zunächſt blieb auch im fechzehnten Jahrhundert das äußere Leben des 
Künftlers das gleiche. Der Knabe trat wie früher in der Werfitatt eine an- 
gejehenen Malers feine Künftlerlaufbahn an, und ging, wenn er feine Lehrzeit 
vollendet hatte, auf die Wanderfchaft, freilich nicht mehr nach den Niederlanden, 
fondern gewöhnlich nach Italien, das feit dem Beginne des jechzehnten Jahr: 
hundert3 die Führung auf dem Gebiete der Kunft übernommen hatte. Ins— 





22 Deutfhes Künftlerleben im fünfzehnten und fehzehnten Jahrhundert. 


befondre Benedig und die Lombardei zu jehen war das Ziel der Wünfche bei 
jedem Künſtler des jechzehnten Jahrhunderts. 

Zurüdgefehrt, trat er jodann wie früher, wenn er Meifter werden wollte, 
in die Zunft ein, wurde Bürger und heiratete. Wir finden ſowohl Dürer wie Hol: 
bein mit dreiundzwanzig Jahren verheiratet und dürfen uns nicht wundern, wenn 
dabei mancher Konflikt zwifchen alter und neuer Zeit fich geltend machte. Die 
alten Schriftjteller wifjen wiederholt von unglüdlichen Eheverhältnifjen der da- 
maligen Künſtler zu erzählen, melden jowohl von Dürer wie von Holbein und 
Grünewald, daß fie „Übel verheiratet“ waren. Und diejen alten Berichten liegt 
bei aller Übertreibung doch ficher eine, allgemeine Wahrheit zugrunde. Ein 
junger Künftler des jechzehnten Jahrhunderts, deſſen Bruft von Plänen voll 
war, fonnte fich unmöglich als Züngling in den engen Schranfen des Fleinbürger- 
lichen Lebens wohl fühlen. 

Allerdings war er jet weit eher imftande, Weib und Kind zu ernähren, als 
im fünfzehnten Jahrhundert, da er auf viel zahlreichere Aufträge rechnen konnte. 
Auch jest war es für ihn feine Schande, ald Handwerker thätig zu fein; Die 
Archive belehren uns zur Genüge, wieviel rein handwerfsmäßige Aufträge die 
großen Meifter des Reformationszeitalterd zu übernehmen Hatten. Aber auch 
die Fünftlerifchen Aufträge wurden häufiger. Im den deutjchen Fürjten, einem 
Marimilian dem Erjten, Friedrich dem Werfen, Albrecht von Brandenburg, Wil- 
helm von Baiern begann fich das Verſtändnis für Kunſt zu regen, die Städte 
legten mehr Gewicht auf die Ausfchmüdung ihrer öffentlichen Bauten, und 
auch die reichen Patrizier in Augsburg, Frankfurt und Nürnberg feten all: 
mählich ihren Stolz darein, nicht nur firchliche Stiftungen zu machen, fondern 
auch das Innere ihrer Wohnungen künſtleriſch auszuftatten. 

Die Preife waren allerdings noch ebenjo niedrig wie früher. Dürer hat 
für das Rofenfranzfeft 100, für die „Marter der Zehntaufend” 280, für den 
Hellerichen Altar 200, für die Entwürfe zu den Bildern des Nürnberger Rat- 
hausſaales und die Vier Apoftel 100 Gulden erhalten. Nicht viel lohnender 
icheint die Porträtmalerei geweſen zu fein, da Sandrart beſonders bervorhebt, 
daß Amberger 1530 für das Bildnis Karla des Fünften die „hohe Summe“ 
von 12 Thalern erhalten habe. Dazu kam allerdings wie im fünfzehnten 
Jahrhundert noch das Trinkgeld, woran noch jegt felbjt die größten Künftler 
feinen Anftoß nahmen. In einem Briefe an Jakob Heller 1509 bittet Dürer 
ausdrüdlich, derjelbe möge jeiner Frau ein Zrinfgeld geben; und noch im 
Sahre 1526 erhält Frau Agnes 10 Gulden, als ihr Mann dem Rate von 
Nürnberg jeine Bier Apojtel verehrt Hatte. 

Aber die Tätigkeit der Künſtler beſchränkte fich jet nicht mehr wie früher 
auf ihre Baterftadt oder ihren engern Heimatfreis, jondern fie erhielten aus 
den fernjten Gegenden von Fürſten und Privatleuten Aufträge. Sie begnügten 
ſich auch nicht mehr, auf Bejtellung zu arbeiten, jondern unternahmen größere 


Deutfhes Künftlerleben im fünfjehnten und ſechzehnten Jahrhundert. 23 





Geſchäftsreiſen, auf denen fie ihre vorrätigen Bilder zu verkaufen juchten. Als 
Dürer 1506 nad) Venedig ging, hatte er ſechs Kleine Bilder zum Verkaufe 
mitgenommen und fonnte bald nach jeiner Ankunft melden, daß er fie ſämtlich 
bi8 auf eins verkauft Habe; ebenjo führte er einen anjehnlichen Borrat von 
Kunſtſachen auf der niederländiichen Reife bei fih. Und wie jehr auch ſonſt 
Geſchäftsreiſen Sitte waren, geht Har aus der Beitallungsurfunde Holbeins 
vom Jahre 1538 hervor, in der ihm der Basler Nat die Erlaubnis erteilt, 
da er die in der Heimat angefertigten Kunftwerfe im Jahre ein-, zivei- oder 
dreimal „in Franfreih, England, Mailand und Niederland” fremden Herren 
zuführen und verfaufen möge. 

Zu diejen Einnahmen aus Bildern fam dann im jechzehnten Jahrhundert 
noch der reiche Erlös aus Holzſchnitt- und Kupferftichblättern. Als die Buch- 
druderfunit, die urjprünglich nur den Bedürfniffen des niedern Volfes gedient 
hatte, allmählich auch in den vornehmern Streifen Eingang fand, konnten natur: 
gemäß die rohen Holzjchnitte der Briefdruder nicht mehr genügen. Die Maler 
wurden als die geübtern Zeichner von den Buchdrudern herangezogen, um die 
Iluftrationen zu liefern. So kam allmählich ſowohl der Holzichnitt wie der 
Kupferjtich ausichlieglich in die Hände der Künſtler und wurde für fie zu einem 
nicht zu unterſchätzenden Erwerbözweige. Da die zahllojen Bücher, welche da— 
mals erjchienen, fajt ſämtlich mit Holzichnitten gejchmüdt wurden, waren ver: 
ihiedne Künjtler, wie Erhard Schön und Hans Springinflee in Nürnberg oder 
Sebald Beham in Frankfurt, imjtande, ausjchlieglih von dem zu leben, was 
jie als Ilujtratoren im Dienfte der Buchdruder einnahmen. Bei größern 
Holzſchnitt- und Kupferftichwerfen übernahmen die Maler jelbjt Drud und 
Berlag, wie es 3. B. Dürer und Cranach thaten. Da muß Dürerd Mutter 
auf dem Heiligtumsfefte in Nürnberg feilhalten, während Frau Agnes gleich- 
zeitig die Werfe ihres Mannes auf der Frankfurter Mefje zu verkaufen 
ſucht. In den benachbarten Städten läßt er feine Holzjchnitte durch Kolpor- 
teure vertreiben, ja jogar reijende Kaufleute nehmen fie gegen einen gewifjen 
Nubanteil ins Ausland mit. Je geringer die Preife waren, umjo größer war 
der Ubjag. Dürer verkaufte in den Niederlanden jeine Hauptwerfe, ſowohl die 
feine Paſſion wie die drei großen Bücher Marienleben, Paſſion und Apoka— 
lypſe um */, Gulden, die Supferjtichpaffion um %, Gulden. Die andern ein- 
zelnen Supferjtiche bewertete er nach dem Formate des Papierblattes, auf das 
fie gedrudt waren, gab von den ganzen Bogen wie Adam und Eva, Hiero- 
nymus, Melancholie 8, von den halben Bogen 20, von den Viertelbogen 45 
zu 1 Gulden. Und in welchen Mafjen er fie verkaufte, erjieht man zur Ge— 
nüge aus jeinem Tagebuche. „Sebaldt Fiicher hat mir abgefauft 16 Fleiner 
Paſſion um 4 fl. Mehr 32 großer Bücher um 8 fl. Mehr 6 gejtochene Paſſion 
um 3 fl. Was unter andern der Franzos genommen hat, iſt geweit 36 größer 
bücher thut 9 fl. Mehr 20 Halb Bogen aller Gattung für 3 fl. Mehr für 5 fl 


24 Dentfhes Künftlerleben im fünfzehnten und fehzehnten Jahrhundert. 


viertel bögele. Item hab aus Kunſt gelöft 2 PhHilippsgulden 2 Stüber. Item 
hab 100 Stüber aus Kunft gelöſt.“ Meifter Marx Goldichmiedt Hat mir 3 fl 
zu löſen geben. Mehr hab ich aus Kunſt gelöft 3 fl 20 Stüber. Ich hab ein 
Holzpaffion verfauft um 12 Stüber und um 4 Stüber ein Adam Eva. Item 
der Felix Hauptmann und Lautenjchlager hat mir abgefauft einen ganzen 
Kupferdrud, ein Holzpaffion, mehr ein Kupferpaſſion, 2 Halb Bögen, 2 Viertel 
Bögen um 8 Goldgulden. Ich hab 4 fl aus Kunſt gelöjt.“ So kann er von 
Seite zu Seite berichten. Und da offenbar Goldgulden gemeint find, wiirde 
fi) der Preis des Guldens auf 5 mal 17 Groſchen, d. i. 8", Mark in unjerm 
Gelde ftellen. ’ 

Zu diefen Einnahmen der Künstler für gelieferte Werfe kamen dann bei 
einigen noch die ebenfall® jehr anftändigen Bejoldungen vonfeiten der Fürſten. 
Cranach bezog jchon feit 1504 von Friedrich dem Weiſen 100 Gulden nebſt 
„Sommer: und Winterhoffflegdung uff fein leid,“ Dürer jeit 1515 100 Gulden 
jährlich vom Kaiſer Marimilian — ein Einfommen, das durchaus nicht zu 
unterjchägen war in einer Zeit, wo der Unterhalt eined Bürgers auf jährlich 
50 Gulden angejchlagen wurde, wo die drei erjten Doktoren der Theologie an 
der Univerfität Wittenberg nur je 200 Gulden Jahrgehalt bezogen und das 
höchite Gehalt, das des faiferlihen Schultheigen, nicht mehr ald 600 Gulden 
betrug. 

So waren im NReformationgzeitalter die Künftler verhältnismäßig gut ge- 
ftellt. Nur wenige unpraftiiche Geifter, wie Michael Dftendorfer in Regens— 
burg oder Georg Benz in Nürnberg, vermochten nie auf einen grünen Zweig 
zu kommen, während die meiften imjtande twaren, fich ein georbnetes Familien- 
leben zu gründen. 

Faſt alle treten ung als Befiger großer Bürgerhäufer entgegen. Dürer 
faufte 1509 das geräunige Edhaus in der Zijtelgaffe in Nürnberg, das heute 
jogenannte Dürerhaus, für 275 rheinifche Gulden „an bar dargelegtem Geld,“ 
und war, da er 1518 dem Bruder Andreas feinen Anteil an dem väterlichen 
Haufe Herausbezahlte, ſeitdem der alleinige Beſitzer zweier heute noch anſehn— 
lichen Bürgerhäufer in Nürnberg. Cranach war jeit 1513 im Befige bes ftatt- 
lichen Haujes an der Schloß- und Elbgafjenede in Wittenberg, welches ſchon 
damals eins der größten der Stadt war, und zu welchem ihm Kurfürft Friedrich 
eine anftoßende Waldparzelle zur Anlegung eines Gartens ſchenkte. A. Alt— 
dorfer Faufte in demjelben Jahre eine „eigne Behaujung ſamt Turm und Hof- 
ſtatt“ in Regensburg, die noch jett zu den ftattlichjten Bürgerhäufern der Stadt 
zählt, und erwarb dazu 1532 noch ein zweites Haus mit großem Garten, das 
er während der Sommermonate als Gartenwohnung benußte. 

Die Künftler brauchten auch micht mehr wie früher nur auf den Brot- 
erwerb bedacht zu fein, jondern waren imjtande, Liebhabereien nachzuhängen und 
fi) Sammlungen anzulegen. Dürer war in den Niederlanden fortwährend be- 





Deutfches Künftlerleben im fünfzehnten und ſechzehnten J Jahrhundert. 25 





dacht Einkäufe zu machen, mochten es Kunſtſachen oder Bücher ſein; er taufte 
wiederholt „wälſche Kunſt,“ d. h. italienische Bilder und alle neuen Erſchei— 
nungen der Literatur. Desgleichen geht aus dem Inventar Altdorfers hervor, 
daß derjelbe eine ganze Reihe von filbernen Bechern, eine Bibliothek von neun— 
zehn Bänden „Hein und groß,“ außerdem eine reiche Sammlung von Waffen, 
Ringen, Betichaften, Baternoftern und heidnischen Pfennigen beſaß. 

Daneben verfügten fie noch über ein ziemlich anfehnliches Baarvermögen. 
Der unbedeutende Sigmund Holbein fonnte 1546 jeinem Neffen Hans „Haus, 
Hof und Garten, jowie Silbergeihirr, Hausrat, Malergold und Silber und 
jonjtiges Malergerät, alles mit feiner Arbeit erjpart und zujfammengelegt,“ 
hinterlaffen. Und auch Dürer, der in feinen Briefen fo oft über geringe Ein- 
nahmen flagt, fonnte 1524 dem Rate von Nürnberg ein Kapital von 1000 
Gulden gegen Berzinfung antragen und Hinterließ bei feinem Tode ein In— 
ventar, das auf 6848 Gulden gejchäßt wurde. 

Erſt dieje veränderte VBermögenslage machte es nun auch möglich), daß jetzt 
ein ganz neuer Zug in das künſtleriſche Schaffen kam. Von den drücenden 
Nahrungsjorgen befreit, wurden fich die deutjchen Maler allmählich bewußt, 
daß ſie Künſtler ſeien, nicht untergeordnet den großen Meiſtern Italiens. Wäh— 
rend ſie im fünfzehnten Jahrhundert ſchlichte Handwerksmeiſter geweſen waren, 
ſind ſie jetzt, wie es von den beiden Beham ausdrücklich heißt, „ſtolz prächtig 
und von ſich hochhaltend.“ Es ändern ſich ihre Anſchauungen über Ziel und 
Weſen der Kunſt. Während die Altarwerke des fünfzehnten Jahrhunderts mehr 
oder weniger Fabrifarbeiten gewejen waren, jeßen jet fajt alle Künſtler, mit 
Ausnahme etwa des betriebjamen Cranach, in die eigenhändige Vollendung der 
Werke ihren Ehrgeiz, beftreben fi), die Malerei aus dem geiftlofen Handwerker: 
ichlendrian der frühern Zeit zur geift- und jeelenvollen Kunſt zu erheben. Sie 
wollen nicht mehr wie früher „gewöhnliche Gemälde machen, wie man deren in 
einem Jahre einen Haufen machen kann, daß niemand glaubte, daß es möglich 
wäre, daß ein Mann es thun kann,“ jondern fie fangen an, ihre Bilder „ans 
ders zu machen, wie man fonft zu machen pflegt,“ fie beginnen „fleißig zu 
Häubeln, auf daß die Tafeln fünfhundert Jahre lang ſauber und frijch fein 
mögen.“ Und wenn fie cin ſolches Werk vollendet haben, dann bringen ſie 
darauf auch mit Stolz ihren Namen oder ihr Bildnis an. Bon allen Bildern 
des Reformationgzeitalterd iſt der größte Teil mit Künjtlerinjchriften verjehen, 
ja faſt auf jedem umfangreicheren Werfe hat der Künftler einer der an der 
Handlung beteiligten Berjonen jeine eignen Züge geliehen. Dürer ging jogar 
joweit, daß er jeine größern Gemälde jowohl mit Monogramm und Jahrzahl 
als mit deutlicher Kimftlerinschrift und mit feinem Selbjtporträt verjah. 

Je mehr aber der Künſtlerſtolz in den Meiftern des Reformationgzeitalters 
erwacht war, umjomehr mußten fie fich der untergeordneten Stellung jchämen, 
die fie gejellichaftlich noch immer einnahmen, umſomehr mußten fie ſich beitreben, 

Srenzboten IIL 1885. 4 


26 Deutſches Künſtlerleben im fünfzehnten und fechzehnten Jahrhundert. 








die engen Schranken zu — die dem zünftigen deutſchen Meiſter — 
immer geſteckt waren. In den erſten Geſellſchaftskreiſen waren die italieniſchen 
Künſtler des ſechzehnten Jahrhunderts gefeiert. Stolz und unabhängig ſtand 
Michelangelo den Päpſten gegenüber; die Literaten wie Pietro Aretino buhlten 
um ſeine Freundſchaft; der Kardinal Bibiena rechnete ſichs zur Ehre an, ſeine 
Nichte dem großen Raffael zu verloben. Wie beſchämend klingen dagegen die 
gleichzeitigen Zenaniffe aus Deutſchland. Noch 1506 ſchreibt Dürer von Italien 
an Pirkheymer: „Wenn Ihr daheim jo hoch geachtet jeid, werdet Ihr mit einem 
armen Maler nimmer auf der Gajje zu reden wagen, das wäre ja cine große 
Schande für Euch, con poltrone di pittore.“ Und al$ Erasmus 1523 Holbein 
‚eine Empfehlung an Hegidius in Antwerpen giebt, jchreibt er falt und vornehm: 
„Der Überbringer ift derjenige, der mich gemalt hat, durch feine Empfehlung 
will ich dir nicht weiter beſchwerlich fallen.“ Der Gelehrte behandelt den Maler 
noch immer als weit unter ihm ftehenden zünftigen Handwerker, und man be- 
greift, wie unter ſolchen Berhältniffen der ftolze, von dem Bewußtjein feiner 
Künftferwürde durchdrungene Dürer bei feiner Abreife aus Venedig in den 
Klageruf ausbrechen konnte: „O wie wird mich nach der Sonnen frieren, hier 
bin ich ein Herr, daheim ein Schmarotzer.“ Erſt in den zwanziger Jahren war 
allmählich der Umſchwung erfolgt. 

Allen voran gingen in der Auszeichnung der Künſtler die deutſchen Fürſten. 
Sie hatten auf ihren Reiſen am eheſten Gelegenheit gehabt, die einflußreiche 
Stellung der Künftler in Italien umd in den Niederlanden fennen zu lernen, 
und fuchten allmählich auch ihrerjeit$ den Glanz des Mäcenatentums um fic) 
zu verbreiten, durch das die italieniichen Großen berühmt waren. Auch fie 
waren gleich den italienischen Tyrannen von Ruhmesſehnſucht, von dem Streben, 
ſich „ein Gedächtnis zu jegen,“ erfüllt und hatten gleich jenen erfannt, daß die 
Geſchichtſchreiber, Dichter und Kiünftler diejenigen feien, die den Ruhm zu ver— 
geben haben. So erklärt es fi, wenn fie von jegt an die literarischen und 
fünjtlerifchen Größen in ihren Dienft zu ziehen juchten. Und nicht mehr wie 
im Mittelalter werden die Hofmaler mit Stallfnechten und Küchenjungen in 
einem Atem genannt, jondern es fommt wie in Italien zu einer gewiſſen Gleich- 
berechtigung zwijchen den Trägern der Macht und denen des Talentes. In 
echt bürgerlicher Weife verkehrt Marimilian mit Dürer, als er fich „zu Awgs— 
burg hoch oben awff der pfalg in feinem fleinen ftüble* von dem Meifter 
„kunterfeyn“ läßt; und in noch innigerer Freundſchaft find die ſächſiſchen Fürſten 
mit Cranach verbunden. Friedrich der Weife verleiht ihm 1508 Wappenbricf 
und Adel und weilt jtundenlang in der Werfitatt des Malers, um defjen Ar: 
beiten zu betrachten; der verbannte König Ehriftian von Dänemark nimmt 1523 
in Cranachs Haufe feine Wohnung, und der unglüdliche Johann Friedrich blickt 
wie zu einem väterlichen Freunde zu dem Maler empor. Der Künftler folgt 
ihm in die Gefangenschaft und figt an feiner Seite, wie der Kurfürft nach feiner 


Deutfdyes Künftlerleben im fünfzehnten und ſechzehnten Jahrhundert. 27 
Befreiung wieder in Jena einzieht. Und hinter dem, was die Fürften thaten, 
durften matürlich auch die Städte nicht zurüditehen. So fehen wir, wie Cranad) 
von der Stadt Wittenberg zum Slämmerer des Rates und zum Birgermeijter 
gewählt wird, wie Dürer, Altdorfer, Hans Baldung, Hans Afper als Rats— 
herren angeſehene Stellungen in ihrer Baterjtadt einnehmen. 

Länger dauerte es, bis auch vonjeiten der Gelehrten die Künftler die 
gebührende Anerkennung fanden, und es wird von Lübfe in der „Geſchichte 
der Renaifjance“ mit Recht hervorgehoben, wie gleichgiltig fich die deutjchen 
Humaniften im allgemeinen der Kunſt gegenüber verhielten, wie namentlich das 
Haupt derjelben, Erasmus, in feinen fünftlerischen Anſchauungen noch ganz auf 
dem Boden des Mittelalters ftand. Gleichwohl it der Unterjchied gegenüber 
dem fünfzehnten Jahrhundert bemerkenswert. Aus ihren antifen Studien er- 
fuhren die Humaniſten, wie einflußreich die Stellung der Künſtler im Altertum 
gewejen war, wie in Nom jogar vornehme Patrizier in die Reihen der Maler 
eingetreten waren; auf der andern Seite durchbrachen die Künſtler jelbit die 
Schranken, die fie von den Gelehrten trennten, indem fie wie Dürer nach dem 
Vorgange ihrer italienischen Genofjen als Schriftiteller über die Gegenjtände 
ihres Berufes auftraten. So erreichten fie es, daß fie im der zeitgenöffiichen 
Literatur doch allmählich Beachtung fanden. Schon 1526 jtellt Beatus Rhe— 
nanus im jeinen bei Froben in Bajel erjchienenen Emendationen zu Plinius die 
Meijter zufammen, Die auch wir noch als die größten des Reformations— 
zeitalter3 bezeichnen: „Bei den Deutfchen find in erfter Linie berühmt Albrecht 
Dürer in Nürnberg, in Straßburg Hans Baldung, in Sachſen Lukas Cranadh, 
in der Schweiz Hans Holbein.” Sie alle wurden, wenigjtens in ihren 
fpätern Jahren, ausnahmslos in ihrer Bedeutung erfannt. Wir finden 
Dürer fchon 1505 von Wimpheling ald den „vorzüglichiten Meiſter“ genannt, 
„deifen Tafeln von den Händlern nach Italien und andern Ländern ausgeführt 
werden, wo jie bei den trefflichiten Künſtlern jo Hoch angejehen find wie Die 
Werfe des Parrhafios und Apelles“; Peutinger nennt ihn jpäter jeinen „guten 
frundt“; Lazarus Spengler widmet ihm feine „Ermahnung und Unterweifung 
zu einem tugendhaften Wandel”; die Reformatoren Luther und Melandhthon 
verfolgen mit reger Teilnahme jein künstlerisches Schaffen; 1528 wird er jogar 
von dem jpröden Erasmus ald „der Apelles unfrer Tage“ gefeiert. Hans 
Baldungs Ruhm wurde 1521 in den Reimen des gelehrten Kanonikus don 
Toul, Johannes Viator, verbreitet; Cranach fand in dem Wittenberger Pro: 
feſſor Chriſtoph Scheurl ſeinen Yobredner, der ihn jchon 1508 als den „größten 
deutichen Meifter nächſt Dürer“ verherrlicht; Holbein endlich jtand 1538 beim 
Ericheinen feine® Totentanzes auf der Höhe feines Ruhmes und wurde von 
Nikolaus Bourbon als „größer denn Apelles“ gepriejen. 

Und es iſt fein Zufall, daß alle diefe Gelehrten hauptjächlic) von den 
Holzfchnitten und Kupferftichen der Künftler zu reden wiſſen, daß fie immer 


98 Deutfches Künftlerleben im fünfzehnten und ſechzehnten Jahrhundert. 





wieder darauf hinweiſen, „Die deutjchen Meiſter hätten ohne den buhleriſchen 
Neiz der Farben das vermocht, was Apelles nur mit Farben zuftande gebracht 
hätte.“ Die Thätigfeit für dem Holzichnitt und Kupferftich war es eben in 
eriter Linie, die dem deutſchen Künstler des jechzehnten Jahrhundert zur Volks: 
tümlichfeit verhalf. In einer Zeit, wo es noch feine Kunftfammlungen und 
Ausstellungen gab, two noch feine reproduzirenden Techniken das Volk mit den 
Kunftwerken befannt machten, konnte ein Maler nicht durch Bilder, die aus 
der Werkſtatt fofort in die Brivativohnungen der Vornehmen wanderten, Jondern 
nur durch Holzſchnittwerke, wie die Apofalypje, das Marienleben, die Paſſion, 
im Bolfe befannt werden. Diejer Thätigfeit hatten es die Künftler zu danken, 
wenn fie nun auch vom großen Bublikum gefeiert wurden. Als Holbein 1538 
von England zurüdtehrte, ließen es fich feine Mitbürger nicht nehmen, ihm 
Ehre zur erzeigen. Auf der Mägd, dem Gejfellfchaftshaufe der St. Iohannes- 
vorjtadt, in der er wohnte, fand ihm zu Ehren ein Gaftmahl ftatt; dem Rate 
aber, der ihn früher hatte von dannen ziehen laffen, als er noch nicht ſolchen 
Ruhm genoß, erichien es jegt Ehrenjache, den Künſtler der Heimat zu erhalten, 
„weil er feines Kunſtreichtums halber vor andern Malern weit berühmt“ fei. 
Ebenſo iſt Dürer niederländische Reife einem Triumphzuge vergleichbar. Schon 
in Bamberg wird er von den Malern ausgezeichnet, in Mainz ftreitet man um 
die Ehre, ihn zu bewirten. Gleich nach feiner Ankunft in Antiverpen laden ihn 
die Maler jamt feiner Frau und Magd auf ihre Zunftitube und ehren ihn 
durch eine glänzende Bewirtung. „ES waren auch ihre Frauen alle zugegen, 
und al3 ich zu Tische geführt wurde, da Stand das Volf zu beiden Seiten, ala 
führte man einen großen Herrn. Es waren unter ihnen auch Männer von 
gar ftattlicher Perfönlichkeit, die fich alle mit tiefer Verneigung auf das aller- 
demütigfte gegen mich benahmen und fagten, fie wollten joviel wie nur möglich 
alles tun, was fie wüßten, daß mir lieb wäre. Und wie ich fo daſaß, kam 
der Ratsbote der Herren von Antwerpen mit zwei Dienern und fchenfte mir 
im Namen der Natsherren vier Kannen Wein, und fie ließen mir jagen, ich 
jolle hiermit von ihnen ausgezeichnet und ihres Wohlwollens verfichert fein,“ 
Zum Schluß wird er mit Windlichtern gar ehrenvoll heimgeleitet. 

Kein Wunder, daß jet auch der Tod eines Sünftler eine andre Be— 
achtung fand als früher. Als Dürer jtarb, jegte ihm Pirkheymer das fchöne 
Epitaphium: „Was von Dürer fterblich war, ruht unter diefem Steine,“ während 
Melanchthon in bittre Klagen ausbrach, daß „Deutjchland eines folchen Künſtlers, 
eines folchen Mannes beraubt fei.“ Über den Tod Hans Baldungs wurde in 
Bühelers Chronik eingetragen: „Auch in diefem Hier obgenannten Jar 1545 
da iſt alhier in der Stadt Straßburg der weit berühmt Hans Baldung mit 
Tod verjchieden und aus feiner Behaufung mit einer großen proceß hinaus zu 
St. Helena getragen und allda zu der Erde bejtatigt und vergraben worden.“ 
Cranach wurde auf feinem Grabjtein in der Schloßfirche zu Wittenberg ala 


Plattdeutfiche Erzähler. 29 


der „geichwindeite Maler“ gefeiert, und drei Jahre nad) feinem Tode wurde 
in den Turmknopf der Wittenberger Stadtkirche eine vom Magijter Gunderam 
verfaßte Urkunde eingelegt, die von dem Leben und den Verdienſten des Malers 
meldete. 

So Hatten nach langem Ringen die deutjchen Künstler die Stellung er: 
fämpft, die ihre italienischen Genofjen jchon feit hundert Jahren innchatten. 
Leider verblieb fie ihnen nur jehr kurze Zeit. Die Regierung Karls des Fünften 
wurde für das deutjche Kunftleben ebenjo wie für das gefamte Schidjal Deutſch— 
lands verhängnisvoll. Wie Karls ganzes Weſen durch und durch undeutjch war, 
jo hatte er auch für die deutjche Kunft nicht das geringite Verſtändnis. Tizian 
und Barend van Orley waren jeine Günftlinge, an den deutjchen Meijtern ging 
er achtungslos vorüber, wußte Dürer nicht einmal die Ehre einer Audienz zu 
gönnen. Und was der Kaijer that, fand bald auch bei den übrigen Fürſten 
Nachahmung. Überall finden wir italienifche und niederländifche Künftler be- 
ihäftigt; überall begann jene Bevorzugung der ausländischen, jenes Zurückſetzen 
der einheimischen Kräfte, welches die deutſchen Meiſter nötigte, ihre Kunft wie 
früher wieder ausjchlieglic; in den Dienjt des kleinen Bürgertums zu jtellen. 
Auf dieje Zeit der Erniedrigung folgte im Beginne des fiebzehnten Jahrhunderts 
der unſelige dreißigjährige Krieg, der auf lange hinaus alle deutjche Kultur im 
Keime erftickte, und fo vergingen Jahrhunderte, bis unter ganz andern Ver— 
hältniffen wieder ein nationales deutjches Kunft: und Kiünftlerlebeu fich ent: 
wideln konnte. 






a 
Me) 





Dlattdeutfche Erzähler. 


Jie Freunde der Poeſie haben alle Urjache, den Werfen der Dia- 
feftliteratur Beachtung zu jchenfen. Nicht allein die Sprache der 
Gebildeten gewinnt durch den jtets friic erhaltenen Zuſammen— 

„hang mit ihren unzähligen Quellen und BZuflüffen, welche die 
urſprünglichen Mundarten des Volkes für fie bilden, wie in 
Frankreich beiſpielsweiſe jede literarische Neuerung mit einer gejteigerten Auf: 
nahme mimdartlicher Ausdrüde in die Sprache der Kunftdichtung begonnen hat. 
Mehr noch ift es die Erinnerung an die urfprüngliche eigne Volfsart, das Bild 
der nationalen Sitte und Natur, welche der großen Menge der abjtraft und 
deshalb international Gebildeten durch die dialektiſchen Volksdichter heilfam auf- 





30 Plattdeutfhe Erzähler. 


gefriicht werden. So mag es denn auch dem gefteigerten nationalen Selbit- 
bewußtjein zugejchrieben werden, wenn fich jet allerwärts eine regfame Thätig- 
feit auf dieſem literarischen Gebiete befundet und wenn das Plattdeutjch Reuters 
und das Niederöfterreichiiche Anzengrubers felbjt die Bühnen im Norden und 
im Süden betreten dürfen. Freilich wird man auch zugejtchen müjfen, daß 
dieſe gefteigerte Pflege der Dialeftdichtung durch den fich gern in bejtimmt be- 
grenzten Gebieten bewegenden Geijt der Zeit unteritügt wird: der Zeit der „Spe- 
zialitäten“; aber diefe wenigjtens iſt eine der erfreulichiten. 

Kein Zweifel, daß in den zwei Hauptgruppen der deutjchen Dialektpoeſie 
der jüddeutjche Dichter vor dem plattdeutjchen durch mancherlei Umstände als 
der Begünftigtere erjcheint. Nicht etwa bloß, weil die hochdeutſche Schrift- 
ſprache den ſüddeutſchen Dialeften näher als den plattdeutichen jteht und die 
erjtern leichter ihr heimatliches Gebiet Üüberjchreiten können, jondern weil ber 
deutſche Süden ein der Poejie, jagen wir bequemeres Lokal als der deutjche 
Norden bietet. Damit joll keineswegs dem Norden zu nahe getreten werden: 
überall wo Leben empfunden wird, da ijt auch Poefie. Aber jchon die äußere 
landichaftliche Natur des Südens, der mannichfach gegliederten Gebirgswelt ift 
reicher an anvegenden Geftaltungen als die einfame und eintönige Ebene des 
niederdeutjchen Flachlandes mit jeinen weiten, jandigen Küften und der ſchwer— 
mütigen Erhabenheit des unbegrenzten Meeresſpiegels. Und nicht minder be- 
deutfam für den modernen Dichter it, daß der Süden fatholisch, der Norden 
proteſtantiſch iſt. Denn das will jagen: im Süden erhält der Dichter eine 
reich entiwidelte Mythologie, die jelbft Poeſie iſt; im Süden mit jeinem Marien-, 
Heiligen: und Bilderfultug, feinem Legendenreichtum, jeinem prachtliebenden, das 
Volk beraufchenden Gottesdienst, aus dem ſich dann die Freude an allerlei 
andrer, weltlicher Art öffentlicher Aufzüge entwicelt hat, feinem wohl auch ftär- 
feren Aberglauben, feinen weitaus jchrofferen Gegenjägen zwilchen naiver Gläu- 
bigfeit und jteptijcher Bildung — dieſer Süden hat umjo viel mehr Motive 
für den das Landvolk jchildernden Dichter, denn das ift ja der Dialeftdichter 
zunächſt und allein, als der formenarme, bilderfeindliche proteſtantiſche Kultus 
mehr an den Verſtand ald an die Phantafie jeiner Gläubigen appellirt. Und 
jo allgemein verehrt und vollends in der Literaturgefchichte berühmt das deutſche 
protejtantifche Pfarrhans auch mit Necht fein mag: poetijch wertvoller find die 
zum Gölibat verpflichteten katholiſchen Prieſter und die mit einem dreifachen 
Gelübde gebundenen fatholiichen öfter, welche teils weil fie romantijch ge— 
legen find, teils weil fich hiltorische Erinnerungen an fie knüpfen, noch 
immer der beliebtefte Wallfahrtsort der Maler und Dichter find. So 
find Natur und Sitte des Nordens an Formen ärmer ald die des Süden, 
und daher dem Dichter ein jpröderer Stoff. Und fpröder, verichlofjener, 
jchwerzüngiger und daher ungejelliger als der ſüddeutſche iſt der platt: 
deutsche Bauer. Nicht dag der Charakterzug der Hartföpfigfeit dem erſtern 


Plattdeutſche Erzähler. 31 


Wein macht ihn gefprächiger, gejchmeidiger, er iſt auch fangesluftiger; und nur 
das hohe Gebirge, wo der Menjch mit einer unfruchtbaren Natur hart ums 
Dafein zu ringen hat, nähert dem ſüddeutſchen Charafter dem norddeutſch ver: 
ſchloſſenen Wejen. Und aus allen diefen Momenten ergiebt ſich der zunächſt 
in die Augen fallende Unterſchied zwiſchen ſüd- und plattdeuticher Dialektdich- 
tung: dort ift die amüſante neue Fabel die Hauptjache, hier der originale, mehr 
oder weniger jchnurrige Charakter; die ärmere äußere Welt verweist den Menjchen 
auf die innere und erzeugt eine mannichfaltigere Art menjchlicher Individuen; 
im Süden tritt der Einzelne mehr in den allgemeinen Chor zurüd. Humoriſten 
zunächſt müffen alle Dialeftdichter der Natur der Sache nad) fein: denn auf 
dem Dorfe handelt es fich jelten um große Dinge, umd das Stleine wirft 
poetisch nur dann, wenn es der fünftleriiche Geift im Kontraſt mit der Größe 
anjchaut. 

Zu diefen Bemerkungen mußte ſich ein Lejer angeregt fühlen, der im Süden 
die zwei neueften, in dieſem Jahre erichienenen plattdeutichen Erzählungen zu 
Gefichte bekam, denen ein guter Ruf jchon vorausging. Es find dies Harten 
Leina von Heinrich Burmefter* und Dree Wiehnachten von Fritz 
‚Lening,**) eriteres in der Mundart Lauenburgs, Schleswigs, kurz Nord: 
albingens, letzteres in der der Schriftiprache immerhin näher ftchenden Mund— 
art der Mark Brandenburg und Pommerns gefchrieben. Aber es find nod) 
weit verjchiednere dichterijche Charaktere, welche aus beiden Werfen dem Lejer 
entgegentreten. Gemeinjam ift ihnen nur der allgemeine Stil nordifcher Dichtung: 
jie haben feine Erzählungen im ftrengeren Sinne gejchrieben, in denen die kunſt— 
volle Entwidlung einer intereffanten Handlung ernſtlich angejtrebt wäre. Weit 
mehr noch als bei Burmefter, der eine harmonische Abrundung in feiner Er- 
zählung verjucht, zerfällt Lenings Buch, welches urjprünglich auch den Titel 
„Bunte Bilder“ führte, in eine lodere Aneinanderreihung ſchnurriger oder erniter 
Situationen und Sittenbilder, in denen nur eine Einheit der Perſonen herrjcht 
und die nur oberflächlich durch einige lustige Heiraten bejchlofjen werden; beiden 
aljo ijt die jcharfe Charakteriftif von heitern Driginalen die Hauptjache, umd 
wenn man noc) erwähnt, daß jowohl in „Harten Leina“ als in „Dree Wich- 
nachten“ ein unſchuldig der Brandlegung angellagter vorfommt, der beide 
male durch ein geheimes Liebesrendezvous in den fatalen Verdacht gerät, welcher 
ihn in den Kerker bis zur alles offenbarenden Gerichtsverhandlung führt, jo 
haben wir alles Gemeinfame an den beiden Dichtern erichöpft. 

Denn ganz verjchieden ift die Dichterifche Tendenz, welche beide verfolgen. 
Lening ijt ein laudator temporis acti, er ſchaut im die Vergangenheit zurück, 
etwa fehlte, das ijt allgemeine Bauernart; aber der Süden tft leichtlebiger, jein 





*) En Speigel vör Land un Lid. Mit einer Einleitung von K. Th. Gaederg. Zwei 
Teile. Berlin, Rogge und Friße. 
*) 'ne Geſchichte in märkifhe Mundart. Stuttgart, Cotta, 1885. 


32 Plattdeutfhe Erzähler. 


die ihm im ſchönſten Lichte poetiſcher Verklärung erſcheint, und die Bilder der: 
jelben, welche ihm vorfchweben, will er fefthalten. „Freilich, jagt er in der 
Vorrede, wo er über die flüchtige Zeit jpricht, werd de Welt alle paar Jahre 
mal wedder met neie Figuren bejet’t, äber in öhr Hoffen un Wünfchen, in öhr 
Föhlen un Denten, da bliwen fi de Menjchen immer glief. Feindſchaft un 
Fründſchaft, Haß um Leewe wafjen öberall un to alle Tieden bunt dörchein: 
ander; det hebben unſe Vorfahren kennen lehrt un det werd of de Gejlechter 
nich erjpart bliwen, de na uns famen. — Über ’n Unnerſchied iS doch, de An- 
Ipruch3lofigfeit iS van Jahr to Jahr mehr verfwunnen um de eenfachen, länd- 
ligen Berhältniffe werrn unfe Kinder bald bloß von Hörcnjeggen fennen. — 
Wenn id mir vörjtelle, wie det früher was, wat id as Junge jehn un met er: 
lewt hev, um werm ick die jiige Tieden dagegen holl! Denn mücht id behaupten, 
de Welt wir änders worrn, ganz ändere, ob äber better? Det weet ick nich.“ 
Die einfachen, ländlichen Verhältniffe, die alte Genügjamfeit, die will Lening 
einer minder bejcheidnen Gegenwart vorhalten, und dieſer rouſſeauiſche Zug 
geht durch alle feine Schilderungen, in welchen er oft direkt die ſtädtiſchen Leſer 
apojtrophirt: „Wenn de Lid ut de große Städe fi det Bild vörjtelln, det je 
mal 'n Winter uppen Lande tobrengen jölln, wo je eenen Abend un alle Abend . 
in’t Kaminfuer fiefen un immer wedder defühvige Menjchen un Gefichter to jehn 
frien, det je alle Veränderungen entbehren mütten, wo je jid dran wennt hebben 
jeit jo voele Jahre, denn mag öhr woll der Gedanfe famen, det et better fin 
müchte, fit men ganz ruhig begraben to laten, denn Lewen is det nich, na 
öhre Meinung iS det geitiger Dod! — För de Art, ja! Im groten un 
ganzen is det äber gar nich jo unrecht, um wer’t länger utholt, de Städter 
öhre Vergnügen oder de Landlüd öhre Stilllewen, det müchte doch woll jchre 
de Frag fin; de mägen in öhre fine Gefellichaften oft nogt heimelig na de Uhr 
fiefen, ob je fit woll nonnid) [08 mafen fünnten ut de Twang, bi die äber fann 
det nic) vörfamen, de weeten ganz ficher, det je 'n fchönen vergnügten Abend 
hebben, wenn na’t Eten de Hausdöhre noch mal upgeit, wenn da welche an— 
fangen, fid den Snee von de Bene to trampeln un wenn da under PBelzmüte 
un Koppdof Vedder un Möhme tum Vorſchien kamen; da werd an'n Kachel— 
aben noch dichter tojammen rüdt, det Mohme up öhre Spole orndlich jehn 
fann, da jnurren de Spinnräder fo Iuftig, ad wenn je fi freuden, det je mal 
Wedde lopen fünnen, un denn dücht Ju Städter, det fall langwielig fin? DO 
nich doch! De Landlüd bedurt nich, de vergeten gar licht den teinden Klocken— 
flag, denn det Vertelln werd nich all un kann gar nic) all weren, tomal wenn 
der Een oder Änder Soldat weit is oder wenn gar een van de olle Manns 
dabi is, der datomal (1813) den Krieg met malt hat, denn fin de Stinder nich 
mal in’t Bebd to frien, voel weiniger noch de Din.“ Dean fieht leicht aus 
diefer Heinen Probe feines Stile, daß Lenings Kunſt die des heitern, be- 
haglichen Genremalers ift, und jolcher Genrebilder läßt er eind dem andern 


Plattdeutfche Erzähler. 33 


folgen. Es find lauter treuherzige brave Menjchen, die er vorführt, mit Aus— 
nahme des Bauer? Pernid, der als böjes Prinzip die Handlung in Bewegung 
jegt. Nach allen Beziehungen wird dag ländliche Leben geichildert: bei Hochzeit und 
Taufe, im Wirtshaus und in der Familienſtube, beim Edelmann und feinen Unter: 
thanen; der Küfter, der Schneider, der Schufter, der Tifchler treten auf — alles 
im Lichte des behaglichiten Humors defjen, der jeine ſchnurrigen Driginale herzlich 
fiebt. Lening erhebt fich auch über den rein idyllifchen Humor zu politischer Satire, 
die aber noch immer gutmütig bleibt, indem er die furiofen Wellenjchläge ſchil— 
dert, welche der Sturm des Jahres 1848 in dem kleinen Dorfe feiner Gejchichte 
aufgeworfen hatte. Der Schneider ließ es fich jeit dem Beginne der Unruhen 
nicht nehmen, jelbjt in die Stadt zu gehen, feine Einfäufe zu machen. „Natür— 
lich word der Snieder bi dije Gelenigfeit immer wichtiger, jo woll in fine ei'n 
Don als für’t ganze Dörp; jedesmal, wenn hä ut de Stadt fam, ftund all 'n 
Tröppel Menfchen da, do up em lurden, üm to erfohren, wat hä für Nach— 
richten metbrochte un wat in de Zeitungen ftehn harr.“ Endlich naht fein 
Wagen. „Freiheit, rep der Snieder un winfte all van fern mit de Pietſche, 
id breng de Freiheit un 'ne Berfaffung met, de Freiheit ſall lewen, Vivat Hoch! 
Vie de Narren jtünden de Menjchen do un fefen fi den Mann an, ob hä 
woll jehre dun' fin müchte, un der fef fi fine Landslüd an, ob de woll wert 
wiren, de Freiheit un 'ne Verfaffung un 'ne freie Preſſe to frien, dann äber 
Iprung hä rumder van finen Waan un fing an alles to pufjen, wat hä ißens 
langen fünn. »So hebben’t de Börger in Berlin up de Straßen malt, fo 
hebben wi’t hüt in de Stadt dahn un fo hört fi det! Kinder, wi hebben jo 
jiegt, in Berlin hebben je mu all twee Dag up de Barrifaden kämpft um wier 
nid) wat dahn, as Soldaten dod jchaten, äber't wiren to voel, ſie fünnen je 
nich irjt Schaffen. Nu fin je dod, alltohop un wi hebben de Freiheit erobert 
un ne Berfaffung frien wi of. Unjen König willn wi beholln, det hebben wi 
hüt all jo wat bered’t, un de meijten wiren of dafür, äber ſüß alles weg, furt 
met de ganze Volk, wo we jo lange de Afgaben für upbrocdht hebben, furt met 
de Schandarben un de Polizei! Met de lange Pipen fin je hüte all dörch de 
Straten gahn un den eenen Dahrſchriwer hebben je wollt de Fenſtern injmeiten, 
id führ morgen wedder rin un det will id den Kerl nid) raden, mi an den 
Waan to famen; üm de Ohren hau id em, det em Hören un Sehn vergeit, id 
heve mine Freiheit, dafür iS kämpft, un wo det nonnich geichehn iS, da mütt 
Anstalt dato troffen werrn.« Det majorenne Volk, wat fi üm den Freiheit: 
apojtel verjammelt harr, jtund da mit apene Mülder, de meijten harrn wier 
nih'n Wort verjtahn, a3 det in Berlin alle Soldaten dod wiren un bet de 
änderen of jo ball wie möglich fülln ümbrocht werrn. Det jchen öhr äber 
gar Feen rechter Grund fin, fi jo to freun, wie der Snieder verlangte, Sol- 
daten harr jo doch woll jeder gerne, gar nid) davan to reden, det ut Mogien 


ſunſer Dorf] of 'n ganzen Hümpel den bunten Rod drögen.“ Die Satire 
Grenzboten III. 1885, 5 


34 Plattdeutiche Erzähler. 


— — 





Lenings auf eine Revolution in Krähwinkel erinnert an Hermann Presbers 
nicht minder witzige Schilderung des „tollen“ Jahres in ſeinen rheiniſchen No— 
vellen. Aber Presber ſchrieb nicht im Dialekt, und Lening ruft manchmal die 
Empfindung hervor, daß ſich ſein Standpunkt allzuſehr über den erhebt, welchen 
der Dialekt gebietet. Und dies iſt die große Klippe aller Dialektpoeſie: es darf 
nie die Grenze ländlichen und rein menſchlichen Lebens überſchritten werden, 
daß ſich die Frage aufdrängen müßte, ob denn das Geſagte nicht beſſer oder 
ebenſogut in der Sprache der Gebildeten hätte geſagt werden können. Der 
bewußte Gegenſatz, in den Lening ſeine ländlichen Bilder zum Stadtleben ſtellt, 
dieſer reflcktirte Geſichtspunkt, der ſich auch in zahlreichen Betrachtungen Aus— 
druck verleiht, iſt von vornherein ſeine Schwäche. So überſchreitet er die 
Grenzen ſeiner Dichtungsart, wenn er mit weiten Geſichtspunkten die Unruhen 
des Jahres 1848 mit dem uneingelöſten Verſprechen der Regierungen nach den 
Freiheitskriegen in Verbindung bringt, und auch ſonſt in zahlreichen ſtiliſtiſchen 
Wendungen, ſo z. B. wenn er einmal ſagt: „För Schepelmanns Slapſtuv harr 
der Slapgott diſe Nacht van ſinen Segen nich wat torügg laten, daför was 
de Sorge ad Gaſt kamen un harr de olle Lüd treulich Geſellſchaft leiſt't,“ 
das iſt ganz hochdeutſch gedacht. Man kann geradezu ſagen, Lening hätte ſeine 
„Dree Wiehnachten“ ebenſogut hochdeutſch ſchreiben können, ſo etwa, daß nur 
die Reden der Perſonen im Dialekt gehalten wären, wie es etwa Roſegger zu 
thun pflegt. 

Die Handlung der Dichtung zu ſtizziren iſt nicht leicht, da fie in vielen 
Berzweigungen durch eine ganze Generation läuft und nur ſprungweiſe ent- 
widelt wird. In der Mitte ftchen zwei elternlofe Gefchwifter Wilhelm und 
Marie Wiefe, welche von gutherzigen Bauern aufgenommen und erzogen worden 
find, als fie nad) dem Tode der Eltern in der Gemeinderatsfigung ded Dorfes 
Motzien gleichjam verfteigert wurden. Meariechen wurde vom Bauer Schröder 
und jeiner tüchtigen Frau genommen, wobei der brave Mann die zwölf Thaler, 
welche er jährlich für das Kind von der Gemeinde erhielt, zur einftigen Aus— 
ſteuer Mariens in die Sparkaſſe legte; ihr Brüderchen hatte es nicht fo gut, 
es fam zu einem ärmern finderreichen Bauern Henning und wurde bis zur 
Milttärzeit Gänfe- und Schweinehirte. Indes ftarb der Bauer Schröder, feine 
Witwe hat das Unglüd, einen rohen Menjchen, Pernid, zu heiraten, der fie um 
all ihr Vermögen bringen würde, wenn nicht ihr Nachbar Schepelmann zu rechter 
Beit fi) von ihr alles Baare hätte übergeben lafjen. Die Kinder beider Familien 
wachjen heran, und es entitehen allerlei Licbesgefchichten, unter ihnen die hübſcheſte 
die zwiſchen Wilhelm Wieje, dem Kinde aus dem Armenhaufe, und der Tochter 
Luiſe vom reichen Bauern Schepelmann. Nachdem Wilhelm mit glänzenden 
Beugniffen den Milttärdienft verlafjen hat, wird er Großknecht bei Schepelmann. 
In der Jugend ein loſer Vogel, überrajcht er alle durch feine ausgezeichnete 
Dienftleiftung. Luiſe verliebt fich in den Knecht des Vaters, und jener nicht 





Plattdeutfche Erzähler. 35 


minder in fie. Doch wie fann der Knecht die Tochter des Herrn freien? Beide 
Liebenden empfinden die luft, welche fie trennt, und beide find — was jehr 
harafteriftiich ift — zu ehrlich, um mit der Leidenjchaft zu jpielen und hinter 
der Eltern Rüden einen Verkehr zu pflegen. Sie weichen einander aus, ja 
Luije verfolgt den Knecht geradezu mit Haß, daß es den Eltern auffällt. Sie 
will dadurd) jeine Entlaffung bewirken, er jelbjt bittet darum, doch die blinden 
Alten wollen den treuen und fleigigen Wilhelm nicht entbehren und zwingen 
ihn zum Bleiben, die Tochter aber zur Höflichkeit. Wie fich nun die beiden 
Liebenden nach jolchem Widerjtande gegen die Leidenfchaft einander nähern und 
für immer verbinden, ijt überaus ſchön und anziehend bejchrieben. Es find 
durchaus fernige, das Herz erfreuende gerade und ſtarke Naturen, bieder, ehrlich, 
liebenswert, und wenn auch manches Jdealifirte mit unter läuft, fo ift es doch 
von der Art, wie es der Deutiche gern Hört. Wie ſchön find die Szenen, wo 
der Vater Luiſens ihren Verkehr mit jeinem Großfnecht entdeckt, gegen diefen 
ganz wütend losfährt und durch die jchlichte Entgegnung entwaffnet wird: „Mi 
geiheht min Recht; wenn id an de Stelle jtünne, wo Sie ſtahn, um mi wer 
det jo paflirt, denn wärr der Indringling of rutwejen ut minem Hufe un min 
Segenswunfch mücht cm of woll nich folgen! Über flechter wie ick bin, mücht 
id doc) nich anſehn weren, un det id in die Sache Leichtfinnig oder gar met 
Berefnung handelt ev, det derwen Ji beid nich van mi denfen!“ Und dann 
fommt das böje Ereignis, daß Wilhelm, aus Scepelmanns Dienft entlaffen, 
bet dem Brande feiner Scheune als Brandleger verdächtigt und eingezogen 
wird, und bei der Gerichtsverhandlung nur durch das Zeugnis feines frühern 
Herrn und Luifens, die fich jelbjt damit bloßjtellt, freikommt. Das alles ift 
jehr hübſch erzählt, nur daß zuweilen die Dialeftit des Dichter über die 
bäuerische Art hinausgeht. 

Zu dergleichen Bemerkungen wird man fich nie durch die ziveite der oben- 
genannten Erzählungen, „Harten Leina“ von Heinrich) Burmefter, veranlaßt 
fühlen, und dies mit noch andern vorzüglichen Eigenschaften verleiht ihr einen 
höhern poetiichen Wert als den „Dree Wiehnachten.“ Burmejter ift vielleicht 
nicht jo fchriftjtelleriich gewandt wie Lening, aber an Bildung jteht er ihm 
nicht nach, und was er voraus hat, iſt Urjprünglichkeit, Unmittelbarkeit, eine 
volltommene Kongruenz zwiſchen Sprache und Inhalt, eine von volf3tümlichen 
Vorftelungen wahrhaft gelättigte Ausdrucksweiſe. Ein ganz entgegengejeßtes 
Verhältnis hat er zum Bauerntum. Im nichts weniger als idealem Lichte und 
rückwärts ftrebender vouffeauischer Sehnſucht ſchaut es der einjtige Dorf: 
jchulmeifter an, der Burmefter war, bevor er, wie Gaederg in der Einteilung 
erzählt, nach Berlin gezogen ift. Eher ift Burmefter® Satire der länd— 
lihen Zuftände feiner Heimat zu bitter für eime künſtleriſche Arbeit, als 
daß fie dem Städter ald das Ideal menjchlicher Lebensart Hingejtellt würde. 
As ftrenger Realift und zugleich als ein Mann, der durch die Darftellung 


36 Plattdeutfche Erzähler. 


der Wahrheit jeinem Lande und dejjen Leuten einen Ichrreichen Spiegel zur 
möglichen Befferung bieten will, als einer, der ein langes Leben hindurch 
Ichmerzliche Erfahrungen gefammelt bat, die er fich num vom Herzen jchreiben 
will, ericheint diefer wahrhaft dichterifche Autor, den Gaedertz gewiß mit Necht 
jeinem berühmtern Landsmanne Frig Reuter unmittelbar zur Seite ftellt. Bur— 
mefter iſt bisher — nur feinen engeru Landsleuten befannt — allein mit Verjen 
als Iyrischer Erzähler hervorgetreten, und „Harten Leina“ ift fein erſtes Proja- 
werf. Der lyriſche Grundton feines Weſens zieht fich aber auch durch dieſe 
jeine Profaarbeit ungemein anziehend hindurch und offenbart jich an einzelnen 
Stellen in jehr jchöner Weife. Wie z.B. in der folgenden: „An' Heben jtünn 
de Mand und keik jo ftill un bienah weitmäudig ub de ichöne Herrgottswelt 
hendahl, un ſien ein Strahl verkreup ſik in Buſch un der anne in' Bohm, ſo 
dat ſe wied en Schatten ſmeiten. Blot nerden in de Achtewiſch dor ſüng noch 
Ein. De ſüng ſo, dat ein ſik dor nicht ſatt an hörn kunn. Dat tröck ein' 
dörch all de Adern, dat treck ein' dörch Lief un Seel, dat güng ein' dörch 
Kopp un Hart und wer ſo ſeut, dat ſik dat mit Wörd nicht ſeggen un mit de 
Fedder nicht beſchrieben lätt. De dor ſüng, dat wer de Nachtigall. Se ſüng 
ehr Leid, wat ſe lang all ſungen hätt, as de Erd beſteiht, un wat ſe ſo lang 
ſingen ward, as de ſchöne Gottserd' noch beſtah'n ward. Dit Leid, ſo old un ſo 
jung tau glieker Tied, un ſo friſch un ſo vergneugt, ſo munter und ſo hartlich, 
dat ein' nicht weit, worarns em dorbie ward. Dit olle Leid und dit neige 
Leid, was uns Herrgott dor baben den lütten Vagel in de Boſt un in de 
Kehl leggt hätt, dat he dorvon tügt, wat de Grundton is, de ſik dörch de 
ſchöne Herrgottswelt hendörch treck bie Vagel un Veih un bie de Minſchen. 
Dit Leid, wat ſe all' feuhlt un ahnt, wat ſe ehr all' nahſungen hebbt un wat 
noch keiner utſungen hätt. Wenn wie den Globen nicht mehr brukt un de 
Hoffnung nicht mehr nödig hebben, as de Apoſtel ſeggt, denn ward dat, wat 
ſe ſingt, noch ———— nämlich de Leiv, de ewige Leiv, worin ſik mal allens 
ublöjen un wormit unſ' Herrgott Allens ümfaten ward.“ 

Und ein andrer fein poetiſcher Zug in Burmeſters Darſtellungsweiſe, welcher 
ſie von der Lenings auszeichnet, iſt der, daß ſeine Bauern weit weniger zungen— 
gewandt ſind, zumal wenn ſie mit Abſicht etwas erzählen ſollen, wodurch er 
nicht bloß dem deutſchen Volkscharakter näher kommt, ſondern damit auch er— 
gögliche Humoriftische Wirkungen erzielt. Eine der jchönften Szenen der Er- 
zählung erreicht ihre wahrhaft padende Wirkung nur durch dieſe Kunft des 
Dichters im — Schweigen; e3 iſt die gegen den Schluß der Geſchichte. Nach- 
dem nämlich der „Buervagt“ Harten, ein früher dem Spiele ergebener Menſch, 
aus altem Haß gegen feinen Nachbar Pinkvoß feiner Tochter Linna, der „Harten 
Leina,“ lange Zeit die Ehe mit dem Fritz Pinkvoß nicht hat geitatten wollen, 
nachdem dieſes herrliche, tapfere Mädchen an ihrem nicht minder trefflichen Fri 
in allen jchmerzlichen Wechjelfällen feitgehalten hat, auch dann, als er der 
Brandlegung an ihres Vaters Haufe verdächtigt in Haft genommen ward, bis 
e3 offenbar wurde, daß ein halber Narr, der Plumm Jochen, ein natürlicher 
Sohn Hartens, das Feuer angelegt, da endlich bricht der Eigenfinn des dünkel— 
haften Bauernvogt3. Er jchämte fich ob feiner Jugendfünde, die iym, bisher ge- 
heim gehalten, jo übel mitgejpielt hat, nicht bloß vor fich jelber, jondern auch 
vor jener Frau, und namentlich feiner eignen ſchmucken Tochter Leina. „AS de 
denn ind Dags in de Dönz ftünn un wein, dat je fon’ unglüdlichen Brauder 
[Plumm Jochen] in de Welt harr, de jo vel Unglück anrichten ded un nu nach 


Plattdeutfche Erzähler. 97 











ne Heilanftalt fomen war, dunn jed ehr Vader, der neben ehr ub'n Stauhl jeit: 
Leina! Dat Küng jo mild, as ehr all lang fein Wort ut ſien' Munn’ mehr 
vörfamen war. Se verfehr fif bienah doräwer, denn dat güng ehr dörch de 
Seel, ad wenn en janften Sommerregen ſik äwer de Natur, da noch eben vörher 
vör Drögnis har verfmachen wullt, utgeiten ded. Se wüß äwers doc) nicht, 
worus be ziel un worhen dat gahn’ ſchull, un deshalb ſeig je em blot met ehr 
hellen um flaren Ogen an. Leina! jed’ he denn noch mal, un nu war ehr dat 
grad, a3 wenn de Sinn’ an’ Heben ubgüng un dörc Nacht um Newel hervor 
feum, üm tan wiejen, wor jchön je war. So jeut har ehr all’ lang ehr Nam 
ut ſien' Munn’ nicht mehr lung’, ja, ehr war dat, ad wenn je em von fien 
Lippen noch garnicht jo har utiprefen hört, un nu fleug je em üm den Hals 
un wein noch jtarfer. Weſ' jtill, jed’ he dann. Awers je funn dat nicht, denn 
je wüß nicht, worarns je ſik faten Schul. Du jchallit em of hebben! jed’ der’ 
Buervagt wieder. Nu äwers har he gar feine anne Worte jeggen kunnt, as 
grad Dat, üm je noch mehr weinen tau mafen. As he denn dorbie an fien 
Bad feuhl, dat chr Kuß jo jeut un ehr Thranen jo heit wern, dunn ded' he, 
wat he all’ lang’ nicht mehr dahn’ har, he neuhm dat Mäten ub'n Schot un 
geiv ehr den heiten Kuß werre taurügg, un Bader un Dochter harden ſik funden, 
üm fit nicht werre tau verlern.“ Die Szene endet damit, daß die herzukom— 
menbe jüngere Tochter Emma ganz erftaunt über die nie gejehene Gruppe die 
Mutter herbeiruft, die nicht minder verwundert bafteht. Doch iſt's diefer wieder 
nicht recht, daß Leina fo ganz ohne fie zu befragen zu ihrem Fri gelangen 
ſoll, das verlegt ihre Eitelkeit. Na nu! jagt fie herzufommend. „Sa! jed he. 
Wat find dat vör Faren? jed he. De Umſtann' hebbt fit ännert, jed he, denn 
if hev mie befunn. So! ſed' he em beten ſnibbſch.“ Aber Emma tritt dazu, 
faßt fie, joweit die Kleine reichen kann, um die „Talje“ und jagt: Mudder, 
befinn’ die of! Das wollte die „Buervagtſch“ aber erſt recht nicht hören: 
„Dorvon häft du mie fein Wort jeggt, dat du die an hellen lichten Dag bejinn’ 
wullſt,“ erwiedert fie echt bäueriſch. Doch jchlieglich befinnt fie ſich auch, da 
ja im Grunde der bisher verhaßte Nachbar nad) dem Brande dem ehrenwerten 
Buervagt Harten eine Menge Geldes zum Aufbau des Haufes vorgeichofjen hat, 
was alle® in den Befig der Tochter fommen muß, wenn ſie Fritz heiratet. 
Auch die Mutter jegt fich nun auf des Vaters Schoß, die fleine Emma fommt 
dazu. Go, dor warn je al’, jagt fich der Buervagt im Stillen. Es ijt aber 
mehr al3 der Seffel vertragen fann, fein warnendes Knacken wird überhört, er 
geht aus den Fugen und die nach langen Jahren wieder einmal traulich zu= 
jammenfigende Familie purzelt übereinander. 

Dieſer Liebesgefchichte der „Harten Leina“ geht parallel die minder heitere 
Leidensgeichichte de Sandhorfter Dorfichulmeister® Schulg, und wenn es, wie 
Gaedert in der Einleitung andeutet, wahr iſt, daß der Dichter feine eignen 
Lebensſchickſale ziemlich getreu in dem Nomane gejchildert hat, jo iſt jeine 
ätende Satire nicht minder erklärt, als die ſchwermütige Weltanschauung, welche 
in dem oben zitirten Naturbilde ſich ausſpricht. Diefer Schulmeifter ift 
ein wahrer Unglücksmenſch. Armer Leute Kind, führt ihn fein Bildungsbedürfnis 
dem Lehrerberufe zu. Aus dem Seminar entlaffen, wird er wegen feiner tüch- 
tigen Senntniffe Lehrer bei den Honoratioren feiner Heimat, und dann mit 
192 Thaler 16 Schilling, wovon er noch für Schulmiete und Feuerung 
52 Thaler abgebeu muß, als Dorfichulfehrer angejtellt. Natürlich muß er dabei 
halb verhungern. Doc, hält er aus, bis er fich genügend für die Univerjität 


38 5 Plattdeutfche Erzähler. 


vorbereitet hat, die er dann bezieht. Auch hier lebt er unter den traurigften 
Berhältniffen. Dann wird er Hauslehrer auf den Edelhöfen feiner Heimat, da 
man ihm die Interftügung auf der Univerfität entzogen hat. Er fommt 
nah Hamburg und hält es auch hier nicht aus, da ihm einige malitiöfe 
Verje auf einen Lehrertag zugejchrieben werden, was alle Pädagogen gegen 
ihn aufbringt. Endlich fehrt er in den heimatlichen Slebuſcher Kreis zurüd, 
wo er mit Mühe und Not eine Dorfichulmeifterftelle in Sandhorjt erhält: 
„Pprovijorifch auf fünf Jahre, zu jeder Zeit widerruflich und mit der Pflicht, 
noch einmal die Prüfung zu machen.“ Aber nun fängt erit jein Martyrium 
an. Daß er die Schule vorzüglich führt, nütt ihm nichts; die Bauern, welche 
bisher gewöhnt waren, an feiner Stelle immer jchiffbrüchige Eriftenzen zu jehen, 
haben wenig Achtung vor jeinem Berufe, und weil er den Gehalt aus dem Ge- 
meindejädel bezieht, jo halten fie ihn ganz zu ihrem Willen verpflichtet. Da 
er ledig ift, glaubt der Bauernvogt Plumm Hinnif, ein roher, dummſchlauer Ge- 
jelle, bei ihm feine weitjchichtige, fiten gebliebene Coufine, die Magd in Ham- 
burg war, unter die Haube bringen zu können, und um dieje Trechheit dreht fich 
dann die ganze Handlung. Denn der Schulmeifter will natürlich) von der ihm 
zugedachten Braut nichts hören, und der wütende Vogt erdenft alle möglichen Bos— 
heiten, ihm das Leben fo jehr als er kann zu vergällen. Sein Zorn ift umfo heftiger, 
al3 ihm der in Aussicht geftellte Kupplerlohn durch jene Weigerung entgeht. Gegen 
den intriguirenden Bauernvogt ift der arme Schulmeifter ganz machtlos. Der ihm 
vorgefeßte Pastor (eine köftlich gezeichnete Geftalt) ijt auch nicht fein Freund, weil 
er ihm einmal mit hohen SKnieftiefeln ins Haus gefommen it. Aber aud) die 
infolge von erlittenen Beleidigungen angerufenen Gerichte laſſen den Schulmeifter 
im Stich) und mifachten ſelbſt einen Eid, den er feierlich abgelegt. Gehetzt und 
erbittert von allen Seiten, legt er endlich feine Stelle nieder und zieht in ein 
andres Dorf, wo er Holzpantoffeln verfertigt und von ihrem Erlöfe fiimmerlich fein 
Dajein friftet. Endlich leuchtet ihm ein hellerer Stern: er findet einen Freund 
der ihn nach Berlin mitnimmt; niederdeutjche Landsleute nehmen fich feiner an, 
richten ihm einen Kaufmannsladen ein, welcher ihm eine angenehmere Erijtenz 
verſchafft. Daß der Dichter dann diefen feinen Doppelgänger an gebrochnem 
Herzen über eine in fremder Ehe geitorbene Jugendgeliebte fterben läßt, will 
ung weniger gefallen. Burmeſter hat überhaupt alle feine Gejtalten am Schluffe 
etwas umgemodelt, um für feine Darftellung einen verjöhnlichen Abſchluß zu 
finden, was nicht ohne Zwang gejchehen konnte. Es ijt dies die Schwäche 
feiner Dichtung, welche aus ihren weit überwiegenden Vorzügen entjtanden ift. 
Denn gewiß find nicht bloß der Schulmeiſter, jondern auch alle übrigen, mit 
merkwürdiger Anjchaulichkeit gezeichneten Gejtalten getreu nach dem Leben ge— 
fchildert, und wenn irgend etwas im Geifte der Dialeftpoefie liegt, jo ilt es 
diefer Realismus, welcher mit der Unbefangenheit, die durch feine Überbildung 
oder literarijche Mode getrübt wird, Welt und Menschen anfchaut. Dem viel- 
geprüften Dichter wird es hoffentlich mehr und mehr gelingen, zu der Ans 
erfennung zu gelangen, die feiner Begabung gebührt und die er braucht, wenn 
er zu neuem Schaffen angeipornt werben joll. 


Innsbrud. M. Necker. 








Um eine Perle. 
Roman von Robert Waldmüller (Ed. Duboc). 
(Fortiegung.) 


rancesco biß jich auf die Lippen. 

Nach einer Weile jagte er: PVitaliano hatte Recht; meines 
N Vaters Zeit war durch feine großen Unternehmungen fo fehr 

Aa ın Anjpruch genommen, daß man jein Ohr nicht mit An— 
gelegenheiten untergeordneter Art füllen durfte Anders jieht 
es mit mir. Ich Habe die von ihm überjehenen Picolezzas ind Auge zu 
faſſen, denn ich muß den Staat von Grund aus reformiren. Set zur 
Sache: du bijt entweder über meines Vetters Pläne gerade jo jchlecht unter: 
richtet gewejen wie Vitaliano, oder du haft dich einer jträflichen Säumnis 
ſchuldig gemacht, indem du das veraltete Weisheitsrezept Vitalianos auch unter 
meinem, dem jüngeren Regiment, noch befolgteft. Freilich wirft du nun flug 
genug fein, dich lieber der Säumigfeit anzuflagen al3 der Unwiffenheit, nachdem 
du ohne Zweifel alle vernommen haft, was der Diener Giujeppe Gonzagas 
gejtern über die hochverräterischen Pläne feines Herrn ausſagte. Warjt du 
zugegen? 

Bu dienen, Altezza. 

Nun? 

Ich befenne, Altezza, jagte Antonio Maria, dab ic) Signor Vitalianos 
Rezept zu gewifjenhaft befolgte. 

Aha! Bene! Nehmen wir au, daß du alles jchon wußteſt, aber denrioch 
ſchwiegſt. Die Gründe, warum du es thatejt, will ich gelten laſſen, doch nur 
joweit es dir darauf anfommen mußte, niemanden täppiſch in das um Giujeppe 
durch dich gezogene Net hineingreifen zu laffen, und das hätte leicht gejchehen 
fönnen, wenn Bitaliano davon Kenntnis erhielt — denn er ift altersſchwach, 
ich rede immer, wie ich denfe —, wozu joll ich mit dir Komödie fpielen? So 
weit alſo, vorausgejeßt, deine Glaubhaftigfeit laſſe ſich erweiſen, magjt du dich 





40 Um eine Perle. 


jalvirt haben. Aber als wir ihn Hatten, als er ungefährlich geworden war, 
warum famft du auch da noch nicht zu mir und fagteft mir leije ins Ohr: 
AUltezza, Euer Better ijt ein Verſchwörer — vielleicht Habt Ihr mir Aufträge 
zu geben — du verftehjt mich, Antonio Maria, denn Mantua hält ihn ja doch 
für tot — du verftehft mich, was ſoll zwilchen dir und mir die Spiegel- 
fechterei? Aber du kamſt nicht zu mir. Und jetzt biſt du jchuld, daß der 
Doktor Poſſevino, ftatt an der Geſchichte der Gonzagas zu jchreiben, dieſen 
meinen ruchlojen Vetter mittel3 feiner Mirturen wieder herauspäppelt. Es 
wäre boch fo einfach geweſen, ihn verbluten zu laffen! Wozu braucht er zu 
leben ? 

Und jeine Mitjchuldigen, Altezza? 

Hm. Du wollteft ihn für die Folter aufiparen? 

Der Herzog ftand auf und machte einige Gänge durch das Zimmer, indem 
er von Zeit zu Zeit nach demjenigen hinüberjchielte, dem gegenüber er jo- 
eben zum erftenmale den Ton wirklicher Vertraulichkeit angejchlagen hatte. 

Antonio Maria, jagte er dann, vor dem Lafaien mit verjchränften Armen 
ftehen bleibend, ich habe einen Widerwillen gegen die Folter befommen, und 
wir werden ſehen, wie weit die Kunſt meines neuen Staatsrats Primaticcio 
und gejtattet, die grüne Kammer der Torre della Gabbia nicht wieder aufs 
ſchließen zu laſſen. Ich finde nun in deinem bisherigen Verhalten zwar manches 
Löbliche, manches, das mich bewegen könnte, dich in die Stelle Vitalianos rüden 
zu laffen; wie aber ſteht es mit deiner Glaubhaftigkeit? Sieh, ich bin meinem 
Lande jchuldig, auf meiner Hut zu fein. Wie willjt du mir beweijen, da du 
nicht gleich mir bis zu den geftrigen Ausſagen jene® — Beppo? in dem Wahne 
lebtejt, Giufeppe Gonzaga ſei nicht? weiter als ein verliebter Thor, daß du 
dich jet aljo nur nachträglich als ein Alleswifjer auffpielft, um dich auf den 
Stuhl PVitalianos zu fegen? 

Der Lakai hatte allmählich eine Haltung angenommen, welche der ihm zu— 
gedachten Würde mehr entiprad). 

AUltezza, ſagte er, immer noch gejchäftsmäßig, aber nicht ohne Selbitbewußt- 
fein, meine grünen Aufjchläge fieht ganz Mantua mit rejpeftuollen Augen an, 
denn es ijt die herzogliche Livree. Muß ich fie ablegen, um mic in PVita- 
lianos Vermummungen einzugewöhnen, jo wird es gejchehen, denn Euer Befehl 
iſt mir Geſetz. Aber nie Habe ich Vitaliano um fein Amt beneidet, Altezza, 
und glaubt mir, die Folter in der Torre della Gabbia war nicht jchlimmer ala 
der Folterſtuhl, nach welchem ich, wie Ihr meint, ein Gelüft haben joll. 

Du ſuchſt von meiner Frage abzulenken, beharrte der Herzog; kannſt du 
mir Zeugen nennen? 

Die Euch beffere Bürgen find als mein Wort? 

Heißen wir es jo. 

Wie könnte ich, Altezza! 








Um eine Perle. 41 


Du warft der einzige Eingeweihte? 

Hätte ich font Anspruch auf Euer Vertrauen? 

Das hätte dich noch lange nicht in den Verdacht gebracht, du feiejt ein 
Blauderer. Die Sache iſt unflar, Antonio Maria. Belenne doc) lieber: ich 
wußte nichts; auch ich habe ja das Nämliche bekannt. 

Der Herzog machte eine begütigende Handbewegung, als werde er es den 
Geſtändigen nicht entgelten laffen. 

Altezza, verjeßte Antonio Maria, Ihr Habt noch manche Gelegenheit, 
meine Wahrhaftigkeit zu prüfen. Wollt Ihr denjenigen, der von num an in 
jo viele Eurer Geheimniffe Einblid gewinnen wird, nicht durch bedingungs- 
loſes Vertrauen zu Dank verpflichten? 

Aber warum, warum durfte ich's nicht wiffen? rief der Herzog fich er- 
eifernd; wer gab dir das Recht, anzunehmen, daß ich meinem Vetter ans Leben 
gewollt hätte? 

Sch nahm mir dieſes Necht, entgegnete Antonio Maria, und hätte in 
diefem Augenblide mein Haupt demütig vor Euerm Zorn, Altezza, zu beugen; 
aber Ihr ſelbſt gabt mir ja fchon den Dispens. Dder hörte ich falſch? Sagtet 
Ihr nicht, ich Hätte — da ganz Mantua Euern erlauchten Vetter doch ja ſchon 
für tot hielt — mit der Frage an Euch herantreten follen: Vielleicht habt Ihr 
mir Aufträge zu geben, Altezza? 

Um Francesco Lippen ſpielte ein unheimliches Lächeln; es ſchoß ihm 
flüchtig der Gedanke durch den Kopf: diejer Schelm hat feine Brutus-Rolle zu 
gut gejpielt, wie? Sollte ich mir etwa in dieſer Kreatur einen zweiten Mentor 
herangezogen haben? An dem moralifirenden Primaticcio werde ich jchon mehr 
als genug haben! 

But, nahm der Herzog von neuem das Wort, indem er wie nad) reif: 
lichem Erwägen zu einem fehr ernjten Schritte ſich anzufchiden fchien, gut, 
mein ehrlicher Freund, ich habe in der That dir einen Auftrag zu geben. 

Er verfügte fi) an da8 Ende des Zimmers, öffnete einen geheimen Wand- 
ſchrank, auf welchen in goldnen Lettern einige verſchnörkelte Worte ftanden, 
jnchte eine Weile unter verfchiednen dort aufgeftellten leeren Fläſchchen, füllte 
eines bderjelben bis zur Hälfte mit einem weißen Pulver, verjtöpfelte das 
Fläſchchen und winkte, nachdem er den Wandjchranf wieder geichlofjen hatte, 
den neuen Sbirrenchef heran. 

Hier ift mein Auftrag, fagte er bedeutungsvoll, indem er Antonio Maria 
das Fläſchchen in die Hand drüdte und ihn dabei mit halbgeſchloſſenen Augen 
anblidte; in einer Stunde meldeft du mir — wie ihm der Tranf befam. 

Der Mund Antonio Marias öffnete fich zu einer erjchredten Frage. Seine 
Stirn perlte von Schweiß. 

Aber Francesco wies nach der Thür. 


Und mit unficherm Schritte wanfte der Shirrenchef hinaus. 
Grenzboten III. 1885. 6 


42 Um eine Perle. 


Er ift bloße Majchine, fagte der Herzog, wir werden gut miteinander aus: 
fommen. 


Dreiunddreißigftes Kapitel. 


In einem der verjtedtejten Räume des umfangreichen herzoglichen Palaftes, 
auf der Oſtſeite des vergitterten Erdgefchoffes, ſtanden die Fenſter offen, und 
die Düfte der draußen blühenden Zitronen: und DOrangenbäume zogen erquidend 
herein. Auch der Gejang von Rotkehlchen, Steinfchmägern, Finken und Amjeln 
zirpte, fchnalzte, jchmetterte und flötcte draußen in den Büfchen, während von 
einem lujtig jprudelnden Springbrunnen das Gurren der Tauben herübertönte, 
welche fich dort im hellen Sonnenschein den fühlenden Sprühregen der Fontaine 
vergnüglich zu ftatten fommen ließen. Hin und wieder flog auch eine Nachtigall, 
ein Hänfling, ein Grünfpecht aus andern Teilen des Gartens hierher, um der 
Wohlthaten des Quells teilhaftig zu werden, aber die Tauben hatten das Re— 
giment. Das fam daher: fie waren jahraus, jahrein die Schüglinge des alten 
Doktor Poſſevino, welcher im nämlichen Teile des Erdgeichoffes über feinen 
Büchern ſaß und ſich an dem muntern Treiben der vielbeweglichen Sippe und 
an ihren bunt jchillernden Hälſen labte, wenn cr in halber Verzweiflung die 
Feder aus der Hand gelegt hatte. Er war geduldig den höfiſchen Hiftorio- 
graphen gefolgt, welche das Gefchlecht der Gonzagas zwar nicht auf die Götter 
Roms, aber doch wenigjtens auf einen Königsſohn zurüdgeführt hatten, auf 
Louis Gonzad) oder Gonzhagi, einen der Söhne Witifinds, jo unmöglich c3 
dem Doktor auch gewejen war, andre Gründe als die der Klangverwandtichaft 
für jene jagenhafte Stammvaterschaft ausfindig zu machen. Sept jedoch, two 
er an die Aufzeichnungen wirklicher Chroniften gelangte, fand er, daß die Vor— 
fahren feines Gebieter8 durchaus nicht lediglich; Mufter von Nitterlichkeit und 
Tugend gewejen fein konnten, und beim Überfinnen der Mittel und Wege, um 
fie dennoch als jolche erjcheinen zu laſſen, jehnte der alte Medikus ich oft mit 
lauten Seufzern nad) der Zeit zurüd, wo ihm nichts weiter obgelegen hatte 
als den Puls zu fühlen, gewifje Flüffigleiten im Glaje prüfend gegen die 
Sonne zu halten und endlich eines feiner blutreinigenden Rezepte zu verjchreiben ; 
denn er gehörte zu den Anhängern des berühmten Doftors Salvini von Bologna, 
führte aljo jede Krankheit auf Blutunreinheit zurück. 

Wenige Zimmer nur lagen zwiſchen der Studirftube des zum Hiftoriographen 
gewordenen Jünger Ajtulaps und jenem verjtedtteften Raume, durch deifen Gitter- 
fenfter Vogelgefang und Blütenduft in jo ausgiebiger Fülle bereinfluteten, 
daß jelbjt ein gramumflortes Gemüt fich dem Zauber des Dafeins nicht völlig 
unzugänglich hätte erweifen fünnen. 

Dies war der Raum, in welchen Giufeppe Gonzaga, von der Außenwelt 
abgejchieden,, ja jelbft von den übrigen zahlreichen Bewohnern des Palaftes jo 


Um eine Perle. 43 








gejondert, daß er auch ihnen für tot galt, in der Pflege des alten Arztes, 
troß der blutreinigenden Medifamente desjelben, fich mit der Widerjtandsfraft 
der Jugend bis faſt zu jcheinbarer Genefung erholt Hatte. Einzig der alte 
Doktor, ein Mönch, eine alte Negerin, Antonio Maria und der Herzog ſelbſt 
wußten, daß er am Leben erhalten worden war. Für ganz Mantua war er 
verijchollen, und die von dem Verteidiger des alten Buonacolfi dagegen erhobenen 
Zweifel hatten das herzogliche Gericht nicht von jener Hauptbafiß des über 
ihn verhängten Todesurteils abzubringen vermodt. 

Heute nun war der Greis in Freiheit gejegt worden, heute erfüllte alle 
Pläge und Straßen Mantuas die unglaubliche Kunde von Vitalianos Sturz, 
von Brimaticcios Berufung in den Staatsrat, von der Schliegung der ver- 
rufenen Torre della Gabbia. Schon feit Sonnenaufgang hatte die Stadt ſich 
mit bunten Feſtzeichen geſchmückt, prangten in allen Fenstern farbenleuchtende 
Teppiche, umwogte die feftlich gefleidete Menge die öffentlichen Gebäude und 
den herzoglichen Palaſt. 

Francesco hatte während feiner Verhandlung mit Antonio Maria wohl 
hin und wieder die draußen erjchallenden Evvivas vernommen, aber fie hatten 
ihm feine Freude bereitet; Fonnte er im ihnen doch auch Veranstaltungen des 
Buonacolfiihen Anhanges erbliden, nicht einzig Beifallzeichen für das Einlenken 
des Herzogs im ein minder unvolfstümliches Regierungsſyſtem als das bisher 
von ihm feitgehaltene. 

Auch bis in die Klauſur Giuſeppes waren jene, die ganze Stadt erfüllenden 
reudenrufe gedrungen, und wenn er jchon während der lebten Zeit wieder: 
holt mit der Bitte in den alten Doftor gedrungen war, er möge den Herzog 
bewegen, ihm die Gnade feines Anblids zu gönnen, und wenn die Erfolglofigfeit 
diefer Bitten die Ungerwißheit über das feiner wartende Zoos bis zur Unerträg- 
lichfeit gefteigert hatte, fo ftedte ihn jet die draußen herrichende, überſchwänglich 
fich Luft machende Freudenjtimmung an, er glaubte auch jeine Erlöfungsftunde 
habe gejchlagen und er müfje das Seine thun, um den Stein, der fein vermeintes 
Grab bedede, fortzuwälzen. 

Er hatte dem Doktor zuliebe während der erjten Wochen, welche er 
zwißchen Leben und Sterben verbrachte, feine bewegungsbedürftige Natur in 
einer ihm ſelbſt jchter übermenschlich dünfenden Weile gezügelt. Wie eine Wach3- 
puppe, jo regungslos hatte cr auf jeinem Schmerzenslager dagelegen, unterhalten 
einzig durch die aud) bei ihm zutraulich aus- und einfliegenden Tauben, aber 
gemartert von Gedanfen wild umberjchweifender Art; denn Francescos Befehlen 
gemäß war er als ein den Mantuaner Vorgängen fremder und fremd bleiben 
jollender zu behandeln geweſen, aljo als einer, defjen etwaige Fragen mit dem 
Hinweis auf das für feine Geneſung einzig zuträglih Patientenverhalten zu 
beantworten jeien: mit der Mahnung zum Vergeſſen der weltlichen Nichtigkeiten 
und zur befchaulichen Beichäftigung mit den ewigen Dingen. 


44 Um eine Perle. 


Ein Mönch aus dem Kloſter der Minimi hatte ſich demgemäß redlich, 
wenn auch vergeblich, in letterer Richtung um das Seelenheil des Leidenden 
bemüht. Dann wieder war der alte Arzt befliffen geweſen, ihn für Witekind, 
den weltberühmten Sachſenkönig, zu interejfiren, aus defjen mächtigem Geäjte 
ja das ruhmwürdige Gejchleht der Gonzaghi oder Gonzagas emporgeſchoſſen 
jei — aber was frag’ ich nach Vorfahren, die ſeit taufend Jahren im Grabe 
modern! hatte Giufeppe ausgerufen; jagt mir, ob Abbondio die arme Fiorita 
heimführte — nichts als die Antwort auf dieje Frage hat für mein Ohr einen 
Klang. Antonio Maria — der Kranke fannte ihn nur unter dem ihm fremd 
gewejenen Namen Signor Gheddini und unter dem Titel eines herzoglichen 
Schloßgärtners — Signor Gheddini aljo war der dritte, der täglich einige 
male bei ihm vorſprach und in unterthäniger Weije fich immer bejorgt zeigte, 
ihm jeden thunlichen Dienft zu erweifen, ohne daß dieje Dienjtleiftungen freilich 
in anderm bejtanden als im Lüften des Zimmers, im liebevollen Pflegen eines 
den Hintergrund desjelben erfüllenden Waldes von Blattpflanzen, im Umftellen 
von Stühlen und Tijchen, im Zutragen eines blühenden Blumenjtods und in 
ähnlichen Stleinigkeiten, welche Giufeppes Ungeduld eher noch vermehrten Als 
verminderten. Eine greife Negerin endlich hatte die grobe Arbeit in Giufeppes 
Umgebung zu verforgen gehabt; fie war einst als junges Ding um fünfzig oder 
jechzig Dufaten auf dem Sflavenmarkte in Venedig von dem Vater Francescos 
gefauft worden, war aber jet ftumpffinnig und halb taub, und die Verjuche 
Giuſeppes, fie in fein Intereffe zu ziehen, hatten jolcher Art bald aufgegeben 
werden müſſen. 

Nun er die Evvivas wieder und wieder aus der Ferne herübertönen hörte, 
bemächtigte fich feiner eine grenzenloje Unruhe, und es war ihm, als fönne, 
al3 müfje fich in diefe ihm unverftändlichen Freudenausbrüche feine eigne Stimme 
miſchen, als dürfe er feinen Mugenbli zögern, jenen Glüdlichen in die Ohren 
zu jchreien: Hier ift ein lebendig Begrabener, befreit ihn, ſprengt die Riegel, 
zerreißt feine Ketten! 

Aber wie fich vernehmbar machen? Das Brüllen eines Löwen hätte faum 
bis in den Lärm da draußen hinausgereicht. 

Giufeppe prüfte, ob ihm noch ein Ton in der Kehle geblieben ſei. Ahime! 
wie jchmerzte die faum vernarbte Wunde bei dem bloßen Verſuche! 

Da fiel fein Blick auf die ein- und ausfliegenden Tauben. Seine Wangen 
überjtrahlte plöglic) rofige Glut. Seine Hand griff im bebender Hajt nad) 
einem jpigen Stüde weißer Kreide, mit welchem der Pater zu Giujeppes ver: 
meinter Erbauung die Ortlichfeiten dev Divina Comedia heute in rohen Umriffen 
auf die Platte des Tiſches gezeichnet hatte, welcher neben dem Kopfende des 
Bettes ftand. Dann ſah ſich Giufeppe im Zimmer fuchend um. Die dunkle 
Ledertapete hatte jchadhafte Stellen. Eine derjelben war vom Kopfende des 
Bettes aus erreichbar. In demjelben Augenblide hatte er einen langen Streifen 
der Tapete, wenn auch unter großen Schmerzen, herabgerijjen, den Streifen in 
ein halbes Dugend Fähnchen auseinandergetrennt und je ein Ende derjelben jo 
durchlöchert, daß der Kopf einer Taube ſich hindurchzwängen Tick. Be— 
freiet Giuſeppe Gonzaga! jchrieb er mit zitternder Hand auf das erite 
Tsähnchen; auf das zweite: Giufeppe Gonzaga lebt; im Palaft hält man ihn 
gefangen! und jo, bald Lejerlicher, bald unlejerlicher, befchrieb er mit fürzeren 
oder längeren Hilferufen die fjämtlichen Tapetenfegen. Er mußte dann eine 
Weile von der ungewohnten Anjtrengung ausruhen und lockte währenddejjen 


Notiz. 45 


nun die arglojen Tierchen mit leijem Pfiff heran, wie er fie gewöhnt hatte, 
nad) jeder jeiner frugalen Mahlzeiten jich um die nachgelafjenen Brojamen feiner 
Tafel zu bewerben. 

Sie waren bald ohne große Mühe eins nach dem andern überliftet umd 
mit ihrem Fähnchen am Halje wieder entlafjen, und gleich darauf bewies dem 
gejpannt ihrem Fluge Laujchenden ein unftätes Flügelraujchen, daß fich das 
ganze um den Springbrunnen verjammelt gewejene Taubenvölfchen aus feiner 
Ruhe hatte aufjchreden laſſen. Nach allen Richtungen Hin war es entflohen, 
ala gälte es, einem halben Dutzend Habichte aus dem Wege zu kommen. 

Giuſeppes Augen bligten. Er lächelte Er hatte Bottchaft hinausgejandt 
aus jeinem Kerker. Er vertraute feinem guten Stern. Es war unmöglich, 
daß nicht wenigjtens eine der Tauben, die mit der langen Schleppe dahin- 
flatterten, beobachtet wurde. Es mußte die Stunde jeiner Erlöſung nahe fein! 

Aber die Bruft jchmerzte ihm heftig, und er ſank erjchöpft auf fein Lager 
zurück. (Fortfegung folgt.) 


J 








EIER 


Notiz. 


Nochmals Bismarck und die Sonntagsruhe. Aus der meinen Aus— 
führungen im vorigen Hefte hinzugefügten Anmerkung der geehrten Redaktion ent— 
nehme ich, daß ich mißverſtanden worden ſein muß. Ich erlaube mir deshalb meine An— 
ſchauungen über den Begriff der Sonntagsruhe noch einmal dahin zu präziſiren, daß 
id darumter zweierlei verftehe und allerdings ebenjo wie die geehrte Redaktion und 
Herr 5. U. eine äußere und eine innere Sonntagdruhe unterfcheide. Jene, die 
äußere, welche ich als die polizeiliche bezeichnen möchte, hat einen lediglich prohibi- 
tiven Charakter, denn fie ift darauf gerichtet, alle Unruhe zu verhindern, durch 
welche die ſonntägliche Stille beeinträchtigt werden fönnte. Dieſen Ausschreitungen 
fann die Polizeibehörde mit den ihr gegebenen gefeglihen Mitteln auf Grund des 
S 366 Nr. 10 des Neichsftrafgefeßbuches entgegentreten, und e8 ift dabei ganz 
gleichgiltig, ob der Lärm auf der freien Straße verurfaht wird oder ob er aus 
den Häufern herausſchallt. Es ift alfo nicht zutreffend, wenn die geehrte Redaktion 
behauptet, „die Polizei Habe nicht da8 Recht, in das Innere des Haufes zu dringen.“ 

Die andre innere oder fubjeftive Sonntagsruhe ift aber nicht polizeilicher, 
ſondern religiöfer Natur und beruht auf dem altteftamentlichen Bibelworte: „Und 
aljo vollendete Gott am fiebenten Tage feine Werke, die er machte, und ruhete am 
fiebenten Zage von allen feinen Werfen, die er machte.“ (1. Mof. 2, 2). Diefe 
göttliche, auf die innere Sammlung gerichtete Sonntagsruhe fällt durchaus zufammen 
mit dem Begriffe der Sonntagdheiligung, zu welcher niemand durd) das weltliche 
Geſetz gezwungen werden kann, welche aber auch niemandem unmöglich gemad)t 
werden follte. Nur in lebterer Beziehung fann die Gefeßgebung einjchreiten, d. h. 
fie kann vorschreiben, daß kein Arbeiter gezwungen werden fol, mwider feine religiöje 
Neberzeugung am Sonntage zu arbeiten. 

Hieraus folgt, daß fid) ein gejegliches Arbeitöverbot niemals direkt gegen den 
Arbeiter, fondern nur gegen den Arbeitgeber richten darf, wie dies ja auch die 
Redaktion in der obengedadhten Aumerfung andeutet. 


46 £iteratur. 
Ein ı weiterer Schritt, alle Arbeit am — — Sefeh ; zu berbieten, 
würde an ber praftifchen Unausführbarfeit, an den Grundſätzen der ‚hriftlichen 
Religion und an dem Umſtande fcheitern, daß das menschliche Geſetz niemals fo 
weit reicht wie das göttliche. Hiervon würde man fich jehr leicht überzeugen, wenn 
man fich einmal die Heine Mühe machen wollte, fejtzuftellen, welche Uebertretungen 
der zehn Gebote überhaupt und in ihrem vollen Umfange mit irdischen Strafen 
bedroht find. Karl Parey. 





Siteratur. 


Das Leben des Freiherrn vom Stein. Bon Wilhelm Baur. Zweite, vermehrte 
und verbefjerte Auflage. Mit dem Bildnis Steins. Karlaruhe und Leipzig, H. Reuther, 1885. 

Das vorliegende Bud) hat bei feinem erften Erfcheinen, vor fünfundzwanzig 
Jahren, eine wohlverdiente beifällige Aufnahme gefunden. Es ijt ein Auszug aus 
dem großen Werke von Berk, eine wahre Volksſchrift, Har und fchlicht, und dabei 
dod) anziehend und mit warmer Empfindung gefchrieben. Man darf fich freilich 
nicht verhehlen, daß eine für das Volk beftimmte Lebensbeſchreibung Steins eine 
fehr Heikle Aufgabe ift. Die Hauptfchtwierigkeit, die organifatorifche Thätigfeit des 
Staatömannes anſchaulich vorzuführen, hat der Verfaſſer, der jetzige Generalfuper: 
intendent des Rheinlandes, nicht zu überwinden vermodt; neben Treitſchkes lichtvolle 
Darftellung der Reorganifation der preußischen Verwaltung darf dieſes Kapitel von 
Baurs Schrift nicht gehalten werden. Die Abſchnitte über des Helden lebte Jahre 
und namentlich über feine religiöfe Richtung nehmen, objchon gerade die lehtere 
einen ganz hervorftehhenden Zug in Stein Charakter bildet, do zuviel Raum 
ein; man merkt da dem Buche zu fehr an, daß es ein Theologe gefchrieben. 


Didtungen von ee und Zermontom in beuticher — von Andreas 
ſcharin. Zweite Auflage. Reval, Kluge, 1885. 

Eine ausgezeichnete poetiſche Sammlung, die allen, welche ſich für die ruſſiſche 
Literatur und ihre Entwicklung intereſſiren, wärmſtens empfohlen werden darf. 
Puſchkin und Lermontow gehören beide einer frühern Epoche an: der Zeit der 
Romantik, des Byronismus, der Entdeckung und Rückkehr zur Volkspoeſie, des 
Bruches mit den franzöſiſchen Idealen; aber beide werden auch jetzt noch, wo ein 
Realismus herberer Art die Herrſchaft gewonnen hat, als die größten Dichter ihrer 
Nation gefeiert. Lermontow ſcheint mehr national als der gebildetere Puſchkin zu 
ſein: feine Melancholie, etwa in der Naturbetrachtung, ruſſiſch-urſprünglicher als 
der byroniſche Weltſchmerz Puſchkins. In dem vorliegenden Bande hat Aſcharin 
in geſchmackvoller Auswahl die wertvollſten und zugleich bezeichnendſten Stücke der 
beiden Dichter zufammengeitellt und in drei Teile geordnet: Lyriſche Gedichte, 
Balladen und Romanzen, Epiſches. Es find Gedichte darunter, welche ohne Zweifel 
in den Schaß der Weltliteratur gehören und zugleich ein ganz nationales Gepräge 
tragen. Auch Gegenitände, welche lebhaft die VBerwandtichaft und Differenz beider 
Dichter vor Augen ftellen können, wählte Ajcharin mit Abficht aus: „Der Prophet“ 
©. 9 von Puſchkin, S. 10 von Lermontow, das lettere jedenfalld gelungener, obwohl 
beide denjelben Gedanken ausſprechen, daß wer die Wahrheit zu fagen hat, ein 
trauriges Loos gewinnt. Die „Meermaid“ (S. 29) don Lermontom erzählt von 
der Stadt von Kryſtall, welche auf dem Grunde des Waſſers fteht; dort hält fie 
einen bleichen Jüngling verborgen; doch alle ihre Sorgfalt um ihn, all ihr Kofen 


£iteratur. j 47 


vermag ihn nicht aus dem Schlafe zu weden, Dagegen gelingt es der „Waſſer— 
jungfrau” (S. 30) Puſchkins, den alten Klausner in der Grotte am Ufer ihres 
Sees mit Spielen und Lodungen zu bethören: 
Und als die nächtlichen Gewalten 
Verſcheucht der Sonne Strahlenglut, 
Gewahrten nur den Bart des Alten 
Die Fiiherfinder in der Flut. 
Auch das berühmte Gedicht Lermontows auf den Tod Puſchkins ift aufgenommen, 
weiches feinem Autor die Verbannung in den Kaukaſus eintrug, wo er jung an 
Jahren auch im Duell fallen ſollte. Er wußte aber aus feinem Aufenthalte in 
dem romantifchen Gebirge poetifches Kapital zu fchlagen. Meiſterſtücke und national 
harakterijtiic find die Balladen: „Der Ertrunfene,“ „Der Wojewode,” „Budryß 
und feine Söhne,” „Der Huſar“ von Puſchkin; „Die Gaben des Tarek,” „Tamara,“ 
„Das Stelldihein“ von Lermontow. Bon den epiihen Dichtungen Puſchkins find 
überfegt: „Der Gefangne im Kaukaſus,“ „Die Zigeuner,“ „Poltawa,“ und von 
denen Lermontowd: „Das Lied vom Zaren Iwan Waffilijewitich,” feinem jungen 
Leibtrabanten Liribejewitfh und dem Kaufmannsſohne Kalaſchnikow: eine Dichtung 
der jeltenjten Urt, auch in Rußland doppelt berühmt wegen des erjten, genial 
gelungnen Verſuches, den Volkston in der Kunftpoefie fortzubilden. Der junge 
Günftling des graufamen Swan verliebt ſich im Vorbeireiten in eine jchöne Kauf: 
manndfrau; an der Tafel ded Zaren fopfhängerifch dafikend, erzählt er, aufgefordert, 
von feiner Begegnung. Der Zar läßt ihm freies Spiel. Der Günftling überfällt 
hierauf die Frau auf offner Straße mit feinen Liebesanträgen, wodurd fie entehrt 
wird. Ihr Gatte rächt fie, indem er beim öffentlihen Ringkampfe den übermütigen 
Leibtrabanten mit einem Fauftichlage tötet. Der zufchanende Zar gerät in Zorn; als 
ihm aber der Kaufmann alles getreu erzählt, aud) daß feine Brüder bereit gewejen 
wären, fein Weib mit dem Tode ihres Beleidigers zu rächen, eutjcheidet Iwan höchſt 
harakteriftiich: 
But für dich, mein Sohn, wohlerprobter Held 
Auf dem Kampfesfeld, fühner Kaufmannsjohn, 
Daß du Antwort mir nad) der Wahrheit gabjt. 
Bil dein junges Weib und die Kinder dein 
Neid, beſchenken aus dem eignen Scaß; 
Deinen Brüdern aber geb’ vom heut’gen Tag 
Ich das Recht, zu handeln ohn’ Gebühr und Zoll 
In dem ganzen weiten Ruffenreid. 
Doch du felber fleigen mußt, mein Sohn, 
Auf den hohen Ridytplaß, auf den peinlichen, 
Daß dein Haupt du legejt hin, das ftürmifche. 
Laß’ das Beil dir fchleifen, jchleifen haaresſcharf, 
eiß den Henker legen an jein beſtes Kleid, 
Laß' die große Glode läuten mächtgen Klangs, 
Daß fie alle wifjen in Mostwa der Stadt: 
Meine Gnade ijt noch verblieben dir! 
Diefe Verje mögen auch als Beilpiel für den kräftigen Stil gelten. Noch find 
überfeßt: „Der Novize” und der phantaftifche „Dämon.“ Die Ueberfegungskunit 
Aſcharins verdient alles Lob: fie thut der Sprache niemals Zwang an und erwedt 
mit vollendeter Kunſt den Eindrud des Driginaled in all den verjchiednen Formen, 
die fie zu bewältigen gehabt hat. Wenn bie und da ungewöhnliche Wendungen, 
wie: „Deiner Hände warme Drüde” oder „er flog auf davon‘ vorkommen, oder 
unreine Reime, jo find das verzeihliche Fehler gegenüber der ftiliftifchen Meifter- 
Ihaft, die fonft bekundet wird. 


48 £iteratur. 








Phädra. Ein Roman von der Berfafjerin der „Memoiren einer Idealiſtin“ (M. von 
Meyjenbug) Drei Bände. Leipzig, Karl Reißner, 1885. 

Alles was die „Idealiſtin“ in ihrer vollendeten Proſa jchreibt, trägt jeden- 
falls den Stempel einer bedeutenden Perjönlichkeit an jih. Eine umfafjende Bil- 
dung, ein Reichtum bedeutfamer Erfahrungen, gefammelt in einem bewegten, aber 
jtet3 in audgezeichneten Kreifen verbrachten Leben, ftehen ihr zu Gebote. Tiefes 
Gemüt, geiftvolle, an die höchſten Probleme des Geijtes ſich hinanwagende Reflerion, 
eine wahrhaft liebenswürdige Schtwärmerei fir die Ideale der Kunſt und Sittlich— 
keit kennzeichnen ihren edeln Charakter. So kommt es, daß man ihr gern folgt, 
mag man auch ihrer aus der Philoſophie Schopenhauers und deren Färbung durd) 
Rihard Wagner gewonnenen Weltanfhauung ſteptiſch gegenüberftchen. Denn 
wunderſam gefärt und harmonisch gedämpft erfcheint ihr Peſſimismus, und wahr: 
haft künftlerifch bekundet er fih, da er ihr ganzes Wejen wie das Blut in den 
Adern durchzieht. Ihr ethischer Enthufiasmus bewahrte fie vor allem Quietismus, 
und dieſes thatfreudige, nichts Weniger als verzweifelnde Element hält jenen ent- 
jagungsvollen Lehren glüdlid) die Waage. „Ya ficher, heißt es einmal in dem zahl 
reih in den Roman eingeftreuten Reflexionen, die Griechen kannten den Schmerz 
und die Schuld; aber fie fannten auch dad Geheimnis der Erlöjung durd die Dich— 
tung, durch die Harmonie, durch das äjthetiiche Wunder; wir aber fuchen es in 
legter Steigerung durch die ethische That.“ 

Gleichwohl können wir der „Phädra“ gegenüber einige Bedenken von Stand: 
punkte der Kunſt aus nicht unterdrüden. Es fehlt ihr an Einheit. Der foziale 
Roman, die pſychologiſch Meinmalerifche Novelle, der univerjale Bildungsroman: 
alle diefe drei Stile liegen in der „Phädra“ im Streite, und es iſt zu feinem ein— 
zigen recht gefommen. Wohl intereffirt durch dad ganze Werft dad Schidjal des 
ilegitimen Sohnes Philipp, den feine gräfliche Stiefmutter in hartnädigem Stolze 
nicht anerkennen will, bis fie fid, ohne ihn zu kennen, noch von ihm gekannt zu 
werden, im ihn verliebt, fi ihm Hingiebt, um am Morgen nad) der verhängnis- 
vollen Nacht über ihn aufgeklärt zu werden. Mit ihrem Tode fängt die Erzäh- 
lung erſt vet an. Philipp, ein Apoll an Schönheit, ift ein genialer Dichter und 
bildungsfroher Menſch. Im Orient, in Indien (fiche Schopenhauer) findet er Die 
Ideale jeiner Weltanfhauung; nach Europa zurückgekehrt, fiedelt er fih in Korfu 
an, welches die Verfafjerin nad) einer ausdrüdlicen Anmerkung nur mit Hilfe der 
Schriften des Freiheren von Wardberg (Ddyfjeiiche Landichaften) fchildert, um da— 
jelbft, im Befige eines ſchönen Weibes, das ihn ganz unbefannterweife fon aus 
jeinem Gedicht „Phädra“ fterblic lieben gelernt hat, ein ideales, der Wiſſenſchaft, 
der Kunft und der Menfchenbeglüdung gemwidmetes Leben zu führen. Das alles 
bewirkt indes nur die Einheit der Perfon, nicht der Handlung und der dee. Die 
Charakteriſtik ift jeher ſchwach: durchaus idealifche, unwirkliche Geftalten, unwahr— 
ſcheinliche Handlungen und Zufälle der erfonnenften Art. Vielfach literarifche Remini- 
jcenzen an Georges Sand, an Balzac. Und ein Zwiefpalt, der durch das ganze Wert 
geht: die Geftalten werden als Franzoſen ausgegeben und find dort, wo nicht fran- 
zöſiſche Mufter nachgeahmt wurden, jo befannt deutſch! Diefe poetifhen Schwächen 
mindern aber nicht den Wert des Romanes, der jein Intereſſe von vornherein durd) 
die geiftvolle Verfafferin gefichert erhält. Als Dokument diefer, den edelften Frauen 
geltalten in unfrer Literatur als ebenbürtig zuzugejellenden „Idealiſtin“ ift er immer 
leſenswert. 


Für die Redaktion. verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. 
Verlag von Fr. Wild. Grunow in Leipzig — Drud von Carl Margquart in Leipzig. 





Oſtpreußiſche Skizzen. 
6. Politifdes. 


a | em Berfafjer diejer Aufjäge hat einmal ein im Lande einheimischer, in 
fe ER vielen Verhältniſſen desjelben wohlerfahrener Gutsbefiger (aller- 
J dingd war er fanatiſch Eonjervativ) gejagt: Wenn nur bei Frei— 
NN gebung des Erwerbes von Rittergütern durch Bürgerliche den 
legtern gleichzeitig da8 Prädikat „Hochwohlgeboren“ und ihren 
rauen das Necht auf die Anrede „gnädige Frau“ gewährt worden wäre, jo 
würden wir in Ojtpreußen nie eine demofratijche Bewegung gehabt haben. Das 
flingt ungeheuerlich, aber nicht nur ijt uns durch gute und unbefangene Be- 
obachter bejtätigt worden, daß etwas Wahred an der Sache jei, jondern bei 
näherer Bekanntſchaft mit der politischen Entwidlung Djtpreußen® und mit 
den ganz eigentümlichen Formen, welche der Barteigegenjat hier annimmt, fühlt 
man ſich mehr und mehr zu der Anficht Hingedrängt, daß recht viel Wahres 
darin jtede. 

So unglaublic) es jcheint, jo iſt es doch eine einfache Thatjache, daß jelbit 
heute noch der Kern des vjtpreußiichen Fortichrittlertums in der Landbevöl- 
ferung, und zwar nicht etiwa in mißtrauischen, zähen Kleinbauern, jondern in 
Rittergut3befigern, jowie in Gutsbefigern von ähnlicher Qualität jtedt. In den 
Städten würde e3 natürlich unter allen Umjtänden hier wie überall eine liberale 
Partei gegeben, und in den Seejtädten würde diejelbe bei deren natürlicher frei- 
händlerifcher Färbung ſtark nad) links tendirt haben; aber bei einheitlicher 
Haltung der Landbevölferung hätte dies faum ing Gewicht fallen fünnen. Nur 
die gewaltige Stüße, welche jeit der Gründung „Jung-Lithauens“ der vor: 
geichrittene Liberalismus in den maßgebenden ländlichen Kreijen * hat ihm 

Grenzboten III. 1885. 





50 Oftpreufßifche Skizzen. 


auf eine lange Zeit die Herrichaft in Oſtpreußen gegeben und macht jegt noch) 
(in einer Provinz, welche durch Natur und Geſchichte zu einem Bollwerk des 
ausgejprochenften Konfervatismus beitinmt ift) den Kampf gegen den Fort— 
jchritt zu einem ſchweren und gefahrenreichen. Jetzt noch beſteht fajt die Hälfte 
des Provinziallandtags aus Fortichrittlern; in zahlreichen Kreistagen hat dieje 
Partei noch die ausjchlichliche Herrichaft, in andern die jtarfe Mehrheit; in den 
landwirtſchaftlichen Vereinen iſt ihre Herrichaft erſt in allerneuefter Zeit etwas 
ins Schwanfen gefommen. Aus Reichstag und Landtag allerdings find, ab- 
gejehen von den Vertretern der Stadt Königsberg, die Fortichrittler ausgemerzt. 
Immer noch ift aber diefe Partei in der Prefje, jowie im öffentlichen und ge- 
jelljchaftlichen Leben durchaus vorwiegend. Wie ijt das möglich? Sind Ddieje 
fortichrittlichen Landwirte Gegner einer Preisjteigerung für Getreide und über: 
haupt einer größeren Berüdjichtigung der Landwirtichaft? Sind jie ernitlich 
der Meinung, daß die liberale Sozialgejeggebung fpeziell für den Landwirt er: 
freuliche Früchte gezeitigt habe? Oder find fie vielleicht lauter unerjchütterliche 
Gatone, die ihr eignes Intereffe auf Schritt und Tritt dem Gemeimvohl, wie 
fie dasjelbe verjtehen, zum Opfer bringen, ohne mit der Wimper zu zuden? 
Gewiß ift von alledem fein Wort wahr, ja man kann wohl im Gegenteil jagen, 
daß fein Landwirt auf der Welt weniger als der oftpreußifche zu dergleichen 
unfruchtbaren Tugendhaftigfeiten geneigt jein wird. Es iſt vielmehr eine eigen- 
tümliche, mannichfach zujammengejegte Reihe äußerer und piychifcher Einflüffe, 
welche die Haltung diefer fortichrittlichen Befiger erzeugen, und wenn man jich 
bemüht hat, über das Wejen diejer Einflüffe ins Klare zu fommen, jo bleibt 
die Sache zwar immerhin wunderlich und jchwerverjtändlich, aber gänzlich un— 
begreiflich ijt fie dann nicht mehr, zumal wenn man bedenkt, daß die Leiden» 
ichaften, überhaupt die Gemütsaffekte der Menfchen, ſtets ftärfer geweſen find 
ala ihr Vorteil. 

Bor allem muß man nicht leugnen wollen, daß auf feiten der adelichen 
Großgrimdbefiger früher viel gefündigt worden jein muß. Mag noch jo vieles 
auf Rechnung von Heßereien, von gegenjtandslojen Vorurteilen, von neidiſchen 
Eiferfüchteleien zu jegen fein — es muß doch eine reelle Grundlage für das 
tiefe Mißtrauen übrigbleiben, mit dem hier wie andersivo die mittleren und 
Heinen Befiger den großen, aljo hauptjächlich doch den „Srafen und Baronen,“ 
gegenüberftanden und zum Zeil noch gegenüberjtehen. Wohl kann man mit 
gutem Rechte jagen, daß der Adel fich in neuerer Zeit vielfach bemüht, fich 
wieder eine feiner würdige Rolle zu fchaffen; aber es muß gejagt werden, daß 
jelbjt dies noch feineswegs jo allgemein und in jo wohldurchdachter Weife jtatt- 
findet, wie e8 zu wünfchen wäre, und ohne Zweifel ift in früherer Zeit viel ver- 
fäumt und viel Übles begangen worden. Auch liegt diefe Zeit noch garnicht 
jo weit hinter und. Wohlgefinnte, treffliche Männer, die jelbjt diefem Stande 
angehören, haben ung wiederholt mit Entrüftung von den Ausbrüchen 








Oftpreußifche Skizzen. 51 


junferlichen Geiftes und Weſens erzählt, die noch zu Menfchengebenfen vor- 
gefommen jeien, und vielfach ift e& uns beftätigt worden, daß die jeßige, viel- 
fach allerdings gröbliche, tendenziöje Zurücddrängung des Grundadeld in der 
Selbitverwaltung und im öffentlichen Leben nur der natürliche Rückſchlag fei 
gegen eine frühere, nicht minder tendenziöjfe und einfeitige Bevorzugung adelicher 
Namen. So muß fich alles ausgleichen, und es iſt nicht mehr ala im der 
Ordnung, daß die heutigen „Srafen und Barone“ fich doppelt bemühen und 
doppelt ihre Tüchtigfeit und perlönliche Integrität beweijen müffen, um frühere 
Bernachläffigungen aufzuwiegen. Es ift jchlimm, daß dergleichen niemals in dem 
Rahmen perjönlicher Wechielbeziehungen bleiben kann, fondern ich ſtets auf 
öffentliche Angelegenheiten überträgt — aber das ift nun einmal nicht zu ändern. 

In diefe Stimmungen und peinlichen Reminifcenzen hinein denke man fich nun 
vor einem oder zwei Menfchenaltern den Emporföümmling, den wenig gebildeten, 
aber leidlich praktischen Befiter einer Geldfumme, die ihm den Ankauf eines Ritter- 
gut3 ermöglicht hat. Er befommt das Gut billig, denn e8 ift alles vernachläffigt, 
und die Geldgeichäfte des frühern Befiters find in einer derartigen Unordnung, daß 
ſchon die Verpflichtung, diefelben abzuwickeln, einen weitern Drud auf den Kaufpreis 
geübt hat. Was er von Dienftboten umd Inftleuten über die frühere Herrichaft 
erzählen hört, klingt auch nicht alles erbaulich; es ift ohne Zweifel viel Klatſch, 
viel verſtändnislos aufgegriffenes, an fich bedeutungslojes Zeug dabei — aber 
da zu umterfcheiden ift feine Stärfe nicht. Merfen die Leute gar, daß er ber« 
artige Dinge gern hört, jo wird ihm auch manches geradezuaufgebunden. Die 
benachbarten Gutsherren, die Standesgenofjen, vielleicht die Verwandten oder 
Freunde des frühern Beligers, gehen nicht mit ihm um; feinen Umgang muß er 
fich unter Leuten juchen, die mehr oder weniger in einer ähnlichen Lage find wie 
er. Bebend vor Ingrimm muß feine Frau es fich gefallen laffen, als etwas 
Geringeres angejehen zu werben, als die Frau des benachbarten adelichen Guts— 
bern ; dieje ift „gnädige Frau,“ der Mann „gnädiger Herr,“ die Tochter „gnädiges 
Fräulein,“ der halberwachjene Sohn „der Herr Junker“ — fie ift „Madame,“ die 
Tochter „Fräulein,“ und nur ihr Gemahl hat allenfalls bei Kutjcher und Be— 
dienten den „gnädigen Herrn“ für fich durchgejegt; daß man aber die Briefe 
an ihn mit dem Prädifat „Hochwohlgeboren“ verjieht, dag kann aud) er nicht 
erreichen. Und doch find jie weit befjer fituirt al® der, biß an den Hals in 
Schulden ſteckende adeliche Nachbar, und fommen ganz außer. Verhältnis bejjer 
vorwärts ala er. Warum, in des Teufeld Namen, jollen fie nicht ebenfo 
gut jein? — Der fennte in der That die Menjchen fchlecht, der glaubte, der- 
gleichen nichtige Erwägungen fönnten doch unmöglich die politischen Gefinnungen 
eined Menjchen, und gar einer ganzen Generation oder eines ganzen Standes, 
beeinfluffen. Gerade ſolche Dinge find es, unter deren Einfluß die Beziehungen 
ganzer heranwachſender Gejchlechter zu einander vergiftet werden können. Eitel- 
feit, Titelfucht, Neid find es ja nicht allein, die da ins Spiel fommen, fondern 





52 Oftpreußifche Skizzen. 





Bewußtfein von einer, wenn auch bejcheidnen, jo doch durchaus achtbaren 
eignen Familienvergangenheit fünnen mitwirken, und fo mag es wohl fommen, 
daß in zahlreichen Fällen das heranwachjende Gejchlecht feine jtärfern und nach: 
haltigern Eindrüde empfangen hat al3 diejenigen des bittern, unverjöhn: 
fihen Hafjes gegen die adelichen Großgrundbefiger. Die äußere Veran: 
lajfung zu diefer Quelle fcharfer Gegenfäge ift längit geichwunden. Irgend— 
welche Privilegien des Adels eriftiren nicht mehr; auch in Kreifen, welche die 
zur Karrifatur gewordne übliche lbertreibung der Anrede „gnädige Frau“ 
nicht mitmachen, iſt es doch längit als Forderung der Höflichkeit anerfannt, die 
trauen von NRittergutsbefigern jo anzureden; ebenfo pflegt man auf Briefen 
an Nittergutsbefiger fich allgemein des Prädikats „Hochwohlgeboren“ zu be: 
dienen. Aber die alte, zum nicht unanfehnlichen Teil auf diefen Punkt zurück— 
zuführende bittere Gejpanntheit dauert fort, vielleicht nur umfomehr, jeit ein 
reifer gewordnes Gejchlecht die Erbärmlichfeit der Motive erkannt hat, aus 
denen e3 fi) in diefen Gegenſatz hat Hineinhegen lafjen, und daher einen Anflug 
von böjem Gewijjen in diefer Sache nicht loswerden fann. Der Menſch erfennt 
eben gar zu ungern an, auch nur teilweije im Unrecht gewejen zu fein; lieber 
thut er in Zufunft doppeltes Unrecht. 

Mit dem „böſen Gewiſſen“ ift e8 übrigens im nicht wenigen Fällen jehr 
viel ernitlicher bejtellt, al® bei dem hier angedeuteten Beziehungen. Schon 
früher tft darauf Hingewiefen worden, daß durch die von Schön zu diefem, jtatt 
zu dem jtiftungsgemäßen Zwecke hergegebenen Gelder zahlreiche Inſpektoren und 
dergleichen in den Beſitz der Güter ihrer bisherigen Brodherren gefommen find. 
Daß diefe Leute ein unbehagliches Gefühl gegenüber dem ganzen Stande, dem 
ihre früheren Gebieter angehörten, nicht loswerden fünnen, ijt gewiß jehr be- 
greiflich; fie mögen ja nichts gethan haben, was vor dem Geſetze oder auch 
vor dem Richterſtuhl einer landläufigen Gejchäftsmoral ihre Ehrbarfeit be- 
einträchtigt, aber „jchön war's doch nicht." Da ift es denn wiederum jehr 
verjtändlich und der Menſchennatur jehr entiprechend, wenn dieſe Derren ſich 
durch taufend Reflerionen über den verwerflichen Einfluß eines grundbefigen- 
den Adels auf Staat und Gejeßgebung zu betäuben fuchen und dadurch, fich 
jelbjt unbewußt, immer weiter nach links geraten. Sind fie gar durch Natur: 
anlage zu diejer Entwidlung disponirt, wie dies ganz bejonders bei den „Salz- 
burgern“ der Fall zu fein jcheint, jo entwiceln fich jehr leicht aus einem Gegen: 
jage, welcher urjprünglich nur perfünlicher und geiellichaftlicher, beziehungsweiſe 
gemüthlicher Natur war, umjo tiefere politische Gegenjäße. 

Zu diefen Folgen ungejunder perjönlicher Auseinanderjegungen gejellt fich 
andres, was mehr einen jturrilen Charakter trägt. Wer den von Saß zu 
Sat ich jelbjt widerfprechenden Blödfinn gewilfer fortichrittlicher Wahlaufrufe 
in Oftpreußen gelejen hat, und wer dann in Erfahrung gebracht hat, daß gerade 


| Oftpreußifhe Sfizzen. 53 


folhe Aufrufe, aus denen fich alles und nichts herausleſen ließ, jehr wirkſam 
waren, der wird auch glauben fünnen, was ihm fonft freilich als unglaublich er- 
iheinen müßte: daß es auch heute noch oftpreußifche Rittergutsbefiger giebt, die 
einfach micht willen, um was es fich handelt. Wir Hatten ſelbſt Gelegen- 
heit, einem Geſpräche zuzuhören, in dem einer dieſer Herren darüber jammerte, 
daß zu allen Steuern nun auch noch der neue Getreidezoll getreten ſei und 
die Gutsbeſitzer drücke. Man bedenke, daß diejen Leuten jeit Jahr und Tag 
alle politischen Fragen immer nur durch eine bejtimmte Brille gezeigt worden 
jind, dab die Fähigfeit, den parlamentariichen Verhandlungen, dem Wortlaut 
der Geſetze, ja auch nur den ernftern, tiefergehenden Deduftionen der Tages: 
blätter zu folgen, vielen derjelben gänzlich fehlt, daß fie fich nach Eleinlichen 
perfönlichen Gehäfligfeiten und gelegentlichen Rencontres ihre Stellung zur 
ganzen Bolitif zurechtlegen — um zu begreifen, daß die großen Tagesfragen 
zahlreichen, jelbjt größern Befigern garnicht als folche, ihrem Zweck und Wejen 
nad), jondern nur als Schattenbilder auf dem dunfeln Hintergrunde einer all- 
gemeinen politiichen WVerbiffenheit zum Bewußtjein fommen. Bringt in dieſe 
verbitterten Gemüter einmal ein Lichtjtrahl, jo jchließen fie eher gewaltſam die 
Augen, als daß ſie fich belehren laſſen. Nicht wenigen geht es ganz ähnlich 
wie den Handwerkern, welche mit den SKtonjervativen grollen, weil dieſe ihnen 
nicht ohne weiteres die obligatorische Innung geben wollen, und darum lieber 
fortjchrittlich wählen; fie jchimpfen über Freizügigkeit, Haufirwejen, Gemeinde: 
lajten ꝛc. wie der didföpfigfte Konfervative und thun dann gerade jo, als ob 
das alles von der jegigen Wirtjchaftspolitif herfomme. Ja es kann verbürgt 
werden, daß folgender unglaubliche Fall vor kurzem vorgefommen it: ein fort: 
ichrittlicher Gutsbefiger erflärte, was er dem Bismard niemals verzeihen könne, 
und was ihn (den Sprecher) auf ewig zu deſſen politiichem Gegner mache, das 
jei — die Einführung des allgemeinen Stimmrechts! 

Ausfiht auf Dauer haben dieje an Wahnwiß ftreifenden Duerföpfigfeiten 
allerdings nicht; aber jie können einem eine jchöne Zeit lang das Leben jauer 
machen. Denn die Macht der Gewohnheit ift jo groß, daß fie auch für jolche 
Dinge in Betracht fommt; man hat feine ganze Vorſtellungsweiſe auf gewiſſe 
Gefichtspunfte Hin gerichtet, Hat fich an einen bejtimmten Umgang gewöhnt, 
bat aus taujend Heinen Borfommniffen eine Mafje von Groll gegen die poli- 
ttichen Gegner angejammelt, und kann num, jo unbehagliche Empfindungen man 
auch bei dieſer oder jener Angelegenheit hat, al3 ob man fich doch eigentlich jelbit 
die Nafe abjchnitte, nicht losfommen. Notoriſch ift, daß zahlreiche, innerlich längſt 
zum Himüberjchreiten nad) rechts reif gewordne Befiger nur darım auf 
ihrer bisherigen Seite bleiben, weil fie andernfall3 ihre gewohnte Skatpartie 
mit dem und dem verlieren würden, denen e3 ihrerjeit3 vielleicht ebenjo geht; 
nur hat feiner den Mut, anzufangen. Den gewohnten gejelligen Berfehr auf- 
zugeben und ſich einen andern fuchen zu jollen, ift aber in Oſtpreußen eine 


54 Oftpreufifche Skizzen. 





harte Sache — doppelt hart, wo es fih um Leute von mangelhafter Er- 
ziehung und geringen geiftigen Hilfsquellen handelt. Rechnet man dazu, daß 
die beiden großen Königsberger Blätter den geijtigen Gefichtöfreis der weitaus 
meiften größern Befiger gefangenhalten, da letztere aus gejchäftlichen Gründen 
auf dieje Blätter (troß deren fortwährenden, rüdjichtslofen Schimpfens gegen 
den Großgrundbefig) nicht verzichten zu fünnen glauben, und daß außerdem in 
Tilfit und Infterburg einige ganz hervorragend bösartige fortichrittliche Organe 
ericheinen, fo wird man fic vieles zurechtlegen fünnen, was ſonſt al® eine un- 
faßbare Verirrung erjcheinen müßte. 

Die Lejer mögen fich nicht wundern, daß hier immer nur von den Guts— 
befigern und niemals von ihren Leuten gejprochen wird. Binfichtlich diejer 
aber gilt in der That heute noch, und zwar in vollem, buchitäblichem Umfange, 
das Wort: Cujus regio, ejus religio. Geradezu lächerlich ift ed, wenn man wohl 
gelegentlich auf liberaler Seite jo thut, als fände eine Beeinfluffung der Init- 
leute und Arbeiter nur auf fonjervativer Seite flatt; das iſt alles, wie man 
am Oberrhein fagt, „gehopft wie geiprungen.“ Im jedem Wahlfreife fragt 
man fich bei Beginn eines Wahlfampfes, welche Veränderungen im Güterbejit 
jtattgefunden haben, und zieht darnach im beiderfeitigen Voranſchlag hier fünfzig 
Stimmen ab, dort zählt man fünfzig Stimmen zu — jedermann weiß, Daß 
über dieje Folge der eingetretenen Veränderung gar fein Zweifel obwalten kann. 
Auch muß man jagen, daß (angefichts der rüdjichtslojen Schärfe unfrer gegen 
wärtigen PBarteifämpfe) hiergegen nicht einmal viel einzuwenden ijt; wie fann 
ein Gutsherr dulden, daß feine Leute diejenige Meinung über ihn haben, die 
von der Gegenpartei über die Männer feiner Partei verbreitet wird? Bei dem 
Maße von perfünlichem Vertrauen, welches dem ländlichen Arbeiter auf Schritt 
und Tritt gejchenft werden muß, ift dies jchlechterdings unzuläſſig. Weiterhin 
it es eine Thatjache, die nur der leugnen fann, der nicht jehen will, daß 
überhaupt unjre geringere Landbevölferung ein felbitändiges Urteil über poli- 
tijche Fragen nicht hat, das Rejultat der jogenannten „unbeeinflußten Wahl“ 
aljo nicht eine Meinungsäußerung der Leute fein, fondern nur einen Ausdruck 
für die Stärfe und Geichidlichfeit der von den verjchiednen Parteien entfalteten 
Agitation bilden würde. Manche Leute wollen behaupten, jelbit in den Städten 
jei es nicht anders; lafjen wir diefen Punkt auf fich beruhen. Jedenfalls gilt 
unjer Sa von ländlichen Arbeitern, und ganz bejonder® von dem in der 
Kultur noch jo zurüdjtehenden oftpreußifchen, die ja zum anjehnlichen Teile 
faum wifjen, was eine Zeitung ift, und zum weitern anfehnlichen Teile eine 
Sprache reden, die fie von dem öffentlichen Leben Deutſchlands nahezu aus: 
Ichließt. Wollte der Gutsherr, dejjen Einfluß doch noch ein ganz naturgemäßer 
und bis zu einem gewiffen Punkte legitimer ift, feinen Drud ausüben, jo wirrde 
die Folge einfach die fein, daß der nächſte thätige Geijtliche oder Lehrer die 
Leute auf feine Seite zöge, ſei dieſelbe was fie für eine wolle; würde auch 


Ofiprenfifhe Skizzen. 55 


diefer Einfluß fehlen, jo träte der nächſte ſtädtiſche Kaufmann oder allenfalls 
der nächite Advofat in die Lüde. Wer wählt nun? 

Um dieſe Betrachtungen zum Abjchluffe zu bringen, bedenfe man end» 
{ih noch ein letztes. Wie lange oder vielmehr wie furz iſt es nicht ber, daß 
mit verfchwindenden Ausnahmen die gebildete Welt den politischen Liberalismus 
für etwas ſchlechthin Selbitveritändliches , für etwas, an deſſen prinzipieller 
Nichtigkeit doch überhaupt fein Zweifel obwalten könne, für ein unausweichliches 
Korrelat aller zeitgemäßen, auf Beſſerung und gejunde Entwidlung gerichteten 
Beitrebungen hielt! Wie wenige waren es noch vor einem halben Meenfchen: 
alter, die nicht dem Verfaſſer des „Grünen Heinrich,“ dem Schweizer Gott- 
fried Seller, zuftimmten, wenn derjelbe jagte: Heutzutage fehle einem, wenn 
auch jonjt noch jo tüchtigen und achtungswerten Manne etwas Wejentliches, 
fall3 derjelbe nicht liberal jeil Nun ift aber Oſtpreußen zwar durch ein Hin- 
länglich jtarfes Band mit Deutjchland verbunden, um allen geijtigen Strömungen 
von da ausgejeht zu fein, jedoch jo entfernt und jo in einer, der ſchnellen und 
energischen Mitteilung aller geiftigen Vorgänge wenig günftigen Weile fituirt, 
dag die Strömungen aus Deutjchland jtet3 etwas verjpätet hier ankommen. 
Bon der gegenwärtigen nationalen, chriftlichen nnd ftaatlichen Bewegung in 
Deutichland hat man in Oſtpreußen noch nicht viel verjpürt — exit allerneueſtens 
beginnt es fich auch in diefer Hinficht zu regen. Der alte, landläufige Libera— 
lismus verfügt aber hier noch über einen Sondervorteil: die tiefgewurzelte 
liberale Abneigung gegen die „Junker,“ die adelichen Gutsbeſitzer. Daß die 
„Junker, “die „udermärfiichen Granden,“ die Strudelwig und Prudelwig, und 
wie alle die Bezeichnungen lauten, eine verdammensiwerte Abart des mensch: 
(then Geſchlechts jeien, lächerlich oder nichtstwürdig oder beides zujammen, das 
gehört ja jo recht zu den Kernſätzen des Liberalismus, umd ſtets ging man 
hierbei, auch al3 längjt weder für Adliche noch für adliche Güter irgendein 
Privilegium mehr erijtirte, von der Vorausſetzung aus, dieje verruchten Junker 
(denen es natürlich nicht das geringite half, dah ihre Namen von der branden- 
burgiſch-preußiſchen Gejchichte nicht zu trennen find) jeien überdies immer noch 
privilegirt. Spricht doch jelbit Guſtav Freytag in jeinen „Bildern“ von dem 
„tonfervativen Gutsherrn, welcher um die Privilegien jeine® Standes mit den 
Mächten der Gegenwart hadert“ — Died, während die „Mächte der Gegen- 
wart,” Die Börfe, das mobile Kapital und der Handel, fic allerdings in ihrer 
Steuerfreiheit und ihrem bejondern Handelsrecht ganz hübjche Privilegien zu— 
gelegt haben, man ſich aber nad) Privilegien, welche im Bejite der „Eonfervativen 
Gutsherren“ wären, vergebens umfieht. Aber wie lange dauert es nicht, bis 
die Gewöhnung am dieje alten Anjchauungen und Vorausſetzungen und an die 
Terminologie, welche ſich an diefelben fmüpft, überwunden ift! Und wie ver: 
zweiflungsvoll ringen nicht die obenerwähnten „Mächte der Gegenwart‘ darnach, 
alle dieje Dinge nicht in Vergeſſenheit fommen zu lajjen! 


56 Oſtpreußiſche Skizzen. 





Was den Sieg erringt, das iſt eine Umkehr von innen heraus, die fich 
auch, hier wie überall, nad) und nad) vollzieht. Aber diefer in unferm Bolfe 
vor fich gehende „Umdenkungsprozeß“ ift ein langjamer. 


Nachtrag. Von Nr. 1 unſrer „Oſtpreußiſchen Skizzen“ Tonnte leider infolge 
verjpäteten Eintreffens die von dem Verfaſſer ausgeführte Korrektur nicht mehr 
berüdfichtigt werden. Es ijt das doppelt jtörend geworden, indem gerade in 
diefer Nr. (nach einer mit angejehenen und in hohem Grade landesfundigen 
Ditpreußen genommenen Rüdjprache) eine Anzahl ziemlich einjchneidender Ab— 
änderungen hätte vorgenommen werden jollen, und fo erjcheint es zweckmäßig, 
die wichtigjten und unerläßlichiten diefer Ubänderungen hier in einem Nachtrage 
zujammenzujtellen. 

Zunächſt mögen ein paar Drudfehler forrigirt werden; befanntlich Hat ja 
der Drudfehlerfobold eine verruchte Neigung, nicht etwa nur Sinnlofigfeiten, 
jondern jogar Sinnwidrigfeiten zu verurfachen, und wenn ein Artikel miß- 
verjtanden werden kann oder der Abjchwächung oder Interpretation bedürftig 
it, jo bewegen ſich gewiß die Drudfehler gerade in der Richtung, in der 
die zu reftifizirenden Ungenauigfeiten liegen. So ijt es auch hier gegangen. 
Dazu gejellen ſich freilich aud) einige Drudfehler ganz gewöhnlicher Art.*) 
©. 75 Zeile 13 von unten muß es jtatt „das alte Land“ heißen „das alte 
Band.” Hinzufügen läßt fich nichts; dazu iſt die Sache zu belifat. ©. 76 
Zeile 17 von oben muß es heißen „Torfmoos“ jtatt „Torfmars,“ und drei 
Heilen weiter das „große Moos“ jtatt „große Mars.” ©. 78 joll auf Zeile 20 
von unten nicht die „Wirtjchaftsmethode“ jondern die „Wirtichaftsreform“ 
zur Erklärung herangezogen werden, und Zeile 9 von unten hat der Kobold 
einen feiner ärgjten Streiche gejpielt — nicht „die zahlreichen Güter,“ fondern 
„und zahlreiche Güter“ müfjen fich jozujagen ohne Wiefen behelfen. Eine Menge 
von Gütern hat ja dem herrlichſten Wiejenftand, der fich denfen läßt. Cbenjo 
fehlt auf der unterjten Zeile von ©. 80 das Wort „und“; es muß heiken „in 
Königsberg und auf manchem der vornehmiten Gutshöfe.“ Endlich wäre an 
diefer Stelle noch zu erwähnen, daß mit dem ©. 77 Zeile 14 von oben an— 
geführten „Nußbaum“ der „Wallnußbaum“ gemeint iſt. 

Weiterhin liegen nun eine Reihe von Punkten vor, hinfichtlich deren, wie 
dem Verfaſſer nachträglich zum Bewußtfein fam, Mißverftändniffe möglich find. 
Da ijt gleich in Anfang, ©. 75, die Hinweilung auf die Beziehungen, in denen 
das Land zu Polen geftanden hat oder noch jteht. Es ijt dem PVerfafjer ge: 
jagt worden, daß bei diefer Hinweifung zweierlei nicht genügend dargelegt jet: 


*), Un denen freilich die oft mit aller Mühe nicht zu entziffernde Handidrift des 
geehrten Herrn Verfaſſers Schuld ift. D. Ned. 


Ofipreußifhe Skizzen. 57 


einmal, daß die Gewinnung Oftpreußens einen ganz andern Charakter trage 
als 3. B. diejenige Kurlands und Lieflands, indem doc das Land der großen 
Hauptiache nach bleibend mit Deutjchen befiedelt oder die Bevölferung in das 
Deutichtum übergeführt worden ſei; fodann, daß der Verkehr mit Ruſſiſch— 
Polen und den füdöftlih an dasjelbe anftoßenden Teilen Rußlands nicht 
etwa, wie man aus der erwähnten Darlegung jchließen könnte, ein geringer, 
jondern ein gewaltiger ſei — flutet doch der ganze Strom von Produkten 
dieſer Landftrihe, durch ein Netz altbegründeter, hie und da fajt zu Fak— 
toreien ſich erhebender Berbindungen begünftigt, nach den Hafenplätzen der 
Dftfee. Auf ©. 76 und 77 iſt vielleicht nicht genug hervorgehoben, daß 
an Spalteren jowie unter ſonſtigen bejondern Beranftaltungen auch in den 
rauhejten Teilen der Provinz, jo z. B. im Kreiſe Ragnit, noch das vorzüg- 
lichſte Obſt erzielt werden kann. Allerdings follte ſich das von felbjt ver- 
jtehen. ©. 81 giebt vielleicht von dem Mafuren, da bier mit wenigen und 
im allgemeinen nicht lobenden Worten über ihn Hinweggegangen wird, ein 
zu ungünjtiges Bild. Der Maſure Hat aber in der That vortreffliche Eigen: 
ſchaften; er iſt ein fleißiger, genügjamer, im allgemeinen auch geiftig geweckter 
Menjch, der feiner vielfach jo dürren Scholle immer noc etwas abzuringen 
vermag. Sein jchlimmijter Feind ift allerdings der Schnaps. 

Endlich hat man dem Berfaffer auch verfichert, in einigen Punkten jeien 
feine Darftellungen übertrieben und ungenau, oder fänden nur auf ganz be- 
ſtimmte Einzelverhältniffe Anwendung. So treffe e8 doch im allgemeinen nur 
in der Nähe der Seen zu, dab (S. 76) die wafferführende Schicht jo nahe 
Unter der Oberfläche ift, um dem Auffommen hochſtämmiger Bäume Schwierig. 
feiten in den Weg zu legen. Wenn man das „in der Nähe der Seen“ gelegene 
Gebiet abrechnet, jo bleibt allerdings in manchen Teilen Oſtpreußens nicht 
viel übrig — aber die Berichtigung ſoll doch ihre Stelle finden. Was die 
Hutweiden (©. 76) betrifft, jo ſei doch nicht zu vergefjen, daß auch dieje von 
zahlreichen Yefigern für ihren Betrieb nußbar gemacht worden jeien. Daß 
Stoppelrüben und dergleichen (ebenda) nicht mehr gebaut werden könnten, jei 
nur jehr teilweije richtig; e3 genüge zu jagen, daß diejer Anbau allerdings 
geringer ſei als in Mittel- und Wejtdeutichland. Daß (S. 77) in den Land: 
ſtrichen des nördlicheren und öftlicheren Lithauens Weizen und Offrüchte nicht 
mehr viel gebaut würden, jet richtig, habe aber jeinen Grund viel mehr in der 
Beichaffenheit des dortigen Bodens als im Klima. Wenn eben ein Boden nur 
Roggenboden jei, jo könne man doch nicht jagen, der Weizen fomme nicht mehr 
fort. Daß der „schwarze“ und der „rote Lehm“ die ©. 77 angegebenen 
Eigenjchaften habe, fei gleichfalls richtig, aber doc in dem Maße nur dann, 
wenn der Boden nicht in hoher, gleichmäßig unterhaltener Kultur ſtehe. End- 
[ich verfichert man dem Berfaffer, und er fan dies einigermaßen aus eigner 
Anſchauung beitätigen, daß die ©. 81 erwähnten Unfitten, jo des ae 

@renzboten III. 1885. 





58 Zur Proftitutionsfrage. 


der Dienftmädchen in der Küche, im Verſchwinden, mindeſtens ſtark im Zurüd: 
weichen jeien. 

Errare humanum. Der Berfafjer hat fich redlich bemüht, richtig zu jehen 
und das Gejehene treulich wiederzugeben. 











—— 


a SD a a 





Sur Proftitutionsfrage. 


ı ie in der Gejellichaft, jo giebt es auch im öffentlichen Leben Dinge, 
über die man eine Diskuffion ängstlich meidet, obwohl man nicht 
im geringiten im Zweifel ijt, daß eine jolche zur Klärung der 
A Berhältnifje und zur Abjchaffung von Mipjtänden nicht nur 
= wiinjchenswert, jondern jogar notwendig fei. Eine ungerechtfertigte 
Scheu, das Ding beim richtigen Namen zu nennen, verleitet, wie jo oft, zu 
einer „Eonventionellen Lüge.“ 

Ein ſolches heifles Thema iſt auch die Frage der Bekämpfung oder, bejjer 
gejagt, der gejeglichen Regelung der Proftitution. Niemand hat den Mut, das 
Thema offen zu behandeln, und wo e3 ja behandelt wird, da geichieht es ein- 
jeitig, entweder von theologifcher oder medizinischer (janitärer) Seite, wie c3 
auch wieder in den zahlreichen, dem legten Neichstage zugegangenen Petitionen 
der Fall war. So bleiben die wichtigen Erörterungen jtet3 im Schoße der 
zu dem einen oder andern Lager gehörigen Perſonen begraben, zu einer zum 
Biele führenden objektiven Beleuchtung aber fommt es nie. 

Zwiſchen den beiden ebengenannten Richtungen, der theologischen und me- 
diziniſchen, wird, weil eine jede extrem ift, wohl faum eine Verjtändigung möglich 
jein. Die erjtere geht nämlich von dem Grundjage aus, daß eine Bejeitigung 
der Projtitution möglich fei, und ftrebt daher eine folche an. Die Mittel dazu 
findet fie einmal in dem Magdalenenwerfe, andrerjeit3 verlangt fie Unterjtügung 
der Gejeßgebung, indem fie darauf hinweilt, daß im Strafgejegbuche für das 
deutjche Reich ($ 361,6) eine polizeiliche Kontrole der Proftitution vorgejchrieben, 
die Proftitution jomit gleichfam janktionirt ift, und mit allen Kräften auf Beſei— 
tigung einer folchen Bejtimmung Hinarbeitet. 

Die Mediziner dagegen gehen von der Anficht aus, dab die Projtitution 
ein unausrottbares Übel fei, als folches vom Staate in den Kauf genommen 
werden müſſe, aber nach Möglichkeit einzudämmen jet, um das Volk vor den 
Schäden, die ſich daraus ergeben, zu fchügen. Man verlangt daher eine noch 
weitergehende gejegliche Regelung, als fie im Strafgefegbuche vorgejehen ift. 





Zur Proftitutionsfrage. 59 





Beide Richtungen find darüber einig, daß die Frage der Broftitution bei 
der jozialen Lage unſers Volfes und bei der Schädlichfeit der Sache für Sitte 
und Wohlergehen aller VBolksichichten immer brennender wird, daß aljo etwas 
gefchehen müſſe, um das Überhandnehmen der zutage getretenen Übelftände zu 
befeitigen. Beide verlangen Abhilfe durch die Gejehgebung nach zwei ganz 
ertremen Seiten hin, und es fragt fi nun: wie Tann bei dieſer Sachlage 
Abhilfe ermöglicht werden. 

Die Borausfegung zur Beantwortung diefer Frage ift die, daß man fich 
zunächit klar darüber werde, ob die Bejeitigung der PBrojtitution überhaupt 
möglich jei oder nicht. Won diefer Beantwortung hängt es ab, welcher Weg 
einzujchlagen iſt. 

Die Geſchichte ehrt, daß es feine Zeit gegeben hat, wo zivilifirte Staaten 
ohne das fogenannte notwendige Übel der Proftitution geweſen find, und jeder, 
der Einblide gewonnen hat, wie Frauen dazu gelangen, jich der Proftitution 
in die Arme zu werfen, wer insbefondre amtlich damit zu thun gehabt und fich 
ein unbefangnes Urteil gebildet hat, wird überzeugt fein, daß eine Bejcitigung 
diejes Übels nicht denkbar ift. Es ift hier nicht der Ort, des Nähern darauf 
einzugehen, daß und warum ſich die Proftitution nicht aus der Welt jchaffen läßt; 
wir meinen auch, daß dieſe Annahme lediglich eine gefällige Selbittäufchung 
derjenigen ſei, welche auf gänzliche Befeitigung derjelben Hinarbeiten wollen. Für 
die nachfolgende Erörterung genügt die Fixirung dieſes unſers Stand» 
punktes. 

Zugegeben alſo, die Beſeitigung ſei nicht denkbar, fo bleibt die Notwendigkeit 
beftehert, das Übel nad) Möglichkeit einzufchränfen. Der Gefeggebung aber fällt 
die Aufgabe zu, die Mittel und Wege zu finden, um den Schaden, welcher der 
Allgemeinheit durch die Broftitution droht, auf das denfbar geringite Maß zurüd- 
zuführen. Der Gejeßgebung aber, wie fie zur Zeit vorliegt, kann der Vorwurf 
nicht errjpart bleiben, daß fie cher zur Vermehrung als zur Verminderung diefer 
Schäden beigetragen hat, und daß fie eine Inkonſequenz in das Strafgejegbuch 
hineingetragen hat, die, vom rechtlichen wie vom jozialen Standpunfte betrachtet, 
höchit bedenklich ift. Hier tut eine Änderung not. 

Das Strafgeſetzbuch für das deutſche Reich bejtimmt im $ 361 unter 6: 
„Mit Haft wird beitraft: eine Weibsperjon, welche wegen gewerbömäßiger Unzucht 
einer polizeilichen Aufficht unterjtellt it, wenn fie den in dieſer Hinficht zur 
Sicherung der Gejundheit, der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Anjtandes 
erlafjenen polizeilichen Vorſchriften zumwiderhandelt, oder welche, ohne einer jolchen 
Aufficht unterftellt zu jein, gewerbsmäßig Unzucht treibt.” Die Gejeggebung 
erfennt alfo an, daß eine Kontrole der Proftituirten notwendig ſei, und legt 
diefelbe in die Hand der Polizei; gewiſſen Weibsperjonen iſt die Ausübung ber 
gewerbsmäßigen Unzucht geftattet, unter der Bedingung, daß fie den darauf 
bezüglichen polizeilichen Beitimmungen nachkommen. 


60 Sur Proftitutionsfrage. 








Die Polizeibehörden haben infolge deffen Regulative erlaffen, in welchen 
eine regelmäßige Ärztliche Unterfuchung der betreffenden Perſonen angeordnet, 
jowie eine Reihe von Beſtimmungen getroffen ift, wonach jene fich zur Erhal- 
tung der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Anſtandes gewiffe Beſchrän— 
fungen gefallen laſſen müſſen. 

Mit diefer Sanftion der Proftitution — welche als „Gewerbe“ aufgefaßt 
wird — fteht nun aber in Widerjpruch die Beitimmung des $ 180 des Reichs: 
ftrafgefegbuches, welcher lautet: „Wer gewohnheitsmäßig oder aus Eigennuß 
durch feine Vermittlung oder durch Gewährung oder Verſchaffung von Gelegenheit 
der Unzucht Vorjchub leiftet, wird wegen Kuppelet mit Gefängnis beftraft; auch 
fann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, fowie auf Zuläffigfeit von Po— 
fizeiaufficht erkannt werden.“ Während das Geſetz in dem zuerſt angezogenen 
$ 361 gewifjen Perſonen erlaubt, gewerbsmäßig Unzucht zu treiben, bedroht 
e3 im leßtgenannten $ 180 jeden, der einer jolchen Perſon Wohnung gewährt, 
mit harter Strafe. Was folgt daraus? 

Entweder wird die Beitimmung des $ 180, wie fichs gehört, ftreng durch- 
geführt: dann wird niemand mehr eine Proftituirte bei fich aufnehmen, oder er 
müßte fofort in® Gefängnis wandern und fich obendrein noch der Polizei— 
aufficht ausſetzen; dann find mit einem Schlage jämtliche Proſtituirte auf Die 
Straße geſetzt, und es wird ein heillojer Zuftand gejchaffen. Denn es wird Doc) 
niemand im Ernte glauben, daß die Proftituirten in eignen Häufern wohnen 
fönnen — dann hätten fie ja nicht nötig, ſich zu proftituiren. Oder die Be— 
ftimmung des $ 180 wird nicht ftreng durchgeführt: dann entjteht eine fatale 
Kolifion zwiſchen Opportunität und Beamtenpflicht. Staatsanwalt und Po— 
zeibehörde fommen in die mipliche Lage, zu jehen, wie ein Vergehen vor ihrem 
Auge begangen wird, und müſſen fich doch des Einfchreitens enthalten, nur um 
nicht einen völlig haltloſen Zuftand herbeizuführen. Sa wollte man die logische 
und daher auch juristische Konfequenz diefes Verhaltens ziehen, jo müßte jeder 
BVolizeichef, in defjen Neffort die Wohnungsanmeldung einer Proftituirten er: 
folgt, fofort den Wohnungsvermieter der Staatsanwaltjchaft zur Beſtrafung 
nach dem vorgenannten $ 180 anzeigen, oder er machte fich einer Beihilfe zur 
Kuppelei jchuldig, indem er den Wohnungsvermieter der Strafverfolgung ent— 
zieht, und hätte demnach gleichfalls die im $ 180 angedrohte Strafe zu ge- 
wärtigen. 

Daß diefer Zuftand unhaltbar ift, jpringt in die Augen, und daran kann 
auch das Auskunftsmittel nicht? ändern, zu dem man in der Praxis jeine Zu- 
flucht genommen hat. Man hat nämlich die früher in Deutichland allerorten 
geduldeten ſogenannten öffentlichen Häufer aufgehoben und duldet nur nod) das 
Wohnen der Projtituirten in Privatlogis, wo ihr Treiben angeblich weniger der 
Öffentlichkeit zu Geficht kommt und fo wenigftens der Schein von Begünftigung 
vonjeiten der Behörden vermieden werden joll. 


Sur Proftitutionsfrage. 61 


Unfers Erachtens war gerade dies der größte Fehlgriff, Durch den man 
geradezu aus dem Regen in die Traufe gefommen iſt. Denn einmal wird das 
Rechtsgefühl dadurch ebenjo verlegt, al3 wenn man öffentliche Häufer „kon— 
zeſſionirt.“ Ob die Proftituirten in leßteren oder in Privatlogis wohnen, it 
für die Behörden und deren Duldung gleich, fie wiſſen, wo und bei wem fie 
wohnen, und fie müßten daher von Rechtswegen einjchreiten. Zum andern aber 
ift dadurch der öffentlichen Sittlichkeit ein arger Stoß verjegt und der Aus: 
breitung der Proftitution mit ihren Nachteilen — wie die Erfahrung in den 
Ichten zehn Jahren gelchrt hat — ein ſtarker Vorſchub geleistet worden. 

Das Verbot öffentlicher Häufer wird insbejondre von derjenigen Seite be— 
fünwortet, welche cine jolche Einrichtung für nicht vereinbar erklärt mit den 
Satungen des Ehriftentums. Das geben wir völlig zu, ja wir gehen weiter 
und jagen: Die Proftitution überhaupt ift unvereinbar mit dem chriftlichen 
Leben, in welcher Form auch immer diefes „Gewerbe“ betrieben wird. Aber 
wenn fich einmal das Übel nicht befeitigen läßt, fo darf man nicht eine gewiſſe 
Form, unter der allein die größtmögliche Einſchränkung des Übels möglich ift, 
berdammen. 

Zunächſt läßt ſich nicht beftreiten, daß, wenn die Projtituirten in gewiſſen 
entlegenen oder verſteckt gelegenen jogenannten öffentlichen Häufern wohnen, mit 
ihrem Treiben der Öffentlichkeit möglichit entrückt find. Ehrbare Frauen und 
Mädchen, namentlich) aber Kinder, erhalten weit feltner Kenntnis von der Eri- 
itenz des Lafterd. Ferner ift die Verlodung eine bei weitem geringere. Wer 
nicht die Abjicht hat, mit einer Projtituirten in Verkehr zu treten, wird dazu 
auf Straßen oder in öffentlichen Lofalen nicht animirt, fondern er muß eben 
ein ſolches Haus betreten. Dies aber ijt für eine große Anzahl von Männern, 
inöbejondre für Zünglinge und Berheiratete, eine Schranfe, die nicht jo feicht 
überjchritten wird, während jeßt nicht nur die Verfuchung, fondern auch die 
Gelegenheit zur Unzucht unendlich viel näher gerüdt ift, wo die Dirnen einem 
auf der Straße nadjlaufen, und wo es nicht auffällt, in ein refpeftabel aus: 
jehendes Miethaug einzutreten, in welchem die Projtituirten ihr Quartier aufs 
geichlagen haben. 

Schon der Jugenderziehung iſt man es jchuldig, die Proſtituirten möglichit 
von der Straße zu verbannen, wo fie heutzutage zu allen Tages: und Nacht- 
zeiten herumlungern und mit ihrem Treiben der Schuljugend einen Anblick ge: 
währen, der ihr folange ala möglich) verborgen bleiben jollte. Ganz zu jchweigen 
von den Mißſtänden, welche das Wohnen diefer Weibsperfonen in Privatquar- 
tieren in fanitärer Beziehung mit fich bringt. Eine geordnete ärztliche Kon- 
trole ift nicht durchführbar, fobald es den Perjonen möglich ift, fich derjelben 
nad) Belieben, durch Wechjeln der Wohnungen, zu entziehen. Vier Fünftel der 
in Kranfenhäufern wegen Geſchlechtskrankheiten untergebrachten Frauensperſonen 
refrutirten jich da, wo öffentliche Häufer und jogenannte Privatdirnen neben- 








62 Sur Proftitutionsfrage. 





einander beftanden, aus der Zahl der letztern. Die den letztern gebotene leichte 
Möglichkeit zur Verheimlichung folcher Krankheiten jollte allein ausjchlaggebend 
jein bei der Wahl zwilchen der Einrichtung öffentlicher Häufer und dem jegigen 
Buftande, 

Aber noch andre bedenkliche Erjcheinungen find unter der Herrichaft der 
jegigen Zuftände gezeitigt worden: man fehe nur zu, aus welchen Ständen die 
Broftituirten hervorgehen. Es find zumeift Fabrifarbeiterinnen, Dienitmädchen, 
Nähterinnen, Bugmacherinnen, vor allem aber Stellnerinnen und Verkäuferinnen. 
Die Bezahlung derjelben ift derart, daß jolche Mädchen thatjächlich nicht davon 
erijtiren können, da insbejondre an Berfäuferinnen, Kellnerinnen ꝛc. die Anforde- 
rung eines guten, oft luxuriöſen Anzuges geitellt und zur Bedingung gemacht 
wird. Werden die Mädchen nun jchon durch ihre angeborne Eitelkeit dazu ver— 
leitet, für ihre Toilette mehr als nötig ijt auszugeben, fo geichieht dies infolge 
jener Anforderungen noch mehr. Sie gewöhnen fich außerdem in unſrer ge: 
nupfüchtigen Zeit daran, Anſprüche ans Leben zu ftellen, die bei ehrbarem Ver— 
dienste nicht zu befriedigen find. Die meiften diefer Mädchen haben niemand, 
der ihnen warnend und ratend zur Seite jtünde, ja oft find die Arbeitgeber 
jelbjt jo gewilfenlos, die Mädchen auf die leichte Möglichkeit hinzuweiſen, fich 
Geld durch das Sichpreisgeben zu verfchaffen. Iſt uns doch der Fall vorge: 
fonımen, daß ein (jüdischer) Gejchäftsinhaber, welchen feine Verkäuferin mit dem 
Hinweis auf die notwendigen Garderobenausgaben um Gehaltszulage angegangen 
war, antwortete: „Was wollen Sie denn, Sie haben ja den Abend und die 
Nacht für fich!“ 

Und zu allen diejen Verfuchungen tritt nun an diefe Mädchen die gefähr: 
lichite in Geftalt des böjen Beiſpiels heran. Da trifft ein junges, in Geldnot 
befindliches Fabrikmädchen oder eine Verkäuferin eine ehemalige Kollegin, mit 
der fie bi8 vor furzem zujammen gearbeitet hat, auf der Straße. Wie anders 
fieht jene jeßt aus! ſchön angezogen, die Tajche voll Geld, in hübjcher, wenn 
auch teurer Wohnung einlogirt, macht fie ſchon äußerlich auf das unerfahrene 
oder jchwache Gemüt der Arbeiterin einen verlodenden Eindrud. Die ſelbſt Ge- 
junfene hat jelbjtverftändlih die Sucht, möglichjt viel andre zu fich herab— 
zuziehen, ſei e8 auch nur, um nicht allein diejenige zu fein, welche als Gefallene 
gilt, und jo redet fie jolange von den goldnen Bergen, bis die andre fich auch 
geneigt zeigt, das Lafter nur von der goldnen Seite zu betrachten und fich ihm 
ichlieglich felbft mit in die Arme wirft. Sie will ja nur die wenigen Mark— 
ſtücke, die fie jchuldet, auf dieje Weife verdienen, dabei und insbejondre nachher 
wieder fleißig arbeiten; e8 merkt es ja auch niemand, und fie kann ja immer 
dabei noch als ehrbares Mädchen gelten. Aber fchlieglich wird fie entweder 
frank, oder fie fällt der Bolizei in die Hände, oder fie treibt es jolange, daß 
fie feine Kraft mehr hat, fich reeller Arbeit zuzuwenden, von der ihre „guten 
Freundinnen“ fie abzuhalten fich auch redlich bemühen — und der moralijche 


Zur Proftitutionsfrage. 63 


Untergang iſt fertig. Das iſt der gewöhnliche Gang der Dinge. Solange die 
Proftituirten abgejchlojfen von dem übrigen Teile der weiblichen Bevölferung 
leben, wird die Verſuchung an die moralisch Gefunden weit weniger herantreten. 
Jedes nur einigermaßen fittlich denfende Mädchen, und wenn fie noch jo arm 
it, wird lieber ihre ganze Kraft zufammennehmen, um auf redliche Weile ſich 
durchs Leben zu ichlagen, als ſich freiwillig in ein öffentliches Haus zu begeben 
und fich dort der Schande preiszugeben. Sie hat auch garnicht der Verlodung 
in dem Mafe wie jegt zu widerjtchen, two das Laſter unter der Masfe eines er— 
laubten „Gewerbes“ offen betrieben wird, und ihr Abſcheu davor ijt umſo größer, 
al3 fie fich jagt, daß eine Umfehr nad) dem Aufenthalte in einem öffentlichen 
Haufe kaum denkbar ijt. Diejenigen aber, die fich trogdem dahin begeben, find 
überhaupt nicht aufzuhalten, bei ihnen find andre Triebfedern im Spiel als die 
Geldnot; hier ijt dann der Punkt, wo die Magdalenenjache ihr Arbeitsfeld findet. 

Nicht minder gefährlich aber als für die weibliche Jugend ist das Wohnen 
der Proſtituirten in Privatlogis für die öffentliche, die Volfsfittlichfeit. Es 
find keineswegs immer moralisch gejunfene Familien und Perſonen, welche den 
Projtituirten Obdach gewähren, im Gegenteil, es find meiſt arme, durch zahl: 
reihen Sinderjegen in bedrängte Lage geratene, die ſich durch Abgabe eines 
Zimmers an ein „Fräulein“ für hohen Preis einen Nebenverdienst verjchaffen 
wollen, im übrigen aber völlig rechtlich daftehen. Durch die Berührung mit 
jenen Weibsperjonen jedoch und den täglichen Anblid ihres Gebahrens wird 
notwendigeriweije das in ihnen vorhandene fittliche Gefühl abgejtumpft, in den 
Kindern der Wirtzleute oder jonftiger Hausbewohner aber nur gar zu oft von 
Anfang an erftidt. Was Wunder, wenn die Töchter jolcher Leute jpäter, ohne 
ſich etwas ſchlimmes dabei zu denfen, auch ſolche „Fräulein“ werden? 

Schließlich mag auf den Übelftand hingewieſen werden, der in allen großen 
Städten fid) fühlbar macht, daß nämlich die Brojtituirten, welche vereinzelt wohnen, 
genötigt find, zu ihrer eignen Sicherheit (denn fie werden nicht jelten von ihren 
Beiuchern gemißhandelt, bejtohlen 2c.) fich mit einem oder mehreren Zuhältern, 
„Geliebten“ einzulaffen. Die Zahl diefer erbärmlichen Subjekte, die fich auf 
die Bärenhaut legen und fich von den Proftituirten für ihre „Ritterdienfte“ 
in der Regel jehr gut unterhalten laſſen, iſt feit dem Beſtehen der jegigen Geſetz— 
gebung erjchredend gewachjen. Sie refrutiven fic) aus faulen Arbeitern, ver: 
bummelten oder durch Bejtrafungen Heruntergefommenen Kommis und andern, 
jelbjt den befjern Ständen angehörigen Perſonen und bilden gegenüber der Polizei 
eine geſchloſſene Phalanx, hinter deren Schuge fich noch alle möglichen andern 
Erijtenzen verbergen, welche Grund haben, fich dem Auge des Gejeges zu ent- 
ziehen, ganz zu ſchweigen davon, daß aus der Zahl dieſer Zuhälter jelbjt eine 
anfehnliche Reihe von Berbrechern hervorgeht. 

Alle im vorjtehenden gezeichneten Mißſtände laſſen fich befeitigen oder 
wenigſtens auf das geringjte Maß zurüdführen, wenn man fich entjchließen 


64 Ein Grundproblem des Kunftgemerbes. 








wollte — nach vorgängiger Änderung der betreffenden gejeßlichen Borfchriften —, 
wieder zur Einführung öffentlicher Häufer zurüdzufehren. Die dagegen erhobenen 
Einwände erfennen wir volljtändig an, wir verjchliegen uns durchaus nicht den 
Nachteilen einer jolchen Inftitution, insbejondre auch nicht dem Umjtande, daß 
eine jolche mit der Idee eines chriftlichen Staates ſchwer vereinbar ift. So— 
fange aber ein folcher überhaupt fich nicht völlig durchführen und ſolange ins- 
befondre die Proftitution ſelbſt fich nicht aus der Welt jchaffen läßt, Halten 
wir dafür, daß jenes Ausfunftsmittel am zwedentjprechendjten jei. 
—dt. 





Ein Grundproblem des Runftgewerbes. 


Don Deit Dalentin. 






ee, | ler Orten regt es ji), das Kunftgewerbe neu zu beleben, und 
N | Deutjchland ſteht auch hierbei in der vorderjten Reihe. Es Tiegt 
Q diefer Thatjache ficherlich überall die Erkenntnis zugrunde, daß 
x die Arbeit umſo gewinnreicher fein kann, eine je bedeutendere 

— menſchliche Thätigkeit ſie darſtellt, ſowie die andre, daß bei wach— 
sr Menfchenzahl an Stelle der das Rohmaterial produzirenden Thätigkeit mehr 
und mehr die dieſes Material verarbeitende Thätigfeit treten müffe: ein neues 
und zugleich höheres Gebiet muß der arbeitenden Menjchheit erworben werden. 
Auffallend ift dabei nur, daß nicht nur in frühern Zeiten, in Deutjchland be- 
ſonders im fünfzchnten und jechzehnten Jahrhundert, eine jolche höhere Be- 
thätigung der Menjchenkraft bereit3 vorhanden war, und zwar, ohne daß ihr 
eine volfswirtichaftliche Erkenntnis zugrunde gelegen hätte, jondern daß das 
Handwerk zum Kunftgewerbe ſich aufgejchwungen Hatte, ohne daß ihm die Hilf- 
reiche Hand der Kunſtgewerbeſchulen zur Seite ftand. Und andrerjeit3 ertönt 
immer und immer wieder die Klage, daß troß folcher Anjtalten das Kunſtgewerbe 
heute dennoch das nicht leifte, was es in jenen Zeiten geleijtet Hat, zu denen 
das funftgeübte Auge jehnjüchtig zurücjchaut. 

Schon die Thatjache, daß wir durch Lehre erreichen wollen, was fich ſonſt 
aus der jchaffenden Thätigfeit ſelbſt geftaltete, weilt auf den Grundunterjchied 
unjrer Epoche von jener frühern hin: es ift ung die naive jchöpferiiche Kraft 
abhanden gefommen, und wir betrachten e3 als die Aufgabe der Wifjenichaft, 
den verjiegten Born wieder aufjprudeln zu laffen. Das Mittel wäre falich 


Ein Srundproblem des Kunftgewerbes. 65 


gewählt, wenn es nicht dem eigentlichen Charafter unjrer Zeit — in 
welcher an die Stelle des unmittelbaren, aus dem Gefühle quellenden Schaffens 
das aus der Erkenntnis ſeiner Gründe wirkende Schaffen getreten iſt. Wir 
brauchen aber auch nicht zu fürchten, daß das Mittel ein falſch gewähltes ſei: 
die von den gelehrten Kreiſen ausgehende literariſche Bewegung des vorigen Jahr— 
hundert3 mit dem fich daran ſchließenden großartigen Aufſchwunge unſrer Dich: 
tung hat bewieſen, daß es jehr gut möglich ift, erjt durch die Leuchte der 
Wiffenichaft der Kunst den richtigen Weg zu zeigen und, falls die Talente nicht 
fehlen, dann auf diefem das Große zu geftalten. Nur muß eben diefer richtige 
Weg gefunden werden, nur müſſen die Gründe richtig erfannt werden, auf 
welchen die fünftleriiche Geftaltung des Handwerks beruht, nur muß nachgewiejen 
werden, wie eine jolche fich zu den eigeniten Anforderungen umfrer Zeit an Die 
Leitungen des Handwerks ftellt. 

Nennen wir Handwerfsthätigfeit diejenige Thätigfeit, welche einen Stoff 
jo umgeftaltet, daß er für den erftrebten Gebrauch möglichjt geeignet wird, 
jo fommt das fünftlerifche Element dann hinzu, wenn er in feiner Geftal- 
tung ein Mehr enthält, welches über das ihm zum bejtmöglichen Gebrauche 
befähigende noch hinausgeht und für diefen Gebrauch nicht unbedingt notwendig ift. 
Wird ein Baumftamm als Träger benußt und zu dieſem Zwecke als Balfen be- 
arbeitet, jo ift dies Sache des Handwerks; wird die zur Aufnahme der Laft 
notwendige Erweiterung an der Auflagerungsitelle ftatt durch ſchräge Stüßen 
vielmehr durch Umgeftaltung des erweiterten obern Teils zu einem Blattkranz 
erreicht, fo ift ein Fünftlerisches Element Hinzugetreten. Dies aber darf, wenn 
e3 wirflich künſtleriſch wirfen ſoll, zweier Eigenschaften nicht entbehren, die, mie 
es jcheint, in unſrer Zeit nicht immer fcharf genug erfannt und daher auc) nicht 
immer richtig angewendet werben. 

Die erjte und nächjtliegende ift die des bildlichen Charakters. An einer 
Stelle, wo ein wirkliches Blatt weder vorhanden ift noch vorhanden fein kann, 
wird durch Nachbildung die Vorjtellung eines Blattes hervorgerufen, und zwar 
dadurch, daß ein Stoff, der ſelbſt nie zur Geftaltung einer Blattform gelommen 
wäre, fich der einem fremden Stoffe entlehnten Form unterworfen und ange: 
paßt hat. Während aljo die Form geblieben ift, hat ein Stoffwechjel ftattge- 
funden. Diejer Stoffwechjel ift nicht nur für alle bildlichen Formen das Cha- 
tafteriftiiche, er iſt jogar das eigentlich Schöpferifche, ohne welches eine bildliche 
Form überhaupt nie entitanden wäre. Und zwar ift dies jo zu verftehen, daß 
der Urquell der künſtleriſchen Form in dem thatjächlich erfolgten Wechjel, in 
der Bertaufchung des einen Stoffes mit dem andern zu fuchen ist. Wollte man 
nun hieraus jchließen, daß es zur Herjtellung einer künstlerischen Schöpfung 
genüge, unter Anwendung dieſes Grundjages des Stoffwechjels ein bildliches 
Element anzubringen, jo wäre damit allerdings die fachliche Grundlage für die 
Kunjtichöpfung gegeben; ob fie jelbit aber erreicht wäre, hinge noch von einem 

Grenzboten IL 1885. 9 





66 Ein Grundproblem des Kunftgewerbes. 


zweiten Umjtande ab, der mit dem erſten fachlich noch nicht gegeben ijt. Diejer 
liegt in der zweiten Eigenjchaft, welche für das VBorhandenfein des fünftlerischen 
Elementes notwendig. ift. 

Wenn infolge des Stoffwechjels eine bildliche Form in einem ihr urfprüng- 
lid) fremden Stoffe einen Träger gefunden Hat, jo fragt es fich jofort, in 
welchem Verhältnijfe die beiden Bejtandteile des neuen Ganzen zueinander ftehen. 
Das Nächitliegende und Naturgemäße ijt das, daß fie, als einander fremd, 
auch nur äußerlich verbunden erjcheinen und die Empfindung des Fremdartigen, 
Nichtzufammengehörigen erregen. Damit ift aber der fünftlerijche Eindrud aus: 
gejchloffen. Soll diejer dennoch erreicht werden, jo müſſen die beiden Bejtand- 
teile zu einer Einheit zufammenwachjen, jodaß diefe den Eindrud des Natür- 
lichen, des Selbjtverjtändlichen hervorbringt.! Um dies zu erreichen, muß ein 
Entgegenfommen von beiden Seiten jtattfinden. Dies kann aber nur aus der 
Erfenntnis des Wejens eines jeden der beiden Beitandteile entjtehen. Ber: 
hältnismäßig leicht ift dies bei der das Bildliche gejtaltenden Form. Sie muß 
immer erkennbar bleiben, jolange fie ihren Zweck erreichen joll; fie fann daher 
nur joweit nachgeben, als es die Erfennbarfeit ihrer Natur gejtattet. Biel 
jchwieriger aber ift e8 bei dem Stoffe, dem Träger der Form. Auch bei ihm 
muß die Eigenart feines Weſens bewahrt bleiben: er muß als der Stoff, der 
er it, erkannt werden, und es darf ihm, um die Form wiederzugeben, nichts 
zugemutet werden, was feiner Natur widerjpricht. Dieje Liegt aber nicht auf 
jeiner Oberfläche, welche zudem für die fremde Form in Anfpruch genommen 
wird: ſie liegt in jeinem Innern, in der Art jeines Wachstums, feiner Eriftenz, 
jeiner wejentlichen Eigenjchaften. Es entjteht hieraus die ſehr ſchwere Aufgabe, 
ji in die Natur des Stoffes hineinzufühlen: wenn er, der tote, nun lebendig 
und gleihjam mobil werden joll, um in neuer, ihm urjprünglich fremder Form 
ein neues Dafein zu gewinnen, jo muß dies jo geichehen, dab damit zugleich 
jeine innerjte Natur zur Erjcheinung fommt. Dies aber wird fich darin äußern, 
daß er die nachgiebigere Form zu einem Eingehen in feine Beitrebungen zwingt. 
Die Fähigkeit, diefe innerjte Natur eines Stoffes ald etwas Lebendiges nach— 
zufühlen, hat früher als eine naive Feinfühligfeit bejtanden; fie beſteht in der 
heutigen Menjchheit im großen und ganzen als jolche nicht mehr, ſie muß ge- 
lernt werden, und zwar jowohl von denen, welche jchaffen, als auch von denen, 
welche genießen. Sie muß es aber, weil der Stoff im Kunſthandwerk eine 
weit größere Bedeutung hat als ſonſt in der Bildkunft. Iſt nämlich das Kunjt- 
handwerk, joweit es bildliche Formen benußt, zur Bildkunft zu rechnen, fo 
befteht dennoch zwifchen ihm und dem, was man im engern Sinne Bildfunft 
nennt, gerade in bezug auf die Bedeutung des Stoffes ein wejentlicher Unter: 
ichted. Während bei der Bildfunft im engern Sinne der Stoff in der That 
weiter nichts ift, al3 das nicht zu umgehende Mittel der Formgeftaltung, für 
fi) aber feine felbjtändige Bedeutung beansprucht, jo verliert der Stoff im 


. Ein Grundproblem des Kunjtgewerbes. 67 








Kunſthandwerk feine Eonftruftive und damit maßgebende Bedeutung niemals: 
die Schöpfung des Kunſthandwerks iſt ftets als Gebrauchsgegenstand gedacht. 
Für den Gebrauch wählt man aber bei der Heritellung des Gegenstandes den— 
jenigen Stoff, welcher aus irgendeinem jachlichen Grunde für den Gebrauch als 
der geeignetite erjcheint, und die Umbildung des Stoffes hat zunächjt nur die 
Geitaltung zum Biele, in welcher die Eigenichaften, um derentwillen gerade 
diefer Stoff gewählt worden ift, am beiten zur Geltung fommen. Soll nun 
noch ein bildfünftlerisches Element hinzutreten, jo darf dies feinen höhern An- 
jpruch verlangen, als daß es die in dem Stoffe vorhandenen und durch die 
Bearbeitung zu praftiicher Verwendung gebrachten Eigenjchaften auch für die 
Erjcheinung Icbendig madt. Den Stoff töten aber heißt es, wenn das bild- 
fünftlerifche Element den Stoff hinter der Form verjchwinden läßt. 

Eine noch Schlimmere Ausartung it es, wenn der Stoffwechjel, welcher ur: 
Iprünglich die fünftlerifche Form gejchaffen hat und in welchem ein unerjchöpf- 
licher Quell für die Fortbildung der Form enthalten ift, jtatt fich mit der bild: 
fünftleriichen Form zu begnügen, in möglichjt geiltlofer Weile den einen Stoff 
einfach an Stelle ded andern treten läßt, damit der neue Stoff als folcher 
nicht erfannt werde. Es liegt im Weſen aller Kunſt, daß ihre Schöpfungen 
das, was fie darstellen, nicht wirklich find, fondern nur zu fein jcheinen; was 
wirflich das ift, was es zu fein jcheint, it Natur. Will nun eine Kunſtſchöpfung 
als das wirklich gelten, was fie zu fein jcheint, ohne es doch zu jein, jo täufcht 
fie, indem fie das Bewußtjein von ihrer Bildlichkeit aufhebt, und je mehr es 
ihr gelingt, diefe Täufchung zu erreichen, umſo geringer ift ihre Bedeutung als 
Kunst, die in dem Augenblide ganz verjchwindet, in welchem die Täufchung er: 
reicht wird. Wird ein Holzkäftchen, etwa ein Nähkäſtchen, als Lederfoffer ge- 
jtaltet, jodaß Kajten, Riemen und Schnallen zwar Holz find, aber durch ihre 
Ericheinung für das Material gelten müfjen, welches fie nur nachahmen, fo ift 
in dem Augenblide, in welchem die Täufchung erreicht wird, auch jene aller: 
elementarfte äfthetijche Freude vernichtet, welche aus der einfachen Thatjache der 
Erkenntnis der Bildlichkeit entipringt. Es geht hier wie in der Bildkunft. 
Sobald eine Wachsfigur jo vollendet ift, daß die Täufchung, die Verwechslung 
mit der Wirklichkeit eintritt, jo beginnt dieje elementare äfthetiiche Freude erjt 
in dem Augenblicke, in welchem diefe momentan erreichte Täuſchung als ſolche 
ind Bewußtjein tritt und nun das Staunen über die Vollendung der Nach: 
bildung beginnt. Iſt aber die Täufchung erfannt und fo jene auf der Erkenntnis 
der vollendeten Nachahmung beruhende, in der That nur findliche Freude er- 
reicht, jo kommt bei der Bildfunft die beſondre Wahl des Stoffes nicht weiter 
als entjcheidend in Betracht; wir wiffen, daß jede bildlihe Nachahmung fich 
eines dem uriprünglichen Stoffe fremden Materials bedienen muß, der feine 
Anfgabe erfüllt Hat, wenn er die Nachahmung erreicht. Bei dem Kunftgewerbe 
ift da8 anders. Der Gegenstand foll, auch nachdem die Täuſchung erfannt ift, 


68 Ein Grundproblem des Kunftgewerbes, 


ja eigentlich erft dann, zum Gebrauche dienen und jomit erjt jegt feinen cigent: 
lichen Zwed erfüllen. Dann ift aber bei täujchender Nachahmung von zweien 
nur eins möglich: entweder entjpricht der thatjächlich gewählte Stoff dem ge: 
wollten Zwed, dann widerjpricht diefem das nachgeahmte Vorbild, oder der 
Zwed ift gemäß dem nachgeahmten Borbilde gedacht, dann widerjpricht dem 
Zwecke der wirkliche verwendete Stoff. In dem obigen Beiſpiele entipricht das 
Holzkäftchen feinem Zwede als Nähfäftchen: diefem Zwecke widerjpricht das ge 
wählte Vorbild des Lederfoffers; jollte aber diefer Zweck beibehalten bleiben, 
dann widerjpräche der zur Nachahmung wirklich verwendete Stoff, wozu hier 
noch der Abitand der Größe käme. Die durch einfachen Stoffwechjel bewirkte 
Stofftäufhung ift alfo beim Kunſthandwerk deshalb jo jchlimm, weil mit der 
Erfenntnis der Täufchung der praktische Zweck des nachahmenden Gegenftandes 
nicht aufhört, jondern erjt anfängt, der nachahmende Gegenjtand aljo einem 
Gebrauche dienen muß, der dem nachgeahmten Stoffe widerjpricht. Man kann 
daher dieſe Stufe des Stoffwechjeld als die niedrigjte, als die dem fünftlerischen 
Zwede widerjprechendfte bezeichnen. Sie ift nur möglich, wo jede Empfindung 
für die Bedeutung und den Wert des Stoffes für die funjtgewerbliche Schöpfung 
erjtorben oder nie lebendig geweſen ift. 

Ganz anders jtellt ich die Sache, jobald der Stoffwechjel in der einzig 
richtigen Weife verwendet wird: der eine Stoff tritt an Stelle des andern, ohne 
feine Eigenart abzuleugnen, er will für nichts andre gelten, als was er it. 
Dann aber ergiebt ſich gerade aus diejem Bejtreben das andre, daß feine eigne 
Natur zur Geltung fomme Wird von dem nachgeahmten Gegenjtande nicht 
der Stoff jcheinbar beibehalten, jo kann an ihn nur durch die beibehaltene Form 
erinnert werden. Diejer gegenüber ijt der neue Stoff infofern frei, als er ver: 
langen kann, daß die zur Nachgiebigfeit an und für fich bereite Form ihm jo 
weit entgegenfomme, daß die ihm eigne Natur hervortreten kann. Es wird fich 
aljo das Geſetz ergeben, daß bei jedem Stoffwechjel die Form innerhalb der 
Grenze ihrer Erfennbarfeit fich jo weit nachgiebig erweifen muß, als es dic 
Natur des neuen Stoffes verlangt. Das Refultat für die Form wird fein, daß 
fie ganz oder teilweife aufhört, Ergebnis der konftruftiven Bejchaffenheit des 
Gegenstandes zu fein, und in die Stufe des Ornaments Übertritt; gerade damit 
werden ihr aber neue Wege der Entwidlung eröffnet. Ein Beiſpiel mag zeigen, 
wie der Prozeß fich geftaltet. 

Es joll ein geflochtenes Körbchen Vorbild fein und in irgendwelcdem Metall: 
draht nachgeahmt werden. Mit Draht läßt ſich wie mit Stroh oder Weiden: 
ruten flechten; ed kann daher nicht nur die Form, jondern auc) dag Verfahren, 
diefe Form zu geitalten, beibehalten werden. Wenn jedoch die einzelnen Flechten 
ebenfo jtarf gemacht würden wie bei dem Borbilde, fo würde das Gejamtgewicht 
ſich dem bequemen Gebrauche entgegenftellen, da das Metall viel jchiverer ift 
als das urjprüngliche Flechtwert. Nun erlaubt es aber die Natur des Metalls, 


Ein Grundproblem des Kunftgewerbes. 69 





den Draht jehr viel dünner zu machen, als Pflanzengeflechte praftiicherweije 
jein können; es wird fich alfo als Nachgiebigfeit der Form gegenüber der Natur 
des Stoffes der Umjtand herausjtellen, daß das Geflecht in jeinen Bejtandteilen 
viel feiner wird, als e8 bei dem Vorbilde der Fall gewejen iſt: damit ift aber 
eine täufchende Nachbildung von vornherein ausgejchlojjen. Wäre das Flecht— 
werf des BVorbildes ein jehr dichtes gewejen, jo bliebe die allzugroße Schwere 
beſtehen; es wird ſich aljo als weitere Folge ergeben, daß daß Geflecht ein 
lichtes wird: die Natur des Stoffes erzwingt jich die Nachgiebigkeit der Form. 
Wäre aber auch das Vorbild ein Lichtes Geflecht gewejen, jo träte die Natur 
de3 Stoffes im feiner formumbildenden Kraft dennoch gleichfalls in der Ber- 
feinerung des Flechtwerks hervor. 

Die Metalltechnik bietet aber zur Nachahmung auch andre Mittel, welche 
der Natur des Metalles vielleicht noch befjer entjprechen: das Giehen und 
das Schmieden. In beiden Fällen wird an Stelle des Geflechtes die Wandung 
treten, und falls das Geflecht, auch hier der größern Leichtigkeit wegen als 
lichte, beibehalten werden joll, jo wird eine Durchlöcherung eintreten, welche 
die freien Stellen des Geflechtes andeuten jollen. Damit fällt aber das für 
das Geflecht natürliche Durchichlingen der Flechten weg, die Wandung bewahrt 
diejelbe Ebene, und die Durchlöcherung, die num nicht mehr Folge der konſtruk— 
tiven Beichaffenheit ift, wird ornamentalesg Element. Damit gewinnt fie eine 
große Freiheit. Sie kann zu Figuren zujammentreten, welche bei der Technif 
des Flechtens garnicht oder nur jeher jchwer zu erreichen gewejen wären: Die 
Natur des neuen Stoffes hat die nachgiebige Form im ihr zufagende Bil: 
dungen gezwungen und gelangt dadurch auf Bahnen, welche der urjprünglichen 
Form verjchlojjen waren. Sehr jchön zeigen diefen Fortgang die metallenen 
Siebe oder Durchläffe, welche an Stelle der geflochtenen getreten find, und 
deren Durhlöcherung infolge der Natur des neuen Stoffes diefem entiprechend 
umgejtaltet und dadurch ornamental behandelt wird: in ihrem praftiichen Zwecke 
wird fie Dadurch nicht gehindert, 

Nun joll das Körbchen in Thon nachgebildet werden. Die Bildjamkeit 
des Stoffes liche die genaue Nachahmung jehr wohl zu; allein die Gebred)- 
fichfeit des gebrannten Thons fowie die Schwierigkeit bei der immer neuen Mo— 
dellirung jedes einzelnen Stüdes treten hindernd ein. Aus beiden Gründen 
erjcheint die undurchbrochene glatte Wandung der Natur des Stoffes und der 
gewöhnlichen Art der Heritellung des Gefäßes auf der Scheibe allein entiprechend. 
Soll das Gefäß dennoch nachahmende Bedeutung haben, jo bietet gerade die 
glatte Wandung ein gutes Mittel, durch Einrigung oder durch Farbenauftrag 
an die Form des Vorbildes zu erinnern. Gerade weil aber hierdurch nur er— 
innert, nicht getäufcht werden foll, gewinnt diefe nachbildende, erinnernde Form 
volle Freiheit der Entwiclung, die allmählich zu einer folchen Selbjtändigfeit 
und Unabhängigkeit führt, daß die Art die Entftehung mit der Zeit volljtändig 
verdunfelt wird. 


oo Ein Grundproblem des Kunftgewerbes. 


Statt des Thones joll das verwandte Porzellan treten. Bei ihm tritt 
die Herftellung durch Formen ein. Infolge diefer Art der Geftaltung macht ein 
durchbrochnes Gerät Feine beſondern Schwierigkeiten; wohl aber wird das nad)- 
ahmende Flechtwerk bei der gebrechlichen Natur des Stoffes durch dieje Technik 
eine Veränderung erleiden. Die einzelnen Fäden müfjen mehr Körper haben, 
um nicht zu leicht zu zerbrechen. Sie werden daher Fräftiger und rundlicher 
werden als die flachen Stränge des urjprünglichen Flechtwerfes. Freilich wird 
hierdurch eine größere Schwere bewirkt; dieje iſt aber doch nicht jo groß wie 
bei der entiprechenden Metallmafje und daher dem Gebrauche nicht Hinderlich. 

Das Glas ift eine leicht flüffige Mafje bei der Verarbeitung. Es könnte 
daher technisch jehr wohl zu gleicher Form gebracht werden, allein die Haupt: 
tugend des Glajes für den Anblick, feine Durchfichtigkeit, fiele für die äfthetijche 
Wirkung vollftändig weg. Soll aber die Durchfichtigfeit zur Geltung kommen, 
jo bedarf es der Flächen; es wird aljo hier wieder die Wandung in ihr Necht 
treten, jedoch aus einem ganz andern Grunde als bei dem Thon. Aber wie 
bei diefem, bietet die Wandung die beite Gelegenheit für Einrigung und Auf: 
malung von Zeichnungen, welche an die urfprünglichen Formen erinnern können, 
ſich aber meijt wohl lieber der gewonnenen Unabhängigkeit erfreuen und ihre 
eignen Wege gehen werden. 

Die Feinfühligkeit für die Natur des Stoffes und feiner daraus ent- 
Ipringenden praftiichen Verwendung, die Empfindung für das, was man ihm 
nicht zumuten fann, die Fähigkeit, aus der Erkenntnis der Natur des Stoffes 
heraus die Formen jo umzugeftalten, wie es diefer Natur entipricht, fan man 
Stilgefühl nennen. Nur muß man ſich dabei bewußt bleiben, daß damit nur 
eine Seite des Stilgefühls bezeichnet ift, mur die auf die Natur deö Stoffes 
bezügliche Seite. Verſtöße gegen dieſes Stilgefühl finden ſich im praktiſchen 
Kunſtgewerbe tagtäglich, ja man kann jagen, daß der Geichmad des großen 
Publikums fich gerade dann am meilten angeregt fühlt, wenn einem Stoffe 
etwas zugemutet wird, wogegen fich feine Natur am meijten jträubt. Es ift, 
al3 ob allein diefer Widerſpruch imftande wäre, den ftumpfen Geſchmack auf: 
zurütteln, damit er überhaupt zu einer Thätigfeit gelangt. Es ijt dies ber 
Standpunkt, auf welchem nicht das Kunſtwerk, jondern das Kunſtſtück gefällt; 
diejes ift aber umfo größer und darum umjo geichäßter, Eu es dem ge: 
wöhnlichen Verlaufe widerjpricht. 

Haben wir oben gefehen, daß bei der Vereinigung eines Stoffes mit einer 
jeiner Natur urjprünglicd fremden Form zu einer neuen Einheit, welche den 
Eindrud der Notwendigkeit gerade folcher Eriftenz hervorbringt, die Form der 
nachgiebigere Teil ift, jo folgt daraus noch nicht, daß fie für das richtige 
Verhältnis der beiden urjprünglich einander fremden Elemente nicht auch eine 
große Bedeutung habe, Dieſe wird durch den eigentümlichen Zweck bejtinmt, 
der fich nicht damit begnügt, die Form überhaupt in einem ihr fremden Stoffe 


Ein Grundproblem des Kunftgewerbes. 71 





zu gejtalten, jondern der fie an einem zu ganz bejonderm praftifchen Gebrauche 
hergeftellten Gegenftande aus einem ihr fremden Stoffe verwendet. Es tritt 
alfo hier der bereits berührte jpezififche Umterjchied des Funftgewerblichen Er- 
zeugnijjes von dem bildkünftlerischen in Wirffamfeit: bei dem bildfünjtlerifchen 
liegt der Zwed in der Geftaltung der Form beichloffen, auch auf fie übt der 
gewählte Stoff jeinen Einfluß aus, aber doc) jo, daß mit der Thatjache, daß 
er Träger diejer Form geworden iſt, feine Aufgabe ihr Ende erreicht Hat; bei 
dem Ffunjtgewerblichen Erzeugnifje fängt aber in diefem Augenblide der Er- 
reichung der gewünjchten Formbildung die auf praftiichen Gebrauch ausgehende 
Aufgabe des umgejtalteten Stoffes recht eigentlich erſt an. Die bildliche Form 
darf aljo zur Erfüllung des praftiichen Zweckes, der jet erjt beginnenden 
Aufgabe de3 umgejtalteten Stoffes, ich nicht gleichgiltig verhalten oder gar ihre 
eignen Wege gehen; fie muß vielmehr helfend, dienend, erläuternd eintreten, 
fie muß die im Stoffe ſchlummernden, durch feine praktische Umgejtaltung that- 
jächlich Lebendig gemachten Eigenfchaften auch fir die Anjchauung beleben, fie 
muß eine Sprache reden, in welcher die mobil gewordene Kraft des Stoffes 
fich) zu äußern umd verjtändlich zu werden vermag. Soll aber die Form gleich 
einer Sprache andeuten, jo muß fie mit dem Charafter der lebendig gewordnen 
Kraft eine innere Verwandtichaft haben: nur dieſe Gfleichartigfeit gejtattet es, 
daß fie finnbildlich, daß fie ſymboliſch wirke. Soll die aufjteigende Straft der 
Säule im Kampfe mit dem lajtenden Tragbalfen zur Anjchauung fommen, jo 
iſt das Blatt eine treffliche Form: der Lajt kann es fich beugen, Fraft feiner 
Elastizität jtrebt e3 aber empor, dem natürlichen Ziele jeine® Wachstums zu 
folgen. Wo dieje finnbildliche Sprache der Form aufhört, wo fie in ein Miß— 
verhältnis zu der Kraft tritt, die fie ausſprechen joll, da ijt fie ein Mißbrauch, 
und das Zujammentreten von Stoff und Form bleibt eine Willtür. Sowie 
aljo einerjeit3 als grundlegende Borbedingung zur Schaffung eines kunſt— 
gewerblichen Gegenftandes das Verſtändnis der eigenartigen Natur jedes Stoffes 
gehört, damit man überhaupt wilfe, was zum Ausdrud gelangen joll, und wie 
es der Natur des befondern Stoffes entiprechend allein zum Ausdrud kommen 
fann, jo gehört andrerjeit® das Verftändnis der Form dazu, damit für die 
richtig empfundene Natur des Stoffes auch die richtige Sprache gefunden 
werde. Die Fähigkeit, die ſprachliche Kraft der Formen, ihre finnbildliche Be- 
fähigung herauszufühlen oder zu erfennen, ift die zweite Seite des Stilgefühls, 
welches alſo, wenn es ein vollkommnes fein joll, ſowohl nach der jtofflichen als 
auch nach der formbildlichen Seite Hin wirken muß. Daß auch dieſe Seite des 
Stilgefügls im großen Publikum nicht vorhanden ift, daß auch hier das Kunjt- 
jtüd, die der Erwartung möglichjt widerjprechende Erfcheinung, in volljter Blüte 
jteht, das zeigt jeder Blick in das praftiiche Kunſtgewerbe. Es drängt ſich 
dabei die Beobachtung auf, daß dies Mifverhältnis zwifchen der Kraft, die zum 
Ausdruck kommen foll, und der Form, welche diejen Ausdruck zu geben hat, 





72 Ein Grundproblem des Kunftgewerbes. 


in demſelben Grade wächſt, in welchem die funftgewerbliche Schöpfung fich von 
ihrem ficherjten Vorbilde oder doch wenigstens ihrem ficherften Leitftern, Der 
Architeltur, entfernt. In der Architektur, die mach ihrer bildlichen Seite hin 
ſehr wohl zum Kunſthandwerk zu rechnen ift, fommen die wirfenden Kräfte natur- 
gemäß am deutlichjten zum Bewußtjein, ſodaß auch da, wo fie zeitweilig ver- 
dunfelt werden und die Kormiprache zur Willtür wird, ihre urjprüngliche Be— 
deutung fi) doch immer wieder am erjten hervordrängt und einen reinigenden 
Einfluß auch auf das mit ihr Zuſammenhängende auszuüben vermag. Wo 
aber dieſer Zufammenhang aufhört, wo, wie beim Auspuß der eignen Er- 
ſcheinung, die jubjektive Willfür ungehemmt hervorbricht und jeder Qaune, jeder 
Liebhaberei der Weg offen fteht, da hat der Mangel an Stilgefühl, wie er ſich 
im Mißverjtändnis des Verhältniffes der Form zu der praftiichen Verwendung 
des zu jolchem Zwede umgeftalteten Stoffes zeigt, ein unerjchöpfliches Feld. 
Aber auch wenn die jymbolifche Bedeutung der Form erfannt ift, bietet Die 
Behandlung der Form Schwierigkeiten, welche ihre Löjung nur in der richtigen 
Erfaffung der jymbolischen Aufgabe der bildlichen Form finden fünnen. Darf 
diefe dahin bejtimmt werden, daß fie die im praftiichen Gebrauche zur 
Verwendung kommende Kraft des Stoffes, feine gerade hier wirkende Funf- 
tion für die Anſchauung andeuten joll, jo ift die Art, wie das gejchehen 
fann, doch eine vielfache. Im wejentlichen wird fie fich aber auf die Haupt: 
unterjchiede in der Behandlung der bildlichen Form überhaupt zurüdführen 
lafjen. Die bildliche Form giebt entweder ein allgemein andeutendes oder ein 
realiftiich getreues oder ein die Natur gleichjam ſelbſt erjfegendes naturaliſtiſches 
Bild. Auf der erſten Stufe bewahrt der Stoff am deutlichiten feine Natur 
und fommt daher in feiner Eigentümlichfeit am meijten zur Geltung, auf der 
zweiten wird er der feine eigne Bedeutung beanjpruchende Träger der zur Haupt- 
jache gewordenen Form, auf der dritten jucht der Stoff jeine Natur abzuleugnen, 
damit fich die Form entwideln kann, als ob fie ihren eignen Stoff zur Ver— 
fügung hätte. Bezeichnet man die erjte Stufe als die jtilifirende, die ziveite 
als die realijtiiche, die dritte als die naturaliſtiſche, jo ergiebt fich leicht aus 
dem Verhältnis, welches bei der funjtgewerblichen Schöpfung die bildliche Form 
zum Stoffe hat, daß hier, wo fie als helfende und dienende Macht, als ſprach— 
liches Ausdrucksmittel erjcheint, ihr nur die Stellung zukommt, bei welcher der 
Stoff das herrjchende Element bleibt. Die Bildform wird fich aljo den jtili- 
firenden, nur allgemein andeutenden Charakter bewahren müſſen. Diejer aber 
wird wejentlich darin bejtchen, daß die einzelnen Teile ſich den einfachiten Form— 
gejeßen unterwerfen, wie fie bei rein linearen Gejtaltungen herrjchen, und in 
welchen jede individuelle Regung unterdrüdt wird, den Geſetzen des Parallelis- 
mus, der Symmetrie, der Proportionen. E3 it Har, daß Hierdurch in das 
Ganze der Funjtgewerblichen Schöpfung Stileinheit fommt: die nichtbildlichen 
Gejtaltungen des Gegenstandes unterliegen denjelben Formgeſetzen, welchen jich 


Ein Grundproblem des Kunftgewerbes. 73 


die bildlichen Formen gleichfalls fügen; in ihnen klingt aljo dasjelbe Formgeſetz 
wieder, welchem die praftiiche Umgejtaltung des Stoffes ihre Bildung verdantt, 
joweit fie äfthetiiche Wirkung erzielen will. Sowie der Realismus eindringt, 
entiteht ein Widerjtreit zwilchen dem linearen und dem bildlichen Teile der Ge- 
jamtgejtaltung, der zu jchreiender Diffonanz wird, jobald die naturaliftiiche Form 
ji) herandrängt. Das jtilifirende Kapitäl, wie es die altgriechiichen, die 
ſtrengromaniſchen und frühgothifchen Formen zeigen, weit jene Harmonie deutlich 
auf; das jpätromanische Blattkapitäl, das gothifche in feiner Blüte zeigt den 
zum Naturalismus heranmwachjenden und herangewachjenen Realismus; in der 
Ipäten Gothif, im Rokoko ift der Naturalismus zum entſchiedenſten Durchbruch 
gefommen, wenn fich Dort dag Witwerf bildet und hier z. B. die Balfenträger 
zum Ausdrud momentaner Seelenjtimmung gelangen. 

In der gefchichtlichen Entwidlung folgt natürlic; das Kunſthandwerk der 
von der Kunſt überhaupt eingefchlagenen Richtung. In einer Zeit, welche außer: 
halb einer ſich naturgemäß vollzichenden, die jedesmalige Gegenwart ganz und 
im wejentlichen gleichmäßig ergreifenden Entwidlung jteht, welche taſtend und 
hilfsbedürftig bald hierhin, bald dorthin greift, um fejten Boden zu finden, ift 
es jedoch berechtigt und notwendig, den fichern Ausgangspunkt wiſſenſchaftlich 
feſtzuſtellen. Das Rejultat ift dies, dag nur die ftilifirende Behandlung der 
bildlichen Formen dem Charakter der funftgewerblichen Schöpfung entiprechen. 
Auf Schulen follte daher dieſe Behandlung wie die feititehende grammatijche 
Regel gelehrt werden; nur fie gejtattet es, dem wichtigiten Gefichtepunfte die 
herrichende Bedeutung zu verleihen, die er verdient, dem Einführen in die Cha- 
rafteriftif des Stoffes; nur fie gejtattet e8 aber auch, die dienende ſymboliſche 
Bedeutung der bildlicdyen Formen auf Grund der richtig erfannten, dem be- 
jondern Stoffe innewohnenden Kräfte in den Dienſt eben diejer Kräfte zu ftellen 
und jo das richtige Verhältnis zwifchen beiden herzustellen. Von diefem fichern 
Boden aus mag dann das Genie jeine Flüge unternehmen: auch bei dem kühnſten 
wird es des rechten Leitjternd nicht entbehren. Das nachichaffende Talent aber 
wird durch die daneben hergehende hiſtoriſche Betrachtung nicht zu verfehrter 
Nachahmung, nicht zu gedanfenlojer Vermiſchung der Formen, nicht zu einer 
mit der fonjtruftiven Kraft des Stoffes im Widerjpruch jtehenden Formenbil— 
dung gelangen. Durch derartige Schöpfungen kann auch das Publikum all- 
mählich wieder ein Verjtändnis fiir die Bedeutung des Stoffes jowie der Form 
im Kunjtgewerbe und ihrer Beziehung zueinander gewinnen. Damit fängt aber 
fein Urteil an, in gutem Sinne cbenjo maßgebend für die Produktion zu werden, 
wie es dies jet meijt noch in ſchlechtem Sinne ijt. Vielleicht läßt fich dann 
auch die größte Gefahr, mit welcher die moderne Zeit das Kunſthandwerk be- 
droht, leichter abwenden, als es ohne ſolch gebildeteres Urteil der Fall fein 
möchte. Dieje größte Gefahr aber befteht in der durch die Mafchine mehr als 
jemals früher geförderten und von dem Publitum aus RT ge⸗ 

Grenzboten III, 1885. 


74 Ein Grundproblem des Kunftgewerbes. 





wünjchten Maffenproduftion: das Kunjthandwerf wird durch fie mehr und mehr 
zur Kunftinduftrie. 

Je größer die Anwendung der Majchine it, deſto mehr wird mit der Hand 
zugleich der Ausdruck der Perjönlichkeit zurüdgedrängt; an Stelle der Unmittel— 
barfeit der Formensprache tritt die jeelenloje Regelmäßigfeit, welche mehr das 
Erſtaunen über die befiegte Schwierigkeit, al3 die Freude über eine nach har— 
monifcher Geftaltung ringende Thätigkeit bewirkt, aljo mehr den Eindrud des 
Kunſtſtücks als den der Kunſtſchöpfung erzeugt. Mangelt aber bei dem Schöpfer 
der Ausdrud perjönlich empfundener Thätigfeit, jo jtumpft fich bei dem Be— 
ichauer die Empfindungsfähigfeit für das künſtleriſche Schaffen und damit die 
wejentliche Vorausſetzung eines über das Bewußtwerden regelrechter Verhält— 
niffe hinausgehenden äjthetiichen Genufjes ab. Nun wird aber ferner die 
Mafienproduftion das Beftreben haben, Formen, welche in fojtbareren Stoffen 
Beifall gefunden haben, auch in billigeren Stoffen auszunußgen. Gejchähe das 
mit VBerüdfihtigung der Natur diefer Stoffe, ſodaß eine entiprechende Umge- 
ftaltung ftattfände, jo wäre das der durchaus berechtigte Vorgang des Stoff: 
wechjels: an Stelle des Teppich tritt die Tapete, welche die durch den Wechſel 
der Technil unabhängig gewordne Form, auch wenn fie die Erinnerung an 
den Teppich feithält, dennoch unendlich freier und mannichfaltiger gejtalten kann, 
als die Technik der Weberei je gejtattet hätte. In der Negel aber wird dies 
Erjegen dahin gehen, dem billigeren Stoffe das Ausjehen des foftbareren zu 
geben: der Stoffwechjel geht auf Täufchung aus, die Tapete foll ausjehen, ala 
ob fie ein Gewebe wäre, jtatt daß unter Bekennung ihres Stoffes und unter 
Verwertung der durch den Drud gebotenen Erleichterungen und Erweiterungen 
des FFormengebietes nur eine Erinnerung an den Teppich feitgehalten und er- 
jtrebt würde. Damit iſt aber der faljche Weg betreten, welcher das Kunſtge— 
iwerbe jchädigt und das Publikum irreführt. 

Glücklicherweiſe wird nicht die ganze Mafjenproduftion von diejem traurigen 
Beitreben nad) Stofftäufhung beherricht. Es ſcheint doch auch hier allmählich 
der Gedanke durchzudringen, daß die Grundbedingung für eine gebeihliche kunſt— 
gewerbliche Thätigfeit in dem offnen Bekenntnis des Stoffes liegt; erſt jo wird 
die fünftlerijche Verwertung feiner eigentümlichen Kräfte ermöglicht und das Ber: 
jtändnis für fie und damit auch für die Berechtigung der Anwendung des neuen 
Stoffes gewonnen. Iſt dies aber der Fall, jo kann fich die durch die Technik 
bedingte Arbeitsteilung bei der Majchinenproduftion auch wieder jegensreich 
eriveifen. Während die technijche Herjtellung eine Sache für fich ift, gelangt 
andrerjeit3 die erfindende Thätigfeit des Erfinders zu erhöhter Bedeutung. So 
jcheidet fi) aus der großen Mafje der Produzirenden ein Eleiner Teil, der 
fünftleriich jchaffende, aus. Ihm ift es möglich, fich eine höhere künstlerische 
Borbildung zu verichaffen, die Natur der zu behandelnden Stoffe fich Klar zu 
machen, die hiſtoriſche Entwicklung der Sprache der bildlichen Formen, ſowie 


Dilettantismus und Berufsfchriftftellertum. 75 





ihre äfthetifche Bedeutung fernen zu lernen und demgemäß ihr Schaffen zu ge— 
italten. Freilich) wird ihm die Leiftungsfähigfeit der Maſchine Schranfen auf: 
erlegen; aber der rechte Künjtler wird gerade in diefen Schranken wieder neue 
Duellen für die Ausbildung der Formenſprache zu finden wifjen, gerade hierin 
wird er beweilen, daß er Künſtler iſt. Eins aber wird auf diefem Wege immer 
verloren gehen: der unmittelbare Ausdrud der Perjönlichkeit. Da bleibt denn 
nur zu hoffen, daß neben der Mehrzahl der Minderbemittelten, welche ihr äfthe- 
tiiches Bedürfnis mit den Mafchinenproduften des Kunſtgewerbes befriedigen 
muß, e3 Wohlhabende genug gebe, welche mit den Mitteln auch das Bedürfnis 
befiten, unmittelbar vom Künftler jelbjt Gejchaffenes nicht bloß auf dem Gebiete 
der Kunst im engern Sinne, jondern auch auf dem weitern Kunftgebiete, auf 
dem des Kunſtgewerbes zu veritehen und zu begehren; wo zwilchen Erfindung 
und Ausführung die Hand allein thätig it, kann fich auch in der kunſtgewerb— 
lichen Schöpfung jemes Leben zeigen, welches al3 das Ergebnis einer erhöhten 
Stimmung der aufs und abwogenden menjchlichen Scele von Herz zu Herzen 
ſpricht. Eine ſolche Sprache wird aber nur da eintreten können, wo außer der 
Natur der Form auc die Natur des Stoffes erfannt und damit ein Grund: 
problem des Kunjtgewerbes verftanden wird, die Trage, wie beide in ein rich— 
tiged, das im einzelnen Falle erftrebte Ziel erreichendes Verhältnis zu treten 
vermögen. 





Dilettantismus und Berufsfchriftitellertum. 


Don Fritz Koegel. 


err Profeſſor Joſeph Kürjchner will gegen den literarijchen Di- 


ur lettantismus zu Felde ziehen. Er hat die Preisfrage geitellt, 


u > wie am beiten dem überhandnehmenden Dilettantismus in der 
fe} NY Literatur zu ſteuern fei, und verlangt, daß die Arbeit den Dilet- 
Se: tantismus fnapp, aber ſcharf charafterifire, jeine Schäden für das 
Anfehen der Literatur und die „Intereſſen der Berufsſchriftſteller“ darlege und 
praftiiche Vorſchläge zu feiner „Unſchädlichmachung“ (!) angebe. 

Dieſe jchriftjtelleriiche Preisfrage fommt mir recht dilettantijch vor. Preis- 
jragen haben zwar von alteräher das Vorrecht, ein bischen verfehrt zu fein, 
von diejem Rechte aber macht die vorliegende Frage doc) einen zu ausgedehnten 
Gebrauch. Man kann nicht anders: wenn man fie behandeln will, muß man 
ihr auf den Leib rüden. 





76 Dilettantismus und Berufsfchriftftellertum. 

E3 bedurfte nicht eines „äußern Anſtoßes,“ um „die Köpfe zum Nach— 
denfen darüber anzuregen,“ daß der überhandnehmende Dilettantismus ein Krebs— 
jchaden der heutigen Literatur jei. Darüber find die Leute, die überhaupt denen 
können, ohne Nachdenken längft einig. Überraſchend neu aber ift allen, die fich 
aus Liebhaberet mit der Literatur beichäftigen, die Entdeckung, daß Dilettan- 
tismus und Berufsjchriftitellertum Gegenjäße bilden, die fich einander ausjchlichen. 
Offenbar verjteht die erwähnte Preisfrage unter Dilettanten Leute, die, wie der 
Name befagt, aus Liebhaberei nebenbei jchreiben, mit unreifen Erzeugnifjen den 
Markt überjchwenmen und dadurch die Interejfen der Berufsichriftiteller, d. h. 
der Leute, die aus dem Schreiben ein Gejchäft machen und auf den Ertrag 
ihrer Feder angewieſen find, empfindlich jchädigen. Die geichädigten Berufs- 
ſchriftſteller Haben aljo ein Intereffe und aus Gründen der gejchäftlichen Billig: 
feit ein Recht, die unzünftlerischen Dilettanten, die ihnen ins Handwerk pfuichen, 
des Landes zu verweijen. Die Frage ift nur, woher die Macht und die Mittel 
dazu nehmen. Das vereinte Nachdenken der Berufsgenofjen über die brennende 
Preisfrage joll die Wege dazu weilen. Denn wohl zu beachten, in praftüche 
Vorſchläge fol die Antwort ausmünden. Eine jonderbare Forderung, die auf 
noch jonderbareren Vorausſetzungen ruht. 

Der Dilettantismus läuft neben allen Künſten thätig teilnehmend ber, da, 
wie Goethe jagt, der Menjch nichts erfährt und genießt, ohne jogleich produftiv 
zu werden. Die bdilettantischen Verfuche find im Wejen des Menjchen not— 
wendig begründet und find lobenswert, da fie Kunftfinn verbreiten und dem 
allgemeinen Verſtändnis der hohen Kunjtwerfe die Wege bereiten. Der allge- 
meine funftverftändige Dilettantismus ift der breite, flach Hinlaufende Gebirgs- 
rüden, aus dem als überragende Gipfel die Kunftwerfe aufiteigen. Gemein- 
ichädlich wird er erjt dann, wenn fich die Grenzen zwifchen feinen Erzeugniſſen 
und den Kunſtwerken zu verwiſchen anfangen, wenn die große Menge der Kunſt— 
fiebhaber dilettantische Werfchen für fünftleriiche Schöpfungen hält. In allen 
Künsten, die zur geläufigen Ausübung eine nach überlieferten Gejegen mühſam 
zu erlernende Fertigkeit vorausjegen, Liegt dieſe Gefahr fern: mit dem technischen 
Handwerk, das der Künſtler als Meijter beherricht, wird der Dilettant nie fertig. 
Darum brauchen die Baumeister, die Bildhauer, die Maler, ja jogar die Kom— 
poniften über fomponirende, malende, meißelnde und bauende Dilettanten nicht 
jehr zu Hagen. Gar jehr aber Hagen über dilettantiſche Pfuſcher die Dichter 
und die Schriftfteller. Ihre Technik ift jcheinbar jo mühelos zu bewältigen, die 
Geſetze ihres Handwerks find jo allgemein und unbejtimmt und das Material 
ihrer Kunftichöpfungen ift aller Welt fo vertraut, daß zu literariichem Schaffen 
fi) jedermann berufen fühlt. Sprechen muß jeder, und jchreiben kann jeder, 
warum follte denn nicht jeder ohne weitere Anleitung jchreibend ſprachliche 
Kunſtwerke geftalten fünnen? So drängen ſich Berufene und Unberufene in 
die Literatur und jchichten Bücher und Schriften zu unüberjehbaren Haufen. 


Dilettantismus und Berufsfchriftftellertum. 77 





Die Untugenden der unberufenen Schreiber zu ſchildern, ift überflüffig, jie find 
heute jo aufdringlich und erbärmlich geworden, daß jedermann, dem e3 darum 
zu thun ift, fie längft fennt. Uber das muß gejagt werden, daß weder bie 
einen berufen find, weil fie von Berufs wegen fchriftitellern, noch die andern un: 
berufen, weil fie im zünftlerijchen Sinne Dilettanten find. Daß es nötig ift, 
das in Deutjchland bejonders zu betonen, ift ſeltſam, da viele unſrer größten 
Schriftjieller in diefem Sinne Dilettanten waren, erflärlich aber ift es, daß 
man e3 gerade jeßt jagen muß, wo das deutjche Schriftjtellertum anfängt, ſich 
genofjenschaftlich zufammenzufchließen. Gegen die Bildung von jchriftjtellerischen 
Genofjenichaftsverbänden zur Vertretung der Standesintereffen, zur Ausbildung 
des literarijchen Rechtes und zur gegenfeitigen Hilfeleiftung wird niemand etwas 
einwenden; es wäre zu wünfchen, daß dieſe Verbände, die fich Freilich Heute 
trog ihrer „allgemeinen” Namen zerfplittern und bekämpfen, den Hoffnungen 
ihrer Gründer entjprechend, wirklich jegengreich wirkten; nur möge man fich 
vor Dem Irrtum hüten, daß die Mitgliedsfarte eines Schriftitellerverbandes den 
Beſitzer zum Schriftiteller mache. Dies genojjenfchaftliche Streben führt un: 
bewußt zu einer höchit jeltiamen Begriffsverwirrung. Die Ziele der geichaffnen 
Berbände find zunächit rein praftiiche, zugleich aber wollen jene das Gefühl der 
Zufammengehörigkeit ſtärken, das die Unterfchiede zwijchen „guten und weniger 
guten, berühmten und unberühmten Schriftitellern“ verwiichen und alle unter- 
einander gleichmachen jol. Für die bürgerlichen und berufsmäßigen Bejtre- 
bungen der Schriftfteller und ihrer Vereinigungen mag dieſe brüderliche An- 
erfennung recht gut fein, aber die Gefahr liegt nahe, das allgemeine Verbands- 
gefühl aus dem bürgerlichen in das fünftleriiche Leben mit hinüberzunehmen. 
Die Berufsgenofjenschaft wird zur literarifchen „KRamaraderie.“ Die „Schranken,“ 
welche die Begabung und die fünjtleriiche Bildung zwifchen den einzelnen Be: 
rufsgenofjen geſetzt hat, verjchwinden langjam im gutmütigen Gefühl der all: 
gemeinen Kollegialität, die jelbjt leben will und leben läßt. Der ftrenge fünft- 
lerifche Begriff des Schriftitellertums wird durch den gefällig bürgerlichen der 
„Literatenfarriere* verdrängt. Das iſt ein bedenkliches Zeichen. Die Kürjchneriche 
Idee des allgemeinen Schriftitellertums, die dasjelbe nur von feiner berufsmäßig 
rechtlichen und bürgerlichen Seite betrachtet und feinen fünjtlerijchen Inhalt ge— 
fliffentlich beijeite jet, ift geiftig jo leer und liegt von den idealen Bildungs- 
zielen der Literatur jo weit ab, daß dem deutjchen Schrifttum ernitliche Gefahren 
drohen würden, wenn ihr praftiicher Gejchäftsfinn noch mehr als bisher den 
äjthetiichen Kunſtſinn überwuchern jollte. Dieſe Beitrebungen führen jchnurftrads 
zum Handwerk umd zur Zunft. Vielleicht zum goldnen Boden des Handwerfs, 
von dem das Sprüchtwort redet, ganz ficher aber zum unkünſtleriſchen Banaufen- 
tum und zur neidiichen Zünftelei. 

Wer die Literatur als Kunft würdigt, weiß garnicht? von berufsmäßigen 
Literaten und unberufsmäßigen Schreibern, er fennt nur gute und jchlechte 


78 Dilettantismus und Berufsfchriftftellertum. 





Scriftjteller. Die fchlechten Schriftiteller gelten ihm als die wahren und ein- 
zigen Ddilettantischen Pfufcher, mögen fie auch altgejejjene Zunftgenoſſen des 
(iterarifchen Handwerks fein; wahre Meifter aber find für ihm mur die guten 
Schriftiteller, und fchrieben fie ihr Lebelang aus Liebhaberei in Nebenftunden. 
Wir wollen den Begriff der künſtleriſchen Meifterfchaft voranftellen und das 
bürgerliche Schriftjtellertum bejcheiden folgen laſſen. Daß die Meifterichaft 
Mühe macht, weiß alle Welt; auch wer zum Meifter beitimmt iſt, wird nicht 
als Meifter geboren. Arbeit und Übung bilden zur Meiſterſchaft. Aber in der 
Literatur find die Früchte diefes Fleißes den „Dilettanten“ gleich erreichbar wie 
den Berufzjchriftitellern. Denn weder in der Dichtkunft noch in der Proja giebt 
es geheime Handwerfsgriffe, die nur den Lehrlingen der Zunft befannt würden; 
was zur literarijchen Technik gehört, kann jeder Gebildete lernen, und die jchrifte 
jtelleriichen Talente nuten die mannichfachen Iprachlichen, älthetiichen und wiljen- 
Ichaftlichen Anweijungen in jteter Arbeit zur Ausbildung einer perjönlichen Kunſt— 
weife. Zunft oder nicht, das thut hier garnichts. Vielleicht jchadet fie ſogar. 
Ohne Zweifel hat der unzünftleriiche Schriftiteller mehr Gelegenheit zu gewiſſen— 
haften, mühjamen und zeitraubenden Kunftübungen, als der Berufsichriftiteller, 
der vielleicht im Dienjte der Tagespreffe vom Ertrage ſeiner Feder lebt. Wie 
manches muß er da jchreiben, was er lieber nicht jchriebe, wie oft drängt da 
die Zeit, der Sekerjunge oder der Verleger, und wie wenig Zeit fann er im 
ganzen auf reine Studien und Übungen verwenden, denen er, höchſt ungern 
vielleicht, entjagen muß, weil fie nichts einbringen. Die Fälle find jo felten 
nicht, daß ein werdender Schriftjteller jich verdorben hat dadurch), daß er Schrift: 
iteller von Beruf wurde. 

Wären alle Berufsjchriftfteller wirklihe Schriftjteller, die Pfujcherei un: 
berufener Dilettanten fünnte ihrem Beruf und feinen Intereffen nicht jchaden. 
Niemand würde die Erzeugnifje ihrer Kunſt mit den unfertigen Verſuchen jener 
verwechjeln, die Dilettantenwerfe würden lauter jcharfe Sritifer und gar feine 
nachjichtigen Lejer finden. Pfuſchende Dilettanten müßten in der Stille dichten 
und jchreiben, fich zum Vergnügen und niemandem zur Zaft. Aber die ſchlimmſten 
Pfuſcher gehören Heute zum Handwerk, ſchädigen ihren eignen Beruf und ver: 
wilchen die Grenzen zwiſchen Dilettantismus und Meifterichaft. Ste begehen 
alle die Fehler, die im allen Künſten den jtümperhaften Dilettantismus fenn- 
zeichnen. Sie find „ohne Ernſt, Halb und charafterlos," flüchtig und ohne 
Kenntnis der äjthetifchen Grundregeln; in der Poefie drechjeln fie Dichtungen 
aus Dichtungen als unbewuhte Plagiate einer Reihe von Vorbildern, leere 
Formſpielerei ohne Gehalt, und in der Proja mighandeln fie ihre Mutterſprache, 
die hier allerdings nicht „Fiir fie dichtet und denkt,“ da man fich im Deutjchen 
jeinen PBrofaftil jelbjt bilden muß. Es ift zum Erbarmen, was dieſe Herren 
vom Handwerk in Zeitungen, Zeitjchriften und Büchern für ein Deutjch jchreiben, 
und wie fie fich beeilen, in möglichjt furzer Zeit möglichft viel ftiliftiiche Fehler 


Sommerfrifhe in Tirol. 79 


zu häufen. Eine gewifje formale Geläufigfeit und die Kunst der leichten An: 
empfindung lafjen andre nicht vermifjen, fie jchreiben und jchaffen flüjfig und 
gewandt, jie verjtehen jich auf die Heinen Künſte des fofetten, effeftvollen Aus— 
putzens; aber ihren Werfchen fehlt die anhaltende Kraft und die energiiche Tiefe 
der wahren Kunſtſchöpfungen, die freilich ohne Verſenkung und Konzentration 
nicht erlangt wird. Die überwuchernde, täglich) noch wachiende Preſſe zieht fo 
viele und oft jo früh unwiderſtehlich in die Berufsjchriftitellerei hinein, daß 
es fein Wunder ift, wenn die meijten al3 Unberufene darin herumjtümpern. 
Wie der Pfujcherei diejer Berufsgenofjen zu wehren wäre, hätte Herr Profeffor 
Kürjchner zuerjt fragen follen; die Frage ift dringender und für die Berufs— 
interefjen müßlicher, als ein Feldzug gegen die unzünftleriichen Dilettanten. Eine 
mit praftiichen Vorſchlägen verjehene Antwort auf eine jolche Preisfrage würden 
ihm freilich alle die jchuldig bleiben, die mit ihm in möglichjt feiten, allumfaj- 
ſenden, fameradichaftlichen Genofjenjchaftsverbänden das Heil der künftigen 
Literatur jchen. 








Sommerfrifche in Tirol. 


ie Kombinirbaren find wieder da! — jo ruft wohl mancher aus 
oder denft e3 bei jich im ftillen, wenn er das ftattliche Heft des 
| Hauptverzeichnifjes der fombinirbaren Rundreijebillete mit der 
anfchaulichen Karte vorgelegt befommt (die gleich ganze Reife 
linien andeutet), und mit verjchiednen Empfindungen legt es jeder 
aus der Hand. Wird er wohl Gebrauch davon machen können? wird Krankheit, 
werden Familienforgen es gejtatten? wird der Beruf, das Gejchäft eine längere 
Unterbrechung ertragen? und last not least — wie jteht e8 mit der Kaffe? 
Dergleichen Erwägungen bejchäftigen jeßt, bei Beginn der heißen Jahres: 
zeit, taufende von Familienvätern, und die Hausfrauen nehmen nicht minder 
warmen Anteil daran. Denn das Bedürfnis, einmal „auszujpannen,“ iſt ja — joll 
man fagen leider oder Gott jet Dank? — ein immer allgemeinere geworden. 
Gewiß ift mit der Zeit der Beruf immer anjtrengender und verantwortungs- 
voller geworden. Dean jollte denfen, je mehr erfunden, je bequemer es dem Einzelnen 
gemacht wird, feine Bebürfniffe zu befriedigen, je mehr für die Kultur geleiftet 
und gearbeitet wird, umfjoweniger müßten diejenigen zu thun haben, welche 
nicht in dem einzelnen Fortjchritten mitzuarbeiten gehabt Haben und denen nun 





80 Sommerfrifche in Tirol. 


nur der Genuß derjelben zu gute fommt. Aber dem iſt doch nicht jo. Je mehr 
die Kulturarbeit im allgemeinen wächſt und je ftärfer der einzelne dabei be- 
teiligt iſt, umſo intenfiver wird jeine Kraft in Anjpruch genommen und umſo 
entjchiedner macht fich bei ihm das Bedürfnis geltend, aus dem ihm an- 
ewiejenen oder jelbitgewählten Berufe, dem er Tag für Tag und Jahr für 
ahr jeine geiftige Kraft widmet, fich einmal im Jahre ganz herauszureißen 
und fern von der Stätte feiner Thätigkeit geiftige wie körperliche Friſche und 
neue Kraft zu immer wieder neuer Arbeit zu gewinnen. „Sommerfriſche“ iſt 
deshalb ein immer mehr zunehmendes Bedürfnis. Und Hand in Hand mit dem 
Wachſen des Bedürfnifjes, das ſich oft wie eine Naturgewalt geltend macht, 
geht die Erleichterung des Verkehrs und die Einrichtung und Verbefjerung 
geeigneter Aufenthaltsorte für die Sommerfrijche. 

Schon jeit Jahren laden die Riejel, Geude u. a. zu Ertrazügen ein, und Gejell- 
ichaften, Turnvereine, Gejangvereine und wie fie alle heißen, die Gemeinjchaften 
des vereinswütigen Deutichen, bleiben dahinter nicht zurüd. Haben dieje Reife- 
gelegenheiten jedenfall3 das Gute, auch dem Minderbemittelten das Fortkommen 
zu erleichtern und ihn auch einmal ein Stüd in die weite Welt hHinauszuführen, 
von der er jonjt nicht leicht etwas zu jehen befäme, jo haben fie doch auch ihre 
Schattenjeiten. Mit einer Anzahl von Leuten, die man garnicht kennt, fich gemein 
Ichaftlich zu amüfiren, hat gerade oft für feinfühligere Naturen etwas Banaufifches 
und Abjchredendes. Wie die wahre Freude nur im innerjten Wejen empfunden 
wird, jo will fie fich auch nicht von aller Welt beobachtet jehen, und der Er- 
holungsbedürftige darf nicht den Eindrud machen, als wolle er ſich nun, ge— 
wiſſermaßen geihäftsmäßig, amüjiren. Wer aljo jparfam leben muß, aber nicht 
mit einem ſolchen Bereine oder einer bejondern Neijegejellichaft, die er erſt 
unterwegs fennen lernen ſoll, reijen mag, und doch gern einmal in die weite 
Welt hinaus möchte, dem fommen die jeit vorigem Jahre eingeführten fombinir- 
baren Rundreijebillete jehr zu jtatten. Allerdings haben fie für Familien den 
Mangel, daß fie fein Freigepäd gewähren, für alle außerdem den, daß fie den 
Inhaber an eine ganz bejtimmte Linie binden. Als letztes Ziel — hoffentlich 
erleben wir e8 noch! — wird man die Gründung eines internationalen oder 
Welteifenbahnvereins als mindejlens gleich wichtiges Seitenjtüd zu dem Welt- 
pojtverein anſehen dürfen, bei welchem an Stelle des jebigen außerordentlich 
verwidelten und mannichfaltigen Fahrkartenweſens einfache Kilometerched3 treteıt. 
Das wird jchon der noch unbefannte Stephan des Welteijenbahnvereins beſtens 
bejorgen; bis dahin müſſen wir für die Einrichtung der fombinirbaren Rund— 
reifebillete dankbar fein und dürfen hoffen, daß die Neichseifenbahnämter in 
Mitteleuropa auf Bejeitigung von wahrnehmbar werdenden Mängeln bedacht 
fein werden, 

Die Hauptjache aber ift doch der Ort, den man zur Sommerfriiche er- 
wählt und an dem man fich, je nach der Länge des Urlaubs oder der Ferien, 
fürzere oder längere Zeit aufhalten will. Nun find jeit geraumer Zeit jchon 
ein beliebtes und regelmäßiges Reiſeziel für taufende von Familien die Alpen, 
von der Schweiz im Welten bis in die Steiermark im Oſten, von denen erjtere 
wohl noch am meijten, leßtere am wenigjten beſucht wird; und in der That, 
einen berrlicheren Pla für die Sommerftische kann es nicht geben als die 
AUlpenlandichaften. Neben der Schweiz aber, neben Oberbaiern und dem Salz: 
fammergute, die bisher am meiften bejucht wurden, wird in wachjendem Maße 
Tirol zum Sommeraufenthalte gewählt; aber meiſt begnügt man fich mit der 


Sommerfrifche in Tirol. 81 





nördlichen Seite, wo das Innthal, das Zillerthal u. a. im Sommer von Nord— 
deutſchen bevölkert und oft genug überfüllt ſind. Aber ſchöner, mannichfaltiger 
und farbenreicher iſt das herrliche Südtirol, wo bis jetzt noch wenig Nord— 
deutſche hinkommen. Zwar geht der Zug immer weiter ſüdlich; ſchon iſt der 
Brenner von den Sommerfriſchlern überſtiegen; ſchon iſt Goſſenſaß überfüllt 
und das Puſterthal ſtark beſucht; aber ſeltſamerweiſe iſt das herrliche Eiſackthal 
noch lange nicht nach Gebühr geſchätzt, durch das doch eine der größten Ver— 
kehrsſtraßen über die Alpen, die Brennerbahn, führt, die das Fortkommen nad) 
dem Norden und Süden gleich ſehr erleichtert. E3 möge daher dieſes Thal den 
Reijeluftigen ganz bejonders empfohlen fein, das auch einer der edeliten Söhne 
de3 jchönen Tiroler Landes, der treffliche Ignaz Zingerle in Innsbrud, in 
jeinen „Schildereien aus Tirol” (Innsbruck, 1877) vor andern jchägt und em— 
pfiehlt. Der glänzende Biichofsfig Brixen freilich) und die bedeutende Handels- 
ſtadt Bozen find, letzteres bejonders als Winterfurort, weit befannt und viel 
bejucht; aber das zwilchen beiden liegende laufen hat noch keineswegs die ge- 
bührende Würdigung gefunden. Aeußerlich hat es zwar nichts biendendes; wie 
ein Veilchen zwijchen zwei Rojen, liegt es zwijchen Brixen und Bozen; aber 
wer es einmal fennen gelernt hat, der wird es beiden Orten vorziehen. Die 
Stadt au fich ift nicht ſchön; fie beitcht in der Hauptjache aus einer einzigen 
langen, engen Straße; aber das treffliche Gajtyaus des Herren Kantioler, das 
Lambl,“ zieht troß jeiner bejcheidnen Einrichtung jeden Gajt, der einmal dort 
einfehrt, wieder Hin; es ift eim wirklich gajtliches Haus, zu dem namentlich aud) 
die Münchner Maler immer wieder gern zurüdfehren. Und abends trifft man 
im Waltergarten, der Herrn Stantioler ebenfall3 gehört, unmittelbar an dem 
reigenden Eiſack, eine anregende Geſellſchaft von Einheimischen und ‘Fremden, 
in der ſich der Norddeutiche bald zu Haufe fühlt, wie an wenig Orten Tirols. 
Beſonders angenehm macht den Ort noch die gleichmäßige Temperatur. Wäh: 
vend Brixen ımd noch mehr Bozen im Sommer jtaubig und geradezu uner- 
träglich Heiß find, ijt laufen durch jeine Lage vor der Sonnenglut gejchüßt; 

und wenn die Wärme mittags unangenehm zu werden anfängt, dann kommt 
mit abjoluter Sicherheit zwiſchen zwölf und ein Uhr vom Gardafee her die 
Bora, welche die Wärme jo temperirt, daß das Thermometer nicht jo Hoch 
jteigt wie in Meitteldeutichland, während man oft bis Mitternacht im Walter: 
garten am Eijad noch jechzehn bis ſiebzehn Grad Wärme hat. 

Vor allem aber empfiehlt fich Klauſen durch feine malerische Lage und 
jeine mannichfaltige Umgebung. Auf dem linken, ihm gegenüberliegenden Ufer 
öffnet fic) das wildromantische Villnöstyal wenig oberhalb Klauſen, das be- 
jonder3 für Geologen von Interejje fein joll; von hier gelangt man am bejten 
nach Gufidaun, dem Sommerjige des gajtlichen nen Bingerle, an dejjen 
Haufe nicht leicht ein Fremder vorübergeht; von jeinem Wohnzimmer aus ſieht 
er die Spitzen der Billerthaler Alpen im Norden und die grotesfen Formen 
der Dolomiten im Oſten. Auf der Höhe zwilchen dem Billnös- und Gröbner- 
thal liegt das freundliche Laien oder Loyen mit feinen Vogelweiderhöfen auf 
jonniger Halde, wo die Tiroler — und wer möchte es ihnen verargen? — Die 
Heimat Walters von der VBogelweide gefunden zu haben glauben, dejjen An— 
denfen hier, und bejonders in Klauſen, aufs jorgfältigjte gepflegt wird; weiter 
hin das interefjante Grödner Thal (deffen Bewohner eine eigentümliche Sprache 
reden, da8 nur hier und in ein paar Nachbarjtädten vorfommende „Ladinijche,“ 
eine Schwejterjprache des Romaniſchen im Engadin) mit dem Durch jeine Holz: 

Grenzboten III. 1885. 11 


82 Sommerfrifche in Tirol. 











induftrie berühmten Hauptorte St. Uri), von wo man nicht weit auf Die 
prächtige Seiffer Alp, die größte in Tirol, und in die zauberhafte Dolomiten: 
welt hat. Das Grödner Thal mündet in das Eiſackthal bei Waidbrud, unweit 
der dem Grafen Wolfenstein gehörigen Trojtburg. Noch intereffanter aber ijt 
das rechte Eifadufer in der Umgebung von laufen; denn unmittelbar über 
Klaufen erhebt ſich auf jteiler Höhe Säben, einjt die Römerburg Sabiona, 
welche mit laufen das Eijadthal beherrichte, heute ein Benediktinerinnentlofter, 
in welchem nur noch der janfte Fuß der Nonnen den Boden berührt, der einſt 
von dem eijernen Tritte der römijchen Legionen erdröhnte. Geht man aber 
weiter, jo erreicht man im Tinnegrund die Burg Gerjtein, in weldyer dor we— 
nigen Jahren ein deutjcher Edelmann die lange vergeſſene Stammburg feines 
Geſchlechts wiedererfannte und jeßt wiederherjtellen läßt. Tirol iſt reich an 
Burgen und verlafjenen Edelfigen; ein großer Teil verfällt zu Ruinen, andre 
werden von Bauern erworben und für wirtjchaftlicdhe Zwede verwendet. Da 
könnte fi) mancher einigermaßen Begüterte für einige Yundert Gulden — denn 
jo billig find fie — einen prächtigen Sig für die Sommerfrische jchaffen. Ein 
großer Teil der edeln Gejchlechter mag im jechzehnten und fiebzchnten Jahr: 
hundert gezwungen den Stammfig verlafjen haben; die dem neuen, Tutherijchen 
Glauben anhingen, fanden jedenfalls jeit der Gegenreformation und dem dreißig: 
jährigen Striege feine Sicherheit mehr und verliefen die Heimat. So harrt 
noch manches „Gſchloß“ der Erneuerung und neuer Bewohner. Oberhalb 
Kaufen Tiegt eine ſolche Perle, das durch fein herrliche8 Getäfel in Tirol, ja 
vielleicht in ganz Deutichland und Oſterreich einzig daftehende Schloß Velthurns, 
nicht fern von dem Dorfe Tichötich, wo des Fragmentiſten Fallmerayer Wiege 
ſtand. Ein Bauer hatte es gekauft, und wer weiß, was aus dem Kleinod 
geworden wäre, wenn nicht ein rechter Edelmann, der Fürſt Liechtenftein, es 
erworben und jo Hoffentlich für immer zur Freude und zum fteten Genufje aller 
Kunftfinnigen gerettet hätte. 

Auf der andern Seite des hochthronenden Säben aber führt ein Weg 
durch die aus verftreuten Höfen beftehende, weit ausgedehnte Ortichaft Latzfons 
auf das Latzfonſer Kreuz, wo ein Wallfahrtsfirchlein jteht, etwa jech® Stunden 
bequemen Weges von Klaufen; cin bejcheidnes, aber freundliches Wirtshaus 
bietet ein angenehmes Unterfommen, auch einige Betten zum Übernachten. Wir 
hatten ung -— im Sommer 1884 unter der Führung des trefflichen Heyl, eines 
ausgezeichneten Führere — früh aufgemacht und waren mittags oben. Nach 
einigen Stunden der Ruhe erhoben wir ung gegen vier Uhr wieder und waren 
bald bezaubert von der wunderbaren Pracht der Dolomiten, die wir am jen- 
jeitigen Eifadufer gleihjam wie in Parade dajtehend in ihrer ganzen grotesfen 
Eigentümlichfeit von ihren Wurzeln aus vor uns ftehen jahen, jo nahe, als 
ob fie in einer Stunde zu erreichen wären. Linf3, genau im Dften von dem 
Labfonfer Kreuze aus, erhebt fich der Peitlerfofel, dann rechts neben ihm Die 
wilden Gaiglerjpigen, weiterhin der jpige Langfofel und der nad) Süden platt 
abfallende Plattkofel, der mächtige, breite Schlern und fo weiter bis zum NRojen- 
garten bei Bozen, im Hintergrunde überragt von der mächtigen, ſchneebedeckten 
Marmolada. Noc aber hatten wir den Glanzpunkt nicht erreicht; gegen fünf 
Uhr machten wir und auf, um die Kaffiansipige (im Volksmunde Gamsſpitz) 
zu bejteigen. Der Weg dahin ijt ziemlich bequem; an einem fleinen See mit 
hellgrünem Wafjer geht es über Geröll ohne befondre Beſchwerde nach der 
unjcheinbar ausjehenden Spite empor, die wir in einem Stündchen erreichten. 


Sommerfrifche in Tirol. 83 
Hier verdoppelte fich die Pracht der Ausficht; nicht nur ſahen wir von hier 
aus die weißgrauen, fahlen Dolomiten noch bejjer, jondern der ganze Alpen: 
famm von dem fernen Großglodner im Nordoften bis zu dem Ortler im fernen 
Weiten lag vor uns; die ganze Kette der hohen Tauern, die Zillerthaler, Otz— 
thaler und Stubaier Ferner mit ihren weißen Köpfen, hunderte von Berg: 
gipfeln, kurz, der größte Teil von Tirol ijt hier mit einem Blicke zu fehen. 
Es iſt ein unbejchreiblicher Eindruck, den man bier, hoc) über den Wohnjtätten 
der Menjchen, von der Natur der Alpen empfängt, deren Grofartigfeit jeltjam 
zu dem Mandarinenhochmut der Heinen Menfchlein fontraftirt, die unten die 
Thäler bevölfern! Wir konnten uns nicht jatt jehen an diefer Pracht. Einen 
bejondern Reiz boten noch die riejenhaften Schatten, welche die Spiten nach 
dem Eijadthale ftundenlang werfen. Und drunten war es längſt dunfel, während 
wir noch im Sonnenschein jtanden. 

Die Kaffiansipige halten die beiten Kenner Tirols für einen, wenn nicht 
für den jchönjten Punkt des Landes, und in der That möchte ſich fein zweiter 
Punkt finden, an dem man die Grofartigfeit der Alpenhöhen und zugleich die 
Lieblichkeit der Thäler in jo umfaſſender Weije genießt. Trotzdem iſt diejelbe 
noch wenig befannt; im Jahre 1883 waren nur etwa dreißig bis vierzig Be— 
jucher oben gewejen, im vorigen Jahre fteigerte fich derjelbe, und fie wird je 
befannter, umſo bejuchter werden. Der Beſuch fordert für bequeme Leute (auch 
für rüſtige Damen ijt es feine außerordentliche Anftrengung), die ich nicht 
übernehmen wollen und die beiten Stunden wählen können, von Klauſen Hin 
und zurücd zwei Tage; den Abjtieg kann man vom Kreuze aus auch nad) 
Durnholz nehmen, das im Tauferer Thale mündet, und in diefem nach Bozen 

elangen. 

i Sp eignet fich Klauſen in hervorragender Weije gut zum fejten Sige für 
die Sommerfrifche wie als Standquartier für Fußwandrer, die von hier aus 
Hochgebirgstouren unternehmen wollen. Dazu find die Preife jo bejcheiden, 
dag man aucd zu Haufe in Mitteldeutichland garnicht billiger leben kann. 
Es jei deshalb der beicheidne, aber danfbare Ort mit feinem „Lambl“ und der 
liebenswürdigen Kantiolerſchen Familie allen Erholungsbedürftigen, die nicht 
immer in großen Hotel3 wohnen wollen, und allen rüjtigen Fußwandrern, 
die einen bequemen Standort für Touren aller Art juchen, aufs angelegent- 


lichte empfohlen. 











Um eine Perle. 
Roman von Robert Waldmüller (Ed. Duboc). 
Fortſetzung.) 
Vierunddreißigſtes Kapitel. 


Jintonio Maria ſtand wie geiſtesabweſend in ſeinem Stübchen 
am offnen Fenſter; aber obſchon er auf den Springbrunnen und 

{| die Scheu nad) allen Seiten auf» und davonfliegenden Tauben zu 
\ bliden jchien, jah er doch weder fie noch die Jrisfarben des 
S yon der Sonne durchleuchteten Wafjerjtaubes, noch hörte er 
der Meifen, Finken und Hänflinge; felbjt die Evvivas in der 
Ferne vernahm er nicht, jo deutlich er fie auch vorhin während feiner Unter: 
redung mit dem Herzoge vernommen hatte. 

Er war wie taub und blind, nur die wenigen legten Worte des Herzogs 
hörte er unabläffig, unabläffig, unabläffig, und dazu jchwebte ihm bejtändig das 
verjtöpjelte Fläfchchen mit dem weigen Pulver vor, das graufelige Fläſchchen, 
das ihm der Herzog mit halbgejchlofjenen Augen in die Hand gedrücdt Hatte. 

E3 jtand auf dem runden Tiſche in der Mitte des Stübchens. Daneben 
(ag ein abgegriffener Traftat, der aus der Handbibliothef feines chemaligen 
Herrn, der Eminenz, jtammte und im Gegenjage zu einigen Kommentatoren des 
Petrus Lombardus auch ſchon den Mord im allgemeinen zu den Todjünden 
rechnete. 

Er wagte nicht, fi) umzujehen. 

Nie hatte Antonio Maria jein Gewiſſen mit einer Todſünde beſchwert, und 
wenn er auch bemüht gewejen war, in die Stelle Vitalianos zu rüden, jo hatte 
er fich doc) die Gewandtheit zugetraut, auch auf diefem Poften ohne die Be- 
gehung einer Todfünde durchzufommen; er würde ja, hatte er gedacht, gleich 
Vitaliano immer Leute, die ſchon eine ſchwerer entwirrbare Rechnung mit dem 
Himmel hatten, zu jeiner Verfügung haben, würde gleich dem Herzog zu einem 





Um eine Perle. 85 


jolhen waghalfigen Burfchen jprechen können: Hier ift mein Auftrag; in einer 
Stunde meldeft du mir, wie ihm der Trank befam. 

Antonio Maria wurde von einem Schauder gejchüttelt. Es handelt ſich 
um meine ewige Seligfeit, bebte es über feine Lippen; wie fönnen mir alle 
Schäge Francescos dafür Erſatz bieten? 

Aber bin ich für etwas verantwortlich, was mein Herr und Gebieter mich 
thun Heißt? juchte er wieder die andre Seite bes Dilemmas ins Auge zu fafjen. 
Sit Giuſeppe Gonzaga nicht ein Verſchwörer? Sagt das Geſetz nicht, daß ein 
Verſchwörer den Tod verdient? Wird etiva ein Henker aus Sorge für feine 
ewige Seligfeit einen Berurteilten nicht hinrichten? 

Einen Berurteilten — blieb er wieder mit feinem Argument in der Schwebe —, 
da ſteckt der Unterjchied. Hat das Gericht Giufeppe Gonzaga als Verſchwörer 
verurteilt? Bin ich nicht fein einziger Anlläger gewejen? Wußte jemand anders 
in Mantua um feine Schuld? Nicht einmal Vitaliano wußte darum! 

Er hörte wieder: Hier iſt mein Auftrag; in einer Stunde meldejt du mir, 
wie ihm der Trank befam. 

Behnmal, zwanzigmal hörte er das Nämliche. Das Blut faufte ihm in 
den Ohren. Eine Uhr ſchlug. Wie lange wollte er ſich befinnen? 

Aber Die Ausjagen Beppos find ja da! ſchoß es ihm plöglich durch den 
Kopf. Habe ic) denn meinen Verſtand verloren? Niemand in Mantua wüßte 
von Giuſeppe Gonzagas hochverräteriichem Anjchlag? Hat Beppo nicht alles 
an die redſelige Friaulerin ausgefchwagt? Hat er dann in der grünen Klammer 
nicht alles wiederholt? Bin ich fein Ankläger gewejen, oder war es nicht vielmehr 
jein eigner Diener? Ich bin wahrlich eine Memme. Vorwärts, Antonio Maria! 

Und er drehte ſich um, indem er mit einer abweifenden Handbewegung ſich 
der letzten Skrupel eriwehrte, die feinen Pulsfchlag noch in wilden Pochen er 
halten wollten. 

In dieſem Augenblide öffnete jich die Thür, und herein ftürzte Giacinta 
d’Ija, die Neapolitanerin, die Medufa. 

Alſo Ihr betroget mich doch! rief fie und jchaute fuchend im Zimmer 
umber, er lebt! Ihr Haltet ihn verborgen! D, bat fie, jagt mir alles, 
Signor Antonio Maria! Ich werde reinen Mund halten! Nur lat mich zu 
ihm! Ich flehe Euch an! Laßt mich zu ihm! Niemand, niemand joll davon 
Kunde erhalten! 

Und fie warf fi) vor dem ihr zürnend Entgegengetretenen auf den Boden 
und umjchlang jeine Kniee. 

Taci! Schweig! gebot er mit heftiger Geberde; du bift irrfinnig; ic) habe 
feine Zeit, dein twirres Gerede anzuhören; kehre auf deinen Poſten zurüd; heute 
Abend fomme ich auf ein Viertelftindchen in den Vicolo dei Spadaji. Dann 
jage ich dir mehr. Geh jetzt, geh und forge, daß beine Thorheit nicht ruch— 
bar wird. 











86 Um eine Perle. 








Aber fie hatte, während er jo fich ihrer zu entledigen juchte, nicht auf: 
gehört, feine Kutiee zu umklammern und mit leidenjchaftlichem Pathos gegen ihn 
anzureden: Ihr belügt mich, er lebt dennoch, er ift hier, ich werde mir den Weg 
zu ihm bahnen! 

Dabei hielt fie einen braunen Lederjtreifen in die Höhe, und Antonio Maria 
gewahrte mit Schreden, daß auf demjelben im jegt freilich kaum noch lesbarer 
weißer Kreidejchrift eine Mitteilung gejtanden hatte. 

Ja, ftrengt Eure Augen nur an, Signor Antonio Maria, rief fie, indem 
jie fich erhob und ihm den Lederjtreifen zu eigner Enträtjelung überließ; Ihr 
jeid überführt, da fteht es, und fie lad aus den wenigen noch nicht verwiſchten 
Buchjtaben einen der den Tauben auf den Weg gegebenen Notrufe Giufeppes 
zuſammen, dazu jeine volle Unterjchrift. 

Antonio Maria ſuchte Zeit zu gewinnen, indem er mit jpöttiich wegtverfenden 
Worten Buchjtabe für Buchjtabe anders ausdeutete, und die Neapolitanerin, ins 
mitten ihres bejferwifjenden Widerjprecheng, erzählte während deſſen, wie dag 
Subiliren in den Straßen Mantuas bis in den Vicolo gedrungen fei und fie 
aus ihrer Lethargie aufgerüttelt habe. 

Denn Ihr wißt, Signor Antonio Maria, jagte fie, wie e3 mit mir ftand, 
jeid Ihr erfahren haben wollte, Giuſeppe Gonzaga jei nachträglich doch einer 
innern Verlegung erlegen, bald nach jener abjcheulichen Rauferei mit den Beftien, 
den betrunfenen Hakenſchützen. Alſo hört! Das Jubiliven drang vor einem 
Stündehen big in meine Totengruft, bis auf meinen Poſten, wie Ihr es nennt. 
Da ijt denn mit einemmale die Meduſa vom Teatro San Donato in mir erwadıt. 
Sp hatte ich das Volk von Benedig jubeln hören, mir zujubeln hören, und da 
ijt mir's in die Glieder gefahren, twie dem alten Jagdhunde, der das Jagdhorn 
blajen hört — ins Freie bin ich geitürzt — jeit einem Monat hatte ich feinen 
Schritt aufs Pflafter gefeßt; denn was jollte ich draußen? Betteln gehe, wie 
meine Kollegin Zaretti? Dder Blumenfträuße den Kavalieren vor Sant’ Agnefe 
aufdringen, wie meine andre Kollegin la Virgiliana? Was hätte ich in den 
Straßen gejollt! Aber heute war ganz Mantua aus dem Häuschen. Und jo 
bin ich, wie ich ging und ftand, in dieſer meiner Heimatstracht, hinausgejtürzt. 
Siehe da, man hatte die Medufa noch nicht vergefjen! Cappari! hörte ich rufen, 
po&taufend, fie ift3! Die muß das Banner uns vorantragen! Wer? jchrie cs 
dazwijchen. La Medusa! rief e8 wieder, la Medusa! ch wollte nicht, aber: 
Sopra la tavola! jchrie e8 von allen Seiten. Man wollte jehen, ob ich es 
wirklich jei. Und auf einmal — vor der Schmiede am Teatro Diurno geſchah 
es — hob man mic auf einen Tifch, oder war's ein Ambos? und nun fie mich 
alle erfannten, hieß es: Animo! Vorwärts! Und mit einem mächtigen Banner 
in der Hand mußte ich den Zug anführen — Handwerker waren e3, ich weiß 
nicht, welchen Gewerkes, ich denfe, Schneider und Tuchmacher, aber ordentliche 
Leute! So find wir vors große Schloßthor gelangt, ich weiß noch jetzt nicht, 


Um eine Perle. 87 





um welches feitlichen Anlafjes willen, und fie haben fich Heifer gefchrieen in 
Evvivas! Aber ftatt daß der Herzog fich gezeigt hätte, iſt plöglich ein un— 
geheurer Taubenfchwarm Hinter den Gittern des Schloßgartend aufgeraufcht 
— wie ein Sturmwind Hang es — und hat fich über unjern Köpfen im Kreiſe 
bewegt, und wie wir alle jtaunen, was das für ein Mirafel jei, da haben einige 
unter uns fchwarze oder braune Streifen Zeuges oder Leder in der Luft flat: 
tern jehen, und nım hieß ed: Benissimo! eine Antwort Francescos! und der 
Zug löſte fich auf, um einen oder den andern dieſer wunderlichen Briefe zu er- 
wijchen. Giubbilo! Ich habe diejen hier gegen mein Banner eingetaufcht, ala 
nach und nad) die Enttäunfchung immer größer wurde; denn man hatte Gold- 
jtideret und was wei; ich erwartet, wie eine herzogliche Botjchaft freilich wohl 
hätte ausſehen müffen; und fo hieß es denn: Fi! una natta! una billera! und 
man ſchämte fich, auf den Schabernad eines Spaßvogels hineingefallen zu fein. 
Die verwilchte weiße Streidejchrift zu enträtjeln, hatten übrigens die wenigjten 
vermocht, und ich weiß nicht, ob einer außer mir fich die Mühe gegeben hat, 
es zu verſuchen. Mir aber, Signor Antonio Maria, mir war es, als hätte 
der Finger Gottes jelber diefe fchlechten Fetzen bejchrieben, ich ftarrte und jtarrte, 
und mein Auge wurde jehend, Signor Antonio Maria, und jet weiſet Die 
arme Medufa nicht graufam von Eurer Schwelle! 

Sie ſank von neuem auf die Kniee, von dem langen Neden erjchöpft und 
der Aufregung erliegend, welche ihr die auf fie eingejtürmten Eindrüde bereitet 
hatten. 

Antonio Maria war allmählich zu ruhiger Beſinnung gekommen. Die 
ichwer entzifferbaren Notrufe Ginjeppes verloren die anfangs durch den Nach- 
folger Bitalianos ihnen zugetraute Verfänglichfeit. Außer der Medufa mochte 
in der That Feiner der wenigen Lejefundigen in dem Handwerferzuge von dem 
Inhalt jener für eine Fopperei gehaltenen Taubenftafette etwas ahnen. Nur 
der überreizte Spürfinn der immer noch von ihrem Pflegling aus dem Bagno 
di Belta erfüllten Neapolitanerin war auf die richtige Fährte gelangt. 

Und fann man denn mit einem jo exaltirten Wejen, wie du es bift, anders 
verfahren, al3 ich c3 gethan habe? jagte Antonio Maria. 

Alſo er lebt! rief Giacinta, und ihren Augen entftürzten Freudenthränen. 

Zitto! Still! 

Sch will ganz verjtändig fein. 

Komm erjt wieder zu Atem. 

Sie beugte ſich über jeine Hand und fühte fie. O welches Glüd! rief fie, 
wo iſt er? Laßt mich ihm den Ring bringen. 

Welchen Ring? D richtig, ich befinne mich. 

Antonio Maria hatte in der That jchon nach einem Vorwande gejucht, 
um fie mit dem, was er ſonſt ihr auftragen wollte, ohne deſſen Miptrauen zu 
erregen, an das Bett des Kranken zu jchiden. 


88 Um eine Perle. 











Er öffnete ein Schreibpult und fand bald das Schächtelden, in welchem 
er das goldne Ringlein verwahrt hatte. 

Ein Vorwurf ſchwebte auf Giacintad Lippen. Solange hatte Antonio 
Maria den Raub Eolas behalten! Aber ihre Spannung buldete feinen Verzug. 
Gebt, gebt! bat fie, o endlich kann ich ſelbſt ihm alles aufklären! Der Arme! 
Wie gelange ich zu ihm? 

Kind, jagte Antonio Maria, du haft dich nicht in der Gewalt. Hier iſt 
das Ninglein, aber bedenke, dag du zu einem immer noch Schwerfranfen gebt. 
Jede Aufregung kann ihm den Tod bringen. Was thun wir, um ihn einiger 
maßen zu behüten? Denn ich jehe dir's an, du wirft dich nicht in der Gewalt 
haben, und wer weiß, wie jehr die Freude iiber das Wicdererlangen des Heinen 
Andenkens fein Blut plöglid in Wallung bringt. 

Sch werde ihn langjam vorbereiten, beteuerte Giacinta. 

Du bift deiner jelbjt nicht ficher. 

O sieuro! sicuro! Verlaßt Euch auf mich! 

Er ſah fich nach dem Fläſchchen um. Hier it, was uns dienen kann, 
jagte er, und jchidte ji) an, den verhängnisvollen Inhalt in ein mit Wafjer 
halb gefülltes Glas zu jchütten. Er vermied dabei, den Atem einzuziehen und 
ſchloß die Augen, um auch jeine Sehfraft nicht von dem etwa aus dem Glaſe 
auffteigenden Dunfte Schaden nchmen zu lafjen. 

Dann reichte er es ihr mit möglichjt arglojer Miene, indem cr fie an: 
wies, beim Eintreten zu jagen: Signor Gheddint — beileibe nicht Signor 
Antonio Maria, den dürfe fie nicht erwähnen — Signor Gheddini alfo habe 
ihr erlaubt, dem Signor Giujeppe ein Andenken wieder einzuhändigen ; ber 
Doktor beſorge jedod), die freudige Aufregung könne dem Signor Giufeppe 
Schaden zufügen, und fo jolle der Signor Giufeppe zuvor das Glas hier aus: 
trinfen; fie habe dem guten Signor Gheddini verjprochen, ſich feinen Verſtoß 
gegen die Vorſchrift des Doktor zu Schulden fommen zu lafjen. 

Sie mußte ihm feine Worte wiederholen, wobei er die Augen bald nieder: 
ſchlug, bald mit jchenem Blick auf das jetzt leere Fläſchchen und den daneben 
liegenden Traftat richtete. Dann ſchloß er behutſam eine Tapetenthür auf und 
führte die mit flopfendem Herzen und wogender Bruft mit ihrem Ninglein und 
ihrem Glaſe iym Folgende durch einen langen, falten und halbfinftern Gang 
bis an Giuſeppes einige Stufen tiefer gelegenes Gemad). 

Er ſchloß die äußere Thür auf und jagte leife: Die innere Thür ift offen; 
bereite ihm feine Szene; thu genau, was du mir verjprochen haft zu thun; in 
längjtens fünf Minuten erjcheinft du wieder in meinem Zimmer. Jetzt geb. 

Und er entfernte ſich Tautlofen Schrittes. 


Um eine Perle. 


0 





Fünfunddreißigftes Kapitel. 
Giacinta ſtand auf der Schwelle des entzücenditen Raumes, den fie je im 
Leben betreten zu haben glaubte; war er doch, objchon die Sonne ſchon hoch 
Itand, von nur angenehmer Wärme erfüllt, jpielten doch einzelne ihrer Strahlen 
noch hie und da durch das üppige Weinlaub der zwei offenitehenden Fenſter 
— mit dem Fußende dem dritten, vermauerten Fenjter zugefehrt, ſtand das 
mit bläulich gemufterten Gardinen dicht behängte Himmelbett —, zogen doch) 
Rojen-, Orangen: und Jasmindüfte aus und ein, und hatten ſich's doch Tauben 
ihon wieder zwiſchen den bunt blühenden Töpfen der beiden offnen Fenſter 
bequem gemacht, unter ihnen vielleicht die nämlichen, die Giujeppe Gonzaga mit 
der wunderlichen Botjchaft an das jubilirende Mantuaner Volk entjandt Hatte. 

Ja wunderlich erjchienen ihr jet diefe Notrufe. 

Freilich, die Fenſter hatten eiferne Stangen, aber gab es in Mantua oder 
überhaupt in einer Stadt Italiens Erdgejchoßfenjter ohne diefen Schuß? Der 
arme Herr lag hinter jeinen Gardinen jo jorglich verwahrt und gepflegt da, 
wie fein Prinz es bejjer wünjchen Fonnte. 

reilich, Antonio Maria hatte ihn einjt einen argen Verſchwörer geheißen. 
Aber war dieſe Fabel glaubhafter, als fich die jeines Todes ausgewiejen hatte ? 
Wer mochte auf die Worte eines Mannes jchwören, dem es darauf anfommen 
mußte, dem Herzog immer neue Verdächtige nachzuweiſen, jo gutartig auch An: 
tonio Maria in allem übrigen jicherlich war. 

Während fie fich in diefer Weile von den fchredlichen Vorſtellungen er- 
holte, die in dem langen, falten und halbfinjtern Gange ihre geängjtigte Ein- 
bildungsfraft gemartert hatte, fam eine ihr jeit Wochen fremd gewejene Stille 
über fie, und mit vorfichtigen Schritten näherte fie ſich dem Bette. 

Eccellenza, ſagte fie leije. 

Hinter der Gardine beivegte ſich eine Hand. Gleich darauf rollte die Gar- 
dine zurück. 

Giuſeppe lag mit offnen, nach oben gerichteten Augen regungslos da. Ich 
brauche nichts, Ubidia, ſagte er müden Tones. 

Er glaubte es mit der alten Negerin zu thun zu haben und winkte ab, 
da ſie nichts ganz zu verſtehen pflegte. 

Giacinta, von der Bläſſe und Mattigkeit des Kranken bänglich bewegt, 
vermochte nicht gleich zu antworten. 

Es iſt nicht Ubidia, Eccellenza, jagte fie dann, es ift ein Mädchen, das 
Euch damals in dem Vicolo dei Spadaji einen Heinen Dienjt erweiſen durfte; 
fie heißt Giacinta, Eccellenza, Giacinta d’Ija, einige nennen fie auch) la Medusa — 
jegte fie ftotternd Hinzu, denn er hatte jein Haupt nach ihrer Seite geiwendet, 
und es verwirrte fie die Eigentümlichkeit jeines befremdet auf ihr ruhenden 
Blides in ſolchem Grade, daß fie völlig vergaß, was te hier hatte thun und 
reden jollen. 

Grenzboten IIL 1885. 12 








90 Um eine Perle. 


Das jchwarze Lodengeringel um ihre Stim und ihre jcheu feinem Blid 
ausweichenden Augen, dazu das mit weißlichem Inhalte gefüllte Glas in ihrer 
Hand — der Kranke wußte nicht, ob ein Traumgeficht ihn nede, oder ob eines 
jener Gejchöpfe vor ihm jtehe, die, wie es hieß, den Zwecken Bitalianos dienten. 

Ich kenne dich nicht, jagte er ungütig; in wejjen Auftrag bijt du hier? 

In niemandes Auftrag, Eccellenza. 

So? Und was öffnete dir die Thür meines Gefängnifjes? 

Ihr jeid in feinem Gefängnifje, Eccellenza, wollte Giacinta ihn bejänftigen; 
werdet nur erjt gejund; gewiß, man denft nicht daran, Euch feitzuhalten, 
Eccellenza. 

Giuſeppe lächelte bitter. 

Iſt denn Ubidia abgejegt? fragte er, folljt du an ihre Stelle treten? Was 
hat die ganze Veranftaltung zu bedeuten? 

Ich weiß nicht, von wem Ihr redet, Eccellenza. Ich heiße Giacinta, und 
ich möchte — 

Nun? e 

Ihr jollt aber erjt trinfen, hat Antonio Maria gejagt. Sie wollte ihm 
das Glas reichen. 

Antonio Maria? fragte Giufeppe; in feinem Gedächtniffe tauchte zum 
erjtenmale wieder der Name des durch Ambrogio Pellegrini empfohlenen Mannes 
auf, dejjen grüne Aufichläge ihn dann aber verdächtig gemacht hatten. 

E3 würde Euch die Aufregung ſonſt jchaden fünnen, Eccellenza, erklärte 
fi) Giacinta deutlicher; jo habe es der Dottore ausdrüdlich vorgejchrieben, hat 
mir Antonio Maria gejagt. Trinkt, Eccellenza. Nur fünf Minuten darf ich 
— bei Euch ſein, und ich habe Euch noch allerlei zu ſagen. Trinkt, gute 

ecellenza, trinkt, mir zuliebe. 

Ein Schatten tiefen Abſcheues glitt über die Züge des Kranken. Dann 
ſtrich er mit der Hand über die Bettdecke, als wolle er zum Nachdenken Zeit 
gewinnen, vielleicht auch zum Verſlellen. 

Mit Lächeln ſagte er darauf: Alfo dir zuliche fol ich trinfen? Und er 
ftredte die Hand nad) dem Glaſe aus. 

Sie gab es ihm, und er führte es langjam, langjam an die Lippen, indem 
er die verdächtige Überbringerin dieſer verdächtigen Mirtur nicht aus den 
Augen ließ. 

Giacinta ſchaute freundlich aufmunternd zu, indem fie gleichzeitig die Linfe 
feft zufammenkniff, um aus derjelben nicht vorzeitig das darin verwahrte Ring— 
fein entgleiten zu lafjen. Sie meinte ihn gejund blicken zu fünnen, jo ganz 
lag ihr volles, übervolles Herz in ihren Augen. Wie gern hätte fie ihr Leben 
für ihn Hingegeben! 

Das Gegenteil war es, was der Kranke aus den jelbjt bei ihrer freund- 
lichſten Miene doc noch verhalten dämonichen Zügen der Botin Antonio 
Marias herauslad und herauslejen mußte. Und jo, ohme getrunfen zu haben, 
jagte er plöglich: Kredenze mir's. Und er jehte das Glas von den Lippen ab, 
um e3 ihr hinzureichen. 

O Eccellenza, jtotterte Giacinta, demütig die Ehre ablehnend. 

Hier nimm! 

Ihr wollt e3? 

Sie griff mit zitternder Hand nach dem Glaſe. 

Ich will e2. 


Um eine Perle. 91 


Mit einem Knixe führte fie das Glas an die Lippen, ſetzte e8 aber wieder 
ob, um nad ihrem Heimatsbrauche dem Stredenztrunfe die jegnenden Worte: 
buona sanitä! vorausgehen zu laſſen. 

In demjelben Augenblide hatte Giujeppes Hand ihr das Glas entriffen 
und es in der Nichtung des Fenſters fortgeichleudert. Klirrend zerjchellte es 
an einer der Eifenjtangen. Der Inhalt überjchwemmte die Fenſterbank. Die 
Tauben waren ängjtlich flatternd entflogen. 

Ruchloje! jtöhnte Giufeppe; jo jung, jo ſchön und jo verworfen! Geh! 

Das Mädchen Stand jprachlos da. 

Geh, Elende! wiederholte der Kranke; find meine Tage nicht ohnehin ge: 
zählt? Wie fonnteft du dich zu einem jo jchmählichen Geſchäfte dingen laſſen! 
Traditricee! Sieh mic) an! Beichte! Du wußteit, daß ich vergiftet werden 
jollte! Jpocrita! O weg mit der Miene gekränkter Unſchuld, du täufcheft mich 
nicht, du hätteft nur zum Scheine fredenzt! Oder du warſt mit Gegengift für 
dich verjehen worden. A fe! A fe! Welch ein edler Herr ift diefer Francesco, 
und wie ſtolz muß michs machen, fein Vetter zu fein! Beichte, Unjelige! 

Und fo jtrömten Verwünfchungen und vernichtende Anklagen über jeine fajt 
blutlos gewordenen Lippen, bis er vor Erjchöpfung verjtummte, 

Mit verwirrten Blicken hatte die Neapolitanerin dageitanden. Der Ge- 
danfe, das Glas habe Gift enthalten, war wie cin Blitz bei ihr eingeſchlagen, 
und fie horchte, während der Kranke redete, nach der Seite des langen, finftern 
Ganges, ob fich nicht draußen der Schritt des Entjeglichen vernehmen laffen 
würde, daß fie wie eine Furie über ihn herfallen und ihn vor den Augen Giu— 
ſeppes erdrojjeln könne. 

Dann glaubte fie das Geräuſch ſeines Nahens von dem ** her zu 
hören. Aber es waren die ſchon wieder zutraulich auf die Fenſterbank geflo— 
genen Tauben, und Giacinta ſah ſie mit gierigem Schnabel einander beim Auf— 
ſchlürfen des Gifttranks den Rang ſtreitig machen. 

Finſter und verſchloſſen war ihre Miene, als ſie die unſchuldigen Tierlein 
jo mit flatternden Flügeln ſich den Weg zu graufigem Untergange bahnen ſah. 
Trinkt, brach fie jchluchzend in Sammerlauten aus, ja trinkt euch nur den Tod! 
Was ift das Leben, als ein bunt übertünchtes Sterben! D wär’ ich jelber 
ihon tot! 

i Sie ſank auf den Eſtrich nieder und raufte fich verzweifelnd das Haar. 

Das Ringlein war ihrer Hand entglitten und tanzte auf den Marmor: 
platten dahin. 

Giufeppe jah es rollen und verfolgte es mechanijch mit den Augen. 

Verlaß mich, befahl er, oder liegt in deinem Bufen etwa noch ein Stiletto 
für mich auf der Lauer, jo mach’ ein Ende. Ich bin kraftlos. Ein Kind kann 
mir das Lebenslicht ausblajen. 

Sein Atem verjagte. 


(Hortjegung folgt.) 





Notizen. 


Geiftliher und Politiker. Den Bemerkungen, welde in Nr. 27 diejer 
BZeitfchrift zu der Faſſung des Urteil® in Sachen Stöders gegen die „Freie 
Zeitung“ gemacht werden, wird unbedingt zuftimmen, wer imftande ift, die An- 
gelegenheit unparteiifch zu betrachten. Leider trifft man diefe Fähigkeit ziemlich) 
jelten an. Wenn Organe der äußerften Rechten es ald Ehrenpflict auffaſſen, den 
Mann nicht fallen zu lafjen, welchen die Gegner mit allen, fchlechthin allen Mitteln 
zu vernichten trachten, jo ift das zu begreifen; aber auch jie fchießen zum Zeil 
über das Biel hinaus, drüden die Augen gegen Dinge zu, welche deshalb doch 
aufrecht bleiben, und damit jchädigen fie wieder nur ihre Sade. Kein Wort 
braucht verloren zu werden über das Toben und Jubeln der jemitifchen Preſſe, 
welche hartnädig an dem Glauben feithält, die heute auf dem ganzen Erdboden zu 
fonftativende Erhebung gegen das Uebergewicht der jüdiſchen Raſſe ſei das Wert 
einiger wenigen und würde ohne dieſe garnicht eingetreten ſein. Aber wohin 
ſind wir geraten, wenn Sachwalter es wagen dürfen, mit dem Hinweis auf Stöcker 
(dem einen wiſſentlich abgelegten falſchen Schwur niemand hat vorwerfen können) 
Schuldloſigkeit für meineidige Verbrecher zu verlangen! Antipathie gegen den 
Hofprediger beſteht auch in zahlreichen Kreiſen, welche ſich gegen jede Gemeinſchaft 
mit dem zu unverdienter Berühmtheit gelangten Herrn Bäcker und deſſen Anhang 
ernſtlich verwahren würden; und ſympathiſch iſt auch uns die Agitationsweiſe 
Stöckers nicht. Doch darf uns das nicht zur Ungerechtigkeit gegen ihn und zum 
Generaliſiren verleiten. Weil Stöcker ſeine Sache häufig ungeſchickt vertritt, iſt 
ſeine Sache noch keine einfach verwerfliche, und am allermeiſten ſollte man ſich 
bedenken, den Geiſtlichen die Berechtigung zu praktiſcher politiſcher Thätigkeit gänzlich 
abzuſprechen. 

Wo beginnt die politiſche Thätigkeit? Soll der Geiſtliche teilnahmlos bleiben 
für alles, was außerhalb der Kirchenwände und ſeines Studirzimmers ſich abſpielt? 
Darf er das Wahlrecht nicht ausüben oder wenigſtens von dem paſſiven feinen 
Gebraud machen? Das ift wohl noch nirgends verlangt worden, Geiftlicde aller 
Konfejfionen figen als Gewählte oder Ernannte oder ausdrücklich kraft ihres Amtes 
in den Unter- und Oberhäufern der verjchiednen Länder, ftehen mithin im poli— 
tifchen Leben und geniehen, wie fi) da3 von felbft verfteht, in ihrer politischen 
Eigenschaft eben nur den Schuß, auf welchen diefe Anfpruch giebt. Dder will 
man fie auf parlamentarische Thätigfeit in dieſem fpezififhen Sinne beſchränken? 
Die Fatholifche Geiftlichkeit von dem Biſchof angefangen, welcher Hirtenbriefe erläßt, 
bis zu dem Kaplan, welcher in der Predigt, im Beichtſtuhl, am Sterbelager, im 
Wirtshaus und im „Blättchen“ die Tagesfragen beipricht, hat ſich eine derartige 
Beihränfung niemals auferlegen lafjen, und ebenjo ift allbefannt, eine wie viel: 
feitige Thätigfeit von manchen Rabbinern entwidelt wird. So bliebe das Verbot 
nur für den proteftantifchen Geiftlichen aufrecht? Nicht doch, wir fehen Paftoren 
im freifinnigen Lager agitiren, und man vechnet ihnen das ald Verdienſt an. 
Mithin wird wieder das doppelte Maß angewandt, nur den Zunfervativen Geift- 


Notizen. 093 
lichen fteht es nicht zu und an, fid) aud) als Staatsbürger zu fühlen und zu zeigen! 
Gewiß teilen viele Amtsbrüder Stöders diefe Anficht, und wir werden denjenigen 
feinen Vorwurf machen, welche fi ihren Wirkungsfreis als Geelenhirten eng 
ziehen. Ueberzeugung und Temperament beftimmen die Wahl des Thätigkeitäfeldes. 
Nur verarge man ed auch nicht dem andern, wenn er Erjcheinungen, bon deren 
Verderblichkeit er auf tieffte durchdrungen ift, überall entgegentritt, nicht bloß auf 
der Kanzel. Und das trifft doch unleugbar bei Stöder zu. 

Der Geiftlihe joll der Bote des Friedens fein, jagt man. Gewiß. Als 
Friedensboten fühlten fi) auch die Apoftel, welche einft unfer Vaterland für das 
Ehriftentum eroberten, aber fie jcheuten ſich deswegen nicht, eigenhändig die Gößen- 
bilder umzuftürzen. Und ein Friedensbote war Luther, der herzhaft in die Politik 
feiner Beit eingriff, nicht mit Sammethandſchuhen, ob er nun gegen Fürſten oder 
rebelliihe Bauern zu Felde zog. Und, um uns auf ein den Widerjachern Stöders 
vertrautered Gebiet zu begeben, wie war es denn mit Mofes? Daß der nicht 
wiederfehrt, dei find die Herren wohl herzlich froh, denn er würde mit manchem 
ihrer Heiligtümer wenig Federleſens machen. 

Wenn der Proteftantismus auf nicht wenigen Punkten im Rückgange begriffen 
it, jo dürfen wir die Schuld daran zum Teil dem Mangel jener lebendigen Be: 
ziehungen zufchreiben, welche in der Fatholifchen Kirche zwiſchen dem Geiftlichen 
und feiner Gemeinde bejtehen. Wir haben nicht die Abſicht, unfern Paſtoren die 
Banernfapläne als Muſter aufzuftellen, weiche alle Wahlen dirigiren. Aber wenn 
fie etwas mehr aus ihrer paftoralen Zurüdgezogenheit heraustreten, ſich öfter an 
die Entitehungsgefchichte des Proteftantismus erinnern wollten, jo würden fie, 
dünft und, der guten Sache große Dienjte leiften können. Die proteftantijche 
Kirche in der Diafpora fünnte in diefer Beziehung manchem als Beifpiel dienen. 





An Männerfleidern. Durd die Blätter geht die Erzählung einer Ber: 
baftungsgeichichte, welche in einer für die betreffende Perſon durchaus nicht ver: 
jtimmenden Weiſe verlaufen ift und vermutlich die Folge haben wird, daß die 
an Wilhelm Meifters Wanderjahre gemahnende Zeit der Amazonen-Kleider wieder 
heraufziehen wird. Die im Haft genommene junge Dame war von Kalmar bis 
nad Auſſig in Männerkleidern gereift, ohne, wie es jcheint, ihr Geſchlecht zu ver— 
roten. Der Eintritt in Böhmen und die Nevifion ihrer zwei Heinen Koffer — in 
denen jedenfalls feine Damenkleider ftedten — war ebenfall® glücklich überjtanden. 
Aber auf allen böhmischen Stationen giebt es fcharfe Bigilanten. In Auffig nahm 
ein ſolcher das junge, etwas zu zierlich trippelnde Herrlein aufs Korn, und fiehe 
da: man erfannte in ihm eine Tochter Evas. Sie geftand, aus Kalmar bereits in 
Männerfleidern abgereift und der Meinung gewefen zu fein, ihre Reife nach Italien 
unbehelligter in Männerkleidern machen zu können. Da fie aber ohne alle Papiere 
war, fo hielt man dafür, daß die anfehnliche in ihrem Beſitz gefundene Reiſekaſſe 
den Berdadht, man habe in dem jchmuden jungen Kavalier eine Hochſtaplerin ers 
wijcht, nicht ganz ungerechtfertigt erfcheinen Laffe. Auf die an den Magiftrat von 
Kalmar gerichtete Anfrage kam jedoch der Beicheid, die junge Dame gehöre einer 
hochachtbaren Familie in Kalmar an, ſei dort Lehrerin geweſen, reife in dev That 
nad Italien ꝛc. ES fcheint, daß man ſich danad) in Auffig beeilt hat, fie nicht 
nur in Männerfteidern weiterreifen zu laffen, jondern die aus Kalmar eingelaufene 
Legitimation auch noch zu vidimiren, ſodaß etwa weitere neugierige Erfundigungen 
nad) dem Grunde der Bartlofigfeit und der fchlanfen Taille de& jungen Herrn dem 
Fräulein weiter feine Verdrießlichkeiten zu bereiten brauchen. 


94 Notizen. 





Bis jept ift über die weiteren Abenteuer der jungen Amazone nicht3 in Die 
Deffentlichfeit gedrungen, als daß fie fi auf einen Roman berufen haben fol, in 
weldem ein mit einer ſchwediſchen Admiral: Familie in Riva zujammengetroffener 
junger Maler ſich al3 ein Fräulein entpuppt habe. Wenn dies Bud, wie nicht zu 
zweifeln ift, Waldmiüller in Nr. 44 (1884) diefer Blätter ausführlich befprochner Ro- 
man „Darja“ war, jo zeigt fi) wieder einmal, wie bei dem berühmten Roman des 
Gervantes und bei Goethes „Leiden des jungen Werther,‘ mit welchen Augen das 
Publikum lieft. Don Quirote follte die Ritter-Romane perfifliren und wurde jelbft 
als Ritter-Roman aufgefaßt und zerlefen. Die Piſtole des jungen Werther trat 
erit in Funktion, nachdem der Liebende von Qualen mürbe gefoltert war, und fein 
Federſtrich des Autors hatte den Gelbftmord glorifizirt. Dennoch glaubten un— 
zählige Lejer und Leferinnen darin eine Aufforderung zu erbliden, kurzer Hand 
dem jchönen Erdendafein auf die Weife des jungen Werther ein Ende zu maden. 
Auch Darja, die Steppentocdhter, geht erjt nad) Drangjalen, welche alle aus dem 
undorfihtig von ihr angelegten Männerkoftim erwachien find, in den Hafen 
des Frieden und des Glüdes ein. Dennod wird fie, wie jhon erwähnt, vermut- 
li eine Anzahl von wohlgemuten Nachfolgerinnen erhalten, zumal da die erfte 
— und ift fie wirflid die erfte? — in Auffig ihr Abenteuer mit jo gutem Ge- 
lingen beftanden hat. 

Eine erntere Frage ift: Wie weit läuft die Verkehrung der geſchlechtlichen Er- 
ſcheinung den beftehenden Geſetzen entgegen? ft fie im deutſchen Reiche ftraf: 
fälliger al3 in Böhmen? Die Frage jcheint Fontrovers; ihre Beantwortung möge 
hierdurch angeregt fein. 


Wider den Schwindel in gefhäftlihen Anpreifungen. Bu den Ge— 
ſchäften, in welchen Unwahrheit und Unredlichkeit noch tief eingenijtet ihr Unmejen 
treiben, gehört allerorten und nicht bloß innerhalb Deutſchlands der Handel mit Wein. 
Kein Menſch, der gelegentlich eine Flaſche St. Eſtephe oder St. Julien vorgejegt erhält, 
glaubt mehr daran, daß der Wein wirklich an jenen gefegneten Geländen gewachſen 
jei, deren Namen er trägt, ja fein Bordeaur muß jchon aus recht zuverläfliger Be— 
zugsquelle herfommen, wenn er überhaupt noch als reines Naturgewächs angefehen 
werden fol. Auch die Namen unfrer befannten deutjchen Weinorte, Deidesheim, 
Hochheim, Rüdesheim und wie die anheimelnden Fledchen alle heißen, werden 
nachgerade allenthalben zur Bezeichnung von Weinen gemifbraucht, die um gemifje 
höhere Preife abgegeben werden, möge ihr Urfprung aud) ganz wo anders zu fuchen 
fein, al der Name befagt. Bei beſſern Gejchäftshäujern ſcheint es daher mehr 
und mehr Sitte zu werden, dem Weine die eigne Firmabezeihnung zu geben, wohl 
auch den Namen des Weingartenbefigerd beizufügen, von welchem der Wein jtammt, 
um hiermit eine Gewähr für den Gehalt zu bieten. Auch diefer guten Sitte aber 
drängt fi) die Unfitte falfcher Firmenangabe zur Seite. 

So kam uns jüngft als Beilage der in Berlin erfcheinenden „Offertenzeitung her— 
borragender Firmen für die deutjche Ariftofratie” eine gedrudte Anzeige zur Hand, in 
welcher ein deutſches Geſchäftshaus feine Schaumweine empfiehlt und dabei nnverhohlen 
außfchreibt, daß man feine teil$ aus deutfchen, teils aus frangdfifchen Weinen hergejtellte 
Waare je nad) Wunſch anftatt mit feiner eignen deutichen Firma auch mit einer faljchen 
franzöfiichen Etifette erhalten fünne; das Unerbieten der falfchen Etiketten ift dabei 
mit fetteren Buchftaben gedrudt, damit der ſaubere Lodvogel ja nicht überſehen 
werde. Der Name des uns gänzlich fremden Geſchäfts hat mit dem Zwecke gegen: 
wärtiger Einjendung nichts zu thun, fein Inhaber fcheint feine Ahnung von dem 


Notizen. 95 





Anftögigen und Schimpflichen feines Ausschreibens gehabt und nicht bedacht zu haben, 
weichen veradhtungspollen Spott und Hohn es bejonders bei unfern eiferfüchtigen 
Nachbarn jenjeit3 der Vogeſen erregen müſſe, ſonſt hätte ex ſich wohl gehütet, es 
jo offen in die Welt Hinauszufenden. Umſomehr aber ericheint es geboten, Die 
Sache öffentlich zu beſprechen und Verwahrung einzulegen gegen ſolchen Schwindel, 
dur) welchen der gute Ruf der deutſchen Gejchäftswelt nicht wenig gefährdet wird. 
Unjer Schaummeinhändler hat zwar jelber fi) im Neichögefeß über den Marten: 
ſchutz umgeſehen und verfichert in feiner Unzeige ausdrüdlich, er bediene ſich nur 
folder franzöfiichen Firmennamen, welche es in Wirklichfeit garnicht gebe, feine 
Austattung mit falfchen Etiketten könne daher mit diefem Geſetz nicht Follidiren, 
d. h. man jeße fi) mit dem Gebrauch derjelben Feiner gerichtlichen Verfolgung 
wegen Verlegung des genannten Gejebes aus. Dies ift richtig, denn eine Firma, 
die nicht vorhanden ift, vermag aud feinen Rehtsihug in Anſpruch zu nehmen. 
Iſt der Schwindel aber auch nicht unter dad Markenſchutzgeſetz zu bringen, jo 
widerftreitet er darum doch dem Sinne und der Richtung nicht bloß dieſes Ge- 
ſetzes, jondern der gefamten Rechtsanſchauung und Gejeßgebung unfrer Zeit, und 
glüdlicherweije giebt es noc andre Geſetze als das von Herin X befragte, mittels 
deren ihm wird begegnet werden können. So unterliegt es wohl feinem Zweifel, 
daß Herr & für jeden Gebrauch feiner falfchen Etiketten auf Grund des Handels: 
geſetzbuchs ftraffällig wird, dejien Art. 26 dad Handelägericht anweift, gegen den— 
jenigen mit Ordnungsftrafen einzufchreiten, welcher fi einer ihm nad) den Vor— 
ſchriften diejes Geſetzes nicht zuftehenden Firma bedient; dem Herrn X aber ftehen 
die franzöfifchen Firmen, ob wirkliche oder erdichtete, deren er ſich auf jenen 
Etifetten bedient, offenbar nicht zu. Er kann ſich aud) nicht darauf berufen, daß 
in einem andern großen und geachteten Gejchäftszweige ähnliches eine allgemeine 
und unbeanftandete Uebung ſei. Allerdings iſt e8 im Bigarrengejchäft weitver- 
breiteter Gebrauch, die Waare mit willkürlich erdachten ſpaniſch klingenden Namen 
und Firmen auszujtatten. Auch dies ift ein Unfug, der hoffentlich dem geläuterten 
Beitgeift nicht mehr lange wird widerftehen fünnen, er ijt aber jo allbefannt, daß 
fein Menſch diejen fremden Firmennamen die Bedeutung wahrer Firmen beilegt, 
und daß deshalb von einem unbefugten Sirmengebrauche und überhaupt von etwas 
Geſetzwidrigem bier nicht die Nede jein kann. 

Anders beim Weinhandel. Bei Weinflaſchenmarken macht der Käufer unbedingt 
den Anſpruch auf die Wahrhaftigkeit der denjelben gegebenen Firmenbezeichnungen. Die 
falſchen franzöfijchen Etiketten verftoßen darum auch nicht bloß, wie gezeigt, gegen das 
Handelsgejegbuch, jondern fie geraten jogar mit dem Strafgejeßbud) in bedenklich nahe 
Berührung. Welchem Zwecke jollen fie nach Abficht des Herrn & dienen? Doch wohl 
dem, feinen Abjag in Schaummeinen dadurd zu jteigern, daß jeine Abnehmer einen 
anjcheinend und nach dem Glauben der Leute bejiern und Eoftbareren Wein um ver: 
hältnismäßig billigen Preis erhalten. Herr & will freilich feine nächjten Abnehmer 
biermit nicht täufchen, denn ihnen bietet er die faljchen Etiketten ausdrüdlidy als 
falih an; umfo gewiffer aber muß er fich jagen, daß die Wiederverkäufer feine 
falſchen franzöfiichen Etiketten den echten deutjchen nicht bloß um harmloſer Spielerei 
willen, jondern zumeift aus dem Grunde vorziehen werden, weil mit denfelben 
dem Schaummein der Anſchein eines aus Franfreicd eingeführten, für bejjer und 
wertvoller gehaltnen Weines gegeben und derjelbe vermöge dieſer Täufchung leichter 
oder um höhern Preis zu verkaufen jei, mit andern Worten, daß feine Abnehmer die 
franzöfifchen Etiketten zum Zwecke der Täufhung andrer bejtellen. Dies wird auch 
dadurdy nicht anderd, daß Herr X den Schaummein aus franzöfifhen Weine hat 


96 Notizen. 





berftellen fafjen, denn ein Schaummein, der in Deutfchland aus franzöſiſchem Weine 
gemacht wird, ift darum noc fein franzöfiiher Schaumwein; befanntlih kommt 
e8 bei diefem künſtlich bereiteten Getränf cbenjolder auf die Art und Weiſe der 
Zubereitung, al3 auf das dazu verwendete Gewächs an, und gewiß wird jemand, 
der im Wirtöhaus einen Schaummwein mit franzöfifher Firma aus Rheims oder 
Epernay verlangt, nit einen foldhen haben wollen, den Herr X in der Pfalz 
aus franzöfifchem Wein hat machen laſſen. Da die Etiketten unftreitig Privat- 
urkunden find, läßt fich fragen, ob mit deren Gebrauch zum Zwede der Täufchung 
nicht ein Verbrechen der Urkundenfälfhung begangen wird. Hierzu wird im Geſetz 
eine jolde Privaturkunde vorausgefeßt, weiche zum Beweis von Rechten oder 
Rechtsverhältniſſen von Erheblichkeit iſt. Die Aufichrift auf einer Flaſchenetikette 
dient zwar zunächjt nur zum Beweis der Thatfache, daß der Inhalt der Flaſche 
von der auf ihr genannten Firma berrühre, aber diefe Thatfadye iſt injofern eine 
vechtserhebliche, al3 aus ihr entnommen werden fann, daß die genannte Firma 
für den Inhalt Gewähr leiſte, daß fie fich ihrem Abnehmer gegenüber rechtlich 
für diefen Inhalt verpflichtet habe. Diefes Nechtsverhäftnis zwiichen dem Urheber 
und feinem erften Abnehmer tritt jedoch beim Wiederverfauf jo jehr zurüd, daß 
dem dritten Abnehmer gegenüber die Etikette nicht leicht al8 für den Beweis von 
Rechten oder Nechtsverhältnifien erheblich in Betracht kommt. Wird c3 fidh daher 
auch bei ihrem Gebraudy in den hier vorauszufegenden Fällen nicht um ftrafbare 
Fälſchung handeln, jo liegt doch umfo gewifjer der äußere Thatbeſtand des Ver— 
gehend des Betruges vollitändig vor. Wer den Schaummein mit falfcher Etifette 
aus zweiter oder dritter Hand fauft, ohne zu willen, daß die Etikette falſch ift, 
wird durd) die WVorfpiegelung einer falſchen Thatſache getäufcht und hierdurdy, da 
er für fein Geld eine Sache andrer und weniger gejhäßter Art erhält, als welche 
er erhalten wollte, an feinem Vermögen geſchädigt. Here X aber fegt feinen 
Schaummwein mit den faljchen Etifetten in den Verkehr, um größere Gejchäfte zu 
machen, als er ohne fie machen würde, alfo um fi) einen Vermögensvorteil zu 
verichaffen, und zwar einen rechtswidrigen, denn er Hat fein Recht auf Vergrö— 
Berung feines Abſatzes durch Ausbieten feiner Waare unter andrer als jeiner 
eignen Firma. Sedenfalls hätte dem Herrn & bei einigem Nachdenken über fein 
Vorgehen Har werden können und follen, daß er damit andern Gelegenheit zum 
Betrug eröffne, daß er zu folhem geradezu einlade und jeine Beihilfe zuſichere 
und fi hiermit dem Verdacht ausjege, jelber betriigen zu wollen. 

Dieſe Folgerungen aus jeinem Thun hat er offenbar nicht gezogen, er hat ſich 
im Eifer des gejchäftlichen Wettlampfes zu einem Mittel verleiten laſſen, defjen wahre 
Eigenschaft und Tragweite er nicht erkannt, das er vielmehr für erlaubt und nicht 
unehrenhaft gehalten hat. Das aber gerade ijt ed, was uns zu gegenwärtiger Ein- 
jendung Anlaß giebt. Nicht jo gar felten und ſelbſt in Kreifen, welche ftreng auf 
kaufmännische Ehre halten, kann man noch Gejhäftsleuten begegnen, bei denen der 
Sinn für das Rechte eine gewifje Trübung erleidet, jobald ihr eigner, gejchäftlicher 
Nugen in Frage kommt. Hier kann nur ein fchonungslojes Aufdeden Härend 
wirken, und es ericheint als Pflicht, da, wo die Verfennung der Schranke zwijchen 
ehrlichen faufmännifchem Streben und unehrlichem Schwindel offen zu Tage tritt, 
öffentlich aud) die wahre Eigenfchaft ſolchen Gebahrens bloßzulegen und damit nad) 
Möglichkeit zu gründlicher Ausrottung des Schwindels beizutragen. 








Fir die Redaktion verantwortlid: Johannes Grunow in Leipzig. 
Verlag von Fr. Wild. Grunow in Leipzig. — Drud von Earl Marquart in Leipzig. 





Das Programm des Toryfabinets. 


5 EN ie neuen Minifter haben in voriger Woche im Parlament die 

4# | Politik, die fie zu verfolgen gewillt find, in großen Zügen ent: 

\ wicelt, und wir wiſſen nun wenigſtens, was fie in innern und 

auswärtigen Fragen zunächjt vorhaben. Won bejondrer Be— 

u deutung ift dabei die Rede, welche der Premier Marquis Salis- 
bury am 6. d. M. im Oberhaufe hielt, und in diefer wieder nehmen die Aus— 
einanderjeßungen die erjte Stelle ein, die der neue Premier in betreff feiner 
Anfichten und Abfichten in den auswärtigen Fragen des Tages machte, 

Für die wichtigite unter den leßtern fieht er diejenige an, welche die Unter- 
handlungen mit Rußland über das nordweftliche Afghanijtan hervorrief, und 
jeine Erklärung läuft hier in der Hauptjache auf folgende Gedanken und Vor— 
jäge Hinaus. Wir müfjen fürs erſte die Bolitif unſrer Vorgänger an der 
Stelle wieder aufnehmen, bis zu der fie damit gelangt find, und uns bemühen, 
fie zu einem Ergebnifje zu bringen, welches den Interefjen Englands entipricht. 
Unfre Erklärungen und unſer Handeln find weſentlich durch den Umſtand be= 
\hränkt, daß wir die von unjern Amtsvorgängern eingegangenen Verpflichtungen 
zu erfüllen Haben. Die hauptſächlichſte Meinungsverjchiedenheit iſt hier der 
Pak von Zalfifar, Hinfichtlich dejjen England dem Emir Abdurrachman die 
Bufage erteilt hat, er jolle bei der Grenzbejtimmung den Afghanen verbleiben. 
Das ift für ung eine Lebensfrage, und jo können wir davon nicht abgehen; 
allen, die uns ihr Vertrauen zuwenden, muß bewieſen werden, daß England 
bei feinen Berjprechungen Wort hält. Allerdings ift hier die Zujage engliſcher— 
ſeits erjt erfolgt, nachdem Rußland in London ein gleiches verjprochen hatte, 
und e3 find dann Meinungsverjchiedenheiten Hinfichtlich der Ausführung ents 
ftanden, über welche noch unterhandelt wird; indes waltet dabei auf beiden 

Grenzboten IIL 1885. 13 








98 Das Programm des Toryfabinets. 


Seiten der ernite Wunſch nach freundfchaftlicher Löfung der Frage ob. Übrigens 
ift — hier beginnt der wichtigere Teil der Äußerung Salisburys über diejen 
Bunft — einer Übereinkunft, mit welcher dieſe Unterhandlungen endigen werden, 
feine entjcheidende Bedeutung beizulegen. England darf bei der Unficherheit der 
Zuftände Aſiens auf Verträge, welche deſſen Fürſten einzugehen geneigt find, 
bet der Abwägung feiner aſiatiſchen Interefjen fich nicht verlaffen. Die Re— 
gierung muß, obwohl fie fi das Vertrauen und die Freundſchaft des Emirs 
von Afghaniftan zu erhalten fuchen wird, doch zum Schuße der britischen Ber 
figungen mit Geſchick entworfene, raſch und energisch auszuführende Maßregeln 
treffen, mit denen fich die Grenze an ihren jeßt ſchwachen Stellen verteidigen 
läßt. Es find Bollwerfe notwendig, die nicht nur die Grenze jchüßen, jondern 
weit genug über fie hinausreichen, um verhindern zu können, daß der Striegs- 
ſtrom ihre Füße bejpüle Wir hoffen, daß Vorbereitungen diejfer "Art — unter 
denen die Erhebungen der nordafghaniichen Städte Maimene, Kanduz u. a. zu 
Itarfen Feltungen und Belegung derjelben mit engliichen Garnifonen verftanden 
wird — nie werden aufgegeben oder vernachläffigt werden, gleichviel, welche 
Partei am Ruder jein wird. 

Was dann die ägyptiiche Frage angeht, jo war der Gedanfengang in 
dem von Salisbury entwidelten Programm im wejentlichen folgender. Die 
Schwierigfeiten, denen wir bier gegenüberftehen, find jehr groß. Bevor wir 
uns über ein definitives Verfahren entjcheiden, find alle bisher unternommenen 
Experimente zu prüfen und alle neuen Pläne jo abzuwägen, da man einmal 
gethane Schritte nicht zurücdzuthun nötig hat. Die Politik der Regierung muß 
eine jtetige fein, ohne irgendwelches Schwanfen. Die erjte Frage, die hier in 
Betracht kommt, ift der Feind, der fiegreich in Chartum und in Suafin fteht; 
es fragt fich, wie die Streitkräfte Ägyptens zu verwenden find, um ein fana- 
tifches Barbarentum fernzuhalten und die ettvaigen Grenzen Ägyptens derartig 
zu fidhern, daß die Bivilifation, die England zurüdzulaffen wünjcht, wenn es 
jeine Truppen das Land räumen läßt, ungefährdet fortblühe. Hier ift fchon die 
militärische Schwierigkeit ſehr erheblich, noch größer aber die politiihe. Eng. 
land kann den Sudan nicht ganz feinem Schidjal überlafjen, es fragt ich nur, 
wieviel davon bei Ägypten bleiben und wieviel unter defjen militärijcher Auf- 
ficht ftehen muß. Erſt nach Entjcheidung diefer Frage werden wir Ägypten in 
einen geſicherten Zuftand verjegt haben. Weit wichtiger noch ift aber die finan- 
zielle Schwierigfeit, vor Deren Überwindung nicht3 unternommen werden fann. 
Diplomatische Hinderniſſe ftehen einer Operation auf Grumd der abgejchlofjenen 
Finanzkonvention im Wege, und wenn diejelben Befeitigung erhoffen laſſen, jo 
find fie doch dermalen noch nicht bejeitigt, und ſolange dies nicht der Fall ift, 
bleibt die finanzielle Lage mißlih und ein Hindernis für jeden Fortſchritt. 
Wäre die Befeitigung unmöglich, jo müßten Mafregeln ftrenger Sparſam— 
feit ergriffen werden, um das finanzielle Gleichgewicht in befriedigendem Maße 


Das Programm des Toryfabinets. 99 


herzujtellen. Zu alledem fommt endlich noch die hochwichtige und jehr ernite 
Frage über die Regelung der internationalen Beziehungen, des Verhältniſſes 
Ägyptens zu den andern Ländern. Die Huge und umjichtige Politik, welche 
zur Erledigung diefer Fragen erforderlich iſt, erheifcht Zeit. Es ift unmöglich, 
AÄgypten in dem Zuftande, in welchem es fich bei der Landung der englischen 
Armee befand, wicderherzuitellen, wenigitens müßte die Regierung dann für ihr 
Vorgehen einen ziemlicd) langen Weg einjchlagen. Der Khedive hat fich gegen 
England jtet3 loyal gezeigt, und jo iſt diejeß durch alle Erwägungen der Ehre 
an ihn gebunden. 

Schließlich drüdte der Premier die Hoffnung aus, die Seffion des Par- 
laments bald jchließen zu fünnen, und erklärte, daß er die Auflöfuug desjelben 
nicht zu verjchieben beabjichtige, und daß er erwarte, die neuen Wahlen würden 
etwa am 17. November vorgenommen werden können. Später ſprach Lord 
Garnarvon über die Politif der Regierung Hinfichtlich Irlands, und zwar jagte 
er, dad Kabinet jei entichloffen, eine Erneuerung der Ausnahmegeſetze nicht zu 
verlangen, jie wolle Irland nur nad den gewöhnlichen Gefegen verwalten. Wir 
bemerken hierzu, daß die irische Frage im neuen Kabinet rajch entjchieden werden 
müßte. Sie war fir Salisbury mehr eine parlamentarische al3 eine politische 
Frage. Die eigentlichen Whigs im Parlament find allerdings der Meinung, 
Irland laſſe jich nur mit dem Ausnahme- oder Zwangsgejege regieren, die 
radifalen Bundesgenojjen derjelben aber verwerfen dieſe Anficht mit größter 
Entjchiedenheit, und diefer Zwieſpalt der beiden Flügel der bisherigen Re— 
gierungspartet trug wejentlich zum Falle des Minifteriums Gladjtone bei. Es 
lag durchaus im Intereſſe Lord Salisburys, ſich die hierin difjentirenden 
Elemente der PBarteifoalition zu gewvinnen, an deren Spitze Gladjtone regierte. 
Noch mehr vielleicht hatte der neue Premier die Barnelliten zu berüdjichtigen, 
die bei der Abjtimmung gegen jeinen Vorgänger den Ausjchlag gegeben Hatten, 
und deren Hoffnungen er nicht täufchen durfte. Wenn er das Zwangsgeſetz 
fallen ließ, jo folgte er der Pflicht parlamentarischer Selbfterhaltung, und die 
Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit der Sache fam dabei nicht in Frage. 

Daran jet gleich ein Wort über die gegenwärtige Stellung Gladftones zu 
dem neuen Slabinette gefmüpft. Man darf diejelbe als nicht ungünstig bezeichnen. 
Venigitend jagte er der Regierung am 7. d. M. im Parlamente feine Unter: 
jtügung ziemlich) unummwunden zu, und da er über die Liberalen faft unein- 
geichränft verfügt, jo bedeutet dieſes Verjprechen ungefähr den Beiftand der 
ganzen Partei — d. h. für die Zeit bis zu den Wahlen und unter der Voraus: 
jegung, daß die Mintfter nicht weiter gehen, als bis zu den Punkten, die 
Salisburys Programmrede bezeichnet. Wenn die Tories die afghanifche Grenze 
jo regeln, dat Zalfikar auch in Zukunft zum Gebiete des Emird gehört, wenn 
fie die finanziellen Schwierigkeiten in Agypten aus dem Wege zu fchaffen ver- 
juhen, und wenn fie ſich getrauen, Irland ohne Zwangsgejeß zu regieren, jo 


100 Das Programm des Toryfabinets. 


giebt ihnen Gladftone feinen Segen dazu. Es ijt ungefägrlich a ſieht * 
mütig aus. „Es iſt ja ſo ziemlich unſer Programm, kann er ſich ſagen, und 
wir werden ſehen, ob die neuen Herren es beſſer machen werden als wir, ob 
ſie für den Zweck, ſcharfſichtiger als wir, auch die rechten Mittel finden oder 
ebenfalls in der Ausführung ſtecken bleiben werden.“ Um den Miniſtern eine 
Beſchleunigung der Beratung des Budgets zu ermöglichen, widerſprach er nicht, 
als zu dieſem Ende Verwendung aller Seſſionstage (mit Ausnahme der Freitage) 
beantragt wurde. Das Gewicht feines Einfluffes zeigte fich bei den Abjtimmungen 
diejes Abends fofort: Lawſons Miftrauensantrag wurde mit 151 gegen 2 Stimmen 
abgelehnt, und der Antrag des Schagkanzlers, zur Ausstattung der Prinzejfin 
Beatrice die Summe von 30000 Pfund Sterling zu bewilligen, fand Annahme 
mit 153 gegen 22 Stimmen. Die Situng lieg übrigens deutlich erfennen, wer 
auf der einen und wer auf der andern Seite Führer der Partei im Haufe der 
Gemeinen ift. Im Lager der Liberalen führte felbftverftändlich Gladftone, the 
grand old man, das Wort, für die Konfervativen aber jprach nicht Hicks Beach, 
dem es eigentlich zugefommen wäre, jondern Churchill, der neue Staatsſekretär 
für Indien, von dem wir wahrjcheinlich in der nächſten Zeit noch viel hören 
und zu berichten haben werden. 

Die Rede Salisburys muß durch Ton und Stil überall einen guten Eindrud 
gemacht haben, bejonders wenn man jie mit den frühern mündlichen und ſchrift⸗ 
lichen Äußerungen des „großen Greiſes“ vergleicht, der ihm in der Leitung 
der englischen Staatsgejchäfte voranging. Dort cine Fülle rhetorischer Phrajen, 
ducch die man erjt hindurch muß, bevor man fich einigermaßen klar wird, was 
der Redner eigentlih will und nicht will, Widerjprüche und Verhüllungen. 
Hier bei Salisbury einfache Klarheit, Logik, die fich ihrer Ziele und dejjen, 
was möglich, was jchwierig, was unausführbar jcheint, wohlbewußt ijt. Es iſt 
wahr, über die Wege, welche über die Schwierigkeiten hinweg oder um fie herum 
führen jollen, erfahren wir wenig, der Premier entwicdelt fein jehr ins einzelne 
gehendes Programm, ja er jagt der Welt faum neues von bejondrer Bedeutung, 
aber jeine Ausführungen lafjen doch die Grundfäge erkennen, von welchen das 
Minifterium ſich leiten lafjen würde, wenn es nach den Wahlen frei werden 
jollte. Mehr noch als die einzelnen beftimmten Angaben hinſichtlich Afghani— 
ſtans umd Ägyptens befriedigt die aus den Worten Salisburys hervorleuchtende 
Adficht, die Wiederholung der Schwankungen, der unüberlegten Fortichritte und 
der überrafchenden Nüdjchritte der englifchen Politik unter Gladftone zu ver— 
meiden, und eine feſte Haltung zu beobachten, die zugleich vorfichtig, friedlich 
und ehrlich fein kann. Gladftone war immer auf dem Wege, ein mündliches 
Abkommen, eine vorläufige Vereinbarung abzufchliegen, eine Deflaration zus 
ftande zu bringen. Salisbury erflärt dagegen, daß er ſolchen Dingen feinen 
Wert beilege. Gladſtone ftrebte als der Träumer, der er auf dem Gebiete der 
auswärtigen Politit im Grunde ift, lange Zeit und nach kurzer Unterbrechung 


* 


Das Programm des TCorpkabinets. 101 








durch die Affaire am Kafchkfluffe von neuem nach einem Freundichaftsbunde 
mit Rußland; Salisbury deutet, feiner Vergangenheit getreu, verftändlich an, 
daß er die Ruſſen als entjchiedene Nebenbuhler und Gegner in Aſien betrachtet 
und einen Ausgleich mit ihnen, der Dauer verheigt, für ein Ding der Unmög- 
lichfeit hält. Gladjtone war endlich der Meinung, man dürfe die Verteidigungs— 
anjtalten für Indien nicht zu weit hinausjchieben, und er war wohl nicht ab- 
geneigt, unter Umjtänden Herat und jelbit ganz Afghanijtan preiszugeben ; 
Salisbury ijt im Gegenteil überzeugt, daß die Bollwerfe Judiens weit nad) 
Norden hinausgebaut werden müſſen, damit der Kriegsſtrom dejfen Grenze nicht 
beipüle. Man wird bald jehen, wie das in Petersburg berührt hat. Über die 
andre große Schwierigkeit, Ägypten, fonnte Salisbury wenig jagen, aber was 
er fagte, lautete befriedigend, indem er die Abficht fundgab, mit dem unglüd- 
lichen Lande, an dem England fich jo ſchwer vergriffen hat, in fefter und vor: 
fichtiger Weije vorzugehen. Er befigt nicht den Zauberjtab, der nötig wäre, 
wenn das dortige Wirrjal mit einem Schlage aufgelöjft werden jollte. Die 
neuen Minister übernehmen hier eine ungeheure Erbjchaft von finanziellen, mili- 
tärischen und politischen Verpflichtungen und Lajten, bei der man fie jchon loben 
würde, wenn ihnen nur einiges gelänge und anders nur halb mißriete. Salisbury 
nahm ſich hier vor entſchiednen Erklärungen in Acht, und er that weile daran. 
Er jteht Hier nicht bloß einer Großmacht, fondern einer Koalition aller bedeu— 
tenden Mächte des europäischen Feitlandes gegenüber, unter denen das deutjche 
Reich mit Fürſt Bismard ift, mit welchem ſich die Torics auf möglichit guten 
Fuß ftellen möchten. Trotzdem ließ der Redner durchbliden, daß er England 
al3 berufnen Protektor des Nillandes betrachtet. „Wir“ müſſen deſſen Fi— 
nanzen ordnen, jagte er. „Wir fünnen den Sudan nicht ganz feinem Schick— 
jal überlajjen. „Wir müfjen ung mit der Frage beichäftigen, wie das Ber: 
hältnis Ägyptens zu den andern Mächten zu regeln ift. Das Elingt nicht nad) 
der Auffaffung Gladftones, nach welcher der Staat des guten Chedive Tewfik 
ein „afrifanisches Belgien,“ neutral und unantaftbar fein joll. Es iſt möglich, 
daß es den Tories gelingt, die internationalen Beziehungen Englands jo zu 
verändern, daß ſie Ausficht gewinnen, auch die internationalen Bezichungen 
Agyptens zu regeln. Wir gehen nicht weiter auf diefen Punkt ein und jagen 
nur, daß es nicht an einem Hinweiſe fehlt, wie das zu bewerkitelligen it. 
Werfen wir noch einen Bli auf die gegenwärtige parlamentarifche Lage 
Englands und deren vorausfichtliche Entwicklung in der nächſten Zeit. Die- 
jelbe gleicht einem Drama, bei dem das Hauptintereffe in den letzten Akt fällt. 
Noch niemals haben, wie e8 bis jeßt jcheint, die Liberalen jo gelafjen zuge: 
jchen, als ihre politischen Widerfacher zur Herrfchaft gelangten, und dieje Gleich: 
giltigleit ift nicht unbegreiflih. Sie erklärt fi u. a. aus dem Glauben, daß 
das Kabinet Gladſtone fich offenbar Glück wünjchte, daß jein Tod jo rechtzeitig 
und jo janft eintrat, und aus der Hoffnung, daß die neuen Leute, die bei den 


102 Das Programm des Toryfabinets. 

Herbitwahlen zum erjtenmale ein Wort mitzujprechen haben jollen, der Mehr- 
zahl nach liberal fein werden. Infolgedejfen betrachtet man das Toryregiment, 
das früher als Nationalunglüd und als Pandorabüchje, gefüllt mit allerhand 
jchredlichen Dingen, verjchrieen wurde, gutgelaunt, wo nicht apathifch, und das 
wird ohne Zweifel fortdauern, wenn der Leiter des neuen Kabinets jich jo Klug 
zeigt, als er patriotisch ijt, und jo vorfichtig Handelt, ala er flar und feſt ge- 
Iprochen hat. Der Kurs, den er zu fteuern Hat, ijt ihm durch die Umftände 
vorgeichrieben; er iſt alſo nicht fo frei und nicht jo verantwortlich wie ein 
andrer Lenfer des britiichen Staatsichiffes. Er iſt der Minister einer Minorität, 
die zur Macht gelangte, weil die Majorität zufällig oder aus Indifferenz einmal 
unterließ, einen finanziellen Vorſchlag ihres eignen Führers zu unterjtügen. 
Er hat vorläufig nur die Bedeutung eines zeitweiligen Verwalters der laufenden 
und dringend notwendigen Gejchäfte des Landes, welches ſchon in fünf Monaten 
jein Verdift über Bleiben oder Gehen der Tories abgeben wird. Er kann des— 
halb feine neuen Wege einfchlagen, Feine fräftige Initiative wagen, fondern muß 
ji) im ganzen auf den Geleifen bewegen, in denen feine Vorgänger zulett 
fuhren. Dazu fommt in betreff der auswärtigen Politik ein andrer Umstand, 
der Borficht empfiehlt und rajche Anläufe in neuer Richtung verbietet. Salis- 
bury würde, wenn er mit andern Kabineten fich auf neuen Grundlagen ver- 
ftändigen wollte, nicht mit dem Anſehen jprechen können, welches dazu erforder- 
lich wäre. Fremde Staatsmänner fennen das Unfichere und Proviforifche feiner 
Stellung, fie wifjen, daß die baldige Rückkehr der Partei Gladftones ins Amt 
wo nicht wahrjcheinlich, doch ſehr möglich ift, und daß er jelbjt in dem Falle, 
daß die Wahlen dem jegigen Kabinet im Unterhaufe die Mehrheit verichafften, 
für feine fünftige Politik jchwerlich ſehr viele Mitglieder über die Hälfte auf 
feiner Seite jehen wird. Es würde deshalb unflug fein, wenigitens für bie 
nächjten Monate, wenn eine auswärtige Macht darauf hoffen wollte, mit einem 
von ihm geleiteten England zu einem dauernden Einvernehmen in wichtigen 
Fragen zu gelangen. Aber zum Glück für ihm und feine Kollegen Liegen die 
Dinge in diefem Bereiche jo, daß die Windftille, die hier zunächſt Herrchen 
wird, ihm nicht jchaden fan. Mit andern Worten: die gegenwärtige Sach— 
lage verlangt von dem Toryminifterium nirgends einen neuen und fühnen Ent- 
ſchluß. An der afghanischen Nordgrenze werden Salisbury und Churchill zu— 
vörderjt bloß das Kompromiß auszuführen haben, welches Granville mit Giers 
nahezu abgejchlofjen hatte, al3 er abtrat. Die Räumung Dongolas ift joweit 
vollzogen, daß eine volljtändige Wiederbejegung für jegt jehr jchwierig, wo nicht 
unmöglich) erjcheint. Der Mahdi zögert mit feinem Vorrüden nad) Ägypten, 
und Suafın befindet fich noch in den Händen der Engländer. Die Ausführung 
des Finanzplanes für Ägypten, die bei Gladitones Rücktritt ftocte, läßt fich 
einigermaßen bejchleunigen, aber in der allgemeinen ägyptifchen Frage darf 
Salisbury jet nicht daran denken, wejentlich andre Ziele ins Auge zu faſſen 


Das Programm des Loryfabinets. 103 








al3 jein Vorgänger. Die Tories werden der Pforte gegenüber freundlicher 
auftreten al3 die Liberalen, und fic werden vermutlich von Berlin fommenden 
Winfen und Wünjchen cin aufmerfjameres Ohr leihen als diefe. In allen 
diefen Angelegenheiten müjjen aber die Ereignijfe ihre Politik bejtinunen, und 
fie werden fich für die nächte Zulunft damit zu begnügen haben, die laufenden 
Gefchäfte prompt zu erledigen und wachlam auszufchauen, was fich für die 
folgende Beit entwiceln will. Das gilt auch von Irland. Geduld, Wohlwollen 
und das gewöhnliche Gejeg find Hier die Parole. Doc, iſt Salisbury hier vor: 
teilhafter gejtellt al3 jeine Vorgänger, welche als Urheber und Exefutoren der 
Crimes Act ich troß der großen Wohlthaten, die fie den iriſchen Pächtern 
durch andre Gejeßvorjchläge erwieſen, den Haß aller derer zuzogen, die in Un— 
ordnungen und Berbrechen die beiten Mittel zum Kampfe gegen die englijche 
Berwaltung ber grünen Injel erblidten. 

Die Hauptſache bleibt bei allen dieſen Betrachtungen jchlieglich die Be- 
antwortung der Fragen: Wie werden die herammahenden Barlamentswahlen 
ausfallen, und wird dad Toryminifterium dieje überleben? Welche Wirkung 
wird die jeßige windjtille Zeit auf die Wähler ausüben? Und das ift mit 
Beitimmtheit kaum zu jagen. Wenn Lord Salisbury in feiner Politik Wege 
verfolgt, die Vorteile verfprechen, und bei denen er nicht zu jtark gegen Grund» 
ſätze verjtößt, welche bis jetzt die Mehrheit der Engländer beherrichten, jo wird es 
nicht zu einem fo gewaltjamen Ausbruche gegen die Tories fommen, wie er 1880 
in der Midlothian-Kampagne erfolgte, wo Gladjtones Beredjamfeit die Bahnhöfe 
von feinen leidenjchaftlichen Anſprachen wiederhallen lieg und das Wähler- 
gewimmel wiederholt den Eijenbahnverfehr ing Stoden brachte. Die Partei 
Salisburys und Churchills, die damals als ein Haufe politischer Ungeheuer in 
Menichengeitalt Hingeftellt wurde, wird dann einige Monate am Ruder gejtanden 
haben, ohne das Staatsichiff in „blutigen Ruin und offenkundigen Gejegbruch“ 
hineingefteuert zu haben. Die Liberalen andrerjeits werden, jtatt auf ihre Ver— 
gangenheit Hinzumeijen, die in Verwaltungsjachen und bejonders in den aus— 
wärtigen Angelegenheiten nicht viel Rühmliches und Empfehlendes von fich zu 
jagen gejtattet, die Grundzüge einer zukünftigen Politik vorlegen müſſen, welche 
die Mafjen zu gewinnen geeignet ift, fie werden dabei Schwierigkeiten finden 
und maßvoll aufzutreten gendtigt fein. Man darf alfo annehmen, daß fie nicht 
den Feuerbrand jchwingen werden wie bei den Wahlen von 1874 und 1880. 
Bei jenen jah man den Verdruß aller Klaffen und Interefjenten auflodern, welche 
ein in großem Stile reformirendes Minifterium fünf Jahre lang vor den Kopf 
geitoßen Hatte. Bei diefer erklärte fich die öffentliche Meinung mit Ungeftüm 
für Ablaſſen von „imperiafiftiichen Abenteuern“ und Aufgeben jeder friegerijchen 
Politif. Die Enttäufchung, welche die Liberalen mit diefen Forderungen erlebt 
haben, wird ihren frühern Eifer ſtark abjchwächen, aber es folgt daraus nicht, 
daß es der Partei unmöglich fein wird, bei der ruhiger denkenden, ernüchterten 


104 Das Programm des Toryfabinets. 





Nation eine genügende Mehrheit zu gewinnen. Wie berichtet wird, machen 
fich in manchen Städten und Gegenden Anzeichen von Gleichgiltigfeit gegen 
Programm und Führung der Liberalen bemerflic), nad) denen ein Sieg der 
Konfervativen zu erwarten wäre, doch wird darauf fein großes Gewicht zu 
legen fein. Dagegen bürfen die Liberalen viel von der Million Ländlicher 
Handwerker Hoffen, welche jegt Stimmrecht erhalten und ſich desjelben — weniger 
aus Hoffnung als aus Dankbarkeit —, ähnlich wie ihre jtädtiichen Berufs- 
genofjen, zugunjten Gladftones bedienen werden. Was die andre Million neu: 
hinzufommender Wähler, die bei der Landwirtjchaft beichäftigten Arbeiter, be- 
trifft, jo tappt man völlig im Dunkeln. Die Nadifalen verjprechen fich hier 
viel von der Wühlerei gewifjer außerhalb der Epijfopalfirche jtehenden Geift- 
lichen, und es mag fein, daß die zu den Tories haltenden Landjunfer und 
Pfarrer es umnterlaffen haben, fich des guten Willens des armen Lazarus vor 
ihrer Thür zu verfichern. Es fann zu einer Wahlichlacht ähnlich der von 1859 
fommen, als Lord Derby an das Volk appellirte. Die Konjervativen hatten 
damals eine kurze Zeit regiert, ohne fich in Mißkredit zu bringen. Die Zibe: 
ralen waren weder jchr warm für ihre Sache, noch einig, ganz wie jet, und 
doch endigte der Wahlakt damit, daß Palmerjton eine Majorität erhielt, Die 
zwar nicht groß, aber genügend war, um ihm ein jechsjähriges Regieren zu er- 
möglichen. Zwei Faktoren, die damals fehlten, werden jegt vorhanden fein: 
die neuen Wähler und das KKontingent der Anhänger Parnelld. Die mit Stimm: 
recht bejchenkten ländlichen Wähler fünnen in die englische Geſchichte ein radi- 
fales8 und revolutionäre Element hineintragen und gefährliche Umwälzungen 
vorbereiten, und eine irische Partei in der Stärfe von etwa achtzig Köpfen 
würde etivas jeit dem Anfange diejes Jahrhunderts unerhörtes fein. 

Der Ausfall der Wahlen zur Wiederbejegung der Parlamentsfite, welche 
durch den Eintritt der betreffenden Abgeordneten in Regierungsämter erledigt 
worden waren, ijt für die Konſervativen ſehr günjtig, für die Liberalen eine 
unerfreufiche Überrafchung geweſen, aber auf die bevorftchenden allgemeinen 
Wahlen läßt fich daraus doch nur ein bejchränkter und bedingter Schluß ziehen. 





Die Reden des Fürſten Bismard. 


ie „Kollektion Spemann* hat e3 unternommen, unter dem Titel 
„Fürſt Bismard als Redner“ dem deutjchen Wolfe eine voll- 
jtändige Sammlung der parlamentarifchen Reden unſers Reichs— 
fanzlers zu liefern. Die Sammlung (geordnet von Wilhelm Böhm) 
erläutert durch einige Vorbemerkungen den Zufammenhang einer 
jeden Nede und giebt auf dieſe Weife ein ziemlich überfichtliches Bild der Ver- 
handlungen, bei denen Fürjt Bismard ich beteiligt hat. Das erjte Bändchen, 
welches zum fiebzigiten Geburtstage des Reichskanzlers erichien, umfaßte die 
Reden der Jahre 1847 bis 1852. Jetzt ift auch das zweite Bändchen mit den 
Reden der Jahre 1862 bis 1866 erjchienen. Diejer Zeitraum, die jchwere Zeit 
des preußifchen Verfaſſungskonfliktes, ift ja vielen — jo auch dem Schreiber 
diejer Zeilen — noch in lebendiger Erinnerung. Und dennoch rufen dieſe 
Reden, deren Einzelheiten wohl den meijten entfallen fein werden, beim Durch: 
leſen wieder einen mächtigen Eindrud hervor. Ein gewaltiger geiftiger Kampf 
zieht vor unjern Augen vorüber. Auch wird manches geklärt, was im Laufe 
der Zeit fich einigermaßen verdunfelt hat. Man macht fich gewöhnlich von dem 
fogenannten Verfaſſungskonflikte eine unrichtige Vorjtellung. Man glaubt, das 
Abgeordnetenhaus habe den Haren Wortlaut der Berfafjung für fich gehabt, 
und die Regierung habe fich über diefen Wortlaut hinweggeſetzt. So lag die 
Sache in Wahrheit nit. Es war durch die Komplikation des Falles eine 
Lage geichaffen, bei welcher die Regierung den Wortlaut der Verfaffung aller: 
dings nicht für fich, aber auch nicht gegen fich hatte. Es ift ja unzweifelhaft, 
daß das aus der altlandjtändiichen (urjprünglich völlig freiwilligen) Steuer- 
bewilligung hervorgegangene Budgetrecht der Volksvertretungen eine der wich: 
tigiten Garantien des fonjtitutionellen Staatsrecht3 bildet. In der preußtichen Ver: 
jafjung hat aber diejes Budgetrecht nur einen unvolllommenen Ausdrud gefunden. 
Die Bewilligung der „Einnahmen“ ift ſchon dadurch bejchränft, daß alle durch 
Geſetz angeordneten Steuern ohne weiteres erhoben werden dürfen. Überdies 
it die Bewilligung von „Ausgaben und Einnahmen” an die Form des Staats— 
haushaltsetats geknüpft, welcher „jährlich durch Gejeg feitgeitellt wird.“ Bei 
diejem Gejeg hat nun auch das Herrenhaus mitzumwirfen, darf jedoch den Etat 
nur im ganzen annehmen oder — „ablchnen.“ So jagt ausdrüdlich Artifet 62 
der Berfafjung. Nun fam im Jahre 1862 die Oppofition des Abgeordneten- 


haujes auf den unglüdlichen Gedanken, die im Etat angejegten au für Die 
Grenzboten II. 1885. 





106 Die Reden des Fürſten Bismard. 


—— bes Heeres zu ſtreichen. Bereits at waren biefe Koften, 
allerdings nur „provijorisch,“ bewilligt, und es war die Neuorganifation auf 
Grund diefer Bewilligungen ins Leben gerufen worden. Der jeht erfolgende 
Abjtrich bedeutete aljo nichts geringeres als das Berlangen, die Neuorgani- 
jation rüdgängig zu machen. Da machte nun das Herrenhaus — ohne Zweifel 
den Wünfchen der Regierung entiprechend — von der Befugnis des Artifela 62 
Gebrauch; und lehnte den vom Abgeordnetenhaufe beichlofjenen Etat ab. Es 
fonnte alſo ein Etat: „Gejeg“ nicht erlajjen werden, ein Fall, welcher völlig 
außerhalb der Bejtimmungen der Verfaffung lag. Und nun erachtete fich die 
Negierung für ermächtigt, da das Staatsleben nicht ftillitehen könne, die not— 
iwendigen Ausgaben, einjchlieglich der für die Armecorganijation, deren Rück— 
gängigmachung als eine politische Unmöglichkeit bezeichnet wurde, auch ohne 
Etatgejeß zu bejtreiten. Es iſt ja nicht zu leugnen, daß mit Durchführung 
diefer Anficht der Beweis geführt wurde, daß das preußische Verfaffungsrecht 
in einem wejentlichen Punkte nur ein prefäres Daſein hat, und daraus erflärt 
jih die Leidenjchaftlichkeit, mit welcher die große Mehrzahl des Abgeordneten- 
haufes das Verfahren der Negierung als ein „verfafjungswidriges* angriff. 
Diefer Flut von Angriffen jtellte fich der Minifterpräfident von Bismard mit 
einem Mute ohne gleichen entgegen. Er wies darauf hin, daß alles Verfajjungs- 
leben nur auf Kompromifjen beruhe; daß, wenn jede der beteiligten Gewalten 
ihre Anfichten mit abjolutem Doktrinarismus durchjegen wolle, an die Stelle 
der Kompromiſſe Konflikte träten; dieſe Konflikte aber, da das Staatsleben nicht 
jtillftehen fünne, zu Machtfragen würden, bei denen der, welcher die Macht in 
den Händen Habe, in feinem Sinne vorgehe. Auf Grund diefer Ausführung 
wurde ihm dann vorwurfsvoll der Ausspruch in den Mund gelegt: „Macht 
geht vor Recht,” ein Ausfpruch, den Fürft Bismard in Wahrheit niemals ge- 
than hat. 

Auch auf das Gebiet der äußern Politik ſpielte fich der Kampf hinüber. 
Im Januar 1863 brad) die polnische Revolution aus. Die Regierung ließ die 
Grenzen jtärfer bejegen und jchloß mit der ruffischen Regierung eine auf die 
Unterdrüdung des Aufjtandes bezügliche Übereinkunft ab. Den Inhalt diefer 
Übereinkunft verlangte man im Abgeordnetenhaufe zu erfahren. Der Minifter- 
präfident Ichute eg ab, darüber Auskunft zu geben. Darob großer Zorn der 
Abgeordneten, die mit unverfennbarer Sympathie fi) dem Aufftande zuwandten. 
Herr von Bismard wies diefe Sympathien zurüd mit dem Bemerfen, daß ein 
propagandiltiiches Polen die größte Gefahr für Preußen ſei, und deshalb die 
preußischen Intereffen unmöglich) in dem Lager der Infurgenten gejucht werden 
fünnten. 

Im November 1863 ftarb König Friedrich von Dänemark. Der National- 
verein verlangte die jofortige Anerkennung des Erbprinzen von Auguftenburg 
als Herzog von Schleswig-Holftein, und ihm folgte das preußijche Abgeord- 


Die Reden des Fürften Bismard, 107 





netenhaus. Herr von Bismard erklärte, daß zunächit an dem Londoner Pro- 
tofoll fejtgehalten werden müfje, aber auch dafür Sorge getragen werden folle, 
daß die bisherigen Zuftände in Schleswig: Holftein nicht fortdauerten. Ohne 
Zweifel hatte er jchon damals die Verbindung der Herzogtümer mit Preußen 
ins Auge gefaßt. Aber man verftand ihn nicht. Man jah in ihm nur einen 
Berräter an der deutichen Sache. Als im Dezember 1863 die Regierung 
„angefichtS der gegenwärtigen Gejtaltung der zwiſchen Dänemarf und Deutſch— 
land jchwebenden Streitfragen“ eine Staatsanleihe von 12 Millionen Thalern 
verlangte, antwortete das Abgeordnetenhaus zunächit mit einer Adreffe an den 
König, worin es befundete, daß es mit tiefem Leidweſen auf die Wirfjamfeit 
der füniglichen Staatsregierung blide. Auch eine königliche Botjchaft, welche 
die beruhigenditen Berficherungen gab, blieb ohne Erfolg. Die Anleihe wurde 
abgelehnt. 

Gleichwohl wurde der dänische Krieg geführte. Der Wiener Frieden 
war geichlojjen, Schleswig:Holftein und Lauenburg in den Beſitz von Preußen 
und Ojfterreich übergegangen. Damit war die Herrfchaft Deutfchlands in den 
Herzogtümern gefichert. Nun verlangte die Regierung, das Abgeordnetenhaus 
jolle wenigitens nachträglich die Beftreitung der Kriegskoſten aus dem Staats— 
ihage genehmigen. Dabei fam bereits durch einen Antrag des Abgeordneten 
Wagener die Frage der Annerion der Herzogtümer an Preußen zur Sprad)e. 
Der Minijterpräfident bat dringend, das Abgeordnetenhaus möge fich doch über 
die Zukunft der Herzogtümer ausfprechen. Aber man hatte feine andre Ant: 
wort, als Berwerfung der Vorlage. 

Auch die joziale Frage regte ich jchon damals. ine größere Anzahl 
Arbeiter der Reichenheimjchen Fabrik in Schlefien hatte eine Bittichrift an den 
König gerichtet, worin fie bittre Klage über ihre Arbeitsverhältniffe führten. 
Der Miniiterpräfident veranlafte, da cine Deputation diejer Arbeiter (die jo: 
genannte Waldenburger Deputation) von dem Könige empfangen und daß eine 
Unterjuchung ihrer Bejchwerden angeordnet wurde. Wuch gewährte der König 
aus jeinen eignen Mitteln zum Verſuche einer Produftivaffoziation der Arbeiter 
ein Kapital von 6000 Thalern. Auf Grund diefer Borgänge wurden wiederum 
im Abgeordnetenhaufe, namentlich von dem beteiligten Abgeordneten Reichenheim, 
die heftigiten Angriffe gegen den Minifterpräfidenten erhoben. Er lehnte fie ab 
mit der Hinweilung darauf, daß von jeher die Könige Preußens es als ihre 
Aufgabe angejehen haben, fich der Not und Armut anzunehmen. 

In allen diefen Fragen hat jeitdem die Geichichte ihr Urteil gejprochen. 
Niemand zweifelt heute, da die Aufrechterhaltung der Armeeorganifation eine 
Notwendigkeit war, um die Größe Preußens und Deutſchlands vorzubereiten. 
Das Zufammenhalten mit Rußland Hat fich für die deutjche Politik der fol- 
genden Jahre reichlich gelohnt; für ein jelbjtändiges Polen ſchwärmen heute in 
Deutfchland nur noch hirnverbrannte Politiker. Die Elbherzogtümer gehören 


108 Die Reden des Fürften Bismard, 





Deutjchland, und wie man auch über die Annexion an Preußen denfen mag, 
jo hatten doch preußiiche Politifer wahrlich feinen Grund, ihr zu wiber- 
jtreben. Auch in der fozialen Frage verfennen heute nur noch wenige, daß, 
wie damals jchon Herr von Bismard klar vor Augen hatte, der Staat den 
Beruf habe, joviel als möglich helfend einzugreifen. 

Daß in allen diejen Dingen damals die fait das ganze Abgeordnetenhaus 
umfafjende Oppofition die wahre Sachlage verfannte, daß fie in blindem Eifer 
für ihr Budgetrecht alles andre mihachtete, daß fie auch die mannichfachen An— 
deutungen nicht veritand, welche ihr der Minifterpräfident, wenn auch mit der 
unumgänglich gebotenen Zurüdhaltung, über jeine Pläne gab, das alles war 
ja zu verzeihen. Die Politik ift eine ſchwere Wifjenichaft, und wer fie praf- 
titch übt, dem bleiben Täufchungen ſelten erjpart. Man muß fi), wie einit 
Fürſt Bismard im Reichstage fagte, Schon glüdlich jchäken, wenn man fich in 
feiner größern politischen Frage mit feiner Voraugficht völlig geirrt hat. Was 
aber in jenen Berhandlungen auf das peinlichite berührt, das iſt die Über: 
hebung und Geringichäßung, mit welcher jene Männer fait ohne Ausnahme 
ihrem großen Gegner gegenübertraten. Da war fein denkbarer Vorwurf, den 
man nicht gegen ihm gejchleudert hätte. Daß er die perjonifizirte Reaktion jei, 
daß es fich bei ihm nur darıım handle, die Volfäfreiheiten zu unterdrüden, das 
veritand fich ganz von jelbit. Aber auch jeine Fähigkeiten wurden auf das ge- 
ringſte Maß herabgefegt. Bei diefem Minifterium, fagte ein Hauptführer der 
Linken, könne man weder auf eine große Politif in Europa, noch auf eine klare 
und wahre und freie und redliche Politik im Innern irgend einen Anſpruch 
machen. Ein berühmter Profeſſor jprach Herrn von Bismarck jedes Verſtändnis 
für „nationale Politik“ ab, und als ihn diefer darauf hinwies, daß er doch 
mehr von feinem Spezialfach als von der ‘Politik verftehe, drüdte er ſpöttiſch 
den Wunſch aus, daß ed dem Herrn Minijterpräfidenten gelingen möge, unter 
den Diplomaten Europas eine ähnlich anerfannte Stellung zu finden, wie er 
jelbft unter jeinen Spezialfollegen gefunden habe! Bon andrer Seite wurde 
als das eigentlihe Motiv für den Standpunft der Regierung die Furcht 
vor der Demolratie und die Bejorgnis vor dem Yuslande bezeichnet. Es 
wurde der Vorwurf erhoben, dab das Minifterium das Steuerruder ſtets 
nad) dem Winde drehe. Der Gang desfelben wurde ein fortgejegtes Stürzen 
und Stolpern genannt. Auch der Vergleich mit Don Quixote und einem Seil- 
tänzer, der fid) nur mit Mühe vor dem Fallen bewahre, fam aus dem Munde 
eines bewährten Parlamentarierd. Selbſt der Vorwurf eines Mangeld an 
Wahrheitsliebe wurde Herrn von Bismard entgegengefchleudert, was dann zu 
einer, von dem Redner jedoch nicht angenommenen, Herausforderung führte. 
Treific) vergalt Herr von Bißmard diefe Schmähungen den ihm gegenüber: 
jtehenden „politischen Dilettanten“ oft mit dem bitterften Spott, der fie dem 
Gelächter ihrer eignen Parteigenofjen preisgab. Wohl jelten aber hat ein 


Die Reden des Sürften Bismard. 109 


Staatsmann lange Zeit hindurch jo furchtbarer Angriffe fich zu erwehren ge- 
habt, wie während diejer Jahre der Minifterpräfident von Bismard. 

Für alle dieſe Politiker, die fich jo Hoch über Herrn von Bismard er- 
haben dünften, brachte die Schlacht von Königgrä eine moraliſche Niederlage, 
die kaum geringer war als die phyfiiche Niederlage, welche Ofterreich erlitt. 
Ein Teil derjelben war noch Hug und patriotifch genug, fortan von ihrer 
blinden DOppofition abzuftehen und dem Leiter der preußischen Politik gegenüber 
eine andre Sprache zu führen. Manche unter ihnen würden ficherlich vieles 
darum geben, wenn fie ihre früher gehaltnen Reden aus den unerbittlichen 
Brotofollen hinwegichaffen könnten. Ein andrer Teil jener Männer hielt fich 
dagegen für berufen, die Oppofition, wenn auch in etwas gedämpften Zone, 
doc noch fortzufegen. Das furchtbare Fiasko der vorausgegangnen Jahre 
glaubten fie leichten Mutes abjchütteln zu fünnen. Manche von ihnen hat 
+ feitdem der Tod hinweggerafft. Einzelne aber beharren bis auf den heutigen 
Tag in den Deflamationen von 1863, und an die Stelle der Berjtorbnen find 
andre getreten, welche ganz in deren Fußitapfen wandeln. Auch die längere 
Beit vorwaltende Schüchternheit des Ausdruds hat man mehr und mehr wieder 
abgelegt. Zwar wagt man auc) heute noch) nicht wieder, den Fürjten Bismard 
al3 einen Stümper in der auswärtigen Politik und als einen Verleugner des 
nationalen Gedankens zu behandeln. Dagegen iſt e8 nun die innere Politik, 
vor allem die Wirtjchaftspolitif, in welcher man nad) dem Urteile jener Männer 
den Fürjten Bismard der gänzlichen Ignoranz, andrer noch jchlimmerer Eigen: 
ſchaften nicht zu gedenfen, ohne Scheu zeihen darf. 

Angeſichts diefer Erjcheinungen möchten wir wünfchen, daß recht viele, 
namentlich auch jene Männer jelbit, das Heine Buch, welches uns die Ver- 
handlungen der Jahre 1862 bis 1866 in nuce wieder vor Augen führt, einmal 
durchiähen. Sie würden ſich faum verhehlen können, daß die damals gehaltnen 
Reden — wir jehen fie ja mit dem aufgeflärten Augen der Gejchichte an — 
doch eigentlich recht Findiich waren. Sollte unſern Oppofitionsmännern dabei 
num garnicht der Gedanfe fommen, daß vielleicht nach zwanzig Jahren auch 
die Reden, die fie heute Halten, der Welt ebenfo erjcheinen könnten, wie und 
ihon jet die damals gehaltnen? Und jollten fie hierin nicht eine Mahnung 
erbliden, doch wenigſtens in etwas bejcheidneren und minder anfpruchsvollen 
Formen ihre Oppofition zu führen, al& fie es zur Zeit tun? Oder genügt 
e3 ihnen fchon, daß fie im Augenblid wenigſtens einen Teil des Publikums, 
der die Gejchichte der legten Jahrzehnte bereit3 vergeffen hat, glauben machen 
fönnen, daß fie allein die Staatsweisheit befigen und ihnen gegenüber der 
Reichsfanzler nur ein fleines Licht jei? Das find die Fragen, die wir an die 
uns neu in Erinnerung gebrachten Vorgänge jener Jahre fnüpfen möchten. 





Guſtav Nachtigal in Tunis. 


eber die näheren Lebensumstände des Forjchers, deffen Tod wir 
tief betrauern, ift, was die Periode zwiſchen jeiner Neife nad) 
9 Tunis und der Übernahme feiner erjten Miffion nach Bornu be: 
trifft, verhältnismäßig wenig befannt geworden, obgleich gerade dieje 

weh Zeit für feine Entwidlung eine äußerjt bedeutungsvolle war. Es 
ift befannt, dag Nachtigal infolge eines Bruftleidens gezwungen war, ein wär: 
meres Klima aufzufuchen, und von Algier nad) Tunis ging, um dort als Arzt 
zu praftiziren; aber die fich feiner Abficht entgegentürmenden Schwierigfeiten, 
welche in den dortigen Berhältniffen ſowohl wie in ihm jelbit lagen, find bis 
jegt weniger gewürdigt worden. Und doch wurde gerade in diejen jchwierigen 
Kämpfen feine Kraft geitählt, und feine geiftige Durchbildung nahm an Inten- 
fität zu, jodaß er, als feines Königs Auf an ihn erging, in jeder Beziehung 
gerüftet feine gefahrvolle Reife antreten konnte. 

Im Nachfolgenden ſoll verjucht werden, auf Grund der an feine Schweiter 
gejchriebenen Briefe ein Bild feines dortigen Lebens zu entwerfen, und zwar 
von jeiner Thätigfeit während der tunefiichen Revolution im Jahre 1864 an. 
Das erjte Jahr feiner Anwejenheit in Tunis war ein verhältnismäßig trüb- 
jeliges gewejen; erjt von dieſer Zeit ift ein gewifjer Aufichwung in feiner Stim: 
mung und feinen Verhältniffen zu bemerken. Den Schluß werden einige wäh- 
rend feines letzten Aufenthaltes in Tunis gejchriebene Briefe bilden, für deren 
Übermittlung und Entzifferung, denn die Handichrift Nachtigals war eine mi- 
froffopifche, der Herausgeber dem Neffen des Berftorbenen, Herrn R. Prietze, 
dem das Hauptverdienjt der vorliegenden Arbeit gebührt, zu Danke verpflichtet ift. 

Die unglaubliche Mifwirtichaft der tunefischen Regierung hatte durch eine 
gewaltige Erhöhung der Kopfiteuer im Jahre 1864 einen Aufitand hervorge- 
rufen, der alles über den Haufen zu jtürzen drohte. 60—100000 Mann aus 
den wejtlichen Diftriften hatten fich zufammengerottet und forderten Abichaffung 
der Konftitution, dazu die Köpfe des Khasnadar, des Premierminifters, den fie 
hauptjächlich für ihr Elend verantwortlich machten, und mehrerer feiner Krea— 
turen. Eine gegen fie gejandte Abteilung Soldaten hatten fie zerjprengt und 
dem General derjelben den Kopf abgefchnitten. Die Regierung verjuchte bei ihrer 
unzureichenden Militärmacht zu bejchwichtigen. Die Steuer wurde wieder herab: 
gejegt, die Konjtitution fuspendirt, der Bey ſaß wieder zu Gericht, wie in den 
alten patriarchaliichen Zeiten, und namentlich das letztere Zugejtändnis, von 





Guſtav Nachtigal in Tunis, 111 


den im Grunde urfonjervativen, den europälichen Neuerungen abgeneigten 
Arabern heiß eriehnt, bewog viele, in ihre Dörfer zurücdzufehren. Die Haupt: 
mafje aber erflärte fich nicht für befriedigt, ehe micht der Khasnadar befeitigt 
fei, welchen der Bey nicht fallen lafjen wollte. Zwar veritieg ich die Revo— 
Iution infolge der angeftammten Loyalität nur bis zur Steuerverweigerung; 
man wollte die Dynaſtie nicht jtürzen, jondern nur von dem Berater befreien; 
auch war fein religiöfer Fanatismus im Spiel, mithin für die Fremden fein 
Grund zur Bejorgnis. Doc) jchon verfammelten fich zahlreiche Kriegsichiffe der 
Großmächte im Hafen von La Goletta, um zur Hand zu fein. Die Haltung 
de3 franzöfiichen Gejchäftsträgers lieh leicht erfennen, wie jehr jeiner Regierung 
ihon damals daran lag, ich um die PBazififation von QTunefien verdient zu 
machen. Vom franzöfiichen Gencralfonfulate famen ſtets die aufregenditen und 
ihlimmiten Nachrichten aus dem Innern des Landes. Der franzöfiche Ge: 
neralfonjul hatte vom Bey Abfegung und Verbannung des Khasnadar und der 
andern Kreaturen gefordert. Er war es, der Truppen and Land jehen wollte. 
Dazwiſchen langte aber cin türkischer Abgejandter an, und Frankreichs Ver— 
treter, obwohl diefe Macht die Unabhängigkeit von Tunis ſtets ohne Rüdhalt 
anerfarınt hatte, überhäufte ihn mit Ehren und Freundſchaftsbezeugungen. 

Die Lage der Regierung wurde von Tag zu Tag fritiicher; fein Geld 
fam mehr ein, man glaubte, fie werde ſich nur noch Wochen halten können. 
Sp gering war ihr Kredit, daß Dr. Nachtigal die Stelle eines Milttärarztes 
für die bevorjtehende Expedition, für die man ihn mit 10000 Franks auf we- 
nige Monate engagiren wollte, ausjchlagen zu müfjen glaubte, da er das Geld 
doch nicht befommen würde. Da erjchien ein Brief von ihm aus Mojez-el-Bab, 
datirt den 1. Auguſt 1864. Er hatte das Engagement jchlieglich doch noch 
angenommen und war der Armee nachgezogen. Er jchreibt: 





Ich kann auf diefe Weije endlich meinem Wunſche, Land und Leute fennen 
zu lernen, genügen; zugleid kann ich hoffen, nad) Vollendung in fonvenabler Weije 
plazirt zu werden. Kann auch mein Gehalt nicht dasjelbe bleiben — denn id) be- 
fomme jet 2000 Biafter per Monat —, jo werde ic) dod) einen Plaß befommen, 
der mir andre Ausfichten bietet als Heine und große Städte Preußens. . . . Ich 
babe einen jüdiihen Jüngling, der fi) David nennt und fiebzehn Jahre zählt, 
engagirt. Diejer Hoffnungsvolle Knabe ift Dolmeticher, Koh, Waſch- und Plätt- 
frau und erjchredt mich ordentlich durch feine vieljeitigen Talente. 1000 Biafter 
habe ich gleich für Equipirung ausgeben müfjen, denn bei den geringen Hilfs- 
quellen de3 Landes muß man alles mitnehmen. Es gehört dahin ein Fäßchen 
Wein, Kaffee, Lichter, Cognac, Matragen, einige Burnus und die berühmte Schäfchia, 
das Zeichen der tunefifchen Anjtellung, eine vote Mütze mit blaufeidner dider Quafte. 
Revolver und Dolce fehlen nicht. Gegen die Sonne bin ich durd einen Hut ge- 
ihütt, von dem unſre Bezeihnung Pflanzerhut nur eine höchſt unvolllommene Jdee 
giebt, umd der etwa vier Fuß im Durchmefjer mißt. E3 war mir höchft inter: 
effant, al3 ich, esfortirt von vier Spahis, geftern von Tunis hier anfam, das 
mannichfaltige Enjemble des Lagers zu überbliden. Um Eingange bedrohten einige 


112 Guſtav Nachtigal in Tunis. 





fümmerliche Kanonen feindliche Eindringlinge; einige zerlumpte Soldaten hielten 
mi und meine Saden zurüd, bis der Kommandant en chef die Erlaubnis 
gegeben hatte. Wenn die Gefhidhte nur nicht zu lange dauert, würde ich jehr zu— 
frieden jein. Die Leute thun alles, was fie thun, jo langfam, daß man mandjmal 
wirklich verzweifelt. Jetzt find fie no) immer nur etwa zehn Stunden von Tunis 
entfernt, während fie do ſchon vor vier bis ſechs Wochen die Stadt verließen. 


Noh am 15. Dftober war man nicht weit über den erſten Lagerplatz 
hinausgediehen, da die hundert Kameele mit Provifionen, die man von der 
Stadt erwartete, ausblieben. Auch die pünftlichjte Erfüllung feiner Pflichten 
erjparte Nachtigal nicht zahlreiche Stunden tötlicher Langweile. 

Die Hauptunannehmlichkeit ift zweifeldohne, mit feinem Menjchen eine ordent- 
liche Unterhaltung führen zu können. Ich bewohne ein Zelt mit dein empirischen 
Arzte, welcher dem Lager beigegeben ift. Zur Eharakteriftit der Leute muß id) 
erwähnen, daß er nad) Halbtägiger Bekanntſchaft ganz harmlos bat, doch bei der 
nädjften Unterſuchung wieder einzuziehender Soldaten diefer Gegend einige Indi— 
viduen nicht ſehen zu müfjen, die er gegen Bezahlung einer gewifjen Summe frei- 
zumaden verſprochen habe. Alle Welt ift fo hierzulande, doch vorzüglich Juden 
und Chriften, denen ihre Ueberlegenheit es erleichtert, die armen Araber zu be- 
trügen. 

Nachtigals Stellung im Lager war eine fehr bevorzugte, wie dies jein 
Verhältnis zum Chef, dem Ferik Sidi Ruſtan, ergiebt. 

Die Perjönlichkeit des Ferif hat etwad zu bedeuten. Ein preußiicher Feld- 
marſchall Hat nicht foviel Ehren als ein General bier. Alle übrigen oder viel- 
mehr nur die Höherjtehenden in der Umgebung des Ferif hatten die Ehre, ihm 
die Hand zu küſſen. Nur ich verhandfe mit ihm auf dem Fuße der annähernden 
Gleichheit und küſſe ihm die Schulter. Er ift dabei noch ganz jung und hat gar 
nichts Ehrfurdhtgebietendes, al8 feine Abkunft von einer Zania in einer für wahre 
Frömmigkeit hochgeſchätzten Sekte. Wenn er öffentlih ericheint, was jelten 
der Fall ift, führt er einen langen, mit großer, eiferner Zwinge bejchlagenen Stab, 
an dem er gebüdt einherjchreitet, um feine Ehrfurdt vor Gott anzudeuten. Ich 
habe mit ihm und noch mehr mit feinem Bruder Si Mardi, meinem Kranken, _ 
viel über religiöfe Materien gefprochen, doc nichts bei ihnen gefunden als Kenntnis 
ded Koran, feine pbilofophiihen Ideen, feine Kenntnis andrer Religionen, fein 
Berjtändnis fremder Anfichten, nur diefe Enfoncirung in dem Islamismus. Und 
dabei gilt der General Ruſtan noch für einen Gönner europäifcher Einflüffe. 


Zu dem Anſehen, defjen Nachtigal fich bei den Chef erfreute, trug we- 
jentlich der Umftand bei, daß man ihn für einen guten Engländer hielt. Denn 
da man damals dort nur Franzojen und Engländer kannte und er die erftere, 
ihnen äußerſt verhaßte Nationalität lebhaft von fich ablehnte, wurde er den 
Engländern eingereiht, welche in Tunis jehr in Gunſt ftanden. 

Sehr langjam bewegte fich die Erpedition wejtwärts, wo der NRebellenbey 
Sidi Ai Ben Grhdahum fein Volt unter den Waffen hielt, weil er der in 
Aussicht geftellten Ammeftie nicht traute und den Seinen vorfpiegelte, daS tu— 
nefiiche Heer wolle nicht nur Steuern, jondern auch Köpfe heimbringen. 
Nachtigals Anftrengungen waren nicht bedeutend. Des Morgens um fieben Uhr 


Guftav Nachtigal in Tunis, 113 





ihwang er fich in den Staatswagen des Chefs, und drei Herrliche Maultiere 
führten ihn mit Rapidität dem Tagesziele entgegen. Die Märjche waren immer 
jehr Hein. Die Verſchleppung war ihm bei feiner unruhigen Natur, und da er 
einem bejcheidnen Komfort, mindejtens den Anjprüchen auf Neinlichkeit, jehr ungern 
entjagte, äußerjt zuwider. Das allmorgendliche Frühſtück im Generaljtabe, be- 
ſtehend aus jaurer Milch und Datteln, obgleic) nach den Anfichten der Ein- 
gebornen ein wahrhaft fojtbares Ejjen und den geehrtejten Gäſten offerirt, zu 
Mittag der monotone Wechjel von Hammel: und Biegenfleiih, nur zuweilen 
durch die Jagdbeute des Generals etwas vartirt, war nicht geeignet, den Ein- 
drud der Einförmigfeit zu verringern. Auch ſonſt äußerte fi) der Einfluß des 
Lagerlebens. 


Die Läufe gedeihen auf daß herrlichſte. Nach eurer Theorie muß ich jpäter 
gründlich ausgekocht, in den Badofen gejegt und dann vergraben werden. Die 
Berbreitung diejer Weſen hat gewiß in der Menjchlichfeit der Mufelmänner ihren 
Grund, da fie ein ſolches Infekt, wenn fie es auf ihrem Körper attrapiren, durch: 
aus nicht töten, jondern fanft abheben und auf den Boden feßen, von wo aus es 
dann neue Opfer aufjuchen kann. 


Im Januar 1865 ſtieß man endlich auf den Feind. 


Es verlautete etwas don einem beabfichtigten Überfall auf unfer Lager. Man 
wartete die Naht durch. Bis um zwei Uhr blieb id im Belte des Ferik, wo wir 
durch Kaffee unfern Mut zu ftärfen und und zu erwärmen fuchten. Dann legte 
ih mid) mit Kleidern und Revolvern etwas ind Bett. Am folgenden Morgen 
— das Lager war bereit abgebrochen — entjtand ein Gewimmel von Reitern, 
die don verjchiednen Seiten hinter den Hügeln, welde das Lager umgaben, 
auftauchten und diejelben bevölferten. Bald waren zivei Drittel unjerd Lagerfreijes 
von ihnen eingenommen, und ich fah den Kreis ſich langfam vervollitändigen. Aber 
der Feind dofumentirte eine ungewöhnliche Furcht vor Kanonen. Ihr Chef hatte 
ihnen weißgemadt, daß dieſelben unbrauchbar jeien, doch ſobald fie die erjten 
Schüſſe empfangen hatten, jtellten fie ihr weiteres Vordringen ein und erwarteten 
unfre Reiter und Zuaven. Eine Kanone bejegte einen günftigen Hügel, indem 
fie von Beit zu Zeit durdy ihr Feuer den Weg bahnte. Bis Mittag waren unjre 
Lorbern gepflüdt, wir Herren des Terrains, der Feind in eiliger Flucht be— 
griffen. Um zwei Uhr fehrten die Soldaten mit Eingendem Spiel und die Zuaven, 
zu meinem Entjegen abgejchnittene Köpfe vor fi) hertragend, mit Fahnenſchwenken 
ind Lager zurüd. Nach weiteren acht Tagen rüdten wir nad) Medeina. Nad) 
Haidra famen wir am Sonnabend mit der Abficht, am nächſten Tage zu ruhen, 
vor uns eine Gebirgäfette, die dem Ben Grhdahum zum Aufenthalt diente. Wie 
viel Yeute er noch Hatte, war nicht genau bekannt, gewiß nicht über 5000. Geit 
langer Zeit zum erftenmale legte id) mich vollſtändig ausgekleidet ind Bett und 
genoß die Wärme desjelben. Wir Haben des Nachts bis ſechs Grad Kälte, und 
beim morgendlichen Aufbruch ift von Waſchwaſſer feine Rede, da alle vorhandene 
Waſſer gefriert. Plötzlich um drei Uhr morgens erwache ich durch heftiges Gefchrei 
und lebhafte Gewehrfeuer mit obligaten pfeifenden Kugeln. In wenigen Minuten 
war ich angefteidet, bewaffnet und außerhalb des Zeltes, wo ich bald die Rebellen 
in einiger Entfernung von und auf einem Hügel hörte, von dem aus fie einen 
Ueberfall verfuchten. An diefen Tage fand ein entjcheidendes Treffen ftatt, und 

Grenzboten III. 1885. 15 


114 Guſtav Nadtigal in Tunis, 


ih war in aufreibender Thätigfeit mit Kugelausſchneiden, Arterienunterbinden 
und Verbinden beſchäftigt. Mit aufgehender Sonne Hatten wir den das Lager 
beherrfchenden Hügel bejeßt und verlegten das Schlachtfeld weiter hinaus. Es war 
dies ein letzter Verſuch des Feindes, das Terrain zu behaupten, denn dad Schlacht: 
feld liegt keine zwei Meilen von der franzöfifchen Grenze; der Rebell und feine Leute 
befundeten alfo eine ungewöhnliche Hartnädigkeit. In der Vorahnung defien hatte 
General Nuftan an den Thronfolger, der auf feinem Wege nad) dem Dattellande 
in einiger Entfernung vorbeipaffirte, gefchrieben, und dieſer traf glüdlicherweife 
mit 2000 Djallons gerade im Momente des heißeſten Gefechtes ein und jchlug mit 
unfern Truppen vereint die Aufurgenten völlig auf Haupt. Wir ermordeten an 
diefem Tage über 500 Mann und verloren nur zehn, von denen fünf unter meiner 
Behandlung ihr Leben aushaudten. Die übrigen Berwundeten genafen, ohne 
daß ich behaupten möchte, es ſei dies durch meine Hilfe gejchehen. Um Mittag 
war die Sache foweit entidieden, daß wir mit dem ganzen Lager nachrücken 
konnten. Ich werde dieſen Mari nie vergefjen mit feinen ſchmerzlichen Ein: 
drüden, feinen jchaudervollen Szenen. Durch Blutlachen und zwifchen Leichen 
zogen wir etwa eine Meile weiter, um unſern erſchöpften Körpern Ruhe zu gönnen. 
Faft alle zehn bis zwanzig Schritte verlegten einige Tote den Weg oder Frümmten 
fih Schwerverwundete in Todesjchmerzen. Diele genofjen als traurige End— 
ſchauſpiel ihres ruhmlofen Lebens den ſchmerzlichen Unblid ihres gefallenen Bruders 
oder Freundes, dem einer den Kopf ald Siegeszeihen abſchnitt. Ich bin wohl 
zwanzigmal vom Pferde geftiegen, um die noch Lebenden zu unterfuchen, ihnen 
ein wenig Wafjer zu verjchaffen, doch ohne jemals etwas fiir fie thun zu können. 
Niemand bekümmert ſich um fie. Und fie jelbjt finden dies ganz in der Ordnung, 
wohl wifjend, daß fie e8 mit den gefallenen Feinden nicht befjer machen würden. 
Allen Toten, VBerwundeten, Gefangnen werden von den Siegern fofort die Kleider 
geraubt, bis auf ein Stüd Hemd oder Leinen, das die ſehr weit getriebene Scham— 
baftigfeit der Araber nicht zu nehmen gejtattet. Denkt euch die Verwundeten ohne 
alles Labſal, ohne Hilfe, ohne Lager, ohne Kleidung, ausgefeßt einer Kälte von 
zwei bis feh8 Grad! Nod nad) Tagen, als ich die Ruinen von Haidra beſuchte, 
fand ih in ihren Schlupfwinfeln Halbverhungerte, Verwundete, die dort, um der 
Gefangenschaft und den Mißhandlungen der Sieger zu entgehen, Schuß juchten. 
Denn Gefangne genießen gewohnheitsgemäß die jchlechtefte Behandlung. Seder 
Vorübergehende jchimpft fie, ſchlägt fie, ftößt fie, jodaß ich mandmal mit Gewalt 
einen borübergeführten Gefangnen feinen Peinigern zu entreißen fuchte. 

Indeſſen verfolgten die dem Lager des Thronfolgers angehörigen Hilfsreiter 
den flüchtigen Feind gegen Süden Hin. Sie waren am Tage vorher mit Sonnen- 
untergang von ihrem Lager aufgebrochen, die ganze Nacht auf dem Pferde ge- 
weien, am Morgen in den Kampf gegangen, alles ohne Nahrung für fih und ihre 
Tiere. Sie kämpften den halben Tag durch und begaben fi dann ohne alle Rajt 
oder Erguidung auf die Verfolgung, etwa acht biß zehn Stunden weit. Weder 
No noch Neiter in unfern Ländern find einer folchen Entfagung fähig. Der 
Araber ift wirklih der befte Reiter der Welt, wie der Kabyle der befte Schüße 
ift. Und dies konnte auch eine Revolution in einem Lande von nicht zwei Mil: 
lionen Einwohnern fo bedenflih machen, daß jeder von fünfzehn Jahren bis zu 
fiebzig Soldat ift, der eine beſſer als Reiter und im Geſamtkampf, der andre beſſer 
einzeln im Guerillafrieg der Gebirge. In der Höhe von Tebejja endlih ging 
Ben Grhdahum über die algerifche Grenze, von den Franzofen, als dem tunefifchen 
Gouvernement nicht gerade freundlich gefinnt, Schuß Hoffend. Diefe haben ihn 


Guſtav Machtigal in Tunis. 115 





feſtgemacht, nach Conſtantine geführt und warten die Entſcheidung des Marſchalls 
Mac Mahon ab. 


Der Friegerifche Teil der Erpedition war hiermit abgethan, die Steuer: 
eintreibung nahm ihren Fortgang. Sie vollzog ſich in gewohnter Langfamleit. 
Der Winter, fälter als die frühern, machte ſich im Lager doppelt fühlbar. 

Furchtbarer Wind, Schnee, Hagel zwingen uns tagelang, in den Betten zu 
bleiben, zerftören Die Zelte, töten unfre Kameele und fehen das Leben unfrer 
Pferde und vieler Kranken in Gefahr. Manche Nächte fterben und dreißig bis 
fünfzig Kameele, deren Konftitution in diefer Hinficht äußerſt delifat ift. Ihr 
werdet euch wundern, zu hören, daß wir noch in diefem Monate [März] Schnee 
und heftige Kälte haben. Das ift fubtropifches Klima. Nichtsdeftoweniger befinde 
ih mid wohl, und während alles um mid) huftet, blieb ich frei davon, mehr als 
im dorigen Winter in Tunis. 


Die wiedergewonnene Gejundheit hatte ihre Probe glänzend bejtanden, und 
als Baſis weiterer Ausfichten war vor der Hand wenigjtens ein beträchtlicher 
moraliicher Erfolg errungen. 

Wenn ich jemals verfucht habe, mich nützlich zu machen und mehr als meine 
ſtrikte Pflicht zu thun, wenn ich jemal3 in meinen Beftrebungen reüffirte, fo ift 
es während der jebigen Expedition gewefen. Selbſt ohne weitern Erfolg würde 
id niemals bedauern, jo vielen Menfchen von großem Nutzen und vielem Troſte 
geweien zu fein. Wir Hatten gerade während der Kriegszeit eine Reihe ſchwerer 
Typhusfälle im Lager, welche ohne meine Anweſenheit wahricheintich tötlichen Aus: 
gang gehabt Hätten. Nicht als ob ich behaupten wollte, durch meine Medikamente 
direft lebenrettend in diejer Krankheit helfen zu können, aber die beftändige Mühe, 
die ich mir gab, die Kranken vor Kälte zu ſchützen, ihnen Bouillon zu vericaffen 
und fie zwedmäßig zu transportiren, ift von glüdlichem Erfolge gekrönt gemwejen. 
Ich verlor von zwanzig Erkrankten — und man weiß, wie ſchwer der Typhus im 
Elend des Lagerlebens aufzutreten pflegt — nur zwei, von denen einer ein alter 
Mann war. Die Soldaten wollen, wie ih höre, nad) ihrer Rückkehr den Bey 
bitten, mich ihnen zu laffen. Die Höherftehenden haben wenigftend bemerkt, daß 
mir manches Gute gelungen ift und daß ich mich vor ihren Fümmerlichen Gefechten 
nicht fürchtete. Letzteres befonders hat mic) jehr in ihrer Achtung befeftigt, wie 
denn phyſiſcher Mut auch bei zivilifirteften Nationen oft höher geſchätzt wird als 
eblere Tugenden. 


Obwohl ſich jedoch Nachtigal namhafter Reſultate feiner Kunſt erfreuen 
durfte, gab er doc, jchon damals wiederholt dem lebhaften Wunſche Ausdrud, 
dieſem Berufe einjt entjagen zu können. Es war die zuweilen übertriebene 
peinfiche Gewifienhaftigfeit jeiner Natur, die ihn an derjelben feine rechte Be- 
friedigung finden ließ. Gelegentlich Miferfolge, wie fie feinem Arzte erjpart 
bleiben, zehrten an feiner Gemütsruhe. Er nahm daher die Anjtellung, welche 
er als Lohn für feine Dienjte hoffte, nur als Durchgangsitadium an und eine 
Beſchäftigung andrer Art in Aussicht. 

Wenn id etwas vom Mderbau verftünde, jo würde ich mich jebt dieſem 


widmen. Er ift die einzige naturgemäße Beſchäftigung, welche den gebildeten 
Menſchen fernhält von Habſucht, Ehrfucht, alberner Unterwerfung unter das Urteil 





Eu 


Guftav Nachtigal in Tunis. 





andrer, von ftupidem Geſellſchaftsleben, von Krankheit und Lafter, die ihn veredelt 
und Fräftigt, ihn zum wahren Philofophen macht. Jetzt gerade hätte ich Die 
ſchönſte Gelegenheit, das ſchönſte Land in der unmittelbaren Nähe von Tunis für 
einen Spottprei3 zu pachten. Ad, ih muß zuvor durd den Arzt Geld erwerben! 


Er verhehlte fich dabei nicht, daß feine Verdienfte ihm in jenem Lande der 
Hinterthüren noch feineswegs den gewünschten Lohn, die Anjtellung verbürgten. 


Es wird eine ſchwere Aufgabe für mich fein, da ich mit den geichidteften 
Antriganten zu kämpfen habe, die die Judenſchaft Livornos erzeugte, die mir durch 
Kenntnis von Land und Leuten, durch Selbftvertrauen und Schamlofigfeit überlegen 
find, und die allein aus Nüdficht auf meine geringen Talente mid) aus ihrer Ge— 
meinſchaft fernhalten möchten. Und troß feiner frühen Freundſchaftsverſicherungen 
muß ich leider den Baron Zumbrofo, Protomedico della Sua Alteſſa, für meinen 
grundjäglichen Gegner halten. 


Die Geduld Nachtigal3 wurde inzwiichen durch die unglaubliche Ver: 
zögerung des Rückmarſches auf cine harte Probe geitellt. 


Ich bin des Lebend mehr als müde [Ende Mai 1865 von Ei Kef aus], 
das Einerlei, die Langweile tötet mich. Dazu noch wenige Kranke, wie Anfang 
des Sommers ftet3, ſodaß nichts meine Energie aufſtachelt. Ich hätte nie gedacht, 
als ich Tunis verließ, daß ic zweimal die Fliegenjaifon außerhalb erleben würde. 
Und die Fliegen find fchlimmer als Sturm, Hagel, Schnee, Sforpione und alle 
unfre fonftigen Blagen; fie hindern Efjen, Trinken, Schlafen, jede Beſchäftigung; fie 
peinigen die unglüdlichen Opfer fortwährend. Die Hiße von dreißig bis fünf: 
unddreißig Grad Eelfius, deren wir uns während eines großen Teiles des Tages 
erfreuen, trägt ebenfalld das Ihrige dazu bei, alle meine geiftigen und förperlichen 
Kräfte und Fähigkeiten einzufchläfern und zu töten. Sch kann Stunden lang, wie 
ein Araber, auf dem Rücken liegen, lafje meine Phantafie etwas herumſchweifen 
und denfe und thue nichts. Mein einziges Vergnügen bleibt dad Reiten. Doch 
ift e8 auch nur halber Genuß, wenn die Ziele der Promenaden ſtets dieſelbe 
Phyſiognomie darbieten, dieſelbe Leere, diejelbe Abwejenheit von Leben und 
Thätigfeit. Bisher trug die Natur noch einen heitern und lebhaften und mannich— 
faltigen Charakter. Doch der Frühling ift hier Furz, und fchon hat die brennende 
Sonne die Blumen des Feldes ertötet. Noch kurze Beit, und fie hat das Getreide 
gereift, dad Gras gedörrt und drüdt bald der ganzen Natur den Stempel 
des Todes auf. Möchten wir doch vorher in den Hafen der tunefifchen Kapitale 
einlaufen! 


Nur die archäologischen Intereffen Nachtigals fanden ftellenweife einige 
Ausbeute. Er forrejpondirte über dergleichen lebhaft mit feinem Freunde Rocca, 
einem franzöfiichen Philologen in Tunis, 


Meine Antiquitätenmwut, fchreibt er am 15. Juni, ift noch ftet3 im Zunehmen 
begriffen; das Beſte in diefer Gegend ift der Genuß, den mir die Ruinen 
von Haidra bereitet haben. Zahlreiche Anffriptionen habe ich auch von diefem Orte 
zurüdgebradht, defjen alter Name von den Gelehrten nicht feftgeftelt if. Man 
findet dort eine große byzantinifche Zitadelle, die durch ihre grandiofe Ausdehnung 
Zeugnis für die Wichtigkeit des Platzes ablegt, einen wunderſchönen Triumphbogen, 
hriftlihe Kirchen, Maufoleen, Kafernen u. ſ. w. 


Guſtav Nachtigal in Tunis. 117 

Nachdem die Kampagne elf Monate gedauert hatte, rückte man endlich 
anfang Suli 1865 wieder in Tunis ein. 

Geſtern früh, jehreibt er am 4. Juli, wurden wir feierlid) in der Nefidenz 
Bardo vom Bey und vom Minifter empfangen. Ich Habe dem erftern der Sitte 
des Landes gemäß die Hand geküßt und vom Premier und andern hohen Perfonen 
jchmeichelhafte Komplimente nicht allein über meine ärztlichen Leiftungen, ſondern 
auch wegen meinem Zeitungsberichte über die Ereigniſſe während der Revolution — die 
öffentliche Meinung Europas mußte gegenüber tendenziöjer Entftellung franzöfiicher 
Organe aufgeflärt werden — erhalten. Der Bey hat mir die Offiziersklaſſe des 
Ordens Iftakar-Niſcham angeheftet; des weitern Lohnes vonfeiten des geretteten 
Baterlandes harre ich nod). 

Seine Ahnungen über die Schwierigfeit, diefen Lohn zu gewinnen, hatten 
ihn nicht getäufcht. Es Fojtete noch Umwege, und das Endrejultat jtand, danf 
den Machinationen der Gegner, in feinem Verhältnis zu feinen Verdieniten. Am 
1. September berichtet er: 

Es ift unleugbare Thatſache, daß ich feit Wochen das traurige Leben eines 
Höflings Führe. Ich Bin proviforifh in der Sommerrefidenz des Hofes (an 
der Stelle de3 alten Karthago) am Meeresufer inftallirt, zehn Minuten vom 
Wohnfige des Ahasnadar, und bringe meine Tage in gräßlicher Nichtöthuerei 
im Haufe des lehtern zu. Sch bin zwar vom Bey zum erſten Arzt der tunes 
fiichen Flotte ernannt worden, doch hatte die bis jeht noch feine andre Folge, 
al3 daß ih auf dem Büreau des Marineminijteriumd meinen Namen ver: 
jtümmelt eintragen ließ. Ich fürchte, daß fi) dad Proviforium fehr verlängern 
wird, da die Anftellung garnicht im Sinne des Minifterd war, der mich in feiner 
Nähe behalten wollte. So befteht denn mein Dienft bis jebt in nichts weiter als 
darin, morgens in dad Haus des Minifters zu gehen, ihm guten Morgen zu fagen, 
wenn er feine Privatwohnung, die natürlich für die Außenwelt abgeichloffen ift, 
verläßt, dann vier Stunden in den Vorzimmern herumzuirren, bis er zum Bey 
geht, was ungefähr zu Mittag ftattfindet. Dann kann ich zum Frühſtück nach 
Haufe gehen, um gegen zwei Uhr ihm bei feiner Rückkehr aufzulauern und ihn in 
feinen Gemädern verihwinden zu fehen. Abends gehe ich dann noch einmal hin 
und treibe mich dort biß neun oder zehn Uhr herum. Dann dinire ich und gehe 
äußerft erichöpft zu Bette, ohne auch nur das Geringfte gethan zu haben. 

Dieje jeltfame Zwitteritellung, deren Grund ihm erjt jpäter klar wurde, 
dauerte eine geraume Weile. Sein Intereffe gebot, dem Verlangen des all- 
mächtigen Minijterd, der eine Vorliebe für ihn gehabt hatte, ihn täglich zu jehen 
wünjchte und ihn anjtatt des Dr. Qumbrofo zum Leibarzt zu begehren jchien, 
möglichit zu mwillfahren. Diefe Perſpektive war wejentlich verlodender al3 die 
Stellung, die er jegt faft nur nominell befleidete, die ihm nur etwa taujend 
Thaler Jahrgehalt bot und ihn mit Ausgaben für Domeftifen, Haushalt, 
berufsmäßigen Apparat u. j. w. unverhältnismäßig belastete. Auch war jein 
Bertrauen in den Beitand der Dinge in Tunis jehr gering. Man hatte zwar 
jeit der Revolution dort fabelhafte Anjtrengungen gemacht, hatte eine Armee 
geichaffen, Hleidete die Soldaten aufs jchönfte, Hatte den rüdjtändigen Sold' 
mehrerer Jahre bezahlt, hatte neue Kanonen gießen lafjen, beſaß zehn große Dampf: 





118 Guftav Nachtigal in Tunis. 


ichiffe u. {. w., aber bei der geringen Ordnung, die in den Finanzen herrichte, 
bei der Laſt, die infolge früherer Darlehen das Land bedrückte, fonnte das fein 
gutes Ende nehmen. Und wie jah es im Streife der Machthaber aus? 

Sch habe Hinlänglich Gelegenheit, e8 zu beobachten, denn der Minifter ift der 
Mittelpunkt von allem, der Bey ſelbſt eine komplette Null. Ich habe mit größter 
Mühe bis jett ein halbes Dubend Menfchen entdeden können, die wirklich arbeiten. 
Das ift der Minifter en chef, feine Stüße und fein Halt Sidi-el-Azis, der nad) ihm 
wichtigſte Mann im Staate, und drei oder vier Schreibmafdinen. Alle andern 
arbeiten hier und da einmal, wenn fie einen Auftrag erhalten, aber durchaus nicht 
gewohnheitsmäßig oder regelmäßig. Ich habe bisweilen Sorge, dat der Schwindel 
nicht lange mehr fortdauern wird. Die paar Dreier, welche ich inzwiſchen ala 
Notpfennige erübrigen fann, werde ic dann in auswärtigen Papieren anlegen. 
Doch vorher muß ich noch etwas verdienen, wozu ich jeßt leider feine großen 
Ausfihten entdeden Fann. 

Einjtweilen galt es daher, die Proteftion Sidi Ruſtans, der inzwifchen 
Minijter des Innern geworden war, und vor allem des Khasnadar wahrzu- 
nehmen, der ja für die tollifton jeiner Anjprüche mit den Funktionen der eigent- 
lichen Stellung Dr. Nachtigal3 verantwortlich war. Noch im Oktober meldet 
Nachtigal: 

Ich habe bis jetzt noch abſolut nichts in meinem Amte thun können. Ich 
bleibe von morgens bis abends beim Miniſter, und alle Welt ſagt, ich dürfe ihn 
und ſeine Nähe durchaus nicht verlaſſen. Genauer wird es ſich entſcheiden, ſobald 
der Hof nach dem Bardo zurückkehren wird. Alsdann werde ich den Miniſter 
direkt fragen. Meine Stellung bei dieſem ſelbſt iſt noch etwas unbeſtimmt. Er 
würde mich wohl allmählich zu ſeinem vollſtändigen Hausarzte machen wollen, da 
er den Dr. Lumbroſo, den erſten Arzt des Reiches, nicht mehr leiden zu können 
ſcheint. Doch ſeine Damen haben mich noch nicht zugelaſſen. Es ſcheint, die Prin— 
zeſſin iſt eine ſtolze, eigenwillige Frau. Ich nenne die Frau des Miniſters Prin— 
zeſſin, da ſie, ſoviel ich weiß, die Schweſter Achmed Beys iſt. Sobald ich von 
ihr zugelaſſen fein werde, iſt meine Stellung geſichert, und um dahin zu gelangen, 
muß id) die Eunuchen gut behandeln. Soldy ein Hausftand ift fehr groß. Die 
Prinzeſſin Hat fünfzehn Gefellfchaftsdamen, von denen jede einzelne wieder zahllofe 
Dienerjhaft hat. Wenn ich wegen irgend eines Heinen Kindes bisweilen ins 
Sunere des Harems geführt werde und die Eunuchen mit dem Ausruf „Aufge 
paßt!” vor mir herſchreiten, höre ich e3 in den Korridoren Hinter jeder Thür von 
weiblichen Gewändern raufchen. Hoffentlicy wird der Minifter mir endlich aud) 
den Anblid feiner Gemahlin verfchaffen und ich dann diefelben Vorteile wie Lum— 
broſo genießen. Mein Marineminifter — denn feiner Botmäßigfeit gehöre id) 
an — ift nad) der Ausfage aller ein ſehr braver und verhältnismäßig fehr thätiger 
Mann. Bei einem etwaigen Sturze des jetzigen Miniſters würde er wahrjcheinlic 
das neue Kabinet zu bilden haben. 


(Schluß folgt.) 





Alberta von Puttfamer. 


3 giebt Sammlungen von Gedichten, die intereffanter find durch 
die Perjönlichkeit, welche man aus ihnen fennen lernt, als durch 
RZ) J die Bedeutung der Kunſt, die fie darbieten. Etwas andres ift 
AN 4 e3, Empfindungen, Leidenjchaften, Zuftände, Erlebniffe mit der 
Lt ruhigen Beichaulichkeit des über feinem Stoffe jchwebenden Künftlers 
darzuitellen, dem auch jein eignes Seelenleben Objekt war; etwas andres, im 
ichriftlichen Ausdrud oder auch im Verſe fic allein Befreiung zu jchaffen von 
dem, was das Herz bedrüdt. Dort tritt der Schreibende ganz hinter feinen 
Stoff zurüd, und das jchöne Bild, der merkwürdige Vorgang bejchäftigen ung 
zunächjt; hier jtellt fich der Mitteilende mit feiner ganzen, leidenschaftlich bewegten 
Perjönlichkeit dem Lejer vor die Augen. Dort erzeugt er, ſtill gejtaltend, 
Schönes; hier fann nur die Summe jeiner ganzen Erjcheinung, und dies nur 
dann, wenn jie ſich ganz ehrlich und wahrhaftig in ihrem edeln Beſtreben aus: 
Ipricht, dichteriſch anmuten. Dort allein iſt Kunft, hier Konfeſſion. Und injofern 
jeder Menjch, der nach Harmonie, nach Einheit mit fich jelbjt jtrebt, eine Welt 
für fich ijt, anziehend durch die eigenartige Geftaltung feines Naturells und 
hingebender Betrachtung wert, injofern find auch ſolche Konfeſſionen ſtets 
interejjant. 

Zu diejer zweiten Art von Gedichtjammlungen gehören die Dichtungen 
von Alberta von Puttkamer (Leipzig, 1885). Wohl ift diefen Dichtungen 
ein Streben nach künſtleriſcher Form anzumerken, auch fann man einzelnen 
Stüden, Stimmungsbildern, Hymnen, Gejtalten, einen rein dichterifchen Wert 
zuerfennen. Aber im großen und ganzen ijt Doch die Frau interejfanter als 
ihre Kunſt. Nach kurzer Lektüre merkt man, daß hier ein weiblicher Feuerkopf 
fi) ausjpricht, dem man nicht immer beizuftimmen, aber jtet3 zuzuhören geneigt 
it. Und wenn man näher zuficht und erfennt, wie wahr und ehrlich empfunden 
meiſt die Schmerzen find, denen hier Ausdrud verliehen wurde, wie organiſch 
einheitlich Erlebnis, Anſchauung und Gefinnung find, jo erjteht vor einem un— 
willtürlic) das ganze Bild dieſer geiftreichen Frau, man glaubt eine Gejtalt 
aus dem Sean Pauljchen Kreiſe oder eine aus feiner Phantafierwelt vor ich 
zu jehen, und fühlt fich verjucht, diefe Perjönlichfeit aus ihren Gedichten zu 
fonjtruiren. 

In der „Bifion bei Geibeld Tod“ fchildert fich die Dichterin jelbit, indem 
fie von der Wirkung feiner Werfe auf ihr Gemüt berichtet. 






120 Alberta von Puitkamer. 


Dein Sang war mild, wie frühe Zeit im Mai — 
Und leicht geſchwingt wie erſter Lerchenflug ... 
Du kannteſt nicht den Sturm, der bis ins Herz 
Verwirrend greift. Du warſt von Wildheit frei. 
Nur kannteft bu den leiten Sturm des März, 
Der, beißen Atems, jpielt mit reihen Blüten, 
Und nit Baumkronen jält in blindem Wiüten. 
Wie vieles, was zu hoch in mir entbramnt, 
Haft du Herabgedämmt in fühle Schranken; 
Wie vieles zwang und tilgte deine Hand, 

Bas allzu üppig ſchoß in krauſe Ranken! 

Ob di mein Auge niemals aud) erjah, 

In feinen Zügen jchaute did mein Geiſt. 

Du blicbejt meinen Jugendwegen nab, 

Wie jeltjam fie auch liefen, und wie fühn 

Ihr letztes Biel auf fremde Höhen weil't... 
Kein Kräutlein war in und verwandtes Blüh’n, 
Und dennoch zog's mich an: denn deine Seele 
Gab meinem Geift, was ihm an Milde fehle. 


In der That it die milde Gemütsart des modernen Minnejängers fein 
ihr wahlverwandtes Naturell. Streng fritiih, ja ſchneidig ftellt fie fich der 
Welt und ihrer nähern Umgebung gegenüber. So jehr fie die Schönheit zu 
feiern weiß, jo vermag dieſe allein fie nicht zu erfüllen, voran jtellt fie Die 
Wahrheit. Seine der holden Mufen geleitet fie zum Parnaß, jondern der leiden- 
reiche Feuerräuber Prometheus, und zwar führt fie feine Flammenſpur durch 
die dunfeln Wirren der Welt: 

An dem betäubenden Hauch 

Der Städte vorüber; 

Abfeits der fhillernden Fejjeln der Sünde, 

Der bunten und eiteln Wunder der Luft, 

Der Ohnmacht des Irdiſchen; 

Abſeits der goldübertünchten 

Thönernen Götzen der Ehre. 
Es iſt bezeichnend, daß zwei ihrer beſten Gedichte Heroen der ſittlichen Welt 
feiern. Im „Diogenes vor Korinth“ läßt ſie den griechiſchen Bettlerphiloſophen 
leidenſchaftlich gegen die Üppigleit und Genußſucht der Korinther ſprechen: 

Ihr könntet göttlich ſein nach eurer Kraft, 

Und ſeid kaum Männer! 
Er forderte ſie auf zur Thätigkeit, doch ſie verharrten in der Schwelgerei, und 
er blieb der einzige, der den nahenden Untergang ihrer Freiheit vorausſah. Da 
floh er in die Einſamkeit: „Beſchränkung in Natur iſt gottgefeit.“ In „Moſe's 
Tod“ wird ausdrücklich des Kampfes gedacht, den der Verkündiger göttlicher 
Geſetze gegen die Diener des goldnen Kalbes zu beſtehen hatte. Und zur Oſter— 
zeit, da ſie in der Kirche der Muſik lauſcht, erſteht vor ihr die Szene, wie 


Alberta von Puttfamer. 121 








CHriftus in Begleitung feiner Sünger in Jeruſalem einzieht und die Häfcher 
den „Janften Gott“ gefangen nehmen. Daran fnüpft fie die Reflexion: 

Wohl gingen mehr denn taufend Jahr hindann, 

Seitdem das Gottesblut für fie entrann, 

Doc, dünkt's mich, fteht fie [die Welt] in derſelben Schuld 

Noch Heute vor dem Manne der Geduld. 

Sie fchlägt no Heut das Herrlidie an's Kreuz, 

Sie häuft noch heut mit fürdhterlichem Geiz 

Die Silberlinge lähelnd zum Berrat, 

Und fiegelt wohl mit Küffen gar die That. 

Nicht minder Fritifch ift das Verhalten der Dichterin gegen ihre nächte 
Umgebung. Die Luft des Salons, in der fie aufgewachjen ift und die immer- 
hin, vielleicht ihr unbewußt, durch alle ihre Verſe ftreicht, diefe Luft erklärt fie 
für ein Hindernis gefunden Gedeihend. In dem hübjchen Gedicht „Gerettet“ 
erzählt fie, wie fie einft eine „blafje, fnofpenjunge Blume“ in einem prunfhaft 
weiten Saale, mit breiten Würzelein in einer engen Schale, fand, die frische 
Erde lag ſpärlich drüber in dem fojtbaren Gefäß, das fie umjchloß: Ein golden 
Haus! und doch im Martertume Da nahm fie die welfende Blüte mit ſich 
und löſte fie aus dem dumpfen Zauberkreiſe. Dann fährt fie fort: 

Sp fand ich einjt auch eine Menfchenblüte 
Und trat zu ihr in liebesftiller Weiſe. 
Wie fie in ungewedter Kraft erglühte, 
Sehnſucht nad) Sonne in dem Heinen Herzen, 
Wie fie ſich angftvoll aus der Sphäre mühte, 
Die nichts ihr gab, als falſche Glut von Kerzen 
Und fie umjchmeichelte mit jchwülem Duft; 
Und wie fie endlid matt ward von den Schmerzen, 
Da trug ich fie in lenzesgoldne Luft, 
Und löſte ihres Dajeind Wurzeln fadht 
Aus jener gleißenden, dod engen Kluft. 
Und das Mädchen gedieh, daß fie es jelbjt faum wieder erfannte, denn: 
Ein wundervoller Trieb vom Lebensbaum 
— Dies Eine fühlt ic) überwältigt nur — 
Ward jo zurüdbefreit aus engem Raum 


Und falſchem Prunf zur glüdlihiten Natur! 


So troßig fie fi aber auch, um ihren eignen Ausdrud zu gebrauchen, 
gegen die Außenwelt verhält, jo empfänglich ift fie für alle Eindrüde, die von 
diejer fommen — eine Empfänglichfeit, die fic bis zur Nervofität jteigert. Sie 
ichildert fich als ein frühreifes Kind mit einer lebhaften Phantafie begabt: 

Ich weiß, ic war ein ängſtig einfam Kind 

Mit fonderbaren heimatlofen Augen. 

Die modten wenig wohl zum Fröhlichſein, 

Und deſto mehr zu Traum und Thränen taugen. 
Grenzboten IIL 1885. 16 


122 Alberta von Puttfamer. 








Aus dem einjamen Apfelbaum im engen Hausgarten macht fie ſich, wie fie cs 
eben in einem alten, zerblätterten Buche gelejen hatte, die Weltejche, fie jelbjt 
ift Die Norne darunter, und nachts glaubt fie oft den Midgardivurm im Monden- 
liht am Apfelbaume zu jehen. Ihr lebhafter mufifaliicher Sinn fteigert noch 
ihre Senfibilität. Wie fie in dem oben zitirten Djterbild durch die Kirchenmuſik 
in Träume verjenft wird, jo jchreibt jie ein andermal ein Gedicht „Als ich 
eine Tanzmelodie aus der Kinderzeit hörte,“ oder fie erzählt eine Geſchichte von 
einem jungen Paare, das ein ſüßes, enges Band verknüpft, ohne daß fie mit- 
einander noch je gejprochen haben: Im Liedern nur und in Tönen, da haben jie 
alles gejagt. Muſik jcheint ihre Lieblingskunſt zu jein und von den Komponiſten, 
was auch bezeichnend ijt, der jchiwermütige Salunmann Chopin fie am meijten 
zu interejfiren. Sie widmet ihm ein Gedicht, dem fie in geiftreicher Wahl die 
eriten jehr charakteriftiichen Takte der Mazurfa op. 24 Nr. 4 voranitellt. In 
einem reich ausgejtatteten Gemach jpielt der bleiche, jchöne Mann der Holden 
Herrin des Haufes vor. Sie find allein. Da fragt fie ihn, warum er denn 
immer nur feine „Schmerzensmelodien, den dunkeln Schnjuchtsdrang, den Schwung 
der Luft, das Lächeln goldnen Glüds, im eiteln Tanzesjchritt, im Walzertaft, 
im wilden Rhythmus der Mazurka“ jchreibe? Und Chopin eriwiedert, die Hand 
immer auf den Klaviertaſten: 


Seht, was id) fpiele, blonde, fremde Frau, 

Hit nur das Leben, wie es raſt und ringt. 

Der Tänzer, nennt „Gefühl“ ihn, reißt euch hin 
In heifem Arm zum großen Lebenstanz. 

Erjt wiegt er euch gelind; der Fuß berührt 
Den jchweren Boden faum; die Sehnſucht giebt 
Euch goldne Flügelpaare, und das Glüd 
liegt wie ein heller Schmetterling vorauf — 
Doch plöglicd raft der Talt — das Leben jpielt 
In tollen Tönen auf; der Wirbel reiht 

Eud) hin, da ihr ihm hei eratmend folgt. . . 
Ein andrer Tänzer, nennt ihn „Leidenſchaft,“ 
Nennt ihn die „Liebe“ oder wie ihr wollt, 
Ergreift euch nun. Die Melodie wird heiß 
Wie fein Umarmen, raſtlos wie fein Schritt. 
Hört ihr's in meinem Ton? fein Auge glüht, 
Sein Mund lat auf in überjel'gem Schrei — 
Hört den Akkord und ben! Das ift die Luft! 
So ruft die Luft aus letztem Seelendgrund! 
Ihr biegt euch ab — ihr werdet atemlos — 
Euch ftodt der Lebenspuls vor Bangigfeit. . . 
Der Tänzer „Leidenſchaft“ reißt weiter euch — 
Herauf, herab, durch duftend Gartenland, 

In tief verſchwiegnen Wald zu kurzer Raſt, 
Durch Feſtesſäle, über Gräber hin, 


Alberta von Puttfamer. 123 





Bald jubelnd, bald in Thränen; einmal matt, 
Und dann fo friſch, als käm' ein Frühlingsſturm! 


Died Gedicht auf Chopin gehört zu dem gelungenften der Dichterin. Es iſt 
charakteriftiich für fie, daß fie am glüdlichiten in diefem Stüd ijt, welches die 
Stimmung des Salons, dem fie ein andresmal nichts gutes nachjagen fann, 
treffend wiederjpiegelt. 

Nun haben wir joviel von den Gedichten diefer Frau gejagt, haben fie als 
eine ebenjo geiftreiche al3 fein empfindjame Dame gejchildert, als einen mit 
männlicher Energie hohen Idealen nachitrebenden Geiſt — und fie hätte Die 
Liebe niht? O doch! und es ift leicht vorauszuſehen, daß in biejer feurigen 
Seele die Liebe eine ganz bejonders entjcheidende Rolle jpielen muß. Wie man 
bei den Handlungen der Männer nach der franzöfiihen Regel fragen foll: 
Oü est la femme? ebenſo richtig ſcheint e8 uns, bei der Betrachtung weiblicher 
Schidjale nach dem Manne ihrer Leidenschaft, nach feinem Geift und jeinem Cha- 
rafter zu forjchen, denn er ift es, der ihr Schickſal macht. Und die Bekennt— 
niffe, welche Alberta von Puttkamer von ihrer grande passion in zahlreichen 
Gedichten ablegt, find durchaus dazu geeignet, dieſen Sat zu bejtätigen; ja, 
faum anderswo fann es jo Har erfichtlich jein, wie enticheidend auf Die ganze 
Art, die Welt anzufchauen, der Mann für das Weib werben muß, welches ihm 
mit der eriten Glut eines jungfräulichen Herzens, mit den ungebrochenen Idealen 
eined underdorbenen Gemütes entgegenfommt und die Verwirklichung derjelben 
in ihm ſucht. Unſre Dichterin Hat fie nicht gefunden. Weißt du, fragt fie in 
dem „Elend“ überjchriebenen Gedichte: 


Weißt du, was in wachen Winternäditen Weil ich Göttlichkeit in dir begehrte 

Mir wie Tod durch mein Gehirn geihlihen, Und doch nur ein kindiſch Herz gefunden ; 
Dat, berührt von ungelannten Mächten, Weil ich dic ald Schmerz- und Glüdgefährte 
Alles Blühn zu Schatten hingeblichen ? Lebenfordernd an mein Sein gebunden; 
Und warıım mir reiche Qenzeöftunden, Und bu did mit plumpen Kinderhänden 
Dunkler Wetterdrang der Sommertage, Aus dem BZauberlande losgerungen, 
Gleihen Maßes, gleihen Werts geihmunden? Haſt'gen Spiels, nicht mit der Luſt zu enden, 
Ohne Zubellaut und ohne Klage? Doch von jämmerlihem Trieb bezwungen. 


In andern Gedichten wird uns der Charakter dieſes Mannes, der fie jo 
enttäufchte, ganz flar vor Augen gejtellt, und wir begreifen, wie gerade dieſer 
Frauenſeele, die in fich ſelbſt ſoviel Energie fühlt, ein Mann, dem die Zähigfeit 
de3 ausdauernden Wollens, die Treue der Gefinnung, das Feſthalten des cinmal 
Ergriffenen bei einer Fülle glänzender Eigenfchaften mangelte, Eigenjchaften, 
welche fie anfänglich beraufchen und bejtechen mußten, verhängnißvoll wurde. 
Es ijt eine Byronſche Geftalt, welche fie in dem zehnten Gedichte aus dem 
Eyflus „An einen fahrenden Ritter“ jchildert, das wir diesmal ganz herjeßen 
müffen: 


124 


Alberta von Puttfamer. 





Sch weiß, du bift ein armer, heimatlofer, 

Europatranter Mann und du mußt wandern ; 

Mit dir trägit bu den Fluch des ew'gen 
Suchens, 

Und Ruhe find'ſt du nur im ewig Andern. 


Heut dünkt's dich gut, an Frauenlippen 
hängen, 

An zarter Bruſt, in Roſendüften träumen; 
Und morgen, kriegeriſch bein Schwert ergreifen 


Und dic) auf ungezähmten Roſſen bäumen. 


Und heute eilit du ftrahlend durch die Feſte, 
Als löſte beine Seele fih im Tanze — 

Und flichtſt mit deinen fieberhaften Händen 
Dir luſt'ge, wilde Blumen eng zum Strange. 


Und ſchwärmend kannſt du wohl ins Mond— 
licht bliden 

Und zärtlich eine dunkle Blume küſſen — 

Und morgen bünft es dich vielleicht mie 
Poſſen, 

Und du wirſt laut darüber lachen müſſen. 








Dann fliehſt du wohl mit furchtgehetzten 
Mienen 

In deines Schloſſes allerletzte Zelle, 

Und beugſt dich über alte Folianten — 

— Und draußen rauſcht des Lebens reiche 
Welle... 


Bald ſcheint ein Spiel dir Ernit — bald Ernft 
ein Spielen; 

Unjelig Irren nad) dem einzig Wahren | 

Heut kriechſt du wie ein Wurm im niedern 
Staube, 

Und morgen fliegft du fonnennah den Aaren. 


Doch aufrecht durch die blüh’nde Erde gehen, 
Und allen Dingen tief ind Auge bliden, 

Und in das vollgemefine Glück und Leiden 
Die trog’ge Seele ernft und männlich ſchicken, 


Das haft du nie gelernt, mein armer Snabe, 
Und dieſes Rätfel wirft du niemals löſen. 
Nur ruhevoll entriegelft du die Thore, 

Die da umſchließen goldner Wahrheit Wejen. 


Dieje Geftalt fehrt immer in ihren Liedern wieder. Sie ift der fahrende Ritter, 
dem die PDichterin mit liebeglühender und eiferfüchtiger Phantafie auf allen 
feinen abenteuerlichen, genußfüchtigen, Kraft und Leben vertobenden Wanderungen 
nach dem Orient und in fein ftilles Schloß zurüd folgt. Es iſt der „geijtreiche 
Freund,“ dem fie zuruft: Halt’ an die tolle Bahn; gieb einmal doch nur voll 
und ganz an Eines all dein Wollen. Beriprenge deiner wilden Laune Joch, 
darunter deine befjern Kräfte grollen, und dem fie zum Abjchied das Gedicht 
„Seh Hin!“ widmet, welches zugleich ihre Leidenfchaft charakteriftiich jchildert: 

Du haft mir nicht Lebwohl geſagt, 

Wie du Willlommen einft geboten; 


Denn damals war es Hoffnungsglut, 
Bon ber die hellen Blide lohten. 


Und heute irrt dein Auge leer 

Wie audgetobte Kraterbrände, 

Ich weiß es wohl, wie trüb's auch iſt: 
Die Aſche ift der Gluten Ende... 


Wir fannten nicht das fromme Licht, 
Das da erjtrablt wie Altarkerzen, 

Es brannten wild, zu jähem Glüd, 
An Leidenfhaften unfre Herzen. 

Und nicht wie Herdesflammen war's, 
Geſellig holdes Feuer jhürend, 

Nein, wie ein kurzer Götterblitz 

Die Herzen zur Begeifl’rung rührenb. 
Geh’ hin, wenn bu auch ausgeglüht, 

E3 waren dennoch Himmelsfunfen. 


Die aber lafjen mir den Geiſt 
Bon feligem Erinnern trunfen, 


So „jelig* jedoch, wie es in diefem freundlichen Stimmungegedicht ausgeſprochen 


wird, kann dieſes Erinnern nicht immer gewejen fein. Biel wahrer mögen fol: 
gende Strophen jein, wenn fie auch poetifch anfechtbar find, da das geiftreich 


Alberta von Puttlamer. 125 





gewählte anmutige Bild nicht konkret genug aufgefaßt, jondern nach jeinem ab: 
itrafteren Gehalte verwertet ift: 

Wie Siegfried, der den Vogeliang verfteht, 

Seit er gebadet hat im Dradenbfut, 


So ward's mit mir, feit du mein junges Herz 
Verſenkt in des Verrates Gift und Glut. 


Nun ward mir plöplicd das Geheimnis fund, 

Das ſchmerzlich durch die ganze Schöpfung Klingt, 

Bleichvicl, ob es das Meer, ob Frühlingsfturm, 

Ob Bogel- oder Menſchenmund e3 fingt. 
Was das für ein Geheimnis jei, da8 erraten wir leicht: es ift die Einficht des 
Peſſimismus, der durch ihr ganzes Dichten geht und der erjt die Charafteriftif 
diejer durch und durch modernen Titanide abjchließt. Denn moderner noch als 
ihre Kritif des romantischen Mannesideales, ift eben dieſe ihre mehr als refi- 
gnirte Weltanjchauung. Mag fein, daß auc) noch andre Lebenserfahrungen dazu 
beigetragen haben, wie etwa die des Verrates einer Freundin, die fie heiß ge— 
liebt Hat — um was es fich damals gehandelt hat, läßt die Dichterin den 
Lefer, welcher die weibliche Natur fennt, ahnungsvoll erraten — 

Nie fchlug ein Licbesleid jo tiefe Wunde, 

Nie hat das Schickſal tötliher getroffen 

Mein Herz, als diefes grimme Weh es that — 
jene erjte enttäujchte Leidenschaft hat wohl den Ausjchlag gegeben. Zwar fehlt 
es nicht an freundlichen, heitern Motiven in diefer Sammlung der Puttkamer— 
ihen Dichtungen, wie fie z. B. ſehr glüdlich ein Stimmungsbild von einem 
glücklich Liebenden jungen Paare entwirft, das die erjten Hochzeitätage in einem 
einfamen, von Feigenäften umranften Häuschen am fonnigen Meeresitrande ver: 
lebt. Aber auch über ihre Bilder der Ruhe lagert jchwermütige Schwüle, und 
e3 ift ganz gewiß ihre Grundanfchauung in dem Gedichte „Peſſimiſtiſch“ aus— 
gejprochen, das wir zum Schluffe noch mitteilen wollen. 








Die launenhaften Hände ded Geſchicks, Sie haften an dem grauen Element, 

Die ſchleudern dich empor wie einen Ball... Bis fie der Drang der Dinge weiterfciebt. 
Ein Glüdedtaumeln nur! denn augenblids Der treibt fie — träge bald, und bald behend, 
Verdammen dic die argen tief zum Fall. Grad’ wie es feiner tollen Art beliebt. 

Nur wenn dir Schnellfraft cingeboren ward, Und die'3 mit Schnellfraft hin zur Höhe dräugt, 
Schwingit du aus eignem Können did Selbjt die wirft ewig das Geſchick herab... 
Bom Staub empor; doch die von [hwader Art, So zwifchen Sonnen und dem Staube jenft 
Die löfen nie vom Erdentreife fi. Und hebt der Ball jih taumelnd auf und ab. 


Ob er nun machtlos ſtets im Niedern frodh, 
Ob er mit Kraft die Höhe fich zum Ziel 
Erkoren hat, das Schidjal faht ihn doch — 
Und alles Sein iſt fürdhterliches Epiel. 
Hiermit brechen wir die Charafteriftif der Dichtungen der Frau von Butt» 
famer ab, abgejchloffen ift fie damit bei weitem nicht, da ich ihre Perſön 


126 Italieniſche Reiſebriefe dom Jahre I 1882. 





(ichfeit in leicht PER Siegel jedem Vers, jedem Gleichnis, jedem Einfall 
aufprägt, den fie niederſchreibt. Wir haben nichts von ihren Hymnen „Der 
Schönheit,“ „Der Kuß,“ von ihrer großartigen „Bifion“ gejagt, in der fie von 
Kronos die Wahrheit begehrt und die Sehnjucht als irdiſches Erbteil erhält; 
dieſes orgiajtiiche Element haben wir faum angedeutet. Indes ſei es genug 
mit der Hervorhebung der Hauptzüge, die wohl unjer Urteil betätigen, daß es 
eine geiftreiche und ſehr interefjante Perjönlichkeit ift, welche fich in den 
„Dichtungen“ ausipriht. Was die Durhbildung der innern Form anlangt, 
die gern etwas breit, wortreich, rhetoriich wird, was die nicht immer rein 
poetijche Bildlichfeit im Ausdrude und in der Anjchauung betrifft, wo nur zu 
jehr Allegorien und abftrafte Wendungen beliebt find, furz, in künſtleriſcher 
Beziehung ließe ſich vielfach an diefen Gedichten herumnörgeln; aber wir glauben, 
ed genügt die bloße Andeutung diejer Leicht abjtreifbaren Schwächen, um der 
Dichterin das Studium des echt poetischen Stiles nahezulegen. Hat fie ihren 
Stil erſt künſtleriſch ausgebildet, jo it e8 außer Zweifel, daß fie fich den 
edeljten dichterichen ?Frauengeftalten wird anreihen fünnen, welche die deutjche 
Literatur befißt. 
Innsbrud, M. Necker. 









RER 


wm , 


Reifebriefe aus Italien vom Jahre 1882. 
Aus dem Nachlaſſe von W. Roßmann. 
(Fortfegung.) 


Rom 14. November. 
ir begannen mit der Auguftinerfiche Maria del Popolo, unmittel- 
bar am Thore gleihen Namend. Mehrere Kapellen und der Ehor 
find von Pinturichio ausgemalt, und diefe Fresken gehören zu 
dem Unmutigften, was in Rom zu fehen ift. 

Hinter dem Chor die im Jahre 1507 errichteten Grabmäler des 
Kardinals Baffo und des Kardinals Sforza von Sanfovino, Arbeiten 
von feinftem Geſchmack, ſowohl was die Architektur wie was die Skulptur betrifft. Da— 
rüber Ölasgemälde aus dem Jahre 1509 von Guillaume de Marcillat und Elaude aus: 
geführt, von vorzüglicher Schönheit. Bon edelfter Harmonie ift die Kapelle der Rovere, 
welder mehrere Päpfte, unter ihnen Julius der Zweite, angehörten. Ein Marmor: 
und Jaspis-Enſemble von beftem Gejchmad ift die Kapelle Eibo; das Vollkommenſte 
aber ift die von Naffael gebaute und nad) feinen Entwürfen gefhmücdte Kapelle 





Reifebriefe aus Jtalien vom Jahre 1882. 127 
Chigi. Hier fteht der herrliche Jonas, welcher dem Walfiſch entftiegen ift, nicht 
nur don Raffael entworfen, fondern, wie ich jeßt feit überzeugt bin, auch don ihm 
jelbjt in Marmor ausgeführt. Der Abguß (auch im Dresdner Mufeun befigen 
wir einen ſolchen) giebt doch nur einen ſchwachen Begriff von der wunderbaren 
Schönheit, der Lebensfülle und Wahrheit diefes Wertes, und ed ift wohl nie der 
Sieg deö Lebens über den Tod herrlicher dargeftellt worden. Ich muß jagen, daß dies 
noch über Michelangelo gebt; denn es ijt maßvoller, während es den erhabenften 
Werken des großen Bildhauerd an Lebenswahrheit nichts nachgiebt. Diefe Weichheit 
und diefe Kraft zugleich! Jedes Detail vorhanden, und dod das Weſentliche fein 
accentuirt! 

Weit weniger vollkommen ift der dem Jonas gegenüber gejtellte Elifa, zwar 
nad Raffaels Entwurfe, jedoh von einem Andern, dem Lorenzetto, ausgeführt. 
Die Dedengemälde find von Aloifio della Pace nad) Raffaeld Kartons in Moſaik 
gelegt. 

Einen großen Teil diefer Herrlichfeiten muß auch Luther, als er im Jahre 1510 
hier war, täglich gejehen Haben; denn er wohnte in dem zur Kirche gehörigen 
Klofter. Uber, wie ſchon früher bemerkt, er hat niemals von diefen Dingen etwas 
erwähnt. 

Sept ijt der Konvent zum Ausfterben beftimmt; nur nod acht Mönche hüten 
das Heiligtum. Ein Laienbruder von gutem Kunjturteil und anmutigen Manieren 
führte und; es berührte eigen, fich zu vergegemmwärtigen, daß er genau diefelbe 
Tracht trug, die Luther feinerzeit getragen hat. 

Wir kamen nod zur rechten Zeit, um Rom in feiner geiftlihen Mannid)- 
faltigfeit und Fertigkeit zu fehen; in wenigen Jahren müfjen diefe alten Mönchs— 
penfionäre weggeftorben fein. Mir ift mur nicht begreiflih, warum der Staat, 
der nur einen Akt der Selbfterhaltung übte, wenn er die Fülle des Prieftertums 
etwas einfchränfte, nicht auch einen Griff unter die Weltpriefter that, denn deren 
Zahl ift nad) wie vor Legion. Es ift zuzugeben, daß die katholische Kirche, indem 
fie wejentlih auf Darftellung angewiejen, mehr Prieſter bedarf als die evangelifche; 
aber eine Reduktion dürfte in ihrem eigenjten Snterefje fein. Denn was zu häufig 
in der Welt ift und überall, ja bei jedem Schritt gefehen wird, kann nicht mehr 
auf Auszeihnung Anſpruch maden. Es wird durch die Ueberzahl eine res vilis. 
Auch ärgert beitändig diefe Vergeudung von guten Kräften. 

Nicht weit von da, wo Luther einft gewohnt, ftieg einige Jahrhunderte jpäter 
Goethe ab, nämlich in einem der erften Häufer des Korfo, der Hauptftraße, die 
auf die Piazza del Popolo führt. Am Haufe befindet fich feit zehn Jahren folgende 
italienische Inschrift: „In diefem Haufe erfann und fchrieb unfterblihe Sachen 
Bolfgang Goethe. — Die Gemeinde von Rom fehte zum Gedächtnis ihres großen 
Gaſtes diefe Tafel im Jahre 1872.“ Ihm gegenüber wohnte Angelika Kaufmann. 

Das Arbeitöpenfum des Tages waren die Sammlungen in dem (päpftlichen) 
Palafte des Lateran. Aus der Galerie der Profanftulpturen hebe ich den wunder: 
vollen Sophofles hervor, wohl eines der vollkommenſten Werke griechiſcher Kunſt. 
Man muß fi) den befannten Gypsabguß in fchöner, gelbbräunlicher Farbe denken, 
um den vollen Eindrud zu Haben. Hervorragend ein griedifches Relief, welches 
darftellt, wie Medea, mit den Töchtern des Pelias, am Kefjel die Vorbereitungen 
zum Morde ded Alten trifft. 

Das Grabmal des Arditeften des Koloſſeums mit feiner Büfte und mit ber: 
jenigen feiner rau: Perjonen, denen man geftern begegnet zu fein meint. Seine 
wichtigſten Bauten find im Relief dargeftellt, und an einem Tempel wird eine 








128 Italieniſche Reifebriefe vom Jahre 1882. 





wahrfheinlic von ihm erfundene Maſchine in Thätigkeit gezeigt: ein durch eine 
Tretmühle getriebener Apparat zur Hebung großer Laiten. 

Sehr intereffant ift ein Zimmer, in weldem die ganze Familie Cäſars in 
guten Statuen und Büſten bei einander ift. 

Unter den fleinern Objekten intereifirte ein Gewicht aus Nephrit, dreißig 
Pfund fhwer und mit drei Kreuzen bezeichnet. 

Auf einem Heinen Grabjtein heitre Darftellungen. Unten nämlich zwei kleine 
Genien, welche Hähne gegen einander haben fümpfen laſſen. Der eine jchleppt 
feinen toten oder verwundeten Hahn mweinend davon, der andre trägt den Sieger, 
weldyer einen Kranz in der rechten Klaue hält, vor eine Statue der Siegesgöttin. 

Einen „Abjchied des Drpheus von der Eurydike“ möchte ich für eine Grab: 
ftele ohne mythologiihe Deutung halten. Die Erdſchlange, welche den Toten be— 
hüten wird, ringelt fid) am Baum empor. 

Das hriftlihe Mufeum ift eine fehr verdienjtvolle Schöpfung Pius des Neunten, 
namentlich von De Roſſi ins Leben gerufen: Sarkophage, Anfchriften, Fresken und 
Kopien don Fresken aus den Satafomben. Die Anzahl der Sarkophage, auf 
welchen Chriſtus noch als bartlofer idealer Jüngling dargeftellt wird, ift bedeutend. 
Meistens erfcheint er als Wunderthäter, und am meijten fehren wieder: die Heilung 
des Blindgebornen, die Berwandlung des Waſſers in Wein (durd) Berührung mit 
einem Stabe), die Auferweckung des Lazarus, der wie eine eingewidelte Mumie 
gebildet iſt. Auffallend oft findet fich dargejtellt, wie Chriſtus dem Petrus jagt, 
daß er ihn dreimal verleugnen werde. Er zeigt ihm dabei die drei erjten Finger 
der rechten Hand, ganz wie es ein Staliener don heute maden würde. Der Hahn 
jteht unten zwijchen beiden. 

Un den Wänden Abbildungen von Fresken aus den Ratafomben, die man 
an Ort und Stelle nur mit allerlei Behinderung betradhten kann. Defters kehrt 
die Mdoration der Magier oder vielmehr die Darbringung von Gaben durch die: 
jelben wieder. Die drei Figuren, ganz im Reliefftil gezeichnet und geordnet, find 
ganz identisch und eilen hintereinander von links oder rechts heran, indem fie etwas 
auf einer Schüfjel tragen. Es erinnert dad durchaus an ägyptifche Darftellungen, 
nur daß hier die Figuren bewegter gehalten und römiſch gekleidet find. 

Die Tracht der Priefter und Diakonen hat etwas Antikes. 

Man trennt fih nur ſchwer von diefer Sammlung, welche De Roffi vorzüg- 
lic geordnet hat. Auf diefem Felde ift auch nach ihm nod viel zu ernten, und 
es war auch einmal meine Abſicht, hier Hand anzulegen. Aber man muß dazu 
einige Sahre in Rom fein. Zum vollen Verſtändnis diefer Altertümer gehört die 
intime Belanntjchaft mit den gegenwärtigen kirchlichen und profanen Gebräuchen. 
Den italienischen Forſchern entgeht in diefer Beziehung manches, gerade weil fie 
an den Dingen jelbft noch beteiligt find. Der intereffirte Fremde fieht mehr, weil 
ihm auch das Geringjte auffällt. 

Die Villa Aibani, jept Torlonia, wo einſt Winckelmann ftudirte, enthält mehrere 
Gartenhäufer und Pavillons in einem großen, durch herrliche, immergrüne Eichen 
ausgezeichneten Barfe. In den Häufern und Wrkaden vorzügliche Statuen, Reliefs, 
Grabmäler, die ſämtlich genügend befannt find. König Ludwig von Baiern ließ 
Windelmann hier eine Kolofjalbüfte jegen. In unausftehlic häufiger Wiederholung 
hat der gefürjtete Bankier Torlonia feinen Namen hier anbringen und feine Ber: 
dienfte verewigen laſſen. Das Inſchriftenweſen ift ein echt römischer Zug; aber 
diefer aufgepfropfte Römer übertreibt denn doch die Sache. 


Jtaltenifche Reifebriefe vom Jahre 1882. 129 

Nicht gar weit von diefer Villa zur Porta Pia hinaus liegt die Kirche Sant’ 
Agnese fuori le mura: eine alte Heine, zweiftödige Bafılifa, in die man durch 
einen langen, ſchräg abfinfenden, ftollenartigen Gang eintritt. In diefer Kirche, 
neben welcher ſich ein Stift regulixter Chorherren befindet, werden die Lämmer 
geweiht, aus deren Wolle die Biichofspallien gefertigt werden. Das ift nun wieder 
ein naiver antifer Zug, das Hineinzichen der Tierwelt in das kirchliche Wejen. 
Man denke ſich diefe Tiere blutend vor dem Altare. 

In demjelben Garten mit der Bafilifa liegt die Rotonda di San Eoftanza, 
der zweitältefte Bentralbau Staliens (dev älteſte iſt San Stefano in Rotonda). 
Um den von oben erleuchteten Mittelraum, der etwas erhöht iſt und in dem 
fi) der Altar befindet, geht, durch doppelte Säulchen getrennt, der äußere Umgang. 
Das Mufter Hierzu gab die Himmelfahrtöfirche auf dem Delberge bei Jeruſalem. 
Diefe Eoftanza-Rotunde barg das Grab der beiden Töchter Konſtantins: der Por— 
phyrjarfophag ſelbſt ift in das Vatikaniſche Mufeum gebradjt, wo wir denjelben 
ihon gejehen haben. Die Wölbung des äußern Umganges ift mufivisch geihmüdt; 
im Dämmerlicht erkannten wir die Darftellung einer Weinernte. Die Selbjtver: 
gleihung Ehrifti mit der Nebe und mit dem Weingärtner war diefem weinbauenden 
und vom Dionyfosdienft herfommenden Wolfe jehr verſtändlich und ſympathiſch. 
Es giebt in diefen Ländern feinen Bettler, der nicht täglid Wein tränfe: Wein 
und Brot find ihm die geeignetften Symbole aller Lebenskraft. 


Rom, 15. November. 

Früh in den Palazzo Roſpiglioſi nit weit vom Duirinal. Derſelbe ift 
berühmt durch Guido Renis ſchönſtes Werk, die Aurora, ein großes Frestogemälde, 
welches die Dede eines Saales ſchmückt. Es ift ein wunderbares Naturgefühl in 
diejem herrlichen Bilde; das frifche Wehen, welches dem Sonnenaufgange vorauf— 
geht, ift jo vorzüglich zum Ausdruck gebracht, und in diefer Beziehung wirken auch 
die beiden Halbfreisförmigen Seitenbilder, welche man in den Nachbildungen nie 
mit zu jehen befommt, ſehr entſchieden mit: eine Windgötterchen, welche fräftig 
dreinblajen. Ich Habe fonjt wenig Sympathie für Guido Reni; aber dieſes Bild 
nimmt mich jchr für ihn ein. Unter den Staffeleibildern erregte ein dorzüglicher 
Domenidino „Venus und Amor“ meine Aufmerkſamkeit. 

Bei einem Gange über den Plab vor dem königlichen Schloſſe (Uuirinal), wo 
Gaftor und Pollux ſtehen, bemerkten wir eine ftarfe Anfammlung von Publikum, 
jehr mit Gendarmen untermengt: das königliche Paar war eben von einer Reife 
zurüdgefehrt. 

Nun zum Palazzo Borgheſe, welcher die ſchönſte Galerie Roms enthält. Ueber 
cine Madonna von Lorenzo di Credi machte ic) mir eingehende Notizen, um die: 
jelben mit unferm fogenannten Lionardo da Vinci zu vergleichen; mir fchien auch 
diejes Werf unjer in Frage ftchendes Bild ald Lorenzo zu beftätigen. 

Höchſt anziehend ift ein Bildnis, welches Naffael als Knaben darjtellen joll, 
angeblih von Timoteo della Vite. Einerlei, wer es ift — dies Bild ift mit feinen 
großen Mugen, dem fein aufgetwworfenen, etwas finnlichen und trogigen Munde ein 
Werk feinfter Zdealifirung. 

Das hervorragendfte Werk der Sammlung ift nun Raffaels Grablegung, von 
tiefiter, Eräftigfter Farbe und edelfter Zeichnung — dasjenige feiner Werke, welches 
mid) nad) der Siftina am meijten feffelt und innerlich befchäftigt. Er malte es 
in feinem fünfundzwanzigften Jahre. Höchſt interefjant Doſſo Doffis Zauberin 
Kirke, phantaftifch, bunt und doch harmoniſch. Mar atmet eine beraufchende Luft 

Grenzboten III. 1885. 17 





130 Reifebriefe aus Jtalien vom Jahre 1882. 
und glaubt an ihre Macht. Nachdem Lermolieff für diefen Künjtler ein fo großes 
Terrain in der Dresdner Galerie in Anſpruch genommen, habe id) mir feine Eigen- 
tümlichfeiten forgfältig eingeprägt. 

Eorreggiod Danae ift, was die Karnation betrifft, wohl fein vorzüglichftes 
Verf. Poröfe, weiche, lebendige Haut. Das Bild kämpft gegen die Schraffirungen, 
die auf dem Dresdner St. Georg angebradjt find und die man als echt hat be= 
haupten wollen. Im Helldunkel unnachahmlich ſchön. 

Eine ſehr alte, ebenfalls auf Kupfer gemalte Kopie der Dresdner Madonna 
des Correggio intereſſirt, nachdem Lermolieff das Original dem Adrian van der 
Werff oder ſeiner Schule hat zuweiſen wollen — ein Verſuch, der ſich hier 
immermehr als höchſt willkürlich herausſtellt. 

Sn dieſer Sammlung findet ſich nun auch jene Kopie der Lebensalter des 
Tizian, die dem Gafjoferrato zugejchrieben wird und die Hübner beftimmt hatte, 
die Dresdner ſchöne Venus al eine Kopie von der Hand diefes Künſtlers zu be— 
zeichnen. Es iſt jehr zu bezweifeln, ob Saſſoferrato die Kopie in der Galerie 
Borghefe gefertigt hat; die Behandlung des Haares (zufammengeklebt, fejt) erinnert 
an ihn. Aber gerade das Haar der fraglichen Dresdner Venus, die Lermolieff 
dem Giorgivne zufchreiben will, ift jo frei, weich und (oder gegeben. 

Ueber alle Beſchreibung ſchön iſt Tizians fogenannte irdiſche und himmlische 
Liebe, neuerdings richtiger als gefättigte und unbewußte Liebe bezeichnet. Die un- 
verhüllte Figur ift Die letztere. Sie iſt ganz Idealität und opfert dankend dem 
Himmel Weihrauch in einer Schale. 

Hier werden auch die drei kleinen Fresken Raffaels aus dem ſogenannten 
Kaſino Raffaels in der Billa Borgheſe aufbewahrt: überaus liebliche, freie, heitere 
Kompoſitionen: die Hochzeit Alexanders mit Roxanen in zwei Bildern und das 
Bogenſchießen. Lebteres zweifelhaften Urfprungd. Die Zeichnung dazu — in der 
Brera zu Mailand, wo wir fie gefehen — gilt ald ein Werk Michelangelos, und 
die Heftigfeit der Bewegung, die Kühnheit der Kompofition ſpricht für ihn. 

Ein brieflih erbetener Permeſſo des Fürften Lancelotti verichaffte und Ein- 
gang in die Billa Maſſimi, welde dem Lateranpalafi gegenüberliegt. Bier find 
die drei untern Räume des Gartenhaufes durch Schnorr, Koch, Veit, Overbef und 
Führig mit Fresken aus Arioft3 rajendem Roland, Taſſos befreitem Serufalem und 
Dante göttlicher Komödie geſchmückt. Die weltftürmenden jungen Künftler ver: 
griffen fi in der Größe der Figuren und in der Tiefe des Farbentond. Alles 
ift zu maſſig und ſchwer für dieje Heinen Zimmer. In jeder Beziehung den bejten 
Eindrud machen Overbecks Gemälde, der von Benozzo Gozzoli gelernt hat. Am 
mangelhaftejten find Kochs Bilder zur Göttlihen Komödie; fie wirfen fraß, unbe- 
holfen, roh. Er war der menfchlihen Figur nicht genügend mächtig. Ich fuchte 
vor allem nad Landſchaften, welde der alte Reinhart im Auftrage des Fürften 
Maffimi gemalt hat und welche ich ebenfalls hier vermutete. Der Gartenburjche wollte 
nicht gern den obern Stod zeigen, aber ich bewog ihn endlid) dazu. Da ergab 
fi denn freilicd, warum er gezögert hatte: alles verftäubt, verwahrlojt, verjtoßen. 
Er fagte, die Billa werde garnicht mehr benußt, weil im Sommer die Malaria 
bier herrſche. Hoc oben hingen vier Landſchaften, die wohl von Reinhart fein 
können; doch konnte ich nicht ficher urteilen. Auch fie Hatten ſchon Löcher. 

Abends im Teatro Eoftanzi, einem ungeheuern Privattheater, welches gewiß 
taufend Menſchen mehr faßt ald das neue Dresdner, Lucia di Lammermoor gehört 
und ein Ballet von fieben Akten gefehen, beides recht gut. 


Jtalienifche Reifebriefe vom Jahre 1882. 131 





Rom, 16. November. 


Früh gingen wir, um einen Bermeffo der arhäologiihen Kommiffion des 
Königreich zu einem Beſuche des jogenannten Anditoriums des Mäcen zu benupen. 
Ein glücklicher Irrtum führte und zunächſt in einen Garten, der früher einen 
der neapolitanischen Prinzen gehört hat und jet das Eigentum eines Amerikaners 
ift, welcher und einen Rundgang geftattete. Der Garten ift nicht jehr groß, aber in 
der Pflege der ſchönſte Roms, und man fieht, was ein ausdauernder, reicher 
Bartenfreund bier ſchaffen kann. Die herrlichſten Dattelpalmen mit goldgelben 
Früchten behangen (die hier indeffen wohl nicht reifen), baumartige Dracaeen, die 
edelften Eoniferen, immergrüne Eichen, Pfefferbäume. Den carakteriftiichen Duft 
liefern Orangen, japanische Mifpeln und Terebinthen. Aloes und indifche Kaktus: 
feigen in gewaltigen Eremplaren. Sn hunderten von Töpfen blühten Erdbeeren 
und Zazetten. Für das alles bildet der zartefte Raſen, wie er in England nicht 
ihöner gedeihen fann, den Untergrund. Sept beginnt erjt die jchöne Zeit der 
Gärten für diefes Klima; im Sommer find fie ausgebrannt. 

Das fogenannte Auditorium des Mäcen, dem fraglichen Garten gegenüber, 
liegt am Fuße des Esquilin und iſt der Reit einer mäcenatishen Billa: wohl ein 
Heines Privattheater. Die Sibreihen, des Marmor entkleidet, find noch vorhanden, 
und an den Wänden befinden fid) Nefte von Malereien. Hierher werden nun alle 
diejenigen Gegenftände zunächft gefchafft, welche bei dem Fundamentgraben für die 
neuen Häuſer am Esquilin (die Stadt erweitert fi) hierher) zutage fommen. Das 
Bedeutendere wandert alddann in die Mufeen. Man fieht da interefjante Sachen. 
So fand ich eine Feine Wiederholung der Penelope des Batifan, einen Zünglings- 
torfo von edeljter Idealbildung in einem noch nicht befannten Typus, der Kopf 
apolliniih und doch ganz individuell. Auch fommen neue Bewegungsmotive zum 
Vorſchein. 

Weiter zur Kirche San Luca, welche der altrömiſchen Malerakademie San Luca 
gehört und mit derſelben unmittelbar verbunden iſt. Die Front blickt auf das 
Forum; unter fi) hat fie eine Krypta, deren Pflaſter mit demjenigen des Forums 
im Niveau it. In dieſer Krypta finden ſich Säulen eines alten Heinen Tempels, 
der eben hier ftand. Die Krypta birgt die Nefte der heiligen Martina; an ihrem 
Grabmal befinden fid) Arbeiten von Benvenuto Eellini. In der Krypta befindet 
ſich auch das Grabmal des Pietro da Gortona, der fie auf feine Koften erneuern ließ. 

In der Academia San Luca eine Heine Gemäldefammlung, in welcher ein Feines 
Fresko von Raffael, ein Engel mit Fruchtguirlanden, dad Intereſſanteſte ift. Ob— 
wohl übermalt, übt died Werk einen unendlichen Reiz. Dann fefleln die Selbft: 
bildnifje zweier Malerinnen, der Virginie Lebrun und der Angelifa Kauffmann. 
Das eritere ift dad anmutigere; man fieht es hier mafjenhaft fopirt. Der feine, 
durchſchimmernde bläuliche Ton der Haut ift der Beatrice Cenci Guido Renid nad): 
geahmt. 

Aus der Kirche wären nod) die Driginalmodelle (in Gyps) don Thorwaldfens 
Ehriftus und Canovas Fides zu erwähnen; aber diefe Geftalten find zu leer, um 
zu intereffiren. 

Im Palazzo Barberini feffeln zwei Gemälde aufs höchſte: die echte Fornarina 
von Naffael und Guido Renis Beatrice Cenci. Das erjtere Werk ift von vene- 
tianifch tiefer Farbenglut, aber fefter gezeichnet, als die DVenetianer pflegten, und 
emailartig gemalt. Merkwürdig große Augen, jüdifche Nafe. Um Oberarm trägt 
fie eine Spange mit dem Namen „Raphael Urbinas.“ Es ift daß vollendetite 


132 Reifebriefe ans Jtalien vom Jahre 1882. 














Porträt, daB Raffael gefchaften. Das zweite, die Cenci, ift blaß, bläulich, zart, 
von unendlichem Reiz. Wielleicht ift fein Bild der Welt ſoviel kopirt als dieſes. 
Kleiner, zarter Mund, fchlankes, doc fein abgeftumpftes Näschen, ſchwärmeriſche 
Augen. Ich Habe die Geſchichte der Cenei vergeffen, weiß nur, daß ihr jchöner 
Kopf unter dem Beile fiel. Schon dies genügt, dem Bilde ein tiefes ftoffliches 
Interefje zu fihern. Was fonnte dahin führen, dieſes lieblihe Geſchöpf einem fo 
furchtbaren Tode zu mweihen? Guido malte die Arme im Gefängniffe und im 
weißen Gemwande, der Sterbetoilette. Das Bild ift ftumpf und troden, wie fich 
denn in Diefer Galerie niemand um die Konjervirung der Bilder zu kümmern 
ſcheint. Die Mutter der Beatrice malte Garavaggio. 


Nom, 17. November. 


Der Palazzo Doria ein Werk des Pietro da Cortona und Bramante ift reich, 
bornehm und gut gehalten. Unter den Skulpturen in demjelben intereffirt der 
Ddyfieus unter dem Widder, fo viel mir befannt, die einzige Darftellung diefes 
Gegenftandes; unter dem Gemälden ift vieles Hervorragende. Ich nenne ein 
Doppelbildnid von Naffael, das Bildnis Innocenz’ des Hehnten von Velasquez, 
einige ſchöne Claude Lorraind und vor allem eine Untermalung oder doch ein 
nicht vollendetes Bild von Eorreggio, Triumph der Tugend (dev Ruhm krönt die 
Tugend), wie mir jcheint, in Zempera untermalt: ein ungemein geiftreich hinge— 
worfened Werf und auffallend in der Weife, wie grau und fchwärzlich Eorreggio 
die Schatten anlegte. Ein Beccafumi, Verlobung der heiligen Katharine, nahm 
meine Aufmerkſamkeit in Anſpruch, weil es auf Kupfer gemalt ift. Lermolieff 
bejtreitet, daß man zu Correggios Zeit auf Kupfer gemalt habe. Beccafumi ijt 
aber ein Beitgenofje Correggios. 

Nochmal durch die Galerie der Statuen im Batifan, wo wir uns haupt- 
jählid mit dem jungen melancholifchen Eros (Abguß in Dresden) und der ſchlum— 
mernden Ariadne bejchäftigten, die den nahenden Gott träumt; ein großes, lebend: 
volles Werk, wie atmend. Die Drapirung unvergleihlid. Dann befuchten wir 
die Bibliothek des Vatikan. Man führt durch den Zeil, in welchem die Manu: 
jfripte aufgeftellt find! Das ift eine Aufftellung! Die Tonnengewölbe der Näume, 
in welchem die Schränfe ftehen, find entweder reich Eaffetirt oder mit Gemälden 
geihmüdt, die Schränte entweder bemalt oder aus polirtem Nußbaumholz mit ver: 
zierten Meſſingbeſchlägen. Marmorjäulen trennen die Abteilungen, der Boden 
Marmor. Auf Eoftbaren Tiſchen in der Mitte der breiten Korridore und Säle jtehen 
Geſchenke, welche dem Papſte von andern Souveränen gemacht worden find, Vaſen 
von Sepres, aus Berlin (auch eine vom jehigen Kaiſer), Malachitblock vom Kaifer 
von Rußland. Dann ift hier eine foftbare Sammlung Heiner byzantinifcher und 
altitalienijcher Altarbilder, Triptychen ꝛc. aufgeftellt. Endlich fieht man hocdhinter- 
eſſante antife und altchriftliche Fresken: unter den erftern die Aidobrandinifche Hoch— 
zeit (die Kunſt-Meier für Goethe kopiren mußte), eins der befterhaltenen Gemälde 
des Altertum. Ganz neuerdings gefunden: ein der Diana gebrachtes Opfer. 

Wer in diefen Schränken ungehemmt fuchen dürfte! 

Indem wir nochmald den St. Peter durchwanderten, umfchritt ich einen der 
vier Pfeiler, auf welchen die Kuppel ruht, dann einen derjenigen, welche das 
Zonnengewölbe des Langjchiffes tragen. Der Umfang des erjtern mit 122 Schritt, 
der des Ießtern genau die Hälfte: 66. Schon einer der Heinern Pfeiler deckt 
aljo den Grundriß eines ziemlichen Saales. 


Reifebriefe aus Jtalien vom Jahre 1882. 133 








Man jcheidet nur ſchwer don diefem herrlichen Bau. Er ftimmt fo frei 
menſchlich; alles Peinliche und Bedrüdende, was die katholiſche Kirche fonjt wohl 
haben fann, ift hier überwunden. 

Neben dem Dome befindet ſich als befonderd Gebäude die Safriftei, welche 
nad) meiner Schäßung allein einen größern Umfang hat als die Dresdner Frauenkirche. 

Nachmittags wanderten wir nad) der Billa Doria Pamfili. Vor einer Kirche 
in der Nähe derjelben quälte fi ein Fuhrmann mit einem Pferde, das feine In— 
tentionen nicht begreifen wollte. Er flchte die Madonna an, das Tier zu ftrafen, 
wandte fi dann aber an defjen guten Willen und hielt ihm eine lange eindringliche 
Rede. Als auch diefe nicht begriffen wurde, deutete er ſich verzweiflungspoll vor 
die Stirne, wie man einem Menjchen gegenüber thut, der ſchwer von Begriffen 
ift. Aber er mißhandelte das Pferd nicht, wie ich dies denn hier überhaupt nicht 
gejehen habe. In Neapel fommt e3 vor. 

Bon dem herrlichen Parke Dorian Pamfili aus hat man einen fchönen Blick 
auf den St. Peter. Die Stadt ift nämlich durch das Terrain ganz zugededt, und 
man hat den ungeheuern Bau für fid) allein, ald ob er in der tiefiten Einfamfeit 
fäge, was von überwältigender Wirkung ift. Er fcheint Hier in der Thalſenkung 
zu liegen. 

Tritt man dann aus den Parke heraus, jo hat man die Stadt ohne den 
St. Peter, wieder ein einzig jchöned Bild. Diefe Fülle der Kuppeln, Gloden- 
türme, diefe zarten Farbentöne, durd ein Schönes Silbergrau harmoniſch zuſammen— 
gefaßt ! 

Rom, 18. November. 


Der Palazzo Spaba, jetzt Juſtizpalaſt, enthält eine Heine Gemäldefammlung, 
in welder uns Caravaggiod „Mutter, die eine Tochter beim Nähen überwacht“ 
(lebensgroß) ſehr anjprad. Das Bild ift wie von Murillo gemalt. 

Das Mufeum Kircherianum ift aus fehr verfchiedenartigen Abteilungen zus 
jammengejegt: einer Sammlung Heiner Altertümer, namentlich Bronzen, einer 
Keinen chriſtlichen Sammlung, einer ethnographiichen und einem präbiftorifchen 
Mufeum. In der erjtern intereffirt namentlid) der Gräberfund von Baleftrina, 
phönizische Gold» und Elfenbeinfachen, auf denen bejonderd die vorzüglicd ges 
zeichneten Pferde auffielen; und vor allem die fogenannte Ficoronifche Ciſta, bei 
Paleftrina gefunden, ein zylinder- oder eimerförmiger Schmudbehälter (etwa einen 
halben Meter hoch) mit einer in die Bronze eingravirten Zeichnung, welche dar: 
ftellt, wie Amykos, König der Bebrifer, von Polydeukes auf der Argunautenfahrt 
befiegt und an einen Baum gejchnürt wird. Das Werk fcheint griechiſchen Urjprungs, 
die Zeihnung ift jo edel, frei und flüffig, daß man faft an eine Arbeit aus der 
Zeit der Renaiſſance glauben möchte. Alles Steife, Uegyptifche überwunden. Un 
diefjem Werke muß Genelli fleißig ftudirt haben; manche Stellungen kehren in 
jeinen Zeichnungen wieder. 

Unter den übrigen Zeichnungen überrafht eine Gruppe, welche aus zwei 
Figuren gebildet wird, die zufammen einen Mann vor fi) auf den Händen tragen. 
Da der eine ein großes Mefjer in der Hand hat, jo wird e3 ſich um ein Menfchen- 
opfer Handeln. 

In der hriftlihen Abteilung ift das merkwitrdigfte Stüd jenes Gaſſenjungen— 
igraffitto auß dem zweiten Jahrhundert, welches fih an der Außenwand eines 
Haufes am Palatin befand. Es ftellt einen Mann mit Eſelskopf am Kreuze dar. 
Neben dem Kreuze fteht ein Römer, von dem angenommen wird, daß er den Ge— 





134 Jtalienifhe Reifebriefe vom Jahre 1882. 
freuzigten anbete; er hat aber eine Geberde, die aud) ald Drohung gefaßt werben 
könnte, darunter fteht: AdsFunevos oedere Deov,. Man nimmt an, daß Aleramenos 
wegen feines Chriftenglaubend verhöhnt werden follte. Daß Chriſtus von Heiden 
gelegentlich unter Eſelsgeſtalt dargeftellt wurde, ift bezeugt. 

Die Caſa Bartholdy (Via Siftina 64), welche jebt dem Advokaten Zucchari 
gehört, ift eigentlich nicht zugänglich; doch ließ uns der Portier ein. Hier be: 
finden fi num oben im zweiten Stod in einem immer von zehn Schritt Länge 
und acht Schritt Breite die Fresfen, von welchen die Wiederbelebung der deutichen 
Kunft datirt, ausgeführt von Cornelius, der fie auch angeregt hat, Veit, Overbed und 
Shadow. 

Diefe Arbeiten ftehen weit höher als diejenigen in der Villa Maffimi, und 
namentlid” Cornelius’ Gemälde machen doch eine große und in der Farbe ehr 
befriedigende Wirkung. Den Gegenstand bildet die Geichichte Joſephs; in den 
Linetten Ueberfluß und Mangel, allegoriſch entwidelt. Gefchmadlofer Weije lief 
der Befiter fpäter über den Thüren (zwifchen den hiftorischen Fresken) die Pyra— 
miden und einen ägyptischen Kerker malen. 

Nach dem Beſuche diefer Stätte, die man nur mit lebhafter Bewegung bes 
treten fann, machten wir einen Spaziergang in den Riefenpark der Villa Borghefe. 
Es fand ein Iebhafter Korſo ftatt. 

Zum Schluß der Wanderung gingen wir noch einmal in San Maria del 
Popolo, um Raffael3 Jonas zu fehen. Der freundliche Mönch, der ihn uns zuerft 
gezeigt hatte, war fo erfreut über unfer Intereſſe an diefem Werfe, daß er mir 
beim Abjchiede eine ſchöne Photographie desjelben als Geſchenk aufnötigte. Er 
heißt Frate Niccola Ambrogino. 

Ans Thor ftrömten von allen Seiten die geiftlihen Seminariften herein, 
ſchwarze mit grünen und blauen Abzeichen, blaue mit roten, violette; die Deutjchen 
ganz Fardinalsrot, fodaß fie weithin durd die Straßen leuchten. 


Rom, 19. November. 


Früh mit der Eifenbahn in dreiviertel Stunden nad) Frascati, welches jetzt 
die Sommerfrifche der Römer ift, wie e8 dies früher war. Einſt hieß es Tusculum. 
Die Bahn läuft eine ganze Strede mit den impofanten Rejten der antiken Waſſer— 
leitung parallel; die Landichaft in den Linien bewegter ald vor den andern Thoren. 
Die Erdichnitte zu beiden Seiten der Bahn lafjen die vulfanifhen Lagerungen 
erkennen: oben eine graue Aſche, darunter häufig eine gelbe oder vote, die man 
zur Bereitung des Mörteld verwendet. Unten feuerflüffige Lava. Dieſe Lava 
nötigte gegen Frascati Hin einen Tunnel anzulegen. Das reinliche, breitjtraßige 
Städtchen baut fi in jtarfen Terrafjen auf; breite Treppen führen zum Domplag 
empor. Dort ftand jo ziemlich die ganze männliche Bevölferung in ſchwarze, grau 
gefütterte Mäntel gehüllt, ſchaute ſehr ernft drein und unterhielt ſich leife in 
zahlreichen Gruppen. Es jah aus, al3 bereitete fich eine große ernfte Aktion oder 
etwa das Begängnis eines angefchenen Mannes vor. „Sie genießen die Sonne,“ 
fagte und fpäter ein Kellner. In der That hatte der Tag empfindlich kalt begonnen, 
und dad Haupt des Soracte ftand glänzend von Schnee. Die Weiber jaßen im 
Dom, der eine recht angenehme Temperatur hatte, vielleicht von feinen höhern Zwecken 
bejeelt al3 die Männer. Auf dem Forum dürfen fie nicht ftehen. Wir jtiegen nun 
den Weg zur Höhe hinauf, vorbei an der Billa, die einjt im Sommer der größte 
Kirchenhiftoriter Noms, der Kardinal Caefar Baronius, bewohnte, dann zur Billa 
des Kardinal Aldobrandini, von der man einen herrlichen Blid über die Campagna 


Italienifche Reifebriefe vom Jahre 1882. 135 








auf Rom genicht. Rechts die Sabinerberge. Unſer Ziel war die Billa Ruffinella, 
body) oben am Berge, einft der Beſitz des Heiligen der Philologen, des Cicero. 
E3 berührt eigen, über dem Thore zu lefen: Villa Tusculana. Eine kurze Allee 
uralter Steineichen führt vor das Landhaus. Bor dem Platze vor demjelben 
wiederholt und erweitert fid) die früher genofjene Ausfiht. Rechts hat man ein 
großed Camaldulenſerkloſter. Der Park ijt verwildert, aber mit Pläßen, wo „Die 
Myrte fill und hoch der Lorber ſteht.“ Auf einem Bojtamente las id: Flaviae 
€. F. Tarentinae. Aber der Zorjo, weldher darauf ftand, gehörte einer Statue an 
mit der Haltung des Auguftus. Hundert Schritt tiefer liegt ein Kapuzinerkloſter, 
über deſſen Pforte gejchrieben fteht: 


Entra Fedele, in questo Asil di Pace 
Dove di Dio si parla e poi si tace, 


Im Kirchlein ein guter Giulio Romano. Ich ließ meine Frau vor dem Bilde, um 
mich im Klofter etwas mit den Mönchen zu unterhalten, die in Stalien überall jehr 
entgegenftommend find und dem Fremden gern mitteilen, was fie wiffen. Man follte 
fie nad) ihrer Lebensweiſe jtumpflinnig erwarten; id habe aber auch alte, ganz 
geiftesfrifche Leute unter ihnen gefunden. 

Nah einem Frühſtück in der Stadt fuhren wir nad) Marino, um dann weiter 
zu Fuß nad Albano zu gehen, ein ganz herrlicher Spaziergang in der frifchen, 
ftärfenden Luft bei ſchönſtem Sonnenschein. Hinter dem maleriſch gelegnen Marino 
fteigt man durd ein Wäldchen empor und fieht ſich plöglic über dem freisrunden, 
tiefblauen Albaner See, der einen alten Krater füllt. Nun wandert man auf dem 
Hande des Krater weiter. Linkshin hat man das Bergftädtchen Nocca di Papa 
(Gegenftand des großen Oswald Achenbach in der Dresdner Galerie), rechts erglänzt 
das Meer. Man paffirt nun das Städtchen Eajtello Gandolfo, die alte Sommer: 
rejidenz der Päpſte. Das Schloß liegt ſtill und jchweigend; ebenfo die Landhäufer, 
in denen früher die Begleiter und Freunde des Kirchenfürjten wohnten. Ein alter 
Mann, der die ewigen Lampen in den Kapellen diejer Straße zu verforgen hat, 
ihloß fi ung an, und jammerte auf meine Frage, ob Papſt Leo ſchon hier ge— 
wejen, der werde ja im Vatikan gefangen gehalten. Er hatte noch Leo den Zwölften 
gekannt; unter Gregor dem Sechzehnten war feine ſchönſte Zeit gewefen. Wir gingen 
mit ihm zujammen durch die jogenannte Galleria di sotto (oben auf dem Rande 
des Krater giebt es eine Galleria di sopra), eine Allee der älteften immergrünen 
Eichen, die id) je gejehen: die alte Via Pontificale. Unfer Begleiter trennte fid) 
von und, um dicht vor Albano eine Kapelle aufzufchliegen. Sogleich drangen die 
Zandleute hinein, um zu knieen und einiges Geld im die Büchſe zu werfen. 

Dann traten wir in Albano ein, den Ort, wohin man fid) gern vor der Fieber: 
luft Roms rettet. Wir durchivanderten den malerifchen Ort, und erinnernd, daß 
hier oben, höher Hinauf, Alba Longa, die Mutterjtadt Noms, gelegen, und jchritten 
dann den eine Stunde langen Weg zur Station hinab. Man hat von da einen 
wundervollen Rüdblid auf den mit einem zweiten Städtchen durd einen unge— 
beuern, drei Etagen hohen Viadukt verbundnen Ort. 

Diefer Ausflug wird immer zu unfern ſchönſten Erinnerungen gehören. 

(Schluß folgt.) 





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Um eine Perle. 
Roman von Robert Waldmüller (Ed. Duboc). 
(Fortjegung.) 
Sechsunddreißigftes Kapitel. 


gone hatte fich nach dem Ringe gebüdt. 
Mit thränenüberjtrömtem Gefichte ſaß fie am Boden, das 
—2 in der flachen Hand haltend. 
JGiuſeppe Gonzaga, ſagte fie aus gepreßter Bruſt, ich mache Euch 
— 4— keinen Vorwurf, daß Ihr ſo niedrig von mir gedacht und geredet habt. 
Warum war ich ſo arglos, nichts zu ahnen! Mich ſelbſt trifft alle Schuld. Aber 
ich hätte mein Leben hingegeben, um Euch Euer Eigentum wieder zuſtellen zu können, 
und als ich heute die unverhoffte Kunde erhielt, daß Ihr noch nicht aus dem 
Leben geſchieden, da ſtürzte ich Hierher — zu dem argen Giftmiſcher, den ich 
aber nicht als jolchen fannte — das ſchwöre ich Euch — und erziwang oder 
erflehte von ihm die Gunst, zu Euch geführt zu werden — in Euer Gefängnis, 
jet jehe ich wohl, daß es eins ift. 
Sie erhob ſich mühjam und legte das goldne Ninglein auf feine Bettdede. 
Ein armer Teufel, jagte fie, der es aber herzlich bereut, hat es Euch in 
jener Nacht vom Finger gezogen. Biclleicht Habt Ihr es nicht vermißt; ich 
dachte aber nicht, daß Ihr, wie ich Euch damals ins Leben zurücgerufen habe, 
mein ungelenkes Thun und Hantiven um Euch jo ganz ohne eigentliches Be— 
wußtſein habet gejchehen laſſen, ich dachte, daß Ihr vielmehr einige Erinnerung 
daran bewahrt haben wiirde. Ihr waret doch, als Euch Cola ins Freie 
hinausführte, ganz Haren Blides und wolltet ihm ja jogar noch feine Mühe 
unnötigerweile lohnen; erinnert Ihr Euch denn nicht, Eccellenza? Als ic) dann 
ermittelte, der Schelm habe fich jchon im voraus durch das Ringlein bezahlt 
gemacht, da fiel mir aufs Herz: Wie num, wenn der Signore das Ringlein doch 
vermißt, und wenn er dich, Giacinta d’Ia, am Ende gar für die Entwenderin 





Um eine Perle. 137 





hält! Könnt Ihr Euch jegt vorjtellen, Signore, daß mir’s daran lag, Euer 
wieder habhaft zu werden? 

Giufeppe hatte längit die Hand Gigeintas gefaßt, mit der andern das 
Ringlein emporhaltend und es dazwiſchen unter begütigenden, feinen argen Ver: 
dacht abbittenden Worten, welche die Thränen der Neapolitanerin allmählic) 
verfiegen 'machten, an feine Lippen drückend. 

Ih bin noc Heute jo arm wie damals, ſagte er dann mit fchwacher 
Stimme, ja ärmer als damals, denn fich meine Hände an — die Fürſorge 
Antonio Marias hat mich, indem er auch die mir damals noch gelaffenen Ringe 
in VBerwahrfam nahın, der Verſuchung überhoben, mich nach Rettern umzujchen. 
Ich kann alfo durch fein Geſchenk dir danken. Darf ich dir dagegen danfen, 
indem ich dir Gelegenheit gebe, meine Wohlthäterin, meine gütige yreundin in 
noch höherm Grade zu werden, als du es fchon bift? 

Siacintas Wangen glühten. Eure Worte find mir Manna in der Wüſte, 
itammelte fie, aber nennt mich Eure Dienerin, Ginfeppe Gonzaga, nicht Eure 
Freundin; erdrüct mich nicht, ich bin ein Rohr, und was Ihr mir an Huld 
erweifet, ift mehr, al3 jelbjt eine Säule zu tragen vermöchte. 

Höre mich an, Giacinta, fagte der Sranfe — aber ganz Mantua weiß ja, 
unterbrach er fich, was mich in diefe Lage hier brachte; laß mich alfo kurz 
jein — eile zu meiner Braut und jage ihr — 

Die Neapolitanerin erblaßte. 

Sage ihr, daß ich lebe — denn auch fie wird mich tot wähnen —, ſage 
ihr, daß ich noch lebe, aber daß meine Stunden gezählt find, und daß ich vor 
meinem Ende ihr noch einmal die Hand drüden möchte; jage ihr das, teures, 
herrliches Mädchen, und wenn dir's irgend möglich iſt, bringe fie hierher. 

Giacintad Züge hatten fid) umwölft. Und wie joll ich fie finden? fragte 
jie tonlos. 

Du. biit in Mantua fremd? 

Faſt völlig. 

Aber daß die Wunde, der ich erliegen werde, von der Hand ihres Vaters 
herrührt, das iſt dir Doch befannt. 

Zu mir drang nichts von alledem. 

Nichts? Ach, jo geht's! Der Unglüdliche hält fich immer für den Mittel: 
punft der Welt, und ahnt nicht, daß die Welt andres zu thun hat, als nad) ihm 
zu fragen. Deine Braut iſt Die Tochter Marcel Buonacoljis — hier im Ninge 
fteht ihr füßer Name. Eile, ich fühle, daß dieſer Tag mein letter fein wird. 

Großer Gott! rief Giacinta, und wird die Aufregung des Wiederjehens 
Eure Genefung nicht vollends vereiteln? Wielleiht Hat nur die abjcheufiche 
Szene, die ich Euch bereitete, Eure Kräfte jo erichöpft. Und wird denn Eure 
arme Braut dem freudigen Schred, plöglic) von Euch als einem Lebendigen 


Nachricht zu erhalten, gewachjen jein? Bedenket doch auch das, —— 
Grenzboten III. 1886. 


138 Um eine Perle. 


Geh, gutes Kind! bat der Kranke. 

Ich werde mich verirren, Eccellenza! Wer weiß, wie viele Leute in Manz: 
tua den Namen führen, den Ihr mir eben nanntet — 

Niemand — niemand außer ihrem Vater Marcello und dem ihr als fünf: 
tigen Gatten zugedachten Schwächling Abbondio. 

Aber, Eccellenza, erwiederte Giacinta nad) neuen Einwänden juchend, ich bin 
ja doc) die Medufa! Wern man mich nun, wie eben fchon einmal, erkennt und mic) 
wieder als Fahnenträgerin zum Mitziehen in einer der draußen lärmenden 
Prozeffionen preßt! Wie ſoll ic) Euern Auftrag ausrichten, Eccellenza! Hört 
nur das Jubiliren! 

Ich Höre nichts mehr. 

Ihr habt Necht, es iſt ftill geworden. Sie hielt bejtürzt den Atem an. 
Ferne, dumpfe Glodentöne hatten jeit geraumer Zeit in langen Abſätzen fich 
vernehmen laſſen — die Beitglode. Beide hatten fie überhört. Beide hörten 
die unheimliche Metallitimme jet zum erftenmale, kannten, als in Mantua nicht 
Heimifche, nicht ihre Bedeutung, Tiehen ihr aber mit dem Vorgefühl eines herauf: 
ziehenden düſtern Verhängniffes das Ohr. 

E3 war in der That bis auf jene dumpf über die erichrodne Stadt dahin- 
zitternden, jchauerlich dumpfen Töne ganz jtill geworden. 

Was wird es groß zu jagen Haben! kehrte Giufeppe zu dem Anliegen 
zurüd, welches Giacinta zu erfüllen geſäumt Hatte. 

Ic fürchte mich, aber Ihr wollt es, und ich gehe, jagte die Neapolita- 
nerin, indem fie das ihr in den Naden gefallene weiße geftictte Kopftuch wieder 
heraufzog; nur nennt mir die Straße, wohin ich gehen foll; ich werde Leute 
finden, die mir den Weg dahin zeigen. 

Giuſeppe lauſchte; er kam ſich rüdfichtslos, er fam fich graufam vor. Die 
Stille nad) dem lärmenden Jubel, das dumpfe Glodenläuten, die Furchtſamkeit 
des Mädchens — nein, e8 ging nicht; er ergriff ihre Hand. Ich will nicht, 
daß du dich in Gefahr begiebit, jagte er; bleibe, es wird fich ein andrer Bote 
finden laſſen. 

Nein, mein! rief Giacinta, Ihr follt mich nicht mit Unrecht Eure Wohl- 
thäterin genannt haben — hört nicht auf die Mißtöne der Glode, Eccellenza, 
wie heißt die Straße? 

Wirre Stimmen auf den Treppen und Gängen des Palaftes unterbrachen 
die Antivort Giuſeppes. Alles jchien in Aufruhr, in Auflöfung. 

Wie in einem Grabe, fo lautlo® war es biß heute im diefem Teile des 
weitläufigen Schlofjes zugegangen. Und jet! Giacinta duckte fich, als fei fie 
wieder ein Kleines Kind und habe eben dag Rollen eines Ausbruchs des Veſuvs 
vernommen. Giuſeppes Augen bligten — eine phantajtiiche Möglichkeit tieg 
vor feinem Geijte auf. 

Huf mir mich aufrichten, fagte er in fieberhafter Erregung, dort liegen 








Um eine Perle. 139 














Kiffen, türme fie hinter meinem Rüden auf. Wenn meine Befreier fich bis zu 
mir den Weg bahnen, will ich fie nicht durch den Anblick eines fraftlos Da: 
liegenden entmutigen. 

Biacinta gehorchte beforgten Blides, aber er zuckte bei dem mühſam zuftande 
gebrachten Aufrichten jchmerzhaft zufammen, und eine geraume Zeit verftrich, 
ohne daß auf ihre Fragen, wie ihm jet, eine Antwort erfolgte. 

Angſtvoll fniete fie neben feinem Bette, den Blick auf den vor Schmerz 
Verſtummten gerichtet, in ihren Händen den NRojenfranz. 

Draußen zitterte von Zeit zu Zeit der dumpfe, ferne Glodenton. Der 
Tumult auf den Treppen und Gängen des Schlofjes ftarb bald ab, bald wuchs 
er zu fturmartigem Braufen. 

Giacinta laufchte mit Hopfenden Pulſen. Ohimè! ſeufzte fie, und kann ich 
ihn denn jet verlaffen? Es geht mit ihm zu Ende! Misericordia, o Dio! 
Misericordia! 


Siebenunddreißigftes Kapitel. 


Was war inzwilchen vorgegangen? 

Als Herzog Francesco den Nachfolger Vitalianos durch das Fläſchchen 
mit dem weißen Pulver auf die Probe blinden Gehorſams geitellt Hatte, war 
er befriedigt zu einer Arbeit zurückgelehrt, die mit dem gejtern eingetretenen 
Wechiel feines Regierungsiyitems zuſammenhing. Es handelte ſich um ein 
langes, für jeinen Bruder Fernando beitimmtes Memorandum, in welchem er, 
eingedenf des Unbeſtandes aller irdischen Dinge, für den Fall feines Todes Ver— 
fügungen traf, vor allem jolche, welche dem lleinen Lodovico und defjen Schweiter 
zu ſtatten fommen follten, nicht minder der Mutter diefer zwei Kinder Fran: 
ce3co8, der Herzogin Margareta. Wie jchon erwähnt worden tft, hatte Fer— 
nando — Francescos nächitälteiter Bruder —, der im Alter von fünf Jahren be- 
reits mit der Würde eines Johanniterorden-Priors von Barletta bekleidet worden 
war und feit feinem zwanzigiten Jahre den Kardinalshut trug, vor Jahresfrift, 
beim Tode des Herzogs Vincenzo, dem geiftlichen Stande entfagt, ein im Hin- 
blid auf Franceseos ſchwache Gejundheit durch die Staatsraijon gebotener Schritt; 
Fernando weilte aber immer nod) in Rom, wo ihn der Wunsch feithielt, Die 
Gunſt jener Camilla Fa de Bruno zu gewinnen, von deren fpätern, durch das 
Gericht wieder gelöjten Che mit Fernando bereit3 die Rede geweſen ift. 

An diefen Bruder aljo war das Memorandum Francescos gerichtet. Warum 
ihn die Abfaffung desjelben mit Befriedigung erfüllte, obſchon der Arbeit eine 
Art Borgefühl nahen Abgerufenwerdens von diefer Erdenbühne zugrunde lag? 
Weil der gejtrige Tag eine tiefgehende innere Wandlung in ihm zuwege ge- 
bracht Hatte. Äußerlich war er der nämliche mißtrauiſch blidende, polternde 
und auch wieder gejchmeidig cinlenfende Mann geblieben, der Mann der unftät 


140 Um ı eine ie Perle. 





— Launen, vor ze bie ganze Schlofbebienung zitterte. Aber er 
hatte, wie ihm richtig ahnte, in der Perſon des alten Primaticcio einen zu— 
gleih Eugen Kopf und ein unbedingt vertrauenswürdiges Herz gewonnen, 
und das quälende Gefühl feiner einfamen Höhe war von ihm genommen. Nun 
auch Abbondio Buonacolfi, der legte jugendfräftige Sproß diefes erlauchten 
Haufes, aus dem Leben gejchieden, war die Begnadigung des alten Marcello 
ein weiterer, von feinem beflemmenden Gefühle mehr begleiteter Akt hochherzigen 
Kraftbewußtjeins gewejen, ein Aft, dejjen fich Francesco mit dankbarer Würdigung 
der Fürſprache Primaticcios freute, auch jelbft noch inmitten der gemijchten 
Empfindungen, welche die Evvivas draußen ihm bereiteten. 

Aber ich will noch volljtändiger die Dornen meines Herricheramtes in 
Rojen verwandeln, ſagte er, indem er plöglich die Feder wieder außfprigte und 
dann nach kurzer Überlegung das halbfertige Memorandum von neuem ver: 
ſchloß; ja, jo ſoll es jein: ich will auch meinen irregeleiteten Vetter zum Freunde 
gewinnen. So lange die Frage offen bleiben mußte, ob er leben durfte, jo 
lange konnte ich, fein Richter, ihm nicht die Gunft meines Anblids gewähren. 
Ich habe ihm verziehen, und ich jelbft will bei ihm Nachfrage halten, wie ihm — 
der Trank befam. 

Er lächelte, mit jenem Lächeln, das ihm zur übeln Gewohnheit geworden 
war, denn es verbarg ſich Schadenfreude Hinter diefem Lächeln, und doch war 
ein jolches Gefühl auf dem Grunde jeines Herzens nicht mehr vorhanden, und 
nur die Erinnerung an die bejtürzte Miene Antonio Marias bei dem Empfange 
des Fläſchchens und des dazu gehörigen vieldeutigen Auftrages machte ihn 
lächeln. 

Auf einmal griff er entſetzten Blickes in die Brufttafche feines Wamjes. Wo 
ift der Schlüffel? rief er, bei meiner Treu, das wäre ein übler Spaß! Er 
lächelte immer noch, doch fein Suchen nad) dem in der Tafche vergrabnen 
Schlüfjel zu dem Geheimjchranfe ward immer frampfhafter, obgleich er vor jich 
hinredete: Es war ja ein harmlojes Schlafpulver; was ficht mich denn an! Er 
jeßte fich wieder zum Schreiben. Aber wie, wenn nun dennoch das Fläfchchen 
Gift enthielt ... ftieß er tomlos heraus — wenn die Unordnung in dem 
Scranfe . . . wo ließ ich den verwünfchten Schlüfjel? Iddio sia lodato, da 
hab’ ich ihm! Francesco jprang auf und eilte, fich Gewißheit zu verjchaffen, 
das er das Fläjchchen nicht aus der Abteilung der Gifte entnommen babe. 
Haltig ſchloß er auf und mit krampfhaft bebenden Fingern griff er bald zur 
Rechten, bald zur Linken; überall gab es Lüden. Hatte er dort das Pulver 
entnommen? oder hier? oben oder unten? Hinten oder vorn? es war ihm un- 
möglich, Sicherheit zu erlangen. Mit eiligen Schritten ftürzte er endlich auf 
den Glodenzug los und herrſchte den eintretenden Pagen mit dem Befehle an, 
er möge bei Verluft feines Poſtens Antonio Maria auf der Stelle herbeiichaffen, 
auf der Stelle, subito, subito! 


Um eine Perle. 141 





Aber wo war Antonio Maria? Die Flucht des Schloßgefindes Hatte be: 
gonnen. Wie bei einem Erdbeben jeder vor allem ins Freie zu fommen jucht, 
ehe die Mauern über ihn zufammenftürzen, jo pflegte Damals der in einem Haufe 
ertönende Schreckensruf: Peste! pestilenze! alles, was Beine hatte, auf und da— 
von zu jagen, fei e8 von der Arbeit oder vom FFeitgelage oder aus dem Bette, 
jei es jogar vom Schildwach-Poſten, ob auch auf das Verlafjen desjelben Todes: 
itrafe jtehen mochte. Hinaus ftürmte alles, denn der Tod war ja allen auf 
den Ferſen, hinaus in die Kirchen, in die Klapellen, unter den Schuß des Santo 
protettore, hinaus in die jofort unter dem Vorantritt von Mönchen oder Nonnen 
fich bildenden Prozeffionen, denn e3 war ja erjte und dringendite Pflicht, ſich 
im Gebet und in Bittgefängen zu denen zu gejellen, welche den Zorn Gottes noch 
zu beichwören juchten. 

War denn aber die Peſt im Schlofje ausgebrochen, oder hatte der durch: 
ſtochene und durchräucherte Florentiner Brief, welcher geſtern Francesco und 
dann den zum Vorlejen desjelben befohlenen Pagen in jo arges Entjegen brachte, 
nachträglich nur ein Peftgerücht veranlakt? 

Keins von beiden. 

Aber die ebenjo fürchterliche Seuche, die vajuole jener jeuchenreichen Zeit, 
die ſchwarzen Blattern waren im Schlofje ausgebrochen. Seit drei Sahrhunderten 
hatte dieſes Schrednis des Orients fich in Europa eingebürgert und oft genug 
ganze Ortichaften entvölfert. Die Faftenprediger verjäumten nie, wenn fie von 
den Geißeln redeten, die der Herr in Zeiten großer Sündenverderbnis Über die 
erichredte Menjchheit zu jchwingen wife, auch die vajuole zu nennen und Die 
Mütter daran zu erinnern, daß unter Pharao die ganze ägyptiiche Erftgeburt 
durch die vajuole dahingemäht worden ſei. Die indische Podengöttin Mariatale 
Batragali Hatte hie und da, wie in Venedig und Verona auch in Mantua ge— 
heime Verehrer; und in Mantua fajt mehr noch als in den eigentlichen, mit 
dem Orient fich berührenden Handelspläten wurden Amulette aller Art, ob: 
ihon aus dem Podennefte Mefla und andern ähnlich verbächtigen Orten ein- 
geichmuggelt, gerade deshalb als wunderthätig geſchätzt, denn nur in jolchen Ge— 
genden fonnte ihre Geheimkraft fich ja erprobt haben. 

Das Lieblingszimmer, in welchem Francesco in müßigen Stunden, ziwijchen 
Netorten und Schmelztiegein, von niemand beobachtet und gejtört, der Kunſt 
des Hermes Trismegiftos, der Alchemie, oblag und wo er heute auch das für 
Fernando beitimmte Memorandum zu verfaffen begonnen hatte, befand fich in 
dem ältejten Teile des herzoglichen Palaſtes, dem Caftello di Corta, einem von 
Gräben feftungsartig umgebenen, durch Türme befeitigten Außenwerke zunächit 
dem Bonte San Giorgio. Das nahe Raujchen eines Wehres, vom Argile Mulino 
herüber das Klappern der Apoitelmühlen, das Waffenklivven der im Hofe mit 
Würfeljpiel und andern Zeritreuungen fich die Langeweile vertreibenden Helles 
bardire, das waren die Laute, welche bis in das Zimmer Francescos eintönig 





142 Literatur, 


heraufzuffingen pflegten. Er hörte fie auch Heute, denn fo wenig wie er jelbit 
— das Läuten Hatte noch nicht begonnen — von der im Hauptgebäude bes 
Palaftes tobenden Flucht etwas ahnte, fümmerten fich unten im Hof die Helle- 
bardire um das übrige Mantua, und fo wurde er denn fchon wegen des Aus— 
bleibens des nach Antonio Maria entjandten Pagen von feiner zornigen Uns 
geduld befallen, ehe der Bage überhaupt nur die Hälfte des Weges hätte zurüd- 
legen fünnen. 

Ich werde ihm die Ohrläppchen abfneipen fafjen, polterte der Herzog, indem 
er bald den Schrank zu- und wieder aufichloß, bald ans Fenfter trat und mit 
den Fingern gegen die fleinen rundlichen, bleiumrahmten Scheiben trommelte; 
halbe Tage lang liegt jolch ein Bage auf der Bärenhaut; das iſt's, das macht 
die Schlingel jo träge; pomabdifirt find fie wie eine venetianische Dogarefja an 
ihrem Einzugstage, und mit ihren jchönen Beinen machen die Burjchen Staat 
wie nur je eine Ballerina meines jeligen Herrn Vaters; aber dieſe jchönen 
Beine zum Laufen in Bewegung ſetzen, das ift unter ihrer Würde; maledetto! 

(Fortjegung folgt.) 





Siteratur. 


Das ftaatlihe Erbrecht und die Erbichaftsfteuer Bon Dr. Franz Bergboif: 
fing. Leipzig, Winterihe Verlagshandlung, 1885. 

Bekanntlich ift die Befeitigung des Erbrechts eine Forderung der Sozial- 
demofratie. Aber auch theoretiiche Sozialiften, welche den Gefichtöpunft der letztern 
weit vom fid) ablehnen, find für ein Miterbredht des Staated an den PVerlafjen: 
Ihaften jeder Urt eingetreten. Das vorliegende Büchlein, aus Seminarborträgen 
bei Adolf Wagner und Knies entftanden, giebt eine Have Ueberjiht dev Bewegung 
auf diefem Gebiete und tritt mit den erftern für eine partifulare Erbſchaftsſteuer 
al8 die Steuer aus einem einmaligen Einfommen ein. Sie fol auch Dejcendenten 
und Ehegatten gegenüber erhoben werden, mit der Entfernung der Verwandtſchaft 
und der Größe der Erbſchaft wachen, und in der Schenkungsftener ein Korrektiv 
gegen Umgehungen und eine Ergänzung finden. 


Die Spradenrehte in den Staaten gemijchter Nationalität nad den von 
Dr. Adolf Fiſchhof gefammelten Daten und gemachten Andeutungen dargejtellt. Wien, 
Manzſche Buchhandlung, 1885. 

Im Hinblid auf den Sprachenkonflikt in Defterreich find hier aus den ver: 
hiedenjten Gebieten der Erde, welche gemifchte Nationalitäten enthalten, zum Teil 
unter wörtlihem Abdrud der Geſetze die geltenden Rechtsverhäftniffe beim Gebrauch 


£iteratur. 143 
der Sprade im ftaatlihen und amtlichen Verkehr dargeftellt. Der Verfaſſer der 
Schrift ift fein Einheitsfanatifer, er predigt im Gegenteil für Defterreich Verfühnung 
und giebt die Wege an, auf denen jich die verſchiednen Nationalitäten mit ihren 
Konzeffionen begegnen können. Angeſichts der fozialen Frage, die fi) aud in 
Defterreich fühlbar macht, fieht der Verfaſſer in dem Sprachenkonflikt nur eine 
Schwächung der jtaatserhaltenden Elemente. Die legten Vorgänge im öfterreichifchen 
Abgeordnetenhauſe und der Ausfall der Wahlen jcheinen nicht angethan, die Hoff: 
nungen und Wünſche der Schrift zu verwirklichen. 








Zur bäuerliden Glaubens- und Sittenlehre. Bon einem thüringiihen Landpfarrer. 
Gotha, Schlöhmann, 1885. 

Es ift eine Thatſache, daß die dörflichen und bäuerlichen Zuftände oft von 
Leuten beſprochen und Fritifirt werden, denen eine ausreichende Belanntfchaft mit 
denjelben mehr oder minder abgeht. ES ift das noch jüngft in den Grenzboten 
angeficht3 der Anredeform: Du, Ihr oder Sie auf dem Lande Eonftatirt worden. 
Sowie ein Forjhungsreifender in fernem Lande erjt dann zu einem wahrhaft 
jahgemäßen, zutreffenden Urteil über Land und Leute imftande ift, wenn er nicht 
bloß flüchtig einige Tage oder gar Stunden, fondern Monate und Jahre in einer 
Gegend zugebracht hat, fo darf aud) der deutjche Bauer hier in der Heimat von 
und eywarten, daß man ihn zubor genau, d. 5. nad) feinen Licht: wie Schatten- 
jeiten, fennen lernt und ihm näher tritt, bevor man daran geht, fein Denken, Leben, 
Fühlen und Handeln zu charakterifiren. Die Redewendung von der Idylle des 
Landlebend und der naiven Unſchuld des Landbewohners erwedt oft genug bei 
ſolchen, die jchärfer zugefehen haben, ein Lächeln. Da fommt uns das oben ge- 
nannte Buch von einem genauen Kenner und Beobachter der dörflichen Verhält— 
nifje wie gerufen, und es ift und eine Freude, die Leſer der grünen Blätter, 
welche für ländliche Sitten und Zuſtände ein Intereſſe Haben, mit Nachdruck auf 
die mit großer Sadjfunde und mit Gejchid gezeichneten Bilder aus dem Landleben 
hinzumweijen. Hier find die Berhältnifje mit photographifcher Treue und, wie wir 
beim Lejen oft gedacht und don verjchiednen Seiten bejtätigt gefunden haben, aus 
genauefter Kenntnis der gefamten bäuerlichen Denk- und Anſchauungsweiſe heraus: 
geſchildert; es ift nichts übertüncht und verkleiftert, nichts übertrieben oder allzufehr 
ins Schwarze gemalt; nein, jo liegen die Dinge, und wer fie auß langjähriger 
Beobadhtung wahr und treffend gezeichnet jehen will, der greife zu diefem Buche, 
das dem Verfaſſer unter der Hand bis auf 445 Geiten (Kleinoktav) angewachfen 
ift, nachdem die Hauptgedanfen vorher den geiftlihen Amtsgenoſſen auf einer 
Konferenz dargeboten worden waren. Obgleich der Verfaffer der vorliegenden Be: 
ſprechung in der Rheinprovinz wohnt, hat er doch faft auf jeder Seite ded Buches 
aus Thüringen die Sitten, die Denk: und Anfchauungsweife jo analog denjenigen 
in feiner eignen Heimat und in andern ihm genau bekannten Gegenden Deutjch- 
lands dargeftellt gefunden, daß ihm faſt beftändig das hier durchaus zutveffende: 
Tout comme chez nous in den Sinn und auf die Lippen fam. 

Das ganze Bud ift ein redendes Zeugnis für das fcharfe und klare Auge 
jeined Herausgebers. Nach allen Seiten hin hat er das ländliche Thun und 
Treiben in feiner fchönen Heimat unter die Lupe genommen, die jegigen Zuftände 
des öftern mit folchen vor dreißig, vierzig und mehr Jahren verglichen und aud) 
mande ſprachliche Eigentümlichkeiten in die Darftellung mit eingeflohten, jodaß 
diefelbe nicht bloß für den Kulturhiſtoriker al® den Freund von Land und 
Leuten, jondern auch für den Sprach- und Dialektforfcher von Intereſſe iſt. Dem 


144 £iteratur, 





legtern hätten wir gerne eine nod etwas reichere Ausbeute in dem Buche gegönnt, 
und wir wollen nicht unterlafjen, bei diefer Gelegenheit darauf hinzumweifen, daß 
eben eine zweite Auflage von Vilmars Idiotikon vorbereitet wird, und daß Pro: 
fefjor W. Ereceliud in Elberfeld mit der Herausgabe ſehr wertvoller mundartlicher 
Sammlungen eines verftorbnen Gießener Forſchers aus Oberheffen und Umgegend 
bejchäftigt ift. 


Seine Shuld. Roman von J. Boy-Ed. Zwei Bünde. Leipzig, Reißner, 1885. 

Frauenarbeit, aber anmutiger Art. Eine ftille Heiterkeit behält die Oberhand, 
die wohlthuend berührt, weil fie aus einer gefunden Seele ftammt. Echt weiblid) 
ist das Hauptmotiv: die Eitelkeit eines jchönen Mannes, weldyer eine liebebedürf- 
tige, unglücklich verheiratete Fran zum Opfer fällt. Aber das Motiv ift etwas 
ihwächlich behandelt und durdjgeführt, da Jda Boy-Ed weder den Mut zur. fchnei- 
digen Satire noch zur rückſichtsloſen Tragödie hat. Das Bedürfnis zu verjühnen 
gehört eben in den Stil der Jamilienjournale, über. den fie ſich auch nicht erhebt. 
Viel glüdlicher ift fie in der. Region des harmlojen Humors, im welcher fie mit 
Vorliebe verweilt. Sind aud ihre Charaktere: dad naive Mädchen, welches mit 
feinem ſchuldloſen Wahrheitstrieb alle Konflikte löft, der brummige, aber pubel- 
treue Diener des Hauſes, der. geniale, aber täppiſch-gerade Mann, der engherzige 
Pedant u. ſ. w. feine Originale, jo weiß fie fie doch Hübjch zu zeichnen und in 
ihre Heine Menfchenwelt Abwechslung zu bringen. Kurz, jte weiß den Ton zu 
treffen, den die deutjchen Zamilientöchter gern hören, und einen Roman zu fchreiben, 
den man ihnen lieber in Die Hand geben möchte, als eine Ueberſetzung aus dem 


Franzöſiſchen. 


Mein Sohn! Bon Salvatore Farina. Aus dem Italieniſchen von Ernft Dohm und 
Hans Hoffmann. Mit einer biographiichen Einleituug von Siegfried Samoſch. Zwei 
Bände. Berlin, Paetel, 1884, 

Eigentlich ift dev Vater der Held dieſer humorvollen und graziöſen Schil— 
derungen des Familienlebens, feine Geſchichte erleben wir mit, wie er, der Rechts— 
anwalt Epaminondas Placidi, heiratet, fehnfuchtsvoll (mur allzufehr!) ein Kind er: 
wartet, wie der gewünjchte Junge ankommt, zur Amme aufs Land in ſchmerzlicher 
Trennung gegeben wird, heimkehrt, Kindertranfpeiten durchmacht, Schuljunge wird, 
den Vater mit feinen Bildungsqualen in Mitleidenschaft zieht, als Knabe zu lieben 
und zu reimen beginnt, und endlich auf der Univerfität fich zu einem feinem Vater 
noch überlegenen Zuriften ausbildet. Dazwifchen werden die väterlichen Sorgen 
über daS zweitgeborene Mädchen geſchildert, befonderd die um ihre Verheiratung: 
durchaus Genrebilder voller Anmut und Heiterkeit. Der italienijche Geift befundet 
ſich vielfacdy in der naiven Unbefangenheit, mit der intime Familiendinge berührt 
werden, und manches ift auf Rechnung jüdlicher Sinnlichkeit zu jeßen, z. B. Die 
übertriebene Freude des Vaters au dem nod) nicht geborenen Rinde, die Liebes: 
geſchichten des zehnjährigen Knaben u. dergl. m., was uns kühlern Nordländern 
unnatürlid), unwahr erſcheinen muß. 

Die biographiſche Einleitung iſt herzlich ſchwach; hätte fie ſich auf die Mit⸗ 
teilung der kurzen Autobiographie Farinas beſchränkt, jo wäre ihr Zweck voll— 
fommen erfüllt geweſen. Die Ueberſetzung dagegen, welche größtenteild von Gans 
Hoffmann, dem poeſiereichen Novelliſten, herrührt, iſt meiſterhaft. 


Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. 
Verlag von Fr. Wild. Grunow in Leipzig. — Drud von Carl Marguart in Leipzig. 








Rurzfichtige Politiker. 
Aus Öfterreich. 


— | a8 alberne Lied von der Unterdrückung der Slawen durch die 

— Deutſchen in Oſterreich iſt ſo ziemlich verſtummt. Die geſcheiten 
a) Leute, welche es früher anjtimmten, wußten jehr gut, wie wenig 

A HEN N 4 ihre Klage auf Wahrheit begründet war, und daß allein das 
— abſolutiſtiſche Syitem den Nationalitäten Fejjeln und Maulkorb 
angelegt hatte und die Deutichen am meijten zum Sturze jenes Syſtems bei: 
getragen haben; und die bornirte Maffe, welche es gedanfenlo8 mitjang, fordert 
heute als ihr Necht, die Deutjchen unterdrücden oder verjagen zu dürfen. Wie 
zu andern Zeiten das reine Evangelium, jo müffen in der unfern Freiheit und 
Nationalität als Feldzeichen dienen für fommuniftiiche Gelüfte: die verdammten 
Deutjchen haben die von ihnen bewohnten Landjtriche blühend gemacht, fie find 
zum guten Teil „Beſitzende,“ darum fort mit ihnen, die armen Tichechen und 
Slowenen wollen auch leben! Aber in den Führern rührt fich immer wieder 
das böje Gewiſſen. Der jegige Faſching könnte doch plößlich ein Ende nehmen, 
und die Deutjchen fangen endlich) an zu lernen, was bei der jentimentalen 
Brüderlichkeitspolitif herausfommt. Deshalb dürfen fie um feinen Preis zu 
Önaden angenommen werden, und zu dem Ende muß das Mißtrauen der Re— 
gierenden gegen fie jtet3 aufs neue angefacht werden. Darum „Preußenjeuchler, 
Kornblumenritter, Irredentiſten.“ Und wiederum ftoßen nur die Dummen die 
Berdächtigung in gutem Glauben aus. Die Herren, welche in Prag, Laibach ꝛc. 
nationale Bolitif machen, fennen ihre Landsleute deuticher Zunge zu gut und 
haben zuviel Verjtändnis für die deutjche Politif, um wirklich Befürchtungen 
zu hegen. Aber auf einem Punkte hört ihre Klugheit auf. Durch den Miß— 
brauch der jet in ihre Hände gelegten Gewalt, durch das Schüren und Heben 

Grenzboten III. 1885. 19 





146 Kurzfichtige Politiker. 


und dureh das unabläſſige Hinweijen auf die Anziehungskraft, welche die Größe 
des ſtammverwandten Nachbarreiches ausüben müjje, können fie es endlich dahin 
bringen, daß der Deutjchöfterreicher wie der Ruthene mit Schnjucht über die 
Grenze blict, wo er nicht nötig haben würde, mit feiner Steuerfraft feine er- 
bittertften Feinde zu nähren. Erlebt Öfterreich wirklich eine Srredenta, auch 
an der Nord: und Nordoftgrenze, jo wird nicht dem Mangel an Energie, der 
Nachgiebigfeit gegen zentrifugale Tendenzen die Schuld beizumefjen fein! 

Die politische Spekulation hat fich bekanntlich ſchon zu verfchiednen Zeiten 
mit der Möglichkeit des Anjchluffes der deutfchen Länder Äſterreichs an ein 
geeinigtes, aber nicht unter habsburgifchem Szepter geeinigtes, Deutjchland be- 
ſchäftigt. Noch als fo vielen der Weisheit ganzer Schluß in den Worten lag: 
Das ganze Deutjchland joll es fein! — und durch Verbrüderungsfejte die jchönere 
Bufunft herbeigeführt werden follte, zweifelten fühlere Beobachter an der Er- 
reihung jenes Ziele überhaupt, ſelbſt für den Fall einer Entjcheidung der 
deutjchen Frage durch das Schwert. Und zwar haben wir damals öfter die 
Stadt Wien als eins der Hindernifje bezeichnen hören. Was follte aus diejer 
werden? Zur Hauptjtadt Deutjchlands fei fie ungeeignet jchon durch ihre Lage 
an der äußerten Grenze, von anderm abgejehen, gleichzeitig aber zu groß, zu 
bedeutend in jedem Sinne, um zu einer Provinzhauptitadt herabgedrüdt zu 
werden. Das Adern: und Nervengeflecht eines großen Neiches verfnote jich zu 
naturgemäß in dieſem Mittelpunfte desjelben und Lafje fich nicht willfürlich zer 
Ichneiden. Nun, an der Wegräumung diejes Hinderniffes arbeiten jegt mit aller 
Kraft jämtliche deutjchfeindlichen Elemente im Reiche! Wien ſoll eine Provinz- 
jtadt werden. Der giftige Neid wühlt und nagt unabläffig an den Wurzeln 
jeiner Größe, der Zufluß der Säfte wird geftört, die Slanäle, in welchen das 
geiftige und materielle Leben zwilchen dem Zentrum und der Peripherie pulfirt, 
jollen verjtopft werden. Wohl ift der Raum zwifchen dem jegigen und dem idealen 
BZuftande noch ziemlich groß, und es bleibt fraglich, ob jemals Prag der Sitz 
eines „Generallandtags“ und eines Minifteriums der „Länder der böhmischen 
Krone,“ Laibach ebenjo der Mittelpunkt eines fjüdjlawischen Länderkomplexes, 
Lemberg oder Krakau die Hauptitadt Polens werden, und Wien dann in gleicher 
Reihe mit diejen Städten ftehen werde. Inzwiſchen darf fich die Agitation 
ſchon mancher Erfolge rühmen. Belt entwidelt fich unjtreitig, mag auch manche 
Potemkinſche Dekoration zur Blendung der Fremden und — der Einheimischen 
aufgeführt werden; und wie dieſe mwachjen andre Städte vielfach auf Koften 
Wiens. Lebteres ift nur noch zu Zeiten Nefidenz, ſieht fich in einzelnen Be— 
ziehungen in die zweite Linie gedrängt, der nationale Adel ſanmelt fich längſt 
nicht mehr am Wiener Hoflager, die Dezentralifation macht ſich auch auf wirt: 
Ichaftlichem Gebiete ſchwer fühlbar. Darob jubelt man in den gegnerijchen 
Lagern und ſchmunzeln die guten Freunde in Buda-Peft. Die Magyareı find 
nämlich feine Feinde der Deutjchen, beileibe! Sie gefallen fich vielmehr gelegent- 


Kurzfichtige politifer. 147 





fi darin, eine Gonnermiene anzunehmen, TERN daß fie i in der Unter— 
drückung des Deutſchtums in Ungarn und Siebenbürgen nicht geſtört werden. 
Ihr Größenwahn läßt fie ſogar mit einer gewiſſen Gleichgiltigkeit an eine 
Wendung der Dinge denken, infolge deren die Grenzpfähle an der Leitha ſchwarz— 
weißrot anjtatt ſchwarzgelb gefärbt fein würden. Uber die Tichechen und Kon- 
jorten? Träumen fie wirklich von einer Selbjtändigfeit, welche ihnen die Be— 
deutung der Serben, Rumänen u. |. w. verleihen würde? Glauben fie im Ernſte, 
daß das deutfche Reich, geziwungen nach) den deutjchen Ländern Diterreichs zu 
greifen, ihnen die Gebiete preisgeben würde, in welchen neben Deutjchen Slawen 
wohnen? Daran ift nicht zu denken, fie wiffen, daf fie nichts find ohne Ofter- 
reich. Nichtsdeftoweniger geht ihr Streben dahin, Wien an die Situation einer 
PBrovinzhauptitadt zu gewöhnen. In den Zeiten, von welchen oben gefprochen 
wurde, hieß es, ein Vergleich zwilchen Wien und Neapel fei nicht jtatthaft, 
weil die bourbonische Mißwirtſchaft fehle. Allein e8 muß nicht immer das 
Herricherhaus fein, welches den Boden für die Annexion vorbereitet! 

Dürften wir nur die Deutjchen von dem Borwurfe der Kurzfichtigfeit 
freiiprechen! Das widernatürliche Bündnis zwiſchen der flawifch-feudalen Partei 
und den fonjervativ und Firchlich gelinnten Deutjchen ſcheint glücklich gefprengt 
zu fein, bis zum Wiederzufammentritt des Neichsrates wird die Bildung einer 
Zentrumspartei vollendet fein, welche vorausfichtlich im verfchiedne Fragen mit 
der Rechten ftimmen, in allen nationalen jedoch ihre Unabhängigkeit wahren 
will. Hie und da in deutichen nichtfonjervativen Streifen ijt man geneigt, 
diefe günjtige Wendung auszunugen, mit den Hilfstruppen gegen das Slawen- 
tum eine Berftändigung zu juchen. Und deshalb erhebt die alte verfafjungs- 
treue Preffe ein Wehgefchrei. Man ift zwar deutſch, durch und durch deutjch, 
aber mit deutichen Konjervativen ein wenn auch noch fo loſes Bündnis 
Ichliegen — nimmermehr! Solche entjegliche Männer müſſen zurücdgejtoßen, 
geihmäht und verhöhnt, am liebſten wieder in das Lager der Feinde gejagt 
werden. Wenn die deutjchen Liberalen Verbündete juchen müfjen, dann können 
fie fich nur an die — Liberalen andrer Nationalitäten wenden, lehrt ein Inns— 
bruder Blatt, und andre druden jolche Weisheit wohlgefällig nach. Der Rat 
ift vortrefflih. Liberale giebt e3 ja, wohin wir bliden, die Herren Smolfa 
und Biemialfowsti, Hausner und Zyblikiewicz find ja liberal, nicht bloß die 
Sungtjchechen, jondern auch Herr Rieger und feine Freunde find Demokraten — 
fie brauchen nur zu wollen, und die Klerikalen und Feudalen jehen fich plötzlich 
einer erdrüdenden liberalen Mehrheit gegenüber. Leider wollen fie nicht, auf 
alles Werben um ihre Freundſchaft haben fie jtetS mit Hohn geantwortet, in 
jedem enticheidenden Augenblide den Ariftofraten und Ultramontanen Heeresfolge 
geleiftet; und was den Haß gegen das Deutjchtum betrifft, pflegen diefe Liberalen 
ihren fonfervativen Landsleuten noch um eine Pferdelänge vorauszueilen. So 
proffamirte einſt Schmerling unter der jubelnden Zuftimmung feiner Getreuen, 


148 Kurzfictige polititer. 





wenn — Öfterreich mit dem widerſpenſtigen — —— ſollte, dann 
doch nur mit den Liberalen, nie mit den Konſervativen. Ach, und von den 
letztern hätte er den „Ausgleich“ ſo viel billiger haben können! 

Der leitende Staatsmann gab damals, ſoviel wir uns erinnern, keinen 
Grund für ſeine Weigerung an, den Frieden aus den Händen der Konſervativen 
anzunehmen. Er rechnete darauf, und mit Recht, daß ſeine Zuhörer bei dem 
Wort konſervativ an Ketzergerichte, Leibeigenſchaft, jus primae noctis ꝛc. denken 
und ſchaudern würden. Das iſt nun mehr als zwanzig Jahre her, zwanzig 
Jahre voll Erfahrungen, die in der übrigen Welt zu ganz andern Anſichten 
über Liberalismus und Konſervatismus gefühlt haben; nur in Dfterreich bes 
jteht troß aller Erlebniffe nod) der kindliche Glaube an die jeligmachende Kraft 
der Liberalen Phraſe, nur in Öfterreich kann man noch einem politüchen Manne 
oder einer Partei mit dem Worte fonjervativ einen Makel anhängen. Das war 
begreiflich, jolange die prinzipiellen Gegner bürgerlicher und Gewiſſensfreiheit 
dieje Bezeichnung für fi in Anjpruch nahmen. Dem ijt aber nicht mehr jo. 
Was man längit herbeijehnen mußte, vollzieht fich; diejenigen Deutjchen, welche 
weder die Verfaffung umftürzen, noch Ofterreich zu einem flawijchen Staate 
machen, noch das Konkordat wiederherjtellen wollen, brechen mit den Polen, 
Tichechen und Ultramontanen, treten diejer deutjchfeindlichen Koalition mit voller 
Entichiedenheit entgegen; fie wollen eine Mittelpartei bilden, welche das 
Deutſchtum hochhält, alfo in der wichtigften, im der Lebensfrage zu gunjten 
der Linken entjcheiden wird. Und trogdem muß vor ihnen wie vor Ausjägigen 
gewarnt werden? Was erwartet man entjetliches von ihnen? Die Antwort 
auf dieje frage wird uns nicht vorenthalten. Sie ftehen in dem Verdacht, die 
fonfejftonelle Schule wieder einführen zu wollen. Welch ein Unglüd in eimer 
Zeit, in welcher es jedem freifteht, fich zu jeder beliebigen oder garfeiner Kon- 
fejfion zu befennen und darnad) jeine Kinder vor der Berührung mit einem 
bejtimmten Glauben oder jedem Glauben überhaupt zu fchügen! Wer mit der 
katholischen Kirche zerfallen iſt, kann Altkatholif, Proteftant, kann konfeſſionslos, 
und wenn er ganz fortgejchritten ift, Jude werden. Aber merkwürdigerweiſe 
wird von ſolcher Freiheit faft nur Gebrauch gemacht, wenn es ſich um ge 
miichte Ehen handelt. Und in Wahrheit haben auch die nichtgläubigen Katho- 
lifen garnicht folche Furcht vor der konfeſſionellen Schule, wieder geht die 
Agitation von den Juden aus, welche darin eine Beichränfung der Freiheit, 
wie fie fie meinen, wittern. Die Menjchheit könnte wieder religiös werden, der 
ihnen jo fympathifche Indifferentismus könnte an Boden verlieren. Und fm 
das zu verhüten, jollen die Deutfchen in Ofterreich in feindlichen Parteien zer- 
jplittert bleiben. Wage es, dich als gläubigen Katholifen zu befennen, und du 
wirjt allein deshalb als Feind der Freiheit und des Vaterlandes angefchrieben! 

Natürlich muß in diefem Kampfe die Stellung der Zentrumspartei im 
deutjchen Reiche ihren Dienft leiſten, als ob die öfterreichiichen Konſervativen 


Kurzfichtige Politifer. 149 








den Staatsgejegen ihre Anerkennung verjagen und mit Fortichrittlern, Sozial: 
demofraten und Polen fooperiren wollten! Das Kunſtſtück it fo plump, und 
icheint doch immer noch zu wirfen. Auch jonft werden deutjche Zustände gern 
benugt, in dem Vertrauen, daß der Beitungslefer von denjelben nicht mehr wifje, 
als was eben die Zeitung ihm zufommen läßt. Im deutjchen Reichstage figen 
weniger Antifemiten, als im nächlten Reichsrate ihren Pla finden werden. 
Das fommt aber nicht etiva daher, daß das Judentum in Deutichland noch 
nicht zu jener gefährlichen Macht herangewachjen ift wie in Öfterreich, fondern 
ijt eine Folge — man höre und ftaune! — de3 allgemeinen Stimmrechts! 
„Sroße Gefahren drohen von jenen Elementen des Volkes, welche heute noch 
nicht Direft teilnehmen an der politischen Arbeit, aber die Probleme, welche 
dieje gewaltige Menge bewegen, find von einem erjchütternden Ernite und von 
einer edefn Ehrlichkeit. In dieſe Gemüter ift feine Spur von Raffentheorie ge- 
drungen, fie wijjen, daß der Hunger alle Menjchen gleichmäßig jchmerzt und 
dab das Elend alle heimfucht, we Glaubens fie auch ſeien. An dem Tage, 
wo die ehernen Schritte der Arbeiterbataillone vernommen werden jollten, wo 
das ganze Volk bei den Wahlen feine Stimme erheben wird, da beginnen die 
ernjtejten Probleme der Gejellichaft, aber da verjchwindet auch) der Antiſemi— 
tismus, das häßliche Produkt wirtichaftlicher Reaktion, der traurigite Beweis 
für die Macht der Lüge.“ Zu dieſem unglaublichen Unfinn verftieg ſich dieſer 
Tage das Hauptorgan des Mancheſtertums, unmittelbar nachdem der Brünner 
Arbeiterftreif in den Fabriken der Juden ausgebrochen war und die Arbeiter 
der chrütlichen Fabrikanten die Arbeit erft einjtellten, als der Terrorismus der 
Streifenden fie dazu zwang! In Hieging wäre ein Antifemit beinahe gewählt 
worden — das ijt ernfter als die erniteiten Gefahren, welche die Geſellſchaft 
bedrohen! Wie groß muß die Angſt der Herren bereit3 fein, wenn fie jchlecht- 
weg druden laſſen, der Antijemitismus greife in Öfterreich um ſich, weil die 
jegige politijche Generation noch aus der Konkordatsſchule, der Schule der In: 
toleranz, hervorgegangen jei, und „nirgends jet ein größeres Elend zu finden 
als in jenen SKreijen, welche ihr Leben durch den Gewinn aus der Vermittlung 
zwiichen den Erzeugern und Verzehrern finden müfjen.“ Der Paſſus ift zu jchön, 
als daß wir ung enthalten fünnten, ihn wörtlich wiederzugeben. Auch werden 
wieder die edeljten Juden hergezählt, diesmal nicht Moſes Mendelsfohn, jondern 
Johann Jacoby und Lasfer, damals Feinde der „verfnöcherten Bourgeoifie, Laſſalle 
und Marz, und endlich die jozialdemofratischen Juden im deutichen Reichstage. 
Die Zeitung hätte noch einen Schritt weiter gehen und geltend machen fönnen, 
welche Rolle Juden in den Hauptquartieren des Nihilismus und Anarchismus 
jpielen, in den Konventifeln, von welchen fanatifirte Chriften mit Dolch und 
Dynamit ausgejandt werden. Aber dann hätte doch einer oder der andre Lejer 
auf den Gedanfen fommen können, daß es der Hang des Semiten zum Ber: 
jegen und Untergraben jei, was die heutige Bewegung ins Leben gerufen bat. 


150 Der Liberalismus und der prinzipielle Konfervatismus. 





Der Deutfche wehrt fich endlich feiner Haut gegen alle jeine Bedränger, ob fie 
nun Slawen oder Juden heißen, und wird fich weder durch tichechiiche noch 
durch jüdische Redensarten begütigen lafjen. 

Bur Signatur der Zeit gehört noch, daß die Liberalen nach deutjchem 
Borbilde anfangen, mit Dftentation den Kronprinzen wegen feines Liberalismus 
zu feiern. Wer nun noch nicht Reſpekt vor ihrer politischen Klugheit befommt, 
der ijt unverbeſſerlich. 






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—— n i 





Der Liberalismus und der prinzipielle Ronſervatismus. 


5 iſt uns einmal begegnet, daß entſchieden konſervative, in ihrer 
A Gegend an der Spige der fonjervativen Bewegung jtehende 
BR 2 Männer ich gleichwohl mit einer gewiſſen Leidenjchaftlichkeit 
S, dahin ausfprachen, ein „ideales Prinzip“ dürfe man im Konſer— 







— vatismus nicht ſuchen. Ein ſolches biete vielleicht der Liberalis— 
mus, vielleicht auch die Sozialdemokratie; aber der SKonjervatigmus, der 
jei nur „praktiſch“ und befriedige nur gewiſſe, nicht abzuweiſende Bedürf- 
niffe des Tages. Nun, da dachte doch jelbit Macaulay, der im Sonjervatismus 
den unerläßlichen Ballaft eines der liberalen Segelfraft ſonſt gar zu jehr 
preisgegebenen Schiffes erblidte, noch höher vom Konfervatismus, als dieje an- 
geblich fonfervativen Herren. Wer aber wird fich darüber wundern, daß der 
Liberalismus einen jo merkwürdigen moralijchen Vorjprung hat und feine An- 
bänger mit einem jo ganz andern Maße von Selbjtbewußtjein und politiſcher 
Energie auszurüften vermag, als eine Partei, der von vielen ihrer eignen An— 
hänger die innere Berechtigung, die Jdealität ihres Weſens abgejprochen wird? 

Bon welcher Bedeutung gerade diefer Punkt für die Stellung des Libe- 
ralismus zu der fonjervativen Partei und allen fonjervativen Reformbeitrebungen 
ift, das war der Verfaffer dieſes Aufjages oft in der Lage wahrzunehmen. In 
der Polemik mit liberalen Blättern, in öffentlichen Diskuffionen, im Privat- 
gefpräche mit politischen Gegnern trat es ihm jtet3 deutlich vor Augen, daß Die 
Leute gegen eine gewifje Art des Konjervatismus ganz duldjam und konziliant 
zu fein entichloffen waren, nämlich gegen ein refignirtes Lobpreijen der guten 
alten Zeit, gegen ein hoffnungslofes Kopfjchütteln gegenüber zahlreichen ung 
umgebenden Erjcheinungen, gegen ein müdes, verdrießliches, verjtändniglojes 
Sich-Abwenden von den modernen Grundjägen, gleich als ob einer jagte: 


Der £iberalismus und der prinzipielle Konfervatismus. 151 


„Macht's unter euch aus; ich verjtehe diefe Zeit nicht nnd will fie auch gar- 
nicht verſtehen.“ Ja, jo einen Konjervatismus, aljo etiwa den eines penftonirten 
Dffizier8 oder eines dito Beamten der alten Schule, allenfall3 auch eines miß— 
vergnügten Nittergutäbefigers oder jonftigen „Depofjedirten,“ den Tiefen fich 
die Herren ganz gern gefallen, und waren ohne Widerrede bereit, demſelben 
gelegentlich eine halb höfliche, Halb jpöttiiche Verbeugung zu machen. Solange 
aljo der Konfervatismus fein „Prinzip“ fein wollte, jondern ſich begnügte, 
einen ärgerlichen, etwas pejjimiftiich angehauchten Gegenjag gegen allerhand 
Modernitäten zum Ausdrud zu bringen, folange verjtand man fich ganz leidlich 
mit ihm und hatte auch garnichts dawider, daß jo aus „Hinterpommern und 
Mecklenburg“ auch einige Vertreter dieſes Standpunftes in den parlamentarijchen 
Körperichaften faßen. Sobald man aber auch auf fonjervativer Seite prinzi« 
piell werden wollte, hörte der Spaß auf; von diefem Augenblide an konnte 
man ſich darauf gefaßt machen, daß dem einzelnen Manne gegenüber alles aufge- 
boten wurde, um jeiner perjünlichen Ehre etwas anhängen zu fönnen, und daß 
die Zeitung, welche den moralischen Mut hatte, einen derartigen Standpunft 
zu vertreten, als ein Blatt bezeichnet wurde, mit dem man ſich anjtändiger- 
weile nicht einlafjen könne und auch nicht nötig habe, fich einzulajjen. Es 
braucht wohl kaum bemerkt zu werden, daß hier der eigentliche Quell der bit: 
tern, giftigen Gehäſſigkeiten zu juchen ift, welche jeit einer Reihe von Jahren 
für unfer öffentliches Leben jo charafteriitiich geworden find. Ein in folcher 
Weiſe überall auf das perjönliche Gebiet hinübergefpielter politischer Kampf ift 
ja ein wahres Treibhaus für Diejenigen Verbitterungen, die immer eine aus der 
andern hervorwachjen und fich gegemjeitig fortwährend fteigern, und die Probe 
auf Das Erempel liegt überall in Deutichland, wo ein prinzipieller Konſer— 
vatigmus in den Kampf eingetreten it, deutlich vor Augen. Der tiefere Grund 
für die leidenjchaftlihe Erbitterung und Gereiztheit, die in allen diefen Fällen 
ſchnell ausbrach und allen beiderjeitigen guten Willen, auch im politiichen Mei: 
nungsfampfe Die gegenjeitige perjönliche Achtung zu bewahren und zu bethätigen, 
erfolglos machte, ift offenbar nicht? andres, als daß ber Liberalismus es 
Ichlechterdings nicht ertragen kann, fein alleinfeligmachendes Prinzip in Frage 
geftellt zu jehen, und denjenigen Menfchen, der dies thut, für nichts andres als 
einen Feind aller Kultur und alles Fortichrittes, wo nicht kurzweg für einen 
Heuchler und Lügner zu halten vermag. Diejer Punkt ift jo durchichlagend, 
daß ſchon eine bloße Steigerung feit Jahrzehnten vorhandener fonjervativer Be- 
jtrebungen im prinzipiellen Sinne genügt, um das amgedeutete Refultat, die 
gejeltfchaftliche Achtung der Blätter und Männer, welche die Träger dieſer 
Steigerung find, für alle liberalen Kreife herbeizuführen. Ja, es ijt jo: Die 
„Liberale* Gefinnung, welche allen uns umgebenden Erjcheinungen gegenüber 
Geiftesfreiheit und billiges Urteil fich zu wahren jucht, iſt gegenwärtig bei 
feiner Partei, jelbjt bei den Ultramontanen nicht, jo jchwach vertreten wie bei 








152 Der £iberalismus und der prinzipielle Konfervatismus. 





unſern „Liberalen.“ Daher fommt es auch, daß der heutige Liberalismus eine 
jo merkwürdige Neigung hat, der fonfervativen Seite vorzudoziren, ivelchen 
Standpunkt allein er als einen „berechtigt konſervativen“ anerfennen könne, 
und gewilje, von der gewaltigen Fonjervativen Tagesjtrömung unberührt ge: 
bliebene altfonjervative Philiſter als Mufterfnaben eines „wirklichen Konſerva— 
tismus“ auszugeben. Wie würde ſich der Liberalismus ins Fäuftchen lachen, 
wenn es wirklich feine andern Stonfervativen mehr gäbe! Auf der andern Seite 
werden aus demfelben Grunde diejenigen Konfervativen, welche in der politifchen 
Agitation einen prinzipiellen Gefichtspunft hervorfehren, mit jo ganz ausbün— 
digem Hafje und jo wütender Verfolgung beehrt. 

Wir jprachen einmal mit einem Manne, welcher in der gegnerischen Preffe 
eine gewifje Rolle ſpielt und welcher fich perfünlich eine Leidliche Unbefangen- 
heit des Urteils gerettet hatte, über die Möglichkeit, dem politischen Partei— 
fampfe eine weniger jcharfe und bösartige Färbung zu geben. Es war dem 
betreffenden Herren ebenjo auffallend wie unangenehm, daß wir als die erjte 
Forderung, die wir unſrerſeits behufs einer etwaigen gegenjeitigen Abmachung 
an die Gegenpartei zu jtellen hätten, folgendes bezeichneten: dieſelbe müſſe auf: 
hören, unfre Partei prinzipiell als eine minderberechtigte, als eine einesteils 
nur don der Regierung aufrecht gehaltene, andernteil3 aus bloßen eigenfüchtigen 
Intereſſenten bejtehende zu bezeichnen, und — ſtillſchweigend oder direkt — jo zu 
thun, als fönne doch ein gebildeter, jachfundiger, auf das Öffentliche Wohl be- 
dachter Mann unmöglich anders als etwa unter dem Drude zufälliger, äußer- 
licher Umstände unfrer Partei angehören; mit einem Worte, wir betonten, daß 
unjer Prinzip als ein, wenn auch befämpftes und für faljch gehaltenes, jo doch 
in feiner Urt gleichfall® berechtigte und im fich vollfommen mögliches aner- 
fannt werden müffe. Eine beftimmte Antwort gab unfer Gegner nicht, aber 
auf jeinem Gefichte ſtand zu lefen, daß gerade diefe Forderung für feine Partei 
unerfüllbar jei. In der That, wie kann der heutige Liberalismus darauf ver- 
zichten, fich feinen Anhängern gegenüber wenigitens noch, nachdem alle praftijchen 
Gefichtöpunfte fich gegen den Liberalismus erklärt haben, als den Träger des 
innerlich allein möglichen, allen „gebildeten Leuten“ notwendigermweife gemein- 
ſamen Prinzips aufzufpielen! Das iſt ja das Einzige, was ihn noch hält! 
Wenn jonjt nichts, jo iſt doch diefes Eine dem Liberalismus in den Jahren 
feiner Herrichaft gelungen: dem Publikum, namentlich dem gefamten deutjchen 
Philiſtertum, die Überzeugung beizubringen, daß „gebildet“ und „liberal“ gleich- 
bedeutend jeien oder fich doch gegenfeitig ergänzten. Allen Schiffbruchs in 
nationalen, jozialen, wirtjchaftlichen, ethichen Fragen ungeachtet, vermag der 
Liberalismus, dank allein diefer Überzeugung, feine Fahne noch immer Hochzu- 
halten und Leute, die im,gerzen längſt fo antiliberal wie nur möglich geworden 
find, mafjenhaft zu feinen Urnen zu führen. Und da foll er den Aft, auf dem er 
fit, durd) das Zugeftändnis abjägen, daß die Konfervativen auch ein Prinzip 


Der £iberalismus und der prinzipielle Konfervatismus. 153 





hätten, freilich eines, dem das und das und das entgegengehalten werden fünne, 
aber doch immer eines, welches auch feine Berechtigung habe? Das ift von Fleisch 
und Blut zu viel verlangt, und jo hält denn der Liberalismus (fo jonderbar es 
auch gerade ihm zu Gefichte jteht, die Freiheit der Meinungen auf einen bejtimmten 
Kreis von Meinungen zu beichränfen und für alles über denjelben Hinausgehende 
den Schimpf- oder doc VBerunglimpfungs-Komment für den einzig angebrachten, 
jede Diskuffion mit einer ſolchen Meinung aber für ausgeichloffen zu erklären) 
hartnädig daran feit, alle Verjuche zu einer tieferen, im fich geſchloſſenen Be— 
gründung der fonjervativen Idee zu ignoriren, alle diejenigen aber, welche bei 
einer jolchen Begründung mitarbeiten, a priori für verabſcheuungswürdige, wahr: 
icheinlicherweife auch fittlich jchlechte und daher mit allen, nötigenfalls jelbjt mit 
den jchmugigiten Waffen zu befämpfende Männer zu erklären. 

Und doc) follte es jo nahe liegen, daß Liberalismus und Konjervatismus 
nur zwei Seiten einer und derjelben Sache, oder, richtiger ausgedrüdt, zwei 
Pole derjelben Strömung find; daß der eine gemau jo wejentlicy und jo innerlich 
berechtigt ift wie der andre, und daß die ganze Kulturgeſchichte weiter nichts iſt 
als ein wechjeljeitiges Vorwärtsſtreben dieſer beiden Richtungen, ein jtetiges Sic): 
Ablöjen und Sich-Ergänzen zweier Dinge, die jo wenig von einander getrennt 
werden fünnen wie Blüte und Frucht, wie Licht und farbe, wie — um dem 
Kerne der Sache näher zu rüden — Menſch und Menjchheit. Nicht wie 
Macaulay meint, jtellt der Konjervatismus lediglich den, zwar auch nötigen, 
Ballaſt, der Liberalismus aber die Segelfraft dar; im grunde wäre dies ja 
nicht3 andres als die landläufige Vorjtellung, die Sonjervativen wollten eben 
nur „alles Alte nach Kräften erhalten“ wifjen! Nein! Der Kern aller Gegenjäße, 
weiche vom Beginn der Menichengeichichte an die Menjchen im zwei Heerlager 
ipalteten und allem ernjthaften Parteiweſen ſtets zu grunde gelegen haben, tjt der 
Gegenlag zwijchen dem allgemeinen und dem Privatinterejje Dan 
ichlage ein beliebiges Blatt innerer Volksgeſchichte auf, man prüfe irgendeinen, für 
die Entwidlung eines Staatsweſens erheblichen Kampf der Parteien: jtet3 wird 
diejer Gegenſatz uns als die eigentlich treibende Siraft begegnen. Daher aud) die 
Fortpflanzung jeder einmal ins Leben getretenen Parteibildung nicht nur durch 
die Jahrhunderte hindurch, jondern aud) auf andre Völfer und Staaten; es ijt 
im grunde immer der gleiche Gedanfe, der die jcheinbar nur vorübergehenden 
Geſichtspunkte einer Partei ſtets ciner bejtimmten, bleibenden Richtung dienjtbar 
erhält. Deutlich erkennbar liegt hierin aud) der Zufammenhang unjrer Parteien 
jowie ihrer Ziele und leitenden Grundjäge mit der hijtoriichen Entwidlung. Wie 
die konſervative Partei jich früher an den einzigen ernjthaften, leiitungsfähigen 
Staat flammerte, den wir bejaßen, jo will jie heute vor allem das Reid) ge— 
jeftigt und ‚innerlich gejchloffen, nach außen widerjtandsfähig, nach innen auf 
beitandsfähigen Grundlagen der guten Sitte und der wirtichaftlichen Tüchtigfeit 


errichtet jehen, und will auch die künftige Entwicklung des deutjchen zn nad) 
Grenzboten Ill. 1885. 


154 Der £iberalismus und der prinzipielle Konfervatismus. 





außen möglicht im Rahmen des deutjchen Staates feitgchalten wijfen; Die 
liberale Partei, hervorgegangen aus den Emanzipationsbejtrebungen des vorigen 
Jahrhunderts, wie fie iſt, will die Stärke und Entwidlungsfähigkeit des Staates 
in erſter Linie immer nur als ein Mittel aufgefaßt wiffen, recht viele Einzelne 
zu fördern und den Einzelnen ein immer jteigendes Maß von Wohlbefinden und 
Unabhängigfeit zu verleihen, Wer kann jagen, welches das Bejjere jei? In der 
That ijt feines das Befjere — jedes von beidem ift gleich notwendig, um Staat 
und Volf vorwärts zu führen, und von den beiden Eimern muß notwendig der 
eine ab», der andre aufjteigen, um die Aufgaben unſrer Kulturentwicklung zu er- 
füllen, Jeder Teil muß zu Zeiten feine jpeziellen Grundjäge zur Herrichaft 
bringen, und findet, eben weil er jegt zur Herrichaft gelangt ift, eine Menge 
Punkte, in denen er mit vollem Rechte ändern und umgejtalten fanı. Dann 
aber fommt die andre Partei und jagt mit gleichem Nechte: Hier bift du, 
Gegenpartei, zu weit gegangen, hier hajt du einen wichtigen Gefihtspunft un— 
berüdfichtigt gelaſſen, hier hajt du ein Intereffe gepflegt, welches defjen keineswegs 
wert ijt; jeßt tritt mir wieder die Leitung ab, damit ich deine Fehler gut machen 
kann. Und jo geht es in unaufgörlichem Spiel der Kräfte und der beiderjeitigen 
Gelichtspunfte, deren jeder einen Teil des Richtigen in fich ſchließt, unausgeſetzt 
weiter. Gehört wirklich ein jo gar nicht zu erjchwingendes Maß von Un- 
befangenheit dazu, um auch auf liberaler Seite dieſe Anſchauung zu hegen und 
derjelben gemäß auch dem Gegner feinen Anteil innerer Berechtigung einzu— 
räumen? Dder will man vielleicht die abgejtandene Baſtiatſche Nedensart von 
einer „Harmonie der Interefjen“ neu zu beleben ſuchen, um hierdurch den Aus: 
gangöpunft zu der Behauptung, in der Sorge für den Einzelnen jorge man 
immer gleichzeitig für die Gefamtheit mit, zu gewinnen? Für jo unvorſichtig 
halten wir doch den modernen Liberalismus nicht! 

Natürlic) werden die prinzipiellen Liberalen fofort jchreien: unfre Charak— 
terijtif der Parteien fei Haltlos, denn fie jeien auch für Feftigkeit und Leiftungs- 
fähigfeit des Staates, nur dürfe die Fürjorge für diefen Punkt nicht über die 
richtige Grenze Hinausgehen. Ja wer nur diefe „richtige Grenze“ feſtzuſetzen 
vermöchte! Als ob der Gegenjag nicht gerade darin beruhte, daß die Menjchen 
über diefe Grenze verjchiedner Anficht find! Mit dem nämlichen Nechte, mit 
dem die Liberalen auch jich die Eigenfchaft von Staatsfreunden vindiziren und 
fih gegen den Vorwurf ftaatsfeindlicher Gefinnung verwahren, können die 
Konfervativen verfichern, es falle ihnen garnicht ein, das Recht des Einzelnen 
und die Notwendigkeit möglichjt freier Bewegung fir denjelben leugnen zu 
wollen, nur müjje auch dies innerhalb der richtigen Grenzen gehalten werben. 
Jede diefer beiden Anjchauungen ift ja, wie alles Menfchliche, immer nur 
relativ; gewiß verlangt feiner von beiden Teilen, der von ihm bevorzugte 
Geſichtspunkt jolle der allein maßgebende fein, aber es ijt eben feine Einigkeit 
darüber zu erzielen, wie weit der Geltungsbereich des einen und der des andern 


Der £iberalismus und der prinzipielle Konfervatismus. 155 











gehen dürfe. Dies, und dies allein, ift am lebten Ende der Punkt, um den 
die Parteien fich herumzanfen und ewig herumzanfen werden. 

Ja wenn es ein Abjolutes gäbe! wenn e3 3. B. möglich wäre, in einer 
Reihe umantaftbarer Folgeſätze darzuthun, daß die Grenze an dem und dem 
Punkte gezogen werden müffe, und daß derjenige Menich ein unzweifelhaftes 
Unrecht, jet e8 gegen die Gejamtheit oder fei ed gegen das Necht des Einzelnen, 
ausübe, der diefe Grenze nicht jorglich innehält! Dann hätten wir ja die viel: 
genannte und vielerjehnte Partei der „ehrlichen Leute,” der jeder wohlmeinende 
und urteilsfähige Menſch beitreten müßte, und um die Diffentirenden brauchten 
fi dann nur noch die Gerichte und die Schule zu befümmern! Aber fo ift 
e8 ja doch nicht — es ift und bfeibt doch unleugbar, daß auch jehr wohl— 
meinende und jehr urteilsfähige Leute der cinen Partei gewiſſe Säte, welche 
die andre Partei für ganz und gar fetitehend und umerfchütterlich hält, gleich- 
wohl verwerfen! Wie fommt das? Nun, einfach daher, weil in den mensch: 
fihen Dingen die Nüdbeziehung auf ein logisch Notwendiges fich nun einmal 
nicht heritellen läßt, fondern in letter Inftanz immer die Anſchauung es ift, 
welche entjcheidet. Die Anſchauung aber ift taufend- und millionenfach verjchteden, 
denn fie quillt eben aus dem tiefiten Innern des Menjchen, aus den verborgnen 
Schachten feines Gemütslebens und feiner Empfindungswelt; ja man fann jagen, 
daß fie den eigentlichiten Ausdruck feiner Individualität bildet. Es giebt aljo 
im grunde jo viele Anschauungen wie Menschen, wenn diejelben ſich auch 
vielfach gruppiren und zum großen Teil unter eine Anzahl allgemeiner Gefichts- 
punfte bringen laſſen. Wie kann man nun hoffen, gegenüber den praftifchen 
Fragen des Tages eine Einheit diefer Anſchauungen zu gewinnen, da doch alle 
diefe Fragen fih auf Punkte beziehen, die jchon je nach Geburt, Erzichung, 
Lebensweiſe, Intereffen, Gewöhnungen u. ſ. w. des Betrachtenden in eine unendlich 
mannichfaltige Beleuchtung gerüdt werden fünnen, und umſo gewifler in der 
Anschauung des einen ſich fo, in der des andern fich gerade entgegengefeht 
ausnehmen? Da es aber jo ift, jo giebt es nichts innerlich Umwahreres, ja 
nichts Unlogiſcheres als den geiftigen Hochmut einer Partei, fie allein ſei 
prinzipiell berechtigt und alle andern Parteien beruhten entweder auf Un- 
wiffenheit oder auf Bosheit; denn nur die „Partei aller ehrlichen Leute“ dürfte 
jo jprechen, und diefe Partei wäre, wie wir gezeigt haben, nur dann möglich, 
wenn alle wohlmeinenden und urteilsfähigen Menjchen betreff3 der großen 
prinzipiellen Hauptfrage (deren Erledigung die aller Nebenfragen nach fich 
ziehen würde) zu einem bejtimmten Refultate fommen müßten. 

Vielleicht tritt das, was wir meinen, noch deutlicher zutage, wenn wir 
einen einzelnen Punkt aus den liberalen Prätenfionen berausgreifen und den— 
ſelben praftifch beleuchten. Mit großem Empreffement wird oft von liberalen 
Schriftftellern und in liberalen Blättern darauf hingewieſen, daß auch die fon- 
jervativen Beftrebungen fich heute vielfach in liberalen Bahnen bewegten, und 


156 Der £iberalismus und der prinzipielle Konfervatismus. 


daß gewijjermaßen der ganze heutige Konfervatismus, um noch beitandsfähig 
zu fein, fich auf eine liberale Grundlage habe ftellen müffen. Eröffnet hat 
diefen Chorus Guſtav Freytag, indem er in cinem, an andrer Stelle neulich 
von uns erwähnten Paſſus meint, der fonjervativfte Gutsbeſitzer beivege ſich 
heutzutage doch in einer ganz liberalen oder dem Liberalismus entitammten 
Ideenwelt, und würde geradezu in Entſetzen geraten, wenn es möglich wäre, 
ihn auf den geiltigen und wirtjchaftlichen Standpunkt zurüdzufchrauben, den 
jeine Vorfahren in der von ihm ſelbſt jo hochgepriejenen „guten alten Zeit” 
eingenommen hätten. Diejes und ähnliches ift jeitdem ein beliebtes Thema 
fiberaler Zeitungen geworden, zumal jolcher, welche fich ihrer Unbefangenheit und 
ihres billigen Urteild gegenüber einem „berechtigten Konſervatismus“ rühmen; 
da wird denn den Leſern verfichert, alle berechtigten Beitrebungen des Konſer— 
vatismus feien aus liberaler Initiative hervorgegangen oder doch auf liberale 
Grundideen zurüdzuführen, und der heutige Konfervative gehöre im Vergleich 
zu frühern eigentlich jchon zu den Liberalen. Es iſt ja etwas Wahres daran; 
aber fann der Saß nicht genau mit demjelben Rechte umgelchrt werden? Wer 
wagt es heute noch, die alten materialiftiichen, religionsfeindlichen Ideen, das 
Achſelzucken über den Gedanken, die erbliche Monarchie könne im unſrer Zeit 
noch Beftand und innere Feitigfeit haben, die bittere Abgeneigtheit gegen jeden 
Staatsbetrieb und jeden, über die Sphäre der Rechts- und Sicherheitswahrung 
hinausgehenden Einfluß des Staates, die TFeindfeligkeit und den giftigen Spott 
genen die Idee der ftehenden Heere, der Berufsoffiziere und der jtrammen 
militärischen Disziplin, die halb gleichgiltige, Halb jchroffe Abwendung von aller 
Befaffung mit fpezifiichen Arbeiterintereffen — wer wagt es, fragen wir, Die 
feindjelige Stellung in allen diefen Dingen heute noch ala Poſtulat des 
Liberalismus zu bezeichnen? Will man aber leugnen, daß der Liberalismus 
von einem fcharfen, bewußten Gegenfage gegen diejelben feinen Ausgangspunkt 
genommen, und daß der Konſervatismus fie erhalten und gepflegt und endlich 
den Gedanken ihrer Notwendigkeit in das Bewußtſein des Ichenden Gefchlcchtes 
eingepflanzt hat? Achtung vor Religion, Monarchie, wirtichaftlicher und jozialer 
Thätigfeit des Staates, gediegenem Heerweſen, fozialen Zeitbedürfniffen hat der 
Konfervatismus dem Liberalismus abgerungen; gegenwärtig ift er damit be— 
Ihäftiat, ihm das Geltändnis abzuringen, daß Landwirtichaft und Handwerf 
unter feinen Umständen untergehen dürfen, und er hofft, daß die Zeit fommen 
werde, wo die Notwendigkeit aller hier aufgeführten Punkte gerade fo gut zum 
Gemeingute aller geworden fein wird, wie Die Grundjäge der freien Bewegung und 
Niederlaffung, der Gewiffensfreiheit, der Teilnahme weitefter Bevölferungsfreife 
an der Staatdverwaltung zc., die — warum follten wir es leugnen? — ber 
Liberalismus dem Konfervatismus abgerungen hat. Oder follte man etwa be» 
haupten wollen, in den von und angeführten Dingen liege immerhin nichts 
Prinzipielles, jondern nur das Produkt gewiffer, unfrer politifchen Entwidlung 


Der £iberalismus und der prinzipielle Konfervatismus. 157 








eignen und auf dieſe beſchränkten Spezialzuftände? Der müßte uns in der That 
nicht veritanden haben, der dies jagen wollte. In unferm Sinne ift alles, was 
dem Gemeinwohl als jolchem, was der Kontinuität und geficherten Feſtigkeit 
innerer Zuftände, was dem Berantwortlichkeitägefühle des Einzelnen gegenüber 
der Gejamtheit dient, auf den Einfluß fonfervativer Jdeen zurüdzuführen, und 
gewiß wird fein Liberaler fich finden, der fich diefen Dingen gegenüber gleich- 
giltig verhalten wollte, während es doch leichte Mühe wäre, nachzuweiſen, daß 
fie nicht auf dem Boden des Liberalismus erwachjen find, und daß Strömungen 
innerhalb des letztern ihnen ftet3 feindlich gegenübergeftanden haben. So gut 
man aljo jagen fann, der heutige Konfervatismus ftehe auf liberaler Grundlage 
und jeine berechtigten Beftrebungen ließen ſich auf liberale Gefichtspunfte zurück— 
führen, jo gut fann man umgefehrt jagen, der heutige Liberalismus jtehe auf 
fonjervativer Grundlage und feine berechtigten Beſtrebungen ließen fich auf 
fonjervative Gefichtspunfte zurüdführen. Gewiß, nicht der ſtrammſte Konjer- 
vative unfrer Zeit möchte die Einrichtungen aus der Zeit Friedrichs des 
Großen wiederhergeftellt jehen; gewiß, er würde denjelben gegenüber ala Li- 
beraler denfen und empfinden. Aber möchte der prinzipiellite Liberale unjrer 
Zeit in einem Staate leben, in dem Bakunins „negatives Recht“ oder die 
Grundjäge Mar Stirners errichten? Würde da nicht auch der eingefleifchtefte 
Anhänger des Individualprinzips auf einmal als Konſervativer denfen und 
empfinden? 

Wir unſrerſeits beanfpruchen, wie aus obigem hervorgeht, feinen Vorrang, 
jondern bloß die Gleichberechtigung unſers prinzipiellen Standpunftes, während 
der Liberalismus für den feinigen die Alleinberechtigung prätendirt. Gewiß 
ftegt Hierin für uns ein Moment der Schwäche; wer von Haus aus weniger 
fordert als der Gegner, der gefteht diefem einen gewifjen Vorrang zu. Hierin liegt 
offenbar der Grund, aus dem unfer heutiger Konjervatismus im allgemeinen 
nicht die gleiche Energie, nicht die gleiche rüdfichtslofe Schärfe des Parteigeiftes 
entwidelt wie der Liberalismus, zumal der fortgefchrittene. Indeffen das dürfte 
jich mit der Zeit ausgleichen, und je gebieterifcher einerſeits die jozialen For— 
derungen des Tages, andrerjeits die Schwächen und die Anzeichen fortſchrei— 
tender Unterwühlung unſers Staats- und Gejellichaftsgebäudes an ung heran 
treten, je größer wird die Zahl derjenigen Konfervativen werden, welche mit 
gleih tiefer Erbitterung den liberalen, wie die Liberalen den konſervativen 
Beitrebungen gegenüberstehen. Denn man verliere nicht aus den Augen, daß 
auch die fonjervative Anſchauung im Befige ihrer befondern Vorteile ift. Schlich- 
ih haben alle befigenden und regierenden Klaffen eine natürliche Hinneigung 
zu ihr. die infofern auch ganz legitim ift, als ja doch das Beſtehende gegenüber 
allen Faktoren, die es zu ftürzen oder zu modifiziren fuchen, und gegenüber 
allen geiftigen und materiellen Kräften, die hierbei mitwirken, mit Recht jagen 
fonn: „Ihr alle, die ihr mich befämpft, exiftirt doch nur durch mich, feid 


158 Der £iberalismus und der prinzipielle Konfervatismus. 








doch nur ein Produkt deffen, wogegen ihr anftürmt; wer weiß, ob eure Herr: 
ſchaft fich im gleicher Weife produftiv zeigen wird!" Aber man kann auch noch 
einen Schritt weitergehen und darauf hinweilen, daß die moralischen Kräfte 
im einzelnen doc) immer nur aus der Rüdficht auf die Gejamtheit zu begründen 
find, der ftreng durchgeführte Individualftandpunft alſo jehr bald dazu führen 
müßte, die vorhandnen moralifchen Kräfte zu zerftören, während der Geſamt— 
ftandpumft jelbjt bei der einfeitigften Durchführung nie imſtande wäre dieſer 
Kräfte zu entraten, und fie daher ſtets pflegen muß. In diefem Sinne könnte 
man geltend machen, daß der fonfervative Standpunft mit innerer Notwendig: 
feit Gemeinfinn, Unterordnung, Selbitbeherrichung und Selbitverleugnung zur 
Entfaltung bringe, der Liberale aber Eigennuß, Überhebung, Genußſucht und 
Nüdfichtslofigkeit. Indeſſen laſſen wir dieje Betrachtung, die wir, um ihr folgen 
zu können, zu weit ausdehnen müßten, hier auf fich beruhen. Was aber ber 
heutige Konfervatismus jedenfall® mit vollem Rechte für fich anführen darf, 
das ift: die Zeiten find fo beichaffen, daß für jeden Menjchen, der nicht das 
Schriftwort auf fich angervendet wifjen will: „Sie haben Augen und ſehen richt, 
fie haben Ohren und hören nicht" — die Notwendigfeit Far zutage liegt, 
gerade jet und wohl noch auf lange hinaus die Staatögewalt nicht zu ſchwächen, 
fondern zu ftärfen, und den Einfluß des eigenflichtigen Individualprinzips nicht 
zu kräftigen und zu ermutigen, ſondern zurüdzubrängen: nirgends aber mehr 
al3 in unferm Deutjchland, in welchem die zentrifugalen Elemente ftet3 eine jo 
unverhältnismäßige Kraft haben, und welches chen erſt daran ift, fich mitten 
unter erbitterten Feinden zu einem gefchloffenen Staatsweſen auszugeitalten. 
Wer wird e8 unter heutigen Umständen einem feurigen Konfervativen groß ver— 
denken wollen, wenn er einen Mann, ber ſelbſt heute noch nicht begreift, daß 
die Frage für uns nicht die nach der Einführung oder Nichteinführung diefer 
und jener Einrichtungen, jondern um Eriftenz oder Nichteriftenz von Staat 
und Volk iſt — wenn er einen folhen Mann für einen Verräter an Staat und 
Volk zu halten geneigt ift, und ihm nur die Verblendung zugute hält, welche 
die lange einfeitige Herrfchaft liberaler Ideen habe erzeugen müffen? 

Zur Zeit noch ringt der Liberalismus mit verzweifelter Energie darnach, 
fi der prinzipiellen Würdigung fonfervativer Gefichtspunfte zu entziehen und 
mit den abgejtandenen Phraſen von Junkern, Pfaffen, finfterm Mittelalter, Leib- 
eigenſchaft u. dergl., mit deren Hilfe jeinerzeit ein teilweiſe berechtigter Kampf 
geführt wurde, auch heute noch auszureichen, wo doch jeder Urteilsfähige er- 
fennen muß, daß diefe Dinge, die damals berechtigte Schlagwörter waren, in- 
haltlofe Redensarten geworden find. Darum liebt e8 der Liberalismus fo fehr, 
den Leuten zu infinuiren, fie möchten doch nicht auf die „Programme“ der 
Konfervativen achten (daS Papier fei ja geduldig), fondern möchten ſich erinnern, 
was die Konfervativen zu der und der Zeit geweſen feien, was fie damals 
gejagt und gethan hätten. Wenn aber von den Sonjervativen der Spieh 


Guſtav Nadtigal in Tunis. 159 


umgedreht und an die franzöfiiche Revolution, an das Jahr 1848 u. ſ. w. als 
an frühere liberale Leijtungen erinnert wird, dann jchreien die Liberalen Herren 
natürlich über Verleumdung und verlangen, nur nach ihren Programmen be- 
urteilt zu werden. Ihnen jol man aljo alles glauben, was fie jagen und 
verjprechen, den Konſervativen aber darf man nicht? glauben, jondern muß bei 
jeder pajjenden und unpafjenden Gelegenheit alte foufervative Sünden (oder 
was im recht oberflächlicher oder böswilliger Betrachtung für ſolche ausgegeben 
wird) zur Beurteilung mit heranziehen. Das nennt man dann Kampf der 
Ideen und Fortichritt von Licht, Wahrheit und Freiheit. 

Ceine Unfähigfeit, gewifjen Zeitforderungen zu entjprechen, welche im 
Bewußtſein des lebenden Gejchlechtes zu durchaus wejentlichen geworden waren, 
hat den Liberalismus, fo hart dies auch bei der Länge der vorangegangenen 
liberalen Herrichaft und bei den vielerlei günftigen Umftänden, die derjelben zu- 
gute famen, hielt, einftweilen aus der Herrichaft verdrängt. Es mag jein, daß wieder 
eine Periode kommen wird, die den Liberalismus in die nämliche günftige Lage 
bringt, in der fi) gegemmwärtig der Konjervatismus befindet: fajt alle tüchtigen, 
jtrebenden, einer Neugejtaltung mutig entgegenjehenden Elemente unſers Volks— 
lebens auf feiner Seite zu haben, und überzeugt fein zu dürfen, daß jelbjt die 
achtungswerteren Gegner fich im Herzen ihm in vielen Bunften zuneigen. Aber 
wenn dies eintreffen joll, jo muß bis dahin der Liberalismus wejentliche Elemente, 
die heute für Fonjervativ gelten, in jich aufgenommen haben. Möchte er doch 
bis dahin auch gelernt Haben, daß nicht nur einzelne fonjervative Gefichtspunfte 
berechtigt jind, jondern das daß Prinzip des Konſervatismus dem jeinigen völlig 
gleichberechtigt ift! Dann wird die vielbeflagte Bitterfeit und Gehäffigfeit 
unfrer politiichen Kämpfe von jelbjt aufhören. 


IR 0 





Guſtav Nachtigal in Tunis. 
(Schluß) 


eines jo ehrlichen Menjchen, als welchen das Renommee ihn be- 
zeichnete, in die ärztliche Beamtenzahl infonvenabel fand, feine 
M Stellung beim Minifter einftweilen zu Hintertreiben. Schon die 
Unſtellung als Flottenarzt hatte jolcher Eventualität vorbeugen 
sollen. Er fchreibt darüber: 





160 Guſtav Nachtigal in Tunis. 


Wie ich jept weiß, find der Herr Baron Dr. Lumbrofo (demu er ift jegt ita= 
fienifcher Baron geworden) und Dr. Vignale zum Bey gegangen, hinter dem Rüden 
des Premierminifterd, um ihm auseinanderzufegen, daß ein Spezialarzt des Minijterd 
ihre Intereſſen verlege, und daß es abjolut notwendig fei, mich deshalb irgendwo 
anders zu firiren. Infolgedeſſen jtellte mic) der Bey dann als erjten Arzt der 
Tlotile an. So lange der Minifter nun in der Nähe war, blieb ich bei ihm; 
doch jeßt, wo er mit dem Hofe nad) Tunis zurüdfehrt, werde ich an die Flotte 
gebannt fein. Der Minifter war zwar fehr erzürnt darüber, doch verhindert ihn 
wahrſcheinlich die Hiefige Gewohnheit, niemand direkt vor den Kopf zu ftoßen, fie 
zu fontrariiren. Nun, wenigftens werde ich ruhig leben können und für mich ar— 
beiten, was mir ſchon feit langer Zeit nicht mehr möglich war. 

So um die wertvolliten Früchte feiner nicht gefahrlojen Mühen von denen 
gebracht, die ihrerjeitS vor dem Aufjtande nad) Europa geflüchtet waren, ſchlug 
Nachtigal fein Quartier in La Goletta auf, dem kümmerlichen Hafenjtädtchen, 
und verbrachte den Winter einfam im einer Wohnung, die ihn vor Kälte fait 
umfommen ließ, ganz allein mit feinem Hunde und einem Diener, der jo dumm 
war, daß Nachtigal ſich ärgerte, wenn er mit ihm ſprechen mußte. Zum Glüd 
erfreute er fich mwenigjtens guter Gejundheit, hatte Bücher und die Hoffnung, 
daß dieſes Leben nicht ewig dauern würde. Einige Kranke im Hofpital, einige 
wenige in der Stadt, dad war alled. Zweimal wöchentlich ging er nad) Tunis 
und dem Bardo, teil um einige rejtirende Patienten zu bejuchen, teils um fich 
bei Hofe zu zeigen. Leßteres war unbedingt notwendig, wenn er nicht in Ver: 
gefjenheit geraten wollte. Der Minister war jedesmal jchr erfreut, ihn zu jehen, 
oder ſprach ſich wenigitens jo aus. Ob dies aber eine Garantie für die Zus 
funft war, fonnte niemand jagen. 

Nachtigal hatte lange zu warten. Es war eine öde, unerfreuliche Zeit, 
jchmerzlich getrübt noch durch den Tod feiner Mutter, die zu Anfang 1866 der 
Grippe erlag, Damit war das erjte und innigite Band, das ihn an die 
Heimat fnüpfte, gelöft. Er jchreibt denn auch jpäter in Erwägung feiner Si- 
tuation: 

Ohne weitere Audfichten auf Verbefjerung, und zwar baldige, werde ich gewiß 
nicht aufhören, an Veränderung meiner Lage zu denen und, bevor wenige Jahre 
verfloffen jein werden, Tunis verlaffen. Doch fann ich mir faum denken, daß ic 
mich werde entichließen können, vor meinem vierzigften Jahre in meine philiftröfe 
Heimat zurüdzufehren. Mein Endziel bleibt gewiß mein Vaterland, das ficherlich 
das befte Land mit den beiten Bewohnern darftellt, doch zuvor muß noch die Welt 
in ihren ungewöhnliden Formen ftudirt werden. 


Überhaupt war feine Unternehmungsluft, feine jugendfrifche Elaftizität nicht 
im geringjten dadurch verringert worden, daß der Erfolg feinen Wünſchen bis- 
her fo wenig entiprochen hatte. Gott! ruft er im Februar 1867 im Rüdblid 
auf feine Studentenzeit aus, erjt zehn Jahre, daß ich dieſe koloſſal heitre Zeit 
beendigte, und noch nichts für die Unsterblichkeit getan! Ich fühle im Gegen- 
teil das deutliche Bedürfnis, noch einmal zu jtudiren, und werde ficherlich, wenn 


Guftav Nachtigal in Tunis. 161 


die Verhältniffe es erlauben, meinen Heimatsurlaub fo lange ausdehnen, daß ich 
noch einige Zeit Hochſchulen bejuchen kann. Ich fühle mich außerdem noch fo 
mächtig jugendlich, daß ich ganz vergnügt wie früher als Student leben könnte, 

Mittlerweile war durd) feine nie unterbrochene Beziehung zum Khasnadar 
feine Rückkehr an den Hof herbeigeführt worden, und er wurde allmählich faktisch 
Leibarzt im Haufe des Minifters, nachdem er auch vor den Augen der „Prin- 
zejlin“ Gnade gefunden hatte. Zwar blieb ihm danchen die Anstellung in der 
Marine, wenig anftrengend und mehr formeller Natur, wie fie e8 von vorne 
herein gewejen war; der Schwerpunkt feiner Thätigfeit aber lag in den Ans 
forderungen jener Hofhaltung und in der Praxis in den prinzlichen und fon- 
jtigen höhern Kreifen. Uber dieje feine Praxis erzählt er: 

In der Refidenz des Bardo wohnen die zwei Witwen der beiden Vorgänger 
des jetzt regierenden Bey und eine Schwefter des letztern mit ihren fümmerlichen 
Hofftaaten, die ein recht anſehnliches Perjonal ausmachen, das natürlich nur aus 
drauenzimmern befteht, die alle aus Mangel an Beſchäftigung nichts befieres zu 
thun wifjen als frank zu fein. Mit Zittern und Zagen trete ich allmorgendlid) 
in dieſe Harems ein, da meine Ankunft die Lofung ift zu einem allgemeinen Angriff 
aller weißen, ſchwarzen, gelben und grauen Schönheiten auf meine unglüdliche 
Perſon, um mir die Verordnung von Abführ- und Brechmitteln zu entprefjen. Du 
haft feine Idee davon, mit welch fröhlicher Selbjtverleugnung dies Volk die ſcheuß— 
lichſten Medikamente verjhlingt. Wenn ih nur ihren Wünſchen gerecht werden 
fönnte; doch dann habe ich eö mit dem WUpothefer zu thun, der ein Firum für 
Medizinlieferung bekommt. Außer diefen meiblihen Tyrannen liegen mir alle 
Familien der Großen des Landes, welche ihre Landgüter in der Nähe haben, 
auf dem Halfe und quälen mid) nicht wenig. nterefjant iſt es, dabei mehr und 
mehr die Damen des Landes unverſchleiert zu beobachten, obgleich) mir immer noch 
jehr viele nur die Fühlung des Pulſes geftatten, den Anblid ihrer jcheußlichen 
Gefichter mir aber erjparen. Denn dieſe find gewöhnlich die älteften und häßlichſten, 
die andern ergreifen nicht ungern die Gelegenheit, ſich bewundern zu laffen, wenn 
fie nicht gerade zu ftreng denfende Ehemänner haben. Ueber die Vielweiberei, fällt 
mir bei der Gelegenheit ein, müßt ihr euch feine falfchen Ideen machen; fie eriftirt 
jozufagen in den beſſern Klafjen nicht. In allen guten Familien, in denen ic) 
arzte, erijtirt nur eine Frau, gewiß ebenjo angejehen und refpektirt wie die Dame 
des Haufe bei und, und ein Yamilienleben, das fi nur vielleiht durch den 
prononzirten Reſpekt der Kinder vor dem Vater von dem unfrigen unterjcheidet. 

Dem wechjelnden Aufenthalt des Hofes zufolge verbrachte Nachtigal den 
Sommer in Karthago, den Winter in Tunis. Lebtered war dann ungeachtet 
der traurigen Finanzlage der Schauplaß eines regen gejelligen Lebens. 

Ich erinnere mich — fchreibt er im Frühjahr 1867 — feit der Tanzftundenzeit 
jeligen Ungedentend im Adler oder im Schwan faum fo viel getanzt zu haben wie 
in diefem Winter. Faft jede Woche war ein Ball. Die Gefellichaft ift bei der 
beſchränkten Anzahl der ariftofratiichen Familien natürlich faft immer dieſelbe, doch 
zum Teil durchaus nicht übel. Die Krone bleibt immer die Familie des englijchen 
Gejhäftsträgerd Mr. Wood. Den Ball, den er zum Beften der hiefigen europäijchen 
Armen gab, war fehr gelungen und brachte etwa taujend Thaler cin, was bei der 
beſchränkten Unzahl der Eingeladnen ein vecht befriedigendes Reſultat zu nennen 

Örenzboten IIL 1885, 21 


162 Gnftav Nachtigal in Tunis. 











ift. Die Affoziation zur Brotverteilung an die Armen, zu deren Komitee id) 
gehöre, verteilt Daneben noch täglid) vierhundert Brote, fodaß inan jagen fann, 
daß troß des hervorftehenden kraſſen Egoismus der europäiſchen Tunefier diefen 
Winter recht viel gejchehen ift. 

Als follte dem unglücklichen Lande Feinerlei Heimfuchung erjpart bleiben, 
brach im folgenden Sommer eine verheerende Choleraepidemie aus. Nachtigal 
fiel an Mühe und Gefahr wieder der Löwenanteil zu. Der Bey berief ihn 
telegraphiich nad) Goletta, wo die Krankheit bedenkliche Dimenfionen an- 
genommen hatte. Seitdem hatte er wenig Ruhe. Tag und Nacht hatte er 
ausjchlieglich bei den Kranken zuzubringen, ſodaß er bald äußerſt abgejpannt 
war. Dennoch war ihm die ganze Thätigfeit eine höchſt wohlthuende. Wenn 
auch die Nefultate feiner ärztlichen Anftrengungen feine glänzenden waren, da 
die Epidemie ſehr mörderisch auftrat, jo hatte er doc) das befriedigende Be— 
wußtjein, feine ſchwachen Kräfte aufs möglichjte zum Bejten feiner Mitmenſchen 
ansgebeutet zu haben. Ia er wurde noch einmal zu einem Truppenkorps ge- 
jandt, das an der algerischen Grenze gegen Aufrührer im Felde ſtand und von 
der Cholera arg mitgenommen wurde. 

Inzwiſchen wuchs die finanzielle Kalamität rapide. Die gewiſſenloſe Ber: 
waltung hatte dem Lande im Laufe weniger Jahre eine exorbitante Schulden- 
laft aufgebürdet, und die Aufraffung des Staates nad) der oben gejchilderten 
Nevolution hatte, weit entfernt, eine bejjere Epoche anzubahnen, den momentan 
vermehrten Kredit nur noch unheilvoller ausgebeutet. Neue Aufftände folgten, 
aber die Machthaber, glücklich in der Überwindung derfelben, waren blind gegen 
jolche Mahnungen. Eine Intervention Frankreichs oder Jtaliens wurde Damals 
vielleicht nur durch die Komplikation der römischen Frage zurüdgehalten. In: 
folge des Steuerdrudes und mehrerer Mißernten herrichte chronische Hungersnot. 
Auf eine aus der Heimat an ihn gerichtete Anfrage erwiederte Nachtigal, daß in 
den Zeitungen nicht nur nicht3 übertrieben fei, ſondern man ficherlich überall Hinter 
der Wahrheit zurücgeblieben jei. Man habe Menjchenfleiich nicht nur gegeſſen, 
jondern auch eingepöfelt. Für ihn fpeziell erwuchs aus der allgemeinen Not 
noch der Übeljtand, daß fein Gehalt, der nominell jet nicht unbeträchtlich war, 
faft nur auf dem Bapiere ftand. Die Kaſſen waren leer; höchſtens erhielt er 
minderwertiges Slupfergeld, wenn er fich nicht mit Schagjcheinen abfinden Lafjen 
wollte, die zwanzigprozentigen Wert hatten. Nur die Noblefje jeines Charakters 
hielt ihn ab, feine Forderungen mit Nachdrud geltend zu machen. 

Seit vorigem Februar habe ich, fchreibt er im November 1866, fein Gehalt 
in Empfang genommen, d. 5. jeit fajt Jahresfriſt, ebenfowenig Tabatieren oder ähn— 
lie Wertftüde. Um vernünftig mit dem Großvezir und Sidi Ruſtan zu jprechen, 
möchte ich jedoch gern abwarten, biß die Regierung in ihrer Eriftenz und ihren 
Geſchäften wieder etwas fonfolidirt fein wird. Es Hat etwas unfonvenabled, don 
den Heinlichen Iuterefien des Einzelnen zu jpredhen, wenn das Wohl von Millionen 
den Großen im Kopfe liegt. Noch immer ift die Finanzkriſis nicht vorüber. Kein 


Guſtav Nachtigal in Tunis. 163 


Unlehen hebt das momentane Elend, das durch Ueberſchwemmung mit mwertlojem 
Kupfer, durch abjoluten Geldmangel, durch zwei ſchlechte Ernten und die rüdgängige 
Metamorphofe der ganzen mufelmännifchen Bevölkerung überhaupt hervorgebracht 
worden ift. Die Angelegenheiten diejed unglüdtichen Landes find Hier fo in Un— 
ordnung, daß ich zur Feitftellung meiney eignen Zukunft notwendig diefe Krifis 
abwarten muß. Die Verwidlungen find foweit gefommen, daß die Entjcheidung 
nicht mehr lange zögern kann. Eine Sculdenlaft von über hundert Millionen 
Piafter bei einem Einnahmebudget von zwanzig Millionen drüdt. das Land nieder; 
die Reſſourcen desſelben verringern fich jährlich durdy Abnahme des Aderbaues und 
der Viehzucht und durch Verminderung der Einwohnerzahl; die Ernten von Weizen 
und Dliven (Hauptreihtum des Landes) find fürs Jahr im voraus verkauft; die 
Erprefjungen vonfeiten des Chefs werden täglich unerträglicher; eine unnütze Armee 
von 15— 20000 Mann verjchlingt einen großen Zeil der Staatseinnahmen 
und entzieht dem Lande die Arbeitskräfte; meine Flotille nicht minder; die Schulden 
auf dem Plabe, die dad Vermögen der meiften europäifhen Kaufleute engagiren, 
fönnen nicht bezahlt werben; mit einem Worte, der ganze traurige Zuftand iſt auf 
einer jo unerträglichen Höhe angefommen, daß man fehr bald eine Intervention 
der fremden Mächte erwartet. Um die Armeen und die Beamten zu bezahlen, 
bat man jchlechtes Kupfergeld verwendet, deſſen Annahme der europätiche Handel 
verweigerte und das folglich jehr bald auf die Hälfte ſeines nominellen Wertes 
herabjanf. Seit dem Monat Februar Habe ich infolgedejjen mein Gehalt nicht erhoben, 
da3 in Kupfer bereit liegt, mich aber faktisch auf die Hälfte meiner Nemuneration 
herabfegt. Die Preiſe find dabei entſetzlich geftiegen und die Geldnot ift unglaub- 
lid; von allen Seiten drohen Bankerotte. Welhe Sünde! Ein fo fchönes, reiches 
Land, und in den Händen jo ungefchidter Menſchen! Die Welt taugt in der That 
nicht viel, wenigſtens nicht die Menfchen in ihr. Was meine Gejundheit anlangt, geht 
e3 mir ganz wohl. Gemütlich leide ich durch die ewige Bertrümmerung meiner 
Pläne und Wünſche und durch die mir wenig zufagende Lebensweiſe. Glücklicher— 
weife habe id) außer meinem Höflingsdienft ziemlicy viel zu thun, was mir aller- 
dings nicht viel einbringt, aus Gründen, die in meinem Stumpffinn und in un— 
tilgbarer falſcher Scham beruhen, aber mich doch immer etwas für die beim Minifter 
verlornen Stunden entihädigt. Studiren kann ich aus Mangel an Zeit faſt gar: 
nit. Was fol auß allen meinen Notizen, die ich zum Zeil fchriftlich gefammelt, 
zum Zeil nur im Gedächtniskaſten deponirt habe, noch werden? Wenigftens macht 
man unwillkürlich einige Fortichritte in den Spraden. Am häufigften fpreche ic) 
jest italienisch und arabifch, beides abjcheulich, aber das erftere doch fließend. Franz 
zöftfch bleibt nod) am beiten; dad Englifche gelingt nur ſchwach. 


Bemerfenswert find einige Äußerungen Nachtigal® über den preußiſch— 
Öjterreichiichen Krieg. Im Juli 1866 jchreibt er: 


Unter den Stalienern hat fi) eine höchſt fonderbare Anficht über den Grafen 
Bismard feitgefeßt. Sie glauben, daß ſein ganzes bisherige Leben nur eine 
Maske gewefen fei, beftimmt, das Vertrauen des Königs zu erwerben, um jeßt 
im günftigen Augenblide feinen ganzen, fange verhüllten Liberalismus zu entfalten 
und mit Deutfchland das zu mahen, was Cavour mit Stalien im Sinne hatte, 
Jedenfalls bringen die preußischen Erfolge cine Kenntnis unſrer Heimat hier zus 
wege, die ungewöhnlich ift. An Ruhm nad außen hat Breußen gewonnen, darüber 
kann fein Zweifel fein. 


164 Guſtav Nachtigal in Tunis. 


Aus Sfar, auf einer Reife, welche fein Stillleben unterbrach, gab er jeiner 
Freude über den Sieg der preußilchen Truppen Ausdrud: 

Was den Krieg und feine Erfolge betrifft, fo blide ich nicht ohne Genug: 
thuung auf die Tapferkeit, Ausdauer, überlegene Strategit und gute Aufführung 
der Armee, die in nie geahnter und gejehener Weife gefiegt bat, und Hoffe von 
Herzen, dab die leptern zum Heile ganz Deutfchland8 dienen mögen. Ich war 
von vornherein von der Unfähigkeit Defterreihs, cine Rolle in Deutichland zu 
fpielen, überzeugt, ebenfo fehr, als ich daS Heil unſers großen Vaterlandes von 
Preußen erwartete. Nur etwas weiß ich, daß ich die Fähigkeit ded Grafen Bis— 
mard, unfers eminenten Premierd, unterſchätzt habe; ich hielt ihn früher wohl für 
fühn und energifch, aber nie für fo bedeutend in jeder Beziehung, ald er fid) jeßt 
bewieſen hat. 

Im Herbft 1867 führte Nachtigal die langegeplante Bejuchsreife in die 
Heimat aus und erfreute ſich des Wiederjeheng mit Verwandten und Freunden. 
Dean juchte ihn allerjeit3 zu bewegen, von der Nüdfehr in ein Land abzu- 
jtehen, das jeine Mühen jo wenig gelohnt hatte. Doch ein gewiſſer point 
d’honneur und der Wunjch, feine Angelegenheiten geregelt zu jehen, führten ihn 
im folgenden Sommer wieder nad) Tunis zurücd, allerdings entjchloffen, Die 
Stellung, an der er gar zu wenig wiſſenſchaftliche und allgemein menschliche 
Befriedigung fand, möglichit bald aufzugeben. 

Wenn id nod eine Weile genötigt würde zu bleiben, jchreibt er im Ok— 
tober 1868, jo gebe ich mich für dieſen Winter endlidy vielleicht dem Ackerbau 
hin. Sch würde nur mit 100 bis 150 Morgen einen Berfudy machen, da alle 
Welt dagegen fchreit, obgleich ich ſelbſt nicht im Geringften an gutem Erfolge 
zweifle. Ich Habe jchönes feuchtes Land, und wenn der Winter fo regenreic) 
fein wird, wie e8 den Anfchein Hat, muß man fechzig- bis Hundertfaches Korn 
erwarten. 

Aber bald fündigte er feine bevorftehende Rüdfehr an. Und in demjelben 
Momente wurde er durch den Ruf feines Königs auf jene Laufbahn geführt, 
für die er präbeftinirt war, und die feinen Namen den glänzenditen unter den 
Pionieren der Forſchung einreihen und auf immer mit der Gefchichte des ſchwarzen 
Erdteiles verfnüpfen jollte Mit welchen Empfindungen feine Verwandten den 
Brief fafen, in dem er ihnen am 26. Januar 1869 von Tripolis aus feinen 
Entichluß anfündigte und, das Herz von jubelnder Hoffnung und Fühnen Ent- 
würfen erfüllt, fie über die Gefahren jeiner Zukunft zu beruhigen, fein Vor— 
haben als harmlos hinzuftellen verjuchte, kann man fich denfen. 

Ich fürchte, fchrieb er an feine Schweiter, ich bringe dir eine wenig erfreu— 
liche Nachricht, wenn ich dir melde, daß ic; im Auftrage*) unſers Königs Wilhelm 
zum Scheid Omar, Eultan von Bornu, gehe, um demfelben wertvolle Gefchenfe 
zu überbringen und die Gefühle der ſchwarzen Majeftät noch freundlicher für 
Ehriften und europäiſche Weife zu ftimmen, als ihn diefelben bisher fchon zierten. 
Ich weiß leider, mit welchen Augen man ſolche Reifen in der Heimat betrachtet, 





*, Gerhard Rohlfs hatte ihn hierfür vorgeichlagen. 





Guſtav Nachtigal in Tunis. 165 
um die Sorge und den Kummer ermefjen zu können, den mein Entſchluß euch) 
machen wird; doch ich bitte dich zu bedenken, daß in der That die Reife nicht jo 
gefährlich ift, wie fie aus der Ferne fcheint. Vogel und Beurmann ließen ihr 
Leben, das ift wahr, doch nur durch zu Fühned Eindringen in das Gultanat 
Wadai, deſſen Herrſcher abjolut feine Ehriften duldet, Barth fam glücklich zurüd, 
Gerhard Rohlfs nicht minder, und beide haben von Bornu aus bedeutend ge- 
jährlihere Wagnifje unternommen, al3 die Reiſe nad) Bornu an und für fi war. 
Ich werde binnen Sahresfrift zurüderwartet werden können, wenn ich nicht Ge— 
(egenheit zu intereflanten Reifen von Kufa aus finde. Sei nicht böfe; ein Teil 
der Nadhtigal3*) ift offenbar zum Bagabondiren geboren und ich hatte diefe zentral 
afrikanischen Reifen folange in der Idee, daß, ehe ic) diefen geheimnisvollen Kon: 
tinent zu verlaffen mich entichloß, ich eine jo ehrenvolle Gelegenheit, meinen 
Lieblingsplan auszuführen, nicht von der Hand weiſen fonnte.e So Gott will, 
fehre ich gejund in eure Mitte zurück und erzähle euch jo mafjenhaft, daß ihr 
euch für die Sorge, die ich euch gemacht haben werde, reichlich entjchädigt haltet. 

Nicht ein, jondern mehr als jechs Jahre harrte man in Deutjchland feiner 
und verzweifelte, jchließlich, da jedes Lebenszeichen ausblieb, an feiner Wieder: 
fehr, al8 der Berjchollene plöglic in Khartum auftauchte und nun im Fluge 
der Heimat zuftrebte, von der ganzen zivilifirten Welt, vor allem von feinem 
weitern und engern Baterlande mit gerechtfertigtem Enthufiasmus begrüßt. 
Er Hatte an jeine eigentliche Miffion fo großartige und erfolgreiche Unter— 
nehmungen zu fnüpfen gewußt, daß jene in dem Rahmen derjelben einen ver: 
hältnismäßig geringen Bejtandteil bildet. War doch feiner Ankunft in Kufa 
Ihon ein Wagnis erjten Ranges vorausgegangen, die Expedition zu dem jeither 
unnahbaren Tibbu Reſchade, auf der er dem Tode in mannichfacher Gejtalt 
ins Auge blickte und nur wie durch ein Wunder entrann. 

Doc) dies alles iſt befannt und in jeinem berühmten Reiſewerke, defjen 
letzter Teil hoffentlich auch noch erjcheinen wird, ausführlich gejchildert. 

Wir überjpringen den mehrjährigen Zeitraum, big Nachtigal deutjcher 
Generalfonjul in Tunis geworden, aber auc) älter geworden war und fein vor 
etwa fiebzehn Jahren dort verbrachtes Dafein von jenem rofigen Schimmer 
verflärt erblickte, welcher faft über allen Jugenderinnerungen ſchwebt. Es gefiel 
ihm in Tunis jetzt nicht jo wie früher, wo das Land an Geldmangel litt, die 
einzige jchwere Pflicht, die ihm oblag, der übliche Handfuß beim Großvezier 
war, und er beftändig in der Furcht lebte, feine Stellung vernichtet zu jehen 
und ſich in die Ode des von ihm ſtark gehaßten Philifteriums der Kleinſtadt 
zurüdziehen zu müffen. So jchrieb er Ende Mai 1882: 

Hier hat ſich mit dem franzöfifhen Proteftorate, den franzöfiihen Truppen 
u. f. mw. natürlich viel geändert, wenigftend an der Peripherie der Stadt, welde 
mehr und mehr den algerifchen Städten ähnlich wird. Worläufig ift alles ruhig 


*) Sein Better, der Kaufmann Nachtigal in Stendal, hat drei Schweitern, die an 
Miffionare in Südafrifa verheiratet find, und einen Bruder, der gleichfalls lange dafelbft in 
Dienften der Berliner Miffion ftand. 


166 Buftav Nachtigal in Tunis. 








im Lande. Mir gefällt e8 nicht mehr wie früher hier. Es giebt zwar viel mehr 
Europäer, aber ohne gejellichaftlihen Zufammenhang untereinander. Alles will 
von dem neuen BZuftande der Dinge foviel als möglich profitiven, und es läßt 
fi nicht leugnen, daß die Franzofen viel Geld hierher gebracht und die Speku— 
lationen vervielfältigt haben; die, welche davon Nußen ziehen, find meijt Europäer 
und Juden.*) Die Mufelmänner fommen, wie immer, zu furz. Mein Auftreten 
mit den Franzofen hier hat natürlich etwad Mißtrauen vonfeiten der Muhammedaner 
und der Staliener gewedt, und ic) werde etwas Zeit nötig haben, dasjelbe zu 
befiegen. 


Daß er dieſes Mißtrauen bejeitigte, ift faum zu bezweifeln, da Nach— 
tigal im Laufe der Jahre, während feiner erjten afrifanischen Reife, fich zu 
einem Hugen Diplomaten ausgebildet hatte, welcher es jelbit nach Art der 
alten Diplomaten nicht verjchmähte, durch Betäubung des Gegners Vorteile zu 
erringen. So erzählte er gern mit viel Humor, wie er in Darfur Kunde über 
die Gejchichte des Landes einzog. Der König hatte ihn zu diefem Behufe an 
feinen Oheim gewiejen. Dieſer Befiger der Geheimniffe aber war das, was 
Nachtigal in der burjchifofen Sprache, die ihm eigentümlich war, ein Sauf— 
genie nannte; wenn der Interwiever ded Abends zu ihm fam, war er be 
trunfen, des Morgens fagenjämmerlich; in beiden Fällen außer jtande, den 
Schatz feines Wiſſens zu öffnen. Nachtigal wußte fich ſchließlich nicht anders 
zu helfen, al3 daß er vom Morgen bis zum Abend in dem landesüblichen ent- 
jeglichen Gebräu mit ihm zechte und ihm dabei feine Gejtändniffe entlodte. 

Nachtigal fand übrigens jegt mand)e alte Freunde wieder, deren Wieder: 
jehen ihn jehr erfreute. So jchrichb er genen Ende des Jahres: 

Mein Aufenthalt in Tripolid, wo mein alter Getreuer [Mohammed:el-Gatröni, 
fein treuer Gefährte auf den Entdedungsreifen] bereits jeit Monaten auf mid) 
wartete, und viele alte Freunde und Gefährten aus Bornu und Wadai zufällig 
anmejend waren, hat mich jehr intereffirtt. Die Aenderungen und Fortſchritte ſo— 
wohl dort al3 in den füdlich von der Wüſte gelegenen Negerländern find viel 
beträchtliher, al ich vermutet hätte. Der Scheich Omar von Bornu ijt tot, und 
fein Sohn Abu Bu Bekr regiert, und zwar fehr viel bejjer, als man je zu hoffen 
berechtigt war. Auch Sultan Uli von Wadai und der König Abu Sekin von 
Bagirmi [feine gefrönten Freunde in Innerafrika] find bereits zu ihren Vätern 
verjammelt. 


*) Bei diefer Gelegenheit fei eine Bemerkung Nachtigals aus einem feiner erjten Briefe 
vom Jahre 1864 über die in Tunis vertretenen Völfertypen erwähnt: „Die Araber und 
Kabylen find waährlich nicht fchleht und könnten, wie ich nicht jelten das Vergnügen zu be— 
eugen hatte, einem großen Zeile der blutjaugenden Europäer zum Mujter dienen. Die 
Plechteften find die curopäiihen Juden, dann kommen die Chriften, dann die tunefischen 
Juden und endlid) die eingebornen Muhammedaner Hinjihtlic ihres moraliſchen Wertes. Die 
Siraeliten find Iebendiger al8 die Mufelmänner, doch aud um ſoviel ſpitzbübiſcher und 
nichtönugiger. Während fie bei uns im allgemeinen die nüchternen, mäßigen und thätigen 
Leute find, repräfentiren fie hier dad Schlemmen, Saufen und Nichtsthun. Je nachdem fie 
tunefifche oder italienische Juden find, untericheiden fie ſich noch wejentlid. Erjtere find viel 
ftrenger, orthodoxer. . . .. Sie beſtehlen auch den Judenmiſſionar Herren Feuner, während fie 
bei ihm verſammelt find, um über religiöſe Gegenftände zu disputiren.“ 


Guſtav Nachtigal in Tunis. 167 





Aber er jollte bald wieder aus feiner Thätigfeit geriffen werden, da die Vor: 
bereitungen zu jeiner Miffion immer näher rüdten. 

Vielleicht werde ih — jchreibt er in feinem legten und vorliegenden Briefe 
aus Tunid — aus meiner Reife herausgerifjen und muß eine größere amtliche 
Reife unternehmen, über die ich bei der Diskretion, mit der alle Angelegenheiten 
de3 Auswärtigen Amtes behandelt werden, noch nicht jprechen darf. Ich würde 
es vorziehen, ruhig bier zu bleiben; denn man wird mit den wachſenden Jahren 
bequem. Der Ehrgeiz und die Sucht, neues zu fehen, reizen mid nidht mehr. 
Ich würde übrigens den Poſten Hier behalten, felbft wenn ich die Neife unter: 
nehmen müßte; diefe würde etwa vier Monate in Anfpruc nehmen. Mein 
einziger Ehrgeiz befteht noch darin, nad) Marokko geſchickt zu werden, und meine 
Vorgejegten haben mir auch diefen Poſten, der bisher von einem Minifterrefidenten 
eingenommen wurde, foweit verjprocdhen, wie die überhaupt möglich iſt. Der 
höhere Rang unfer3 dortigen Vertreter reizt mich weniger, als der Umftand, daß 
einftweilen Maroffo noch unabhängig und nicht forrumpirt durch europäiſche Zi— 
viliſation iſt. 

Es kam, wie hier bemerkt werden mag, ſein Verhältnis zu den Marolkanern 
als Moment hinzu, um ihm die Überſiedlung dahin wünſchenswert erſcheinen 
zu laſſen. Auf der großen Reiſe von Fezzan nach Bornu hatte er ſich näm— 
lich mit ſeinen Begleitern einer größeren Karawane angeſchloſſen, und zwar 
einer marolkaniſchen Gauklerbande, die eine Kunſtreiſe durch den Sudan beab— 
ſichtigte. Bei dieſer ſonderbaren Geſellſchaft, deren Treiben zugleich einen 
religiöſen Charakter trug, und die unter einem höchſt angeſehenen Prieſter— 
oberhaupt, Haudſch Sälih, ſtand, Hatte ſeine Perſönlichkeit einen derartigen Ein— 
druck hinterlaſſen, daß er ſpäter wohl in keinem andern afrikaniſchen Lande ſo 
populär war, wie in Marokko, denn dort war durch die leichtbeſchwingte Schaar 
Stadt und Land von dem Ruhme ſeiner Tugenden erfüllt worden. Edris 
Effendi — wie man ihn in Afrika nannte — galt den Marokkanern als der erſte 
Repräſentant Deutſchlands, und gewiß wäre ſeine Inſtallirung in Tanger den 
deutſchen Intereſſen in Afrika in eminentem Grade förderlich geweſen. 

Das Schickſal hat es anders gewollt. Es ließ den pflichtgetreuen und 
eifrigen Beamten die Vollendung ſeines mit großem Geſchick durchgeſetzten 
Werkes nicht mehr erleben, es raffte ihn an der weſtafrikaniſchen Küſte hinweg, 
und er ftarb, das brechende Auge auf das unermeßliche Meer geheftet. Es ijt 
ein leidiger Troft, wenn man rejignirt und, im Hinblick auf die Opfer der afri— 
fanischen Forſchung, eine englische Sentenz varitrend, fich jagt: The path to 
knowledge is strewn with many leaves! 

6. Meinede. 





Dippolyte Adolphe Taine. 


Mit Benutzung ungedrudter Mitteilungen. 


/ za ıı feinem geiftvollen Buche „Frankreich und die Franzoſen in der 
— | zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts“ (Berlin, Oppen- 
54 heim, 1874), in welchen die Gejellichaft, die Literatur und das 
& Ws politische Leben Frankreichs einer jcharfen und oft treffenden Be- 
I Te 84 DD: EN urteilung unterzogen werden, fagt Karl Hillebrand — unmittelbar 
nachdem er fejtgejtellt hat, daß „der letzte Funke der jchöpferiichen Kraft in ber 
Nation erlofchen jei* —: „Vergeſſen darf es auch in einer Skizze des geijtigen 
Lebens der Nation nicht werden, daß die franzöfiiche Kritif gerade jegt auf: 
tritt, daß fie eigentlich erjt in diefem Jahrhundert entjtanden ift, daß fie, von 
Billemain begründet, durch Sainte-Beuve zur Vollendung gebracht worden iſt, 
von ihm ihren jpeziellen Charakter, den pfychologiich-biographiichen, erhalten 
bat; dab endlich die Ießten zwanzig Jahre die feinjten und bedeutenditen Er- 
zeugniffe diejes in Frankreich noch jo jungen Literaturzweiges haben entjtchen 
jehen. Monteguts Tiefe, Renans TFeinfinnigfeit und unübertroffene Kunſt, 
Taines fühne Syitematif und reiche Palette, Sarceys Offenherzigfeit und Vor— 
urteilslofigkeit, Paul de Saint: Bictord Wortplaſtik, Scherers Wilfen und 
Streben nach Objektivität find neue und höchjt bedeutende Erjcheinungen des 
geiftigen Lebens, Erjcheinungen, die man im Deutjchland nicht genug jtudiren 
kann.“ 

Wir möchten im folgenden einen von dieſen Schriftſtellern herausgreifen, 
welche hier von einem, der auf der Grenzlinie der deutſchen und franzöſiſchen 
Kultur geſtanden und als Volksvermittler gedient hat, uns zur aufmerkſamen 
Beachtung empfohlen werden. 

Dieſer Schriftjteller ift Hippolyte Adolphe Taine. Die Leſer der grünen 
Hefte kennen ihn jchon einigermaßen aus den Auszügen, welche im 44. Jahr: 
gange (I. Quartal, S. 11—22) aus feinem Werfe über die franzöfiche Revo- 
lution mitgeteilt worden find. Sie werden e3 ficherlich nicht ungern jehen, 
wenn berjucht wird, die Thätigfeit des Mannes noch etwas genauer zu be- 
leuchten. Weit entfernt freilich, erjchöpfend fein zu können und zu wollen, 
werden wir ung mit Umrifjen begnügen müffen. 

Taines Leben iſt ziemlich einfach verlaufen; er ift im April 1828 zu 
Bouzierd geboren, einer Fleinen Stadt am Aisne, die im Departement der Ar- 
dennen liegt und heute etwa 3500 Eimvohner zählt, welche meift von feiner 






Hippolyte Adolphe Taine. 169 





Korbflechterei und von Gerberei leben. Er ift von Haufe aus Philologe, und 
die erfte Schrift, mit welcher der fünfundzwanzigjährige, in Paris gebildete 
Mann 1853 hervortrat, betraf einen Stoff aus der griechijchen Literatur- und 
Philofophengeichichte; fie ijt betitelt: De personis Platonieis. Die urjprüng- 
fiche Abficht Taines, fich dem Lehrfach an den Mitteljchulen zu widmen, wurde 
durch die literarijchen Erfolge, welche er jofort errang, in den Hintergrund ge= 
drängt; denn der Essai sur Tite Live, welchen er 1855 verfaßte, war jo vor: 
züglich, daß die franzöfiiche Akademie das Manujtript, das einer von ihr ge- 
jtellten Preisfrage entjprungen war, auf Antrag Villemains in der Sitzung 
vom 30. Auguft 1855 mit dem Preiſe frönte. 1864 fchien feiner „Gejchichte 
der englischen Literatur” die Höchite Ehre ficher zu jein, indem die Kommiſſion 
der franzöfiichen Akademie das Werk zur Breisfrönung vorjchlug. Allein hier: 
gegen erhob der Biſchof Dupanloup von Orleans, der jelbjt Mitglied der hohen 
Körperichaft war, Einfpruch, weil das Werk einen Geift verrate, der fataliſtiſchen 
und atheiftifchen Grundfäßen Huldige, und bei dem Einfluß, den die flerifale 
Bartei in den höchiten Kreijen ausübte, wurde der Vorſchlag der Kommilfion 
abgelehnt; auch fpäterhin ift Taine wiederholt zum Zielpunft ultramontaner 
Angriffe gemacht worden. 

Dan findet nun hie und da — jo im Meyerjchen Konverjationsleriton — 
die Angabe, dat Kaifer Napoleon fich des Schriftitellers angenommen und ihn 
für die erlittene Abweifung jeiner englischen Literaturgefchichte durch eine Pro— 
jeffur für Hunftgefchichte entichädigt habe. Unmöglicy wäre dies an fich nicht, 
da fi) Napoleon der Dritte den Klerikalen gegenüber in ähnlicher Lage befand, 
wie früher Heinrich der Vierte, und da er jolchen Perjönlichkeiten, die er unter dem 
Syitem leiden lafjen mußte, unter der Hand recht wohl hätte anderweitigen 
Erfag gewähren können; er hätte aljo Taine ähnlich behandelt, wie Heinrich 
der Vierte den Caſaubonus. Nach einer von dem Verfaſſer diefer Zeilen bei 
Taine jelbjt erbetenen Auskunft hat fich aber der Kaiſer lediglich nicht in den 
Handel gemijcht, den er in der That recht wohl als res interna der Afademie an- 
ſehen fonntee Dans ces circonstances indiqudes je n'avais aucune attache 
politique, jchreibt er; j'&tais un simple curieux, tout-ä-fait ind&pendant, pröoccup6 
uniquement de psychologie litt6raire. Ce qui a pu donner lieu & ce bruit 
d’intervention, c'est que peu de temps aprös je fus nomme& professeur d’esth6- 
tique et d’histoire de l’art à l’&cole des beaux-arts. Dieje Ernennung war 
durch die Leiltungen Taines einer- und den Rüdtritt Viollets vom Amte andrer- 
feitö hinlänglich begründet. 

In feiner neuen Stellung entwidelte Taine nicht bloß als Lehrer, fon- 
dern auch als Schriftiteller eine äußerft fruchtbare Thätigfeit. Diefe war 
teil3 der literariſchen Kritif gewidmet, teils der Kunftlehre, teil der Kenntnis 
von Land und Leuten, teil der Piychologie, teils endlich der Gejchichte Frank— 


reichs im Zeitalter der erjten Revolution. Wir nennen feine Essais de critique 
Grenzboten III. 1885. 22 


170 Bippolyte Adolphe Taine. 








et d’histoire, 1857, denen jpäter Nouveaux essais folgten; feine Studien über 
Lafontaine und Livius; die engliſche Literaturgefchichte; feine Philosophie de 
l’art, ein allgemeines Werk, dem als Spezialarbeiten jeine „Philofophie der 
Kunſt in Italien,“ „in Griechenland“ und „in den Niederlanden“ folgten; feine 
Abhandlung De l'idéal dans l’art. Die Voyage aux Pyrenees, die Voyage 
en Italie (1866), die Notes sur l’Angleterre und die Notes sur Paris, die er 
als Tejtamentserefutor des fingirten amerifanischen Peſſimiſten Frederif Thomas 
Graindorge erfcheinen ließ, vertraten ſozuſagen die Kritif moderner Volks- und 
Kulturzuftände. Der Philojophie find gewidmet: Les philosophes classiques 
du XIX’tms siöcle de France und das zwei Bände jtarfe Werk De l’intelli- 
gence, das 1870 erjchien, ſowie Arbeiten über den engliichen Pofitivismus und 
Idealismus, als deren Vertreter John Stuart Mill und Thomas Carlyle be: 
trachtet werden. Seit 1875 endlich gab Taine Les origines de la France 
contemporaine heraus, in welchem er den wahren Charakter der erjten fran- 
zöfiichen Revolution und ihrer Haupthelden für ewige Zeiten enthüllt hat, wozu 
die 1872 erſchienene Überjegung englifcher Reifebriefe aus den Jahren 1792—95 
ein Vorjpiel war, und 1871 behandelte er in einer Brojchüre das allgemeine 
Stimmredt, in einer meijterhaften Weiſe, die auch für Deutjchland des Beher— 
zigenswerten viel enthält; er erklärte die Mafje für abjolut unfähig, einen 
Kandidaten zum Parlament mit Urteil auszuſuchen, und befürwortete deshalb 
das indirefte, wenn auch allgemeine Stimmredt. 

Die Schriften Taines fanden die verdiente Aufnahme; fie erlebten Auf: 
lagen über Auflagen; im November 1878 öffnete die Akademie ihm ihre Reihen, 
indem fie ihn an der Stelle des im April 1878 geftorbenen Lomenie, des Bio- 
graphen von Beaumarchais, aufnahm. Es ift bemerfenswert, daß die Aufnahme 
nach dem Erjcheinen von Taines Werk über die Revolution erfolgte. Die Aka— 
demie ehrte die Wahrheit und fich jelbit, indem fie Taine gerade jetzt zu dem 
Ihrigen machte. 

Taine iſt mit der deutjchen Kultur nicht unbefannt. Je suis all& trois 
fois en Allemagne, jchreibt er uns, mais j’y ai peu sejourne. Je n'ai appris 
l’Allemand qu’ä vingt ans, et pour &tudier Hegel; dans ma jeunesse, ayant 
beaucoup de goüt pour la m&taphysique et pour les hautes généralités, j'ai 
lu assidument vos philosophes; je profite toujours de vos livres speciaux, 
des excellents manuels, des recherches de premiere main si nombreux dans 
votre pays. Wir können Hinzufügen, daß Taine auch die „Grenzboten“ Fennt, 
lieſt und zu jchäßen weiß. Aber einen entjcheidenden Einfluß Hat unsre deutſche 
Art nicht auf ihn geübt. Je ne crois pas pouvoir attribuer à vos &crivains 
une influence deeisive sur le developpement de mon esprit; j'ai appris da- 
vantage aupres des Anglais; le moule mental anglais est plus proche du 
nötre, surtout quand il s’agit de psychologie, de critique et d’histoire. Es 
iſt ſonach fein Zufall, daß Taine fo viel über englische Literatur, Philojophie, 


Bippolyte Adolphe Caine. 171 
Moral und auch Politik gejchrieben hat, aber faſt nichts über Deutfchland. 
Sein Blid geht nach Norden, nicht nach Dften; er vermittelt über den Kanal, 
nicht über den Rhein. Aber ein jozujagen internationaler Schriftjteller ift er 
doch; er beſchränkt fich nicht auf Frankreich; er geht auch bei Fremden in die 
Schule und bereichert mit ihren Ergebniffen, die er felbitändig verarbeitet, die 
franzöfiiche Kultur. 

Es ijt Hier nicht die Abficht, des Nähern auf feine philofophifchen Werte 
einzugehen, obwohl er jelbjt großes Gewicht auf fie legt. E3 offenbart fich 
im übrigen in diejen Werfen wie in allen andern diejelbe bezeichnende Art, die 
Welt und die Menjchen aufzufaffen. Man hat ihm ein Syſtem zugefchrieben, 
und Hillebrand redet in der zu Anfang diefes Aufſatzes angeführten Stelle von 
„Zained fühner Syſtematik.“ Aber in der Vorrede zu dem kritifchen hiſtoriſchen 
Eſſais, welche vom März 1866 datirt ift, bejtreitet Taine, daß er ein Syftem 
habe: er jei dazu nicht anfpruchsvoll genug: er verjuche nur einer Methode zu 
folgen. „Ein Syitem ift die Darlegung eines Ganzen und zeigt ein abge- 
ichloffenes Werk an; eine Methode ift eine Art zu arbeiten und zeigt ein Werf 
an, das erſt noch gethan werben muß. Sch habe in einem gewiffen Sinne und 
in einer gewiffen Art arbeiten wollen; nichts weiter. Die Frage ift bloß, 
ob diefe Art gut iſt.“ Sie beiteht darin, daß man 3. B. bei der Betrachtung 
eines Künstlers, Dichters oder Weilen deffen Werfe in natürliche Gruppen ein- 
teilt umd in jeder Gruppe auf die drei Unterfchiede der Perjonen oder Cha— 
raftere, der Handlung oder Intrigue, des Stils oder der Art zu jchreiben 
jorgfältig achtet. Am Schluß der Aufzeichnung kurzer treffender Worte, welche 
man zu diefem Zmwede fich macht, wird man von jelbft einen unbeabfichtigten 
Sat, der bejonders Fräftig und bezeichnend ift, befommen, ihn fozufagen von 
jelbft in der Feder haben, welcher das Ergebnis der ganzen Operation zu: 
jammenfaßt. Man wird fehen, daß Perjonen, Handlung und Stil trefflich zu— 
jammenpajfjen, daß eins vom andern abhängt, daß, wenn eins gegeben ift, alles 
andre nicht mehr anders fein kann. Nicht bloß bei Perfonen, fondern auch bei 
Zeitaltern läßt ſich dasſelbe Berfahren beobachten, nur dag man bier noch 
mehr leſen und noch mehr notiren muß. Man wird aber finden, daß Dieje 
„Sorte von Chemie, welche man die piychologifche Analyfe nennt,” bei ganzen 
Beiten zu demfelben Ergebnis führt wie bei einzelnen Menſchen; „zwiſchen einer 
Hagebuche von Berfailles, einem philofophiichen und theologifchen Urteil von 
Malebranche, einem Versrezept von Boileau, einem Geſetz von Colbert über 
Hypotheken, einem Vorzimmerfompliment zu Marly, einem Ausſpruch von 
Boffuet über das Königtum fcheint der Abftand unendlich und umüberjchreitbar, 
feine Verbindung ſichtbar.“ Aber die Thatſachen hängen untereinander zu— 
jammen wie die Waffer in einem Becken durch den Höhenfamm, von wo ſie 
herabrinnen; jede von ihnen ift eine Handlung des idealen und allgemeinen 
Menjchen, um den fich alle Erfindungen und alle Bejonderheiten der Zeit ver 





172 Bippolyte Adolphe Taine. 


fammeln; jede von ihnen entipringt aus einer natürlichen Neigung des herr= 
ſchenden Modelle; es iſt überall derjelbe Geiſt, dasjelbe Herz, welches gedacht, 
gebetet, die Einbildungskraft in Bewegung gejegt und gehandelt hat. Das ift 
die eine Seite der Methode, nachzumweijen, daß die moralische Welt jogut ihre 
„Abhängigkeiten“ (dependances) hat wie die phyfiihe. Man muß aber auch 
zweitens nachweifen, daß fie ihre Bedingungen (conditions) hat. Bei dem erjten 
Punkte werden gleichzeitige Dinge unterfucht; der zweite bezieht fich auf Dinge, 
die aufeinander folgen. Die Bedingung ift in der moralischen Welt jo aus: 
reihend und jo notwendig wie in der phyſiſchen; wenn fie vorhanden ijt, jo 
fann das Werk nicht jcheitern; iſt fie nicht vorhanden, jo kann es nicht zuſtande 
fommen. „Aus dem englischen Charakter einerjeit® und dem Despotismus, welchen 
die Tudors den Stuarts vermacht haben, andrerjeits ift die englische Revolution 
hervorgegangen. Aus dem franzöfiichen Charakter und der Adeldanardhie, welche 
durch die Vürgerfriege den Bourbons vermacht wurde, iſt die Monarchie Lud— 
wigs XIV. erwachſen.“ 

Man ſieht aus dieſen Sätzen, daß Taine Determiniſt iſt. Abhängigkeiten 
und Bedingungen ſind die treibenden Kräfte, welche die Geſchichte machen; für 
die menſchliche Willensfreiheit bleibt nicht viel Spielraum. Deshalb macht auch 
Charpentier in feiner Gefchichte der franzöſiſchen Literatur im neunzehnten Jahr: 
hundert (Paris, Garnier, 1875, ©. 273—274) Taine den Vorwurf, da er die 
großen Geilter wie eine Art von Maſchine anjehe, bei denen es genüge, Die 
große Triebfeder und das Hauptrad zu fennen, um die Bewegung und das 
Ergebni® voraus zu ahnen. „Ja, aber in einem Winkel der Maſchine verbirgt 
fich eine Feder, deren Kraft und Thätigfeit man nicht vorausjchen fann. Das 
ift die Freiheit." Wir vermeiden es, in eine Diskuſſion über die ganze Art 
Taines einzutreten. Wer Deterininift ift, wird ihm ohnehin beipflichten. Wer 
es nicht ift, fann doch nicht umhin, der kühnen Sicherheit, mit welcher Taine 
verfährt, jeine volle Dewunderung zu zollen. Man billigt e& nicht, aber man 
muß jagen: bier ift Methode, ift Logik. Es ift eine fonjequente, fajt jchonungs- 
tofe Art, den Menjchen zu zergliedern, ihn geiftig zu feziren; aber fie führt im 
ihrer Art zum Ziele. 

Taine ift Franzofe, damit ift Schon gejagt, daß er geiftreich ift. Aber es 
ift nicht das Brilliven mit hohlen Theatereffeften, was man bei ihm findet; er 
ijt ein Mann von hervorragendem Fleiße, der außerordentlich viel gearbeitet 
und jtudirt hat und deſſen fchimmernde Perioden und Gentenzen, jo leicht fie 
jeinem Munde zu entjtrömen fcheinen, doch alle an der nächtlichen Lampe bed 
Demojthened gewogen und wieder gewogen worden find. Daß man es ihnen 
nicht anmerkt, ift nur ein Ruhm mehr für den Autor; aber die Thatjache des 
eiferniten von ihm aufgewandten Fleißes tritt einem entgegen, fobald man in 
jeinen Hauptwerfen, dem philojophiichen Sur l’intelligence und dem hiſtoriſchen 
über die franzöfiiche Revolution, auch nur zu lefen anfängt. St.-Beuve hat 


Bippolyte Adolphe Taine. 173 


ihm 1866 im achten Bande der neuen Causeries du lundi foftbare Ratjchläge 
erteilt und ihm prophezeit, daß er ein großer Schriftfteller werden würde, wenn 
er den Luxus feiner Entwidlungen befchneide, die Fülle feiner Synonyma ver- 
mindere, „wenn er den Bart ftuge.” Ohne daß Taine fich vielleicht ganz darnach 
gerichtet hat, ift er doch ein großer Schriftfteller geworden; er ift eine Art von 
Mittelding zwiſchen Cicero und Tacitus. 

Manche feiner Wendungen find wahre Meifterftüde der zujammenfaffenden 
Beurteilung. Die Lejer diefer Blätter fennen die Stelle aus der Vorrede zum 
vierten Bande der Origines, in welcher er den Götzendienſt, der in Frankreich, 
mit der Revolution getrieben wird, in Parallele jtellt mit dem Tierfultus ber 
ägyptiſchen Priefter, die ihre Götter hinter goldgeftidten Vorhängen verbergen; 
wenn der Gläubige unter Schauern der Andacht ſich den Vorhang lüften ließ, 
jo erblicte er ein fcheußliches Krokodil. Um den Peſſimismus feines Grain- 
dorge zu zeigen, den er zum Doktor der Philoſophie an der Univerjität Jena 
und zum Hauptafjocie des Hauſes Graindorge und Komp. — Ole und geſal⸗ 
zened Schweinefleiih — in Cincinnati macht; um diejen feltiamen Menjchen 
mit einem jener zujammenfaffenden Worte zu jchildern, läßt er ihn fagen: 
„Ludwig XI. hatte am Ende feines Lebens eine Sammlung junger Schweine, 
welche er al3 Edelleute, Bürger und Domherren Heiden ließ; man unterrichtete 
fie mit Stodjchlägen, und fie tanzten in diefem Aufzuge vor ihm. Die unbekannte 
Dame, welche ihr Natur nennt, Handelt ebenjo; fie ift vielleicht humoriſtiſch, 
nur jchiebt fie, wenn wir unter großem Aufwande von Peitſchenhieben unfre 
Rolle gut gefpielt haben und fie reichlich über uns gelacht hat, uns endlich in 
die Fleiſcherei oder ins Pökelfaß.“ 

Fragt man, was wohl dereinſt von dem Ruhme bleiben wird, deſſen Taine 
heute genießt, jo wird man antworten dürfen: Multa pars ejus vitabit Libitinam. 
Aber jo glänzend auch jeine Methode jein mag, jo reizvoll feine literariſchen 
Charaftertöpfe, jo jcharffinnig feine Piychologie — alle diefe Dinge kommen oft 
mit der Mode und gehen mit der Mode. Wenn ein andrer philoſophiſcher 
Wind in Frankreich auffpringt, jo können diefe Schriften von der Mafje ver- 
geffen werden und nur in den gelehrten Bibliothefen ihr Dafein weiterjpinnen. 
Was aber nicht vergehen wird, das ift Taines Werf über den Urjprung des 
heutigen Franfreih. Mit ihm Hat er nicht bloß Worte gejagt, fondern eine 
erlöjende That eriten Ranges gethan. Er hat, um ein ſchönes Wort von Mar 
Loſſen zu brauchen, das diejer fürzlich in der Hiftorifchen Zeitſchrift ausſprach, 
ein ſälulares Werf geichaffen, wie Ranfe, wie Motley u. a. große Vertreter der 
Hiftorie folche hinterlaffen haben. So lange man von der Revolution von 1789 
jpricht, fo lange wird man auch erzählen müffen, daß ein paar Menjchenalter 
lang das Krofodil Hinter dem Vorhange göttlicher Ehren genoß, bis zuerft Heinrich 
bon Sybel, dann aber noch vollftändiger und noch mutiger, weil er jelber 
Franzoſe war, Taine den Vorhang aufhob und das Ungetüm entlarvte. Daß dad 


174 Zum Weimarer Jubilate. 








Bud), in welchem diejes Werf der Wahrheit und des Mutes gethan ward, eine 
Vereinigung glänzender Beredjamfeit und unermüdlichen Fleißes darjtellt, das 
fihert ihm umfomehr eine lange Dauer. Es ift wahrlich wert, ein „Befit 
auf immer“ zu heißen, und noch oft werden aus jeinem Arjenal Waffen geholt 
werden, wenn man verjuchen wird, das Krokodil wieder hinter den Vorhang zu 
ftecfen und es wieder für einen Gott auszugeben. 

Heilbronn, 6. Egelhaaf. 





Sum Weimarer Jubilate. 


we ie Nachrichten von den Verfügungen des legten Goetheiprößlings, 
& Wovon der Verſammlung zu Weimar und von deren Beichlüffen 
| find mit einer bei und Deutjchen ungewöhnlichen Stille aufge: 
|nommen worden. Sind wir denn wirffich nicht mehr das Volt 
N der Neunmalweiien, der Beſſerwiſſer? 

Der deutſchen Mäfeljucht foll hier Fein Loblied gejungen werden. Die 
Würde eines beijpiellojen, wahrhaft großartigen Vorganges, die Reinheit und 
Tiefe feines Eindrudes — wir wären die legten, welche diefe Weihe vorlaut 
unterbrochen jehen möchten. Aber gerade, weil es fich hier um große Dinge, 
um einen Volksſchatz handelt, hat jenes Schweigen auch etwas Beunruhigendes. 
Fallen wir nicht aus einem Fehler in den andern! Daß wir über die Be- 
handlung des Goethifchen Nachlafjes in den Hauptdingen einig find, ift ja fehr 
Ihön; man fünnte e8 beinahe erhebend nennen. Aber aus demjelben Geficht3- 
punfte würde es leichtfinnig jein, einzelne Bedenkten — und träfen fie auch nur 
Kleinigkeiten — zu unterdrüden. Im Grunde ift hier nichts eine Kleinigkeit. 
Handelt es fich doch darum, die ſchwere Aufgabe, die wir jet vor ung liegen 
jehen, möglichjt volllommen zu löfen. 

Erörterung einzelner Bunfte wird das Werk nicht aufhalten. Noch find 
ja nicht endgiltige Beichlüffe gefaßt, noch find feine Anfänge ber Arbeit vor- 
handen, welche die Fortiegung bänden. Das beicheidne Wort eines Unbeteiligten 
fann aljo vielleicht noch eine gute Stätte finden. 

Es joll hier von der endgiltigen Ausgabe der Gefammelten Schriften, 
und zwar zunächſt von einer — vielleicht unbedeutenden — Einzelheit die 
Rede fein. 

Der vorläufig zufammengetretene Ausschuß hat mitgeteilt, daß ſich in der 
Handjchrift der Venetianiſchen Epigramme einige bisher ungedrudte Stüde vor: 





Zum Weimarer Jubilate. 175 





gefunden haben. Wegen des jehr anftößigen Inhalt® habe man bejchlofjen, die- 
jelben nicht zu veröffentlichen. 

Die endgiltige Ausgabe wird aljo nicht vollftändig fein? Wir geftehen, 
daß wir von dieſer Ankündigung jeltfam überrafcht worden find. Nicht der 
wenigen Zeilen wegen, die der allgemeinen Kenntnis entzogen bleiben jollen; 
obgleich uns jede Zeile Goethes, jeder Strahl feines Geiftes heilig fein jollte, 
und wenn cr auch aus Dämpfen von Pech und Schwefel hervorbräche. 

Die Frage, die man fich aufwirft, liegt tiefer. Wer urteilt denn hier über 
Goethe? fragt man fi. Wer fühlt fich denn jo ficher, in ſolchem Falle über 
dichteriiche Wohlanjtändigkeit zu Gericht figen zu dürfen? Es find herkömm— 
lihermaßen die „berufeniten Männer unjrer Zeit,“ dag ift ja unbeitritten. 
Über ohne unfre Zeit verkleinern zu wollen: mejjen wir doch einmal ihren 
Geijt mit dem Geiſte Goethes. Wir von heute werden alle einmal ſpurlos 
hinweggejpült worden ſein — alle bis auf einen, und der iſt nicht Mit- 
glied der Gpethegejellichaft. Die Enge menschlichen Gedächtnifjes, die Schwäche 
menschlicher Empfänglichkeit find glüdlicherweife furchtbare Totenrichter am 
Grenzfluffe des Nachruhms. Goethe aber wird bleiben. Zu jedem kommenden 
Geichlehte von Menſchen wird er als Menſch, als cin Lebendiger aus der 
Reihe der Schatten hinübertreten. Und Goethes bittere® Wort von dem 
„Sänfegejchlecht," das unter den NRodichößen großer Toten hervorjchnattert, 
wird wohl auch nicht vergeffen werben. Die Ausficht auf diefe Bezeichnung 
jollte eigentlich wenig verlodend fein. Will wirklich jemand, Arm in Arm 
mit Goethe als Geiftesgenofje, wie weiland Nicolai mit Leffing, das Urteil der 
Nachwelt herausfordern? 

Man werfe nicht ein, Goethe jelbit habe darüber ſchon entfchieden, Goethe 
jelbjt Habe jene Verſe unterdrüdt. Wohl gab es einmal einen Herrn Geheimbde- 
rat Johann Wolfgang von Goethe, Erzellenz, Wirklichen Staatsminifter, 
der hat allerdings die Blätter zurücgelegt. Der ijt aber jchon im Jahre 1832 
geſtorben. Damals hat er den gefticdten Frad für alle Zeiten abgethan; und 
an den Popanz, welchen dann der arme Börne damit ausgeftattet hat, glaubt 
heute fein Menjch mehr. Und Goethe, „Wolfgang Apollo“ im Strahlenfleide 
der Ewigkeit — der doc) gewiß ein VBorgefühl von dem gehabt hat, was mit 
feiner Hinterlaffenichaft einft vorgenommen werden würde —, er hat die Verfe 
feinesweg3 vernichtet, er hat fie forgjam aufbewahrt. Daß eine vorläufige 
Entſcheidung Goethes uns nicht binden kann, das liegt doch auf der Hand. 

Und nicht nur Goethe fteht ung heute anders gegenüber: auch die Zuftände 
haben fich geändert. Wie fehr, deſſen fcheint man fich nicht immer Har bewußt 
zu fein. Heute giebt es fein verhängtes Allerheiligftes mehr, in das der „Li- 
terat“ den Strahl der Fackel nicht fallen Lajjen dürfte. An die wahre Dichtung 
und an die reine Forſchung legt fein Staatsanwalt mehr die Hand. Bliden 
wir doch einmal zurüd und vergleichen wir: was ijt denn überhaupt noch 


176 Zum Weimarer Jubilate. 


hriftlih in unfrer Literatur? Dagegen befand fi zu Goethe Zeit der 
Schriftiteller zum Chriftentum ungefähr in der gleichen Lage wie der Steger in 
ſtockkatholiſchem Lande: „Hut ab! und auf die Knie! mach wenigitens ein 
Gaukelſpiel, Hallunf, wenn dir nicht Schlimmes widerfahren ſoll.“ Freilich 
wenn der Geift gegenwärtig freier ift, jo find wir dafür umſo ängjtlicher in 
der Form; für Form aber hat der Staatsanwalt den Blid des vierfach deitil- 
lirten Oberzeremonienmeifterd. Und Goethe kann jchauderhaft unanftändig fein. 
Die Zeit wird aber doch wohl einmal eintreten müſſen, wo, was für die alten 
Klaffifer und für die der Franzoſen recht, für die unjern billig it. Einen 
Staatsanwalt, der ſich an Goethe wagte, giebt e3 überhaupt ſchwerlich mehr; 
und um bie freiwilligen Tugendwächter, die immer noch befchränft genug find, 
zu glauben, Goethe fei der Mann, müde Junggefellen zu kitzeln — um Die 
brauchen wir ung nicht zu Fümmern. 

Einen äußern Punkt jchließlich, der auch noch mitzählt, jollte doch feine 
Erwägung übergehen. Der letzte Goethe-Enfel hat den Schat des Nachlaſſes 
einer hohen Frau übertragen. Sie hat die Pflicht, die fie damit auf fich 
nahm, hochherzig aufgefaßt, und bis jegt ijt alles jo ſchön gelungen. Vergeſſen 
wir aber nicht, daß eine Verantwortung auf ihr ruhen bleibt, auch nachdem fie 
das teure Vermächtnis rein in reine Hände gelegt hat. Sie darf doch nicht 
bösartigen Bemerkungen ausgejegt werden! Man jollte fich jehr hüten, zu 
ſchlechten Wien — etiva über „Textkritik im Unterrode” oder über den „Goethe 
für Höhere Töchter” Gelegenheit zu geben. 

Wer ſich großer Dinge unterfängt, der jet fich in ein Glashaus. So laſſe 
er wenigjtens von jeiner Arbeit nicht jelber die Broden fallen, womit ihm Buben 
die Scheiben einwerfen könnten. 

Was werden denn jene Verje überhaupt jo Schlimmes enthalten, daß 
Sitte und Kirche dadurch gefährdet werden jollten? Dan wird jchwerlich jemanden 
davon überzeugen, daß nicht vor Goethe und nach Goethe weit gewagtere Ge- 
danfen gedrudt worden wären. Und was die Gejellichaftsfähigleit der Form 
anlangt, jo bewegen fich doch jchon die Paralipomena der Tandläufigen Aus: 
gaben mindejtens in Hemdsärmeln. Hat man jemanden aber erjt den Rock ab- 
legen laſſen, jo ijt alles weitere doch nur noch ein Unterjchied des Grades. 
Haben wir das Durchbrechen der Schranfe einmal geduldet, jo haben wir chr- 
licherweife fein Recht mehr über fernere Ausschreitungen zu zetern. Ärgernis 
giebt jenes wie dieſes. Denn „das Nadtgöttliche ift ihnen fatal, und cin Satyr 
hat immer feine guten Gründe, wenn er Hojen anzieht und darauf dringt, daß 
auch Apollo Hojen anziehe“ — man findet manchmal auch bei Heine Stellen, 
die für ewige Zeiten gejchrieben find. 

“ Betrachten wir doc) einmal den Erfolg, den man ſich von diefer Ge 
heimniöfrämerei verjprechen darf. Glaubt man wirklich, daß jene Zeilen 
fernerhin unbefannt bleiben werden? Bisher war das denkbar, folange fie noch 


Sen Weimarer Jul. 117 





in unzugänglichen Schränken verborgen gehalten wurden. Hat man fie aber 
erjt einmal im Archive niedergelegt — denn auf den Gedanken kann doch wohl 
niemand geraten, fie vernichten zu wollen —, jo wird man fie jedem eınjthaften 
Forſcher in die Hände geben müſſen, gerade jo gut wie irgendeinen andern Teil 
der Urkunden. Das Ergebnis läßt fich vorausfehen. Über jolchen Dingen ſchwebt 
ein jo jcharfer Geruch, daß er die Wände jeder SicherheitSmaßregel durchdringt. In 
kurzer Friſt werden hunderte von Leuten jene argen Epigramme auswendig wijjen. 

Das wäre nun freilich ebenjowenig ein Unglüd, wie etwa ihre Veröffent— 
lihung überhaupt. Aber wir ftchen damit auch erjt am Anfange der Ereignifje. 
Denn nun fommt der findige Buchhändler und eröffnet mit möglichiter Feier: 
lichfeit die „erſte vollitändige Ausgabe“ — natürlic) bloß der Epigramme, 
damit ja auch magere Börjen das Büchelchen aufwiegen fünnen. „Unjchägbar 
zur Kenntnis Goethes! eine Bereicherung der Literatur!" Im Anzeigeteile 
vorurteilsfreier Blätter wird man dann zwiſchen „Pikanten Photographien“ und 
„Spezialitäten für Herren“ Goethe Namen lejen können. Hinter dem Buch— 
händler jedoch — fommt der Staatsanwalt. Diesmal mit vollem Rechte; 
diesmal muß er fommen. Denn der Verfaffer bleibt hier völlig außer Betracht: 
ed gilt — mit der nötigen Feuerzange — den unjaubern Gejchäftsmann zu 
paden, dem ed ganz gleich ijt, ob er mit Goethiichen Epigrammen handelt oder 
mit irgendwelchen „Seheimnifjen der Liebe und Ehe,“ dem Goethes Name bloß 
ein „Buff“ ift. Und dann ift wirklich das Ärgernis da. Dann wirft fich der 
Schwindler in die Bruſt und beruft ſich auf höhere literarifche Interefjen, vor 
denen die landläufige Moral zu jchweigen habe; und der Verteidiger erhebt die 
Stimme, die beleidigten Manen Goethes heraufzubejchwören. Dann wiederholt 
fi) der Skandal vom „Tagebuche”; denn das Publikum unterjcheidet nicht jo 
fein: dag jicht eben Goethe auf der Anklagebank figen. 

Wir hoffen noch immer, man werde uns Diefes Schaufpiel erjparen. Das 
einzige Mittel dazu ift aber: Veröffentlichung an unantaftbarer Stelle. Dann 
liegt die Sache ganz einfad. Dann kann der Kantharidenverfäufer nicht auf: 
fommen. Der Staatsanwalt hat bloß darauf zu achten, ob eine Wusgabe, die 
dann jene Verſe abdruden jollte, ernſthaften, jelbjtändigen Wert hat. Kann der 
Berleger das nicht nachweilen, fo wird fein Prozeß ſehr furz ſein: fein Menſch 
wird auch nur den Kopf wenden, wenn der Mann zu der gebührenden Strafe, 
jei fie auch noch jo hart, verurteilt wird. Der Fall liegt ja bereits vor mit 
dem befannten Gedicht Heines über das vieldeutige Bildwerk im Hofe des könig— 
lichen Schlofjes zu Berlin. Man hat die einzelnen Gedichtjammlungen und die 
gewöhnlichen Volksausgaben, worin jenes enthalten war, in Preußen einfach 
verboten, hat aber feinen Anſtoß daran genommen, daß es in der vollitändigen 
Ausgabe legter Hand auch fernerhin bleibt. Das ift eine durchaus angemefjene 
Entjcheidung, welche ſelbſt die Meute zeilenhungriger Reporter nur einen Augen— 
blid lang anzufläffen gewagt hat. 

Grenzboten III. 1885. 23 


178 Sum Weimarer Jubilate. 





Eine eingefchränfte Öffentlichkeit hat fich in folchen Fällen wohl ſtets am 
beiten bewährt. Wie hoch die Schranfe fein ſoll, das zu bejtimmen liegt dem 
Ausihuffe ob. Wir felber wünfchten fie recht Hoc), zum Heile vorwitziger 
Kinder. Das enticheidende, was folche, immerhin gefährliche Stoffe dem Ver— 
fehre entzieht, ift ein teurer Preis. Eine Ausgabe, die etwa 500 Marf fojtet, 
iſt der allerficherjte Giftjchranf. 

Man kann dagegen zwei Bedenken erheben. Zunächit würde man vielleicht 
anführen, daß es Unrecht an der gemeinfamen Sache jein würde, den reinen 
Tert, den wir jeßt gejchenft erhalten haben, nicht jofort dem ganzen Wolfe, dem 
er doch recht eigentlich gehört, in die Hand zu geben. Eine jolche Anjchauung 
würde indes nur bei mangelhafter Erfahrung in jolchen Erjcheinungen gefaßt 
werden fünnen und bei unzureichender Kenntnis des Rechtes, das zur Zeit in 
Deutjchland für geiftiges Eigentum gilt. Erſt neuerdings it in dem Ötreite, 
der fi) um die Veröffentlichung der Cattſchen Tagebücher erhoben hatte, fejt- 
gejtellt worden, daß Bearbeitung und Herausgabe alter Handjchriften dem Ent: 
deder fein Urheberrecht jchaffen. Wenn aljo heute die Ausgabe des Goethe: 
Ausichuffes erjcheint, jo Fann von der Stunde ab jeder den reinen Tert nach— 
druden. Das ift die rechtliche Seite. Daneben aber lehrt die Erfahrung in 
ähnlichen Fällen, daß jofort eine große Schnigeljagd von Nachdruden an- 
heben wird: Prachtausgaben, Bollgausgaben, illujtrirte Ausgaben und jolche, 
bei deren Abnahme man obendrein ein Gebiß geliefert befommt — wir werden 
das alles wieder in buntem Wirrwarr durcheinanderjtolpern jchen auf der Hehe 
hinter dem Dummen mit der befannten Eigenjchaft. Den reinen Tert wird 
man fich alle Tage für zwanzig Pfennige bei Reclam kaufen fünnen. 

Der zweite Einwand wiegt allerdings jchwerer, jehr jchwer jogar. Ein jo 
hoher Preis muß natürlich durch Aufwand bei der Heritellung gerechtfertigt 
werden. Alſo läßt ſich — bei jo ungewöhnlichem Preiſe — vorausfchen, daß 
der Unternehmer zu Schaden fommen muß. Wer wird den Schaden tragen 
wollen? 

Iſt dieſe Frage eines wahrjcheinlichen Verluftes von dem Ausſchuſſe über- 
haupt jchon in Betracht gezogen worden? Denn daß die Ausgabe in jedem 
Tale dem Unternehmer Berlujt bringen wird, erjcheint uns, wenn wir den 
Nachdrud, wie oben bemerkt, in Anfchlag bringen, von vornherein als ausge: 
macht. Aber die Frage bleibt: wer ſoll diefen Verlust decken? Von dem Vereine 
it faum etwas zu erwarten. Daß die Vereinsbeiträge jelbjt bei der größten 
Teilnahme dazu nicht augreichen würden, liegt auf der Hand. Sie find jo 
lächerlich geringfügig, daß nad) Abzug fonjtiger Kojten des Vereins — jelbit 
wenn man den Jahresbeitrag verdoppeln wollte — faum eine ganz bejcheidne 
Verzinjung des für die Ausgabe erforderlichen Kapitals gewonnen werden würde. 
Und dabei wird mancher wohl gar noch erwarten, daß man ihm für feinen Bei- 
trag das Jahrbuch und fonjtige Veröffentlichungen Tiefer. Andrerjeits würde 


179 
es eine Härte fein, die viele ausjchlöffe, wollte man den Mitgliedern die Zeich- 
nung auf die Ausgabe zur Pflicht machen. 

Bon einer Sammlung für den Zwed würde man fich auch nicht viel zu 
veriprechen haben. In Deutjchland ift das Gefühl für nationale Würde über: 
haupt gering, und außerdem find gerade unſre bejienden Kreiſe zu ungebildet, 
als daß man bei ihnen auf Berftändnis für folche Fragen rechnen dürfte. Ein 
Goethe mit Druckjehlern oder ohne Drudfehler — du lieber Gott! fie leſen 
ihn ja überhaupt nicht. Und was jchlimmer ift: fie jchämen ſich deſſen nicht 
einmal! Einige unjrer Fürjtenhäufer haben fich bisweilen in folchen Fällen 
großartig gezeigt — aber auch fie würden fchwerlich den vierten Teil der Kojten 
decken. Unſer begüterter Abel, die Spitzen unjer® Gewerbes, unjers Handels 
und des Spield — wie gejagt, ſie haben fich noch nicht zu den Anſtandsbe— 
griffen gebildeter Völfer aufgefchwungen. Am erjten dürfte man vielleicht bei 
dem Buchhandel auf Entgegenfommen hoffen. Das ift der Kreis, der von ber 
Reinigung des Goetheterted einzig und allein berechenbaren Vorteil ziehen wird. 
Ihm könnte man Opfer zumuten. An Goethe hat er viel gefündigt — durch 
Nachdruck und durch schlechten Drud —, und hat viel an ihm verdient. Nicht 
bloß die Erben Eottas, der ja ſchließlich Goethe Teidlich bezahlt hat, fondern 
zahlreiche andre auch: alle die Goetheverleger, die ſeit dem Erlöjchen des 
Eottafchen Rechtes aufgeitanden find — Hempel, Grote, Meyer, Reclam x. —, 
bis herab auf die ganz Kleinen, die doch Jahr für Jahr einige Abzüge der 
Werke verfauft haben. Selbit David aus Reuters Neformverein dürfte dem 
großen Manne die Anerkennung nicht verfagt haben: „Was hat er nicht ge- 
bracht in die Welt für'n Gejchäft!“ 

Vielleicht wäre e3 doc des Nachdenken wert, ob ſich nicht ein Mkittel 
finden ließe, wenigſtens die Häupter unfers Buchhandels zu einer Genofjenjchaft 
zu vereinigen, welche den Vertrieb der Ausgabe auf eigne Rechnung übernähme 
und den unausbleiblichen Verluft, joweit nicht anderweitig Dedung gejchaffen 
werden könnte, unter fich verteilte. Bei ber feltjamen Umjtändlichfeit, womit 
der deutjche Buchhandel noch immer den Berfauf feiner Erzeugnifje betreibt, 
find freilich die großen Verleger wohl auch nicht alle in der behaglichiten 
Lage — immerhin find fie es doch, die an langjamen Eingang der Gelder und 
an große Berlufte am erjten gewöhnt find. 

Bon einem find wir überzeugt: wenn bei einem hohen Preije das Wagnis 
bedenklicher ift, jo beffert fich bei jchöner Ausftattung die Ausficht des Ver- 
triebes annähernd in demjelben Grade. Denn der größere oder geringere wiffen- 
ichaftliche Wert der Ausgabe wird der Mehrzahl der Käufer micht fo weſentlich 
fcheinen, um dem Urterte einen entichiednen Vorzug vor den Nachdruden zu 
verichaffen. Eine wahrhaft jchöne Ausgabe aber wird wenig Wettbewerb finden. 
In England und in Frankreich, wo man dergleichen ja wirklich zu jchägen ver- 
fteht, würde man fie umfo lieber aufnehmen, je jeltner jo etwas aus Deutfch- 


Sum Weimarer Jubilate. 





180 Zum Weimarer Jubilate. 





fand fommt. Und wenn man von Anfang an feierlich (und recht laut!) er- 
Härte: „Dies ift die Jubelausgabe; dies ift die großartige editio ne varietur; 
e3 werden nicht mehr als taujend Abzüge davon genommen, und fie wird nie 
wieder aufgelegt werden“ — jo würde fchon der Wunjch nach dem Befige einer 
Eeltenheit manchen Käufer herbeiführen. Sammler, die Goethe un und für 
fich garnicht fümmert, würden fich dann melden; und jogar der Emporkömm— 
ling, der fich eine Bücherei nach Maß beftellt, würde fich vieleicht einen Abzug 
aufreden laſſen. 

Endlich würde der Preis in der That garnicht jo unerjchwinglich fein. 
Der Natur der Sache nach werden die einzelnen Teile fich in ziemlich großen 
Bwifchenräumen folgen. Bei einem Anjchlage von 500 Mark für dreißig bis 
jechsunddreißig Bände würde der Band vermutlich ungefähr 15 Mark koſten, 
ein Preis, der weder an fich übermäßig, noch, in längern Paufen gefordert, 
unerſchwinglich genannt werden dürfte. 

Nicht wegen der paar Epigramme verlangen wir übrigens für die Jubel- 
ausgabe ein außergewöhnliche Gewand. Das halten wir überhaupt für eine 
Forderung nationalen literarischen Anjtandes. Bon Shakeſpeare und von 
Moliere, dem großen Dichter Englands und dem großen Dichter Franfreichs, 
befigt man mehrere wahrhaft jchöne Ausgaben. Viktor Hugo hat es jogar 
noch erlebt, daß man eine Sammlung jeiner Werke begann, von der ein voll: 
ftändiger Abzug 5000 Franfs foften wird. Man vergleiche damit nur unſre 
anerkannten Klaſſiker. Die beften Texte, die wir bisher hatten, die Hempeljchen, 
find mit einer jo boshaften Type auf jo gemeinem Papier gedrudt, daß ihr 
Anblid genügen follte, begabte junge Leute vom Dichterberufe abzufchreden. 
Im „Originalprachtband“ erregen fie vollends Schauder. Die anjchnlichjte 
Ausgabe von Goethe oder Schiller ift eben noch gut genug zum Handgebraud). 
E3 wäre nachgerade wirflih an der Zeit, und es fünnte gar fein pafjenderer 
Anlaß dazu fommen, das Verſäumte wenigstens für Goethe nachzuholen, der 
doch für den Deutichen das ift, was für den Engländer Shafefpeare ift und 
für den Franzoſen Molitre: der Dichter fchlechthin, der Geist, in dem fich die 
Eigenichaften ſeines Volkes am reichjten vereinigt und am Ddeutlichiten aus— 
geiprochen Haben. 

Für 500 Mark — ben zehnten Teil dejjen, was der Franzoſe an Hugo 
wendet — kann immerhin etwas bejcheiden Gediegnes geichaffen werden. Über 
die Grundzüge der Austattung würde ja leicht allgemeines Einverftändnis 
herzustellen jein — der Anſtoß müßte denn in der Wahl der Type liegen. 

Zu Sluftrationen wäre fchwerlich zu raten. Das verbietet jchon bie 
NRüdficht auf die Koften. Außerdem aber find Goethes Schriften ja zur weit- 
aus größern Hälfte für dem Zeichner ganz unfruchtbar. Für einen einzelnen 
Beichner ijt die Aufgabe zu umfafjend; und was bei einer Verteilung heraus: 
fommt: der widerwärtige Miſchmaſch, das würdeloje Gedränge, das fernen 





Zum Weimarer Jubilate. 181 


wir zur Genüge Und im beiten Falle könnte man fich nicht viel Freude 
davon verjprechen, dazu fehlt e8 zu jehr an Geſchmack. Gerade in bezug auf 
Illuſtrationen ift bei Künftlern ſowohl wie beim Publikum jo jedes Stilgefühl 
abhanden gefommen, eine folche Rohheit eingeriffen, daß wir vor dem Auslande 
und vor der Nachwelt mit unjrer Jubelausgabe wenig Ehre einlegen würden. 
Schließlich fchredt auch bei vollfommenster Ausführung die Iluftration manchen 
ab, weil er fich nun gerade Gretchen oder Friederiken „ganz anders gedacht“ 
hat als der Künftler. Leute, die in Kunſtſachen von jubjeftivem Empfinden 
bis zu einem gewiſſen Grade abjehen fünnen, find doch immer felten. In 
Frankreich hat man dafür einen bequemen Ausweg gefunden. Da giebt e3 für 
die Werke großer Dichter verjchiedne Folgen von Sluftrationen, in Stich oder 
in Radirung hergeſtellt, unter denen fich jeder ausfuchen kann, was ihm zujagt, 
um e3 in feine, in der Regel nicht illuftrirte Liebhaberansgabe einbinden zu 
laſſen. Allerdings ſchwankt dort das Format der Bücher nicht jo launifch wie 
bei und. Trotzdem ließe ſich in Deutjchland vielleicht gelegentlich ähnliches 
herſtellen. 

Alſo feine Illuſtrationen! Wohl aber ſchöne Kopfleiſten, Schöne Anfangs— 
buchſtaben und Schlußſtücke — wenn auch in beſcheidnem Maße: wegen der 
Koſten, und — worin in der Regel gefehlt wird — wegen des Stils. Die 
Ausgabe iſt des Textes wegen da; das Zierrat darf nicht überwuchern. Die 
Aufgabe bleibt immer noch groß genug, denn diesmal ſchaffen wir für kommende 
Jahrhunderte. 

Groß wäre die Aufgabe überhaupt, wenn man ſie groß anzufaſſen ver— 
ſtünde. Es gälte, dem Volke wieder einmal eine Lehre zu geben. In unſerm 
Buchgewerbe liegt noch vieles im argen — troß dem Aufichwunge, der uns 
alle Tage gerühmt wird. Es giebt noch immer viel Schwindel und wenig 
Geſchmack. Das jchwerfte aber hat das Publikum verfchuldet, und zwar aus 
Unfenntnis. Was ein jchönes Buch ift, und welchen Kunftgenuß e3 bietet, von 
taufenden weiß das faum einer, umd auch der meist — denn die Gelegenheit 
dazu ift ſelten — nicht aus eigner Anfchauung. Die übrigen verlangen ein 
„Prachtwerk” in „Prachtband“ für einen Preis, den ein einfacher, forgfältig 
gearbeiteter Einband allein koſtet — und wofür fie zwanzig Mark ausgeben, 
das muß auch zwanzig Pfund wiegen. Dementiprechend werden fie dann auch 
bedient. Wenn diejen Leuten ein Beifpiel gegeben würde: der Segen wäre 
unſchätzbar. 

Und es wäre das um nichts weniger erbaulich, wenn dazu ein halbes 
Dutzend anſtößiger Epigramme, in übermütiger Stunde aufgeſchrieben, den 
erſten Anſtoß gegeben haben ſollte. 





Salisbury und der Mahdi. 


wo ie der neue engliiche Premier in dem Programm erklärte, welches 
| er neulich dem Haufe der Lords vortrug, zerfällt die Aufgabe, 
A| welche der Toryregierung in Ägypten geftellt ift, in drei Teile, 
A einen militärischen, einen finanziellen und einen politiichen. Im 
| M folgenden betrachten wir den erjten, welcher die Frage einschließt, 
bie gegentvärtig am dringendften nach Löfung verlangt. Sie lautet: Wie wird 
Salisbury ſich dem Mahdi gegenüber verhalten, den die Unentichloffenheit und 
Inkonſequenz feine® Vorgängers in der Leitung der englischen Politik im Nil- 
lande fiegen ließ? Mit andern Worten: Was joll mit dem Sudan gejchehen, 
welchen Woljeleyg Truppen — weniger vor dem Propheten und feinen Der: 
wiſchen al3 vor der afrifanischen Glutjonne — geräumt haben? Es war eine 
ichwere Unterlaffungsfünde, daß der britijche Feldherr dieje natürliche Bundes— 
genoffin der Sudaneſen nicht von Anfang an in die Berechnung feiner Operationen 
und der von ihm zu befämpfenden Mächte aufgenommen hatte, und e8 war in 
feinen Folgen ein nicht minder jchweres Unrecht gegen die Bevölferung diefer 
Gegenden, joweit fie Partei für England ergriffen hatte und nun Faltblütig 
verlaffen und geopfert wurde. Seht, jo unüberlegt verfahren dieje angeblichen 
Schirmherren, jo wenig vermögen fie, und jo behandeln jie ihre Freunde! So 
Elagte man am Nil, und jo wiederhallte e8 am Indus und in den Bergen der 
Afghanen, wo man mit Qumsden und feiner Eskorte Erfahrungen gemacht hatte, 
welche das Anſehen der Briten auch nicht erhöhen fonnten. Es mußte indes 
geichehen, dira necessitas gebot, man gehorchte ihr, und es fragt fich jegt nur, 
ob ein Teil des Verluftes fich wiedereinbringen läßt. Was ift darauf zu 
antworten? 

Die liberale Regierung, die vor furzem zurüdtrat, hatte ſich genötigt 
gejehen, die gegen Chartum entjandte und zu jpät gefommene Expedition zur 
Rettung Gordons ſich rückwärts fonzentriren zu laffen, von Korti nach Meramwi, 
und von da nad) Dongola. Dann erhielten die Truppen Woljeleys den Befehl, 
auch letztere Stellung zu räumen, weiter nilabwärts zu gehen und nicht eher 
Halt zu machen, bis fie weit nördlich) von Dongola, wo nicht in Wady Halfa 
ſelbſt, aljo nicht fern von der Grenze zwiſchen Ägypten und Nubien, eingetroffen 
wären. Die Operation ging vergleichSweije langjam von flatten, nicht nur weil 
man dabei ungeheure Streden zurüdzulegen hatte, fondern auch weil die Führer 
der Truppen angewieſen waren, die mitgebrachten und ihnen jpäter monatelang 





Salisbury und der Mahdi. 183 


übermittelten Vorräte zu retten und nach Ägypten mitzunehmen. Zehn Wochen 
fang marjchirten die braven Soldaten eines mittelmäßigen Generals, nachdem 
fie von dem fernen Merawi aufgebrochen waren, jtromabwärts, und am 26. Juni 
befand fich fait das gejamte Heer im Norden von Dongola. Nur ein Bataillon 
Infanterie, eine Schwadron Reiterei und eine Batterie waren an jenem Tage 
noch in diejer Stadt verblieben. Neben dem Rüdzuge der Truppen aber vollzog 
ji) eine höchſt jammervolle Auswanderung. Die Eingebornen, welche ſich 
freundlich zu jenen gejtellt und ihnen allerhand Dienſte geleistet hatten, flüchteten 
jegt in unregelmäßigem Rückzuge an der Seite des regelmäßigen zu taufenden 
nach dem Norden. Dan hatte fie englijcherjeits durch Verſprechungen bewogen, 
für die Belämpfung des Mahdi zu arbeiten, und jegt jie, gedrängt durch das 
Klima und durch die Rüdficht auf die Möglichkeit eines Krieges in Mittelafien, 
unbarmherzig verlajjen. Wenn ſie flohen, jo verließen fie Haus und Hof, fo 
verloren fie ihr gejamtes unbewegliches Eigentum, was ungefähr den Verluſt 
aller Mittel zum Lebensunterhalt bedeutete; wenn jie blieben, jo ergaben jie 
fi) dem Propheten und feinen fanatischen und beutegierigen Anhängern auf 
Gnade und Ungnade, fie jtanden aljo durch die Schuld der britischen Bundes» 
genofjen vor einer Alternative, die ihnen zurief: Spring in den Abgrund vor 
dir oder laß dic) vom Löwen Hinter dir frejfen! „Zwölftauſendſiebenhundert 
unglücliche Flüchtlinge Haben, jo jchreibt ein englischer Stabsoffizier, Dongola 
verlafjen, alle Mann für Mann find zu grunde gerichtet, und die große 
Mehrzahl wird verhungern; denn wenn man dieſe Leute von ihrem Stüdchen 
Feld am Fluſſe mit feiner Satijeh [Wafjerihöpfmaichine zum Bewäfjern des 
Landes] und feiner Kuh wegnimmt, jo bleiben ihnen nicht die geringjten Mittel 
übrig, um das Leben weiter zu frijten... Außer diefen, jo heißt es in dem be 
treffenden Briefe weiter, jahen wir viele andre auf den Rädern ihrer eignen 
Schöpfmajchine den Strom hinabtreiben, wobei fie eine unaussprechlich ſchwer— 
mütige Miene zeigten und ohne Zweifel über die gebrochnen Zuſagen derer 
nachdachten, welchen fie ihr Vertrauen gejchentt hatten.” ... „Dongola, jo klagt 
ein andrer Bericht, war eine wohlhabende Stadt und Gegend, die recht gut 
gedieh. Wir haben es als Trümmerftätte und jo verwüftet und ausgejogen 
hinter uns gelaffen, daß man jelbjt die Lebensmittel, die nur eine jchwache 
Garniſon bedarf, mit Mühe und Schwierigkeit, wenn überhaupt, zu beichaffen 
imftande jein wird.“ 

Das Zögern Gladſtones, Gordon mit Truppen zu Hilfe zu fommen, und das 
dann folgende langjame Vorrücken Woljeleys durch das Nilthal ftatt von Sualin 
nach Berber, ließen die große Erpedition mißlingen, zu der Gladjtone endlich 
von der fonjervativen Oppofitionspartei gezwungen wurde, und England hatte 
nicht bloß den Untergang eines Helden zu betrauern, jondern es lud auch den 
Borwurf auf fich, welcher in jenem Schaujpiel eines wüjte gelegten Landes 
und einer bis dahin zufriednen, jegt ruinirten Bevölkerung lag, die, um nicht 





184 Salisbury und der Mahdi. 
dem Schwerte des Mahdi zu verfallen, dem Hungertode entgegenging. Die Rac⸗ 
ſchau auf dieſe Ereigniſſe muß einem patriotiſchen und nicht vom Liberalismus 
verblendeten Engländer im höchſten Grade peinlich ſein. Daß der Feldzug voll— 
ſtändig mißlang, iſt allerdings nicht die Schuld der dazu verwendeten Armee. 
Die Soldaten haben kämpfend und leidend in glänzender Weiſe ihr Pflicht er— 
füllt und dabei das Menjchenmöglichite geleistet und geduldet. Die Urjache der 
Schande und Einbuße an Anjehen und Vertrauen liegt anderswo. Auch an 
den die Eingebornen betreffenden traurigen Folgen der „Evafuation,“ wie der 
Euphemismus für „Retirade“ in offizieller Sprache lautet, jind dieje tapfern 
und geduldigen NRotröde nicht ſchuld. Daß den Lauf des Nil in den legten 
Monaten ein langer Zug verzweifelter Flüchtlinge bezeichnete, welche durch die 
britijche Politif zum Untergange verdammt waren, ijt die unausbleibliche Folge 
eines Verfahrens, welches von Anfang bis zu Ende aus Halbheiten, mutlojen 
Schritten heute vorwärts, morgen rüdwärts, aus Launen und Faſeleien beſtand. 
Es ijt ein häßlicher Flecken auf den Blättern der englischen Gejchichte, den aud) 
der Heldenmut der Soldaten nicht zu verwilchen vermag und den die Tories 
mit dem bejten Willen nicht ungejchehen machen werden, weil fie nicht fünnen. 
Noch ehe Salisbury und * Amtsgenoſſen an die Stelle des liberalen 
Kabinets gelangten, erhob ſich die Frage: Soll Dongola als vorgejchobener 
Poſten gegen den Aufitand, im Sudan bejegt gehalten oder joll der Rüd "9 
bis nad) dem eigentlichen Agypten fortgejegt werden? Die telegraphijchen 
pejchen der Blaubücher belehren uns, daß die englische Arrieregarde unter * 
General Sir Redvers Buller am 26. Juni die Stadt noch nicht verlaſſen hatte. 
Sie ſollte hier nach Wolſeleys Befehl Stand halten, während der General eine 
Entjcheidung des Kabinets erwartete, dem er im Hinblid auf Gründe, welche die 
Gegenwart und gleich jehr die Zukunft an die Hand zu geben jchien, eifrig das 
Feſthalten diefer Bofition empfohlen hatte. „Sie fünnen, jo telegraphirte er 
unterm 27. Juni nach London, noch viele Jahre nicht daran denfen, Agypten 
zu verlajjen. Berbleibt man bei der jegigen Rüdzugspolitif, jo wird der Mahdi 
jtärfer und immer jtärfer werden, und Sie werden dann Ihre Garnijonen ver: 
mehren und ich der Umvürdigfeit unterwerfen müfjen, fi von ihm drohen zu 
laſſen. Schließlich werden Sie ihn, wenn Sie unjre Stellung in Ägypten feit- 
halten wollen, befämpfen müffen, und dies wird gejchehen, während die Bevöl- 
ferung, in deren Mitte Sie fich befinden, bereit iſt, bei dem erjten beiten Un- 
glüdsfalle, der uns dabei betrifft, gegen uns aufzujtehen. Keinerlei Streitfraft, 
die am der Grenze [zwilchen Nubien und Oberägypten, bei Wady Yalfa oder 
Aſſuan] aufgejtellt wird, kann die Macht und Bewegung, an deren wg der 
Mahdi jteht, von Aghpien fernhalten, und früher oder ſpäter muß der Mahdi 
von Ihnen niedergeſchlagen werden, wenn er nicht Sie niederſchlagen ſoll. 
Warten Sie ſeinen Angriff ab, ſo werden Sie ihn ohne Zweifel beſiegen, aber 
das wird für ihn nur eine Schlappe ſein, die vorübergeht und von der er ſich 
bald erholt. Die paar tauſend Mann, die Sie ihm töten werden, ſind bei dem 
unbeſchränkten Menſchenvorrate, über den er verfügt, bedeutungslos für ihn, 
während ſeine beſtändigen Angriffe auf Sie Ihre Heere und Ihre Geldkräfte ver— 
mindern werden. Wollte man ihn endlich vernichten oder ſeinen Einfluß lähmen, 
ſo müßte man im Herbſte gegen Chartum vorrücken und ihm innerhalb ſeines 
eignen Gebietes begegnen. Dieſe mit vorſchauendem Blicke ausgeführte Unter— 
nehmung wäre einfach und, ſoweit im Kriege etwas 45 ſein faun, des Er— 
folges ſicher. Solange bis dies geſchehen iſt, giebt es in Agypten feinen Frieden, 


Salisbury und der Mahdi. 185 
und Ihre militärischen Ausgaben werden fortdauernd zunehmen. Mein Nat 
geht aljo dahin, den Herbitfeldzug nilaufwärts jo, wie er urjprünglic) ins Auge 
gefaßt war, auszuführen. Suakin würde ich lafjen, wie es ijt.“ 

Dieje Betrachtungen und Vorſchläge Woljeleys ſchmeckten ein wenig nach 
dem Verdruſſe darüber, daß fein jeßiger Kreuzzug gegen den Propheten in 
Chartum jo ganz und gar mißlungen war, enthielten aber im ganzen unleugbar 
richtige Urteile über die Schwierigkeiten, welche der Mahdi dem Koypten offu= 
pirenden Heere vorausfichtlich machen wird, wenn man ihn nicht im Sudan 
befeitigt. So blieb denn Woljeleyg Telegramm in London nicht ohne Be— 
achtung und Wirkung; denn an demjelben Tage jchon, wo e3 dort einging, erhielt 
er Antwort in Gejtalt eines Befehl Lord Hartingtons, des Kriegsminiſters 
im Gladftonejchen Kabinet, den Abzug von Dongola einzuftellen und die 
Truppen, die von dort jchon weggezogen, zurüdgehen zu laſſen. Indes war 
General Buller, der noch in der Nachbarjchaft der Stadt jtand, andrer Mei: 
nung. „Sm allgemeinen, jchrieb er, wiünjchte ich zwar zu bleiben, doch denfe 
ich jet, die Schwierigkeiten find jo groß, daß es beffer ift, nicht nad) Dongola 
zurüczufehren, jondern weiter, nach Akaſcheh, zu retiriren. . . . Natürlich iſt es 
möglich), Dongola von neuem zu bejegen, aber es kann nur auf eine Weije ge- 
ichehen, die in Wirklichkeit ein neuer Feldzug ift, und iſt Dongola einer zweiten 
Erpedition wert?" Wolſeley wollte den Befehl Hartingtons ausführen und 
die Provinz Dongola behaupten; er hielt Bullers Anficht von der Schwierigkeit, 
die dortige Garniſon zu verproviantiren, für übertrieben, und meinte die Streit- 
fräfte, die für die Strede von Ajjuan bis Dongola erforderlich fein würden, 
nur auf neun Bataillone veranfchlagen zu Dürfen. Den Abzug von legterem 
Drte bezeichnete er al3 Schwäche in den Augen der Eingebornen, vom Ber: 
bleiben der Engländer in diejer Stellung erwartete er, e8 werde dem Mahdi 
viele Stämme abwendig machen. Er jchlug jchlieglich den Fortbau der Nil 
eijenbahn von Saras über Akaſcheh nach Ferket vor. 

Inzwiſchen waren den Liberalen die Tories am Ruder gefolgt, und da 
Bullers Anficht nicht jehr von der Meinung des Obergeneral® abwich und 
legterer zugab, „jener fenne den genauen Stand der Dinge vielleicht bejjer als 
jonft jemand,“ jo telegraphirte ihm der neue Kriegsminiſter Smith am 1. Juli, 
„Ihrer Majeſtät Regierung ftehe unter dem tiefen Eindrude dev unbedingten 
Einmütigfeit, die auf feiten aller Autoritäten in Agypten, der bürgerlichen wie 
der militärischen, darüber herriche, es jei für dem Frieden und die Sicherheit 
Agyptens von Wichtigfeit, daß die ägyptifche Regierung die Provinz Dongola 
feſthalte.“ Zugleich wurde Woljeley erjucht, nach London zu kommen, um dort 
feine Anfichten über die zur Verteidigung Agyptens notwendigen Mafregeln 
außeinanderzujegen — eine Aufforderung, der er vor einigen Tagen nachge: 
fommen ift. Er wird jet Gelegenheit gehabt und Diejelbe benutzt haben, 
Salisbury feinen Plan eines Herbitfeldzuges gegen den Mahdi zu empfehlen; 
doc) glauben wir nicht, daß er den Chef der Toryregierung für ein jo bedenf- 
liches Unternehmen gewinnen wird, und wäre es der Fall, jo iſt nicht anzu— 
nehmen, daß eine neue Expedition gegen Chartum die Sanktion des Parlaments 
zu hoffen hat, e8 wäre denn, daß eine jehr jchwere Niederlage der Engländer 
am untern Nil — die möglich, aber nicht wahrjcheinlich iſt — dieſelbe zur 
Notwendigkeit machte. Mit der Provinz Dongola ijt e8 etwas andres. Vom 
militärischen Standpunkte betrachtet ift fie ein Vorwerk Agyptens an dejjen 
jüdlicher Grenze, und zugleich giebt fie dag geeignetjte Zentrum ab für alle 

Grenzboten III. 1885. 24 





186 Salisbury und der Mahdi. 

Mafregeln, mit denen die dem Mahdi oder ähnlichen Abenteurern de3 Sudan 
feindlichen Stämme umterjtügt werden können. Doc) ift die engliſche Regierung, 
wie der Kriegsminiſter erklärte, „in Anbetracht aller Umſtände und der jetzigen 
Lage, wie ſie der bereits angetretene Rückzug herbeigeführt hat, dermalen nicht 
gewillt, die von ihren Vorgängern erlaſſenen Befehle zurückzunehmen und ein 
neues Vorrücken nach [der Stadt] Dongola anzuordnen.“ Nur die Fortführung 
der Eijenbahn von Wady Halfa nach Ferket etwa fünfundzwanzig englijche 
Meilen weiter nilaufwärt3, wird für wünfchenswert gehalten, und hier, in 
Ferlet, werden denn auch vorläufig die legten Vorpoften der englijchen Armee 
Stellung nehmen. 

Mittlerweile joll der Mahdi wieder einmal das Zeitliche gejegnet haben. 
Ein Kaufmann hat es dem General Bradenbury gejchrieben, und zu gleicher 
BZeit-hat e3 ein abgedankter ägyptijcher Soldat berichtet, dem es wieder ein 
Araber ala Gerücht erzählt hat. Man denft dabei an verjchiedne komiſche 
Dinge: an den Handwerksburjchen, der „Chinefien* für ein jchönes Land hielt, 
weil er einmal von einem Kollegen gehört hatte, ein andrer Kollege habe es 
von einem dritten Kollegen gehört, welcher beinahe bis dorthin gefommen war, dann 
an die Regel: was man wünjcht, das glaubt man, und drittens an die Volfs- 
meinung, nach welcher dem, welchen die Leute mehrmals tot jagen, ein langes 
Leben beichieden ijt. Ein Beitungsforrefpondent darf jolche Irrlichter der Wüſte 
als Wirklichkeiten behandeln, ein General jollte fi) nur mit Thatjachen befafjen. 

Wäre jedoch) der Prophet der Injurgenten des Sudan wirklich tot und 
im PBaradieje, jo würde für jet jede Nötigung zu einem Einjchreiten im Sudan 
wegfallen. Der legtere würde dann rajch in eine Art gelinde Anarchie zurüd- 
verfinfen, Die er gegenüber mit Schwäche und Gefahrlofigfeit gleich: 
bedeutend wäre. Nach einigen Kämpfen würde es ein Lofalregiment in Geftalt 
einer Anzahl von Eleinen Sultanen und Stammhäuptlingen geben, wie e8 das 
Ideal vieler Sudanejen ift. Das Volk würde in patriarchaliicher Methode von 
feinen Fürften ausgejogen werden wie bor der Zeit, wo die ägyptiichen Paſchas 
die Ausprefjung in büreaufratiiches Syitem brachten. Die Provinz würde in 
volle Barbarei zurückkehren, Sflavenjagd und Sklavenhandel würden wieder auf- 
blühen. Ägypten aber würde — wenn nicht ein neuer Mahdi aufjtünde — 
nicht® mehr von dieſer Seite zu fürchten haben. Die Araber find im der 
Defenfive eine nefährliche Rafje, aber ein Angriffskrieg ift nur dann von ihnen 
zu erwarten und wird nur dann eine Gefahr fein, wenn religiöfer Fanatismus 
die Eiferfucht der Stämme überwältigt und letztere mit einander verjchmilzt. 
Ohne den Mahdi iſt der Sudan ein Land, welches von den Beherrjchern 
Ügyptens gelaffen als nicht vorhanden behandelt werden fanı. Wo aber ein 
Prophet, der Anjehen gewonnen hat, die Fülle von Wüftentapferfeit jener Lande 
um fich zu jammeln und mit ihr wie mit einer gewaltigen Sturmwelle ſich 
- gegen die Grenze in Bewegung zu jegen vermag, ift der Thron des Chedive 
feine zwei Jahre vor dem Umijturze ficher. 

Salisburys Politik in diefer Frage bafirt fich offenbar auf den Sag: Was 
gejchehen it, läßt fich nicht ungefchehen machen. Aber die Hinnahme einer ſchwer 
rüdgängig zu machenden Thatjache wie die Räumung Dongolas verpflichtet 
die Toried natürlich nicht auch zu der von Gladſtone wiederholt angedeuteten 
Räumung Ägyptens felbit. Stellen wir uns dabei auf den Standpunkt eines 
Engländer, der fich fühlt und ebenjo jein Intereſſe wie feine Gelegenheit zu 
begreifen meint, jo fommen wir etwa zu folgenden Betrachtungen und Ergeb- 


Salisbury und der Mahdi. 187 








niffen. Aegypten ift ein Land, das fichs etwas foften laſſen kann. E3 hat den 
Nil mit feinen Gaben, es hat einen unerjchöpflichen Boden, es hat einen Chedive 
ohne Ehrgeiz. England intereijfirt jich für feine Neutralität, Europa für jeine 
Bahlungsfähigfeit. Welches andre Land auf Erden fünnte die Großmächte bereit 
finden, jeine Wechjel zu indoſſiren? Fürſten der Finanzwelt, wie die Rothichilds, 
find jtet3 bei der Hand, ihm zu helfen, wenn es für den Yugenblid in Ver— 
fegenheit geraten ift. Freilich iſt dieje hilfreiche Gefinnung der Großmächte und 
Großjuden nicht ganz ohne Eigennug. England denft an den Suezfanal, die 
Straße nach Indien. Frankreich wollte erjt politischen Einfluß, jegt erjtrebt es 
finanziellen. Die andern Mächte werden, teils von alten diplomatijchen Tradi- 
tionen, teils Durch das Drängen von Beligern ägyptiſcher Schuldtitel, ſchwächer in 
diejer Richtung bewegt. Arabi und nach ihm der Mahdi bedeuteten für fie und 
die Franzoſen feinen Krieg gegen das Chrijtentum, jondern eine Revolution 
gegen den Koupon, und jo geſchah es, daß, als die Engländer dagegen ein- 
Ichritten, ihnen an allen Börjen Europas i im Stillen Beifall zugelächelt und guter 
Erfolg gewünjcht wurde. Noch jegt find wir hier die Avantgarde der Finanzwelt 
aller Länder, deren Anlagen am Nil wir vor dem Barbarentume der Wülte 
ihüsen, die nicht? von Kapital und Zinſen, von Aktionären, Staatsjchulden und 
Staatsgläubigern weiß. Uebten wir nur diefe Funftion aus, jo wäre unjre 
Stellimg im Nillande eine wenig würdige und ehrenvolle; aber wir vertreten 
in Megypten zugleich eine feite, geordnete Regierung gegenüber der Anarchie, 
den Fortichritt in Sachen von Recht und Gejep und eine Bejteuerungsweije, 
zu der fich fein muhamedanischer Regent ohne Zwang von außen bequemen 
würde. Die Hauptjache aber ift, daß wir uns hier eine Meerjtraße freihalten, 
welche uns drei Wochen eher als die um das Kap nach Indien bringt, wo ung 
jegt eine Großmacht nahe auf den Leib gerüdt ijt. Jedermann muß aus diejen 
Betrachtungen erjehen, daß für und und für gan, Europa die finanzielle und 
die politiiche Frage bei Aegypten zufammenfallen. Wollten wir morgen das Land 
verlajjen, jo wäre es mit der Sicherheit der Verzinfung und Tilgung feiner 
Schulden zu Ende, der Ehedive würde feine drei Tage auf einen neuen Auf: 
jtand zu warten haben, und der Staat würde entweder der vom Sudan her 
drohenden Barbarei oder einer innern Revolution zur Beute werben. 

Lord Salisbury kann dieje Frage unbefangen und ungebunden durch die 
Theorien und Verpflichtungen feiner Amtsvorgänger ftudiren und zu löſen ver- 
juchen. Er muß dabei nur eins vermeiden: vorzeitige VBerjprechungen, Aegypten 
zu räumen, die mit fehlgeichlagnen Unternehmungen endigen. 





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Um eine Derle. 
Roman von Robert Waldmüller (Ed. Duboc). 
(Fortfeßung.) 


— er Herzog öffnete die Thür und fchrie mit feiner hohen Stimme 

N hinaus: Battifta! Battiſta! Battifta! 

> | Keine Antwort erfolgte. 

—— EN Wieder machte fich der Herzog in Selbjtgefprächen und Verwün— 
RR | chungen Luft. 

Dann lief er auf einen Klingelzug zu, der von einem der Fenſter aus bis 
in die Wachtjtube im Erdgeſchoß Hinabführte und den Kommandanten der Heinen 
Kaftellbefagung für den Fall eines dringenden Geſchäfts heraufzuzitiren be- 
ftimmt war. 

Aber was ſoll ich mit dem gichtbrüchigen Stelzfuß? hielt er inne; fann 
ich mit ihm, kann ich mit irgend jemand über die Sache reden? Euer Vetter 
Giuſeppe ift ja längſt tot und beftattet, würde man mir antworten. 

Er ließ den Glodenzug in Ruhe, öffnete von neuem den Schrank und zer: 
marterte jein Gedächtnis. Drei Börter voll von Büchſen, Schachteln und 
Fläſchchen wurden durchgemuftert. Nur der obere enthielt Gifte oder follte fie 
enthalten, denn die den Herzog auch bei feinen alchemiftischen Experimenten jo 
häufig überfommende zornige Haft war Schuld, daß die Abteilungen immer 
wieder in Unordnung gerieten. Der nächſte Bort enthielt Proben des menstruum 
universale, welches nicht allein beim Anwenden auf die richtigen Stoffe dieje 
in Gold verwandeln, jondern auch, als Medizin eingenommen, den Körper von 
allen Krankheitsſtoffen jäubern, ja jogar das aus demfelben fchon entwichene 
Leben in ihn wieder zurüdrufen jollte; je nach der Art der Mifchung diejes 
Univerſalmittels — deſſen Unfehlbarfeit aber noch nicht ganz feſtſtand — hieß 
es, wie die Vignetten auch bejagten, lapis philosophorum oder die rote Tinktur 
oder das große Elixir oder endlich das große Magifterium. Der letzte Bort 





Um eine Perle. 189 





war untergeordneter Schägung; einige dort aufgereihte Dutzend Büchſen und 
lachen wurden durch ihre Vignetten zwar als zu der Familie des fleinen 
Magijteriums gehörige weiße Tinkturen bezeichnet, aber statt Gold verhiehen 
fie nur Silber herftellen zu helfen, und gleich den übrigen Alchemiſten beichäftigte 
fich auch Francesco lieber mit der vornehmeren Gattung, welche den Mund 
etwas voller nahm und neben unermeßlichen Schäßen Goldes auch noch zu 
bequemem Genuſſe derjelben Gejundheit und beliebiges Wiederaufziehen der ab: 
gelaufenen Lebensuhr verjprach. 





Achtunddreißigftes Kapitel. 


Der Herzog war mit der Mufterung noch nicht fertig, da glaubte er etwas 
wie Glodentöne ungewohnter Art zu vernehmen. Aber in Mantua wie in den 
meiften größern Städten auch jchon des damaligen Italiens wurde zu oft und 
in zu vielen Tonweijen und bei zu unzähligen Veranlafjungen geläutet, als daß 
Francescos in andrer Richtung beichäftigter Geijt jofort den Klang der Beitglode 
aus jenen ungewohntern Tönen herausgehört hätte. 

Bon neuem rief er nach dem Pagen, und da auch jegt feine Antwort als 
das Echo aus der Camera degli Spofi erfolgte, warf er mit einem Fluche den 
Schrank zu. 

Seine Geduld war zu Ende, er ftülpte jein Sammetbarett auf das dünne 
Haupthaar und verließ eiligen Schrittes dag Zimmer. Nie hatte er fich eine 
ähnliche Dienftvernachläfligung bieten laſſen müſſen. Ich werde den jchönen 
jungen Herrn unter die Hafenjchügen fteden, grollte Francesco in fich hinein. 

Beim Durchichreiten der Camera degli Spofi glaubte er Schritte zu hören 
und Stand jtill. 

Biſt du's endlich, Battifta? rief er. 

Sta! antwortete eine helle Stimme von der gewölbten Dede herab; verweile! 

Das war das Echo geweſen, wie auc) eben vorher, als es ihn mit feinen 
eignen Schritten äffte. 

Francesco zweifelte nicht, daß nur das Echo ihm Halt geboten hatte; aber 
erfüllt von böſen Ahnungen, wie fein krankes Gemüt feit langem war, vor allem 
jeit der Geburt feines fchwächlichen Sorgenkindes Lodovico, vermochte er nicht 
weiter zu gehen: jta! hörte er im Geifte von der Dede herab den Auf wieder 
und wieder erklingen, und jta! ſagte er zu fich ſelbſt: Verweile und komme zur 
Belinnung, vielleicht zieht ein jchtwered Verhängnis herauf! 

Er blidte mit gefurchter Stirn empor. Es zitterten doch wunderliche Töne 
in der Luft, und ihm war e8, als blicten aus den acht Dedenmedaillons die 
acht dort von Andrea Mategnas Meijterhand vor anderthalb Jahrhunderten 
vereivigten römifchen Kaifer mit unheimlich wiffendem Ausdruck auf ihn herab; 
aber auch die Götter und Halbgötter, die ihnen Gejelljchaft leiſteten, Herkules, 


190 Um eine Perle. 





Drpheus, Apollo, fie jchauten ihn wie Eingeweihte an, die ihn mit gejpannter 
Aufmerkſamkeit beobachteten; und felbjt auf der gemalten Galerie, mit welcher 
der Meijter die jcheinbar das lachende Blau des Himmels einlajjende Offnung 
des höchiten Teiles der Dedenwölbung eingefaßt hat, waren die lieblichen 
Schöpfungen ſeines Zauberpinjels, waren die ſonſt munter jcherzenden Weiber 
und Kinder heute wie erjtarrt durch ein über fie gefommnes dunkles VBorgefühl. 

Umwillfürlih wandte jich Francesco ab, und unwillfürlich rief er, als 
jeinen Schritten wieder wie vorhin die Schritte eines andern aus der Ferne 
Antwort gaben: Battijta! Battijta! 

Sta! klang es zurüd. 

Thorheit! jagte er und nahm fich gewaltſam zujammen; müßte der Schlingel 
von Page dies Zimmer nicht pafliren und lüſtete michs nicht, ihm zu zaufen, 
bevor mein Zorn verdampft — nicht Hundert Stas! hielten mich hier feit. 

Er jchritt mit den Händen auf dem Rücken pfeifend unter den Götter: und 
Katjerbildern auf und ab, von Zeit zu Zeit das Echo durch lauteres Auftreten 
nedend oder ich zwingend, die Wandbilder mit Kennermiene zu mujtern: Die 
Begegnung feines Vorfahren, des Marcheje Lodovico, und des Kardinals Francesco 
Gonzaga vor Rom, und das Erjcheinen einer Botjchaft vor dem nämlichen, 
diesmal in feinem Garten fitenden LZodovico, um welchen ſich Barbara von 
Hohenzollern, ihre Tochter und ein reiches Gefolge malerisch gruppirten. 

Dies lettere Bild, auf welches das mehrerwähnte jiebzehntägige Mora- 
torium zurüdzuführen war, hielt den Herzog eine Weile in ernten Gedanken 
feſt. Dank diefem Bilde hatte Primaticcio zu verhindern gewußt, daß die Hin- 
richtung des alten Buonacolfi nicht jofort nach dem Spruche des herzoglichen 
Gerichts erfolgt war, und dank den weitern Vorteilen, welche der biedre Anwalt 
aus dem Verſäumen der rechtzeitigen Unterzeichnung des Todesurteils zu ziehen 
verjtand, waren ihm, dem Herzog, Gewiſſensbiſſe jchlimmer Art erjpart worden. 

Francesco nahm fich vor, wie er das Vertrauensamt von Vitalianos 
Schultern genommen hatte, auch Antonio Maria nur noch mit Wifjen und 
nach dem Beirate Primaticcios zu Dienjten geheimer Art zu verwenden; und 
jo häßlich dünfte ihm der Gedanke, feinem jetigen erjten Rate möglicherweije 
al3 der Mörder Giujeppes gegenübertreten zu müſſen, daß er, für den Fall 
daß diefe Beihämung ihm erjpart werden follte, dem heiligen Aloyfius eine 
zehnpfündige Wachskerze auf goldnem Leuchter zu opfern gelobte. 

Ein gut Teil bejänftigt, verließ er die Camera degli Spoſi. Als er den 
eigentlichen Palaſt betrat, begann die dort eingetretene Auflöjung aller her- 
fümmlichen Ordnung ſich ihm bemerkbar zu machen. Die Thüren, wo Wachen 
jtehen jollten, waren unbewadt. Nur von weitem Hujchte hie und da eine 
Gejtalt durch die langen Korridore. Die Haupttreppen waren wie ausgejtorben, 
aber auf den engen Nebentreppen hörte der immer befremdeter nad) irgendeiner 
Erklärung der unheimlichen Verwandlung juchende Herzog eilige Tritte und 
angiterfüllte Stimmen. 

Mit flopfendem Herzen Iangte er in dem eriten Stodwerfe an, durchichritt 
Die drei Zimmer, an deren Wänden die Raphael-Arazzi hingen und betrat eben 
die Camera del Zodiaco, das erfte der Zimmer Margaretas, als ihm aus 
der fich öffnenden Thür eines Nebengemaches eine jeit geitern ihm liebgewordne 
Stimme entgegenflang: der Guardafigilli Primaticcio war es; dag kleine 
Männchen ſchloß die Thüre Hinter fich und verneigte fich beim Anblid des 
Herzogs mit fummervoller Miene. 


Um eine Perle. 191 





Endlich, Altezza! fagte er; ich jtche wie auf Kohlen; niemand wollte wifjen, 
wo Ihr zu finden wäret; feiner der Diener, welche die Herzogin entjandte, ift 
wiedergefommen; dem Himmel jei Danf, jet werdet Ihr vom Balfon herunter 
zum Bolfe jprechen fünnen; auf mich wollen die Leute nicht mehr hören; der 
Herzog jelbjt, rufen fie, muß uns fagen, daß alle nur ein blinder Lärm war. 

Aber ich weiß ja von nichts, rief der Herzog; iſt das Läuten, das ich zu 
hören meine, nur ein Saufen in meinem Kopfe? Was it vorgefallen? Und 
er überjtürzte fich mit Fragen und mit Drohungen wegen der unerhörten Auf: 
führung des Schloßgeſindes, denn es fiel ihm alles aufs Herz, was über die 
hochverräteriichen Unjchläge der Veroneſer Gonzagas verlautet hatte, und im 
Geiſte jah er Mantua von Veroneſer Berjchwörern überjchwemmt, die ihm, 
Francesco, ein Ähnliches Loos zu bereiten vorhatten, wie vor drei Jahrhunderten 
der Veronefer Guido Gonzaga dem Späßlein Rinaldo Buonacolfi in diejem 
jelben, damals dem Spätlein gehörigen Palazzo bereitet hatte. 

Endlich fam Primaticcio zu Worte, und nun ftand der vor fichtbaren 
Gegnern immer doch noch minder ald vor den im Finſtern fchleichenden Un— 
holden, den Seuchen, zitternde Herzog, nun ſtand er wie niedergedonnert da: 
das Läuten galt der in dem herzoglichen Palaft zum Ausbruch gefommenen 
Peitilenz, galt den vermutlich von Venedig eingejchleppten jchwarzen DBlattern, 
und das erjte Opfer jchien — der Heine Lodovico werden zu jollen! 

Der alte Dottore Pofjevino fam Hinzu. Er teilte dem ſprachlos Daftehenden 
mit, alle Vorfehrungen jeien getroffen, um die Mutter des Kindes und ebenjo 
die fleine Prinzejfin vor der Anſteckung zu behüten; man habe die Frau Her: 
zogin, wenn auch nur mit Mühe, bejtimmt, ihr und ihrer erlauchten Tochter 
Quartier nad) den Zimmern im obern Halbitod, nach dem fogenannten Paradifo, 
zu verlegen; der Herzog, jo hoffe ganz Mantua, werde aus Liebe zu feinem 
Volke diejelbe Vorſicht beobachten. 

Man dürfte jich irren, antwortete der Herzog, mein Platz ijt bei meinem 
Lodovico, ift im Inferno, 

Alle Einreden waren vergeblihd. Führt mich zu ihm, jo fertigte er die 
Bitten beider furz und gemejjen ab. 

Auf dem Wege nad) dem kleinen Kranken fragte er den alten Doktor, ob 
ein Amulett von * gerühmter Kraft, das er, Francesco, dem Kinde vor 
wenigen Tagen heimlich umgehangen habe, nicht doch möglicherweiſe noch eine 
Wendung zum Guten herbeiführen werde? 

Der alte Doktor zuckte die Achſeln. Er mochte die Gedanken, die in ihm 
aufſtiegen, nicht ausſprechen. 

Vor dem Betreten des Krankenzimmers beſchrieb Francesco in dem Porte— 
folio Primaticcios einen Zettel mit der Vollmacht an letztern, ihn bis zur An— 
kunft ſeines ſofort aus Rom herbeizurufenden Bruders Fernando in Gemein— 
ſchaft mit den übrigen Staatsräten zu vertreten. 

Dann verabjchtedete er fich mit einem langen Händedrud von jeinem jpät, 
zu jpät gewonnenen Freunde und folgte dem alten Doktor in das Kranken— 
zimmer, dag er wie jein feiner Liebling nur als Leiche wieder verlajjen jollte. 


Heununddreißigftes Kapitel. 


Schon am Vorabend diejes von Jubel und Jammer erfüllten Tages hatte 
der alte Vater Fiorita3 von der ihm durch Primaticcto überbrachten Erlaubnis, 


192 Um eine Perle, 





in den Palazzo Pafjerino zurüdzufehren, Gebrauch ‘gemacht. Von der langen 
Haft gebeugt und entfräftet, war er genötigt gewejen, fich in einer Sänfte Des 
herzoglichen Palajtes hinüberichaffen zu laſſen. Mit Zadeln hatten herzogliche 
Diener ihm das Geleit gegeben, denn der Sternenhimmel, zu welchem Fiorita 
noch wenige Stunden vorher mit hoffendem Auge emporgeblidt. hatte, war 
jeitdem mit jchwarzen Wolfen überzogen worden, und ein näher und näher 
fommendes Gewitter erhellte nur ar furze Augenblide die menjchenleeren 
Straßen. 

Als die Sänfte vor dem Nebenpförtchen des Palazzo Paſſerino angelangt 
war, hatte der Greis die herzoglichen Diener reichlich beſchenkt und auf die 
Einwendungen eines diejer Diener geantwortet: Nimm das Geld nur an, mein 
Sohn; fait einen Monat lang war ich der Koſtgänger deines Herrn; Marcello 
Yuonacolfi bleibt nicht gern mit Schuldenzahlen im Rüdjtand. 

Er hatte dann, von Lazzaro, Eufemia und dem übrigen Hausgefinde mit 
Ausbrüchen der Freude begrüßt, mit zitternd erhobenen Händen Stille geboten 
und war auf einem Sefjel leife treppauf getragen worden, damit jeine bereits 
zur Ruhe gegangene Tochter nicht im Schlafe gejtört werde. 

Aber früh am andern Morgen hatte die Friaulerin die große Neuigfeit 
nicht länger im ihrer Bruſt verjchloffen zu halten vermocht, und wenige Mi- 
nuten darauf fniete Fiorita im Nachtgewande und mit aufgelöjtem Haar an 
dem Bette ihres Vaters, feinen ruhigen Schlummer jegnend und mit liebevollen 
Auge an dem Lächeln ſeines Mundes und der Stlarheit feiner von filbernen 
Loden umkräuſelten Stirn ſich weidend. 

Er mochte ſeit langem nicht ſo friedlich geſchlafen haben; ſchwebte bis zum 
geſtrigen Abende doch das Beil des Giuſtiziere über ſeinem Haupte. Fiorita 
ſagte ſich's, und mit dem Grauſen dieſer Vorſtellung ſtieg plötzlich vor ihr in 
beklemmender Weiſe alles, was ſie geſtern an Ängſten und Aufregungen durch— 
lebt hatte, herauf, nicht am wenigſten beklemmend der Gedanke, daß ſie ihren 
Vater um den Preis jenes Widerrufes freigekauft habe. Werde ich die Kraft 
haben, dieſen Widerruf zu vertreten? fragte ſie ſich mit ungeſtüm wogendem 
Buſen, und wie, wenn meine Kraft dazu nicht ausreicht! 

Es überlief fie ein Schauder. Sie hatte ihren Vater nicht im Gefängnis 
bejuchen dürfen. . Zum erjtenmale, jeitdem ihr Geliebter von ihrem Vater er- 
ichlagen worden war, jah fie heute die Hand wieder, welche durch diefen Todes- 
jtreich ihr junges Glüd zertrümmert hatte, 

Fiorita, eben noch des Augenblides jehnfüchtig Harrend, wo fie die auf 
der Bettdede ruhende, jo blutloje, jo abgemagerte väterliche Hand würde küſſen 
dürfen, wandte fich entjeßt ab. 

Sie mußte aufftehen, mußte ang Fenſter eilen, um nicht in Wehllagen aus⸗ 
zubrechen. 

Eufemia, immer in der Nähe, wollte herankommen, aber Fiorita wies ſie ab. 

Lange ſtarrte ſie in den dämmernden Morgen hinaus. Ihr Mut, beim 
Scheiden von der Apoſtelmühle geſtern jo kräftig wieder erſtanden, war von 
neuem wie gebrochen. Zwiſchen ihr und dem ihr zurückgegebenen Vater ſtand 
das Bild ihres erſchlagenen Geliebten. Wie würde ſie je wieder mit kindlichem 
Auge zu dem Vater aufzublicken vermögen! — folgt.) 


Für die Redaktion verantwortlich: Johannes & runow in Leipzig. 
Verlag von Fr. Wild. Grunow in Leipzig — Drud von Far! Marquart in Leipzig. 














Die Auffen in Sentralafien. 
1. 


SEN, er Schauplag der Ereignifje, die wir in den folgenden Abjchnitten 
< —— erzählen und beurteilen wollen, umfaßt im weſentlichen das alte 
bis ) Turan, d. h. das weite Usbeken- und Turfmenenland in den 
8 Stromgebieten des Amu Darja und Syr Darja, ſüdlich vom 
Aralſee und nördlich vom Hindukuſch, politiſch betrachtet im 
großen und ganzen, d. h. mit Übergehung der kleinern noch ſelbſtändigen Reiche, 
das Gebiet zwiſchen Nordweſtchina, dem nordöſtlichen Perſien und Afghaniſtan. 
Dieſe Landſtrecken, welche ſich vom Oſtufer des Kaſpiſees bis zu den weſtlichen 
Ausläufern des Tjanſchan, des Alaran und des Altai ausdehnen, bilden am 
obern Laufe der beiden Darja, des Oxus und des Jaxartes der alten Geo— 
graphen, ein Hochland mit vielverzweigten, großenteils fruchtbaren Thälern und 
Keſſeln, am untern Laufe der beiden Ströme dagegen und bis nach dem Kaſpi— 
ſee hin flache Steppen und Sandwüſten, welche, nur hie und da von größern 
Daſen unterbrochen, die Fortſetzung des ungeheuern Wüſtengürtels ſind, der, 
am Atlantiſchen Meere beginnend, ſich durch Nordafrika, Syrien und Arabien, 
Perſien und die Tartarei bis weit in das Mongolenland hinzieht. Das Urvolk 
dieſer Gegenden ſpielte in der mythiſchen Zeit, welche ſich in den im Schach 
Nameh verarbeiteten iraniſchen Heldenſagen abſpiegelt, eine bedeutende Rolle als 
böſes, kulturfeindliches Element. In der Geſchichte lenkte dieſes Stück Aſiens 
bis auf die neueſte Zeit nur dreimal die Blicke des Weſtens der alten Welt 
auf ſich: während des Eroberungszuges Alexanders des Großen, während des 
Vordringens der Feldherren des Islam nach Oſt- und Mittelaſien und wäh— 
rend des Aufbruchs Timur Lengs zur Unterwerfung der weſtlichen Länder. 
Grenzboten III. 1885. 25 





194 Die Ruſſen in Zentralafien. 








Bon da an verſank Turan für uns in Dunkel und Einfamfeit, und erſt als die 
Ruſſen Sich den Weg nach feinen Dafen zu bahnen begannen, tauchte es all- 
mählich aus feiner Vergefienheit auf. 

Die Nuffen fanden hier drei Neiche oder Chanate vor: im Wejten, am 
untern Laufe des Amu Darja, die Daje Chiwa mit den von ihr aus be 
herrſchten, bis zum Kaſpiſee reichenden Steppen, öſtlich davon, am mittlern 
Laufe jenes Stromes, fowie im Flußgebiete des Sariawſchan Buchara und 
noch weiter im Oſten, zwiichen legterem und den Bergfetten des Tjanjchan und 
andrerjeit3 zwichen dem Gebict Staratepin und dem der großen Stirgijenhorde 
Kokand. 

Die Bevölkerung dieſer drei Länder ſetzt ſich aus ſehr verſchiednen Ele— 
menten zuſammen: ſie beſteht vorwiegend aus Usbeken und Tadſchiks, wozu 
noch Turkmenen und Kirgiſen, einige Afghanen, Hindki, Araber und Juden, in 
Nordchiwa einige Karakalpalen und in Kokand ein paar tauſend Karakirgiſen 
oder Burjäten kommen. Die Usbeken, ein Volk türkiſchen Stammes, leben 
größtenteils von Feld- und Gartenbau und nur hin und wieder von nomadiſch 
betriebener Viehzucht. Man kann ſie in Chiwa und Kokand als die herrſchende 
Raſſe bezeichnen, inſofern hier aus ihnen die Befehlshaber der Truppen und 
die oberſten Beamten genommen wurden. In Buchara ſind die Tadſchiks zu 
bedeutendem Einfluſſe gelangt, Leute iraniſcher Abkunft, die ſich infolge 
ihres ſtark ausgeprägten Erwerbsſinnes, der mit einem weiten Gewiſſen ver— 
bunden zu ſein pflegt, leicht zu reichem Beſitze verhelfen und durch ſchweigſamen 
Charakter ſich den Herrſchern zu Werkzeugen empfehlen. Die Tadſchiks, die 
ſämtlich ſeßhaft ſind und meiſt als Kaufleute, Handwerker, Steuerpächter, 
Schreiber oder Mullahs in den Städten leben, ſind den Usbeken verhaßt und 
werden von ihnen mit dem Spitznamen Sarten, d. h. Gauner, bezeichnet. Die 
Usbeken ſind fanatiſche Sunniten, die Tadſchiks meiſt Schiiten und in Religions— 
ſachen durchgehends ſo gleichgiltig, wie ſie lax von Sitten ſind. Die Turkmenen, 
der Herkunft und Sprache nach Verwandte der Usbeken, ſind faſt ohne Aus— 
nahme wandernde Viehzüchter und daneben Räuber, welche den Karawanen der 
Steppen auflauern und nach Perſien, Afghaniſtan und Rußland häufig Züge 
zur Wegſchleppung von Leuten nach den benachbarten Sklavenmärkten unter— 
nehmen. Sie ſpielten dieſe Rolle namentlich vom Gebiete Chiwas aus. Ähn— 
liches gilt von den Kirgiſen in dieſem Chanat, die gleichfalls Nomaden ſind, 
und von den Burjätenſtämmen der Kiptſchaken und Naimanen, die in Kokand 
zu beträchtlichem Einfluß auf das Scidjal des Landes gelangten. 

Die Abneigung dieſer verjchiednen Völferfchaften gegeneinander und die 
daraus fich häufig entwidelnden Kämpfe jchwächten die von ihnen bewohnten 
Staaten und machten fie zu ernſtem Widerjtande nach außen hin unfähig, und 
die despotifche, meiſt Schlaffe, oft unverjtändige Art, wie die Chane regierten, 
war nicht geeignet, das zu befjern. Die Herricher waren nicht jelten graufam 


Die Ruffen in Zentralafien. 195 











und immer habjüchtig, und was fie den Unterthanen nicht durch hohe Steuern 
abnahmen, preßten ihnen nach Möglichkeit die Beamten ab. In Buchara be: 
trugen die Abgaben der Bauern cin Drittel der Ernte, und in Kofand ent: 
richteten die 700000 Einwohner im Jahre 1840 Steuern an Früchten, die 
einen Wert don nicht weniger als 800000 Aubeln repräfentirten. Auch in 
Chiwa waren die regelmäßigen Abgaben drüdend, und daneben fehlte es nicht 
an willfürlicher Ausfaugung des Bolfes. Geleijtet aber wurde von den Re— 
gierungen wenig, und alle öffentlichen Anjtalten gerieten von Jahr zu Jahr 
mehr in Verfall. Kurz, diefe Heinen Usbekenreiche waren ſchon längst gründ— 
(ich faul, und das Sprichwort jagt: Wo ein Aas ift, da ſammeln fich die Adler. 
Der ruffiiche machte davon feine Ausnahme, und man darf jagen, er hatte Ur: 
jache, diefen Zuftänden ein Ende zu bereiten, und es war fein Unglüd, daß ihm 
dies ziemlich rajch und volljtändig gelang. E& war nicht bloß eine Eroberung, 
jondern zugleich ein Werk der Bivilifation, als die Ruſſen der barbariichen 
Wirtjchaft in diefen zentralafiatiichen Chanaten durch Annerionen ein Ziel zu 
fegen begannen. Das Regiment, das an deren Stelle trat, ließ ficher mancherlei 
zu wünfchen übrig, war aber, mit dem bisherigen verglichen, ebenſo ficher ein 
Fortſchritt und eine Wohlthat. 

Bekannt wurden die hier in Rede ftehenden Länder den Ruſſen durch Züge 
abenteuernder Koſaken vom Ural, die jchon in der zweiten Hälfte des jechzehnten 
Jahrhunderts umd fpäter noch zweimal Chiwa zu erobern verjuchten, aber ver: 
geblih. Im Jahre 1700 ging der Chan von Chiwa, der von feinem Nachbar 
in Buchara bedrängt wurde, Peter den Großen an, ihn zum Bafallen und 
Schützling anzunehmen, und der Zar erließ einen Ufas, der eine dahingehende 
Erklärung ausſprach, die jedoch vorläufig nicht ausgeführt wurde. Erjt im Mai 
1714 wurde der Fürft Bekowitſch mit den Vorbereitungen zu einer Expedition 
nach Ehiwa beauftragt, und erit zwei Jahre jpäter fette fich diefelbe in Be— 
wequng. Ihr Zwed war, dem Chan ruſſiſcherſeits die Erbfolge für feine Fa— 
milie zu fichern und ihm zu dem Ende ein Truppenforps zuzuführen, dann 
freundfchaftliche Beziehungen zum Hofe von Buchara anzufnüpfen, endlich eine 
Handelsſtraße nach Indien zu eröffnen. Anfangs ging alles nach) Wunſch. 
Man legte bei Tjub Karayan und am Golf von Balkan Forts an, konzentrirte 
bei Guriew ein fleines Heer von 3300 Mann mit jechd Geſchützen, rückte im 
Juni 1717 nad) dem Embafluffe vor und zog darauf acht und eine halbe Woche 
lang auf der alten Karawanenftrage nach Sübdojten durch Steppen und Sand: 
wüſten weiter, bis man an dem ausgetrodneten See von Barſa Kilmas an— 
langte. Hier wurde wieder ein Fort erbaut und einige Zeit Halt gemacht. 
Inzwifchen aber hatte der rujfenfreumdliche Chan in Chiwa den Thron einem 
Gegner Rußlands räumen müffen, und die von Bekowitſch vorausgejchidten 
Gejandten wurden von diefem al3 Gefangene behandelt. Befowitjch zog trotzdem 
mit feinen Truppen weiter und fchlug die fich ihm entgegenftellenden Chiweſen, 


196 Die Ruſſen in Zentralafien. 





wurde aber dann verräterijch von ihnen ermordet, und von feinem Heere fehrten 
nur feine Trümmer zurück, um dem Zaren das Miflingen auch diefer Erpe- 
dition zu melden. Der einzige Erfolg derjelben war, daß die Kirgifen zwiſchen 
Wolga und Ural durch fie zu Untertanen der ruffischen Krone wurden. Im 
Jahre 1725 gehörte der letztern in Zentralafien noch nichts, die ruffische Grenze 
lief vielmehr hier an den Flüffen Ural und Mjaß hin nach Kurgan und Omsk, 
von da am Irtiyſch und den Ausläufern des Altar hin zwischen Biisk und dem 
Telezkischen See hindurch und dann an den Quellen des Abalan vorbei nach 
der heutigen Grenze zwifchen Sibirien und China. Aber fchon 1732 wurde fte 
wejentlich erweitert, indem die Chane der Fleinen und mittleren Kirgiſenhorde 
fich freiwillig, um Schuß gegen ihre eignen Unterthanen zu erlangen, der Kaiſerin 
Anna unterwarfen, wodurd) diefelbe in den Befit; eines Gebietes kam, welches 
fich jüdlich von der bisherigen Grenze vom Uralfluffe bis zum Balkaſchſee und das 
Land der großen Kirgifenhorde ausdehnte. Doch waren die von ihr jeht ein- 
geichlofjenen Kirgifen nur nominell unterworfen, und der um das Jahr 1820 
unternommene Verſuch Speransfis, des damaligen Generalgouverneurd von 
Sibirien, fie durch Anlegung einer Kette befejtigter Poſten in den Gebieten der 
mittleren und fleinen Horde wirklich) botmäßig zu machen, führte nicht zum 
Ziele, Es erfolgten immer neue Unordnungen und Aufftände, denen von Chiwa 
her Vorſchub geleistet wurde, und jo jah man fich ſchließlich genötigt, fich gegen 
dieſes zu wenden, zumal da es auch die von den dortigen Steppenräubern weg— 
geichleppten ruſſiſchen Unterthanen zu rächen und zu befreien galt. 

Nach mehrjährigen Unterfuchungen zur Auffindung der beiten Marjchroute, 
die dahin führten, daß man fich für den Weg zwifchen dem Kaſpi- und dem 
Aralfee entichied, und nach jorgfältigen Vorbereitungen, welche hauptjächlich bes 
zwedten, die Verpflegung durch Magazine zu fichern, wurde im Oktober 1839 
am Uralflufje ein Erpeditionsforps gegen Chiwa zufammengezogen, das von dem 
Nachfolger Speransfig, General Perowski, geführt werden ſollte. Es hatte eine 
Stärke von nur 4400 Kombattanten, aber einen Train von über 2000 Pferden 
und 10400 Stameelen, da man viel Lebensmittel für Menfchen und Tiere, 
namentlich auch Trinfwafjer, mitzunebmen gezwungen war. Am 29. November 
wurde der VBormarjch nach Chiwa angetreten, welches man nad) fünfzig Tagen 
zu erreichen hoffte. Das nächite Ziel waren der Poften und die Magazine, 
die man an der Emba, 400 Silometer füdlich von Orenburg, das übernächſte 
das Fort Akbulak, 160 Kilometer weiter nad) Süden hin auf dem Plateau 
von Uſturt errichtet hatte. Man hatte Hug zu verfahren geglaubt, als man den 
Feldzug in den Winter verlegte; der Schnee der Steppen, die zu durchziehen 
waren, jollte das hier fehlende Waſſer erjegen. Aber gerade diefe Berechnung 
ließ die Erpedition vollftändig jcheitern. Furchtbare Stürme, verbunden mit 
Scneefällen, ftellten fich den Truppen entgegen, und die Kälte jtieg bisweilen 
bis auf 32 Grad. Die Transportichiffe, welche von Aſtrachan Proviant und 


Die Ruffen in Zentralafien. 197 
andre Bebürfniffe für den jüdlicheren Teil des Marjches nad) Nowo:Alerandrowsf 
bringen follten, blieben aus, weil der Slafpilee zugefroren war. Als man den 
Poften an der Emba erreichte, hatte man infolge der jchredlichen Kälte bereits 
faft den achten Teil der Mannjchaften und den fünften der Lajttiere verloren. 
Dennoch 309 Perowski am 12. Januar weiter, indem er auf Beſſerung des 
Wetters hoffte. Dasfelbe änderte fich aber nicht, und ald man nach achtzehn 
ferneren Tagen voll unfäglicher Leiden und Strapazen nach dem inzwijchen 
von den Chiweſen angegriffnen Albulak gelangte, mußte Halt gemacht werden, 
und am 13. Februar erging der Befehl zur Umfehr nach) Drenburg. Als der 
General Hier am 8. Juni eintraf, brachte er von feinem Heer nur etwa 
2600 Mann gejund wieder, die übrigen lagen teil erfroren in der Steppe, 
teil3 gingen fie als Schwerfranfe in die Lazarete, teils befanden fie fich als 
Gefangne in den Händen der Feinde. 

‘ Die Engländer Hatten, al3 fie von der Kriegserflärung Rußlands gehört 
hatten, gefürchtet, PBerowsfi werde von Chiwa im Vereine mit firgifiichen, us— 
beftfchen und turfmenifchen Horden weiterziehen und Bald und Herat zu er 
obern verjuchen. Infolgedeſſen ſchickte Major Todd, der britische Refident bei 
Kamran Schah in Herat, den Kapitän Abbot im Dezember an Allah Kuli, 
den Fürften von Chiwa, um ihn zu bewegen, fich unter englische Hoheit zu 
jtellen. Abbot aber jcheiterte, ungeſchickt und ohne Kenntnis der betreffenden 
Berfonen und Verhältniffe, wie er war, mit feiner Miffion volljtändig und 
mußte froh fein, als es ihm gelang, fi) von Chiwa auf ruffisches Gebiet zu 
retten. Dagegen hatte Shafeipeare, ein andrer britischer Agent, bejjern Erfolg; 
er vermittelte einen Vertrag zwijchen dem Chan und dem Baren, kraft deffen 
die gefangnen Ruſſen freifamen und Allah Kuli Abichaffung des Sklavenhandels 
verſprach. Ähnliche Einmiſchung Englands in die zentralajiatiichen Händel 
fand jchon damals auch in Buchara und Kokand ftatt. Rußlands Anfehen in 
diefen Chanaten aber war durch das Mißlingen der Perowskiſchen Expedition 
für geraume Zeit jchwer gejchädigt. Die Kirgiſen erhoben ſich und wurden 
erit 1846, nachdem fie ihren Führer Kaſimow ermordet, wieder zum Gehorjam 
gebradht und dann dur Erbauung von Fort? am Irgis und Turgai und 
durch Belegung von Afbulaf und Embinst, dem Poſten an der Emba, mit 
jtehender Garnifon in Botmäßigfeit erhalten. 1846 begaben ſich auch die Kir- 
gijen der großen Horde unter ruffische Oberherrichaft, die durch Anlegung des 
Poftens Kopal, füdöftlich vom Balkaſchſee, gefichert wurde. Zugleich erbaute 
man gegen die räuberijchen Nomaden im Weſten an der Mündung des Syr 
Darja in den Araljee das Fort Raimskoje, das jedoch, da man feine Lage ala 
unvorteilhaft erfannte, bald aufgegeben wurde. Dafür entftand weiter im Dften 
das Fort Nr. 1, jet Kafala genannt. Bon hier drangen die Ruffen am Syr 
Darja flußaufwärts vor, bemächtigten fich des zu Kokand gehörigen Kaſch 
Kurgan und errichteten hier das Fort Nr. 2. Mit diefen Erwerbungen war 


198 Die ie Ruffen in Sentralafien. 








die mittelafiatifche — wieder erheblich weiter nach Süden FR 
Sie lief nunmehr, im Jahre 1847, taufende von Kilometern von Kurgan und 
Omsk, wo fie 1725 gelaufen, von Dften nad) Weiten über den Jlifluß bis 
zum Rücken des Nlatan und längs des Tſchu zum Syr Darja. 

1853 beganıı Alim Kul, der Chan von Kokand, Feindſeligkeiten gegen die 
Ruſſen, feine Truppen wurden von General Perowsfi bei Akmeſched geichlagen, 
worauf hier ein Fort erbaut wurde, das den Namen des Siegers erhielt. Die 
Berjuche der Kokanzen, Akmeſched wieder zu nehmen, jchlugen fehl, und die mit 
jenem Fort gut geficherte Linie des Jaxartes bis dahin, ungefähr 350 Kilo: 
meter öſtlich vom Aralfee, blieb in den Händen Rußlands. Doch war deſſen 
fibirifches Grenzland, da die Linie von den Kokanzen umgangen werden fonnte, 
trotzdem nach wie vor bedroht, und 1860 nahmen jene durch Überfall das Fort 
Koſtek in Weſtſibirien. Indes wurde dies ruſſiſcherſeits dadurch ausgeglichen, 
daß der orenburgſche Generalgouverneur Beſack in demſelben Jahre noch die 
Heinen Kokanzenfeſtungen Djulek und Jani Kurgan eroberte und fo die Jaxartes— 
linie wieder fat um 160 Kilometer in jüdöftlicher Nichtung vorjchob, während 
zu derfelben Zeit durch Borgehen ruffischer Truppen von Kopal aus Die 
Karafirgijen unterworfen wurden. Die Kokanzen ſetzten 1862 und 1863 ihre 
TFeindfeligfeiten fort, indem fie die Forts Diulef und Perowski angriffen. Erſt 
1864 gingen die Ruſſen in größerm Stile gegen fie vor, indem Oberjt Tſchernajew 
(der jpäter, 1876, als Feldherr der Serben mit wenig Geſchick und noch weniger 
Glück gegen die Türken kämpfte) nach Südweſten vorrückte und die Starke Feſtung 
Aulie Ata einnahm und gleichzeitig Oberſt Werewkin, von Djulek aufgebrochen, 
fi der Stadt Turkeſtan bemächtigte. Mit Werewkin hier zufammengetroffen, 
folgte Tſchernajew den fliehenden Kofanzen nach Tſchimkend, das nach tapferer 
Gegenwehr am 13. September erjtürmt wurde. Dagegen mißlang ihm der am 
2. Dftober unternommene Verſuch, Tafchfend zu nehmen, die Ruſſen mußten 
ſich nad) Tſchimkend zurücdziehen, und die Kofanzen ergriffen jet ihrerfeits 
wieder die Offenfivee Sie hatten indes damit fein Glüd, vielmehr nahm 
Tſchernajew, inzwiſchen verjtärft, jeine Operationen gegen Tajchfend wieder auf, 
und nachdem er an den Tſchirtſchik vorgerücdt war und das Fort Niasbek er- 
ftürmt hatte, erfchten er am 7. Mat 1865 vor jener Stadt, die nach dreitägigen 
Kämpfen, in welchen der Chan von Kokand jelbit den Tod fand, erobert wurde. 
Bald darauf fielen auch Tichinas und Kelentſchi in die Gewalt der Sieger. 

Seht aber erſtand den Ruſſen ein neuer Feind. Seid Mojafar Eddin Chan, 
der Emir von Buchara, hatte inzwifchen Kokand ebenfalls angegriffen und einen 
beträchtlichen Teil des Chanat3 erobert. Er verlangte daraufhin von den 
Nuffen die Räumung von Tafchkend und die Rückkehr Hinter die Grenze des 
UÜchirtihif. Beides wurde abgeichlagen, aber Tſchernajew erbot fich zu Ver— 
handlungen und ſchickte zu diefem Zwecke eine Gejandtichaft an den Emir, der 
die Herren indes ohne weitered gefangen fegen ließ. Um fie zu befreien, brad) 





Die Ruffen in Zentralafien. 199 





Tichernajew im Januar 1866 gegen Djiſek auf, trat aber den Rückmarſch an, 
als er hörte, diejelben jeien entlaffen worden. Dies bejtätigte fich jedoch nicht, 
und der Rückzug Tſchernajews jah nun wie ein Fehlichlag aus, ſodaß den 
Bucharen ihr Emir als Sieger erfchien. Tſchernajew wurde von Petersburg 
zurüdberufen und zur Verantwortung gezogen. Das ruffiiche Heer in Kokand 
erhielt neue DVerjtärfungen und in General Romanowski einen energiichern 
Führer. Der legtere rückte dem Bucharenemir von Tſchinas aus auf dem linken 
Ufer des Syr Darja bis zur Ebne Irdſchar entgegen, ſchlug ihn hier am 8. Mai 
und marjchirte dann zwiſchen den Reiten der Heere von Koland und Buchara, 
diejelben an einer Vereinigung verhindernd, hindurch auf Chodjchend, welches 
fi) ihm nach ad)ttägiger Belagerung ergeben mußte, Die Operationen wurden 
darauf unter der Leitung Kryſchanowskis, des Generalgouverneurd von Orenburg, 
fortgejegt, und im Dftober auch die bucharischen Feitungen Djifaf und Ura 
Tube, welche die Päſſe des Kafchgargebirges fperrten, und mit ihnen die leßten 
Stüßpunfte des Emir im Thale des Syr Darja genommen. Inzwiſchen hatte 
der Herricher von Buchara die Gejandten wirklich freigelaſſen. Dod) hoffte er 
noch auf Gelegenheit, jeine Niederlagen und Verluſte wettzumachen, und jo 
jammelte er im Verlaufe des Winters von 1866 zu 1867 neue Streitkräfte 
und erbat fi) in Stambul und bei der indiichen Regierung Unterjtügung. 
Diejelbe blieb aus, aber Mojafar jchien trogdem geneigt, im Frühling abermals 
die Offenfive zu ergreifen, und jo hielten die Ruſſen es für geraten, ihm zuvor: 
zufommen. Sie bejepten das nicht fern von ihrer neuen Südgrenze, dem 
Kajchgargebirge, gelegne Jain Kurgan und behaupteten es gegen wiederholte 
Angriffe der Bucharen. Einbrüche von Räuberhorden, die im Einvernehmen 
mit dem Emir die Grenze bei Djiſak überjchritten, gingen nebenher und waren 
auch durch Zeritörung der Stadt Uchum, wo diejes Unweſen feinen Hauptjächlichen 
Ausgangspunkt Hatte, nicht ganz zu verhüten. Sie währten vielmehr fort, auch 
als man zwilchen Buchara und Rußland über einen Friedensſchluß verhandelte. 

Das mittelafiatiiche Gebiet, welches Rußland in den Kriegen mit Kofand 
und Buchara erobert Hatte, war zu ausgedehnt, um unter der Oberleitung des 
Gouverneurs von Orenburg gelafjen werden zu fünnen, und jo verfügte der 
Kaifer Alexander durch Uklas vom 11. Juli 1867 die Bildung eines eignen 
Generalgouvernements Turkeſtan, welches die Provinz Turfeitan, den Kreis 
Taſchkend, die 1866 beſetzten Gegenden jenfeits das Syr Darja und die füdlich 
de3 Tarbagalai gelegnen Landjchaften der Provinz Semipalatinsk umfaſſen und 
in zwei Hälften, die Provinz Syrdarjinst und Semirätjchinsf zerfallen jollte. 
Dem letztern wurden Militärgouverneure vorgejeßt, das Ganze wurde der Leitung 
des Generals Kaufmann unterjtellt, der bald Ordnung zu fchaffen und die ruſ— 
ſiſche Herrichaft zu befeftigen verjtand. 

Die Friedensunterhandlungen mit Buchara jcheiterten an der dortigen Kriegs— 
partei, an deren Spitze die Ulemas und Mullahs von Samarkand und der Re— 


200 Die Ruffen in Zentralafien. 











jidenz des Emirs ftanden. Diefe fanatiiche Partei drohte mit Aufitänden, falls 
der Kampf mit den Ungläubigen nicht wieder begonnen würde. Vergebens war 
es, daß Mofafar fi) um ein Bündnis gegen Rußland an die Chane von Chiwa 
und Kofand wendete; von Indien ber famen nur Ratichläge zum Ausharren, 
aber feine Hilfstruppen. Wollte der Emir ſich auf dem Throne erhalten, jo 
mußte er fich zu neuem Kriege rülten, und das geichah in ausgedehnten Mape. 
Aber die Ruſſen, die davon unterrichtet waren, famen dem Emir mit der Offen- 
five zuvor. Am 1. Mai 1868 rüdte der Generalgouverneur Kaufmann in 
das Thal des Sariawſchan ein, jchlug das bucharische Heer auf den Hügeln 
vor Samarfand, nahm dieje heilige Stadt, ohne weiterm Widerjtande zu be= 
gegnen, und befeßte in der Folge auch das auf dem geradejten Wege von hier 
nach der Reſidenz Moſafars gelegene Katty Kurgan jowie die Stadt Tſchilek. 
Die Bucharen rafften ſich noch einmal zum Widerftande gegen die Ungläubigen 
auf und drangen in Maſſe gegen Katty Kurgan vor, und zu gleicher Zeit zog 
ſich bei Schachrisjabs, einer lange vom Emir fajt unabhängig gewejenen Stadt 
von berühmten Namen, *) ein Heer von Gebirgsbewohnern zujammen, um Samar- 
fand durch Überfall zurüczuerobern. Aber die Garnifon von Katty Kurgan 
wurde vom General Kaufmann rechtzeitig entjeßt, und am 2. Juli jchlug 
letzterer das buchariiche Heer auf den Höhen bei Serabulaf und zerjtreute e8 
volljtändig. Die Schachrisjabzen aber vermochten die Zitadelle von Samar- 
fand troß ihrer verzweifelten Tapferkeit nicht zu nehmen. Der Emir mußte fich 
zu einem Frieden bequemen, der den Ruſſen das Thal des Eariawichan mit 
Samarkand zujprach und ihm eine Kriegsfontribution von 125 000 Tſu (12, Mil- 
lionen Darf) auferlegte. Sein Bolf, namentlich die Partei der Mullah und 
Derwilche, war damit nicht einverjtanden. Eine große Empörung brach aus, 
die in Schachrisjabs ihren Mittelpunft hatte und an deren Spite ſich Moſafars 
eigner Sohn, Katty Tjurja Abdullah Melik Chan, ftellte. Es fam zum Kriege 
zwichen Schachrisjab® und Buchara, und der Emir geriet in jchlimme Lage, 
er mußte gegen die Aufftändischen, welche fich vajch der Städte Jaffabag, Tſchi— 
raktichi, Dſcham und Karſchi bemächtigt hatten, die Hilfe der Ruſſen in An- 
jpruch nehmen. Diejelbe wurde bereitwillig gewährt, da es galt, die Schach- 
risjabzen für den Angriff auf Samarfand zu jtrafen, die Südgrenze Turfeftang 
gegen unaufgörliche Angriffe zu fichern, deren Urſachen immer in Schadhrisjabs 
zu fuchen waren, und den Emir teild zu Danfe zu verpflichten, teils als Va— 
jallen und Schüßling des Zaren hinzuftellen. Im Sommer 1870 rüdte unter 
General Abramow ein ruflisches Korps von etwa 2000 Mann aus, um bie 
„grüne Stadt” einzunehmen. Ein Teil der Truppen jchlug, um den Bergzug 


) Timur Gurgan wurde hier geboren, auch war Schadhrisjabs der Schauplag des Pſeudo— 
propheten Mokanna, den Moore in feinem Gedichte „Lalla Root” ala „verfchleierten PBro- 
pheten von Choraſſan“ bejingt. 


Die Auffen in Sentralafien. 201 








von Samarfand zu umgehen, den Umweg über Dicham ein, der andre z0g über 
den Karatjubinſchen Paß nach der Daje von Schadhrisjabs, die, nachdem man 
am 7. Augujt in Samarfand eingetroffen war, jchon acht Tage jpäter fich in 
den Händen Abramows befand. Der Kampf war jedoch heiß und blutig ge: 
weien, und die Ruſſen hatten beim Sturm auf die Feitung Kitab mehr Verluft 
an Toten und VBerwundeten erlitten, als in allen von ihnen zuvor in Zentral 
afien gelieferten Treffen. 

Schachrisjabs wurde dem Emir zurückgegeben, das Land am Sariawjchan 
aber verblieb den Ruſſen und wurde dem Generalgouvernement Turfeftan ein- 
verleibt. Kaum zwei Jahrzehnte waren feit Erbauung des erjten ruſſiſchen 
Forts am Syr Darja verfloffen, als fich infolge der berichteten Eroberungen 
das ruffische Mittelafien wie ein riefiger Keil, 16000 Duadratmeilen groß, 
zwifchen die Chanate Buchara und Kokand Hineingejchoben hatte. Jene 16000 
Duadratmeilen wurden von einer Grenzlinie umjchlofjen, die im Dften im Quell: 
gebiete de3 Sariawichan begann und in nördlicher Richtung nach dem Syr 
Darja lief, denfelben öftlich von Chodſchend überjchritt, um nun dem Kamme 
des Tſchotkal Urtichaktan bis zum Naryn zu folgen. Nachdem fie dieſen ge: 
Schnitten, wendete fie fich öftlich, ging längs des Tjanjchan bis zum Chantenyri— 
Gebirge Hin und nahm hier eine nördliche Richtung, in der fie im Weiten von 
Kuldſcha den Ili überfchritt, im Dften von Kopal dem Mlatanrüden folgte und 
weitlih von der dſchungariſchen Stadt Dichugutichaf laufend nördlich derjelben 
auf die Südgrenze Sibiriens traf. Im Norden folgte dieje Grenze des General- 
gouvernement3 Turkeſtan dem Kamme des Tarbotaisfi bis Sergiopol, ftrebte 
in nordweftlichem Laufe dem Balchajchjee zu, durchſchnitt defjen Fläche, wendete 
fich dem obern Laufe des Tſchu zu, dem fie bis zu feiner Mündung folgte, 
worauf fie eine nordwejtliche Richtung bis zum Ausfluffe des Irgis einjchlug, 
von dem fie nach dem nördlichen Ufer des Araljees ging. Im Weften endlich 
bildete eine Linie die Grenze, welche von der Mündung des Syr Darja aus 
in jüdöftlihem Laufe die Wüſte Kiſilkum durchfchnitt und weſtlich von Katty 
Kurgan den Sariawjchan überfchritt. 

Bereit? im Jahre 1870 erfuhr diejes gewaltige Territorium im Oſten eine 
Erweiterung um fajt 1300 Duadratmeilen, indem ein Streit mit dem Chan 
von Kuldſcha zu einem Kriege führte, der diejen zu Landabtretungen zwang. 

Der Generalgouverneur Kaufmann war nicht nur ein tüchtiger Militär, 
jondern aud) ein umfichtiger Organifator und Administrator in Zivilangelegene 
heiten. Vieles wurde unter jeiner Leitung in den neuen Provinzen befjer als 
bisher geordnet, und die Wohlfahrt derjelben nahm einen fichtlichen Aufſchwung. 
Allerlei Reformen wurden eingeführt, namentlich aber richtete der General fein 
Augenmerk auf die Befferung der fommerziellen Zuftände. Dazu bedurfte es 
jelbftverjtändlich der Herjtellung freundjchaftlicher Verhältnifje gegenüber den 
Nachbarjtaaten, mit denen Verträge abgejcjlofjen wurden, welche die Dauer 

Grengboten III. 1885. 26 


202 Das Wachstum Berlins und der Maurerſtreil. 





ſolcher Beige zu verbürgen geeignet waren, die Nachbarn dem ruffiichen 
Einfluffe zugänglich machten und den Handelsverfehr zu fördern verjprachen. 
Es famen mit andern Worten nach 1870 verjchiedne Konventionen zum Ab— 
ichluffe, durch welche freier Verkehr der ruſſiſchen und bucharijchen Kaufleute, 
das Halten diplomatischer Agenten in Buchara und Kokand, und andrerjeits 
bucharifcher und Eofandijcher in Tafchkend, der nunmehrigen Hauptjtadt Turfe- 
Itang, gewährleijtet, der Zoll auf dritthalb Prozent des wirklichen Wertes der 
Waaren feitgejegt und den ruſſiſchen Gejchäftsleuten die Erlaubnis zum Durch» 
zug durch Buchara und Kofand erteilt wurde. Der Erfolg diefer Übereinfünfte 
war nicht unbedeutend, 1879 gingen, wie Jaworsfi berichtet, ruſſiſche Waaren 
ſchon in ziemlicher Menge nad) Buchara und bis auf die Märkte Afghaniſtans. 


ZEN ACURN 





Das Wachstum Berlins und der Maurerftreif. 


20) n der Schule haben wir (Ende der vierziger und Anfang der 
7° fünfziger Jahre) gelernt, Berlin habe 240 000 ——— gegen⸗ 





nicht zu Ende gehen, ohne die Einwohnerzahl von 19, Millionen 
— überſchritten zu ſehen. Soweit iſt Berlin ſchon jetzt hinſichtlich 
des Verhältniffes jeiner Einwohnerzahl zu der des deutjchen Reiches auf dem 
Punkte angelommen, auf dem Paris zur Zeit der großen Revolution jtand. 
Ob es in gleichem Verhältniffe fortjchreiten, ob es allmählich einen ähnlichen 
geiftigen und wirtjchaftlichen Einfluß auf Deutjchland in fich ausbilden wird, 
wie Baris ihn damals ſchon auf Frankreich übte und jeitdem zu immer größerer 
Entwidlung gebracht hat — das mögen offne Fragen fein. Aber zweierlei 
wird man ſich Elar machen müfjen: daß, wejentliche Fortdauer der heutigen 
politiichen und wirtjchaftlichen Zuftände vorausgejegt, in abjehbarer Zeit fein 
Grund vorliegt, weshalb das Wachstum Berlins aufhören oder in ein lang— 
jameres Tempo verfallen jollte; und daß alle gemütliche Abgeneigtheit gegen 
Berlin, die Berliner und dag Berliner Weſen nichts an der innern Notivendigfeit 
einer Entwidlung ändert, welche Berlin in nächſter Zeit noch weit mehr als 
bisher zur geiftigen, wifjenjchaftlichen, fünftleriichen, politischen, industriellen und 
fommerziellen Hauptjtadt Deutjchlands machen und die Stadt an der Spree in 
immer jteigendem Maße in den Punkt verwandeln wird, über den alles, was 
unjer Volk bewegt, feinen Weg nehmen muß. 


— — 


Das Wadstum Berlins und der Maurerftreif, 203 








Diefen Vorderjat halte man vor allem feft. Der moderne Staat breitet — das 
ift recht eigentlich jein Weſen — jein Wirkungsgebiet immer weiter aus und 
zieht immer mehr Gegenstände in feine Sphäre hinein. So gewiß dies aber 
der Fall ift, jo gewiß muß die Hauptjtadt eine modernen Staates mehr und 
mehr der Brennpunkt werden, nad) dem alles Wirkſame oder fich neu Geftaltende 
fonvergirt. Die Beziehungen auf das politische Leben find heutzutage auf 
allen Gebieten jo mafjenhaft und einfchneidend und find in fo fichtlicher Zu: 
nahme begriffen, daß nichts im Leben eines Volkes fich dem zu entziehen vermag. 
Es nützt nichts, dies zu beffagen und auf die, wie wir jelbjt jehr wohl wiffen, 
großen Schattenfeiten der politischen, fozialen u. ſ. w. Krankheit hinzuweisen, 
welche hiermit untrennbar verbunden find. Die großen Nationalhauptitädte 
find ein innerlich notwendige Produkt des heutigen Staat3lebend und der 
ganzen modernen Kultur, und je mehr wir Deutjche — etwas nachträglich — 
vollftändig in die uns gebührende Stelle einrüden wollen, dejto ftärfer müffen 
wir auch an diefer Entfaltung der Hauptjtädtiichen Seite unfern Anteil auf uns 
nehmen. Auch damit fommen wir nicht weiter, daß wir Berlin wohl gern ala 
wirtfchaftlich, geiftig und gemütlich ungeeignet zu einer derartigen Rolle be- 
zeichnen möchten. Es ift fein Zweifel darüber möglich, daß Berlin ſchon heute 
die außer allem Verhältnis bedeutendfte Induftrieftadt Deutichlands ift, daß 
(eben darum!) immer neue Gewerbzweige ſich in Berlin niederlaffen, und daß 
Lage und unmittelbare Gebiet von Berlin, obwohl anjcheinend nur dritten 
Ranges, ſich doch als höchjt hervorragend eriwiejen haben. Bringt doch, um 
nur einiges anzuführen, die geringgejchäßte Heine Spree fait joviel Zentner— 
gewicht nach Berlin als das Dutzend in Berlin miündender Eifenbahnen, und 
it doch ein Syftem von Kanälen nach und um Berlin projeftirt, welches eine 
heute noch ganz ungeahnte Größe des fünftigen Waſſerverkehrs in Aussicht 
ftellt; bietet doch die nähere und weitere Umgebung nicht nur landwirtjchaftliche 
Produkte in großer Menge und von vorzüglicher Beichaffenheit, nicht nur 
Ziegel: und Kalkfteine, ſondern höchſt wahrſcheinlich auch Braunkohlen und wohl 
noch andres, und hat doch die als reizlos verjchrieene Umgebung einen Reichtum 
an Wäldern, Seen und Hügeln und von hier aus ich ergebenden herrlichen 
Punkten, daß es begreiflich wäre, wenn fich Berlin am Ende noc als Reifeziel 
für den Landichaftstouriften und als Wohnftätte von jeltner Annehmlichkeit 
auffpielte. Was aber das geiftige und gemütliche Leben betrifft, jo ftellt man 
ſich vielfach die Sache ärger vor, als fie ift; was im übrigen Deutichland als 
berlinifches Wejen gilt, ift vielfach nur das Weſen der Berliner Juden oder 
eine3 vordringlichen Teiles derjelben. Geiftige Schärfe und Beweglichkeit find 
da, weichherzige Milde, Naturfchiwärmerei, Sinn für das üppigite Vereinsleben 
einerjeits, für eingezogene Häuslichfeit andrerjeit3 ijt auch da, und zwar alles 
in einer Qualität und Duantität, wie fich folche für eine Haupt: und Großſtadt 
ſchicken — nun, da wird man fich fchon bejcheiden müſſen, die Ingredienzien 


204 Das Wadstum Berlins und der Maurerftreif, 





für die deutſche Nationalhauptftadt hier zu juchen und zu finden. Es giebt 
num einmal feine Stadt, die auch nur annähernd mit ähnlichem Nechte die Be— 
fähigung zur Reichs- und Bolfshauptftadt geltendmachen könnte. Die einzige 
Stadt, welche überhaupt ohne Lächerlichkeit außer Berlin noch einen Anſpruch 
hierauf erheben könnte, wäre Hamburg, und gerade hier würden doch offenbar 
ſchon die negativen Gründe (jelbft ohne die pofitiv für Berlin fprechenden) zur 
Beſeitigung diejes Anſpruches ausreichen. Man vergeffe endlich nicht, daß der 
Vorwurf: zunächit nicht das ganze Deutichtum, jondern nur dasjenige der ums 
liegenden Landichaften wiederzufpiegeln, jede Stadt ohne Ausnahme trifft, und 
zwar umjomehr, je Heiner fie ift; auf Berlin, die Millionenftadt, mit ihren 
taufenden von Bewohnern aus jeder kleinſten und entlegenften deutichen Land- 
Ichaft, findet diefer Punkt jedenfalls die verhältnismäßig ſchwächſte Anwendung. 
Keine deutiche Stadt ift in gleichem oder auch nur halbwegs ähnlichem Maße 
wie Berlin eine energijch ausgeprägte Individualität für fich, und eben darım 
fann feine diefer Stadt den Anſpruch, die notwendige Hauptjtadt des beutjchen 
Reiches zu fein, jtreitig machen. 

Alſo Berlin bleibt Hauptjtadt, und es wird auch noch auf vielen Gebieten 
Hauptjtadt werden, auf denen es dies noch micht ift. Dann dauert aber auch) 
das Wachstum Berlins noch längere Zeit mindeftens in dem bisherigen Ver- 
hältnifje fort. Man könnte ja mit gutem Rechte jagen, daß dieſes Verhältnis 
ſogar ein ftetig wachjendes fein müfje, da eine nad) Prozenten der Bevölkerung 
fortjchreitende Vermehrung eine ftetige Erhöhung der Perjonenzahl bedingt, 
um welche die Bevölkerung fich jährlich vermehrt, und da auch die prozentuale 
Zunahme eher eine Tendenz haben wird, größer als feiner zu werden; aber 
es mag hiervon abgefehen und die gegenwärtige jährliche Zunahme um etwa 
40 000 Seelen als für die nächte Zeit maßgebend betrachtet werben. Selbjt 
bei diejer mäßigen Berechnung wird Berlin im Jahre 1890 die Bevölferungs- 
zahl von 1%, Millionen erreichen; in das zwanzigite Jahrhundert wird es, 
daran zweifelt wohl niemand im Ernte, als Zmweimillionenftadt eintreten. Es 
müßten jchon außerordentliche Kataftrophen fich ereignen, um dieſe Entwidlung 
merfbar zu beeinfluffen, aufzuhalten oder gar zurüdzudrängen, und die Wahr: 
ſcheinlichkeit ſpricht unſers Erachtens dafür, daß die Dinge, die ſich bis dahin 
ereignen mögen, dad Wachstum der Stadt eher noch beichleunigen werden. Ein 
großer Krieg z. B. wenn er nur nicht infolge feindlicher Beſetzung und etivaiger 
Folgen hiervon die Stadt Berlin in unmittelbare Mitleidenfchaft zieht (mas 
wir doch als unmwahrjcheinlich zu betrachten berechtigt find), wird vorausfichtlich 
eine Menge weiterer induftrieller und fommerzieller Thätigfeit in Berlin kon— 
zentriren, und die Menge der in Berlin inftallirten Behörden wird durch einen 
jolhen auch fchwerlich geringer werden. Dazu fommt, daß jedes erhebliche 
Fortſchreiten Berlins ja notivendig zur Einverleibung menſchenwimmelnder Ort- 
Ihaften in die Hauptſtadt führt. Charlottenburg allein, über das ja längft 


Das Wachstum Berlins und der Maurerftreif. 205 





geiprochen und gejtritten wird, würde 50000 Seelen zuführen. Schöneberg 
ift Schon jo gut wie zufammengewachjen mit Berlin. Die „Provinz Berlin,“ 
das heißt der ganze im täglichen Verkehr auf Berlin angewiejene und hinficht- 
lich der unendlichen Maſſe feiner Interefjen von Berlin garnicht zu trennende 
Bezirk, zählt heute jchon nicht viel weniger als zwei Millionen Einwohner! 

Nun läßt fich allerdings Hierauf erwiedern, daß für die Millionenſtadt auch 
einmal der Punkt fommen werde, wo ihr Wachstum fich nicht mehr in gleicher, 
jondern in ftetig jchwächer werdender Proportion vollzieht, wie man dies bei 
London und Paris in der That beobachten fann. Es ift wahr, daß die Gründe, 
um bderetwillen man die Großſtadt aufjucht: das Beifammenfein vieler Ge— 
Ihäfte und Gejchäftsvorteile und außerdem vieler Annehmlichkeiten, fich ver: 
ändern oder fich jchlieglich gar in ihr Gegenteil verkehren können, je mehr Die 
Städte fich zu ſolchen Stadtungeheuern wie London auswachjen, und daß dabei 
die Schattenfeiten der großftädtifchen Verhältniffe Dimenfionen annehmen, welche 
Ichließlich eine geradezu abjchredfende oder austreibende Wirkung ausüben müßten. 
Aber jeder Kenner von Berlin, Berliner Gejchäften und Berliner Zujtänden 
wird betätigen, daß diefer „Sättigungspunkt“ für Berlin bei weiten noch nicht 
erreicht ift, und daß innere Gründe, aus denen für die nächte Zeit auf einen 
Rückgang in der gejchäftlichen Entwicklung Berlins geichloffen werden könnte, 
entjchieden nicht vorliegen. Anders verhält es fich mit Paris, hier findet allem 
Anfcheine nach von innen heraus ein Nüdgang ftatt, weil das Leben zu teuer, 
die Konkurrenz mit dem Auslande zu ſchwer wird, in der Arbeiterwelt aber 
wohl eine Steigerung des Bedarfs, nicht aber eine jolche der technijchen und 
fünftlerischen Leiftungsfähigfeit ftattfindet. Darum fteht ja in gewiffen Sinne 
der Rüdgang von Paris in unmittelbarfter Wechjelwirkung mit dem Aufſchwunge 
von Berlin. Das Lange und Kurze an der Sade it, daß Frankreich als 
Staat, als Volk und ala Wirtichaftsgebiet zurüdgeht, während Deutjchland fich 
im großen und ganzen, geiftig wie gejchäftlich in auffteigender Linie befindet. 
Darum kann das Beijpiel von Paris hier nicht herangezogen werden. Selbſt 
hinfichtlich Londons Liege fich, freilich in bejchränkterem Sinne, ähnliches jagen. 
Jedenfalls darf es als feitftchend gelten, daß noch eine ziemliche Entwidlungs- 
periode abgelaufen fein oder eine ganz außerordentliche, zur Zeit nicht zu er- 
wartende Berfettung ungünftiger Umftände eintreten muß, ehe das jegige Wachs— 
tum Berlins ins Stoden fommt. 

Seit Anfang diefes Jahrzehnts kann man, nachdem fünf bis jech® Jahre 
lang in Berlin eine eigentliche Bauthätigfeit garnicht jtattgefunden hatte, wieder 
von einer folchen jprechen. Die Urjache ift befannt. Nicht ſowohl die Menge 
al3 vielmehr die Qualität der Wohnungen war während der Gründungsperiode 
in einem über das reelle, bleibende Bedürfnis koloſſal Hinausgehenden Maße 
gelteigert worden; Prachtlogis, Herrichaftlihe Räume wurden zu jener Zeit 
maſſenhaft errichtet, einfache Familienwohnungen jo gut wie feine, jodaß in der 


206 Das Wadstum Berlins und der Maurerftreif, 








That eine Menge von Leuten, denen die Abficht, zu blenden oder über ihre 
Verhältniffe zur leben, unendlich fernlag, ſich gleichwohl gezwungen fahen, 
viel „vornehmer“ und natürlich auch teurer zu wohnen, als dies fonjt für an- 
gemeſſen gehalten worden wäre. Dabei herrichte der drüdendite Wohnungs: 
mangel; im Winter 1872/73 jtanden in Berlin nur noch 1500 Wohnungen 
leer (für Kleinftädter, die jchon verzweifeln zu müſſen glauben, wenn einmal 
drei Wohnungen unbefegt find, möge bemerkt werden, daß die cin geradezu 
furchtbares, unzählige in die abjolute Unmöglichkeit unterzufommen verietendes 
Verhältnis ift), und die Polizei mußte eine Zeit lang ein Auge zudrüden, ala 
fih im Südoften vor den Thoren der Reichshauptitadt eine förmliche Baraden- 
ſtadt etablirte, mittel® deren die Obdachloſen ſich jo gut es ging gegen bie 
Witterung zu jchügen juchten. Nun fam (1873) der Krach. Bekanntlich dauerte 
e3 einige Zeit, bis derjelbe jeine vollen Wirkungen entfaltete; für Berlin und 
den weitaus größten Teil Deutjchlands war es ja überhaupt fein akuter, jondern 
ein „Ichleichender Krach.“ So fand denn aud) eine Bevölferungsabnahme Ber: 
lins eigentlich garnicht ftatt, höchſtens kam es von 1874 an zu einer Stodung, 
die aber auch nicht lange vorhielt. Aber dann Teerten ſich die Wohnungen. 
Warum? weil die Anfprüche tiefer und tiefer herabgedrüdt wurden. Wie viele 
„berrichaftliche Wohnungen“ wurden nicht damals in zwei oder drei Teile zer- 
legt, wie viel jchon flügge geweſene junge Eheleute find bejcheidentlich wieder 
zu den Eltern oder Schwiegereltern zurüdgefehrt, wie viele Familienwohnungen 
find wieder gegen ein Garconzimmer vertaujcht worden! Das waren die Gründe, 
unter deren Eindrud die Zahl der leerjtehenden Wohnungen höher und höher 
anjchwoll, bis fie im Jahre 1879 (troß der damals jchon wieder eingetretenen 
bedeutenden Volksvermehrung) auf die ſchwindelnde Höhe von 23000 geftiegen 
war. Erjt von da an nahm fie ab, und fofort regte fich auch wieder die Bau- 
thätigfeit. 1881 ftanden ſchon nur noch 19000, 1883 nur noch 13000 Wohnungen 
leer, und jchon im Teßtgenannteu Jahre stellte fich die Zahl der Mietpreis- 
fteigerungen ins Gleichgewicht mit der Zahl der Herabfegungen. Die Baus 
thätigfeit, anfangs eine zögernde und vorfichtige, nahm jchnell genug von neuem 
alle Formen der Baujpefulation, um nicht zu jagen des Baufchwindel3 an; 
ſchon von 1882 an datirt die rajend jchnelle Entjtehung ganzer Straßen — man 
vergleiche nur 3. B. den Zuftand der Ede an der Potsdamer Bahn, zwiſchen 
dem Dennewibplag und Schöneberg, 1881 und 1884! Aber auf das Bedürfnis 
übten dieje mafjenhaften Neubauten faum einen Einfluß. Im Herbſt 1884 war 
die Zahl der Teerjtehenden Wohnungen ſchon auf 7000 gejunfen, darunter er- 
Ichrecdend wenig befjere. Wie groß oder vielmehr wie Hein die Zahl jetzt noch 
ist, erfährt man nicht! Die leitenden Kreiſe fcheinen in diefen Veröffentlichungen 
ein Haar gefunden zu haben, und es ift ja jebt, angefichts des Streiks, nicht 
zu leugnen, daß die Berliner Baugewerkszeitung einen beſſern Riecher Hatte, 
als fie noch während der letzten Jahre zur allgemeinen Verwunderung fort- 


Das Wadstum Berlins und der Maurerftreif. 207 
während über die jchlechten Ausfichten des Baugeſchäfts und der Hausbefißer 
jammerte! Man lafje es fich gejagt fein: troß allen Bauens wird nächites 
Sahr in Berlin Wohnungsnot fein. Daß dies zum Teil nicht auf die Be- 
völferungszunahme, jondern auf die feitdem wieder mächtig geitiegenen Anz: 
ſprüche an Größe und Beichaffenheit der Wohnungen zurüdzuführen it, kann 
und bier gleichgiltig fein; mit diefer Thatjache mögen fich die über Verarmung 
und unerjchtvingliche Brotpreisjteigerungen wehllagenden fortjchrittlichen Zei— 
tungen herumjchlagen. Sicher ijt, daß alles Bauen der letzten Jahre lange, 
lange nicht genügte, um auch nur die fintende Zahl leerer Wohnungen aufzu- 
halten, und im Grunde ift dies auch ganz natürlich. Denn wenn wir ein Haus 
mit zehn Wohnungen als den Durchichnitt betrachten, jo wird die Bevöllerung 
eine3 jolchen Durchichnittshaufes auf fünfzig bis jechzig angenommen werden 
fönnen, und es müjjen dann aljo jährlich in Berlin 660 bis 800 jolcher Durch: 
ichnittshäufer gebaut werden, um die Zunahme zu deden, wobei von einer 
Steigerung des Dualitätsanipruches noch gar feine Nede ift. In feinem der 
legten Jahre ift e8 aber auf 500 Neubauten gebracht worden, und unter den 
entjtandenen befanden fich viele Fleinere Häufer. Die im Innern der Stadt zu 
beiferer Ausnugung des Terrains vorgenommenen Um: und Neubauten machen 
auch das Kraut nicht fett, zumal da ihnen mafjenhafte Austreibungen kleiner 
und mittlerer Leute zu gunſten von Lurusbauten, 5. B. in der neuen Saijer: 
jtraße, gegenüberjtehen. Im nächjten Jahre jtehen feine 3000 Wohnungen mehr 
leer, und dann ift Wohnungsnot — furchtbarer als zu Anfang der fiebziger 
Sahre, weil die Stadt jeitdem viel ausgedehnter und die Bevölkerung viel größer 
geworden ijt! 

Das ijt nun alles eigentlich auch garnicht merfiwürdig. Aber etwas andres 
ijt merfwürdig: die Gewaltjamfeit nämlich, mit der die Berliner vor diefer Lage 
der Dinge und ihren unvermeidlichen Sonfequenzen die Augen verjchließen. 
Man verjuche e3 einmal, einem Berliner diefen Standpunkt Elarzumachen; er 
wird dann zwar verdrießlich gereizt werden, weil er ſich an die damalige 
Wohnungsnot jehr ungern erinnern läßt, aber ihn von dem Herannahen einer 
neuen Wohnungsnot zu überzeugen, ijt völlig vergebliche Mühe. Was aber 
das merkwürdigſte ift: ſelbſt die unmittelbar interejjirten Geſchäftsleute, Haus- 
befiger, Häuferfpefulanten, Bauunternehmer u. ſ. w. glauben nicht an das Bevor: 
jtehen eine Ereigniſſes, welches doch fchon an die Thüren flopft. Diejen 
Leuten liegt nämlich der Krach noch heute in allen Gliedern. Seine Wirkungen 
waren jo einjchneidende, d. h. wenn auch nicht plöglich eintretende, doch dafür 
uno dauerhaftere, daß heute noch der Durchichnittsberliner die Vorjtellung 
nicht loswerden fann, eigentlich fei der Krach) ſeitdem in Permanenz, und es 
werde auc) gar niemals wieder gründlich beffer werden. Die Maſſe der Mieter 
aber fann im entgegengejegtem Sinne die Vorftellung nicht faſſen, das jchred- 
liche Elend jener Zeit könne einmal wiederfehren, ja feine Wiederkehr droge in 








208 Das Wachstum Berlins und der Maurerftreif, 





nächſter Nähe. Gewiß giebt es Leute, welche jorgenvoll den Gang des 
Wohnungsgefchäftes verfolgen und zu den gleichen Schlußfolgerungen gelangen 
wie wir; aber auch fie wifjen fich nicht anders zu helfen, als indem fie gleichſam 
Mitglieder einer ftilljchweigenden Verſchwörung bilden, die den Gedanken einer 
wiederkehrenden Wohnungsnot nad) Kräften zurücddrängt und totjchtveigt oder 
für unmöglich, für undenkbar, für unzuläjfig erklärt, und dadurch den Ausbruch 
jo lange als möglich hinauszuſchieben jucht. Da nun in der That die Wohnungs: 
not erjt in dem Augenblide da it, wo fie den Leuten zum Bewußtjein fommt, 
fo ift e8 mit dieſen jchwachen Einflüffen oder Mittelchen gelungen, bis heute 
den Sturm zu bejchwören. Daß er fich aber nicht mehr für dieſes ganze Jahr 
bejchwören laſſen wird, dafür hat der jtarfe Anſtoß gejorgt, den die jtreifenden 
Maurer der ganzen Angelegenheit gegeben haben. 

Wenn eine Erfahrung als eine fejtjtehende und unter der Herrichaft des 
Industrialismus allenthalben ſich wiederholende bezeichnet werden kann, jo ijt 
es die, daß die Annahme einer verhältnismäßig rajchen Ausgleichung zwijchen 
Angebot und Nachfrage, zwilchen flottem Gejchäftsgange und entiprechender Lohn— 
jteigerung, zwiſchen hervortretendem Bedürfnis und Befriedigung desjelben — 
eine irrige ift. Das Bedürfnis mag noch jo groß, die Nachfrage noch jo 
energijch fein — ehe ein tüchtiger Anſtoß gegeben ift, nützt alles nichts. Ebenſo 
gehen auch die Lohnjäge ihren gewohnten Gang, und es iſt durchaus nicht 
wahr, daß im Verhältnis zu fteigenden Preijen und fteigender Arbeitsnachfrage 
fie fi „ganz von ſelbſt“ bejfern: wenn die Lohnfrage nicht von außen ber 
einen kräftigen „Stumper“ befommt, jo rührt fie ſich im wejentlichen nicht vom 
Flecke. Wir lafjen nım die Frage, inwieweit der vor dem Streik bezahlte Lohn ein 
ausfömmlicher und der Lohnhöhe in andern Städten entiprechender gewejen ſei oder 
nicht, zunächjt auf fich beruhen; aber wir glauben jagen zu dürfen, daß die Frage, 
ob die Maurer berechtigt waren, auch Hinfichtlich ihres Lohnes eine Berüdfich- 
tigung der geftiegenen Arbeitsnachfrage zu verlangen, von jedem Unbefangnen be- 
jaht werden muß. Damit ijt nicht gejagt, daß der ganze von den Arbeitern er: 
hobene Anjpruch den Verhältniffen gemäß war, auch nicht, daß dieſer ganze 
Anſpruch durchgejegt werden fanı. Aber möge der Streif nun fiegreich durch- 
gekämpft werden oder nicht, jo ſteht es doch feit, daß die Löhne fteigen und, 
unter Mithilfe der durch den Streik gejchaffenen Umftände, auf längere Zeit 
eine fteigende Tendenz erhalten werden. Denn jo lange es eine unerjchütterliche 
Thatjache bleibt, daß die Bauthätigfeit der legten Jahre bei weiten nicht genügt 
hat, um der Volfsvermehrung zu entſprechen, jo lange iſt an einer wachjenden 
Arbeit3nachfrage nicht vorbeizulommen, ein wochen: wie monatelanger Streif 
fann nur dazu beitragen, diejelbe noch drängender zu machen, weil entweder 
das Verſäumte nachgeholt werden oder das unbefriedigte Wohnungsbedürfnis 
umjo rajcher fonjtatirt werden muß. Würde einmal ein einziges Jahr hindurch 
garnichts gebaut werden, jo gäbe es ja thatjächlich keine leerſtehenden Wohnungen 


Das Wachstum Berlins und der Maurerftreif. 209 














mehr in Berlin! Keine Feder reicht hin, um den Zustand zu jchildern, der dann 
über Berlin hereinbräche, und feine PBolizeimacht der Welt würde alsdann die 
fchredlichiten Szenen von Berlin fernhalten fünnen. Bis zu dem Augenblide 
aljo, wo etwa wieder einmal ein Plus an Wohnungen produzirt wird, werden 
und müſſen die Maurer das Feld behaupten. Auch fünnen wir hierin in der 
That fein fo großes Unglüd erbliden. Die Arbeiter wollen auch leben, und 
e3 kann billigerweile nicht in Abrede gejtellt werden, daß der heute verlangte 
Lohn nach Berliner Verhältniffen immer noch durchaus fein exrorbitanter ift. 
Man jpricht viel von den koloſſalen Löhnen der Bauhandwerfer in den 
Gründungsjahren, von den üppigen Frühftüden, welche damals den Leuten zur 
Lebensgewohnheit geworden wären, und überhaupt den maßloſen Ansprüchen, 
an welche diejelben fich damals gewöhnt hatten; aber man vergißt zu jagen, 
daß damals auch die Sparfafjeneinlagen folofjal wuchſen, und daß auch die 
Melt noch nicht untergeht, wenn der Arbeiter in bejonders günftigen Zeiten 
auch einmal ein Glas Champagner trinft. Soll Berlin eine in halbwegs ge- 
junder Weiſe emporblühende Weltjtadt jein — nun, dann muß doch wenigjtens 
in einigen Branchen der Arbeiter ordentlichen Verdienſt haben, und mehr als 
das ijt unjers Erachtens ein Lohn von fünf Marf auf 200 bis 250 Arbeits— 
tage nicht. 

Nun Hört man ja wohl jagen: die Bauunternehmer vermöchten diefen Lohn 
nicht zu bezahlen. Es mag fein, daß eine Anzahl jener Schwindelunternehmer, 
die eben einen Bau (mit fremdem Gelde) im Gange haben müſſen, weil jie 
ſonſt nichts zu efjen haben, und die ihre Unternehmungen faft regelmäßig damit 
abichliegen, daß zahlreiche arme, fleißige Handwerker ihr Geld dabei verlieren — 
mag fein, jagen wir, daß eine Anzahl ſolcher Leute den Streik nicht aushält 
und zufammenbricht; die Negel ijt dies zwar nicht, fondern gerade dieſe Leute 
find es gewöhnlich, welche es auf alle Bedingungen hin zu ermöglichen wiſſen, 
daß bei ihnen weitergebaut wird. Sofern es vorkommt, ift das Unglüd jeden: 
falls nicht groß, und das Verjchwinden einiger diefer zweifelhaften Gejchäfts- 
leute würde nur dazu beitragen, das ganze Baugejchäft jolider zu machen, 
ohne daß dadurch das reelle Baubedürfnis auch nur um ein Atom verringert 
werden würde. Was aber die reellen Bauunternehmer betrifft, jo glauben wir 
gern, daß fie bei den gegenwärtigen Wohnungspreijen ihre Rechnung nicht ge- 
nügend finden würden, wenn fie den Arbeitern ihre Forderung bewilligen, und 
wenn dann infolge hiervon auch eine Maſſe jonjtiger Artikel und Arbeiten (wie 
wir dies weiter unten noch zur Sprache bringen werden) im Preiſe fteigen. 
Indeſſen daraus folgt nicht, daß die Forderungen der Arbeiter nicht bewilligt 
werden fünnen, jondern — daß die Berliner Mieten weiter jteigen müſſen. 
Was kann's Helfen? Wozu nügt alles Wehllagen, daß man jchon jetzt Die 
Miete kaum erjchwingen fünne? Deswegen bleibt es doc) wahr, dat in Berlin 
3. 3. die Mieten immer noch, verglichen mit denen in andern Großjtädten, eher 

Örenzboten III. 1885. 27 


210 Das Wadhstum Berlins und der Manrerftreif. 


billig als teuer find, und daß, wer in Berlin wohnen will oder muß, nun einmal 
nicht umhin kann, fich teure Mieten gefallen zu lafjen. Bis jegt ift jenes ver- 
zweiflungsvolle Ankämpfen der Berliner Mieter gegen eine Wiederkehr der Haus— 
befißertyrannei, wie es ſich in der obenerwähnten jtilljchweigenden Verſchwörung 
aller Mieter fundgiebt, injofern von Erfolg gewejen, als die Häufer auch heute 
(trog immerhin ſchon gejtiegener Mietpreife) meift noch nicht rentiren und als 
die Bauunternehmer nur unter der Borausjegung billiger Arbeitslöhne und 
billiger Materialienpreife auf den gegenwärtigen Mietertrag Hin bauen fünnen. 
Das hört nun auf, die jtrifenden Maurer haben dem ein Ende gemacht. Nun 
bleibt es freilich Hierbei nicht. Nicht allein, daß auch Zimmerleute, Puger, 
Steinträger, Töpfer, Schlofjer ꝛc. einen höhern Lohn fordern: auch die Ziegel- 
jteine, bei deren Produftion in den legten Jahren kaum etwas verdient wurde, 
befommen wieder einen Preis, Sand und Kalk wollen nicht zurüdbleiben u. ſ. w. 
Mit einem Worte: die Häujer werden teurer, und zwar viel teurer werden. 
Daß man dann die Wohnungen nicht wie jaures Bier ausbieten wird, ver- 
jteht fi) von ſelbſt. Nun wird es auch den Leuten erjt zum Bewußtjein 
fommen, daß fie, die Haugbefiter, wieder einmal die Herren und Meijter find, 
und den Mietern wird es zum Bewußtjein fommen, daß fie bei dem herrſchenden 
Wohnungsmangel froh fein müſſen, überhaupt noch ein Unterfommen zu finden. 
Das haben mit ihrem Streifen die Maurergejellen gethan! 

Aber das ijt noch nicht alles. Seit Jahren ift es im Kreiſe der Be— 
hörden ſowohl als von der öffentlichen Meinung als unerläßlich anerkannt, 
eine neue Bauordnung zu erlaffen, welche die Berliner Bau- und Wohnungs- 
verhältniffe in Durchgreifender Weiſe beffern fol. Im bezug auf Abfuhr, auf 
Wafjerverjorgung, auf Straßenreinigung, auf öffentliche Beleuchtung, auf An— 
legung von großen und Heinen Parks oder doc Schmuckplätzen in und neben der 
Stadt iſt in letzter Zeit jehr viel gejchehen; auch der jeßigen jtädtijchen Ber: 
waltung joll in diefer Hinficht ihr Verdienſt unbeftritten bleiben. Aber die 
eigentlichen Wohnungszuftände find jchauerlih. In feiner europäiichen Groß: 
itadt leben die Menjchen im Durchjchnitt jo dicht zufammengepregt wie in 
Berlin, in feiner jpielt die Kellenvohnung eine jo verhängnisvolle Rolle wie 
in Berlin. Arbeiterfamilien aber, welche aus der Kellerwohnung flüchten, fallen 
der faum minder jchredlichen Hinterhauswohnung in den Rachen. Der Baus 
plan der Berliner Durchichnittshäufer jorgt nämlich allerdings für einen „Hof,“ 
auf den die Fenſter der Küche und der Schlafzimmer gehen, während ein großes 
Hinterzimmer (das jogenannte „Berliner Zimmer“) ſich mit nur einem Fenſter 
gleichfalls auf den Hof öffnet und vorn hinaus die „guten Zimmer“ Liegen; 
das ift indefjen fein Hof, auf dem allenfalls Kinder jpielen könnten, jondern 
e3 ijt eim enger, jchmußiger, jtinfender Raum ohne Dad), unerläßlich für ge- 
wifje häusliche Geichäfte und den Hinterzimmern ein armjeliges Surrogat für 
Licht und Luft gewährend, fonft aber zu nichts nütze. Auf diefen „Hof,“ und 


Das Wadhstum Berlins und der Maurerftreif, 211 





nur auf ihn, gehen nun die Wohnungen des Hinterhaufes, und man Tann fich 
denfen, was das für Aufenthaltsorte, für „Heimftätten* ungezählter Familien 
find. Hie und da finden fich in einem Häuferblod wohl noch Gärten, in welche 
man wenigſtens vom dritten und vierten Stod aus den Blid gewinnt; aber 
fie find jelten geworden und jchmelzen mit jedem Jahre mehr zufammen. Auch 
die Heinen Häufer, die in einigen jelbit ältern Straßen vor Jahren anzutreffen 
waren und die auch nach innen zu die troftloje Einförmigfeit doch einigermaßen 
unterbrachen, werden immer vereinzelte. Draußen, im Weiten, giebt es einige 
Straßen, die mit villenartigen Gebäuden durchſetzt find, einige Straßen gegen 
dad Innere zu tragen nach Anlage und Einrichtung einen vornehmeren, wohn: 
licheren Charakter, in der neuen Kaiſerſtraße wird für ähnliches gejorgt werben; 
aber wie unbedeutend iſt das im Vergleich mit den Häuſerwüſten, die fich in 
manchen Stadtteilen von einer Straße her über eine ganze Reihe von Straßen 
hinweg ohne Unterbrechung ausdehnen! Daß da die Gejundheitsergebniffe feine 
glänzenden fein Können, läßt fich denken. Alljährlich im Sommer giebt es eine 
Periode, während deren in Berlin mehr Menjchen fterben als geboren werden; 
notorifch find es namentlich die Säuglinge, überhaupt kleinen Kinder, welche 
das Hauptlontingent zu diefem Todestribut ftellen. Es geichieht dies alljährlich 
während der heißeſten Jahreszeit, jodak der Zuſammenhang der Wohnungs- 
zuftände mit diejer furchtbar gefteigerten Sterblichkeit unverkennbar ift. Wie 
mag die Luft in den gefchilderten Höfen während ber Tropenhite, die wir 
dieſes Jahr Hatten, geweſen fein! Im einer Juliwoche dieſes Jahres find 
898 Kinder geboren worden, 946 Todesfälle vorgefommen; ſonſt beträgt ber 
Überfchuß der Gebornen durchfchnittlich 250, in diefer Woche find alfo drei— 
hundert Menjchen an Berlin geftorben! Iſt das nicht grauenhaft ? 

Da fam denn endlich der Entwurf einer neuen Bauordnung; von allem 
neu zu bebauenden Terrain, auch wenn dasjelbe ſchon bebaut gewejen war, 
jollten jest nicht mehr al3 zwei Drittteile überbaut, der Reſt zu Höfen oder 
ähnlichen Zweden verwendet werden. Aber das Interefje derer, die am liebiten 
garnicht in der Ausnutzung des Terraind behindert fein möchten oder Doc) 
jedenfall den jegigen Zuftand gern noch auf einige Zeit verlängert hätten, 
erwies fich mächtig genug, um der neuen Bauordnung wenn auch nicht ein 
„Zurück!“, fo doch ein „Langjam, langjam!* zuzurufen. Einen Sommer hat 
man jet glüdlich mit Deliberiren zugebracht, und vielleicht wäre es ohne den 
Maurerjtreif gelungen, noch einen zweiten heranrüden und vorübergehen zu 
lafien. Jetzt aber, wo fich die drängende Wucht des Bedürfniffes nicht mehr 
eindämmen laffen wird, hat auch diefer Punkt feine Gewalt verloren, und wir 
glauben hoffen zu dürfen, daß die Regierung eine neue Periode der Bauwut 
und der wilden Baufpefulation einfach nicht dulden wird, ohne daß die ärgiten 
Mipbräuche, die ärgften Sünden gegen das Fünftige Berlin unmöglich ge— 
macht find. Das Publikum außerhalb Berlins iſt jo urteilslos, daß es ſich 


212 Das Wadhstum Berlins und der Maurerftreif. 





einreden läßt, der ganze gegenwärtige Aufichwung der Bauthätigfeit in Berlin 
fomme nur davon her, daß angefichts der drohenden neuen Bauordnung die 
Leute fchnell noch foviel wie möglich hätten fertig bauen wollen! Kann man 
Urfache und Wirkung toller verwechjeln? 

Sind nun die Berliner rettungslos dem Schidjale verfallen, Mietjklaven 
der Hausbefiger zu fein und von allem mühjam erarbeiteten Einkommen wie 
zu Anfang der fiebziger Jahre ein Drittel für die Wohnung opfern zu müffen? 
und ift die Mietfajerne die unerläßliche Form für alles, was noch ald neues 
Berlin entjtehen kann? Leider: ja! fofern der Berliner nicht einen guten Teil 
feiner Natur ändert. Denn der Durchichnittsberliner ift ein wahrer Fanatiker 
feiner elenden Mietsetage, die es ihm ermöglicht, jeden Tag ein paarmal über 
die benachbarten Trottoirs zu flaniren und einen flüchtigen Blid auf die 
Ladenauslagen zu werfen, die ihn da von allen Seiten umgeben, und von wo 
aus er immer mit leichter Mühe einen Pferdebahnwagen findet, der ihn zu irgend 
einem ich als „Vergnügen“ oder „Unterhaltung“ betitelten Gewühl bringt. Daß 
der Menſch das krampfhafte Jagen nad) diefer Klaſſe angeblicher Bergnügungen 
entbehren oder doch auf beitimmte Tage beichränfen fünnte — der Gedanfe iſt 
ihm furchtbar. Darum, weil der vermeintlich jo fortjchrittliche Berliner in diejer 
Sache wie in allen Angelegenheiten feines jozialen Lebens mit jo unerjchütter- 
licher, fonfervativer Treue an feiner ärmlichen Mietsetage hängt, ift es nirgendwo 
jo jchwer wie in Berlin, dem Gedanken des Einfamilienhaujes Eingang zu ver- 
Ichaffen. Gegen eine „Sommerwohnung“ zwar hat der Berliner, jogar der An- 
gehörige der untern Mittelklajfen, nicht? einzuwenden, er hat im Gegenteil eine 
ftarfe Neigung dazu, im Sommer für einen Spottprei in einem benachbarten 
Orte zu wohnen und fich hier hinfichtlich der von ihm benußten Räume noch 
mehr einzufchränfen, wie er dies ohnehin gewöhnt ift; aber jtändig außerhalb 
der geliebten Trottoir zu wohnen — dazu entichließt er ſich nur äußerſt 
ichwer. Es find zwar verjchiedne Anläufe unternommen worden, um den Ber: 
linern den Befit eiues Einfamilienhaufes mit Garten in einem der bequem zu 
erreichenden Berliner Vororte zu ermöglichen; die Gründung von Lichterfelde, 
dann die von Wejtend u. a. jtellen jolche Anläufe dar, und man fann auch 
nicht jagen, daß die Gelegenheit unbenutzt geblieben oder die ganze Sache fehl- 
geichlagen wäre. Aber die Eigenart des Berlinerd und der Berliner Verhältnifje 
ftellte taufend Hemmnifje in den Weg. Zuerjt begriff man nicht, warıım man, 
wenn man denn doch ein Haus baue, dann nicht gleich eins wenigſtens für 
zwei, womöglic) für vier Familien bauen jollte; dafür, daß man fid mit jeder 
Abweichung von dem Prinzip des Einfamilienhaufes in bauliche und gejchäftliche 
Schwierigkeiten einläßt, denen nur wenige gewachjen waren, hatte man lange fein 
Verftändnis. Dann famen der Krach und die ihm folgende maßloſe Ängftlichkeit; 
um nur um des Himmels Willen feine Wohnung leerftehen zu haben, vermietete 
man zu wahren Schundpreifen und gewöhnte dadurch an die billigen Sommermwoh- 


Das Wadhstum Berlins und der Maurerftreif, 2193 








nungen in den beiten, günftigjt gelegenen Bororten (wie Friedenau und Steglik) 
eine Klaſſe ganz geringer, auf weiter nicht? wie auf eine Heine Miet3erfparnis 
bedachter Familien, mit deren Borhandenjein und deren naiver Vorausjegung, 
daß doch die Mietpreife Hier auch fernerhin für fie erichwinglich fein müßten, 
man jebt förmlich zu kämpfen bat. Endlich, ala der Gedanke des Einfamilien- 
haujes bei einer Anzahl von Leuten Wurzel zu jchlagen begann, konnten manche 
fi) doch von der Vorftellung nicht trennen, daß alles, womöglich ſelbſt mit 
Einihluß von Speicher und Keller, auf einer Etage beifammen fein müſſe; jo 
wenig die Leute in der Stadt vor dem Erjteigen des dritten und vierten Stod- 
werfes zurücgeichredt waren, jo treppenjcheu zeigten fie fi), wo es das eigne 
Heim galt. Nun, troß alledem ift e8 auf diefem Gebiete zu einer nicht verächt- 
lichen Entfaltung gefommen, und die Eröffnung der Stadtbahn, ſowie die in 
anerfennenswerter Weiſe auf bequeme Vorortsverbindung hinwirfenden Maß— 
regeln der Anhalter, Potsdamer und Görliger Bahn haben das Wohnen in den 
Bororten außerordentlich erleichtert. Aber bei Heinen Dimenfionen ift das wirk— 
liche Reſultat immerhin bis heute geblieben. Die eigentliche Stadt hat, ftreng 
genommen, außer der Tiergartenjtraße feine Villenſtraße; Charlottenburg, 
Weſtend, Friedenau, Steglitz, Lichterfelde, Tempelhof, dann entlegner im Süd— 
often Friedrichshagen, Erkner ꝛc. bieten deren wohl eine ftattliche Anzahl, aber 
doc bei weiten noch nicht in einem Umfange, welcher fich mit dem der Herr: 
lichen Hamburger Billenvororte vergleichen ließe, obwohl die leßtern von ſon— 
ftiger Gunft der Verhältniffe, von Nähe der Stadt, bequemer und billiger 
Berbindung mit derjelben zc. zum großen Teil Hinter den günftigeren Berliner 
Billenvororten weit zurüditehen. Der außerordentlichen Annehmlichfeit, welche 
Hamburg in diefer Hinficht feinen Bewohnern bietet, die ja in diefen ftunden- 
weiten Gartenjtraßen Spaziergänge von geradezu unvergleichlichen Reizen in 
jtetiger Abwechslung unternehmen können, entbehrt Berlin zur Zeit noch in 
einem Maße, welches man, wenn man das Vorhandenfein derartiger Anlagen jelbjt 
in bielen weit Fleinern deutfchen Städten in Erwägung zieht, fait jchimpflich 
nennen möchte. Es ijt wahr, daß an den Haveljeen, gegen Potsdam Hin, 
Billenfolonien in jüngster Zeit entftanden oder in der Bildung begriffen 
find, welche einen ähnlichen Charakter wie die Hamburger Billenvororte 
tragen; aber dahin ift doch die Entfernung zu groß, als daß man ohne eine 
förmliche kleine Reife Hingelangen fünnte, und eben darum wird doch auch 
in abjehbarer Zeit die Weiterentfaltung diefer Kolonien über ein bejcheidnes 
Maß nicht hinausgehen. Wenn jedoch in der gleichen, unzweifelhaft beiten und 
zufunftsvolliten Richtung, nämlich nach Weiten, die trefflichjten und jchönften 
Billenkolonien nur langfam wachjen, obwohl ihre Entfernung von Berlin eine 
jo geringe ift, daß innerhalb von zehn Jahren Berlin bis zu ihnen, ja über 
fie hinaus vorgedrungen fein muß — dann ift die eben nur aus der Schwer- 
fälligfeit zu erklären, die der Berliner dem Gedanfen eines Hinausgehens aus 


214 Heinrich Leuthold. 





dem Banntreife feiner gewohnten Trottoird entgegenjeßt. Da ift denn vielleicht 
die Annahme gerechtfertigt, dab die Folgen des Maurerjtreit3 den Geijt der 
Berliner behender machen werden. Wenn einmal die Mieten in der Stadt um 
fünfzig Prozent mehr geftiegen fein werden, dann befinnt fich doch vielleicht 
mancher Berliner auf das einzige Mittel, welches es giebt, um mit feiner 
Familie auf die Dauer der Mietwohnungsmijere zu entfliehen: den Bau oder 
die Erwerbung eine® eignen Hauſes, dem, jchon damit dem Gfemente der 
Spekulation auf die Zufunft auch fein Recht wird, der Garten nicht fehlen darf. 

Noch ift Berlin feine Mufterftadt für Deutjchland, und noch vieles fehlt, 
ehe es alle Annehmlichkeiten andrer deutjchen Städte ſoweit möglich in fich 
vereinigt. Eine weniger ſparſame Ausnugung des Bauterrains und die Ent- 
ftehung ausgebehnter Villenjtragen im Weiten und Südweſten von Berlin würde 
jehr dazu beitragen, die Annehmlichkeiten ſowohl des dauernden Wohnens wie 
des flüchtigen Aufenthaltes in Berlin zu erhöhen. Ohne beffere Häufer- und 
Mietpreife ift aber beides nicht möglich — das mag hart fein, aber es tft 
gegen dieſe innere Notwendigkeit nicht anzufämpfen. Imjofern der große 
Maurerftreit des Sommers 1885 der Bevölferung von Berlin die Sachlage 
ichärfer vor Augen rüdt und fie zum al&baldigen Bruche mit der bisher be- 
folgten Straußenpolitif veranlaßt, wird dieſe, jetzt fo viclbeffagte Angelegenheit 
als ein Wendepunkt zum Beffern bezeichnet werben dürfen. 


er 





— 


Heinrich Leuthold. 


Jaß man heutzutage, in dieſer der ernſten Lyrik jo abholden Zeit, 
7A die Lage fommen kann, der Überfchägung eines Lyrikers, der nicht 

| banal wie Mirza Schaffy oder forglo8 heiter wie Baumbach ift, 
— iſt wohl eine ſeltene Erſcheinung, und doch iſt 
N dies mit einer gewiſſen Berechtigung gefchehen, und zwar von 
einem ver ernften, der Wahrheit ehrlich und gewifjenhaft nachitrebenden Manne. Als 
vor ſechs Jahren die Gedichte Heinrich Leutholds zum erftenmale erfchienen waren 
und ſich zugleich die Nachricht verbreitete, der Dichter fei ind Irrenhaus zu Zürich 
gebracht worden (wo er auch bald nach feiner Aufnahme, am 1. Juli 1879, jtarb), 
da waren viele Schriftiteller gleich mit der Parole fertig: „Wieder einer in 
der tragischen Reihe der Hölderlin, Heinrich von Kleist, Lenau“ (3. 3. Honegger, 
„Unjre Zeit“ 1880, I, 241), und ohne nähere Unterfuchung auf ihren Wahr« 






Heinrih Keuthold. 215 


heitsgehalt wurden die Klagen des mit Gott und der Welt zerfallenen Dichters 
über ZTeilnahmlofigfeit der Zeit, Vernachläſſigung und Mißachtung vonfeiten 
ſeines engern jchweizerischen Vaterlandes wiederholt und befräftigt. Die Gedichte 
hatten großen Erfolg, woran wohl auch ein pathologilches Interejje für den fo 
unglüdlich endenden Lyriker einen gewiſſen Anteil hatte. Bald wurde eine 
neue Auflage nötig, und vor einigen Monaten erjchien eine dritte.*) Nun er- 
achtete e8 der Herausgeber der Leutholdiichen Gedichte, Profejjor Jakob Baechthold 
in Zürich, an der Zeit, zunächſt all den Vorwürfen, welche Leuthold jelbjt und 
die ihm Fritiflos Nachiprechenden gegen jein Baterland erhoben hatten, in ernfter 
Weiſe entgegenzutreten, und man kann es billig einem patriotiichen Manne 
nicht verübeln, wenn er an der Hand der Wahrheit eine jolche Rechtfertigung 
unternimmt. 

„Eines muß noch gejagt werden, heit e8 in dem Lebensabriß, und der 
gute Freund darf es umſo cher ausjprechen, als er glüdlicherweije nicht zu 
warm werden muß, um die Wage gegen falte Beurteiler zu halten. Aus der 
mehrfach angeführten Selbjtbiographie tönt die Klage über Verkennung, Undanf, 
Ungunft des Schidjals, das allen großen Plänen Leutholds graujam entgegenge- 
treten jei, ihn 3. B. auch verhindert hätte, nach der jogenannten oberjten Gattung, 
dem Drama größern Stils u. |. w. zu greifen. Dean fennt dieſen pathologijchen 
Zug aus den Gedichten. Was wird hier nicht alles angeklagt! Gott, Schidjal, 
Vaterland, Menjchheit. Wahr ifts, das Leben legte ihm manche Entbehrung 
auf. Wann aber war Leuthold je über die bloßen Anjtalten zu ernjthafter 
Arbeit hHinausgelommen? Warum hielt er feine Gedichte zurüd? Zweimal hat 
er — wie der Nachlaß zeigt — eine Sammlung gejichtet, beide male unterblieb 
zu feinem Vorteil alles weitere. Als durch und durch ffeptiiche Natur legte er 
an alles einen umerbittlich ſtrengen Maßitab, Bei aller Selbjtbeipiegelung, 
welche oft zu grell auf die eigne PVerjönlichkeit gerichtet ift (ein Merkmal der 
meijten formalen Dichter), wartete er von Tag zu Tag auf feine große Stunde. 
Einmal, als er „Pentheſileia“ bei fich trug, hielt er jene für gefommen. Auch 
hier jah er feit und Mar die Täuſchung ein. Unterdeffen zerrannen ihm die 
Jahre — eheu Postume, Postume! — und es wurde zu jpät. Wieviel eigne 
Schuld dazu beigetragen, diejes Leben vor der Beit zu untergraben, das ab- 
zumwägen tft nicht meine Sache.” 

Auch der äſthetiſchen Überſchätzung Leutholds tritt Baechthold in feinem 
Wahrheitsjtreben mit ernten, überzeugenden Gründen entgegen. Leutholds Zu- 
jammenftellung mit den oben genannten wirklichen Originalgenies lehnt er kurz 
ab; eher, meint ev treffend, hätte man ihn mit Waiblinger in Parallele jtellen 
fönnen. Er drudt ferner die in ihrer erjchöpfenden Kürze und Wahrheit be- 


*) Gedichte von Heinrich Keuthold. Dritte vermehrte Auflage. Mit Porträt und 
Lebensabrib des Dichters. Frauenfeld, 3. Huber, 1884. 





216 Heinrich Keuthold. 


wunderungswürdige Anzeige der Gedichte ab, welche Gottfried Steller, der fich 
jelbft an der Herausgabe des Nachlaſſes beteiligt Hatte, veröffentlichte. Keller 
bezeichnet Leuthold als einen Dichter aus der Schule, der Schlegel und Platen, 
erflärt ihn aber auch für einen echten Lyrifer; „wie vom Lebensglüd, find Die 
vorliegenden Lieder auch vom Stofflichen nicht bejchwert”; er laſſe befannte 
Töne und Weiſen vernehmen, doch Hätte er wohl auch nad) freier Wahl feinen 
Ton anfchlagen und einen andern wählen können; die Gedichte hätten deshalb 
einen etwas afademijchen Charakter; doch böten fie etwas Nagelneues: Die durch— 
gehende Schönheit und Vollendung der Form. „Den Liebhabern fogenannter 
»guter Sachene fünnen wir die Verficherung geben, daß hier ernftlich etwas 
derartige vorhanden ift. Sie finden verjchiedne Anklänge und Gegenſätze in 
dem Buche, aber auch von jedem den Wusgleich: dem Ausbruche glühender 
Lebensluft und Leidenschaft folgen Klage und Reue auf dem Fuße; Unmut und 
Spott löſen fi in Töne weicher Wehmut, deren Wohllaut ſchon an ſich eine 
Verſöhnung ift. Kurz, das Buch Hat nicht nur ein Schidjal, jondern es ftellt 
ein Schidjal vor." Baechthold führt dann die äjthetiiche Würdigung Leutholds 
weiter aus, die nicht eben zu deſſen Gunsten ausfällt, ja es ift die jtrengite 
Kritik, die über ihn geichrieben werden fonnte. Wir müſſen geftehen, daß wir 
diejen Teil der Einleitung, der fich ja doch nur gegen unfritijche Nezenjenten 
wendet, umjo lieber miffen würden, als die PBarallelftellen, welche er zum Be- 
lege für die Anleihen anführt, die Zeuthold bei andern Dichtern gemacht haben 
joll, nichts weniger als überzeugend find. Mit dem Lebensabriß und der 
bei aller Milde jo wahrheitsjtrengen Anzeige Kellers hätte es der Heraus- 
geber genug jein lafjen fünnen. 

Vollen Dank des Leſers aber verdient die Fünftlerische Beilage, mit der 
diefe dritte Ausgabe der Gedichte geziert iſt. Eigentlich jollte jede lyriſche 
Sammlung eines Dichters von größerm Wert mit feinem von Künftlerhand 
gezeichneten Porträt ausgeitattet jein. Denn was uns bei einem Lyrifer feſſelt, 
daß wir jein Buch nicht bloß einmal leſen, um es dann für immer in den 
Bücherfchranf zu ftellen, ſondern daß wir gelegentlich wieder darnach greifen 
und darin blättern, iſt die Gefamtheit feiner Perſönlichkeit, das poetijch ver: 
flärte Bild eines eigenartigen Individuums, welches bei der Leftüre als eine 
organiiche Einheit vor unſerm Geiſte erfteht. Der gute Porträtift weiß nun 
in einem Bilde die geiftige Phyfiognomie des Originals zu firiren, und er giebt 
uns dadurd eine konkrete Unterlage für das immerhin blafje Bild, welches wir 
aus dem rein geiltigen Verkehr mit dem betreffenden Dichter gewonnen haben. 
Ein jolches Bild ist das von dem befannten Hiftorienmaler ©. Bapperit gezeichnete 
Porträt Leutholds, und wenn es auch die jchon durch jene herb kritiſche Ein- 
leitung etwas abgefühlte Sympathie für dem Dichter nicht eben zu erhöhen 
vermag, jo ift e8 doch aus den angeführten Gründen höchſt ſchätzenswert. Um 
ganz aufrichtig zu fein — es ift ein wahres Mephiftogeficht, diejes Leutholdſche 








Heinrich Leuthold. 217 


Porträt. Wie er jo im Lehrstuhl aufrecht dafigt, die Brauen ftreng zuſammen— 
gezogen, den Blick jcharf auf den Beſchauer gerichtet, als wenn er wieder eine 
jeiner malitiöjen Kritifen zu jagen hätte, vor der ſich Schaufpieler und Künftler 
fürchteten, die kleine Oberlippe etwas chief emporgezogen, daß die Zähne 
jichtbar werden, die Unterlippe geringjchägig vorgejtredt, die erhobene rechte 
Hand im Begriff, die brennende Zigarre zum Munde zu führen, und dies alles 
beherrjcht durch die hohe, fein modellirte Stirn mit dem kurzen ftruppigen 
Haare — dieſer phyſiognomiſche Eindrud beftätigt in allen Zügen das Bild des 
Mannes von Geſchmack, dem die Schönheit die einzige Göttin war, der Wein, 
Weib und Gejang zur Devife wählte, Dogmatifer und Syftematifer mit wiß- 
jprühender Lauge übergoß und in hypochondriſcher Schärfe ſchließlich auch ſich 
jelbft nicht genügte. 

Bon Haus aus war Leuthold ein Menjch, der faſt einzig auf den Genuß 
der Schönheit gejtellt war. Geboren in der Schweiz, treibt ihn mitten in der 
Studienzeit die Schnfucht nad) Italien; als Student in der juriftiichen Fakultät 
inffribirt, betreibt er vornehmlich Kunft- und Literaturgefchichte und entzieht ſich 
jo einer ruhigen Entwidlung in den Jahren, wo man feine Lebensjtellung be- 
gründen muß, zumal wenn man wie er von armer Familie jtammt. Dies 
wurde feinem ganzen jpätern Leben verhängnisvoll, denn, ohne einen bejtimmten 
Beruf zu haben, mußte er ſchwer kämpfen, um fich von der Feder zu erhalten, 
wozu er bei feiner literarifchen Gewiffenhaftigfeit jehr wenig geeignet war. 
Aber das Dichten war eben auch feine Leidenſchaft, wie er in einem feiner melo- 
dischen Ghaſelen jo bejcheiden befennt: 


Wenn Meifter auch der Kunft zu fein, vielleicht nicht meine Sendung ift, 
Der Kunſt, wo Maß ein jeder Ton und Anmut jede Wendung ilt, 

Wo, wie ein Purpurmantel ſtets ſich eine ſtolze, edle Form 

Um Hohes oder Schönes ſchmiegt, und Harmonie die Endung ift: 

Doch lieb’ ic) fie. — O wüßten die, die mic ob diefer Neigung oft 
Getadelt, wie ihr Tadel falſch, ihr Urteil voll Verblendung ift! 

O wühten fie, wie der Genuß, der Seele Wohllaut Hinzuftreun 

Im Liede, eine göttliche, erhabene Verſchwendung ift! 

Doch weitab liegt das Ziel des Ruhms; ſchon muß auf hoher Stufe ſtehn 
Der Dichter, um erſt einzujehn, wie fern er der Vollendung iüft. 


Dieſe Verſe find charakteriftiich für Leuthold; fie zeigen, wie er die Schönheit 
auffaßt. Es ift eine mehr formale Schönheitsfreude, von der fich leicht voraus: 
jehen läßt, daß fie den Dichter, wie es gefchehen ift, zum einfeitigen Kultus 
metrifcher Künfte verführen, daß ihm über dem Purpurmantel, über der be- 
raufchenden Pracht der Sprache die Sache ſelbſt in zweite Linie treten werde, 
Ganz derſelbe Schönheitsfinn fpricht fich in feiner Liebe zu den Frauen aus. 
So jchreibt er „Einer SItalienerin“: 
Grenzboten III. 1885. 28 


218 





Nah dem Takte fremder Lieder 
Schwebit du lieblich hin im Tanz; 
Diefer Rhythmus deiner Glieder 
Feſſelt meine Sinne ganz; 


Beinrih Leuthold. 


Dieje Loden, diefe dunkeln, 
Diefer Ausdrud, dieje Kraft, 
Und im Auge diejes Funkeln 
Einer trunfnen Leidenschaft. 


Aber Maß und Anmut zügeln 


Seden Wunſch; er ſchweigt befiegt, 
Wo die Schönheit ſich auf Flügeln 
Ihres eignen Wohllauts wiegt. 


Und noch weiter geht ſeine einſeitige Freude an der äußern ſchönen Form in 
dem Gedicht „Auf eine Tote,“ welches zugleich ein Zeichen iſt, daß für Leut— 
hold Schönheit und Sittlichkeit ſich nicht im innerſten Weſen decken, wie es 
doch jedem tiefer Denkenden notwendig wird: 


Ha! dieſer Reize reicher Überfluß 

Iſt ſchon ſo frühe in den Staub geſunken! 
Es hat der falte Tod mit feinem Ruß 
Schon deiner Seele heißen Wein getrunfen! 


Noch ein mal ſeh' ich diefen Körper an, 

Halb voll Bewundrung, Halb voll jtummer 
Riührung, 

Den die Natur verſchwendriſch angethan 

Mit jeder Schönheit weiblicher Verführung. 


Die Welt tritt zifchelnd an den Totenichrein 
Und wirft, gebläht von ftummem Eigenruhme, 
Herzlos auf die Gefall'ne Stein um Stein, 
Verhöhnend die fo früh gefnidte Blume. 
Ich aber ſtarr' auf diefen Tempel Hin, 

Der lang entweiht, verfallen der Vernich— 

tung; 

Und um ben Zeib der ſchünen Sinderin 
Werf’ id) den Burpurmantel meiner Dichtung. 


In einem feiner allerichönften Gedichte „An Thais“ fpricht ſich, nur in 
naiverer Weife, diefelbe Gefinnung aus, die der Schönheit alles verzeiht: 


Lieblihes Mädchen, das gleid der Libelle 

Immer von Stengel zu Stengel ſich wiegt, 
Das, wie vom Bufen der Welle die Welle, 
Treulos ſich trennt und an andre ſich ſchmiegt, 


Liebliches Mädchen, das jenen mit Bliden, 
Diefen mit Seufzern, von ihm nur gehört, 
Jenen mit Lächeln und diefen mit Niden 
Dder dem Drude des Händchens bethört: 


Wie im Triumphe an Ketten von Rojen 
Biehft du dir nad) den vergötternden Schwarm, 
Feſſelſt mit Küſſen und lodeft mit Koſen 
Diefen am Herzen und jenen im Arm! 
Spielend mit Banden, im Taumel gebunden, 
Sorglos gelöft und mit Leichtfinn gefnüpft, 
Mögeft du nimmer erleben die Stunden, 
Da dir dad Zepter der Schönheit entſchlüpft! 


Möge die Barze dir nahn mit der Scheere, 

Eh' du, entnüchtert I. ernüchtert] in ſchmerzlichem Tauſch, 
Büßeſt mit endlofen Qualen der Leere 

Diefer Minuten vergänglihen Rauſch! 


Seine Begeifterung für Heine ift num felbjtverjtändlich; er widmet ihm zwei 
formvollendete Sonette. | 
Wir find num feineswegs jo philijtrös, den Wert der Sinnlichkeit in der 
Kunft zu verfennen, ja im Gegenteil ift uns ein unfinnlicher Poct, der die 
Dinge nicht fühlt, jondern nur denkt, fein Poet. Aber Leutholds Sinnlichkeit 
offenbart fich nur felten fo fchön wie in dem Gedicht „Am Meere”: 


Heinrich Keuthold. 219 





Wie ſüß iſt's, von wonnigen Das Herz, wie auf ſchaulelnden 


Lüften umhaucht, Wellen der Kiel, 

Den Blick in den ſonnigen Hintreibend, den gaukelnden 
Äther getaucht, Träumen ein Spiel; 
Entflohen dem eiligen Umfost, von unzähligen 
Haftigen Thun, Armen umfdjmicgt, 

Am Bujen des heiligen Umpfätjchert, in jeligen 
Meeres zu ruhn! Frieden gewiegt! 


Wie anjchaulic und padend ift dieſes Bild von den Armen, die in der weichen 
Luft des Meeres ſich um den Dichter fchmiegen! wie glücklich auch ift das 
Verdmaß zur VBergegenwärtigung der Empfindung des Schaufelns auf den 
Bellen gewählt! Im allgemeinen ift Zeutholds Sprache nicht jo ſinnlich konkret, 
nicht reich an Bildern. Das eine Bild vom Ruhen im Arme 3. B. fehrt bei 
ihm fajt immer wieder, wenn er an Frauen denkt. Gern aber erhält feine 
Sinnlichkeit einen Stich ins Schwüle, Üppige, Überreife; das Wort „Lüftern“ 
gebraucht er gern: „Die Nacht war weich und lüſtern,“ heißt es in der „Zer— 
jallenen Vigne,“ wo der Dichter verftohlen zu feiner Liebe eilt, und dieſe Vigne 
ſelbſt jchildert er: 


Bo blühender Gärten Teppich Hier Trümmer von Bötterbildern, 
Umſäumte des Najend Sammt, Dort ſinkendes Gebälf, 

Da üben jetzt Schlingkraut und Eppid) Die Lorbergruppen verwildern, 

Ihr Totengräberamt. Die Rofenhaine find welt. 

Ihr Marmorleiber, ihr ſchlanken, Der Satyr, der einſt mit Grinfen 
Run liegt ihr im Gras und Gefträud); Die fträubende Nymphe liebkost, 

Es Mammern die Brombeerranten Hier liegt er, ummuchert von Binfen, 
Die blühenden Arme um euch! Berftiimmelt und übermoost x. 


So lebhaft diejes Bild an Eichendorff gemahnt, jo ſehr ift e8 in der Stimmung 
echt leutholdiſch und bejonders bezeichnend für diefen im Genuß bald erjchöpften 
Weltmann, der auch das Lied von der Entnervung des Mannes durch das 
Weib zu fingen weiß. Auch bei der fauftischen Schilderung eines deutjchen 
Dichterlebens (Ave Caesar!), das er mit dem Gladiatorenfampfe in der rö- 
miſchen Arena vergleicht, vergißt er nicht die Frauen zu erwähnen, hier in freund- 
lihem Sinne: 

Und jauchzt dir die Menge Beifall, und ift 

Der erfte Kampf beendigt: 


Dann bewundern di Frauen mit Bliden der Gunft 
Und werfen div Rofen zu Füßen. 


In dem zweiten der Gedichte, „Auf den Tod eines jungen Dichters,“ mit 
welchem ſich Leuthold zweifellos felbjt gejchildert hat, heißt es dagegen mit 
verjtärfender Pointe: 


220 Heinrich Leuthold. 





Wohl, wen früh ſchon der Befreier Maunchen, der — nod) jung an Jahren — 


Tod jich naht, wem — Hölderlin Jede Gunft des Glüds erfuhr, 
Oder Lenau gleich — die Schleier Sah id) welt, mit grauen Haaren, 
Sanfter Nacht den Geift umzichn! Und das Eine blieb ihm nur: 


Auf ein Leben ohne Thaten 

Tief beihämt zurüdzuihaun, 

Müd, enttäufcht, verfannt, verraten 

Und entnervt vom Kuh der Fraun. 
Und doch hat auch ihm die Liebe die jchönften Lieder entlodt, wie er es in dem 
vollendeten Heinen Gedichte „Hin!“ ſelbſt gejteht: 


Als der Sommerfonne Guten Um die Mauer gelb und traurig 
Noch auf den Gefilden ruhten, Sch ih nun die Nebe ranten; 
Fühlt’ von Poeſie und Liebe Herbjtwind weht durch mein Gemüte, 
Ich den Bufen überfluten. Und verweltt find die Gedanten. 


Gieb mir jenes Meer von Wonne, 
Bieb aufs neue meine Lieder, 
Süße Maid, o gieb mir eine 
Jener Sommernädjte wieder! 

Derartiger extremen Gegenjäße, zwijchen denen ſich jein Gemüt bewegte, 
fünnte man indes bei Leuthold ganze Reihen aufftellen, und wenn wir auch 
viel auf Rechnung des Iyriichen Naturells jegen müfjen, welches der momen— 
tanen Empfindung leidenschaftlich ergeben iſt, jo läßt ſich doch ein zerfahrenes, 
jedes pofitiven Elementes entbehrendes Weſen nicht verfennen. 

So hat e3 beijpielsweife oft den Anjchein, als liefe feine ganze Welt: 
anjchauung auf nichts als das eintönig büftere vanitas vanitatum vanitas 
hinaus. An einem Grabe ftehend, refleftirt er: 

Bas Großes auch der Menſch empfinde, 
Was er cerjtrebe, was er finde: 
Sein Thun und Denken find nur Rauch 
Im Binde; 
Der höchſte Ruhm, was ift er auch? 
Ein Haud)! 
Und einem jungen Freunde ruft er zu: „Nimm diefes Leben nicht fo ernjt! Necht 
ſpaßhaft its im allgemeinen.” Und jchon im Jahre 1857 jehreibt er ein 
längeres Gedicht „Entjagung“ mit dem Refrain: „Verlangend Herz, fei du dir 
jelbjt genug!* Als ein „lachender Rhapſode“ foll ein andrer Freund, der in 
allzuhohem Stile für die heutige Mode fchreibt, Welt und Zeit begreifen fernen. 
Und doc) gab es auch jür Leuthold Stunden, wo er (im „Wanderlied“) jchreiben 
konnte: 
Des Schönen bat die Welt fo viel, 
Hat auch für mich genug — 
wo er im Vollgefühl des befeligenden Befiges der dichterischen Begabung eine 
„Spielmannsweife” anftimmte: 





Heinrich Keuthold. 221 
Die Ströme zichn zum fernen Meer, Und bin ich fein Bogel in der Luft, 
Die Wolfen am Himmel flichen, &o lernt’ ich doc pfeifen und fingen; 
Und wenn ich ein flüchtiges Böglein wär’, Und kommt der Lenz mit Klang und Duft, 
So möcht’ ic mit ihnen ziehen. Dann mein’ ich, es wüchſen mir Schwingen. 


Und kann id) aud) nicht über Wald und Haid, 
Über Seen und Berge ſchweben, 
So kann id) mich über das Heine Leid 
Des dürftigen Lebens erheben. 
oder fich „Troft im Leide“ zurief: 
Ber fo genof der Wonne, 
So lang er jung, 
Den wärmt wie eine Sonne 
Erinnerung. 
Er erhebt fic) auch wirklich über das fleine Leid des bürftigen Lebens, was 
nicht jo jehr feine wenig unmittelbaren, etwas outrirten Triuflieder, die er 
ſelbſt mehr als billig ſchätzte, ſondern die vielen Stimmungs- und Landichafts- 
bilder bezeugen, die nur in Mugenbliden glücklich wunjchlofer Betrachtung ent: 
itanden fein können. Nur ein einziges wollen wir beijpielshalber herſetzen: 
„Die Kapelle am Strande.“ 


Langfam und faum vernehmbar teilt Horch! diefer fanft gedämpfte Laut, 
Die wellenlofe Flut der Kiel; Der Erd’ und Himmel mild verjühnt! 
In meiner Seele zittert nad) Das Abendläuten iſt's, das fern 

Der Ton aus einem Saitenfpicl. Bon der Kapelle niedertönt. 


Beſcheiden von dem Felsgrund ficht 
Sie über’3 Meer, fo endlos weit; 
So ſchauet wohl ein fromm Gemüt 
Hinüber in die Ewigkeit. 
Der fromme Ton, in welchem diejes Lied ausklingt, verirrt fich etwas ſeltſam 
in dieſe Gedichtfammlung eine® man möchte jagen fanatifchen Sfeptifers, der 
niemals das Bedürfnis hatte, mit dem höchften Fragen der Menschheit, ſeien fie 
num religiöfer oder metaphyfiicher Art, fich zu quälen. Kein Dichter kann 
diefe Fragen umgehen, wenn er Bedeutung gewinnen will. So wenig Die 
theoretifche Äfthetit eine Metaphyfit, auf welche die Teßten Fragen reduzirt 
werden, entbehren fan, fo wenig kann der Künftler fchlechthin Skeptiker fein; 
ja er noch weniger, da ihm das Bedürfnis nach Abrundung feines Weltbildes 
noch lebhafter innetwohnt. Doktrinärer Dogmatifer braucht er deshalb noch 
fange nicht zu werden; aber ein Gefühl vom Univerfum als Kosmos muß er 
im Gemüt lebendig erhalten. Das fehlt in der Lyrik Leutholds. Es ift ganz 
wißig, wenn er feinem fatechifivenden italienifchen Mädchen von der Riviera 
eriviedert: 
Lak, mein fühes Kind, die Heiligen 
Und des Glaubens Hieroglyphe, 


222 Beinrih Leuthold. 








Laß mir die von deutſchen Dichtern 
Längſt behandelten Motive! 
aber e3 bleibt wie jo vieles andre doch immer negativ. Ein einziges Gedicht 
exiftirt in dem ganzen Buche, welches man als den pofitiven Ausdruck feines 
Befenntnifjes anjehen könnte, das „Ave Maria” aus dem Zyklus „Won ber 
Riviera“: 
Mit ihren Wonneſchauern naht fie ſacht, Ich aber fteure läffig meinen Kahn; 
Auf leichten Sohlen wandelt fie einher, Des Weltengeiftes Odem laufch’ ich ſtumm, 
Die janfte Zauberkönigin, die Nadıt, Und meine Seele taucht, ein weißer Schwan, 
Und ihres Sternenmantels ſtille Pradıt Sich in der Sehnſucht ftillen Ozean; 
Ausſpannt fie langſam über's Mittelmeer. Die Liebe ſei mein Evangelium. 
Vom Kirchlein, einfam auf dem Feld am Im Norden fern im engen Kämmerlein 


Strand, Weint jebt cin blondes Kind und denket 
Weht Teifes Läuten über Meer und Land; mein. 
Sonſt alles ſtill — nur durch das Schilf fpielt Die jedes Glüd, die mir deu Frieden lich 
lind Und Poeſie, 
Der Abendwind. D fei gegrüßt, Marie! 


Ave Maria! 

Honegger (in dem anfangs zitirten Eſſay) ift ganz entzüdt von dieſem Ge- 
dichte. Wir können dieſe Freude nicht teilen, denn in feiner Eunftvollen Form 
wirkt es doch wie nüchtern gemacht und überzeugt nicht. Man wird wohl nicht 
in den Verdacht des Katholiken geraten, wenn man diefe Gegenüberjtellung der 
jentimentalen deutjchen Marie und der Jungfrau Maria für gejchmadlos er- 
klärt. Überhaupt ift alles Pathetiſche diefem tüpfelnden Formaliften fremd. Die 
Liebe fehlt ihm, meint Bacchthold ganz treffend, mit Anwendung des befannten 
Goethijchen Urteil3 über Platen auf defjen Verehrer Leuthold. „Er liebt jo 
wenig jeine Lefer und feine Mit-Poeten, als fich felber.” Nur ein Pathos be- 
figt er, weil diefe einzige Leidenschaft ihn wahrhaft erfüllt: den literarifchen 
Ehrgeiz. Wie ſehr ihn die Literatur bejchäftigt, zeigen die vielen literariſchen 
Satiren, Epifteln, Dichter-Sonette, Epigramme, die feine „Gedichte enthalten, 
zeigen auch die häufigen Bilder, welche ein Naturobjeft mit der Poeſie ver: 
gleichen. (E3 lifpelt ein hüpfend Lenzgedicht der Quell zu meinen Füßen, u. dergl.) 
Die ergreifendften Töne hat er doc) nur in diefer feiner Leidenschaft gefunden, 
wie etwa im „Herbſtgefühl“: 


Die ganze Schöpfung ftcht in Trauer; Wie ringsum alles ftirbt und endet! 
Das Laub der Bäume färbt ſich gelber, Bei diefem Wellen und Berderben 

Und ad! mir ift, als fühlt id) jelber Fleh' ich: o Gott, laß mich nicht fterben, 
Im Herzen kalte Winterſchauer. Eh' ich cin ſchönes Werk vollendet! 


Aber welche Ironie! Gerade diefes einzige Pathos, gerade dieje einzige Leiden: 
Ichaft jtand ihm im Wege, das zu erreichen, wonach er fich ſehnte: die höchſten 
Höhen der Kunft. Nur ein Geſchenk ijt die Gabe der Mufen. Die Literarifche 
Grübelei beichräntte feinen Sinn auf die Virtuofität der Form, auf die Welt 
von Papier und entzog ihn der einzig fruchtbaren Wirklichkeit des Lebens. 


Reifebriefe aus Italien vom Jahre 1882. 223 


Damit hätten wir das Gemütsleben Leutholds nach ſeinen weſentlichen 
Zügen umſchrieben. Noch enthält ſein Buch ein Epos „Pentheſileia,“ Rhapſo— 
dien aus einem unvollendeten Zyklus „Hannibal,“ Übertragungen aus dem 
Griechiſchen, Arabiſchen, Altdeutſchen, Engliſchen, Ungariſchen und Italieniſchen, 
auf die wir nur hiermit verweiſen; das Bild des Dichters beeinfluſſen ſie nicht 
weiter. Den Liebhabern „guter Sachen,“ um mit Gottfried Keller zu reden, 
ſeien dieſe formvollendeten Überſetzungen beſonders empfohlen. 
Innsbruck. Mori Weder. 





dd. 


F 





Reiſebriefe aus Italien vom Jahre 1882. 


Aus dem Nachlaſſe von W. Roßmann. 
(Fortfegung.) 


Bon Rom nad) Neapel, 20. November. 


er Weg führt wieder durch Marino, Albano, dann an mander 
d Ruine aus alten und mittelalterlichen Zeiten vorbei. Gebirge rechts 
und lin. Davor überall vortrefflich Eultivirte® Land. Monte 
a ſin⸗ höchſt impofant auf fteiler Höhe. Capua. Die Terra di 
IL Lavoro mit reihem Wein: und Gemüfebau. Uber leider Hatte es 

bald zu vegnen begonnen, und unter grauejtem Himmel fuhren 
wir in Neapel ein. 





Neapel, 21. November. 


Und früh regnete e8 weiter. Ein gar zu betrübter Eindrud, nachdem ic) 
während meine erften, monatelangen Aufenthaltes nicht einen Regentag gehabt. 
Mit all meinen Beichreibungen ftand ich fompromittirt da, und wie habe id) fo 
den Wert und die Bedeutung des Sonnenlichtes gefühlt. Es blieb und zunächſt 
dad Mufeum, und diefe herrliche Sammlung entſchädigt denn freilich für vieles. 
Sn den Sälen der Bronzen ift feit meinem erften Aufenthalte manches hinzu— 
gefommen: köſtliche Porträtbüften und ein Heiner Faun, ein Seitenftüd zu dem 
berühmten tanzenden. Dann einige bemalte Marmorfiguren, über die ich noch Ge- 
nauered aufzeichnen werde. 

Unter den neun hinzugefommenen Wandgemälden findet fich jehr Intereſſantes 
und ftofflic Bedeutendes: ein Bachhant am Fuße des Veſuvs, der ganz mit großen 
Weinbeeren bekleidet ift und von fern wie eine Traube ausfieht; ſchlafende Backhantin 
und Faun; Herkules, der den Centauren tötet; eine mufifaliiche Konverjation von 
feinfter Ausführung; der Raub der Europa, wie es jcheint von demjelben Künſtler; 
Europa Hat fi eben auf den Stier gejebt, den eine ihrer Gefpielinnen liebkoft; 
Pyramus und Thisbe: er ift bereit tot, fie erfticht ſich; Iphigenie, von einigen 


224 Italieniſche Reifebriefe vom Jahre (882. 





Priefterinnen begleitet, im Begriff, den Dreft zu opfern; ein Stieropfer: der Stier 
wird herangeführt, der Priefter, von zwei Frauen geleitet und geftüßt, tritt aus 
dem Tempel hervor, unten rechts eine Figur don fehr individuellem Ausdrud, in 
welher man den Jaſon vermutet; VBachus wird an die fchlummernde Ariadne 
herangeführt; Dido, höchſt lieblih und anmutig gebildet, und Aeneas; Diana und 
Endymion; eine Jagd. 

Das merkwürdigſte iſt aber das zuletzt entdedte Gemälde, über welches man 
vor einem Bierteljahre in den Zeitungen las. Es enthält neunzehn Figuren. Links 
und im SHintergrunde römische Soldaten, im rechten Drittel eine Eftrade, auf 
welcher drei fenatorartig gefleidete Männer ſitzen, der mittlere weißhaarig; Hinter 
ihnen wieder römijche Figuren. In der Mitte befindet fi ein Tifh, auf dem 
ein Heines Kind liegt, das von einer Frau gehalten wird; davor fteht ein römiſcher 
Soldat im Helm, mit einem großen Mebgermefjer in der Hand, und ift im Be- 
griff, dad Kind zu zerhauen. Eine zweite Frau niet dor dem Tribunal und fleht 
zu dem Alten mit Tebhafter, abwehrender Geberde empor. Alle Figuren find 
gleihmäßig disproportionirt, indem fie jehr dicke Köpfe und zierfiche Beinen und 
Füßchen haben (4 Kopflängen ftatt 7 biß 8), fodaß der Eindrud ein Farifaturenartig 
fomifcher if. Es kann feinem Zweifel unterliegen, daß bier das Urteil Salo— 
monis dargeftellt werden follte, und das wäre denn das erfte Beifpiel einer bild: 
lichen Darjtellung aus dem alten Teftamente unter den Römern. Oder ob ein und 
diefelbe Geſchichte, ohne daß Died bisher Literarijch befannt war, von einem rö— 
mifchen Richter oder König erzählt wurde? 

Die Karikatur verliert übrigend etwas an ihrer Pointe, wenn man fieht, daß 
ein zweites Bild, welches in demfelben Haufe gefunden wurde, die nämlichen Ber: 
hältniffe aufweiſt. Es ift hier eine Inſel mit Haus im Nil dargeftellt; ringsum 
Kampf mit Krofodilen und Nilpferden. Ein ſolches Holt fi) einen Mann aus dem 
Kahn und frißt ihn, während ein zweiter auf feinem Rüden fteht und es mit dem 
Speere ftiht. Ein Menſchlein wehrt ſich gegen ein Profodil vom Lande aus, 
Auf einem zweiten reitet ein Figürchen; drei andre ziehen es an Gtriden, die 
ebenfal8 am Rachen befejtigt find, zum Strande heran. Alle diefe Figürchen, 
foboldartig gezeichnet, find dunfelbraun von Farbe, nur ein Weißer ſchwimmt im 
Wafler. 

Man hat es Hier jomit mit dem Haufe eined Mannes zu thun, der orien- 
taliſche Stoffe liebte; weiter läßt fi) bis jegt nichts jagen. 

Nachmittags gingen wir zum Pofilipp, um bie Billa Brigitta aufzufuchen, in 
der ich vor dreizehn Jahren gewohnt; allein der fatale Regen zwang uns, nicht 
weit vom Biele umzufehren. 

Abends gingen wir in ein Volkstheater, wo Pulcinello als gefnechteter Ehe— 
mann auftrat. Er hatte die weißen, weiten Beinfleidver und ade, darüber aber 
einen ſchwarzen Frack nebft ſchäbigem Zylinder, Merkwürdig ift, daß dieje Figur 
noch immer mit ſchwarzer Maske auftritt — ein Ueberbleibfel der antiken Bühne —, 
obſchon fie fiher ohne diefelbe fomifher wirken würde. Wir verftanden übrigens 
nur den Gang der Handlung und einige der bandgreiflichften Wiße, da im Volks— 
dialeft gefprocdhen wurde, der hier ganz abfcheulich ift. Nicht nur daß jedes Wort 
aufgeweicht wird, fondern es wird auch Halb verjchludt. 


Neapel, 22. November. 
Heute früh unter Gewitter und ftrömendem Regen ins Mufeum. Wir gingen 
zuerft in die Gemäldegaferie, die nicht umfangreich ift, aber einige Vorzügliche 


Reifebriefe aus Jtalien vom Jahre 1882. 235 








enthält. Im erjten Saale fejjelt ein mweibliche® Porträt aus der Schule Raffaels 
(und vielleiht von ihm felbft), welches jeine Mutter darftellen fol und ihm jeden» 
falls höchſt ähnlich ſieht. Augen, Naſe und Mund find ganz die feinigen. 

Ein großes Gemälde von Bartolomeo Schidone (die chrijtliche Liebe) ift durch 
Scharfe Beleuchtung, bejtimmte, dod nicht grelle Zofaltöne interefjant und weit 
gute Zeichnung auf, leidet aber an einer gewiffen Härte. Ein Kind vorn rechts 
ift don naidem Ausdruck. Bon demfelben in derfelbeu Manier, doch mehr an 
Eorreggio herangehend Nr. 21: Amore in riposo, und eine heilige Familie (Nr. 23). 

Am vierten Saale feflelt eine lebendige und geiftreihe Untermalung von 
Tizian: Paul IH. Farneſe (dem er öfters gemalt) mit einem Kardinal und einem 
Nepoten. Die überlegene patronifirende und zugleich fein ironifche Art, wie der 
alte kluge Papſt den letztern anblidt, ift köſtlich gegeben. 

Im fogenannten Großen Saale (Elite aus verjchiedenen Schulen) fefjelt gleich) 
am Eingange eine PBieta von Annibale Carracci. Der in Schwärzlich-grauen Tönen 
gehaltne Chriſtus ift von Bildhauern viel benußt worden. Neulich ſahen wir 
in Rom ein neued Grabdentmal, dad auf dem Berwegungsmotive der Figur 
beruht. 

Bon Raffael befinden ſich hier drei vorzügliche Porträts: der Kardinal Paſſe— 
rini, Raffaels Fechtmeifter Tibaldeo und der von ihm öfters gemalte Leo X., (letz- 
teres jedoch wahricheinlicy Kopie von Andrea del Sarto, der ein weniger glühendes 
Kolorit ald Raffael hat). Dann die fogenannte Madonna del divino amore, Bmei 
deutjche gelehrte Damen ftanden mit einem noch gelehrtern Begleiter davor. Die eine 
jagte: Wird diefer Raffael angezweifelt? — Nein, diejer nicht, war die Antivort. — 
O, wie wundervoll ift er! — In der That wird aber ein Teil der Ausführung den 
Schülern zugefchriedben. Mag fein, aber er ift wirklich fchön, und die Madonna 
fommt in der Auffafjung der Dresdner am nächſten. Sie hat ganz das Groß— 
äugige, Kindliche, Verwunderte. 

Bernardo Luini, eine Madonna, die man für ein Werf Lionardos nehmen 
möchte. Domenichino, der Schußengel. Das Kind ift vortrefflid, namentlich das 
findlihe Beten höhft wahr zum Ausdrude gebradht. Ziziand weinende Magda: 
lena. Ein vorzüglicher, doch etwas ind Grüne fallende Claude Lorrain, dem 
Dresdner mit der Galathea verwandt. 

Im Saale des Eorreggio (Fünfter) befinden ſich zwei feiner berühmtejten Meifter- 
werke, die jogenannte Bingarella, d. h. die als Bigeunerin frifirte Madonna, und 
die Verlobung der heiligen Katharina. Beide Bilder, in kleinſtem Maßſtabe ge— 
malt, find wichtig für die Beftimmung der Dresdner Magdalena. Ich habe mir 
deshalb viel Einzelheiten notirt. Die Zingarella jcheint mir in wärmerem Zone 
gemalt, fall dies nicht vom Firniß herrührt; doch finde ich fie in der Technik 
mit der Magdalena übereinftimmend. — Tizians Danae, eins feiner vorzüglidjiten 
Werke, ſowohl was Adel der Form als Glut der Farbe betrifft. Dejjen Bor: 
trät Philipps II. höchſt hervorragend in der Charakterifti. 

Dad Wetter wurde jchön, wir brachen unjern Rundgang ab und machten 
die Wanderung nad) dem hHerrlicd; gelegenen Kloſter Camaldoli hinauf, von 
wo man fomohl den Golf von Neapel, wie denjenigen von Bajä mit allen 
Injeln überfieht, ein ganz einziged® Panorama. Die vierundzwanzig Eremiten- 
zellen ſtehen nım leer, und ftatt von den alten, jchönen und würdigen Mönchen, wird 
man von jhmußigen Liimmeln empfangen, die ficher noc) viel weniger leijten als 
jene und doch mehr arbeiten könnten, weil fie jünger find. Zwei Mönche, hieß 
es, wären noch oben, aber fie feien ausgegangen. Nah 4", Stunden waren wir 

Grengboten III. 1885. 29 


226 Jtalienifche Reifebriefe vom Jahre 1882. 


wieder unten. Das Wetter war wundervoll geworden, und Stadt und Land übten 
wieder den alten Zauber. 


Neapel, 23. November. 


Wir benugten das gute Wetter zu einer Fahrt nad) Bompeji. In dem Heinen 
Mufeum, das ſich gleih am Eingange findet, war feit meinem früheren Bejuche 
manches Intereffante hinzugekommen; namentlich einige Abgüſſe von Formen erſtickter 
Menſchen und Tiere, welche dur die (fpäter zerfallenen) Körper ſelbſt in der 
Aſche gebildet find. Mehrere diefer Menjchen haben, wie man fieht, einen ſchweren 
Todeskampf gehabt; ein Alter, den ich noch nicht gejehen hatte, ift ruhig geftorben. Sein 
Gejicht ift vollfommen deutlich abgedrüdt — ein Typus, dem man noch jegt hier 
häufig begegnet. Alle find von zarten Gliedern und nicht großer Statur. Den 
Abgüffen von Menſchen hat fi jeit 1875 ein folder von einem Hunde hinzu— 
gejellt, der wohl feiner Treue zum Opfer gefallen ift, falls er nicht angefettet war. 
Er trägt noch das Haldband mit zwei Bronzemünzen. Daß Tier hat ſich im Tode 
fehr gekrümmt und gewunden. Dieſe jtillen Geftalten, welde den Moment der 
Verſchüttung jo unmittelbar wiedergeben, find höchft ergreifend. Da jet jehr vor— 
fihtig gegraben wird, darf man Hoffen, noch mehr dergleichen zu finden, namentlid) 
auf der Stabianer Straße, da die Flucht zum Stabianer Thore hinaudging. 

Man gräbt jeßt zwifchen Forum und Theater an der Straße dell! Abun- 
danza. Hier war mitten im ausgegrabenen Terrain ein bededte8 Quadrat liegen 
geblieben, und dies wird nun erft erledigt. Der Fortichritt in der Bloßlegung 
ift doc ein fehr langjamer. Man arbeitet zwar mit etwa hundert Menſchen, aber 
es find das meiftens Jungen, die immer angefpornt werden müfjen. Weber ein 
Drittel der Stadt ift doch noch faum freigelegt, und wenn man in dem gegenwärtigen 
Tempo fortfährt, wird man noch Hundert Jahre brauchen, che alles auögegraben ift. 

Ic beſuchte Dad Haus, wo das Urteil des Salomo gefunden wurde; es ift Hein 
und unanfehnlid. Daneben ift eines, wo ein fehr hübſch erhaltenes fleines Haus: 
fapellchen gefunden wurde. 

Auf einem Heinen Unterfaße von halber Manneshöhe ein tempelartiger Bal- 
dahin mit gemalten Marmorfäulden (genau wie man in der Rokofozeit Marntor 
imitirte) und feinen Studgefimfen. Im Fond ein (leider zugebedtes) Gemälde, 
welches ein Opfer darftellen jol. Unter dem Baldachin ftanden fieben Bronze— 
jtatuettchen, Figuren von Götterbildern. An der VBorderfeite des Unterbaues find zwei 
Schlangen gemalt, welche Eier von einem Altar nehmen. Die alte Haus-, Erd- und 
Schutzſchlange, welche das Opfer der Menſchen gnädig annimmt. Sie findet fich in 
Pompeji fehr oft gemalt. 

An dem Haufe, welches jebt freigelegt wurde, zeigte ſich eine bisher noch 
nicht gejehene Bemalung des äußern Sodel3 an der Straße: ſenkrecht herabgehende 
Streifen in wechſelnden graulichen, bläulichen, gelblihen Farben. 

Ich empfing diesmal in verftärktem Maße den Eindrud, daß die Menfchen 
jener Zeit jo lebten und webten wie ihre Nachfolger von heute; ift doch auch 
im wefentlichen der Hausbau derfelbe, nur daß man — menigftens in der Groß— 
ftadt Neapel — mehr in die Höhe hat gehen müffen. Diefelben einräumigen Woh— 
nungen für das Heine Volk, in welchen fi ihr alles beſchließt und welche Küche, 
Wohnzimmer, Schlafzimmer, Arbeitöftätte und Laden zugleidy find; dieſelben Heinen 
Läden für Flüffigkeiten aller Urt mit den Marmorladentifchen und den jonderbar 
engen Sitzen für die Verkäufer; diejelbe Häufigkeit diefer Läden. Nur die Fuß- 
boden waren in den damaligen reihern Häufern eleganter und koſtbarer als jeßt: 


Jtaltenifche Reifebriefe vom Jahre 1882. 9937 





man Hatte feine Mofait, wo jetzt größere Marmor: und Majolikafliefen liegen. 
Das Heiligtum in jedem Haufe, wie man noch jeßt hier beobachten kann, daß in 
der jchlechteften Höhle ein Madonnenbildchen hängt oder ein Ultarfchreindhen fteht, 
vor weldem mit Ave Maria ein Licht angebradht wird. 

Wir gingen dad ganze ausgegrabene Gebiet ab und fühlten und nad} vier— 
einhalbftündiger Wanderung durch Gehen, vieles Sehen und ftarfe gemütliche Ein- 
drüde jehr ermüdetl. Denn zu einem rein wiflenjchaftlichen Interefje wird man 
bier erjt nad) langer Zeit gelangen; man kann garnicht anders, als ſich mit den 
legten Yugenbliden derer beichäftigen, welche hier wohnten. 

Es fcheint mir, daß die Heinen Leute ſämtlich Zeit hatten, ihren Kram zu 
retten, und nur in reichern Häufern, wo die Dienerfchaft früh davonlief, ift manches 
an Ort und Stelle geblieben; denn es kommt eigentlich nur befjerer Hausrat zutage. 

Als Pompeji verjchüttet wurde, ftand eine Wahl bevor, und an vielen Häufern 
fah und fieht man die Namen der Kandidaten in roter Farbe angemalt. Ganz 
dasſelbe hatten wir jebt bezüglich; der Parlamentswahlen von Norditalien bis Rom 
herunter wahrgenommen: dieſelbe rote Farbe, diejelbe Art, die Buchſtaben zu malen, 
den Pinſel auslaufen zu lafjen. 


Neapel, 24. November. 


Schon geitern Nachmittag hatte fi) der Himmel wieder umzogen, und heute 
früh regnete e3 ftarf. Ich ging daher wieder ind Mufeum. Zuerſt vollendete ich 
die Befihtigung der Gemäldefammlung. In bezug auf eine wahrſcheinlich alt: 
florentinifhe Verkündigung der Dresdner Galerie unterjuchte ich einen Domenico 
Eorradi del Ghirlandajo und einen Michele di Ridolfo del Ghirlandajo genau. 
Deögleichen eine Adoration von Lorenzo di Eredi. Er ift fehr ftereotyp in feinen 
Motiven. In der Regel aborirt die Madonna dad Kind, und dieſes deutet der 
Mutter an, daß ed zu trinfen wünſcht. Ein Borträt Marimilians I. von Lukas 
van Leyden ift dem Porträt Albrechts des Beherzten in der Dresdner Galerie 
nahe verwandt. 

Die Tazza Yarnefina, welches al3 die Unterfchale zu dem braunfchweigifchen 
Onyxgefäße angefehen wird, noch einmal genau unterjucht. 

Die Abteilung der pompejanischen Hausgeräte aus Bronze und Elfenbein hat 
fi vermehrt: zahlreihe Siftren, eine bronzene Pansflöte, viele Eifenbeinflöten, 
die bronzenen Teile von Bettgeftellen und Stühlen, zahlreihe Wagen mit zwei 
Schalen und Dezimalwagen. 

Unter den Tefferen fielen mir neue Formen auf: Fiſche, Mandelfrone in 
Knochen und Eifenbein; zahlreiche Totenföpfchen. Auf runden Marken eine Hand 
in Relief mit eingefhlagenem Mittelfinger. Es fcheint, als ob die einzelnen Keil: 
abteilungen im Theater bejondre Namen hatten. Es dürften auch verjchiedne der 
Marken zu irgendeinem Spiele gedient haben. 

Die Sammlung enthält ferner zahfreihe Würfel, weiße und jchwarze, ganz 
wie die unfern; Knöchel zum Spielen. 

Bon Bronze: Küchenformen, 3. B. ein audgeftredter Hafe für eine füße 
Speife; Siebe zum Durchſchlagen in ſchönen Muftern, Pfannen für ausgejchlagene 
Eier u. f. w. Alles im zahlreichiten Varianten. Chirurgifche Inftrumente von 
mobdernfter Form; hunderte von Pincetten u. ſ. w. Pferdegebiffe mit Drud auf 
die Naſe. Punfhwärmer in der Urt der ruſſiſchen Samovars, Kohlenpfannen, 
Bratpfannen, Tiegel, Kafferoles von allen Formen. Bronzeplatten als Gloden 


298 Reifebriefe aus Italien vom Jahre 1882. 
gebraucht; von einen Klingeln eine große Anzahl, Lampen und Lampenträger 
in Maflen. 

Hierauf machte ich noch den Marmorjkulpturen einen Beſuch, um über einige 
bemalte Figuren, die vor nicht langer Zeit zum Vorſchein gekommen, Notizen zu 
machen. Dieje Eremplare geben von der Bemalung des Marmord in jenen legten 
Beiten einen nicht eben erfreulichen Begriff. Die Farbe ift nämlich nicht trans: 
parent, jondern fißt ziemlich did und troden auf, ſodaß das Material verleugnet 
fein würde, wenn e8 nit an einigen Stellen unbemalt zum Vorſchein käme. Dies 
fcheint in der That beim FFleifche der Fall gewefen zu fein. In den Gewändern 
waltet gelb, rojarot und hellblau vor. 

Nachmittags ging ich zum Muſeum in San Martino hinauf. San Martino, 
unmittelbar unter der Feftung San Elmo gelegen, war eine Gertofa, und es 
wohnten dort, als ich zum erftenmale hier war, noch einige Mönche. Auch wurde 
nur die Kirche und der Klofterhof gezeigt. Jetzt Hat fih in den Klofterräunen 
ein Museo eivico gebildet: eine Sammlung von Dingen, welche auf die Gejchichte 
der Stadt und des Landes Bezug haben, 3. B. der Hut des Kardinal Ruffo, 
die Zivilgarden-Uniform des Bruder! von Bio IX., die Trachten der Munizipal- 
beamten, die in Wachs buffirte Figur des Dominifanerd Rocco, eines berühmten 
Predigerd ꝛc.; dann Majolifen, Gläfer u. ſ. w. 

Bon ganz überrafhendem Eindruf war mir eine moderne Schöpfung, das 
Werk des Neapolitanerd Michele Eucinello (1879). Es ift dies ein etwa fünf 
Schritt langes, plaftifch aus allen möglichen Stoffen, Thon, Holz, Metall, Zeug ꝛc. 
aufgebautes farbige Tableau, und ftellt dad Präfepe dar. Der Zuſchauer befindet 
ih im Dunkeln, das Tableau iſt von oben beleuchtet. Was nun hier aus dem 
einfahen Stoffe geworben ift! In der Mitte ein malerijcher Berg, oben darauf 
impofante Reſte eines Forinthifivenden römischen Bauwerkes. Davor fitt die Ma— 
donna mit dem Rinde, Joſeph, die Wirtsleute u. f. w. Die Figuren, aus Thon 
modellirt und bemalt, find etwa zwei Hände hoch. Die Könige, mit äußerfter 
Pracht angethan, Huldigen. Unterdejjen werden ihre Pferde und Kameele nad) 
born den Berg heruntergeführt vor die Geburtögrotte und hier entladen. Alles 
möglide an Gold und Silber fommt da zum Vorſchein, und man fann alle die 
Pracht nicht mit einem Blicke fafjen. 

Der Berg ift nur links durch eine malerische fteile Schludht begrenzt, in 
‚welcher täuſchend nachgebildetes Wafjer hinabſtürzt. Eine Brüde führt hinüber 
auf da3 jenfeitige Terrain. Da find Häufer, in denen allerhand Handwerker ihr 
Weſen haben. Sie haben von dem Ereigniß auf dem Berge gehört und borchen 
hinüber, wie aud) die Hirten von den Bergen herabfommen. Jedes Gerät, das 
fie brauchen, iſt mit vollendetfter Treue nachgebildet. Auf der andern Seite des 
Berges ein neues Bild. Da find einige Neapolitaner Häufer aufgebaut und mit 
einer unglaubliden Fülle von Detail ausgeftattet, wie man es hier in den Bor: 
ftädten oder in Portici ſieht. Fleiſcherläden, Bäderläden u. |. w. Bor der Ta 
verne hat ſich eine Iuftige Gefelichaft an einer langen Tafel etablirt und feiert das 
neue Ereignis ganz weihnahtsmäßig mit unendlichem Ejjen und Trinken; der dicke 
Wirt trägt fchnaufend immer neue Vorräte herzu. Der Priefter inmitten der Tafel 
mit einer Serviette bid zum Halfe, tüchtig fehmaufend. Einige find ſchon gefättigt 
und tanzen die Tarantella, von einer vollftändigen Mufif begleitet. 

Und über all diejen Szenen eine Fülle von Engeln, welche an Drähten in 
der Luft jchwanfen. Welch eine Naivität, welch eine überquellende Fülle von Phan— 
tafie! Einige Kinder, die mit mir das Werk befahen, fchrieen laut auf vor Ent: 


Italieniſche Neifebriefe vom Jahre 1882. 229 





züden und waren nicht wieder wegzubringen. Ich ftaune über dieſen bisher un: 
genannten Künstler aus dem Wolfe, der mit einem Griffe fo die Univerjalität des 
Ereigniſſes umfpannen und foviel Seligkeit, Glück, Vergnügen und Scherz durch 
feine Puppen darjtellen fonnte. 


Neapel, 25. November. 


Früh befuchten wir den Kreuzgang ded Klofterd San Severino, in welchem 
jebt das Staatsarchiv untergebradt ift. Derjelbe ift mit zwanzig großen Gemälden 
aus dem Leben des heiligen Benedict geichmücdt, die dem Zingaro (Ende des vier: 
zehnten Jahrhunderts) zugefchrieben werden, aber vermöge des durchgebildeten Aus— 
drucks der Gefichter jünger fcheinen. Die Kompofitionen find einfach und Mar, 
die Farbenftimmung ijt eine dunkle, ins Schwarzgrüne fallende. Die poetifh ans 
gelegten landichaftlihen Hintergründe tragen viel zur Wirfung mit bei. Uebrigens 
ift die Hälfte diefer Fresken durch dad Wetter beinahe ganz zerftört; an den übrigen 
ijt vieles übermalt, und dies hat dazu beigetragen, den Ton jchwer zu machen. In 
der Kirche findet ſich ein ſehr auffallendes Denkmal für drei Jünglinge aus der 
Familie der Sanfeverini, welche von ihrem Oheim an einem Tage erbichaftshalber 
vergiftet wurden. Die Figuren figen nämlich) auf den Sarfophagen und laſſen 
die Füße herabhängen, während die Geſichter wie flehend und anklagend nad) oben 
gerichtet find. Es macht dies den Eindrud, als könnten die Unglüdlichen feine 
Ruhe im Grabe finden. — Bon San Severino in den Dom San Gennaro, der, feit 
ich ihn nicht gefehen, durch den Kardinal Sforza reftaurirt worden ift. Die Apfis des 
Chores fiel mir diesmal durch ihre Heitre Pracht angenehm auf, und es ſchien mir, 
als jei die namentlich) auf die Art der Beleuchtung mit zurüdzuführen. Ueber 
den hohen Fenftern findet ſich in der Attifa unter der Halbfuppel noch ein Kranz 
bon Rundfenftern, auf reichite eingerahmt. An der Krypta unter dem Dome 
wird Die aus vergoldetem Silber getriebne Büfte des heiligen Januarius aufbewahrt, 
in welcher deſſen Schädel ftecft und welche man bei großen Gefahren, namentlich vom 
Veſuv Her, herumträgt. Wird diefelbe in die Nähe des eingetrodneten Blutes 
gebracht, welches oben in einer Kapelle fteht, jo wird letzteres flüſſig. In ber 
Krypta findet ſich auch die knieende Statur eined Kardinals von vorzüglicher Arbeit 
und großer Lebenswahrheit. Man jchreibt diefelbe dem Michelangelo zu; doc 
mödte ich Died wegen der Drapirung bezweifeln. Im übrigen iſt dies Unter: 
firchlein interefjant dur) die naive Urt, wie man Ornamente aus einem alten 
Tempel, der bier geftanden, mit chriftlichen gemiſcht hat. 

Mittags ein Frühftüd in den Trümmern des Palaftes der Königin Johanna 
unmittelbar am Meere — der Königin Johanna, die ihren Gemahl Andreas von 
Ungarn im Jahre 1315 erdrofjeln ließ. ES wird behauptet, daß man nad) ihrem 
Tode den Palaſt habe verfallen laſſen, mir fcheint er jüngern Urfprunges. Gegen- 
wärtig haben ſich in verfchiednen Eden desjelben kleine Reſtaurants angejiedelt, 
und es ift in der That jehr reizvoll, bier unmittelbar über den aufjprigenden 
Wogen zu efjen. 

Nachmittags fuhren wir auf den Campo santo nuovo, eine Zotenjtadt von 
mächtiger Ausdehnung und herrlicher Lage über der Stadt und dem Golf. Während 
es auf den bisher gejehenen italienischen Friedhöfen weſentlich die Skulptur war, 
weldhe die Grabjtätten ſchmückte, jo iſt es hier die Architektur. Man jieht da 
Zempel, Kapellen, ja ganze Kirchenbauten in allen Stilarten. Vornehme und reiche 
Familien Haben ihre eignen Bauten, überirdifch und unterirdifch, in denen die Toten 
ſtets feitlingd in die Wände eingefchoben werden; Leute mittlerer Stellung fließen 


230 Reifebriefe aus Italien vom m Jahre 1882. 

fih zum Bwede eines anftänbigen Begräbniſſes einer der fogenannten Grybrüber- 
haften an, die hier über weitläufigen, mit Marmor ausgefeideten und gut er- 
feuchteten Katakomben Kapellen unterhalten; andre werden vereinzelt beigeſetzt. 
Die Armen begräbt man auf einem befondern Kirchhofe, der aus 366 Kellern be- 
jteht. Jeder Tag hat feinen Keller, um die Todedernte aufzunehmen, die einfach 
von oben hineingeworfen wird. Dann bleibt er bis zum Sahrestage gejchlofien. 

Der Kirchhof ift dad Einzige, was in Neapel fauber gehalten wird. Aber 
der nichtöwürdige Lärm der Gafjenjungen dringt auch hierher. Eine Bande von 
folchen fpielte zwifchen den Denkmälern eines ihrer Wurfipiele, bei denen es fehr 
leidenschaftlich hergeht. Plötzlich kam eine wütende Frau hereingeraft und rief nad) 
ihrem Jungen, der dabei war. Um ihn ihren Wünfchen geneigt zu machen, zielte 
fie mit einem ſchweren Steine nad) ihm, und fie jah darnad) aus, als ob fie werfen 
könnte. Der Zunge wenigftend ſchien Erfahrungen zu haben, ſchrie aufs erbärm- 
lichfte wie ein Affe und verließ feine Kameraden. Seine Mutter, der er weg: 
gelaufen war und die ihn mit nad) Haufe haben wollte, beruhigte er damit, daß 
er ihr einen Zeil ſeiner Spielbeute abtrat. 

Mir hat das Volk diesmal einen weit unangenehmeren Eindrud gemadt als 
vor dreizehn Jahren, vielleicht weil ic damald außerhalb der Stadt wohnte und 
ed doch jeltner ſah, während wir jeßt das furchtbare Gejchrei den Tag und faft 
die ganze Nacht durch zu hören hatten: Die Neapolitaner find in der That ein 
Ihmußiges, faules Volk, und von der Urt, wie bier die einen Leute leben, aber 
mitten in den guten Straßen, macht man ſich feinen Begriff. Ich glaube, etwas hätte 
die neue Regierung bier wohl beffern können, aber fie hat feinen moralifchen Mut. 


Neapel, 26. November. 


Früh befuchten wir die Kirche Santa Maria del Carmine am Mercato, um 
das Denkmal Konradind von Hohenftaufen zu fehen, welches der König von Baiern 
hier durch Thorwaldfen hat errichten laffen. Mir fcheint es leer und einigermaßen 
hölgern, wie ich denn Thorwaldfen überhaupt nicht viel Geſchmack abgewinnen kann. 
Er arbeitete im bewußten Gegenfat gegen Canova und die Schule Berninid. Es 
ift wahr, der erftere ift weichlich, und die letztere ift meift übertrieben in den Be- 
wegungen und manierirt, aber fie verftand doc, elaſtiſches Fleifh zu machen, und 
das, meine ich, iſt es, was man vor allem vom Bildhauer zu verlangen hat. Der 
arme Hohenftaufe wurde auf dem Plage vor der Kirche gerichtet; den Block — ich 
fah ihn früher — bewahrt man in der gegenüberliegenden Kapelle Santa Eroce auf. 

Da es wieder regnete, jo mußten wir die beabfichtigte Spazierfahrt über den 
die Stadt Frönenden Corſo Vittorio Emanuele aufgeben und befuchten noch einmal 
dad Mufeum, wo und namentlich die bronzenen Hausgeräte aus Pompeji viel In— 
terefje abgewannen. Nahmittagd um vier Uhr verließen wir die Stadt, um über 
Foggia nad) Bologna zu fahren. Es ging die Nacht durd. Früh ſahen wir über 
dem Meere bei Ancona die Sonne aufgehen. Mitten in der großen Aureole der 
Morgenröte leuchtete gerade an dem Punkte, wo die Sonne erfcheinen mußte, 
vorher das hellblinfende Licht des Leuchtturmd wie der Morgenftern — ein 
eigentümlich reizvoller Anblid, dem bald die volle Majeftät des Sonnenaufganges 
folgte. Weißer Strand, dahinter das grüne, rot überhaucdhte Meer, dann der Himmel 
in allen Farben hellfter Glut. (Schluß folgt.) 








Um eine Derle. 
Roman von Robert Waldmäller (Ed. Duboc). 
(Fortjeßung.) 


4 ie eriten Vogeljtimmen begrüßten das heraufziehende Morgenrot. 
Schwächer wurde das Licht des Morgenſterns. Rojenfarbig be- 
I gannen die weißlichen Wölfchen fich zu umjäumen, die nach der 
Wetterjchlacht diefer Nacht gleich verlafjenen Zelten über den 
en Himmel verftreut waren. Auf dem die Stadt zu einer Inſel 
machenden Mincio begannen die bunten Farben des Tages, bunt wie die Farben 
auf der Palette eines Malers, ſich mit den grauen Tönen des verſchwindenden 
Nachtdunkels zu miſchen. Dann plötzlich zitterte ein Strahl der Sonne vom 
Oſten herüber, und Fioritas Wimpern ſenkten ſich. 

Sie hatte alle dieſe Tage ſoviel gebetet, daß es ihr oft zumute geweſen 
war, als ſei der Brunnen ausgefchöpft. Auch jet war es ihr micht anders. 
Abgethan dünkte ihr die Zeit des fiechen Sichanklammerns an wunderthätige 
Schidungen, an Botichaften überirdijcher Art. Die Stunde war gekommen, 
wo es zu rechnen galt mit dem, was die Stunde bot. ch bin eine Buona— 
colji, jagte fie; wozu die Sflavin vergangener Tage fein! Der heutige Rück— 
fall jei der legte gewejen. Mich joll nichts mehr zu Boden werfen. 

Ihre Miene war fajt hart und ftreng geworden. Sie blidte nad) dem 
Vater hinüber. Ein Sonnenjtrahl umfpielte feine Stirn, wie um ihn wach 
zu füfjen. 

* Warum ihn jchon jegt weden? jagte Fiorita, wir fommen früh genug zum 
Ausſprechen. Und fie zog den Vorhang des Fenſters zu. 

Aber. der Greis hatte genug gejchlafen. Er ſchlug die Augen auf und 
blickte fich befriedigt im Zimmer um. Dann, als er fein Geficht nach dem 
Fenſter wandte, gewahrte er feine Tochter. 

Sie ſenkte die Augenlider. 





232 u Um eine Perle. 





Er winfte. 

Langſam trat fie an fein Bett heran. 

Da er nicht gleich das Wort, das er ihr jagen wollte, fand, beugte fie 
fi über feine Stirne und jegnete fie mit einem Kuß. 

Mein armes Kind! jtotterte der Greis. 

Nichts jet von mir! bat fie, und beide jchwiegen. 

Er reichte ihr die Hand, aber es war jene mörderische Rechte, und Fiorita 
wich ihr aus, indem fie den Fenſtervorhang noch dichter zufammenzog und 
dann, das Bett umjschreitend, an die linke Seite des Vaters trat und ihre Hand 
in feine Linke Tegte. 

Es war ihm nicht entgangen, was fie empfand. Er hielt ihre Feine Hand 
in der feinen und nidte teilnahmsvoll. Armes Kind! wiederholte er mit einem 
ſchweren Seufzer. 

Nichts von mir, mein Vater! widerjprach fie, aber mit bebender Stimme; 
haben wir etwa nicht Grund, zunächjt dem Himmel Danf zu jagen? Hätte 
ich den Tag, wo man Euch zur Richtitätte jchleifte, überleben können? War 
ich nicht Schuld an allem? Ohime! Vielleicht hätte ich ihn überlebt, aber mit 
welchem Rachemahner Hinter mir? Das iſt mir vor wenigen Augenbliden, ala 
ich dort die Stadt Mantua jo jorglos vom Morgenjchlummer erwachen jah, erit 
deutlich zum Bewußtjein gefommen. 

Schredlich! entjeglich! wehrte der Alte mit erhobener Rechten ab. 

Wer weiß. 

Nicht Solche Phantome heraufbeſchwören, Kind! 

That ich's? Ihr jammertet um mich, Vater. Deshalb rief ich Euch ins 
Gedächtnis zurüd, daß wir dem Himmel vor allem Dank jchuldig find! Wer: 
gefjen wir doch alles übrige. Jubeln wir! Freuen wir uns! 

Der Alte blickte ſcheu nach der Seite Fioritad. Deine cherne Miene, 
jagte er, läßt mich ja nicht zum Freuen und Danfen kommen. 

Verzeiht fie mir, Water, verjegte Fiorita, ohne die Strenge ihrer Züge 
verjcheuchen zu fünnen; es ift ein bittres Ding um ein jo bejondres Wieder: 
jehen, um ein fo tieftrauriges Wiederſehen; ich möchte mich Eurer Rettung 
freuen, Vater, aber c8 geht nicht, mein Herz ift wie verborrt; ich denfe unab— 
läjfig an das, was die nächſten Stunden an neuen Prüfungen über ung ver: 
hängen werden. 

Aber ich bin ja frei, Kind! rief der Greis; du ſiehſt mich im Geifte immer 
noch im Kerker; dank dem treuen Primaticcio hat der Herzog das blutige Ur- 
teil ja zerriſſen — 

Um heute noch, verlaßt Euch darauf, ein neues zu unterzeichnen. 

Wenn was geichieht? 

Wenn ich nicht als Büßerin jene ſchmachvolle Abjage wiederhole. 

Welche Abjage? 


Um eine Perle. 233 


Und ich werde fie nicht wiederholen, nun Ihr aus den Klauen des Her: 
3098 heraus feid, mun ich mit der Waffe in der Hand hier für Euch eintreten 
fann, Bater, num werde ich fie nicht wiederholen, dieſe Lüge, das jchwöre ich 
bier; mag man mic) niederjchlagen, mehr al3 mein Leben für Euch hinzugeben, 
vermag ich nicht. 

Was ift über mein fanftes Kind gelommen? rief der Greis und zog Fio- 
ritas Hand angjtvoll an jeine Lippen. 

Fiorita machte fich los. 

Gott! Gott! rief fie; ich war fo demütig, jo ruhig, jo gefaßt getworden! 
Die ganze Nacht Habe ich fo feſt wie in meiner Kindheit gejchlafen. Ich glaubte, 
die himmlische Güte müſſe, müfje Einfpruch erheben gegen die Schredniffe, mit 
denen die argen Menjchen mich auch jelbft noch in meiner Gebrochenheit be- 
drohten! Aber nein, nun man Euch herausgegeben hat, Vater, verflüchtigt fich 
das nebelhafte Hirngejpinnft, mit dem ich mir die harte Wirklichkeit verjchleiert 
hatte. Hier ift der gefangen geiwvejene Feind des graufamen Francesco; man 
wird das verjprochene Löfegeld, verlaßt Eud) darauf, von mir fordern, denn 
man hat der Tochter den Vater Herausgegeben, und man wird in diefem Augen: 
blide fchon das Gerüft zimmern, vor dem fie in Sad und Ajche im Angeficht 
von ganz Mantua geloben joll, nur mit Abjcheu — feiner — als eines böfen 
Bauberer3 gedenken zu wollen — 

Wefien? 

Seiner — Ihr wißt, wen ich meine. 

Sie vermochte fich nicht aufrecht zu Halten. Draußen begann das Jubi— 
liren, von dem die Frühftunden diejes bewegten Tages erfüllt bleiben follten, 
bis um die Mittagsftunde ganz Mantua nur noch ein Bild der Angft und des 
Schredens war. Fiorita lauſchte entjegt. Auf mich wartet Mantua! rief fie, 
und fie ſank ohnmächtig in die Arme der zur Hilfeleijtung herbeigeeilten 
Triaulerin. 


Dierzigftes Kapitel. 


Stunden verftrichen, ehe das Bewußtſein Fioritas zurücklehrte. Was half 
es, daß der Greis bei den legten Worten feiner Tochter ich über die Abjage, 
von ber fie als einer Züge geredet hatte, Far geworden war; daß ihm alles 
wieder aufdämmerte, was Primaticcio ihm gejtern in kurzen Zügen über Ab- 
bondio Buonacolfis Tod, über Beppos Ausſagen, über die dadurch herbeigeführte 
Umftimmung des Herzogs und dejfen Verzicht auf jene vom herzoglichen Ge— 
richt verlangt gewejene Abjage mitgeteilt hatte. Was half es, daß der alte 
Marcello den beiden vajch herbeigerufenen und jegt um Fiorita bemühten Ärzten 
dies alles wicder und wieder erzählte und ihnen immer von neuem fagte, er 


habe folcherart jchon die Mittel in der Hand, fein Töchterchen ar * Stelle 
Grenzboten III. 1886. 


234 Um eine Perle. 











von ihren ſchlimmſten Ängſten zu Furiren — nur einzig erft wieder zum Be- 
wußtſein müſſe man fie bringen. Was half es — die erjchöpfte Natur ließ 
fi) die Zeit, deren fie zu ihrer Erholung bedurfte, nicht unterjchlagen. 

Inzwifchen war die Friaulerin abgerufen worden. Als fie mit ſchwerem 
Herzen hinabjtieg — denn Beppo hatte ja nur auf Eufemias Betreiben fich zu 
der Anklage Giuſeppe Gonzagas als eines Verſchwörers verjtanden, und 
wie konnte ihre Herrin ihr das jemals verzeihen! — da hörte fie die ſchnar— 
rende Stimme des Paduaners, wie er in der Hausflur dem alten Lazzaro Dinge 
erzählte, über welche diefer nicht müde wurde fich in Ausrufen der Verwun— 
derung Luft zu machen. 

Come mai! Pape! Per Bacco! Oh! eh! fo klang es in einem fort, und 
die Friaulerin jputete ich, um jo wichtige und umnterhaltende Neuigkeiten auch 
ſelbſt möglichit rajch zu vernehmen, nachdem fie, wie ſich's gehörte, den beiden 
Männern über ihr lautes Gebahren den Text gelejen haben würde. 

Wie eine Wachtel, jo hurtig lief fie die Hausflur entlang, an deren Ende 
die Duelle diefer Wunderdinge jprubdelte; aber dann jchob fie Lazzaro ohne 
Umftände auf die Seite. Welche Unziemlichkeiten! rief fie, was foll das 
Pape- und Per Bacco-Schreien? Man ift hier nicht in der Schenfe, Signor 
Gridatore! Oben, wandte fie fich zu Beppo, liegt mein Fräulein in Ohnmacht 
oder im Starrframpf, oder Gott weiß worin! Hier ift mein Zimmer, Signor 
Beppo, Habt Ihr etwas auszurichten, fo wählt Euch dafür einen fchidlichen 
Ort. Und Ihr, wandte fie fich wieder zu Lazzaro, bedenkt, daß Euer Herr, 
Iddio sia lodato! nicht mehr der Koftgänger des Herzogs iſt. Wo bleibt 
Signor Marcellog Morgenimbig? Tummelt Euch! Und auch die beiden Dok— 
toren figen nicht um Chrifti willen oben. Wenn Ihr fie verdurſten laßt, 
bringen fie unfer Fräulein in Jahr und Tag nicht wieder auf die Beine. 
Avanti! Fa d’uopo! Fa di mestieri! 

Ohne auf Lazzaros Einwände zu hören, fpedirte fie den Diener Ginfeppes 
in ihr Zimmer und folgte ihm, indem fie ihm in ihrer wortreichen Weije auch die 
von ihm begangene Schwaßhaftigfeit, als eines getreuen Dieners nicht würdig, ver- 
wies. Aber fo feid Ihr, Signor Beppo, rief fie, alles müßt Ihr an die große 
Glocke hängen; warum, wozu? Ich frage: warum, wozu? Weil Ihr ein leckes 
Faß feid, Ihr könnt eben nichts bei Euch behalten. Oder habt Ihr mir geftern 
mit Euerm Gerede von der Verſchwörung Euerd armen Herrn etwa einen Ge— 
fallen zır erweifen gemeint? Misera me! Seht kann ich die Suppe, die Ihr 
mir einbrodtet, ausejjen. Warum mußtet Ihr Euerm armen Heren noch im 
Grabe jo etwas nachreden? Hat unfer gnädiges Fräulein nicht ſchon Kummer 
genug? Und wie ftehe ich da, fagt mir, wie ftehe ich da? Haarflein hat 
Signor Primaticcio unferm gnädigen Herrn gejtern Abend alles hinterbracht, 
und unfer gnädiger Herr hat es fveben wieder haarflein den beiden Pillen- 
lateinern da oben erzählt, und fchlägt unfer Fräulein die Augen auf, jo wird 


Um eine Perle. 235 
fie hören, daß ich ohne ihren Urlaub Euch aufs Gericht gefolgt bin, wie Ihr 
Euern guten, beflagenswerten, ritterlichen Herrn — denn das war er, leugnet 
e3, wenn Ihr's könnt, er war fein Filz, er war ein Baum, den man nur zu 
Ichütteln brauchte — wie Ihr alfo einen jolchen trefflichen Herrn aus freien Stüden 
als Verichwörer denunzirt habt, ohne daß ich ihm rechtfertigen konnte — wird 
mein gnädiges Fräulein mir das jemal® vergeben? Mai! Nie und nimmer! 

Vom vielen Reden atemlos, ließ fie fich auf die Fenſterbank nieder. 

Ihr jeid des Teufels! rief der Paduaner, als er endlich zu Worte kam; 
Ihr wäret mir gefolgt? 

Dleibt mir mit Euern Spibfindigfeiten vom Leibe. Mußte ich nicht etwa 
mit aufs Gericht? 

Sicuro! 

Nun alfo? 

Aber wer zwang mich, mit Euch zu dem Nechtsbeiftande Euers gnädigen 
Herrn zu gehen? Habt Ihr nicht hier am Fenſter bei Euerm Eichfäßchen ge— 
ftanden, als ich Euch fragte: Was foll ich dort? 

Zuletzt hätte ih Euch wohl noch erſt um Erlaubnis bitten follen, ob ich 
in Eurer Gegenwart mein Eichfätchen füttern dürfe! 

Poſſen! Und habt Ihr mir wohl nicht über den Rüden kurzweg geant— 
wortet, ich jolle ihm alles wiederholen, was ich Euch gejagt Hatte? 

Natürlich! Warum nicht über meinen Nücden? Capperi! Mein Rüden 
ift nicht fchlechter al3 meine Vorderſeite. 

Das behauptet ja niemand. Ich rufe Euch nur ins Gedächtnis zurüd, 
wie die Sache zugegangen ift. Denn Ihr felbjt waret «3, die mir fagte: Er- 
zählt das alles dem Signor Primaticcio. 

Nun ich darum wußte, war das meine Pflicht; warum hattet Ihr es nicht 
für Euch behalten! 

Und als ich mich weigerte, habt Ihr mich gar einen Elenden gejcholten 
und einen Hajenfuß und einen unverbefferlichen Säu— 

Nein nein, fiel ihm Eufemia ins Wort, das Wort nahın ich zurüd. Über: 
haupt, was ftreiten wir uns? Kommt etwas dabei heraus? Ihr jeid der Mann, 
an Euch war es, nachzudenken, an Euch war es, mir zu jagen: Miſchen wır 
ung nicht in Dinge, die uns nichts angehen; warten wir ab, mußtet Ihr mir 
jagen, ob Signor Abbondio nicht irgendivo den Hals bricht — jeßt hat ihn 
die Peit geholt —, und ob der Herzog nicht von jelbft andern Sinnes wird, 
wie er es ja wirklich jeßt geworden ift. Aber — aber — genug, Signor Beppo, 
Ihr waret nicht gefcheidter als ich; nun, ich habe als Frauenzimmer das Recht, 
zuweilen kopflos zu fein; Ihr jedoch, als Mann, Ihr jolltet — basta! Warum 
jegt Ihr Euch nicht? Und was war denn vorhin jo Wichtiges zu erzählen? 
Der alte Topfguder, unfer Lazzaro, geberdete fich ja wie ein beſchenktes Kind! 
Sept Euch! 


236 Um eine Perle. 





Ih kann weder fißen noch liegen, antwortete Beppo, indem er Gefichter 
ichnitt; jet Heißt e8, foll die grüne Kammer für immer zugejperrt fein; ich fei 
darin der letzte Gaft geweſen. Ein geringer Troſt. Ich hätte jedem andern 
diefe Auszeichnung gegönnt. 

Erinnert mich beim Weggehen, daß ich Euch eine Büchje voll Balfamfalbe 
mitgebe, jagte Eufemia in teilnehmendem Tone; aber jet nur endlich heraus 
mit Euern Nenigfeiten! Ich bin fonft nicht neugierig; meine Gnädige könnte 
alle Tafchen voll Liebesbriefe haben, es käme mir nie in den Sinn, hinein- 
zuguden, felbjt wenn ich gejchriebene Schrift lefen könnte. Aber wir verjchwagen , 
hier die Zeit und ich fann jeden Augenblick abgeflingelt werden. Aljo Ihr 
famt, um mir etwas mitzuteilen? Nun, was war es? Sch ſchweige ja. Redet. 
In der grünen Kammer hat doch hoffentlich nicht auch Eure Zunge Schaden 
genommen. Ahi! Da Elingelts jchon! Nun, per l’amor di Dio, was gabs 
denn neues? rief fie und fprang von ihrem Site auf. 

Beppo zog einen der braunen Tapetenjtreifen aus der Brufitafche: Mein 
Herr ift noch am Leben, jagte er. 

Die Friaulerin riß die Augen weit auf: Signor Giufeppe? 

Signor Giufeppe Gonzaga! 

Unmöglih! Er war ja tot, maufetot! rief fie. 

Hier Hat es gejtanden, fagte Beppo, und überlich ihr das Beweisſtück, 
jegt iſt's verwiſcht. Wäre ich nicht Paduaner, fo hätte ich jo wenig wie Die 
meilten andern auf die Tauben Acht gegeben, die mit diefen Feen ängſtlich 
umberflatterten. Nun, Ihr als Friaulerin habt wohl auch einmal von dem 
Paduaner Taubenfejt reden hören. Wir feiern e8 zur Erinnerung an die Tauben, 
welche dem berühinten Francesco Novello, als er mit feiner braven Friauler 
Mannfchaft die feite Stadt Padua belagerte, auf einem ſolchen Lederjtreifen die 
Nachricht brachte, eine der Thorwachen ſei bereit, ihn nachts im die Feſtung 
einzulafjen, er möge nur getroft die Brenta durchichwimmen. Das hat er ja 
dann auch gethan, und dadurch ift Padua befanntlich die verhaßten Viscontis 
losgeworden. 

Die Friaulerin hatte den Tapetenjtreifen wortlos angeftarrt. 

Mein Gott, mein Gott! rief fie, aber da beginnt ja alles wieder von 
vorn! 

Freilich, fagte Beppo, und um Eure Meinung über die Sache zu hören, 
fam ich hierher. 

Sch hätte eher für möglich gehalten, daß der Mincio rückwärts flöffe! 

Wie mir erft zumute ift, Fönnt Ihr denken. 

Weil Ihr jo Schmähliches über Euern Herrn ausfagtet! O Signor Beppo, 
jegt werdet Ihr jelbjt mir wohl Recht geben. 

Der Paduaner hütete fich, von neuem gegen den Gedanfenwirrwarr Eus 
femias zu Felde zu ziehen. 


Um eine Perle. 237 


Ich bin auf dem Wege hierher dem Beichtvater Euers Fräuleins begegnet, 
jagte er, und habe ihm — 

Doch nicht auch Schon wieder alles ausgefchwagt? Affe! Ich jagte ja, 
Ihr feid wie ein leckes Faß. Geht! Was braucht Ihr da noch Rat von mir 
zu holen! 

Ihr habt Recht, jagte Beppo, denn im Grunde wußte ich fchen, was ich 
zu thun Hatte. 

Er griff nad) feinem Hut, 

Es flingelte von neuem. 

Wir treiben’3 beide wie die Kinder! rief fie, und nahm ihm feinen Hut 
aus der Hand; und vor allem Ihr, Signor Beppo. Kann ich in folchem Bu: 
ftande mich vor meinem Fräulein jehen laffen? Fühlt einmal her, wie mein 
Herz pocht! Mich mit einer folchen Nachricht wie ein Platzregen zu überfallen 
und mid) dann allein zu laffen, Signor Beppo! Habt Ihr's gefühlt? Und 
da greift Ihr nach Euerm Hute, al3 wäre ich ein Brücenheiliger von Stein, 
was weiß ich! 

Madonna Eufemia, fagte der Paduaner, nachdem er fich von dem heftigen 
Pochen ihres Herzens im bejcheidner Weije überzeugt hatte, wenn ich gejagt 
habe, ich wiffe ſchon, was mir zu thun obliege, jo verübelt mir das nicht; ich 
wollte mich damit keineswegs überheben. Höret jest in Ruhe zu. So jteht 
die Sache. Zunächſt: mag ich ſchwatzhaft fein oder nicht — die Nachricht, daß 
Signor Giufeppe lebe, und zwar, wie e8 auf einem der Lederjtreifen hieß, in 
der Gefangenschaft des Herzogs lebe, ift wie ein Lauffeuer allerorten hin— 
gedrungen; daß ich auch mit dem ehrwürbigen Pater Vigilio davon ſprach, hatte 
alfo durchaus nicht? auf ſich. Betrachten wir num meine Lage. Auf Euer 
Betreiben, oder gut: aus eigner Schwaßhaftigkeit habe ich dem Signor Prima- 
ticeio und hernach auch noch dem Herzoglichen Gericht verraten, daß mein Herr 
ein Verſchwörer ift. Kann ich jet etwasSchidlicheres thun, als zu verſchwinden? 

Aus Mantua? 

Nur aus Mantua. Verſteht fih. Vom Erdboden zu verſchwinden, ift 
noch nicht meine Abficht. 

Aber Euer armer Signor Giuſeppe! 

Kann ich dafür, daß er nicht auf meine Abmahnungen hörte? Erinnert 
Euch, wie glatt alles in Verona ablief! Da Hatte er mir die Zügel in die 
Hand gegeben. Hier in Mantua dagegen meinte er plöglich mit dem Kopfe 
die Wand einrennen zu können. Hat er Euch nicht mit dem blanfen Degen in 
der Hand gezwungen, ihn zu Euerm Fräulein, ich weiß nicht, wie viele Hundert 
Stufen, treppauf voranzuleuchten? 

Mir beben noch die Kniee, beftätigte Eufemia. 

Aber davon abgejehen, fuhr Beppo fort, was kann ich für ihn thun? Wo 
halten fie ihm verſteckt? Kein Menſch weiß es. Gelänge mir’3 aber auch, feinen 


238 £iteratur, 





Aufenthalt zu ermitteln, wie füme ich dann in feinen Kerfer hinein? Und ge- 
jet den all, ich käme zu ihm Hinein, wie füme er mit mir wieder heraus? 
Würde man uns herauslaſſen? Gutwillig? Ohne daß wir den oder die Ge- 
fängniswärter zuvor bejtochen hätten? Und wiederum: gejet den Fall, wir 
hätten dazu das nötige Gold im Sad — wir haben’3 nicht, aber ich ſetze den 
Fall, wir hätten’s, und man wollte uns entwifchen lajjen, wäre mein armer 
Herr, ein halb oder dreiviertel totgeftochener Mann, dann imftande, mit mir 
Reißaus zu nehmen? Mai! 

Ihr habt ja taufendmal Recht, ftimmte Eufemia bei; denn logiſche Schluß: 
folgerungen machten fie nach und nach immer zu einer rejpeftvollen Hörerin, 
wenn der Schlußfolgerer auch fein Kanzelredner war. 

Ich bin aber nicht nur um meiner ſelbſt willen verpflichtet, Mantua mög: 
Kichit rajch zu räumen, fuhr Beppo fort, auch das Intereſſe meincd armen Herrn 
gebietet mir's. Auf meine gejtrigen Ausjagen Hin wird man ihm vorausfichtlich 
den peinlichen Prozeß machen. Man braucht mich alfo, um ihn zu überführen. 
Bin ich nicht da, jo find meine Ausfagen, wie meine Eminenz ſich ausdrüden 
witrde, nur noch bloße Protofollausjagen. Die fann ich von Verona aus, als 
mir durch die Folter ausgepreßt, widerrufen. Kann ich das hier, wo der Schlüffel 
zur grünen Sammer vermutlich noch im Schlüffelloche ſteckt? 

Wie Ihr alles klar durchdacht Habt! ftinunte die Friaulerin mit immer un: 
verhohlener bewundernder Miene abermals bei. 

Es Elingelte zum dritten male. 

Sch gehe, Inge fie und gab ihm feinen Hut zurüd; Gott geleite Euch, 
Signor Beppo. Berzeiht mir meine rajche Zunge. Mein Herz iſt nicht böfe. 

Sie wollte fich entfernen, mußte aber, als e3 zum gegenfeitigen Hinaus— 
fomplimentiren fam, dem Paduaner doch noch die Freiheit geftatten, daß er einen 
Kuß auf ihre Hand drüdte, wobei fie jedoch erflärte, diejelbe fei fiir dergleichen 
viel zu rauh und abgearbeitet, was dann — er war immer logisch — wiederum 
die Folge Hatte, daß er ihr einen Kuß auf den Mund gab. 

Darüber jchellte e8 an dem Pförtchen. R 

Sie lief beihämt treppauf und überlieg das Offnen dem Paduaner, der 
nun, nachdem er vorfichtig durch das Guckloch geblidt und den Pater Bigilio, 
aljo einen vertrauenswürdigen Mitwiffer, erfannt hatte, das Pförtchen dem geijt- 
lichen Herrn mit einem ehrerbietigen Verneigen aufthat. 

Du wirft in ganz Mantua gejucht, jagte der Ießtere, und wollte noch Dies 
und das in feiner langjamen Weiſe Hinzufegen, aber Beppo bedauerte, große 
Eile zu haben, und war im nächiten Augenblide entfchlüpft. 

(Fortjepung folgt.) 








Siteratur. 


Die geltenden Berjaffungsgefege der evangelifch deutſchen Landeskirchen. 

Herausgegeben und gefhichtlich eingeleitet von Dr. Emil Friedberg, Königl. Sädjj. Geh. 

Hofrat und Profeſſor an der Univerfität Leipzig. Freiburg i. Br., Alademiiche Verlagsbuch— 
handlung von J. C. B. Mohr (Paul Sibed), 1885. 

In einem höchft ftattlichen Bande von XXXVI und 1186 Seiten, welcher glüd- 

licherweiſe fo eingerichtet ift, daß er aud in zwei Abteilungen gebunden werden 

fann, bat der befannte Kirchenrechtslehrer Dr. Friedberg die geltenden Rechtsſätze 


£iteratur, 239 
der evangelifchen Landeskirchen Deutfchlands zufammengeftellt. Denn da die „allges 
meine beutfche evangelifche Kirche,“ von welcher einzelne neuere Verfaſſungsgeſetze 
reden, lediglich ein abftrafter Begriff ift, jo mußten die Gefeße der einzelnen Landes— 
firhen nad einander Yufnahme finden. Dadurch wurden Uebelftände befeitigt, die 
fi jeither unangenehm fühlbar machten. Nicht nur, daß die geltenden Rechtsſätze 
in den zahlreichen ftaatlihen und kirchlichen Geſetzſammlungen zerftreut find, fondern 
es ift auch infolge der beichleunigten Gefehgebungsarbeit der neuern Zeit bisweilen 
jelbft bei ganz neuen Gefeßen ſchwierig anzugeben, ob ein Geſetz noch in Geltung 
ift und keine Abänderung erfahren hat. 

Die neue Sammlung Friedbergd giebt den gefamten Stoff des jetzt geltenden 
Verfaſſungsrechtes aller deutjchen Landeskirchen. Es ift ein nicht zu unterſchätzendes 
Berdienft Friedbergs, daß er zum erftenmale den weitfchichtigen Stoff vollftändig 
zufammengeftellt Hat. Der große Umfang der Sammlung kann nicht überrafchen, 
wenn man weiß, daß allein im preußifchen Staate fieben, in Baiern zivei und in 
Oldenburg drei Kirchenverfaffungen neben einander bejtehen, und daß in der freien 
Stadt Bremen die einzelnen Gemeinden ihre kirchlichen Ordnungen für fi) haben, 
fodaß in Bremen fogar zehn Kirhenordnungen in Geltung find. Befonderd dankens— 
wert ift die Bufage des Herausgebers, daß er fein Buch von Zeit zu Beit durd) 
Nachträge ergänzen will. Das erfte Ergänzungsheft wird das kurheſſiſche Geſetz, 
in welches in jüngfter Beit beraten worden ift, bringen, fobald dasſelbe publizirt 
ein wird. 

Uebrigend enthält auch fchon die vorliegende Geſetzesſammlung eine wertvolle 
Beigabe. Der Herausgeber Hat für jeden deutſchen Staat eine gejhichtlihe Ent- 
widlung feiner evangelifchen Kirchenverfafjung gegeben, die regelmäßig biß zu dem 
Beitpuntte fortgeführt ift, wo die jetzt geltende Gefeßgebung einfeßt. Erſt dadurch, 
daß die Geſetze in den geſchichtlichen Zuſammenhang eingereiht werben, ift aud) 
der Nichtfachmann in den Stand gejeht, Geift und Weſen der einzelnen Geſetzes— 
fammlungen zu erfennen. 

Der Verlagsbuchhandlung gebührt befondrer Dank für die trefflihe Ausstattung 
des Werkes. 

















Zur Beleudtung des Stöder-Mythus. Ein freies Wort von Dr. theol. M. Schwalb. 
Berlin, Walther und Apolant, 1885. 

Es ift gerade jet eine mißlihe Sade, für Stöder einzutreten. Jeder Ein- 
fiht3volle muß zugeben, daß die Art und Weife, wie Stöder feinen Standpunft 
geltend gemacht und die Anterefjen desfelben gefördert hat, nicht in allen Stüden den 
Forderungen entſpricht, die man an einen im öffentlichen Leben ftehenden Mann- und 
insbefondre an einen Theologen und Geiftlihen ftelen muß. So wenig wir in 
die wohlfeilen Phrafen einftimmen können, mit denen feine Gegner von ihm als 
„Vertreter hriftliher Demut und Milde“ Duldung Undersgläubiger forderten, da 
es eben Berhältnifje giebt, wo Demut und Milde im Sinne jener gleichbedeutend 
wären mit dem Aufgaben jeglicher perfönlichen Ueberzeugung und der Verpflichtung, 
als Mann diefelbe zu bertreten, jo bleibt doch andrerſeits die Thatſache beftehen, 
daß Stöder in der Wahl feiner Mittel und feiner Helfer nicht mit der nötigen 
Vorſicht verfahren ift. 

Gegenüber diefer durd den letzten Stöder-Prozek mit voller Rlarheit an den 
Tag getretenen Thatfache kommt die Broſchüre von Dr. Schwald in jeder Hinficht 
zu fpät. Handelt e8 fi) darum, Stöder zu disfrebitiren, fo giebt e8 jet gröberes 
Geſchütz, um ſich defjen gegen ihn und feinen Standpunkt zu bedienen. Handelt 


240 £iteratur. 

e3 fi) aber darum, nur den Standpunkt Stöders objektiv zu beleuchten, um ihm 
als Theologen gerecht zu werden ober, wenn nötig, die Unhaltbarfeit der von ihm 
vertretenen theologiſchen Richtung rein theoretiſch nachzuweiſen, fo fehlt es jetzt an 
dem tiefergehenden Intereſſe für das Syſtem der Stöckerſchen Theologie. 

Dr. Schwalb hat aber auch nicht den richtigen Weg eingeſchlagen, um die 
Geſamtanſchauung Stöckers in dogmatiſcher und ethiſcher Hinſicht zum Zwecke einer 
Kritik derſelben nachzuweiſen. Er legt die unter dem Titel „Chriſtlich-Sozial“ zu 
einem Buche vereinigten „Reden und Aufſätze“ zu grunde, welche Stöcker ſelbſt 
unter folgende vier Rubriken verteilt hat: 1. Reden in chriſtlich-ſozialen Ver— 
ſammlungen Berlins; 2. Zur Judenfrage; 3. Vorträge religiöſer, politiſcher und 
ſozialer Natur in deutſchen Städten; 4. Aufſätze über die kirchliche Lage. Schwalbs 
Abſicht iſt, in dieſen Reden „in betreff ſeiner Gedanken und Beſtrebungen, auch 
ſeines Charakters, ſoweit er zur Selbſtdarſtellung kommt, die Wahrheit zu leſen.“ 
Aber wie kann man aus den gelegentlichen Bemerkungen in Gelegenheitsreden, ja 
ſogar daraus, daß in dieſen Reden manches auch nicht geſagt iſt, ein Syſtem 
Stöckerſcher Dogmatik zuſammenſtellen und dieſe Zuſammenſtellung vom Standpunkte 
ſeiner Anſchauungen aus einer Kritik unterziehen! Wie unbillig dies iſt, läßt ſich 
ſchon aus den Bemerkungen erkennen, mit denen Schwalb die Vorführung ſeiner 
Dispofition, die ſich nach dem Schema unſrer Dogmatifer richtet, begleitet hat: „Fünf 
Hauptſtücke ſinds, die Herr Stöcker in neunundvierzig uns vorliegenden Reden und 
Aufſätzen behandelt: 1. die Bibel, 2. Gott, 3. der Menſch, 4. »König und Vater— 
land«, 5. die Reform der Kirche. Und gewiß, wenn es ihm darum zu thun geweſen 
wäre, die auf dieſe Gegenſtände bezüglichen Teile ſeines Buches logiſch zu ordnen, 
jo hätte er fie in dieſer Ordnung uns geboten. Doch was er nicht gethan 
hat, noch zu thun brauchte, das dürfen wir uns erlauben.” Dazu kommt ein 
zweites. Auch die Ausgangdpunfte beider Theologen find völlig verſchieden. Bur 
AJudenfreundichaft Schwalbs kommt noch fein protejtantenvereinliher Standpunkt. 
Indem Schwalb feinem Gegner Widerſprüche oder Unrichtigkeiten nachzuweiſen 
ſucht, richtet er bisweilen ebenfofehr den Standpunkt und die Anfchauungen 
jedweder pofitiven, offenbarungsgläubigen Theologie. Mag nun Stöder diejen 
letztern Standpunft mehr oder weniger fonjequent vertreten, immerhin giebt es für 
beide feine Berftändigung, ebenfowenig wie einft zwiſchen Cajetan und Luther, die 
auch von verſchiednen Vorausfeßungen außgingen. 


Erklärung. Der im 11. Hefte vom 12. März d. %. gebrachte Artikel: „Wie 
man- Reklame macht“ hat mir, als dem Herausgeber und Verleger der Grenzboten, 
eine Beleidigungsffage des Herrn Profefjor Dr. Beyer in Stuttgart zugezogen. Zur 
Beilegung der Sache erkläre ich hiermit, daß ich mit diefem Artifel die perfönliche 
Ehre des Herren Profeffor Beyer nicht habe verlegen wollen, und daß ich Die 
Aeußerungen in dem betreffenden Urtifel, jomweit damit dem Unfläger zu nahe getreten 
wird, zurüdnehme, auc die Koften zu tragen mich verpflichte. 

Sch kann diefe Erklärung, welche ſelbſtverſtändlich das Sachliche des Artikels 
nicht berührt, umfo unbedenklidher abgeben, als der Artikel in diefer Fafjung nur 
durch einen Zufall und gegen meine Abfiht Aufnahme gefunden hat. 


Johannes Grunow. 


Für die Redaktion verantwortlig: Johannes Grunom in Leipzig. 
Verlag von Fr. Wild. Grunow in Leipzig — Drud von Carl Marquart in Leipzig. 





Rechtspolitiſche Streifzüge. 


a; en es zu den Aufgaben einer Wochenjchrift gehört, hervorragende 


| Tagesereignifje von einem allgemeinen Gefichtspunfte aus zu be- 
V trachten, ſo wird dieſe Aufgabe gewiß umſo dankbarer, wenn ein 
At y gewifjer Zeitablauf eingetreten ift und erivartet werden kann, daß 
EN die jozujagen philojophifche Betrachtung nicht mehr derart unter 
der Einwirfung diejes Ereigniffes fteht, um dadurch in ihrer Objektivität beein- 
flußt zu werden. 

Zu den hervorragenden Tagesereigniffen der legten Wochen wird man die 
Prozefje des Berliner Hofpredigers Stöder rechnen dürfen. Der politifche 
Kampf, im welchen derjelbe jeit Jahren gerade mit der Richtung getreten ift, 
welche fich ſeit Jahrzehnten in dem Befite der politischen Herrichaft Berlins 
befand, ift auf beiden Seiten mit jo vieler Leidenjchaftlichkeit und Erbitte- 
rung gelämpft worden, daß der Streit nicht anders im Gerichtsjaal als in 
der BVolfsverjammlung geführt wurde Nun ift e8 gewiß das Verfchrtefte, 
einen politischen Streit, einen Kampf um Ideen vor Gericht ausfechten und 
etwa annehmen zu wollen, daß das Urteil des Gerichtes berufen ſei, dieſen 
Streit zu jchlichten. Was hier allein entjchieden werden fann, iſt das, ob die 
Gegner in ihrer gegenfeitigen Befehdung diejenigen Grenzen eingehalten haben, 
welche die Rechtsordnung in Staat und Gejellichaft dem Einzelnen um des 
allgemeinen Frieden? und Zufammenlebens willen auferlegen muß. Man iſt 
aber vielfach im Publitum der Meinung, daß die Nechtiprechung eine an fich 
formelle Tätigkeit jei und daß es deshalb nur der Anwendung bejtimmter und 
anfechtungslos feititehender Sätze bedürfe, um jene Grenzpunfte zu bejtimmen. 
Da jchien man plöglich zu entdeden — und dieſe Entdedung iſt umſo merf- 

Grenzboten III. 1885. 31 





242 Rechtspolitiſche Streifzüge. 


windiger, als wir bereits feit vielen Jahren umter derfelben Rechtsanſchauung 
feben —, daß dieje Geſetze in fich nicht fo feſt beftimmt ſeien, ſondern daß noch 
eine große Freiheit für das ſubjeltive Ermefjen des Richters in der Beurteilung 
der Thatjachen übrigbleibe. Nun it es das Eigentümliche eines jeden gericht: 
lichen Verfahrens — auch im Strafprozeffe —, daß er beide ftreitenden Teile 
nie befriedigt, und jo fam es, daß, ald man die Entdedung zu machen glaubte, 
wie das Urteil in den Stöderprozefjen hauptſächlich auf dem freien richterlichen 
Ermefjen beruhe, man von Willkür der Entjcheidung zu reden anfing und für 
das eigne Ermeffen diefelbe Wertſchätzung forderte wie fiir dasjenige des Richters. 
Auch in den vorliegenden Prozeſſen haben die beteiligten politischen Parteien 
das Urteil des Gericht? als folches nicht anerkannt. Die Gegner Stöders 
haben aus demjelben Folgerungen gezogen, welche das Gericht nicht ausge— 
iprochen hat, und die Anhänger haben das Urteil einer Kritik unterzogen, Die 
fih nicht bloß am die juristische Seite wendete,*) jondern die Unparteilichfeit des 
Spruches jelbit in Zweifel zog. Wenn in einem großen politischen Tagesblatte 
u. a. dem einen chriftlichen Richter die Frage vorgelegt wird, ob er ald Sohn 
eines Juden die Mitwirkung in dem Prozeffe nicht lieber hätte ablehnen jollen, 
jo heit dies nichts andres, als daß diefer Nichter wegen feiner Abitammung 
in der öffentlichen Meinung als nicht unbefangen bezeichnet wird. 

Ein folcher Übergriff der Kritik ift zu beffagen, ja von dem bejonnenen 
fonjervativen Standpunkte aus, den der Verfaſſer diefer Zeilen, außerhalb der 
politischen Parteien jtehend, vertritt, energijch zu befämpfen. Denn mögen auch 
die Geſetze ſelbſt anfechtbar fein — und wie weit dies der Fall ift, ſoll noch 
Gegenſtand diejer Erörterung werden —, jo beruht doch unjre ganze Rechts— 
ordnung, joweit nicht die formell vorhandnen Vorausſetzungen vorliegen, 
darauf, in dem Nichterfpruche die Hußerung eines unparteiiichen Staatsorgans 
zu jehen, der fich der Einzelne wie die Partei ohne Murren auch dann zu 
fügen hat, wenn die Sentenz dem eignen Interefje jchroff widerfpricht. 

Das Urteil begründet Recht, und wie jedermann auch dem Geſetze gehorjam 
jein muß, welches cr für jchlecht erachtet, jo muß er auch der ihm gejeßten 
Obrigkeit dann jich fügen, wenn dieſelbe innerhalb ihrer verfaffungsmäßigen 
Grenzen über ihn ein Übel verhängt, Man fann ein Urteil mit wiſſenſchaft— 
lichen Gründen befämpfen, man fann gegen dasjelbe die gegebnen Rechtsmittel 
ergreifen — und nach beiden Richtungen geht man in unferm Vaterlande viel- 
fach zu weit —, aber man darf ohne die gejeglich gegebnen Grundlagen den 


*) Dies ift allein in dem Aufjage der „Grenzboten“ Nr. 27, „Das richterliche Urteil 
und die Phraſe“ gefchehen. Diefen Ausführungen, denen jeder ſchon beim erjten Blick die 
Sadfunde und Objektivität anmerft, ftimmen wir aus voller Überzeugung zu, ja wir glauben 
und hoffen, dab unſre Erörterungen eine Ergänzung jenes Wuffaßes bilden. Denn wie diefer 
ſich an die formelle Seite jenes Urteils wendet, fo haben wir unjre Betrachtungen auf das 
Materielle der Frage gerichtet. 


Rechtspolitifche Streifzüge. 243 











Nichterfpruch nicht als befangen oder parteiifch hinftellen, ſonſt thut man die 
Arbeit der Anarchiften. Da diejes in konſervativen Blättern gejchieht, iſt umſo 
bedauerlicher, als fie beſonders berufen find, gegen die alles zerfreffenden Ele- 
mente des modernen Lebens die Autorität und das Anjehen der Staatsorgane 
zu jchügen, und als bei dem wechjelnden Laufe der politifchen Dinge morgen 
Ambos fein kann, wer heute Hammer ift. Wer erinnert fich nicht noch jener 
Flut von Schmähungen, die in den fortjchrittlichen Blättern auf den frühern 
höchſten preußischen Gerichtshof gehäuft wurden, der im feinem richterlichen 
Urteile über die Nedefreiheit der Abgeordneten eine andre Meinung aufgeftellt 
hatte, als jie bisher üblich war? Wenn damals mit Recht von Fonjervativer 
Seite geltend gemacht wurde, daß Schmähungen gegen Richterfprüche den Staat 
untergraben, fo jollte man dieſen wichtigen Sag nad) zwanzig Jahren noch nicht 
vergefjen haben und den Ruhm, die Säulen der jtaatlichen Autorität zu er: 
Ihüttern, lieber neidloS den Gegnern überlaffen. 

Ein ganz andres ijt ed, ob man aus einem Urteile nicht Lehren für die 
Geſetzgebung ziehen joll, und in diefer Beziehung ereignet es fich nicht jelten, 
daß Fehler der Geſetze, welche von den Einfichtigeren Schon jeit längerer Zeit 
beobachtet worden find, durch einen jogenannten eflatanten Fall aufgededt und 
jelbjt für die Augen der Menge erfennbar werden. 

Solche Fehler find auch nach unſrer Meinung in dem Prozeffe Stöder 
zutage getreten. 

Das Anfehen der richterlichen Urteile als der Grundlagen der Staats: 
ordnung — fundamentum regnorum — it nur dann und aus dem Grunde 
gerechtfertigt, wenn und weil von unbeeinflußten und jachkundigen Männern 
nach bejtimmten, ein für allemal gegebnen und für alle gleich geltenden Regeln 
ein Nechtsjtreit entichieden wird. E3 fragt fich, ob diefe Bedingungen noch für 
die Gegenwart zutreffen. 

Seit Montesquien in falſch veritandner Auffaffung engliicher Verfaſſungs— 
zuftände die Trennung der fogenannten drei Gewalten als das Erfordernis 
bürgerlicher Freiheit aufftellte, hat man die richterliche Unparteilichfeit lediglich 
gegen den Drud von oben zu ſchützen gejucht. Das Verbot der Kabinetsjuſtiz, 
die Unabjegbarkeit und die Unzuläffigkeit unfreiwilliger Verſetzung der Richter 
find in den Staatöverfaffungen der deutjchen Bundesjtaaten gewährleiftet. Das 
gleihmäßige Aufrüden in den Gehaltsftufen nach der Anciennetät, der Rechtsweg 
zur Erlangung diejes Gehaltes, die Gleichjtellung der Richter der verjchiednen 
Inſtanzen an Rang und Einfommen, die Verteilung der Gejchäfte unter die 
einzelnen Nichter durch einen gerichtlichen Ausschuß — alles diejes find weitere 
Epochen in der Entwidlung der richterlichen Unabhängigkeit gegenüber dem 
Einfluß der Juftizverwaltung. In diefen Beftrebungen iſt man joweit gegangen, 
daß man amjcheinend garnicht erwogen hat, ob nicht dem Richter auch von 
unten her ein Einfluß drohe Während des abjoluten Staates glaubte man 


244 Rechtspolitiſche Streifzüge. 








durch Beitimmungen über die Beftechung das Genügende vorgejehen zu haben. 
Dieſe Borjchriften find Gott jei Dank unangewendet geblieben, denn gegen Ein: 
flüffe dieſer Art bedarf es bei dem deutjchen Richterjtande feines Schutzes; da— 
gegen ift er dem politischen Parteibeitrebungen völlig preisgegeben. Je mehr 
man der oberjten Suftizverwaltung die Möglichkeit entzogen hat, eine Einwirfung 
auf den Richter zu üben, dejto weniger hat man ihn vor den Parteibejtrebungen 
zu wahren gejucht. Dies ijt im großen und ganzen, wenn es fich um einen 
Privatſtreit zwilchen A und B oder um eine Diebjtahlsanflage gegen E handelt, 
völlig gleichgiltig, Anders aber, wenn es fih um Prozejje handelt, die eine 
politiiche Färbung tragen und die bei einem bewegten VBerfaffungsleben nicht 
ausbleiben können.*) Unfre Richter beteiligen ſich an dem öffentlichen politischen 
Leben wie jeder andre Bürger, fie jchliegen jich offen den bejtehenden Parteien 
an, fie wählen, agitiren und werden gewählt. Es ift nun ganz unmöglich), daf 
die politische Stellung nicht für die Entjcheidung eines politischen Prozeſſes von 
Bedeutung fein jollte, und jo fommt es denn, daß, jo oft ein politischer Prozeß 
von größerm Kaliber zur Eutjcheidung gelangt, die größten Zweifel gegen die 
politische Unparteilichfeit der Richter laut werden. Mit folchen Außerungen 
jollte man fich aber nicht begnügen; im Gegenteil, fie find fchädlich, weil fie 
dem richterlichen Urteil den Kredit auch in demjenigen Streifen entziehen, in 
welchen die Aufvechterhaltung desjelben notwendig ift. Fürſt Bismard hat 
auch Hier wie in jo vielen andern Dingen den richtigen Weg angegeben, indem 
er in dem Berfaffungsentwurfe für den Norddeutichen Bund den Richtern jowie 
allen Beamten die paffive Wählbarfeit entziehen wollte. Allein fein Entwurf 
jcheiterte, weil die Linfe den liberalen Kreisrichter und die Rechte den konſer— 
vativen Landrat nicht opfern wollte. Und doch ift diefer Weg die notwendige 
Ergänzung — wenigitens was den Richter angeht — zu den vorhandnen Vor: 
Ichriften zum Schuge feiner Unparteilichkeit. Dem Richter jollte von Gejeßes: 
wegen unterjagt jein, ich einer Partei anzujchliegen, er dürfte weder altiv 
wahlfähig, noch paſſiv wählbar fein. Wir würden auch gern zugeben, wenn 
man für ihn alle Zitulaturen und Orden verpönte. Erft dann wäre die Kette 
geſchloſſen und alles gejchehen, um auch — joweit Menjchenfräfte es ver: 
mögen — für den Richter in politiichen Prozeſſen feinen Urteilen die echte Un- 
parteilichfeit zu wahren. 

Was die Sachkunde der Richter betrifft, jo haben wir die merkwürdige 
Erjcheinung, daß wir in den jchwierigjten Fällen von einer folchen abjehen. 
Im Strafverfahren wird in den bedeutenditen Sachen gerade die Aburteilung 
Laien übertragen, deren Uualififation in nichts anderm befteht, als daß fie die 








*) Mit Recht zieht der Verfaſſer in Nr. 27 den Fall „Arnim“ zur Analogie heran. 
Bisher ift im Preußen jeder große politiihe Prozeß mit einer Schädigung des rihterlihen 
Anſehens verfnüpft geweſen. 


Redtspolitifche Streifzüge. 245 


Neichsangehörigkeit befigen. Das Widerfinnige diefer im Schwurgericht beſtehenden 
Einrichtung ift jo oft und bejonders auch in diefen Blättern in jo trefflicher 
Weile gejchildert worden, daß wir die Sache hier nur andeuten wollen, um 
nicht Befanntes wiederholen zu müjfen. Wir jehen hier ganz von den wirt: 
ichaftlichen Übeljtänden ab, welche der Gejchwornendienft mit fich bringt. Wir 
wollen nur konftativen, daß auch Hier die Anderungsverfuche, welche der Reichs: 
fanzler vorgeichlagen hat, bisher gejcheitert find. Unjre vorausgehende Be- 
trachtung erhält aber noch ihre bejondre Beleuchtung, wenn uns in den Zeitungen 
gemeldet wird, wie in Baiern Vorfigende des Schwurgerichts fich nicht geicheut 
haben, Anſprachen an die Geſchwornen zu halten und dabei für die unabgeänderte 
Beibehaltung diejes Inſtituts eintreten. Wir glauben nicht, daß dies Verfahren 
mit ihrem Beruf in Einklang fteht, denn der Richter Hat das Geſetz anzınvenden, 
aber nicht für die Gejeßgebung zu agitiren. 

Wir fünnen aber leider nicht leugnen, daß auch beim gelehrten Richter die 
Sachkunde immer mehr verflaht. Unjre Studienordnung und der Plan der 
Univerjitätsvorlefungen ijt teil3 veraltet, teils rein ſchematiſch. Die erjtere 
ſtammt noch aus der Zeit des abjoluten Staates, wo man lediglich nur aus- 
jchließlich Wert auf die Stenntniffe des Privatrecht3 legte; jpäter fing man an, 
auch eine Kenntnis des öffentlichen Nechts, der Vollswirtſchafts- und Finanz- 
wiſſenſchaft für den Suriften fiir erforderlich zu erachten, und fo ift allmählich 
eine Häufung der Materien eingetreten, die in einem dreijährigen Rechtsſtudium 
zu bewältigen geradezu eine Unmöglichkeit if. Dazu kommt, daß der juriftische 
Profefjor in der Regel ſich damit begnügt, jeine Vorlefung jahraus jahrein 
in derjelben Weiſe zu halten, d. H. fie mehr oder weniger aus dem Hefte vor: 
zulejen. Darüber, ob das Vorgetragene verjtanden und gelernt wird, fehlt jede 
Kontrole. Dieje Frage verdient wohl eine gründfiche Erörterung. Hier genüge 
e3, auf diefen Übelftand hingewieſen zu haben. Derfelbe fällt umfomehr ins 
Gewicht, als jeit der neuen Juftizorganijation auch die praktische Ausbildung 
nur eine mangelhafte jein kann. In letzterer Hinficht Hat ſich erjt jüngft der 
frühere Reichsgerichtsrat und Abgeordnete Dr. Bähr in fo fchlagender Weije 
ausgeiprochen, daß wir der fichern Erwartung find, daß jeine Ausführungen 
von dem Neichsjuftizamt und dem preußifchen Juftizminifterium werden in genaue 
Erwägung genommen werden. 

Wir verlangen aber auch) von einem Urteilsfpruche, daß er fich auf feſte 
und jichere Regeln ftüge. Nur dann können wir ficher fein, daß jeder mit 
demjelben Maße gemefjen wird. Wenn mehr als das Geſetz das freie Ermefjen 
des Richters entjcheiden ſoll, dann ift jede Gejeßgebung ein Lurus, und dann 
fümen wir überall mit Schieds- oder Laiengerichten aus. Jede Entjcheidung 
wäre alsdann ein Würfelipiel. Der Ausſpruch des berühmten englijchen Kanzlers 
Baco von Verulam, daß das beite Geſetz dasjenige fei, welches am wenigjten 
Raum giebt für ein Ermefjen des Richters, und der befte Richter derjenige, 











246 Rechtspolitifche Streifzüge. 


der am wenigften jich auf fein Ermeffen ftügt,*) enthält eine Wahrheit, die im 
Laufe der Zeiten immer mehr verloren gegangen ift und für Deutjchland kaum 
noch gekannt ift. 

Unter den Klagen, die zu den Zeiten Friedrich Wilhelms des Erjten und 
Friedrichs des Großen dringend zu gunften einer Juftizreform erhoben wurden, 
gehörte als die vornehmfte die über die Willfür der Gerichte — eine Willkür, 
welche dem Zuſtande der in Geltung befindlichen römischen und gemeinen 
Rechte entiprang. Die preußische Geſetzgebung bemühte ſich, diefe Willfür ein- 
zudämmen und fuchte für jeden Fall eine bejondre Norm aufzuftellen. Die 
Reaktion war vielleicht zu ftark, aber bei einer verftändigen Auslegung befand 
ſich doc, das Volk in dem Befite einer fichern Richtſchnur, nach welcher es jeine 
Handlungen einrichten fonnte. In den Teilen Deutjchlands dagegen, in welchen 
eine Kodififation aus dem Mangel einer ſtarken Staatsgewalt unterblieben war, 
betrachtete man dieſe preußiſche Anſchauung mit feindfeligen Augen und erfreute 
ſich bei diefer Richtung der Unterftügung der Theoretifer, welche ohne ihr rö- 
miſches Recht nicht leben konnten und in diefem die einzige Duelle ihrer Weisheit 
jahen. So fam es denn, daß, als im Jahre 1866 Preußen von Hannover er- 
obert wurde — denu de facto ift der hannoverſche Einfluß in Preußen für die Ge- 
jeßgebung nach der Annerion jahrelang der herrichende gewejen**) —, man fofort 
mit allen bewährten preußijchen Grundgedanfen in der Gejeggebung brach, für 
diejelbe nur ganz allgemeine, in ihrer Diktion äußerlich blendende, aber innerlich 
zweifel- und phrajenhafte Regeln aufftellte, und im einzelnen, d. 5. für Die 
Hauptjache, alles dem richterlichen Ermefjen überlich. Gleich das erjte große 
Geſetzeswerk des neuerftandnen Neiches, das Strafgeſetzbuch, giebt cin Zeugnis 
diefer Richtung. Die allgemeinen Begriffe werden nicht vom Gejeßgeber feſt— 
geftellt, jondern der Wiffenfchaft und Praxis überlafjen, d. h. in jedem einzelnen 
Prozeſſe dem mehr oder minder verftändigen Ermefjen der Urteilsfinder. Manche 
jirafbare Handlungen haben feine geſetzliche Abgrenzung erfahren, und wer z. B. 
nach eignem Ermeffen glaubt, eine Beleidigung nicht verübt zu haben, der wird 
jpäter zu feinem Schaden durd) das richterliche Ermeffen eines andern belehrt. 
Man rechtfertigte diefen Gedanken damit, daß man erflärte, es jei das Geſetzbuch 
auf die Anwendung durch Laienrichter zugefchnitten, denen man in ihrem Urteil 
feine Schranfe auferlegen wollte Mit andern Worten: man jubjtituirte hier 
jogar dem Ermeffen die fchranfenlofe Willfür. Man bemaß ferner die Straf: 
marima und Strafminima in jo weit abjtehenden Zwilchenräumen, daß dem 
Nichter für den einzelnen Fall oft mehr als taufend Straffeitjegungen zur Ver: 
fügung jtehen und daß für die Wahl der einen oder andern Strafe nicht etwa 


*) Optima lex, quae minimum relinquit arbitrio judieis, optimus judex qui mini- 
mum sibi. 

**) Seine Einflüffe find in der S. 245 erwähnten Schrift von Dr. Bähr, auf melde 
twir in einem bejondern Artikel zurüdtommen werden, in helle Beleuchtung geftellt worden. 











Rechtspolitiſche Streifzüge. 247 











feſte Regeln entſcheiden, ſondern freie Erwägung, die bei einem Richter anders 
als bei dem andern ausfallen kann. Die Krönung dieſes Gebäudes iſt durch 
die Straf- und Zivilprozeßordnung erfolgt, und hier umſo bedauerlicher, als 
inſonderheit dem Einzelrichter eine Stellung eingeräumt worden iſt, die nur in 
der des türkiſchen Kadi ein Gleichnis findet. Namentlich hat der Wegfall der 
Berufung das richterliche Urteil der wirkſamſten Kontrole beraubt. Wir haben 
auch hier nicht die Abſicht, alle dieſe Gedanken bis ins einzelne auszuführen, 
ung genügt es, auf dieſe Übeljtände hinzuweiſen und eine Erklärung dafür zu 
geben, warum heutzutage ein Angeflagter jagen fann: „Mein Ermejjen und das 
richterliche find gleichwertig.” Und man wird zugeben müſſen, daß die Berufung 
auf das „Ermeſſen“ noch billiger it, als die auf Gründe, 

Alle die beregten Übelftände find in der Lüneburger Haide oder in Lemgo 
natürlich viel weniger fühlbar als in den großen Verkehrszentren, in den 
Städten, wo fich die politifchen Gegenſätze viel jchärfer zufpigen. Wenn dort 
der Amtsrichter als Patriarch lebt und die Zwiftigfeiten feiner Eingeſeſſenen 
im Frieden jchlichtet, jo wird er feiner Aufgabe viel näher kommen, als wenn 
er Hundert jchöne Urteile fällt und die Gründe mit Gejegesparagraphen jpidt. 
Aber der Prüfjtein guter Gefege und guter Einrichtungen befteht nicht in ihrer 
Wirkſamkeit für Fleine und ftille Verhältniffe, ſondern hauptjächlich darin, daß 
fie auch bei verwickelten Zuständen und im fritijcher Zeit ausreichen. Von den 
Millionen richterlicher Urteile, welche ohne Anſtoß gefprochen werden, ijt nie 
die Rede, wohl aber ift ſchon ein einziges im einer cause célèbre entjtandne 
geeignet, eine ganze Öeneration in Bewegung zu feßen. Eben deshalb follten 
die Geſetzgeber ihre Vorſchriften jo treffen, daß fie nicht in Zeiten der Stürme 
Schiffbruch leiden, jondern fich als feſter Anker erweiſen, den auch anarchijche 
Fluten nicht loszureigen vermögen. 

Man darf etwa nicht glauben, daß heutzutage in der Offentlichkeit ſchon 
eine genügende Kontrofe liege, vielmehr birgt letztere auch die große Gefahr in 
fich, übertrieben zu werden und durch ihre unberufene und unverftändige Ein- 
miſchung mehr noch die Gemüter zu verwirren al3 aufzuklären. Ein befondrer 
Übelftand aber ift e8, daß auch nicht mehr das Privatleben vor der vorlauten 
Indisfretion der Preſſe ficher ift, und daß, wer irgendwie eine Stellung im 
politischen Leben einnimmt, feine Privatverhältniffe der Öffentlichkeit durch die 
Tagesprefje preisgegeben ficht. Wir haben jehr ernfte Strafbeitimmungen gegen 
Verlegung des Hausrechts, und jogar Verdächtigen gegenüber wird oft zum 
Schaden der NRechtsficherheit der Polizei verwehrt, in das Innere des Hauſes 
einzubringen. Aber wenn es fich um das Privatleben handelt, um die ehelichen 
BVerhältniffe, um Kinder und Verwandte — Güter, die taufendmal teurer dem 
Einzelnen find, al3 fein Haus —, dann läßt man es zu, daß ein Journalist, ohne 
Auftrag, ohne Ermächtigung, ohne Recht, bloß weil er Journalijt oder Re— 
porter ift, die Schwelle unfers häuslichen Herdes überjchreite, das intimfte 


248 Kechtspolitifche Streifzüge. 








Leben durchforiche, die Handlungen und Gewohnheiten einer ganzen Familie 
und eines Einzelnen der Öffentlichkeit übergebe und fie dem Übelwollen und 
Spott der Menge ausjeße. Und unſre moderne Preſſe, um durch unlautere 
Mittel anzuloden, verjtcht es ganz meilterlich, nach Pariſer Vorbildern die 
Waffen des Sfeptizismus gegen andre, nur nicht gegen ſich jelbit zu führen. 
Wir erleben es täglich), wie im diefer Beziehung unſre größten Staatsmänner 
und alle, welche durch ihren Dienjt und ihren Beruf in ihre Nähe geführt 
werden, von der unbefugten Neugier der Journaliftif zu leiden haben. Wer 
in das öffentliche Leben tritt, mag darauf gefaßt fein, daß jede feiner öffent- 
lichen Handlungen bejprochen und beurteilt werde, auch daß jede jeiner Hand— 
lungen im Privatleben der Stellung nicht widerſpreche, in der er fich befindet. 
Aber wo die Offentlichfeit weiter geht, dann ift fie vom Übel, und dann follten 
ſich alle ehrlichen Leute zufammenthun, um dieſer journalijttichen Brigantage 
entgegenzutreten. Die Mittel, welche unſre beftchende Gejeggebung an die Hand 
giebt, find völlig unzureichend; das echt, wegen Beleidigungen zu Hagen und 
Berichtigungen zu verlangen, reicht nicht aus. Im erſtern Falle risfirt man, 
daß ſpäter die ganze Gerichtsverhandlung veröffentlicht wird, und daß man den 
Verationen der Advofaten faſt ſchutzlos gegenüberſteht. Der legte Fall ift ganz 
unzureichend; man berichtigt in dem einen Blatte, während taujend andre zwar 
die faliche Nachricht gebracht haben, aber die Berichtigung unterlaffen. Endlich 
giebt es unzählige brave Leute, denen das Unglüd irgendeinen fchlechten Ber: 
wandten zugejellt und die es ſich gefallen laſſen müſſen — lediglich weil ein 
Reporter feinen Grofchen für die Zeile verdienen will —, ihren ehrlichen Namen, 
den fie hoch zu Ehren gebracht haben, in den Staub gezogen zu ſehen. Das 
Brivatleben follte mit Mauern umgeben fein, und wie nad) dem franzöfiichen 
Preßgeſetz don 1868 jollte jede Zeitung gejtraft werden, die einen lediglich pri- 
vaten Vorgang an die Öffentlichkeit zieht. 

Ganz unberührt, wern auch nicht um die Sache zu erjchöpfen, ſoll die 
Frage der freien Mdvofatur hier nicht bleiben. Die wenigen Jahre jeit 1879, 
in denen wir ung derjelben erfreuen, haben jchon ausgereicht, um in Preußen 
den bis dahin angejehenen Anmwaltsjtand herunterzubringen. Denn es iſt ein 
alter Erfahrungsjag, daß auf dem geijtigen Gebicte die freie Konkurrenz nur 
nachteilig wirft. Und dieſe nachteilige Wirkung ift bereits in vollem Maße cin: 
getreten, weil feine Sache zu jchlecht ift, die nicht einen Vertreter fände. Da 
aber unſer ganzes Gerichtsverfahren auf einer Mitwirkung des Anwalts beruht, 
jo wird durch eine forrumpirte Anmwaltichaft das Gerichtswejen jelbjt in Mit: 
feidenjchaft gezogen und diskreditirt. 

Wir haben es in den legten Jahrzehnten erlebt, daß viele jogenannte liberale 
Ideen, jobald fie aus der Parteiagitation in die Wirklichkeit der Geſetze über- 
geleitet worden waren, Schiffbruch erlitten und den bethörten „Hödur“ von der 
Nichtigkeit diefer Gedanken überzeugt haben. Für das StaatSleben find ſolche Ers 


Der nordamerifanifche Farmer und der deutfche £ Candwirt. 249 








fahrungen nicht erfreulich, denn ein jedes Experiment dieſer Art hat mannichfache 
Schädigungen des Volkswohls im Gefolge. Aber wenn einmal die Einſicht reif 
iſt — und ſie iſt es bereits in den weiteſten Schichten der Bevölkerung —, 
dann ſollte auch nicht länger gezögert werden, die abſchüſſige Bahn zu verlaſſen. 

Das ſind etwa die Betrachtungen, welche uns bei Gelegenheit der Stöcker— 
ſchen Prozeſſe wieder beſonders lebendig geworden ſind. In der Sache ſelbſt 
wollen wir abſichtlich unſer Urteil zurückhalten; die Parteileidenſchaften ſind noch 
nicht geklärt, um hier zu einer unbefangnen Auffaſſung zu gelangen. Wir 
fünnen e3 nur beflagen, daß auch unjre Gerichte in den Kampf der Parteien 
hineingezogen worden find, und wiederholen, daß, wie wir jelbft feinen Zweifel 
an ihrer Unparteilichkeit hegen, es das ſchwerſte Unrecht ift, wenn in einzelnen 
Tagesblättern in mehr oder minder offner, zum Zeil jtrafbarer Weife die er- 
gangnen Nichterfprüche eine Kritik erfahren haben, welche das Anſehen der Necht- 
ſprechung untergraben muß. Gerade der fonjervative Mann muß in den Zeiten 
der Not das Vertrauen zu feiner Obrigfeit fi) wahren, auch wenn er die Ge- 
jeße, welche von ihr gehandhabt werden, migbilligt. 

Wir haben des äußern Ruhmes genug, und wir können nur wie dereinft 
Scipio Africanus bitten, nicht daß das Neich erweitert, ſondern erhalten werde 
durch Reinheit der Sitten, durd) gute Gejege und durch den gejeglichen Sinn 
jeiner Bürger. 


SE — RED 





Der nordamerifanifche Sarmer und der deutfche 
Sandwirt. 
1. 


enn man von Newyork nad) dem Welten reifend den Weg durch 
die mittlern und nördlichen Teile von Ohio, Indiana und Illinois 
nimmt, bietet die ebne Landichaft oft für Hunderte von Meilen 
| denjelben eintönigen Charakter dar. Der Urwald, den der Europäer 

jo gern und doch jo irrtümlich in den Vereinigten Staaten von 
Rorbameritn vermutet, iſt Hier Schon feit vielen Jahrzehnten verjchwunden. Was 
man von Wald fieht, it jung, dünn und verwahrlojt. Nirgends ein Stück 
jungfräulicher Natur, alles ift längſt durchwühlt und geplündert, und ſelbſt da, 
wo ich endloje Sümpfe Hinziehen, ragen taufende von Baumleichen aus dem 


Morajte heraus, die ihrer Rinde beraubt, kreuz und quer liegend, ihre ftachligen 
Grenzboten III. 1885. „2 





250 Der nordamerifanifche Farmer und der deutfhe Kandmwirt. 





Äfte ausftreden und ungenußt verfaufen — ein umvirtlicher, Eäglicher, trojt- 
loſer Anblick. 

Die offne Landſchaft iſt nicht viel ſchöner. Die weſtliche Prärie hat ſich 
niemals durch die Fülle ihrer Reize ausgezeichnet, und ſie hat nichts gewonnen, 
ſeit der Menſch den Büffel und den Indianer hier vertrieben und überall ſeine 
Farmen und Fenzen aufgerichtet hat. Vergebens ſucht das Auge nach einem 
Ruhepunkt am Horizonte. Immer find es dieſelben Wieſen, dieſelben Äcker, 
dieſelben Rinderherden, an denen wir vorübereilen, und die Häuschen, die hin 
und wieder auftauchen, ſind ſo vollſtändig nach der Schablone aus Holz erbaut 
und weiß mit grünen oder grau mit braunen Fenſterladen, daß wir auch nicht 
einen einzigen originellen Eindruck mit uns fortnehmen. Nirgends ſieht man, 
wie bei uns zu Hauſe, eine ſaubere, in Fülle und Lieblichkeit prangende Land— 
ichaft, mit einem ftattlichen Herrenfiße oder einem aus dem Schatten alter 
Linden behäbig herausfugenden Dorfe. Die Städte, an denen Station gemacht 
wird, wie fie da aus der Schachtel ausgepadt und in ihrer Kahlheit und 
Nadtheit Hingeftellt find, all diefe „aufblühenden“ Nejter, die den Stolz de3 
Amerifaners bilden, find langweilig zum äußerjten; ob fie zweihundert oder 
zwanzigtaufend Einwohner zählen: fennt man eins, jo fennt man fie alle. 

Der Menſchenſchlag, der in dieſen Gefilden Hauft, entipricht der Natur, die 
ihn umgiebt. Nüchtern in feinen Anjchauungen, primitiv in feinen Bedürfniſſen, 
führt der weftliche armer eim thätiges, rauhes und ſchmuckloſes Leben; die 
Anregungen einer verfeinerten Kultur find ihm in feinem Hinterwalde jo gut wie 
verſchloſſen, aber er vermißt fie auch nicht; die Politik feines Landes, die er mit 
Aufmerkſamkeit verfolgt, Liefert ihm nach diefer Richtung alles, was er bedarf, 
höhere Gejellichaftskfaffen, die feinen Ehrgeiz anftacheln und ihn veranlafjen 
könnten, feinen Kindern eine beffere Erziehung zu geben, fieht er nicht vor ſich; 
jo findet fein Leben in der Arbeit feinen Zwed und in einem Guthaben auf 
der Countybank feine ethiiche Erfüllung. 

Sit genügend money gemacht worden, jo zieht er nach der Stadt. An: 
hänglichfeit an feinen Boden beläftigt den Amerikaner nicht, und der Deutjche 
verliert fie in der Regel, wie viele® Gute, was er aus der Heimat mitbringt. 
Die Farm repräfentirt ein business wie andre Dinge auch und wird weg- 
geworfen, jobald jie genügend ausgefogen oder etwas andres lohnender ericheint. 
Die, welche größere Farmen im Weften ſelbſt bewirtichaften und es über fic) 
gewwinnen, auf dem Lande zu haufen, das fie bebauen, find zu zählen. Der 
Reſt des Großgrundbefiges in jenen weiten Geländen wird repräfentirt durch 
die jogenannten Aftienfarmen, welche Gejellichaften angehören, die ſich behufs 
gründficherer und billigerer Ausbeutung des Bodens zujammengethan haben. 
Dieje nichts weniger als ländlichen, jondern durchaus großftädtiichen Gejellichaften, 
bon denen der amerifanifche Welten mit feiner gepriefenen wirtjchaftlichen Freiheit 
bereits ein langes Lied zu fingen weiß, haben das große Berdienft, dem mehr 


Der nordamerifanifche armer und der deutſche Kandwirt. 251 





und mehr fich im einzelnen Händen häufenden Kapital ein neues Feld für 
jegensreiche Thätigfeit dazu gewonnen zu haben. Sie „arbeiten“ mit Wucher, 
Parzellirung und Zuſammenſchlachtung aufs allergediegenjte und erreichen in 
mufterhafter Weile ihr Ziel, den Inhaber des Stleinbetriebes um die Frucht 
jeines Schweißes zu betrügen und ihn wie auf allen Gebieten menjchlichen 
Fleißes zum Lohnjklaven herabzumirtichaften. 

E3 giebt in Amerifa ſchon längjt Fein freies und unvermefjenes Land 
mehr. Bon den koulanten Agenten jener großen Landkompagnien kauft der 
Siedler im far West feine Parzelle, um — bei regelmäßigem Berlauf der 
Dinge — zunächſt für hohe Prozente ihr Schuldner, dann ihr Pächter und 
endlich ihr Arbeiter zu werden. Das Land, dem er jahrelang umſonſt feine 
Mühe gewidmet hat, wird nunmchr in urbarem Zuftande zu einer jener Groß— 
farmen zufammengejchlagen, die nicht bloß die Macht, jondern auch den Zwed 
haben, den jelbitändigen Landmann zu zertreten. 

Während noch vor fünfundzwanzig Jahren die Zahl der Pacht: und Klein— 
farmen (unter 40 Acres, ein Aere = 1,58 preußifche Morgen) in den Ber: 
einigten Staaten jo gering war, daß fie im Zenſus garnicht erwähnt wurden, 
ergab der Zenſus von 1880 nicht weniger als 786559 Bachtfarmen und 
555266 Stleinfarmen,*) während von den 2240271 Eigentumsfarmen ein 
großer Bruchteil tief verjchuldet war. Es hat fich jomit im Lande der Freiheit 
unter den Segnungen „wirtjchaftlicher Selbſtbeſtimmung“ im unglaublich kurzer 
Zeit ein ländliches Proletariat gebildet, und es iſt gegründete Ausficht vor: 
handen, daß fich die foziale Phyfiognomie der amerikanischen Landjchaft, für 
welche heute noch (aber wie lange?) der jelbitändige Befiker von 160 big 
1000 Acres den Typus liefert, im Laufe weiterer Jahre noch viel erheblicher 
verändern werde. 

Der Kampf, der Hier geführt wird, iſt ein ungleicher; das Geld ift weitaus 
der ftärfere Teil, und die Waffen, die dem amerikanischen Farmer wie andern 
ehrlichen Arbeitern zu gebote ftehen, haben längſt an Brauchbarfeit und Wert 
verloren. Es ift eine Fabel, daß Heutzutage jemand imftande jet, fich durch 
Fleiß und Energie mit Vorteil im Leben zu behaupten. Die Eigenfchaft, welche 
bei der heutigen Übermacht des Geldes allein die Exiſtenz verbürgt, wird die- 
jenige fein, welche vom Gelde am unabhängigjten macht; fie wird, wenn dic 
Nationalökonomen Necht haben, eine durchaus fulturfeindliche und unſre Kultur 
negirende Eigenjchaft fein, umd man wird fie am beiten „Bedürfnislofigfeit“ 
nennen. Der Ehinefe ift der Mann unfrer Tage, und wenn man die Mancheiter: 
feute machen ließe, würde er mit all den Laftern, die feinem alten und verlebten 


) Von dieſen find mehrere taujende als Gemüſe-, Obft- und Milchwirtſchafien in der 
Nähe großer Städte zu nehmen. Dies nur, um einem etwaigen Einwande zu begegnen; an 
der Sache jelber ändert es nichts. Der Berf. 


252 Der nordamerifanifhe Sarmer und der deutſche Landwirt. 





Bolfe anhaften, in abjehbarer Zeit der Erbe unfrer Kultur fein. Es läßt fich 
mit feiner Arbeit ſchlechterdings nicht Fonfurriren; er hat da, wo man ihm eine 
Zeit lang gewähren ließ, in Kalifornien, einen ftaunenswerten Befig erobert, 
und er würde ficher auf dem amerikanischen Kontinent eine kommerzielle Macht 
erjten Nanges geworden fein, wenn man ihn nicht durch eine jegensreiche Ge— 
waltmahregel vom amerifanischen Boden — vorläufig — ferngehalten Hätte. 

Der Farmer, der heute noch konkurrenzfähig ift, iſt dem Chinefen in 
manchen Stüden nicht unähnlich. Die deutjchen Wisconfin-Bauern, die, meist 
aus Niederdeutfchland und der Mark ftammend, ihre heimische Zähigkeit und 
Frugalität und — fprechen wir es ruhig aus — ihre deutiche Bauernfnauferei 
hierhergebracht Haben, fiten vorläufig noch feit auf ihren Gütern. Sie [eben 
wie in der Heimat, vornehmlich von Kartoffeln, verkaufen ihre Schweine, ihre 
Butter und ihren Weizen und machen Geld. Ebenſo machen e3 durchjchmittlich 
ihre Stammesbrüder im ganzen Wejten, und mehr und mehr muß der anſpruchs— 
vollere und in der Kultur höherjtchende amerikanische Farmer feinem Rivalen 
das Feld überlajjen. Der Deutſche rückt Schritt vor Schritt, nicht bloß am 
Miſſiſſippi und Miffouri, fondern neuerdings auch in den Neuenglandjtaaten 
in den Beſitz feines amerifanischen Vorgängers cin, der dort nicht mehr fort- 
fommt, wo der Deutsche noch Leidlich bejtcht. Aber es liegt auf der Hand, 
daß diefer Verlauf der Dinge nur jolange fortdauern wird, als es unjerm 
Landsmanne gelingt, fi) auf feiner verhältnismäßig niedrigen Sulturftufe und 
in feiner Bedürfnisloſigleit zu erhalten. 

Auch ohnedies wird feine Eriftenz mehr und mehr gefährdet werden durch 
das Umfichgreifen jenes rein fabrilmäßigen Großbetricbes der Landwirtjchaft, 
welchen man eigentlich garnicht mehr „Landwirtſchaft“ nennen kann. Es giebt 
feinen gefährlicheren Feind für die Gejundung unfrer gefamten ländlichen Ber: 
hältniſſe al3 jene Aktienfarmen, und nehmen wir an — was ſehr wahrjcheinlich 
iſt —, daß alles Stapital, welches von den gutmütigen Völkern zufammen- 
geihwigt wird, infolge eines nachgerade natürlich geworden Prozeffes ſich 
immer wieder in wenigen großen Beden jammelt, jo werden leider nur allzu 
veichliche Mittel vorhanden fein, um auch den Boden jeiner eigentlichen Be: 
ftimmung ebenſo vollftändig zu entfremden, wie unſre heutige Induftrie ihr ſchon 
längft entfrembdet if. Er wird dann nicht mehr bebaut werden, um ein vor— 
handenes Bedürfnis zu deden und möglichjt viel Menſchen zu ernähren und 
zu verjorgen, jondern Tediglih, um für einzelne wenige unaufhörlich große 
Werte zu erzeugen, welche der Spekulation dienen. Alle Leute, welche wirklich 
Land bebauen, werden die Lohnarbeiter jener geworden fein; Lohnarbeiter, die, 
wie es auf den Aftienfarmen üblich ift, zweimal des Jahres, zur Saat und zur 
Ernte, mit einer beliebigen Anzahl finnreichiter Majchinen für wenige Wochen 
„aufs Feld geworfen“ werden, um während der übrigen Zeit des Jahres, 
heimatlos, nad) anderweitiger Arbeit umherzulungern. Das weite Land, auf 


Der nordamerifanifche Farmer und der dentfche Landwirt. 253 


dem md von dem fie leben jollten, jteht mittlerweile leer und dient wenigen 
Aufjehern zum Aufenthalt. 

An dem Tage, wo diejer glüdliche Zuftand der Dinge allfeitig durchgeführt 
ift, werden die Segnungen der „wirtichaftlichen Freiheit“ von den „wahrhaft 
Freiſinnigen“ vermutlich am lauteſten gepriefen werden. 


2. 


Ob unter den eben erwähnten Umjtänden die Landichaft, welche wir am 
Eingang zu jchildern verfucht Haben, an Reiz gewonnen haben wird, dürfte 
außerordentlich zweifelhaft fein; wir haben uns, während wir fie durcheilten, 
mit ſchwerem Herzen die Frage vorgelegt, ob wohl jemals Erceigniffe platz— 
greifen könnten, die das liebliche und belebte Bild, welches wir aus unfrer 
Heimat mit und genommen Hatten, in jo troftlofer Weiſe zu verändern ver 
möchten. 

Die Gefahren, die unjrer heimichen Landwirtſchaft drohen, find nicht ganz 
diefelben, die der nordamerifanische Farmer zu beftehen hat, aber fie find auch 
nicht weſentlich verjchieden. Sie find herangewachfen, während der „Weltmarkt“ 
und die, welche ihn arrangiren, fich zu einer wirtichaftlichen Großmacht ent- 
widelten und allen produzirenden Ständen bis in die fernften und ftillften Winkel 
hinein neue Eriftenzbedingungen aufzwangen; fie find herangewachfen, während 
beim stetigen Sinfen der Grundrente die Kultur und die Bedürfniffe der Be: 
bauer jtiegen, und der Boden fich weigerte, feine früheren Herren noch länger 
zu tragen. 

Während des Krimkrieges waren für unfre Landwirtſchaft die letzten guten 
Jahre. Damals ift noch eine ganze Reihe von Vermögen auf dem Lande er: 
worben worden; dann ging es rucdweije bergab, und es brach fich bei frucht- 
lojer Arbeit, rapide fteigender Verſchuldung und unaufhörlichem Beſitzwechſel 
mehr und mehr die Überzeugung Bahn, daß die Landwirtfchaft etwas vollftändig 
andres werden müſſe, als fie bis dahin gewelen. 

Das erfte Opfer der neuen Zeit hätte naturgemäß der Bauer fein müjjen, 
der für Anfchaffung von Majchinen fein Geld, für Viehzucht feine Wieſen, für 
intenfive Wirtjchaft keine VBorkenntniffe hatte. Das Kapital, welches jo gern 
„entwicelt,“ belaftete ihn denn auch, damit er den an ihn Herantretenden Ans 
forderungen befjer genügen könne, mit den nötigen Hypotheken; doch blüht unfer 
Bauernjtand überall da, wo er ſich der Ausbeutung durch den Wucher zu ent: 
ziehen gewußt hat, noch heute in Kraft und Frische, weil er wenig Bedürfniffe 
hat, weil er feine Söhne in der Armee und auf der Univerfität zu unterhalten 
braucht, weil er die beiden Arme, die ihm gegeben find, zur Bebauung feines 
Bodens verwendet und es für feinen Raub hält, den Uder, den ev baut, aud) 
jelbjt zu düngen. Lediglich) aus diefen Gründen haben wir heute noch einen 
Bauernſtand. Der Boden trägt ihn. Dagegen war derjenige, der in weit 


254 Der nordamerifanifhe Farmer und der deutfhe Landwirt, 





höherm Mae fähig war, ſich gegen die Not der neuen Zeit aud) die Waffen 
derjelben anzueignen, der „Gutsbeſitzer,“ in umverhältnismäßig höherm Maße 
gefährdet, weil der höhere Stand feiner Kultur zu große Anforderungen an fein 
Budget ftellte, weil er — mit einem Worte — zuviel brauchte. Er ijt in diefer 
gefährdeten Lage noch Heute, und er wird ihr, wenn nicht außerordentliches ge— 
Ichieht, früher oder jpäter erliegen. Seine repräjentativen Lebensgewohnheiten 
jtehen je länger je mehr in jchneidendem Gegenſatze zu feinen materiellen Be: 
Hemmungen; die einzige Rettung für ihn ift, daß er auf der jozialen Stufen- 
leiter herabjteige, und das ift das lebte, was er thun wird und thun fann. 

Er hat fich bis jet getvehrt, jo gut e8 ging. Aus dem „gnädigen Herrn“ 
der frühern Tage, der von Whiſttiſch und Jagd fich gelegentlich eine Stunde 
abmüßigte, um ein wenig nad) der Wirtjchaft zu jehen, wurde längſt ein jorgen- 
voller Mann, ein unruhiger Unternehmer; er wurde ein eifriger Agrifultur: 
Chemiler, ein belejener Nationalöfonom; er wurde Spiritusbrenner, VBiehhändler, 
Milhwirtichafter, Mühlentreiber, Zuderfabrifant und weiß Gott was alles, 
ohne aus der Patjche Herauszufommen. Sehen wir von den wenigen glüdlichen 
Gegenden ab, wo außerordentliche Fruchtbarkeit und althergebrachter Wohlſtand 
abnorme Berhältnifje gejchaffen haben, jo werden die Klagen mit jedem Jahre 
lauter, und troß einer gelegentlichen Erklärung von allerhöchiter Stelle aus, 
daß die Befürchtungen in bezug auf die Landwirtichaft übertrieben jeien, hört 
man, befonders aus den öftlichen Provinzen, von ganzen Streifen, wo nach Ver: 
lauf noch nicht eines Menjchenalters feine der altangejehenen Familien mehr im 
Beſitz ift und die jegt vorhandnen zwiſchen Verjchuldung, Sequeftration und 
Banferott Hin und hertaumeln. 

Es hat nun dem deutjchen Landwirte, al3 er all den auf ihn einſtür— 
menden Schwierigfeiten erlicgend, gerade von der ausländischen Konkurrenz über: 
flutet werden follte, im Augenblicke höchſter und dringenditer Gefahr ein treuer 
Freund zur Seite geſtanden: das war feine Regierung. 

Die Alternative, vor welche die deutiche Regierung gejtellt war, lautete 
einfach: Sollen die Zölle auf Iandwirtjchaftliche Produkte zu wirklichen Schub: 
zöllen erhoben und der deutsche Landwirt vom Ruin gerettet, oder joll der 
deutjche Landwirt dem Nuin preisgegeben und der Zoll erjt nachher eingeführt 
werden?*) Die „wahrhaft FFreifinnigen” waren natürlich für den jofortigen 
Ruin; die Entfcheidung fiel jedoch in erjterem Sinne. 

Aus dem wütenden Lärm, dem befonders einzelne deutſch-amerikaniſche 
Blätter gegen dieſe neue deutjche Zollgefeßgebung erhoben, fan man entnehmen, 
daß der Nagel auf den Kopf getroffen worden war. Wäre Die Mafregel von 


*) Vor einer ähnlichen Entſcheidung ftanden kürzlich die engliihen Großgrundbefiker 
ihren Pächtern gegenüber, als fie die Rente, vielfach bis zu fünfzig Prozent, herabjegten: 
Redueing rents at once and saving the tenants from ruin, and ruining the tenants first 
and redueing rents a few years hence? (North American Review, April 1885.) 


Der nordamerifanifhe Farmer und der deutſche Landwirt. 255 





diefen Stimmen gelobt worden, jo hätte man an ihrem Werte jehr zweifelhaft 
werden müſſen; doch Liefert die Kürzlich abgegebene Erklärung des landwirt- 
Ichaftlichen Minifters der Vereinigten Staaten, daß nad) einer fummarijchen 
Schätzung 169 Millionen Bushel Weizen in den weftlichen Farmen unverfauft 
fägen, den weitern Beleg dafür, daß fie bereits in unjerm Intereffe zu wirfen 
begonnen hat. Jene großenteil3 unter jpefulativem Hochdrud erzeugten 169 
Millionen Buſhel waren mit dazu beftimmt, den Preis unſers Weizens noch 
weiter zu drüden und unfern Landmann um den Lohn feiner Arbeit zu 
bringen; fie find ferngehalten worden. 

E3 liegt auf der Hand, daß die Zollerhöhung, fo ſegensreich fie ohne 
Zweifel für den Mugenblid wirken wird, troßdem nur eine vorübergehende Maß— 
regel fein darf und wohl auch fein wird. Die Urjachen, welche die andauernde 
Krifis in der Landwirtichaft hervorgerufen haben, Tiegen eben tiefer. Palliativ- 
mittel find hier notwendig, um den Übergang weniger gewaltfam und zerftörend 
zu machen, aber dieje Mittel find auch zweiſchneidig, und fie liefern der Oppo- 
fition ihre Waffen. 

Es iſt umbeftreitbar, daß die Lebensmittel der ärmern Klaſſe durch unſre 
Zollgeſetzgebung verteuert werden, und es follte das jchlechterding® auch von 
niemand geleugnet werden; einmal, weil es an der Aufrichtigfeit dejjen zweifeln 
läßt, der es leugnet, umd zweitens, weil es niemand befremben foll, daß er 
dem Allgemeinwohl Opfer zu bringen hat. Unjre ganze Oppofition denkt fort: 
während nur an die Nechte, niemals an die Pflichten ihrer Klienten. Unfre 
Arbeiter find vollends viel zu jehr bearbeitet, viel zu jehr voreingenommen und 
verjtodt, als daß fie fich der Hundert Vergünjtigungen bewußt wären, die fie 
aus der Gejundheit und der Ordnung ihres Gemeinweſens genichen,; warum 
ſoll man fie nicht daran erinnern, daß fie dazu beizutragen haben, einem Bruder: 
Stande über eine Krifis zu helfen, einem Stande, aus deſſen Projperität fie wieder 
indireft unberechenbare Vorteile ziehen? Iſt diefe Krifis überwunden, haben fic 
geholfen, jo mögen fie dann auch für ſich das Necht der Unterftügung in Ans 
fprucd) nehmen. Das Kapital Hat naturgemäß die Tendenz, fi) zu allem, was 
c3 Schon bejigt, auch noch des Bodens zu bemächtigen, um ihn, wenn man es 
gewähren läßt, wie in Umerifa jo auch bei ung zu einer Großfabrif einzurichten, 
wo der Menſch nur als gelegentlicher Handlanger bei der Maſchine fungirt. 
Soll dem gegenüber der Grundfag aufgejtellt werden, daß der Boden feinem 
Bebauer bleibe, jollen alle die ländlichen Arbeiter, die bei und noch auf dem 
Lande leben, nicht nach der Stadt geworfen werden, um das Angebot noch zu 
häufen und die Löhne immer noch tiefer herabzudrüden, jo mag der ftädtijche 
Fabrifarbeiter jegt den Mund halten, wenn die Negierung fich zu der Anficht 
befenmt, daß ganze Stände nicht ohne weiteres vom Erdboden weggefegt werden 
dürfen, jondern, wenn fie gute und thätige Bürger ftellen, dem Staate erhalten 
bleiben jollen auch durch die Opfer der andern. Heute mir, morgen dir! 


256 Der nordamerifanifche Farmer u und der deutſche £andwirt. 





Eine — nicht minder —— Maßregel unſrer heimiſchen Re: 
gierung, die Zahlung einer Erportbonifilation an die Zuderinduftrie, ſcheint 
ihren Zwed verfehlt zu haben. Vor dem Schreiber diejes Auffages liegt eine 
Nummer der in Bofton erjcheinenden Wochenjchrift Nation vom 23. Of 
tober 1884, in welcher in fachlicher und ruhiger Weiſe der derzeitige Stand 
unſrer Zuckerfabrikation, ihr rapides Anwachſen, das Überwuchern des Rüben— 
baues in weiten Diſtrikten unſers Landes, die Überfüllung aller Märkte mit 
deutjchem Zucker, das Sinfen des Zuderpreijes und alle Kalamitäten der Über: 
produktion anjchaulich und geftügt auf zuverläffige Daten gejchildert werden. 
Die Berichte, die man aus heimischen Quellen über diefen Gegenstand erhalten 
hat, ftimmen in der Sache mit der Nation überein, doch hat das Blatt Unrecht, 
wenn es behauptet, man müſſe die preußische Finanzpolitik ftudiren, um zu 
jehen, wie es nicht gemacht werden dürfe. *) 

Die Schuld lag in diefem Falle weniger an der Negierung, die, durchaus 
entgegen dem von der Oppofition unaufhörlich genährten Glauben an ihre Un— 
erfättlichkeit, von den Steuern, die fie hätte ziehen können, abgab, um einen 
ſchwer fämpfenden Stand zu jtügen; die Schuld lag hier, wie nahezu überall, 
wo heute foziale Ubeljtände beflagt werden, an dem gierigen Kapital, welches 
nicht duldet, daß fich irgendwo ein Gebiet menjchlichen Fleißes und Unter: 
nchmungsgeijtes eröffne, ohne dag ihm, ihm allein die Früchte zuflichen; das 
fi) auf jeden Gewinn verheigenden Induftrieziveig ſtürzt und, wenn es gebt, 
jolange an ihm „entwidelt,“ bis er glüdlic) dem „Krach“ entgegengetricben  ift, 
bei welchem noch von jeher, wie von Dieben bei Feuersbrünſten, am meiften 
profitirt worden ift. 

Wenn man fic) de3 Jahres 1873 erinnert, wo Milliarden deutjchen National: 
vermögens in den befannten großen Geldjad wanderten, und während Banken 
und andre gemeimmüßige Unternehmungen unaufhörlih Pleite machten, Die 
Bankier und die Unternehmer unermeßliche NReichtümer ſammelten, jo wird 
man auch diesmal nicht im Zweifel fein, wer die Bcche bezahlen wird, wenn 
unfre Zuderinduftrie wirklich zufammenbrechen jollte. Daß ein Heller von dem 
Kapital, welches von Kapitaliften darin angelegt worden ift, verloren gebe, 
braucht niemand zu glauben. 


3. 


Die Gedanken, die fi) angeſichts der chen geichilderten Kalamitäten auf: 
drängen, find untröftlicher Art. 

Bietet doch Deutjchland das wunderliche Schaufpiel dar, wie cin großes 
Gemeinwefen zur Zeit gewaltigen politischen Aufſchwunges und unerhörter Macht- 


*) Whoever wishes to learn how not to do it, ought to study the Prussian financial 
poliey in this respect, 


Der nordamerifanifche Sarmer und der deutfche Kandmirt. 257 








entfaltung, zu einer Zeit, wo jede andre Nation den Gipfel ihrer Profperität 
erflommen hätte, fich wirtjchaftlich in unaufhörlicher Krifis befindet. Die foziale 
Not wächſt mit jedem Jahre, breite Schichten der Bevölkerung befinden ſich in 
gejelljchaftlicher Aevolte, ganze Stände erfranfen und find anfcheinend auf die 
Proffriptionslifte geſetzt, alljährlich verlaffen Hunderttaufende das Vaterland, 
um fich anderwärt3 eine Heimat zu fuchen. 

Liegt der Grund für dieſe ewige Krankheit, wie viele behaupten, lediglich 
an den unwiderſtehlichen „Flultuationen“ des Weltmarktes, jo wird es an der 
Zeit fein, fi) von dem Baune dieſer unheilvollen Macht zu emanzipiren und 
vor allem aus unfrer auf Export und Überproduftion trainirten Induftrie wieder 
das zu machen, was fie fein follte: eine Arbeiterin für die Bewohner unfers 
Landes, die nicht in den myſteriöſen Chancen, welche die internationale haute 
finance zu arrangiren für gut befindet, fondern in der Proſperität ihrer 
heimischen Abnehmer ihr Gedeihen jucht. Es wird unendlich ſchwer fein, diejen 
natürlichen Zuftand der Dinge herbeizuführen, denn den Feind, der fich jedem 
Gefundungsprozefje mit ganzer Kraft entgegenftemmen wird, haben wir im eignen 
Lande großgezogen. 

Das in unjerm Lande angehäufte Kapital trägt einen internationalen 
Charakter, e3 findet feine Rechnung in den Kriſen unſers Landes, aber nicht in 
feiner Wohlfahrt. 

Unſre Rapitalijten find zu vier Fünfteln jenem Heufchredenfchivarme ent- 
iprofjen, den wir achtlos über unſre Grenzen haben hereinbrechen laſſen, damit 
er und im eignen Lande zu Enterbten mache. Ohne Liebe für unjer Volk, 
mit dem jie nicht3 gemein Haben, ohne Liebe für unjer Land, das ihnen nic 
etwas andres geweſen ift als cine melfende Kuh, ſtets bereit, mit dem, was fie 
ergattert Haben, in die Fremde zu ziehen, erbittert endlich durd) eine nur zu 
berechtigte Agitation und doch unbelehrbar in ihrem angeftammten Hochmute, 
hängen die Angehörigen jener unglüdjeligen Raſſe wie Blutjauger an unſerm 
Halje und lafjen erjt loder, wenn fie voll find. Die jüdifchen Wucherer auf 
unjern Bauerndörfern, die jüdischen Banfierd in unfern Städten, fie jind bie 
Steuereinnehmer der goldnen Internationale, die unaufhörlich an unjerm Wohl« 
ſtande zapfen. Die Werte, die unſer fleigiges Volk erzeugt, fließen unabläffig 
in jene Hände, aber fie ftrömen nicht fegenbringend wieder ins Land zurüd. Sie 
werden in Die weite Welt verjchleppt, fie werden im ruſſiſchen und türfijchen 
Papieren verfpefulirt, fie werden „international gemacht, und wir bleiben der— 
weile arm und unzufrieden. 

Gewonnen durch ihren „Samilienfinn,“ ihre geiftige „Regſamkeit“ und wic 
ihre fozialen Tugenden alle heißen, ftehen jenen Fremblingen viele Freunde in 
unjerm Lande zur Seite. Unſer Arbeiter mag ausgemergelt verhungern, unfer 
Landwirt mag als Bettler von Haus und Hof ziehen, wenn der liebe Jude 
nur auch fernerhin durch feinen „Familienſinn“ bei uns glänzen darf. Ganze 

Grenzboten III. 1885. 33 


258 Eichsfelder Arbeiter. 


Barteien in unſern Bertretungsförpern führen die Sache des Verkannten, fein 
Einfluß an maßgebenden Stellen ift erftaunlich, und jo wird er und denn noch 
fange erhalten bleiben, um unfre Berufsftände zu durchjäuern und zu forrum- 
piren und uns unter dem Schuße unfrer Geſetze auszuplündern. Wir werden 
ihm niemal3 gewachjen fein, und wir werden ihm laffen müſſen, was er hat. 

Aber wir werden und auch um Hilfe nach einer andern Seite umjehen, 
und wieder iſt es unfer Staat, der hier allein helfen kann und wird. Er hat 
in feiner neuen Bollgefeggebung den Willen ausgeiprochen, die Kontrole unſrer 
landwirtjchaftlichen Zuftände nicht ferner den internationalen Faiſeurs zu über: 
fafjen; er muß nunmehr auch unfer Kapital wieder zu dem machen, was es 
fein jollte. 

Er wird zu diefem Behufe in weit höherm Maße als bisher ein Auffcher 
über alles werden müfjen, was Geld erzeugt. Alles, was Kooperation heißt, 
wird feiner Aufficht unterftellt werden, alle Privatmonopole werden in feinen 
Beſitz übergehen müſſen. Er wird jelber SKapitalift werden müſſen, damit 
wenigftens ein Teil der vom Volfe erzeugten Werte wieder zu feinem Bejten 
angelegt und verwandt werde, und er wird fich endlich dem nicht entziehen 
fönnen, das große Kreditinftitut für alle Befigenden zu werden, wenn diefe un— 
jelige Quelle der Ausbeutung des Bedürftigen, der Bereicherung des Gewiffen- 
loſen endlich verftopft werden foll. 

Die Arbeit und die Verantwortung würden ſich um ein gewaltiges fteigern, 
wenn er ich auch diefen Aufgaben noch unterzöge, aber auch die Ehre, der 
Ruhm und der Segen, die zu gewinnen find, 

Newyork, im Juni 1885. R. H. 





FEN FAN! I 
ZEN AR 


Eichsfelder Arbeiter. 
Don Franz Berghoff-Jfing. 


SF eine Fülle des Intereffanten insbefondre für den volfswirtichaft- 
VD lichen Beurteiler, bietet das Eichsfeld, jenes Heine Ländchen, das 
82 Ti von den nördlichen Ausläufern des Thüringer Waldes bis 
$ 9 zu den ſüdlichen Abhängen des Harzes erſtreckt, öſtlich bis faſt 
EN an Nordhaujens „Goldne Aue” reicht und weſtwärts an ber 
Örenze von Hannover und Heffen endet. Eine alte furmainzifche Enklave, fam 
e3 1803 an Preußen, und bildet jet einen zum Regierungsbezirk Erfurt ge 
hörigen Beftandteil der Provinz Sachſen. Die Reformation vermochte fich 
jelöftverftändlich unter dem kurmainziſchen Krummftabe nicht zu halten. Schon 






Eichsfelder Arbeiter. 259 





jehr früh waren infolge der energifchen Thätigfeit des Jejuitenordeng, der in 
Heiligenstadt, der Hauptftadt des Ländchens, eine Niederlaffung gründete, faft 
die leiten Spuren des Protejtantismug twicder vertilgt. Zwar beftcht auch Heute 
noch in Heiligenftadt eine cvangelifche Gemeinde, die Angehörigen derjelben find 
jedoch faſt ausfchlieglich im Laufe der Zeit eingewandert. In der Kirche dieſer 
Gemeinde empfing im Jahre 1825 Heinrich Heine, der von dem nahen Göttingen 
herübergefommen war, die Taufe. Im übrigen aber iſt das Eichsfeld inmitten 
der evangeliichen Provinz Sachſen eine Hochburg des Katholizismus.*) Der 
Name „Eichsfeld“ joll, einer natürlich unverbürgten Sage nad), der man be: 
jonders häufig unter den Landleuten begegnet, darauf zurüdzuführen fein, daß 
der heilige Bouifazius in diefer Gegend in der Nähe des Ortes Geismar auf 
dem Hülfensberge die Donnereiche fällte, 

Das Ländchen ift, wie weithin befannt ift, arm. Es ift derartig arg ver: 
rufen, daß man wohl fagen darf, es jei beſſer als fein Auf. So entbehrt es 
3. B. nicht der landſchaftlichen Schönheit; nach diefer Seite hin wenigjtens 
verdient es nicht den Namen „Streichhöfzerland,* den man ihm fpottend bei- 
gelegt hat. Der Boden aber ift wenig fruchtbar und bringt jelbjt bei harter, 
jorgfältigiter Arbeit nicht genug Produkte hervor, um feine Bewohner zu nähren. 
Doch gilt dies nur von dem obern Eichsfelde. Das untere hannoverſche Eiche: 
feld mit der Stadt Duderftadt kann fogar fruchtbar genannt werden; nennt man 
doc) die Umgegend dieſes Ortes die goldne Aue des Eichsfeldes. Auch mit 
der natürlichen Fundation des Bodens ift es fchlecht bejtellt; Teinerlei Berg: 
werfäbetrieb oder Yabrifbetrieb, der fich darauf gründete, ift vorhanden. Dagegen 
hat ſich in Heiligenftadt jelbjt infolge der dortigen überaus niedrigen Arbeits— 
löhne eine bedeutſame Zigarrenfabrifation entwidelt, deren Inhaber jedoch nicht 
Eichsfelder, jondern großenteil® Bremer Kaufleute find. Auch Baummwollwebereien 
und eine Nadelfabrif Haben ſich aus gleichem Grunde dort angefiedelt; auch 
diefe Unternehmungen find faſt ausfchlieglich von Fremden hervorgerufen worden. 
Der eigentliche Eich3felder ift wenig unternehmungsluftig, ſchon deshalb nicht, 
weil das nötige Kapital nicht im Lande ift, 

Die Bodenverteilung kann im allgemeinen eine günjtige genannt werden; 
große Güter find nicht vorhanden, ebenfowenig eine zu weit gehende Zeriplitterung 
des Grundbefiges. Die Kargheit des Bodens zwingt aber die Leute, außerhalb 
der Heimat dem Erwerbe nachzugehen, eine Notwendigkeit, die von Einfluß auf 
die gefamten wirtichaftlichen Verhältnijfe des Ländchens geworden ijt. Es 
haben fich nämlich infolgedeffen ganz eigentümliche Zuftände ausgebildet, die 
das befondre Interefje jedes Bolfswirtes hervorrufen müffen. 





*) Als bezeihnende Kuriofität mag angeführt werden, daß die in Heiligenitadt er— 
fcheinenden „Eichsfelder Volksblätter“ bei den legten Neihstagswahlen aufjorderten, jo ſchwarz 
zu wählen, daß „ein Nabe, ſchwarz wie Stiefelwichſe, fi) gegen die Wahlurne auönchme 
wie ein weißer Vogel.” 


260 Eichsfelder Arbeiter. 





In jedem neuen Jahre, „jobald die erjten Lerchen ſchwirren,“ rüftet ic) 
die unverheiratete weibliche Einwohnerjchaft der Dörfer des Eichsfeldes „in die 
Welt zu gehen,“ wie man dort jagt. Schon glei) nad) Weihnachten fuchen 
Verwalter und Agenten der größern Güter, der Zuderfabrifen Sachſens, Han: 
novers, Weſtfalens die Mädchen in ihren Dörfern auf, um durch fejten Kontrakt 
für die bevorjtehende Bejtellungs- und Erntezeit, für die „Rübenkampagne“ 
— wie man jet jo gejchmadvoll fagt — ſich Arbeitskräfte zu fichern. Da 
entjteht dann gewiffermaßen ein Wettbewerb um die tüchtigiten und ftärkiten 
Mädchen. Der gewöhnliche Weg iſt der, daß der Anwerber dic Wanderlujtigen 
durch den PVolizeidiener in das Wirtshaus des Ortes entbietet. Dort heißt 
es nun, die Mädchen zu überreden, fich für ihn und feinen andern zu ver: 
pflichten: zuerft wird die Höhe des Arbeitslohnes vereinbart, durchſchnittlich 
eine Marf für den Arbeitstag. Außer diefem Geldlohne beanjpruchen aber die 
Urbeiterinnen noch mancherlei andres. So begegnete es einem Verwalter eines 
größern Gutes der Paderborner Gegend, daß die Mädchen fi) nur verpflichten 
wollten gegen die in den Kontrakt aufzunchmende Zuficherung, daß fie nicht 
etwa auf Strohjäden, jondern auf Sprungfedermatragen jchlafen würden, ein 
Anfinnen, dem leider nicht Folge gegeben werden konnte. Auch „Zuder in den 
Kaffee“ ift feine feltne Forderung. Es wird wenigſtens probirt. Hie und da 
gelingt es auch einmal, etwas aufergewöhnliches durchzujegen. Zugeſtanden 
wird in der Hegel neben dem genannten Geldlohn: morgens eine Mehlſuppe 
oder Kaffee, mittags warmes Eſſen mit Fleiſch, desgleichen abends, jedoch ge- 
wöhnlich ohne Fleisch, außerdem für den Kopf täglich 1 bis 1'/, Liter Milch. 
Brot und Butter und etwaige andre Bedürfnifje haben die Arbeiterinnen aus 
eignen Mitteln zu beichaffen. Die Schlafräume, die den Leuten zugewieſen 
werden, laſſen leider oft viel zu wünfchen übrig; zehn bis fünfzehn Mädchen 
werden bisweilen in feuchten, Fellerartigen Räumen zufammengepferht. Doc 
gewährt Selbjthilfe meistens erfolgreichite und jchnellfte Nemedur. Die Eichs- 
felder jcheuen derartige Güter und Zuderfabrifen und find nicht Leicht zu be 
wegen, im nächiten Jahre dorthin zurücdzufehren, wenn fie nicht jchon mitten 
in der „Kampagne“ oder Erntezeit aufe und davonlaufen. So ijt es nicht 
felten, daß ein Gut, oftmals eine ganze Gegend, von den Eichsfeldern gleichjam 
in Verruf erklärt wird, weil dort die Behandlung und die Beauffichtigung 
jtrenger und dabei das Eſſen nicht jo gut ijt wie anderswo. In den Winter: 
monaten, in denen die Arbeiterinnen wieder in ihren Eichsfelder Dörfern weilen, 
bietet fi) genug Zeit und Gelegenheit, ſich untereinander und von Dorf zu 
Dorf zu verjtändigen, gute und jchlechte Erfahrungen, die während des Sommers 
auf diefem und jenem Gute gemacht worden find, einander mitzuteilen, ſodaß 
im Frühjahr jedes Mädchen weiß, wo e8 gut und wo es jchlecht anfommen wird. 

Seit die Zucerinduftrie zu Anfang unſers Jahrzehnts einen jo gewaltigen 
Aufihwung genommen hat, ift die Nachfrage nach gefchulten, mit der Behand- 


Eichsfelder Arbeiter. 261 





—— | 


fung der Zuderrübe vertrauten Arbeitskräften ſehr geftiegen. Zu diefen Arbeiten 
eignen ſich cben nach dem Urteile aller Landwirte die Eichsfelder ganz vorzüg- 
lich, während die Arbeiterbevölferung in den Buderrübengegenden oft garnicht 
dazu zu gebrauchen ift — auch eine Wirkung der Arbeitsteilung, da die Eichs— 
felder fich nur jelten und ungern andern Arbeiten unterziehen. Neuerdings hat 
man auc) angefangen, polnische Arbeiter zu mieten, um jo den oftmals alles 
Maß überjchreitenden Forderungen der Eichsfelder aus dem Wege zu gehen. 
Die Erfahrungen aber, die man mit den polntjchen Arbeitern gemacht hat, find, 
wie wir von weitfälischen Landwirten erfahren, feine guten. Sie ftehen den Eiche» 
feldern weit nach, bejonders was die Sorgfalt bei der Arbeit angeht, die gerade 
bei dem Auspflanzen und Unhäufen der Zuderrübe von großer Wichtigkeit ift. 

Der monatliche Berdienft der Eichsfelder Arbeiterinnen beläuft fich auf etwa 
dreißig Mark, oft auf mehr, da fogenannte Überjtunden, die im Hochfommer 
früh morgens oder jpät abends zum Tagespenfum hinzukommen, befonders be: 
zahlt werden, im Durchichnitt die Stunde mit zehn Pfennigen. Nach einer ge— 
wöhnlich ficbenmoratlichen Arbeitszeit fchren die Arbeiterinnen mit einem Rein: 
verdienft von 200 bis 220 Mark in ihr Eichsfeld zurüd. Sowohl Hin- wie 
Rückfahrt gejchieht meiſtens auf Koften der Arbeitgeber. 

E3 find jomit vecht anfehnliche Summen, die auf diefe Weiſe dem Eichs- 
jelde zuflichen und jo die notwendige Ergänzung zu der ungenügenden Ertrags- 
fähigfeit des heimatlichen Bodens abgeben. Während aber das junge Gejchlecht 
auswärts war, haben die Alten die Fpärliche Ernte eingebracht, wozu die wenigen 
Kräfte mehr als ausreichend waren. Kein Wunder, daß die Dörfer im Sommer 
wie ausgeftorben erjcheinen, nur Kinder und alte Leute erblidt man vor den 
Thüren. Nur im Winter ift die gefamte Familie beifammen, nur da kann auch 
von einem eigentlichen Yamilienleben die Rede fein, da wird geliebt und wird 
gefreit. 

Über alle Mafen lieben die Eichöfelder Gefang und Tanz. Da entjchädigt 
man ich denn für alle Entbehrungen der Sommerzeit. Wie von alters ber, 
ijt der Tanzplatz der Anger bei der Dorflinde, wo auch alljährlich das Feſt des 
Kicchenpatrons, die „Kirmeß,“ mit dreitägigem QTanzvergnügen gefeiert wird. 
Zu dieſem Feſte laffen fich die Mädchen in die Heimat beurlauben, und wären 
ſie auch noch fo weit entfernt, ja diefer Urlaub ift eine conditio sine qua non 
ihres Arbeitsvertrages. Die Muſik machen fich die Eichöfelder felber, deun wohl 
nirgends iſt das Mufifantentum jo zu Haufe wie hier. Auch die Eichsfelder 
Mufifanten durchziehen den größten Teil des Jahres in Trupps von ſechs bis 
neun Mann ganz Deutjchland, blafen und fideln fich ein Hübjches Sümmchen 
zufammen, mit dem fie dann im beginnenden Winter zu Weib und Kind zurüd- 
fehren, um beim erjten Lerchenjang wieder in alle Welt zu ziehen. Bis nad) 
Rußland Hinein erftrecden ſich die Streifzüge diefer gernde diot. An Mufifanten: 
ehen mit neunmonatlicher Trennung im Jahre nimmt im Eichsfelde niemand 


2623 Ein politifcher Dichter und Zeitungsfchreiber des adhtzehnten Jahrhunderts. 





Anftoß, e3 geht einmal nicht anders, und jo findet man fich leicht darein. Nicht 
jelten greifen übrigens auc) Weiber und Mädchen zu diefem Iuftigen Handwerk 
und ziehen als fahrende Harfeniftinnen im Lande umher. 

Viele Eichsfelder üben aud) das Gewerbe der Wollfräger aus, eine Er: 
werböquelle, die jedoch) feit Jahren mehr und mehr verfiegt. Seit die Haus: 
industrie dem Großbetricbe das Feld hat räumen müfjen, ift diefem Erwerbe 
der Boden entzogen. 

Troß folchen Wanderlebens hält der Eichsfelder mit bewunderungsierter 
Zähigkeit an feinen heimischen Sitten, Lebensgewohnheiten und Trachten feit. 
Die Tracht der Mädchen und Frauen ift, während fajt allerwärts unfre nivel: 
lirende Zeit Gleichförmigfeit eingeführt hat, jeit alten Zeiten unverändert ge 
blieben. Die Mädchen tragen furze und wenig über die Kniee reichende Nöde, 
am liebften in möglichſt bunten, jchreienden Yarben, um die Bruft ein buntes 
Tuch geichlagen. Unverheivatete Mädchen tragen feinen Kopfpuß, dagegen ift 
die jpige Haube mit Hinten Herabhängenden langen Bändern das untrügliche 
Zeichen der Frauemwürde. Ein weiter Mantel von bedrudtem Kattun vervoll- 
jtändigt diefe, wenn auch nicht bejonders jchöne, jo doch typiſche Tracht der 
Eichsfelderin. Faſt untrennbar von ihr iſt der Tragkorb, der auf dem Rücken 
hängt. Nie wird fie anders als in dieſem Korbe Lajten befördern, nie fieht man 
fie eine Bürde am Arm oder auf dem Kopfe tragen. 





Ein politifcher Dichter und Seitungsfchreiber 
des achtzehnten Jahrhunderts. 


en Schluffe des zehnten Buches von „Dichtung und Wahrheit“ 
a crzählt Goethe launig, daß der jo einfichtige als geiftreiche Doktor 
4 Sall nad) jeiner Schädellehre beteuerte, „ich ſei eigentlich zum 
IKT Lolfsredner geboren. Über diefe Eröffuung erjchraf ich nicht 

A wenig; denn hätte fie wirklich Grund, fo wäre, da fich bei meiner 
Nation nicht3 zu reden fand, alles übrige, was ich vornehmen konnte, leider 
ein verfehlter Beruf geweſen.“ Nichts zu reden fand? Nun Gegenstände, welche 
dem Volfsredner zu Bethätigung feiner Gabe hätten anreizen können, wären wie 
immer und überall jo auch im Deutjchland des achtzehnten Jahrhunderts mur 
in allzureicher Fülle vorhanden gewejen; allein wo gab es damals in Deutſch— 
land außerhalb der Kanzeln einen Ort, von dem aus ein volfstümliches Redner: 
talent die Nation anregen, in gutem oder fchlimmem Sinne auf fie hätte ein- 





Ein politifcher Dichter und Heitungsfchreiber des achtzehnten Jahrhunderts. 263 





wirfen fönnen? Und wie mußte fich unter diejen Berhältnijfen das Leben eines 
Mannes geftalten, der von der Natur die Begabung zum Bolfsredner in jo 
ausgeprägter Weile empfangen hatte, daß er fich gedrungen fühlte, felbit das 
unmittelbar für den Drud bejtimmte in einem öffentlichen Kreife zugleich als 
Nede und als Diktat vorzutragen? wenn dieſem Manne zudem die Gaben 
zweier Mufen bejcheert waren, fraftvolleg Mark feine Sinnlichkeit ftählte, aber 
Rat, Mäßigung und Weisheit dem Feuergeiſte von der Gottheit verjagt ge- 
blieben waren? Eine folche Erjcheinung fennt die deutſche Piteraturgejchichte 
de3 vorigen Jahrhunderts wirklich. Der jo geartete Mann war Chrijtian 
Friedrich Daniel Schubart (den 24. März 1739 zu Oberjontheim im Ge— 
biete der ſchwäbiſchen Neichsftadt Aalen geboren, zu Stuttgart am 10. Dftober 
1791 gejtorben). 

Wir befigen neben mittelmäßigen auch mehrere hochgerühmte Literatur: 
geichichten des achtzehnten Jahrhunderts; man darf jedoch nicht glauben, daß 
in irgendeiner derfelben die ganze Fülle der Tendenzen und Anregungen, welche 
ſich zwifchen 1730 und 1800 in umfrer Literatur bemerffich machten und mehr 
oder minder zur Wirkfamfeit gelangten, genügend berüdfichtigt wäre. Allzu 
mannichfaltig find diefe oft abjonderlich gejtalteten Beftrebungen. So hat aud) 
Schubart bisher in unfern Literaturgefchichten eine mehr als ftiefmütterliche 
Behandlung erfahren. Kaum daß unter den Dichtern der Sturm- und Drang- 
periode und in der Jugendgejchichte Schillers fein Name genannt wird. Ich 
muß die Berechtigung der Klage feines neuen Biographen*) anerkennen, wenn 
er auch mit feinen Beichuldigungen gegen einzelne — an ihre Spitze ſetzt ex 
Schubarts Landsmann Schiller jelbft — nicht immer im Rechte ift. Von 
Schiller war e8 in der That nur landsmannjchaftliche Rüdficht, wenn er, der 
einen Bürger verurteilte, Schubart nicht erwähnte. Als Kunftrichter vermochte er 
bei feinen Prinzipien Schubart unmöglich zu loben, und über Schubarts journa= 
liſtiſch-politiſche Thätigfeit zu reden, fonnte er fich niemals veranlagt fühlen. 
Hauff hebt in Heftiger Polemik gegen feine verdienjtvollen Vorgänger hervor, 
daß Schubart fein blinder Verehrer Klopſtocks geweſen fei; aber die fritifchen 
Bedenken, welche der ſchwäbiſche Dichter einigemale gegen Klopſtocks jpätere 
Oden laut werden läßt, hat auch Strauß bereit? erwähnt. Thatjächlich wird 
auch durch Hauffs Darftellung die Behauptung von Strauß durchweg beftätigt. 
Schubart3 Gedichte**) laſſen fich, wenige Ausnahmen abgerechnet, in zwet große 
Gruppen fcheiden, je nachdem der Einfluß der Klopſtockſchen Odenpoeſie oder 
das volfstümliche Element in ihnen vorwaltet. War Schiller in feiner Jugend 
jelber ein Nachahmer Klopſtocks geweſen, jo urteilte er doch, als er über naive 


*) Chriſtian Friedrih Daniel Schubart in feinem Leben und feinen Werken 
dargeftellt von Guſtav Hauff. Stuttgart, W. Kohlhammer, 1885. 

*9 Chr. Fr. D. Schubarts Gedichte. Hiftorifch-Fritiihe Ausgabe von Guſtav Hauff 
Leipzig, Reclam. . 


2654 Ein politifcher Dichter und Seitungsfchreiber des achtzehnten Jahrhunderts. 


und jentimentalifche Dichtung ſchrieb, ſehr Hart über Klopſtockſche Poefie; für 
das volfstümliche Element in der Lyrik fehlte ihm Verftändnis oder doch 
Sympathie, er würde ganz gewiß nicht in Goethes freudige Bewunderung für 
des Knaben Wunderhorn mit eingeftimmt haben. Wie hätte er num für Schubarts 
Poeſien fobende Worte finden jollen? Das beſte, was Schubart ald Dichter 
geleiftet hat und was auf uns gekommen ift — denn jehr vieles, 3. B. feine 
jämtlichen dramatischen Arbeiten, find ja verloren gegangen —, flingt an das 
Volkslied an; nur in der „Fürftengruft,“ die er auf dem Hohenasperg jchrich, 
als Herzog Karl Eugen wieder einmal wortbrüchig ihm die verfprochne Frei- 
laffung verweigerte, und im dem Gedichte „Friſchlin“ Hat er auch als Klop— 
ftodianer die Vorzüge feiner volfstümlichen Dichtungsweife beibehalten. Der 
„Hymnus“ und der „Obelisk“ auf Friedrich) den Großen find, jo wichtig fie 
für Schubart ſelbſt waren und uns als hijtorische Dokumente erjcheinen müſſen, 
doc) vom rein äftgetiichen Standpunkte aus betrachtet wenig lobenswert, ja 
völlig mißglüdt zu nennen. 

Der Lyriker Schubart verdient mehr Beachtung als er bisher gefunden 
hat, ſchon aus dem Grunde, weil wir an ihm eine Erjcheinung gewahren, die 
uns an die Zeiten der mittelalterlichen Dichtung gemahnt. Der lyriſche Wort- 
dichter ift zugleich Tondichter. Wie es bei den Meifter- und Minnefängern 
und noch ſpäter im Volksliede Negel war, jo entitehen auch bei Schubart ſehr 
oft Wort und Weiſe zugleich. Das war 3. B. bei feinem berühmteſten Gedichte, 
dem „Kapliede“ (Auf auf, ihr Brüder, und feid ftark), der Fall. Wie Tert und 
Melodie hier gleichzeitig entjtand, jo ift auch dem erjten Drude (Stuttgart 1787) 
die Muſik gleich beigegeben. Aber auch fonft fam der Mufifer Schubart dem 
Dichter Schubart zu Hilfe. Improviſator wie er durchweg war — die Dichtungen, 
an denen er lange arbeitete und feilte, find die am wenigiten gelungnen —, hat 
er am Klavier figend zugleich Tert und Melodie erfunden. Natürlich mußten 
jeine Gedichte dadurch einen bedeutenden Vorzug erhalten. Goethe äußerte fih 
Belter gegenüber (10. Jannar 1824 und 21. Dezember 1809): „Ich fee voraus, 
daß dem Dichter eine Melodie vorſchwebt“ und „Jedes Lied joll erjt durd) Kom— 
pofition vollſtändig werden.“ 

Des Dichter Sohn und Biograph, Ludwig Schubart, teilte die Anficht 
ſeines Vaters, daß diefer zum Epifer geboren geweſen fei; er bedauert, daß die 
beiden projeftirten Epen „Satans Wiederkehr” und „Der verlorne Sohn“ nicht 
zur Ausführung gelangt feien. Uns zeigt fchon die an Stelle eines ebenfalls 
geplanten Epos getretene lyriſche Rhapſodie „Der ewige Jude,“ daß Schubart 
noch viel weniger als Klopſtock epiſches Talent bejeffen hat. Ein paar novelliftische 
Erzählungen, deren eine in der Folge einem Eleven der hohen Karlsſchule den 
Stoff zu feiner Tragödie „Die Räuber” liefern jollte, find Schubart erträglich 
geraten; mit dem Berfuche eines Romans quälte er fich zu verjchiednen Zeiten 
vergeblich ab. Wir dürfen freilich bei einer Betrachtung Schubarts nie ver- 








Ein politifcher Dichter und Zeitungsfchreiber des achtzehnten Jahrhunderts. 265 


geſſen, daß ihm eine naturgemäße Entwidlung verjagt war. Seine Jugendbildung 
ericheint mangelhaft; während feiner Schulmeifterzeit in Geislingen ſehen wir, 
wie er als Autodidakt ſich abmüht, einen Haren Einblid in die dichterifche und 
wifjenfchaftliche Bewegung Norddeutfchlands zu gewinnen. Es macht einen 
rührenden Eindrud, mit welchem naiven Eifer er das eben Gelernte wieder zu 
(ehren jucht, ohne daß er felbjt einen feiten Standpunkt für feine Beurteilung 
gewinnen kann. Seine Bewunderung für den Dichter des „Agathon“ gerät 
mit feiner theologischen Gefinnung in Widerftreit. Ein Freigeift, wofür er 
fih ſpäter in Selbſtanklagen ausgab, ift er überhaupt niemald gewejen; er 
ſchwankte nur zwilchen einer freiern und einer ftrengern theologischen Auffafjung. 
Aber feine angeborne Sinnlichkeit brachte, als in Ludwigsburg das böfe Beifpiel 
und die ummittelbare Verführung der lüderlichen Hofkreife an ihn herantrat, 
feine Handlungen in Widerftreit mit feiner religiöfen Überzeugung; dies ver- 
anlaßte ihn dann, die Ausfchweifungen, zu denen er von Natur aus neigte, ganz 
ungerechtfertigteriveije ftatt feiner moralijchen Schwäche einer freiern Geijtes- 
rihtung zur Laſt zu legen. Nach mannichfachen Irrungen hatte fi) Schubart 
endlich um die Mitte der fiebziger Jahre als Menſch und Schriftjteller empor- 
gearbeitet. Erſt in Ulm entfaltete fich fein Geift freier, und alle Anzeichen 
Iprechen dafür, daß nun Bedeutenderes von ihm zu erwarten jei. Da griff die 
frevelnde Despotenhand zerjtörend in jein Leben ein. Nach zehnjähriger Kerkerhaft 
war Schubart3 Geift gebrochen. Was Schubart troß diefer Ungunft der Ver— 
hältnifje geleiftet hat, ift nicht unbedeutend. Den vollstümlichen Liederton hat 
er bereit3 vor Goethes Straßburger Aufenthalt angejchlagen. Die im neun: 
zehnten Jahrhundert anerkannte Bedeutung des Dialeft3 für die Poefie und 
feine liebevolle Pflege geht von Schubart aus. Man Hat fpäter den Ausgaben 
feiner Werfe die Aufichrift gegeben: „Schubart3 des Patrioten gefammelte 
Schriften.” Der Wert der fogenannten politiichen Poefie iſt oft ein recht 
zweifelhafter; Schubart aber ift nicht nur der Zeit nach der erſte unjrer 
politifchen Dichter. Äſthetiſch wie Hiftorifch betrachtet haben feine politischen 
Poeſien ihren vollen Wert. Die Erzählung des Kammerdieners in der zweiten 
Szene des zweiten Aktes von „Kabale und Liebe” wirft nun feit mehr als 
hundert Jahren von der Bühne herab auf das deutſche Publitum; Schubarts 
Kaplied ift mit deutjchen Auswandrern über den Erdfreis gewandert; fein Eindrud 
war fein geringerer, wenn es auch die in Schiller8 Drama jcharf Hervorjtechende 
Spiße verhüllen mußte. Die „Fürftengruft“ ift ein politiſches Gedicht, wie 
vielleicht feines von gleicher Großartigfeit ſeit Schubart von einem deutſchen 
Dichter gefchrieben worden ift. 

Die Teilnahme Schubart3 an dem politischen Verhältniffen war eine tief- 
gehende und nachhaltige. Won 1774 bis 1777 und von 1787 bis 1791 gab 
er die „Deutjche Chronik” Heraus. Mehr als manche andre neu hervorgezogene 
Schrift des vorigen Jahrhunderts verdiente fie den von Seuffert in Ausficht 

Grenzboten III. 1885. 34 


266 Ein politifcher Dichter und Zeitungsfchreiber des achtzehnten Jahrhunderts. 


geftellten, aber immer noch verzögerten Neudrud. Schubart3 Chronik ift, wenn 
nicht die erfte deutjche, jo doch die erſte ſüddeutſche politische Zeitung, der eine 
geichichtliche Bedeutung zulommt. Auch Schubart war urſprünglich nur „Fritziſch“ 
gefinnt, wie Goethe es in „Dichtung und Wahrheit“ nennt. Er hat auch jpäter 
die Perjönlichkeit Friedrichs de8 Großen vor allem gefeiert, aber aus der 
„Fritziſchen“ entwidelte fih ihm eine „preußische“ Gefinnung. Treitjchke rühmt 
es Wieland nach, er jei unter unfern Slaffifern der einzige gewejen, welcher den 
Wendungen der Tagespolitif mit reger Teilnahme folgte und in Karl August 
das Verjtändnis für den Staat wedte. Unjern Klaffifern darf man Schubart 
freilich nicht beizählen, unter unſern Schriftjtellern find es aber noch zwei 
Schwaben gewefen, die dasjelbe, ja vielleicht noch ein höheres Lob als Wieland 
für fich in Anspruch nehmen können: Schubart und Thomas Abbt (geboren den 
25. November 1738 zu Ulm, gejtorben den 3. November 1766 zu Büdeburg). 
Thomas Abbt, durch feine Teilnahme an den Berliner „Literaturbriefen* und 
Herders, feines Amtsnachfolgers, „Eulogium“ mehr befannt als durch feine 
Werke, war in früher Jugend nach Preußen gefommen und erwarb fich hier 
eine ungewöhnliche politifche Bildung. Seine beiden Schriften „Vom Berdienjte“ 
und „Vom Tode fürs Vaterland“ fondern fich vorteilhaft ab von den farblojen 
moralischen Betrachtungen und Ermahnungen der populären Moralphilofophen. 
Es bezeichnet den Zuftand, in welchen das Stleinfürftentum, wie Schubart3 ge= ' 
ftrenger Herzog es ausübte, uns gebracht hatte, daß Abbt ſich genötigt ſah, den 
Sat zu verteidigen, auch in Monarchien gebe e8 für den Einzelnen ein Vater— 
land. Der jüddeutiche Schriftiteller, welcher Bürger des preußiſchen Staates 
getvorden war, lehrte mit überlegner politischer Einficht, daß jeder Einzelne in 
einem Berhältniffe zum Staate ftehe, und pries Friedrich den Zweiten al3 den 
Lenfer eines Staates, der feinen Mitgliedern ein Vaterland gebe. Man braucht 
fih nur zu erinnern, welch fonderbare Anfichten no Wilhelm von Humboldt 
in jüngern Jahren vom Wejen des Staates, den er nur ald ein notwendiges 
Übel betrachtete, hegte, um das Verdienſt Abbts würdigen zu können. Ein 
ſyſtematiſches Denfen und Darjtellen, wie es Abbt, für den er fich lebhaft inter- 
ejfirte, eigen war, lag freilich völlig außerhalb von Schubart3 Vermögen. Er 
griff aber verwandte Ideen in feiner Weije auf und wirfte fir ihre Ausbrei- 
tung, wie er es vermochte. Abbt wendet fich in feinen Schriften, denen allen 
eine gewiſſe Vornehmheit eigen ift, an ein auserlejenes, gebildetes Publikum; 
der derbe Bolfsredner Schubart, der nicht bei Lejfing und Sulzer, jondern bei 
Götz von Berlichingen in die Schule gegangen war, wandte fich mit feiner 
Zeitung an die weiteften Kreife des Volkes. Aufklärung und Sturm und Drang 
ericheinen jonft in unfrer Literaturgefchichte verfeindet; die im Stile der Sturm— 
und Drangperiode gejchriebne „Chronik“ Schubarts hat für die Aufklärung in 
Schwaben, Baiern und Franken gewirkt. Sie ift nad) Schubarts FFreilaffung 
wohl die gelefenfte deutsche Zeitung geweſen; ihre Abonnentenzahl ftieg über 


Ein politifcer 2 Dichter und Seitungsfchreiber des achtzehnten Jahrhunderts. 267 


zweitaufend. Hauff führt ung in einem eignen Kapitel „Schubart als Kritiker“ 
vor; ich möchte fein weitgehendes Lob Schubarts, vor allem die Vergleichung 
mit Reffing (S. 314 und 329) nicht unterjchreiben. Einzelnen treffenden litera— 
rijchen Urteilen ftchen doch mehr jeltiame und gejchmadlofe gegenüber, Höhere 
fünftlerifche Einfichten gingen ihm völlig ab. In politischen Dingen aber ift 
es umgefehrt; da ftehen einzelnen verfchrobnen Äußerungen in der Mehrzahl 
der Fälle gefunde Anfichten gegenüber. Energifch tritt Schubart für den Fürften- 
bund ein; wie für ihn felber die Rettung aus dem würtembergijchen Gefängnis 
durch die Verwendung des preußifchen Königs erfolgt war, jo ift er unerjchütter- 
lih in dem Glauben an die Bedeutung des preußiſchen Staates für Deutſch— 
land. Den politijchen Sinn fuchte er von Anfang an zu weden und zu leiten. 
Von feiner eignen politiichen Einficht aber zeugt es, daß er der franzöfiichen 
Revolution zwar mit Vegeifterung, aber ungleich fritiicher als Klopſtock, Wie- 
land u. a. gegenübertrat. Überall war er von lauterftem deutfchem Patriotismus 
geleitet. Er hat, wie fchon fein Hermannkultus zeigt, von Klopſtock patriotische 
Anregungen empfangen; allein jchon in feiner Bewunderung Friedrichs des 
Großen trennt er fich von Klopſtock. In weitern Streifen noch als Klopſtock 
hat Schubart für Erwedung vaterländifchen Sinnes gewirkt und dabei für die 
realen Verhältniſſe ein ganz andres Berjtändnis gezeigt als dieſer. 

Guſtav Hauff, deſſen Schubartbiographie ung zu vorftehender flüchtigen 
Charakteriftif den Anlaß geboten, giebt im Anhange feines Buches eine „Über: 
ficht über die Schubartliteratur.” Als „eine epochemachende Erſcheinung“ der: 
jelben muß er das Werf von David Friedrich Strauß rühmen: „Chr. Fr. D. Schu: 
bart3 Leben in feinen Briefen“ (2 Bde., Berlin 1849; jetzt als 8. und 9. Bd. 
in Strauß’ gefammelten Schriften [Bonn 1878] wieder abgedrudt). Es war die 
erste der großen literarischen Biographien von Strauß, und manche begründete 
Einwendung läßt fich gegen diejelbe erheben. Hauffs Polemik aber läßt fich 
nicht billigen; ich würde mir gegen ein Werf, von deſſen Text, abgejehen von 
den Briefzitaten, ich Seiten und Seiten in meine eigne Arbeit herübernehme, nicht 
jo viel — unbegründeten — Tadel geftatten. In einem oder dem andern un— 
wejentlichen Punkte iſt Hauff zu andern Anfichten gelangt, in den Hauptfachen zitirt 
er Strauß und geſteht damit jelber zu, daß er inhaltlich mit ihm übereinstimmt 
und formell das von ihm Gejagte nicht befjer vortragen kann. Hauff zitirt jo 
viel aus Strauß, daß ich nicht einfehe, warum er an manchen andern Stellen 
ihn ohne Anführungszeichen wörtlich abjchreibt. Hauff Hat vor fünf Jahren 
jehr ſchätzenswerte „Schillerjtudien“ veröffentlicht; feine nur leider nicht voll- 
ftändige Fritifche Ausgabe von Schubart3 Gedichten, die einzige zuverläffige, 
welche überhaupt exiftirt,*) wie die vorliegende Biographie geben von feinen 





*) Eine auch von Hauff gerühmte Auswahl aus Schubart3 Gedichten und Biographie 
Schubart3 enthält der dritte Band von A. Sauers treffliher Ausgabe der „Stürmer und 
Dränger” (Spemanns „Deutſche Nationalliteratur” Bd. 79—81). 


368 Ein politifcher Dichter und Zeitungsfchreiber des achtzehnten Jahrhunderts. 





gründlichen, jelbitändigen Studien chrendes Zeugnis. Umſo unverftändlicher 
bleibt es, warum er durch eine jcharfe Polemik gegen Strauß feine ganz un- 
vermeidliche Abhängigkeit von ihm zu verhüllen jucht. Hauffs Buch kann troß 
mancher Unrichtigfeiten al3 eine nüßliche und danfenswerte Ergänzung des Werkes 
von Strauß auf Beifall Anjprucd erheben. Die bedeutendften Abweichungen 
von Strauß ergeben ſich daraus, dak Hauff den Anklagen der in bußfertiger 
Stimmung gejchriebenen Selbitbiographie mehr Glauben fchenft; die richtigere 
Auffaffung dürfte fich freilich bei Strauß finden. Hauffs Kapitel über „Schubart 
als Mufifer“ ift durchaus ungenügend, und gerade Hierfür hat auch Strauß 
garnicht? geboten. Wenn Hauff aber die Muſik ala den böſen Genius Schu: 
bart3 bezeichnet, jo weiß man wirklich nicht, wa® man dazu jagen joll. Schu: 
bart war nicht minder Mufifer als Dichter; durch feine mufifalische Begabımg 
hat er Eingang in Kreife gefunden, in denen feine nie beſonders jtarfe Sittlich- 
feit Schiffbruch lit. Mit demjelben Rechte könnte man dann die Poefie den 
böfen Genius Johann Ehriftian Günthers nennen. Mißbrauch und üble Folgen 
fönnen aus allem entjtehen; woher weiß denn Hauff, daß auf Schubart die Muſik 
nicht auch einen heilfamen Einfluß ausgeübt hat? Ein jo frommes, der augenblid- 
lichen Erregung zugängliches Gemüt wie das Schubart3 wird bei der amtlichen 
Ausübung der Kirchenmufif cbenfo wohlthätige Einflüffe empfangen haben, als ihn 
feine mufifalifche Begabung gefährlichen ausfegte. Hauff polemifirt gegen die 
antitheologische Auffafjung von Strauß. Wer Strauß’ Arbeit über Klopftod 
fennt, wird ihn von jtörender Einjeitigfeit in literariſchen Dingen gewiß frei- 
ſprechen. Hauff handelt mit feierlichem Ernfte von dem Traume, den Schubart 
in feinen Selbjtanflagen erzählt, macht ihm Vorwürfe, daß er diefer offenbar 
göttlichen Warnung nicht Folge geleitet habe — joll das etwa Strauß gegenüber 
eine theologiſche Auffaffung fein? Dann ziehe ich doch die antitheologifche vor. 

Hauff fordert Durch feine gänzlich ungerechtfertigte Kritif gegen Strauß, 
der ihm Schritt vor Schritt den Weg gebahnt, die Kritik gegen feine eigne 
Arbeit förmlich Heraus, und diefe giebt derjelben gar manche Blöße. Ich möchte 
aber ftatt deſſen lieber auf das Berdienjtliche von Hauffs Arbeit hinweiſen. 
Schubart hat in unfern Literaturgejchichten noch keineswegs die ihm gebührende 
Stellung und Anerkennung erlangt. Eine neue monographifche Arbeit über 
ihn war deshalb wohl am Plage. Zur richtigen Würdigung bes ſchwäbiſchen 
Dichters und Chroniſten wird Hauffs fleigige Arbeit ohne Zweifel behilflich fein. 

Marburg i. H. Mar Kod. 





Reifebriefe aus Italien vom Jahre 1882. 


Aus dem Nachlaſſe von W. Roßmann. 
Echluß.) 


Bologna, 27. November. (Albergo d'ltalia.) 


m Mittag kamen wir in Bologna an. Nad) kurzer Erfrifchung fuchten 
wir gleich die Alademie ber ſchönen Künfte mit der Gemäldegalerie 
auf, in der jowohl die alte Bolognefiihe Schule (Simone da Bol- 
J Mogna) und Francesco Raibolini genannt Francia, wie die neue der 
| Ektektifer, der Carracci, Domenichino, Guido Reni gut verteten ift. 
——n) Scancia ift durch Die un: Schule beeinflußt und hat feinem 
Freunde Raffael viel zu danken. Er ift überhaupt nicht ſehr ſelbſtändig, daher 
er denn auch ſchwer zu charakteriſiren iſt. Vortrefflich iſt ein Bild, welches die 
Adoration des Chriftkinde3 durch Hieronymus und andre Heilige darftellt. Bon 
den Garraccid, Guercino, Guido Reni u. f. w. find die größten und fünften 
Werke hier und fie weifen alle viel Schönes im einzelnen auf; aber fie lafjen doc 
faft alle jehr gleichgiltig und feines will fich recht dem Gedächtniſſe einprägen. Dieſe 
Künftler ſchöpften weder den Inhalt aus fi, noch die Form aus der Natur, fondern 
entlehnten den erjtern der Mode, dem allgemeinen Bewußtfein, der Tradition, ohne 
eigne kräftige Empfindung, die leßtere den Meiftern der Blütezeit, deren verſchie— 
dene Vorzüge fie mit einander zu verfchmelzen gedachten. Darüber ift der Reiz 
der fubjektiven Auffaffung ſowohl wie der fein individualifirten Natur verloren 
gegangen. Die nämlichen Köpfe, die nämlichen allgemeinen Gefühle, die nämlichen 
Stellungen fehren immer wieder. Alles ift im allgemeinen fteden geblieben. 

Die Perle der Sammlung ift Naffael3 heilige Cäcilia, wie fie den Engel: 
hören entzüdt lauft und darüber ihr eigned Inſtrument finten läßt. Paulus, 
Magdalene neben ihr. Aber ad! wie Hat das herrliche Bild gelitten. Nicht nur, 
daß es abjcheulich übermalt und dadurch um die Geiftigkeit der Farbe gebracht ift, 
fondern man läßt es auch fo außtrodnen, daß viele Partien grau und ftumpf aus: 
ſehen. Es ift überhaupt ein Jammer, wie wenig in Stalien auf die Konfervirung 
der Bilder gegeben wird. 

Wir befuchten noch die größte Kirche der Stadt, San Petronio, das größte 
gothiſche Bauwerk Italiens, objhon nur das Langhaus fteht und Querſchiff wie 
Ehor mweggelafjen find. Die Kirche ift fünffchiffig, doch find die beiden Außenfchiffe 
in Kapellen zerlegt. Der Eindrud im ganzen ift etwas ſchwer und nüchtern; 
es fehlt zu ſehr der plaftifche und farbige Schmud. 

Ein Gang durch die Stadt gewährte ein ganz neues Bild, wie denn jede 
diefer italienischen Städte ihren beftimmten eigenartigen Charakter hat. Bologna 
hat inſofern Aehnlichkeit mit Turin, als überall neben den Straßen Arkaden hin- 
laufen, aber während dieſelben in Turin durch maffige Pfeiler geftüßt find, er- 
feinen Hier meift Säulen, fodaß man von der Straße aus weithin in die Bogen- 
gänge Hineinfieht. Und dann ift Turin durchaus modern, während ſich hier überall 
dad Mittelalter fühlbar madt. Namentlid) um den Hauptmarkt her ftehen mächtige 
alte Gebäude, das Rathaus, der Palazzo del Podefta, die Petroniusfiche — 
ähnlich wie an der Piazza della Gignoria in Florenz. Das Ganze madt einen 





270 Reifebriefe aus Jtalien vom Jahre 1882. 


höchſt ftattlichen Eindrud. Es ift die Stadt der Säulen. Alle Augenblide wird 
man bverfucht, in einen diefer fchönen, fäulenumfangnen Höfe außzutreten, denen dann 
wohl noch ein zweites Periſtyl folgt. Häufig find die gemwölbten Deden ber 
Bogengänge fowohl an den Straßen wie um die Höfe herum aufs Reizendſte 
bemalt. Ueberall arbeitete der Architekt auf Perspektive, und es fommt öfters vor, 
daß hinter dem zweiten Säulenhofe noch ein dritter auf die Wand gemalt ift. Dies 
Mittel ift fo beliebt, daß wir felbft in einer Kirche, Maria delle vite, im Chor 
hinter einer wirklihen Ruppel noch eine fernere perfpektivifch gemalte fahen. Rei— 
zende Terracottengefimje, mächtige Konfolgefimfe wie in Genua find weitere Eigen- 
tümlichfeiten. 

Die Stadt ift ſehr reinlih, die Menſchen find ruhig, anftändig, höflich, gut 
gefleidet, man ficht Fein barfüßiges Voll. E3 kann feinen größern Gegenfaß geben 
ald zwifchen der Bevölkerung diefer Stadt und Neapel mit feinem wüften Volke. 
Hier weht fchon der Norden herüber, in Neapel fühlt man Iebhaft die Einwirkungen 
des Drientd. Ich glaube den Unterſchied höher ſchätzen zu follen als zwiſchen 
irgendeiner norddeutichen und ſüddeutſchen Stadt. 


Bologna, 28. November. 


Heute früh befichtigten wir im Palazzo publico, in weldem die ftädtifchen Be: 
hörden ihren Sit haben, zwei dem Publikum zugängliche große Vorſäle, den 
Herfulesfaal, der außer einer alten, thönernen Herkulesftatue nichts befondres auf- 
weift, und den farnefischen Saal, zu Ehren der Päpfte aus diefem Haufe fo ge- 
nannt. An den Wänden Freöfen: wie Alexander Farneje in die Stadt einzieht, 
wie Karl V. gekrönt wird, wie Franz I. von Frankreich die Skropheln in Bologna 
heilt — ein ſchönes Sujet für ein Wandbild. Einige Kranke muß er wohl übrig: 
gelaffen haben, denn Heutzutage ift ganz Stalien ſtrophulös. 

Den Hauptfhmud des Saales bildet die Bronzeftatue eines farnefifchen Bapftes. 
An den Wänden find Marmortafeln angebracht, auf denen die Proffamationen 
Victor Emanueld und Napoleons III. aus dem April und Juni 1859 eingegraben 
find. Das Tonnengewölbe des Domes macht einen großen Eindrud. Aber wie jehr 
jteht e3 hinter dem des St. Peter in Rom zurüd! Ich maß einen der Pfeiler und 
umging ihn mit dreißig Schritten, während Die Langfchiffpfeiler im St. Peter ſechs— 
undfehzig Schritt haben. Der Chor ift enger als dad Schiff, indem nod) ein 
mächtiger Bogen untergeipannt ift, den hohe, fanellirte Säulen tragen. 

Höchſt lohnend war der Beſuch der alten Univerfität. Ganz überrafchend wirkt 
ſchon der Hof mit feinen zweiftöcdigen Arkaden. Wände und Deden nämlich find 
in gejchmadvoller Anordnung mit Wappen aller Art, gemeißelten und gemalten, 
geſchmückt, und das Ganze ficht fo farbenfrich und bunt als würdig aus. Die 
Arkaden fegen fi in Korridors fort, die dad Haus durchziehen und ähnlich ges 
hmüdt find. Nicht weniger als 13000 Wappen find im Haufe angebracht, von 
den Profeſſoren und Studenten, die weiland bier gelehrt und gelernt haben. Das 
Haus iſt etwa 1560 erbaut und bis zum Unfange dieſes Jahrhunderts im Ge: 
brauche der Univerfität geblieben; jetzt befindet fich die ftädtifche Bibliothek darin, 
während die Univerfität in ein neueres, einfachere Gebäude verlegt ift, dad wir 
ſchon geftern fahen. Der anatomiſche Hörſaal ift gelaffen, wie er war — ein Audi- 
torium, ganz einzig in feiner Art. Der Raum ijt ganz mit weichem Holzgetäfel 
deforirt, in ausgeſparten Nifchen ftehen die in Lindenholz geſchnitzten Statuetten 
der berühmteften Anatomen: Tagliacozzi u. ſ. w. Un der prachtvollen Dede ſchwebt 
in der Mitte Apollo mit der Leier, die übrigen Kafjetten find mit den in Hoch— 


Reifebriefe aus Jtalien vom Jahre 1882. 271 


relief geſchnitzten Figuren der Sternbilder geſchmückt. Ueber dem Katheder ein 
Baldadin, welcher durch zwei der eigentümlichiten Atlanten geftüßt wird. Es find 
died nämlich zwei der Haut entkleidete anatomiſche Figuren in Holz, die jo richtig 
und jo detaillirt dargeftellt find, daß der Profefjor an ihnen demonftriren konnte. 
Unter dem Katheder eine zweite Empore, auf welcher die Prioren der vier Nationen 
zur Erhaltung der Ordnung ihren Plab Hatten. Mit Ehrfurcht beftieg ich das 
Katheder, auf welchem zufeßt fein geringerer als Galvani geftanden. Auch mande 
Frau hat hier gelehrt, wie wir fpäter auf dem Kirchhofe laſen. 

Die übrigen Hörfäle, jet Bücherjäle, find mit Wappen deforirt, oben an den 
Wänden findet fi wohl ein Kreis mit den Medaillonköpfen berühmter Lehrer. So 
ſah ich Irnerius, den Begründer diefer Hochſchule, neben Gratianus. In einem 
Raum ftand die Büſte des vielſprachigen Mezzofanti, deſſen Grab wir zu San 
Onofrio in Nom gejehen. In dem Gebäude befand und befindet fich eine eigne 
Kapelle mit einem Wltargemälde von Calvaert und Fresken von dem Bolvgnefer 
Ceſi, vorzüglich erhalten. Wir trennten und nur ſchwer von diefem eigentümlichen 
und würdigen Gebäude. Die Bononia docens trat hier in aller ihrer Pracht hervor. 
Die Hörfäle der neuen Univerfität, deren ich einige befichtigte, find im wefentlichen 
wie die unfrigen eingerichtet. Studenten ſchwirrten ab und zu, dad Semefter beganı. 
Die jungen Leute machten einen guten Eindrud. 

Das Museo eivico, im Ardiginnafio vorzüglich aufgejtellt, enthält Altertiimer aus 
der Stadt und Umgebung von allen Perioden. Namentlich die etrurifche ift jehr 
reich vertreten in borzüglichen Bajen und Bronzen. Man hat hier aud) ganze Gräber 
mit den Skeletten ausgehoben und die eingelegten Gegenftände an ihrer Stelle ge— 
laſſen. Es zeigt fi, daß — wie es fcheint, zu gleicher Zeit — da3 Erdbegräbnis 
nnd die Feuerbeftattung üblich waren. Die Aſche der Toten wurde in bronzenen, 
rinnenartigen Riften gefammelt. 

Nahmittagd zum Campoſanto, dejfen Mittelpunkt eine alte Eertofa bildet. 

Es ftellte fid) wieder ein neues Syſtem der Friedhofsanlage dar. Urfprüng: 
lid hat man in den die großen Höfe umgebenden Arkaden beftattet; dann find ge: 
deckte Galerien und Korridord, hie und da dreiſchiffige, gebaut, in denen die Denk— 
mäler an den Seiten ftehen. Diefe Unlage machte von allen, die wir gejehen, 
den feierlichften und würdigſten Eindrud. Auch wird dad Publifum nicht ohne 
weiteres zugelaffen, fondern man hat fich für den Eintritt zu melden. Infolge 
deſſen ift es Hier ftill und einfam, und dies hat vorteilhaft auf die plaftiiche Kunſt 
eingewirkt, die nicht fo um die Gunft der Menge buhlt wie auf früher gefehenen 
Friedhöfen. Die Denkmäler find befcheidner, ernfter, wahrer in der Empfindung. 
Hervorheben möchte ich eins von Canova, auf welchem die Ewigkeit als verfchleierte 
Figur dargeftellt ift, eine virtuofe Arbeit, Die doch zugleich viel Gefühl zeigt. Tief 
ergreifend ift ein ganz modernes Denkmal der Familie Minghetti (des Minifterd oder 
feine Sohnes), welche drei Kinder an der Diphtheritis verlor. Dieje Kinder find 
dargeftellt, das kleinſte jchlafend, die beiden andern das Gejchwifter bewachend, der 
Knabe voll Todesahnung. Das Denkmal Murats, der übrigens nicht hier beftattet 
liegt, ein wenig theatralifch, wie er im Leben war; es ift ihm von feiner Tochter 
gejeßt, einer Principefja PBepoli. Das Haus der Pepoli war hier einft daß herrichende. 
Manche Allegorien finden fi: der Glaube, die Hoffnung. Auch die Verzweiflung 
ift, nur zu wahr, dargeftellt. 

Inmitten der großen Unlagen findet fi eine Rotunde, in welder an der 
Wand die Büſten der herborragendften Perfönlichkeiten aufgejtellt werden (nad) 
Munizipalbefhluß). Wir bemerkten Roffini, Galvani, einen weibliden Profeſſor 


272 Reifebriefe aus Jtalien vom Jahre 1882. 


der Anatomie, der oder die fo ſchön war, daß fie fih, um die Stubenten nicht 
zu zerjtreuen, beim Bortrage verjchleierte. 

Aermere Leute werden direft in die Erde begraben, jedoch auf eine anftändige 
Weife, und man läßt ihnen zehn Jahre Ruhe. Auf diefen Totenfeldern find die 
alten etrurifchen Begräbnisftätten gefunden. 

In die Stadt zurüdgefehrt, befuchten wir nod die Kirche San Stefano. 
Der Gedante an die Leidendftätte des Protomartyrd führte zur Nachbildung ber 
Grabeskirche in Jeruſalem, und jo gliederten fich weitere dunkle Heiligtümer an, 
die durch Vorhöfe, Kreuzgänge, Korridore untereinander verbunden find. Man 
zählt in diefem Komplex fieben Kirchen und Kapellen, meift niedrig, zum Teil halb 
in der Erde. Andächtige, welche ein myſtiſches Wirrfal und Dunkel lieben, finden 
bier ihre Befriedigung, zumal mande direfte Neminifcenz an Jeruſalemer Heilig: 
tümer angebradt ift: das Marmorbeden, in dem fi) Pilatus gewaſchen, die Nach— 
bildung des Richthauſes, der Geißelungsfäule u. f. w. Die ganze Anlage geht in 
romanifche Beiten zurüd. 


Ferrara, 29. November. (Stella d’Oro.) 


Säulengänge und Bogenhallen giebt Hier nur vereinzelt; dafür tritt ein 
andre3 Charakteriftitum hervor: der Badfteinbau mit den feinften in Terracotta 
geprägten riefen und Gefimfen. 

Sehr eigentümlich ift der Dom. Die Hülſe ift gothifch-romanisc aus einem Mar— 
mor ausgeführt, der vor Alter ſchwarz geworben. Die Säulen der Borhalle ruhen 
auf mächtigen Löwen und greifenartigen Tieren (lombardifche Art); die Faſſade ift 
in drei Giebelfelder geteilt, Arkaden in drei Etagen, durch dünne, zierlihe Säulen 
geftübt. Eine Loggia über dem Eingange. Dad Innere gehört der Renaiffance an. 

Gegenwärtig ift man dabei, dasſelbe maleriſch auszufhmüden und mit reicher 
Bergoldung zu verfehen. Alle Pilafter, Bogengurte u. |. w. werden grau in grau 
gemalt, doc fo, daß man Relief zu fehen glaubt, worauf man fich nicht wenig zu 
gute thut. Diefe Neigung, die Malerei bis zur Illuſion zu treiben, fpricht ſchon 
ein wenig aus den alten Werfen der ferrarefiihen Schule. 

Die Kirchenkfuftoden haben hier und überhaupt in Stalien einen BDienfteifer, 
daß fie am Tiebften den Fremden nötigten, ſich dicht neben den zelebrirenden Prieſter 
zu ftellen, um den Altar genau zu befehen. Man glaubt, indem man ihnen folgt, 
das Publikum der Beter zu verlegen; aber es ijt nicht der Fall, jeder freut ſich, 
wenn das Heiligtum den Fremden gefällt, und denft wohl auch dabei im Stillen: 
der bringt Geld in unſre Stadt. 

Nah) dem Dome befuchten wir den Palazzo Schifonaja, jept Elementarſchule, 
wegen einiger in den vierziger Jahren aufgededten Fresken aus dem Jahre 1456 
von Tura, genannt Cosſsmè. Es find die Monate dargeftellt, teild durch den herr— 
fchenden Gott und dad Sternbild, teil3 durch Wandgemälde, in denen entſprechende 
Szenen aud dem Leben ded Bosco d’Ejte gezeigt werden: reizende Pendants zu 
den Bifaner Fresken, nur leider jämmerlich zerftört. Der Geift einer frühen Re- 
naiffance weht durch diefe Bilder. 

Dann befidhtigten wir eine Stätte traurigfter Erinnerung: das Hofpital Sant’ 
Anna (no) jetzt Hofpital), in welchem Zafjo fieben Jahre lang als Wahnfinniger 
eingejperrt gehalten wurde. Seine Belle war ein fellerartiged Gewölbe, weißge- 
tündhter, vergitterter Raum von zwölf Schritt Länge und Halber Breite. Das 
einzige Fenſterchen ift jetzt zugeſetzt. Wie weit immer der reizbare Dichter ſich 
gegen Alfons vergangen haben mochte, es bleibt für den leßtern eine untilgbare 


Reifebriefe ans Italien vom Jahre 1882. 273 


Schmad, den großen Mann, dem er den beten Teil ſeines Namens verdankt, jo 
gefangen gehalten zu haben. Danken wir unjerm Goethe, daß er aus diefem Jammer 
fein Wunderwerf gejponnen. 

Dann zum Haufe des Arioft. Es ift ein einfacher Ziegelbau, noch mit den 
alten Bußenjcheiben, dem alten Mobiliar. Vieles von leßterm fehlt gewiß; aber 
jehr einfach und ſchlicht war alles. Wir durchwanderten das ganze Häuschen, das 
Schlaf: und Sterbezimmer, den Heinen, ganz getäfelten Speifefaal, die Küche mit 
dem alten Herde. Unmittelbar darauf jahen wir in der Bibliothek der Univerfität 
Arioſts Maufoleum (au$ dem Jahre 1612), in der Franzofenzeit aus San Benedetto 
hierhergebracht, die viel Forrigirte Handfchrift des Raſenden Roland, Manuffripte 
Taſſos, darunter fein Teſtament, den Sefjel Arioſts. Unter den Incunabeln fiel 
die Ältefte Ausgabe des Gratian auf, mit Foftbaren Miniaturgemälden geziert. 

Die Univerfität, ein Munizipalinftitut, ift in raſchem Siufen begriffen. Alles 
zieht nach Bologna oder Nom. Vollſtändig it nur noch die juriftiiche Fakultät. 

3um Palazzo dei Diamanti, der feinen Namen davon hat, daß die Duadern 
des Außenbaues facettirt find, eine Verfeinerung des Ruſtikabaues. In dieſem 
Gebäude findet ſich die kleine Eſtenſiſche Galerie. Sämtliche Ferrareſen ſind in 
derſelben vertreten, namentlich gut Ercole Grandi mit einer vorzüglichen Beweinung 
Chriſti, und Doſſo Doſſi, von neueren Panetti. Von Doſſo Doſſi befindet ſich das 
Hauptwerk aus San Undrea hier, eine Madonna in trono umgeben von Heiligen 
und Engeln, zu ihren Füßen der Evangelift Johannes. Auf Seitenbildern St. Georg, 
mit prachtvoll gemalter Armatur, und St. Sebaftian, Ießterer vorzüglich modellitt. 

Dann in das alte Kaftell der Efte: ein mächtiger Ziegelrohbau, mehr einer 
Zwingburg als einem Schloſſe ähnlih. Vier ftarke vieredige Türme, mit zwei 
ſtark verjüngten Dberetagen an den Eden, vorbereitet durch fräftige Ausbaue mit 
Plattformen. Bon Turm zu Turm laufen über mächtige Konfolen ſchmale Marmor: 
galerien. Das Kaftell ift von einem breiten Waflergraben umgeben, über den vier, 
durch befeftigte Brüdenköpfe gedeckte Bugbrüden führen. 

Am Innern zeigt man zwei Prachtſäle, deren Deden durch Doſſo Doſſi ge- 
ihmüdt find, der eine mit Darftellungen altrömiſcher Spiele und gymnaſtiſcher 
Vebungen, der andre mit Backhanalien. Die nadten Figuren find dem Künftler zu 
plump geraten. Dann dad Zimmer, in dem Eleonore wohnte; die Dede mit den 
vier Tageszeiten von Dofjo Doſſi gemalt, die feinen Tapeten nody aus der Beit 
der Fürftin. Daneben ihr Boudoir mit geftictem Mobiliar. Auf ſchwerer weißer 
Seide find Blumenguirlanden und Heine Szenen eingenäht, 3. B. wie eine Rabe 
einen Bogel fängt, ein Stordy einen Froſch verfpeilt u. f. w. Ein benadjbartes 
Zimmer, mit reizenden Wandgemälden von Doſſo Doſſi und Zizian geſchmückt 
(ländlich dionyſiſche Szenen), führt auf eine Plattform, die vordem einen Orangen- 
hain in Kübeln trug. Ich glaube, wir Deutjchen betreten diefe Stätten mit leb- 
hafterm Intereſſe als irgendein Staliener. 

In dem Kaftell find jet die Regierungsbehörden untergebracht. 

Belriguardo liegt zu weit von der Stadt, als daß wir es noch hätten befuchen 
fönnen — bier Stunden —; auch iſt e$ gänzlich verfallen und berödet. 

Neben dem Kaftell erhebt ſich feit einigen Jahren die Statue Sadonarolas, 
der in einer leidenschaftlihen Predigt begriffen ift. Er ift in Ferrara geboren. 
Auf einem andern Blake, auf hoher korinthiſcher Säule, fteht die Statue Arioftd. Dem 
Taſſo ift Hier noch fein Denkmal geworden. Der Hof hatte ihm noch nicht verziehen, 
und das Volk hat, wie es fheint, für diefen Dichter fein rechtes Intereſſe. Savona— 
rola ift der Liebling der puritanifchen Demokraten, und wird als ſolcher jehr geehrt. 

Grenzboten III. 1885. 35 


274 Ungehaltene $erienrede. 


Modena, 30. November. (Albergo d'Italia.) 
Zurüd über Bologna nad) Modena. Der Dom ift ein höchft malerifches, 
durchweg romanifches Bauwerk, welches feine Entftehung der Markgräfin Mathilde 
von Toskana verdankt. Außen die harakteriftiichen Arkaden mit den dünnen Säulchen 
und ſchweren Kämpfern, die VBorhalle auf Löwen ruhend, alles ſchwarz vom Alter. 
Auch dad Innere ift romaniſch verblieben. Eigentümlich ift in diefer Kirche, daß 
die unter dem ftark erhöhten Chor gelegene Krypte nad) vorn zu ganz offen ift, 
fodaß man auf den Chor und in den Säulenwald der (mit Kerzen erleuchteten) 
Krypte zugleich fieht, ein Anblid, wie ihn die mittelalterliche veligiöfe Bühne ge- 
währt haben mag. Nordifchem Einflufje ift es zu danken, daß die Kanzel als inte- 
grirender Beftandteil des Baues behandelt ift, wie wir dies nachher aud) in andern 

hiefigen Kirchen jahen, während diejelbe im Süden nur ein Berfagftüd bildet. 

(Hier enden die Aufzeichnungen.) 


! # ! —— —lr 
SERIE 


Ungehaltene Serienrede. 
ı ollen wir der freundlichen Gewohnheit des Redenhaltens entjagen, 





WS 


—* 
& CH das Volk, welches Sprüche politischer Weisheit von ung ver- 


1% Yon nehmen möchte, ſchmachten lajjen, weil die parlamentarijchen Ver— 
—8 ſammlungen feiern? Ich höre ein vielſtimmiges Nein von allen 
IL =. @ Seiten ertönen, mancher Kollege ift auch jchon entſchloſſen zur 
BE) That geichritten, und da die Hundstage noch nicht vorüber find, 
fünnen wir uns noch verjchiedner geflügelten Worte verjehen, wie jenes vom 
„Hundertmalhöherjtehen.“ Eben diejes bejtärft mich in der Abficht, das läjtige 
Schweigen zu brechen. Da ich mic) in diefem Augenblide viertaufend Fuß über dem 
Meeresjpiegel befinde und die auswärtige Politif mir viele Sorgen macht, jo 
darf ich behaupten, den auswärtigen Fragen gegenüber einen beinahe hundertmal 
höhern Standpunkt einzunehmen als der Reichskanzler, jo lange er jo gefällig 
ift, in Varzin zu, weilen. „Beinahe“ jage ich, denn wer möchte fich anmaßen, 
auf verhältnismäßig gleicher Höhe zu ftehen wie Eugen der Unerreichbare! 
Indefjen werde ich mich hüten, die einfache Löſung aller in Europa jchwe- 
benden Fragen, welche ich vorrätig habe, unentgeltlich zum Beten zu geben. 
Denn wenn die Herren Bismard, Gierd, Salisbury u. ſ. w. mit meinem Salbe 
pflügten, jo hätten fie den Ruhm davon und ich das Nachſehen. Bleiben wir 
daher im Lande, wo genug zu jchaffen ift. Auch fehlt e8 mir hier am Orte 
durchaus nicht an dankbaren Zuhörern. Die alten Fichten niden zu meinen 
Reden verjtändnisinnig, fall® gerade der Wind geht, und wenn ich meinen neuen 
Freunden in der Schenfe auseinanderjege, daß Fünftig alle Steuern vom großen 
Srundbefige getragen werden follen, jo fprechen ſie ſchmunzelnd: „Sell wär’ 
ſcho recht.“ Aber ihr Gefichtsfreis ift doch zu eng, ihre politiiche Bildung zu 
lückenhaft. Neulich erzählte ich ihnen, wie oft Richter jchon das Vaterland ge= 
rettet hat: da jchlugen fie ein lautes Gelächter auf und jchrieen, das habe er 
nicht gethan. Die Ärmſten dachten dabei an ihren Vorfrichter, der am andern 
Tiiche die Amtsſorgen mit jauerm Wein hinabzuſchwemmen bemüht war; einen 
andern Richter behaupteten fie nicht zu kennen. Einer aber, ein Ketzer, wie die 
andern mir zuraunten, erinnerte jich, etwas vom Buch der Richter gehört zu 
haben. Ich glaubte dann ihrem Verſtändnis näher zu fommen, indem ich fragte, 





Ungehaltene Serienrede, 275 





was fie von Windthorjt dächten. Da zog ein alter Jäger ein ſehr verdriehliches 
Geſicht und fagte: „Uijeh! kohlrabenſchwarz.“ Wie fich ſpäter herausftellte, 
hatte er den Namen Windthorft als einen vornehmen, ftädtischen Ausdrud für 
ihr Windloch oder den Wetterwinfel genommen, aus dem in der That drohendes 
Gewölk aufſtieg. Zum Glüd blieb es bei der Drohung. Unter jolchen Ver: 
hältniffen Hohe Politik vorzutragen, ift eine zu jchwere Sache. 

Natürlich Hatte ih Windthorjt-Meppen gemeint, nicht den gewejenen Windt- 
horjt= Bielefeld, denn von legterm wüßten noch ganz andre Leute, als meine 
Jäger und Holzknechte im Gebirge, nichts mehr, wenn er fich nicht auf eine jo 
glänzende Weije in Erinnerung gebracht hätte. Aber num darf er nicht wieder 
in Vergejjenheit geraten, und das ijt ciner von den Gründen, aus denen ich 
das Wort ergreife. Sein Spruch, „Richter ftehe ihm in der innern Politik 
wenigſtens hundertmal höher als Bismard,* wird ja bleiben, wird noch jpäte 
Generationen erfreuen. Aber wie bald fümmert man fich nicht mehr um den 
Autor eines jolchen Kernſpruches! Bejonders bei uns, wo eine übertriebene Be— 
icheidenheit große Männer nicht nur abhält, fich ihrer großen Worte zu rühmen, 
jondern fie mitunter gar veranlaßt, diejelben abzuleugnen oder durch künftliche 
Interpretation zu entwerten. Denfen wir nur an „Fort mit Bismarck!“, 
„Schnapspolitif” u. a. m. Wenn aber die Thaten vieler großen Männer nur 
in großen Worten beftehen und fie ſelbſt dieje nicht anerkennen wollen: wie 
joll die Nachwelt einen richtigen Begriff von ihrer Größe befommen? Alfo ver- 
gejjen wir, das herrliche Wort unjerm Zitatenſchatz einverleibend, auch den 
Autor nicht, welcher fich jo jchön mit dem ſonſt verfeindeten Namensvetter zu- 
jammengefunden hat. 

Die „Eleine Erzellenz“ erfährt wieder einmal fchreienden Undanf. Alle 
Welt Ipricht davon, daß Herr Windthorjt- Meppen der Ratgeber und „Brief- 
jteller“ des Herzogs von Cumberland gewejen fei, aber niemand erfennt den 
ungeheuern Dienſt an, welchen er dem Vaterlande geleiltet hat. Gewiß war 
die rechtzeitige Produktion des Schriftjtüdes ein gelungner Schachzug; doch 
hätte der Brief produzirt werden fünnen, wäre er nicht gejchrieben worden? 
Nun jehen Sie! Der Meifter war derjenige, welcher feinen Schüler in dieſer 
Art doppelter Buchführung und ——— unterwies, da er hierin das 
ſicherſte Mittel erkannte, Braunſchweig und Deutſchland vor einem ſolchen 
Fürſten zu bewahren. Hätte der arme Herzog durch Aufrichtigkeit und Füg— 
ſamkeit ſich den Weg auf den Thron geöffnet, würde er nicht Windthorſt zum 
Premierminiſter, vielleicht zum Generaliſſimus gemacht haben? Dann hätte dieſer, 
mit ſeinen ſonſtigen ſchwarzen Schaaren die ſchwarzen Huſaren vereinigend, ſo— 
fort nach Berlin aufbrechen, den Kaiſerthron umſtürzen, Bismarck als Gefangnen 
nach Brauſchweig bringen können — wenn er nämlich wäre, wofür ſeine Neider 
ihn ausgeben. Er verzichtete freiwillig auf die Gewalt, er verzichtete auf die 
Revanche, er machte den Herzog unmöglich — alles für das Reich! Und nun 
wird man hoffentlich ſeine ganze Politik verſtehen lernen. Gewalt hat die ultra— 
montane Oppofition en zu unterbrüden vermocht. Doch wer fie zu unfinniger 
Halsſtarrigkeit aufftachelt, der zerjplittert, untergräbt, diskreditirt ſie — alles 
für Kaiſer und Reich! 

Ehren-Braunfchweiger, das ift das geringite Geſchenk, welches das dant- 
bare Laud feinem Retter darbringen kann. Das Reich aber jchuldet ihm ein 
Nationaldenkmal, etwa aus Braunjchweiger Pfefferkuchen; hat er erſt das Ben: 
trum gejprengt, jo fann ja noch ein ſolideres Poſtament Hinzugefügt werden. 





Um eine Derle. 
Roman von Robert Waldmüller (Ed. Duboc). 
Fortſetzung.) 
Einundvierzigſtes Kapitel. 


Fie beiden Doktoren waren mit ihrem Frühſtück eben fertig, als 
das Läuten der Peſtglocke bis in dem Palazzo Paſſerino ſich 
| vernehmbar machte. Bei der furchtbaren Peft vom Jahre 1528 
war die Glocke gefprungen, und feitdem hatte ſich der Benetianer 
" Scarpagnino, objchon fein Glodengießer von Profeffion, das Ver: 
dienjt erworben, ihr cine Art von Stimme wiederzugeben. Die Reparaturen 
waren dann noch oft wiederholt worden, ſodaß die Mantuaner fajt in allen 
Lebengaltern das Probeläuten der dumpfflingenden Glode wenigjtens einmal zu 
hören befommen hatten, und auch die beiden Doktoren Fannten den unheim— 
lichen Grabeston, wennjchon fie auch feine wirkliche Peftzeiten erlebt hatten. 

Der Patron der Wundärzte und der Peſtkranken, Sankt Rochus, ward in 
einer Seitenfapelle der Kirche Sant’ Andrea verehrt, und da fein Schuß ſich 
Anno 1528 befjer bewährt hatte, als derjenige der jonjt auch gegen die Peſt 
mit Vorliebe angerufenen beiden Patrone San Sebaftianv und Sant’ Antonio, 
fo beſtand eine alte Verfügung, welche den Ärzten zur Pflicht machte, foweit 
fie nicht in der Ausübung ihres Berufes begriffen feien, ſich auf das von der 
Peltglode gegebene Zeichen nach der bejagten Kapelle zu begeben, um zur Be- 
fümpfung der Seuche die erjten Anordnungen gemeinfam zu treffen. 

Die Heilfünftler jener Zeit hatten bei der Unzulänglichkeit der damaligen 
Heilkunde wenig Mittel, um ſich in Seuchezeiten gegen dag Angeſtecktwerden zu 
ſchützen, ſodaß die Chroniften öfter lage führen, unter den Ärzten pflege in 
jolcher Zeit ein ebenſo jchlimmes Ausreißen zu beginnen, wie e8 Macchiavelli 
den Kriegsjöldlingen nachfage, die nach feiner Beobachtung auch nur folange 





Um eine Perle. 277 


Stand zu halten pflegten, als es lediglich ungefährlich fei, und als die Aus— 
ſicht auf reiche Beute nicht durch allzu zähen Widerftand des Feindes getrübt 
erſcheine. 

Ob die beiden um Fiorita bemüht geweſenen Doktoren beim Vernehmen 
der unheimlichen Peſtglocke, nachdem ſie ſich eiligſt empfohlen hatten, ſich nach 
der Kapelle des heiligen Rochus begaben, oder ob ſie vorzogen, außerhalb 
Mantuas ſich von ihrer Beſtürzung erſt zu erholen, darüber fehlen zuverläſſige 
Aufzeichnungen. 

Jedenfalls war Fiorita wieder im Vollbeſitz ihrer Kräfte, als der alte 
Pater Vigilio im obern Stock anlangte. 

Auf der Treppe hatte er von den ihm begegnenden beiden Ärzten zu ſeiner 
großen Betrübnis vernommen, die Peſtglocke werde draußen geläutet, und er 
hatte mit ihnen umkehren wollen, um im Kloſter der Teatiner die Ausrüſtung 
der Prozeſſionen beſchleunigen zu helfen. 

Aber dann erinnerte er ſich, daß der Prior ſich in ſeine Veranſtaltungen 
nicht gern hineinreden laſſe, und da er ja doch auch im Beſitz einer für ſein 
Beichtkind hochwichtigen und feinen Aufſchub geſtattenden Kunde war, jo hielt 
er fich verpflichtet, ihr diefe zunächſt zu überbringen. 

Er fand Fiorita im Bibliothefzimmer zu Füßen ihres Vaters figen, der, 
bequem in feinem federgepolfterten Lehnſtuhl ruhend und fich der jo lange ent- 
behrten Gejellichaft feiner Folianten freuend, mit behutfam alles Traurige um: 
gehenden Worten ihr mitteilte, was geftern zwiſchen dein ehrlichen Primaticcio 
und dem Herzog vorgegangen war. 

Sie hörte aufmerkffam zu und in ihren Augen war ein fanfter Freuden: 
ſchimmer, hatte der Herzog ihren Vater alſo doc) begnadigt, ohne daß jener 
mit jo fchwerem Herzen von ihr geleiftete Widerruf den Grund der Begna— 
digung abgab; war der Widerruf doch durch den Amvalt vernichtet worden; 
durfte fie doch nicht mehr unter dem zermalmenden Drude der Sorge atmen, 
ihr werde die Ungeheuerlichkeit zugemutet werden, die in der bloßen Vorftellung 
ihr heute Morgen die Befinnung geraubt hatte. 

Beim Eintritt des Paters, deſſen betrübte Miene an die Bedeutung des 
hier oben nur zu wohl vernehmbaren Glockenläutens mahnte, erhob ſich io: 
rita von ihrem niedrigen Schemel und eilte dem gebrechlichen Alten entgegen, 
um ihm die Hand zu küſſen. 

Marcello blieb auf den Wink des Pater in feinem Seffel, und diefer be- 
glükwünjchte zunächſt Marcello zu der glimpflichen Wendung, welche deſſen 
Prozeß genommen habe. 

Es folgte ein langes Durchiprechen der aus Florenz, jo jcheine es, nad 
Mantua eingejchleppten Seuche, dann der im Bufammenhang mit Abbondios 
Tod erfolgten Umftimmung des Herzogs, der Gründe für Marcello Begna- 
digung, der Entlaffung des verhaßten Vitaliano, der Freudenbezeigungen, wie 


278 Um eine Perle. 


fie bis vor wenigen Wugenbliden die Bevölferung Mantuas in einer Weije 
habe laut werden laffen, die an die Zeit der höchſten Beliebtheit Vincenzos er 
innerte, 

Und jet, fo lenkte der Pater auf den eigentlichen Zwed feines Kommens 
über, jeßt muß ich, da meine Klofterpflichten mich abrufen und ich doch nicht 
ichweigen darf, jegt muß ich noch eine Wunde berühren, die ſich eben erſt ge 
ichloffen Hatte, muß ich noch einen Namen nennen, der zwijchen Vater und 
Tochter eine tiche Muft aufriß, eine luft, welche ſich faum erjt zu über 
brüden beginnt, muß ich eine Botſchaft bringen, von der ich nicht weiß, Mar: 
cello, ob fie dich auf der ganzen Höhe eines Chriften findet, nämlich im Sinne 
unſers Herrn und Meifters, als er ſprach: Du jollft deinen Nächſten lichen als 
dich jelbft, noch ob fie dich, Fiorita, auf der Höhe einer wirklichen Chriſtin 
findet, nämlich abermals im Sinne unſers Herrn und Erlöjers, als er jprad): 
Wer mir nachfolgen will, der verleugne fich jelbit und nehme fein Kreuz auf fich 
— in deinem Falle, Fiorita, das ſchwere Kreuz freiwilliger Entjagung — er 
mußte einige Augenblide, um Atem zu jchöpfen, innehalten; dann jegte er 
langjam Hinzu: Giufeppe Gonzaga ift nicht tot. 

Marcello jenkte das filberlodige Haupt, und Fiorita warf ſich mit einem 
Freudenſchrei an feine Bruſt. 

Uber er bog ſich zurüd. 

Via! Weg! ſtieß er dumpf Heraus, und, von ihrem Water abgewieſen, 
wandte jich Fiorita nach dem Pater Vigilio um, indem fie feine alteräwelfen 
Hände mit Ungeftüm an ihre Lippen 309. 

Redet! flehte fie, die Freude erdrüdt mich! Er lebt! Er lebt! Giufeppe 
Gonzaga lebt! Wie kann ich die Wonne ertragen! Ich werde ihn noch einmal 
wiederjehen! Gleichviel wie, gleichviel wo! Führt mich zu ihm, guter, treuer 
Pater Bigiliv. So viele Zeit müßt Ihr für Eure Fiorita noch übrig haben! 

Und fie jah fich mit inbrünftig gefalteten Händen haftig im Zimmer um, 
als genüge, dab ihr Schleiertucy zur Hand fei, um daß fie treppab und an der 
Hand des Vaters zu dem Totgeglaubten eile. 

Marcello Hatte ſich mühſam erhoben. Wie in jener Naht, da cr fich 
plöglich, in feiner ganzen Größe aufgerichtet, dem Räuber feiner Tochter mit 
dem Degen in der Hand gegemüberftellte, jtand er wieder da. 

Fiorita bebte zufammen. So viele Tage hatte fie fich ſelbſt gehört. Erft 
beim Gewahrwerden feiner gebieterifchen Haltung fam ihr's zum Bewußtfein, 
weſſen Wille hier wieder als Geſetz gelte. 

Mein Vater, ftammelte fie, gebt mir die Erlaubnis, dem guten Pater zu 
folgen. Draußen läutet der ſchwarze Tod, Die Art, die Euer teures Haupt 
treffen jollte, iſt ſchon gejchärft gewejen. Mich hätte gejtern der Mincio als 
Beute Davongetragen, wäre micht, bevor ich den frevelhaften Entſchluß aus- 
führen konnte, meine Kraft zufammengebrochen. Schredliches hatte der Himmel 


Um eine Perle. 279 





über uns verhängt — wer weiß, ob nicht um unſers Haffes willen! Sind wir 
gebefjert? Sind wir nicht hart und unverjöhnlich geblieben wie zuvor? Wird 
uns die Stundung, die und ward, nicht plößlich entzogen werden, wenn wir 
uns ihrer unwert erweifen? O ich weiß, Vater, meine Schuld war jchwer. 
Aber ich konnte nicht Liebe mit Haß lohnen, nicht Güte und Opferfreudigfeit 
mit Kälte, ich habe ein Herz, Vater, und in den Adern Fiorita Buonacoljis 
focht das Blut gerade jo heiß wie in den Euern. 

Du bleibft Hier! lautete Marcellos Antwort. 

Pater Vigilio, flehte Fiorita, fteht zu mir! Redet meinem Vater ins Gewilfen! 

Die Teatiner, baute Marcello vor, haben immer ihre Ehre darin gefucht, 
fich nicht zwilchen Kind und Eltern einzudrängen. Ihr werdet, wandte er fich 
zu dem alten Pater Vigilio, mehr über jenen — Mann wiſſen, als bloß daß 
er lebt. Tritt auf die Seite, Tochter; Dinge jo ernfter Art taugen nicht für 
das Hineinreden von Weibern. Und jeht, ehrwürdiger Pater, teilt mir alles 
mit, was Ihr wiht. Die Bittgänge fommen noch immer zeitig genug zuftande. 
Mögen die Minimi heute einmal den Vortritt haben. 

Pater Bigilio berichtete näheres über die Art, wie ihm die Kunde zu 
Ohren gelfommen ſei. Er habe dam Nachforſchungen angejtellt und Habe er- 
mittelt, daß alles, was jeinerzeit über die nächtliche Beltattung des unglüd- 
lichen jungen Mannes erzählt worden jei, des fichern Anhalts entbehrte, wie 
der Anwalt Marcellos ja fchon, wenn auch vergebens, in feiner Berteidigungs- 
jchrift nachzumeifen verfucht Habe. Da erjt die gejtrigen Ausfagen des Paduaners 
die hochverräterischen Pläne des Totgefagten ans Licht gebracht zu haben 
fchienen, fo fei anzunehmen, daß fich der fchtere wohl zwar in ſicherm Ver— 
wahrjam, aber nicht eigentlich in Haft, jondern im Schlofje ſelbſt und unter 
ärztlicher Hut befinde. Darauf deute auch der Umjtand Hin, daß ganz nahe 
am Schlofje die erſten Tauben aufgegriffen feien, welche der vermeintliche Ge- 
fangene ald Boten entjandt habe. 

Zu mehreren malen hatte Fiorita mit ungeduldigem Bitten die Auseinander- 
jegungen des alten Paters in bejchleunigteres Tempo zu bringen gejucht. Aber 
umsonst. Mit feit zufammengezogenen Brauen wies ihr Vater jede jolche Ein- 
miſchung zurüc, und ihr blieb nichts übrig, als in lauten Selbjtgejprächen ſich 
anzuflagen, daß fie eine foftbare Minute nach der andern verftreichen laffe, ohne 
dem Geliebten zu Hilfe zu eilen. 

Als der Pater zu Ende war, fagte Marcello: Die Sache nimmt ein wunder: 
fiches Geficht an. Wie fteht zumächjt der Herzog da? Auf Grund des Tot- 
ſchlags eines Gonzaga hatte er mich zum Tode verurteilen lajjen, und jet 
febt der Erjchlagene, und man hat mit mir aljo einen Juftizmord vorgehabt. 
Im Tegten Augenblide mag dem Schwäcling Francesco der Mut zur Ausfüh- 
rung jeine® Anfchlages verfagt haben, wie ihm der Mut gefehlt haben wird, 
den Mann, den ich erfchlagen zu haben dachte, wirklich zu den Toten zu werfen. 


280 Um eine Perle. 


Vater, bringe mich nicht mit deiner Kälte um! jammerte Fiorita. 

Was wird Francesco nun thun, um fi) vor Mantua zu rechtfertigen? 
fuhr Marcello umentwegt fort. Wenn ich mich nicht in ihm täufche, wird er 
die Maske des von edeln Verföhnungsabfichten erfüllt gewejenen, aber von dem 
vertrauteften feiner Diener betrogenen Fürften vornehmen. Man wird aus— 
breiten, die Buonacolfis hätten feit langem den arglofen Herzog mit ihren Krea— 
turen zu umgeben gejucht, unter ihnen jener angebliche Adjunft Bitalianos, ich 
meine jenen, leider der Kammerfrau meiner Tochter von feiner frühern Stel- 
fung ber wohlbefannten Lakai namens Antonio Maria. Der wird als erftes 
Opfer fallen, nachdem man den Beweis geführt Haben wird, cr allein Habe ge- 
wußt, daß der Veronejer mit dem Leben davongefommen war, er allein habe 
ihn im Schlofje verſteckt gehalten, damit dieſer Veroneſer Prätendent nach feiner 
Wiederheritellung den Anfchlag auf den herzoglichen Thron umſo leichter aus— 
führen könne, als der Herzog fich in Ruhe und Sicherheit habe einwiegen Tafjen. 

Und iſt e8 denn möglich, mein Vater, daß Ihr jo niedrig von einem Fürften 
denkt, der Euch eben erjt durch) einen Gnadenakt zu jeinem Schuldner machte! 
rief Fiorita mit leidenschaftlichem Händeringen. 

Nun zu den übrigen für die moralische Rechtfertigung des Herzogs un— 
entbehrlichen Opfern, ſpann Marcello, ohne die Einrede feiner Tochter zu be- 
achten, feinen Faden weiter. Galt Primaticcio nicht bis zum gejtrigen Tage 
für den gewiegteften Gegner der Gonzagas? War es denfbar, wird es heißen, 
daß er bei einer Verſchwörung gegen Francesco feine Hände rein erhalten habe? 
Gebt das große Siegel wieder heraus, Signor Guardafigilli, und wandert in 
die feuchten Keller des Eaftello di Corte — jo wird Francesco fich feiner jchon 
heute entledigen. 

Ihr öffnet mir die Augen über die Nähe eines furchtbaren Abgrundes! 
wehflagte Pater Bigilio. 

Bon mir ſelbſt will ich nicht reden, fagte Marcello mit ſchwerem Atem- 
holen; es fiel ein Ziegel dicht vor meinen Füßen vom Dache meines Haufes 
herab, als ich geftern Nacht aus der Sänfte ftieg; macht Euch nichts daraus, 
jagte einer der herzoglichen Sänftenträger, als er ſah, daß ich den Kopf ſchüt— 
telte; der Fannte den Sinn der Vorbedeutung: man wird mich diesmal nicht 
als Totjchläger, fondern als Mitverfchwornen verirteilen, und ich werde mit 
einem Makel behaftet mein Haupt auf den Richtblod Iegen. 

Gütiger Himmel, laß mich nicht den Verftand verlieren! jammerte Fiorita 
und warf fich, wie im Gebet die fchrecliche Wirklichkeit zu vergeffen fuchend, 
abſeits in einem Winfel auf die Kniee. 

Aber ſchon im nächſten Augenblide ſprang fie wieder auf. 

Ahibö! rief fie; nicht doch! nicht Doch! Was verliere ich hier mit Worten die 
Zeit! Der Herzog ift fein Teufel, er ift Gatte, er ift Vater, er wird eben jeßt, 
wo der Herr der himmliſchen Heerjchaaren feine Geifel über unfre arme Stadt 


Um eine Perle. 281 


ihwingt, ſich als Menſch unter Menjchen fühlen. Noch nie hat eine Buona- 
coljt fid) feit dem Regiment der Gonzagas in dem herzoglichen Palajt gezeigt. 
Sch werde mich ihm zu Füßen werfen, werde für Euch, Vater, werde für meinen 
armen gefangenen Giufeppe mit meinem Kopfe bürgen. Haltet mich nicht feit! 
Ichrie fie mit herotjch abweijender Geberde auf, als Marcello ihr den Weg ver- 
treten wollte. 

Und fie ftürmte hinaus und treppab. 


Hweiundvierzigftes Kapitel. 


In der Kapelle des heiligen Rochus war von den nicht eben zahlreichen 
Ärzten, welche ſich dort eingefunden hatten, befchloffen worden, vor allem den 
herzoglichen Palaſt abzufperren; demnächſt in allen größern Strafen Holzjtöße 
zu errichten umd fie bis Ave Maria brennend zu erhalten; ferner die Thüren 
der durch Boden verpejteten Häujer mit einem weißen Kreuze zu bemalen; 
endlich auch alle Anftekungsverbächtigen vorfichtig aus der Stadt hinauszu- 
Ichaffen. 

Die letztere Mafregel erwies ſich als unausführbar, da niemand das Ge- 
feit jolcher Verdächtigen zu übernehmen Luft hatte, die Anfichten über die als 
verdächtig geltenden Merkmale derjelben auch jehr untereinander abwichen. 

Unausführbar war auch die volljtändige Abiperrung des herzoglichen Pa— 
lajtes. Hinein wollte zwar niemand, es jei denn, er gehöre hinein und habe 
fi nach dem Ausreißen bejonnen, jein Dienft jtehe auf dem Spiel. Aber wenn 
jemand im Auftrage des Herzogs oder feiner Gemahlin heraus wollte, jo ver- 
jtand ſich's, daß ihn die Wache nicht zurückweiſen konnte. 

Michel Bollitofer, der alte Stelzfußlommandant der feinen Schweizer Be— 
jagung des Eajtello di Corte, hatte bei der Kunde von dem Dejertiren der wel— 
ſchen Schlogwache fich jofort in feine Gala-Uniform geworfen, hatte feine riefigen 
Hellebardire darauf durch eine wohlgejchte unterwaldnerische Anjprache über die 
verdienftliche und garnicht allzu gefährliche Aufgabe, welche ihrer harre, belehrt 
und war darauf unter Trompetengejchmetter mit ihnen vor den Haupteingang 
marjchirt, wo der Dienft ein gut Teil minder langweilig war als in dem Hofe 
des Kaſtells. 

Für den Augenblick freilich war auch ſelbſt für die ziemlich dickfellige Garde 
der Anblid der unruhig Hin- und herlaufenden Podenflüchtlinge nicht eben kurz— 
weilig. Die Weiber zumal weinten und jammerten im Chor, jo oft die dumpfe 
Peitglode wieder anjeßte, und regten einander durch das Zählen der Schläge, 
jo wenig diefe auch eine Zunahme der Gefahr bedeuten follten, in immer höherem 
Grade auf. Hie und da fielen Perfonen vor Angft in Krämpfe. Sogleich hiek 
es, fie ſeien angeſteckt, und alles floh fie, bis eine der helfenden Brüderjchaften 
daherfam und jolche Unglüdliche einſtweilen wenigjtend auf dem —— 

Grenzboten III. 1885, 


282 Um eine Perle. 


unterbrachten, den diefe barmherzigen Samariter mit ſich führten. Sie jelbjt 
gingen aber ſchwarz oder braun oder grau vermummt, fodaß nur ihre Augen 
und ihre Hände nicht bedeckt waren, ganz wie jolche freiwillige Genofjenichaften 
noch heute in einigen Städten Italiens ihrem Liebeswerfe obliegen, und dieje 
ihre unheimlich düftere Erjcheinung war nicht geeignet, die geängjtigten Seelen 
zu beruhigen. 

Freundlicher muteten die mit brennenden Kerzen daherfommenden fingenden 
Prozeffionen an, denen fich denn auch die halbe Bevöllerung Mantuas ange: 
ſchloſſen Hatte. Sie trugen Standarten, ſchön gepußte Madonnen, Heilige mit 
einem, zwei und auch drei Goldglorienjcheinen um das Haupt, gläjerne Kajten 
mit Reliquien und alänzende Baldachine, unter welchen Ießteren hohe Firchliche 
Wiürdenträger mit der Monftranz einherjchritten, ſodaß in der That, wo fie ſich 
zeigten, der Gedanke an die Hilfe der himmliſchen Fürbitter manche gefurchte 
Stirn entrunzelte. 

Die Sonne ftand im hohen Mittag umd die Luft Hatte ſchon wieder den 
nämlichen Hitegrad wie vor dem geftrigen Gewitter erreicht, als Fiorita mit 
jtürmifchen Schritten, von der atemlos ihr nachfeuchenden Friaulerin gefolgt, 
dem herzoglichen Palaſte zueilte. Sie war barhaupt, und alle Beſchwörungen 
Eufemias, wenigſtens das weiße Kopftuch), das fie ihr nachtrug, als Schuß gegen 
die Sonnenstrahlen überzuthun, hatten fie nicht vermocht, ſich auch nur den 
kleinſten Aufenthalt zu gönnen. 

Aber inmitten der allgemeinen Wirmiffe und des fortwährend durch das 
Leuten der Sceucheglode geiteigerten Drängen® und Flüchtens erfannten die 
wenigſten der ihr Begegnenden in der ſchönen goldblonden Jungfrau, die ſich 
rückhaltlos durch die dichteften Prozefjionen ihren Weg bahnte, die vornehme 
Fiorita Buonacolfi. 

Endlich war das Hauptthor des Schlofjes erreicht. 

Michel Zollifofer hatte es jchließen lafjen, und die davor poftirten ſchweizer 
Hellebardire jchüttelten den Kopf, ala Fiorita eingelaffen zu werden verlangte. 

Mit allen ihr nur irgend fich darbietenden Gründen bewies die von feinem 
Aufſchub mwiffenmwollende den bärtigen Marsföhnen, daß fie presto, presto den 
Herzog jprechen müfje; aber weder verjtanden die jo bejtürmten die Landes- 
jprache genugjam, um über die Notwendigkeit des Draußenbleibens ihr Nede 
ftehen zu können, noch gelang es der inzwilchen herangefommenen Friaulerin, 
fi) in das Kauderwelſch der fremden Gebirgsſöhne Hineinzufinden. Zuletzt 
ftelzte der alte Knaſterbart Zollitofer jelbft herbei, und nun fam heraus, daß 
fi) das Schloß gegen die Stadt abiperre, ganz fo, wie die Stadt fich gegen 
das Schloß abfperren müffe, weil ja doch, wie männiglich bekannt, die Schwarzen 
Boden, die verwünjchten weljchen vajuole, drinnen wie toll wüteten. 

Eufemia glaubte, ihre legte Stunde habe gejchlagen. Dio me ne guardi! 
Gott behüte mich davor! rief fie einmal über das andre, und da ihre Herrin 


Notiz. 283 





bei dem Gedanfen an das nunmehrige Loos Giufeppes fraftlos ihre Arme hatte 
finfen laffen, gelang es der robuften Friaulerin, endlich fich der Führung Fio— 
ritas zu bemächtigen. 

Poyerelli! rief fie mit einem mitleidigen Blide nach den dicht verhängten 
Schloßſenſtern, indem fie die willenlos fich fügende aus dem anſteckenden Dunft- 
freife des Schloſſes fortzubringen bemüht war; wie jagte der alte Haudegen? 
Die vajuole wüteten drinnen wie toll? Poverelli, poverelli! Vielleicht giebt 
es Leute, die fich darüber freuen. Sch, Signorita, ich kann es nicht. Denn, 
per l’amor di Dio, was haben die Kinder verjchuldet? Der Kleine bläßliche 
Prinz Lodovico und das niedliche Kleine Prinzefchen! No, no, Signorita, ic) 
kann mich nicht freuen, jo ſchlimm man auch ohnlängjt erſt dem gnädigen Herrn 
Marcello mitgefpielt Hat und fo viele bittre Thränen ich jelbft auch Euretwegen, 
mein gnädiges Fräulein, habe vergiegen müſſen. Freuen fann ich mich nicht. 
Oder wifjen wir, ob die Herzogin nicht für Euern gnädigen Herren Vater manch 
gutes Wort eingelegt Hat? Sie ift eine Savoyerin, und ich habe brave Leute 
gefannt, die aus demjelben Lande herjtammten. Und dann der Herzog — hat 
er dem Bitaliano denn nicht den Laufpaß gegeben? Konnte er nicht noch ein 
gütiger Herr werden? War man ihm denn nicht ſchon Dank fchuldig dafür, 
daß er das lüderliche Gefindel, die Komödiantinnen und Tänzerinnen, an die 
Luft ſetzte? Hat er die Juden nicht wieder zum Tragen des gelben Abzeichens 
angehalten? Wer weiß, ob fie aus Nache nicht die vajuole in das Schloß 
eingejchwärzt haben! Leuten, die unſern Erlöſer freuzigten, jo hörte ich noch 
ohnlängjt den Pater PBatricio in Sant’ Andrea predigen, iſt alles zuzutrauen, 
tutto, tutto, tutto! (Zortjegung folgt.) 





Notiz. 


Bildung und Schule. Man ſollte die Entſcheidung über dasjenige, was 
das Primäre und was das Sekundäre iſt, für eine in der Regel ſehr ſelbſtver— 
ſtändliche Sache halten. Und doch erkennt man bei näherem Zuſehen leicht, daß 
es oft recht ſchwer iſt, zu beftimmen, was Wirkung und was Urſache iſt. Hat 
doch in jüngſter Zeit ein berühmter Gelehrter (Proſeſſor Rauber) den Satz auf— 
geſtellt, daß nicht der Menſch den Staat, ſondern der Staat den Menſchen, wohl— 
verftanden, den modernen Menschen gemacht Habe; und wenn auch freilich die alte 
mancheiterliche Anſchauung diefen Satz für einen alle Begriffe auf den Kopf ftel- 
fenden hält, fo läßt er fi) doch fehr wohl verfechten und es lafjen fi die durch: 
ichlagendften Gründe dafür anführen. Ueberhaupt aber giebt dieſes Beifpiel ein 
gutes Bild von den Schwierigkeiten, welche ſchon die bloße Formulirung der Frage 
nah dem Primären und dem Sefundären barbietet, und von den Zweifeln, in 


2 — = Notiz. eo 





welche jede Logifche Operation auf diefem Gebiete leicht hineingerät. Andrerſeits 
giebt es den Mut, auch auf andern Punkten dem Zweifel Raum zu geben, ob die 
bisherige Annahme: hier ſei die Urſache und dort die Wirkung zu fuchen, überall eine 
gerechtfertigte fei, und zu fragen, ob es fich nicht vielleicht gerade umgekehrt ver: 
halte. Died fcheint und nun Hinfichtlich des bisher für unfehlbar gehaltenen Satzes, 
wir hätten „unfre Bildung unfrer Schule zu verdanken,“ noch in viel höherem 
Grade zuzutreffen als bei dem obenangeführten Beijpiel; denn während der Satz 
Raubers immer nur unter beftinnmten Vorausfegungen und in einem beftimmten 
Sinne fejtgehalten werben kann, jcheint und die Umkehrung jenes Satzes von der 
Schule eine logiſch notwendige und die bloße Zerftörung einer in fich haltlofen, 
vorgefaßten Meinung zu fein. Formuliren wir alfo unfern Sab fo: Wir find 
nicht gebildet, weil wir die Schule haben, jondern wir haben die Schule, weil wir 
gebildet und dabei mit einem bejtimmien Maße fittliher und materieller Kräfte 
ausgerüftet find. 

Das wird natürlid) in den Augen vieler Leute eine furchtbare Keberei fein, 
und ganz bejonders in den Augen der Schulmeifter, denen man feit zwanzig Jahren 
jo ſchöne Lobeshymmen über „den wirklichen Sieger bei Königgräß“ und dergleichen 
gefungen hat. Wie, fie follen ſich auf einmal zu der Stellung eines bloßen 
Werkzeuges herabdrüden lafjen, während fie ſich bisher ftolz als die Väter und 
Urheber der Bildung betrachtet haben? Das ſchmeckt den Herren, die ja nie— 
mals wegen fonderlider Neigung zur Beicheidenheit berühmt gewefen find, natür— 
Lich ſehr jchlecht, uud wir nehmen e3 ihnen auch garnicht übel, wenn der „Schul: 
meiftergidel” in ihnen fi) gegen die Behauptung, fie feien nur als Werkzeuge und 
feineswegs als jelbftändige Träger bei der Uebertragung unſers Bildungskapitals auf 
das kommende Geflecht thätig, mächtig auflehnt. Aber es wird doc nicht daran 
vorbeizufommmen jein, daß es ſich wirklich jo verhält. Was unfer Geſchlecht an 
Bildungselementen befißt, das verdankt es doc) einer überaus mannichfaltigen und 
vielfeitigen rezeptiven ZThätigfeit, von der unter allen Umftänden die Schule nur 
einen Teil vepräjentirt; und was die Schule und darbietet, das ift doc wieber 
nur zum allerfleinjten Teile aus einer felbftändigen geiftigen Thätigfeit der Lehrer 
hervorgegangen, es verdankt vielmehr fein Entftehen der unendlichen Hauptfache nad) 
wieder der eignen Bildungsarbeit früherer Geſchlechter. Alle wifjenjchaftliche 
Thätigkeit, alle Arbeit des Forſchers und Denkers, alles Abwägen, Beobachten und 
Bergleihen dem die unzähligen Einzelnen fi) Hingebeu, alle technifchen und wirt— 
ſchaftlichen VBerbefjerungen, die der eine und der ihm folgende andre ſich aneignet, 
aller Fortſchritt in Sitte und Gewöhnung, wie er ſich von einem Kreiſe der Men- 
ihen zum andern unaufhörlich vollzieht — das find die wahren Faktoren einer 
ftetig anwachjenden Bildung. Wil man bildlich dieſe ganze Summe befruchtender 
Kulturarbeit „Schule“ nennen, fo haben wir unfrerfeitS nichts dagegen einzuwenden, 
aber e3 würde doch jehr gezwungen außfehen, wenn man unter Berufung auf die 
Möglichkeit, ſich dieſer Bezeichnung zu bedienen, die Schule ald die Mutter aller 
Bildung anjehen wollte. In Wahrheit ift die Schule nichts als das Hilfsmittel, 
deſſen das lebende Geflecht fi) bedient, um die ihm überlieferten und von ihm 
noch hinzuerworbenen Bildungsihäbe wieder dem folgenden Gefchlechte zu über- 
liefern, und was die Schule an eignen, ihr als folcher angehörigen Bildungsfaktoren 
mit Hierzu beiträgt, ift gewiß nicht zu verachten, aber an Quantität und Qua— 
lität doc nur untergeordneter, nebenſächlicher Natur. 

Wer beftreitet denn die ungeheure Bedeutung der Schule für Stand und Art 
unſrer Bildung? wer ftellt in Ubrede, daß wir ein anderes Mittel, um diefen un— 


Notiz. 285 


ermeßlichen Strom des Wiſſens und der Lernfähigkeit in die Kanäle des heran— 
wachſenden Geſchlechts zu lenken, garnicht beſitzen, uns auch nicht vorzuſtellen ver— 
mögen, wie dieſes Mittel jemals ſoll entbehrt werden können? wer leugnet, daß 
Hand in Hand mit der Uebertragung des vom erwachſenen Geſchlechte beſeſſenen 
Bildungsitoffed auf das fünftige eine Menge hochwichtiger und im allgemeinen 
guter perjönlicher Einflüffe geht, und daß die Technik der Schule unzählige Er: 
feichterungen und der Gejamtheit zugute fommende Erfparnifje ſchafft, die auf 
anderm Wege garnicht zu bewerfitelligen wären? Uber das alle ändert doch 
nicht8 an dem prinzipiellen Verhältniffe, daß die Schule nicht die Selbfterzeugerin, 
ja nicht einmal die jelbftthätige Trägerin des von ihr vermittelten Wiſſensſchatzes, 
fondern nur ein Apparat ijt, deſſen unfre Kultur fich bedient, um gewifje Formen 
und Hilfsmittel der Bildung fortzupflanzen, BDiefer Apparat, beziehentlich die 
Summe von Disziplin und Unterordnung, welde nötig war, um ihn zu jchaffen 
und in Aktion zu ſetzen, ift felbft ein hochwichtiger Beftandteil unfrer Kultur und 
der „bildenden“ Bedeutung, welche Diefelbe für unfer Geſchlecht Hat; aber er ift 
die Bildung fo wenig, daß vielmehr die Subftanz der Bildung unaufhörlid) von 
außen her in die Schule hineingetragen oder in ihr erneuert und ergänzt werden 
muß, um in ihr vorhanden zu fein. 

Man vergegenmwärtige fid) doch, welches der Gang der Sade iſt. Eine be- 
ftimmte Menge von Bildungselementen iſt vorhanden, betreff3 deren man über: 
eingefommen ift, daß fie dem fünftigen Gefchlechte überliefert werden follen. Weber 
dieſe Bildungselemente felbft noch die unter denfelben zu treffende Auswahl ge= 
hören der Schule als ſolcher an; erftere bilden dad Erbe unfrer Kultur, die auf: 
gefpeicherte Arbeit von Zahrtaufenden (darunter auch langer Beitperioden, in denen 
die Schule gar feine oder jo gut wie gar keine Rolle fpielte), letztere ift ein Produft 
aus den praftiihen Wünſchen und Forderungen des Publikums und aus der Arbeit 
von Staatdmännern und hohen Beamten, unter denen fid) allerdings auch Schul: 
männer zu befinden pflegen, aber nicht als Dirigenten, fondern mehr al3 technifche 
Ratgeber. In befondern Anftalten ift dad Lehrerperfonal ausgebildet und nad) 
allen(?) Richtungen für feinen Beruf befähigt worden — immer mit Mitteln, welche 
nicht der „Schule,“ fondern dem gefamten Schafe unſers Kulturlebens entnommen 
find; Staatögefeße find es, welche jedem Kinde die Schulpflicht auferlegen, und es 
war eine ungeheure, nur zum allerffeinften Zeile von der Schule felbft gelöfte 
Aufgabe, den Gedanken diefer allgemeinen Schulpflicht zu faſſen und durchzuführen; 
Staatögefehe fordern von beftimmten Kategorien von Staatödienern ſowie von 
Leuten, die fi) beftimmten Berufen widmen wollen, ein beſtimmtes Maß von 
Bildung, und in allen diefen Fällen Hat der Weg, auf dem der anzulegende 
Maßſtab gefunden und zur praktiſchen Handhabung gebracht wurde, mit der Schule 
ſelbſt verzweifelt wenig zu thun. Darum alfo haben wir die Schule, weil wir 
das nötige Maß von Einfiht befaßen, um gewiſſe Bildungselemente für jedermann, 
ein gewifjes höheres Bildungsmaß für alle Angehörigen dieſer und jener Lebens: 
treife für erforderlich zu Halten, weil wir die Mittel Hatten, Schulanftalten einzus 
richten, welche eine gefidherte Uebertragung diefes Bildungsmaterials auf die be- 
treffenden Teile der Jugend bewerfftelligten und verbürgten, weil wir über die 
hohe moralijche Kraft verfügten, die ftrenge Durchführung der betreffenden gefeß- 
lichen Vorſchriften zu erreichen und nötigenfall® zu erzwingen, und weil wir bie 
Schule ſelbſt fortwährend in fefter Hand Halten und ihr Richtung und Inhalt 
anzuweifen vermögen. Alle dieje Dinge thut nicht die Schule, jondern das eı- 
wachſene Gejhledht, mit dem Maße von Einfiht und Tüchtigkeit, welches ihm (mur 


- 286 £iteratur. 


zum Teil dankt der Schule) innewohnt. Die Schule ift nur das don frühern er: 
wachjenen Geſchlechtern geichaffene und vom jegigen erwachſenen Geſchlechte erhaltene 
und ftetig fortgebildete Werkzeug. 

Nehmen wir einmal an, die Schule hörte plößlih auf, Würde etwa die 
Bildung aus der Welt verfhwinden? Ja würde aud nur ein einziger Bildungs- 
faftor verloren gehen? Sicherlich nicht. Die Fortpflanzung der Bildung würde 
ohne Zweifel eine undollfommene, unvollftändigere, namentlih ungleihmäßigere 
jein als heute; aber ftattfinden würde fie ganz gewiß ebenfowohl wie bisher, folange 
es auf der einen Seite Eltern und mit der Freunde am Lehren ausgerüftete 
Perfonen, auf der andern Kinder und von Wifjensdurft erfüllte Menſchen giebt. 
Nach diefer Seite hin wiirde ſich im weſentlichen garnichts ändern. Alſo ift die 
Schule nit der die Bildung aus ſich erzeugende und ermöglidhende, jondern nur 
der in beftimmten, bequem zurechtgemachten Formen fie übertragende Faktor. 

Vieleicht dünkt es manchem unfrer geehrten Leſer, bei diefer ganzen Betrachtung 
laufe viel zwediofe Silbenfteherei mit unter; andre mögen der Anficht fein, es 
würden mit derfelben offene Thüren eingerannt. Wer aber den geiftigen Hochmut 
in der Nähe mit angefehen hat, mit dem unſre Schulmeijter ſich oft für die 
alleinigen und unentbehrlichen Träger der Bildung Halten, der fühlt eben das Be— 
dürfnis, ſich felbft einmal darüber Har zu werden, daß die Schule keineswegs die 
Urſache unfrer Bildung fei, fondern lediglid dad Mittel, diefelbe in beftimmter 
Weife zu übertragen, und daß der Stand unfrer Bildung felbjt bei unferm er— 
wachſenen Gejchlechte ruhe. 





Siteratur, 


Bürftengunft von U. ©. €. Wallis. Mit Genehmigung ded Autors aus dem Hol— 
lündiſchen überfept von E. v. d. 9. 3 Bände. Leipzig, Breitlopf und Härtel, 1884. 

Der Verſuch, die tragifche Geftalt König Erichs XIV. von Schweden auf die 
Bühne zu bringen, ift fo oft gemacht worden (von Prutz, Krufe, Weilen, Milom), 
und fo oft vergebens, daß ſich nachgerade die Spötter darüber luſtig machen 
fonnten, und daß es von vornherein nur bramatifchen Anfängern und Stümpern 
zugemutet wird, wieder einmal einen König Erich zu fchreiben. Daß aber der 
üble Auf, den der Fönigliche Hypochonder in der poetiſchen Literatur befommen, 
nicht feinem eignen Verfchulden zuzumefjen ift, davon kaun der obige außgezeichnete 
Roman Zeugnis ablegen. Er lehrt wieder die alte Lehre, daß die Gejchichte ſelbſt 
poeftereicher ift al8 die Phantafie der Stümper, und daß der geniale Dichter 
zwanglod die Geſchichte erläutert und zugleid die poetische Pflicht erfüllt. In 
diefem Sinne ift der Noman von Wallis (ein Pjeudonym) ein hiſtoriſcher Roman 
eriten Ranges; denn nicht das Aeußerliche des Hiftoriichen Lebens, dad wechjelnde 
Koftüm in Sprade, Kleidung und Gefchmad, auch nicht die politifche Staatsaftion 
fommt da zur Geltung, fondern das, was in aller Gefchichte ſich gleichbleibt, was 
alle Geſchichte erft erzeugt: die ewig gleiche menfchliche Natur. ES ift ein Charakter: 
roman, weil Wallis mit ausgezeichneter Kraft die Genefis und Entwidlung tiefer 
und thatkräftiger Charaktere fhildert; umd es ift ein hiſtoriſcher Roman, weil alle 


£iteratur. 287 





Vorgänge genau fih an die Gefchichte halten und der Dichter mit dem ihm 
eigenften Rechte die Handlungen, welche die Chroniken unvermittelt mitteilen, aus 
der Einheit des Weſens entipringen läßt, dem fie zugefchrieben werben. Wenn 
man je ein Net Hatte, den Roman als den Erben des Epos zu bezeichnen, jo 
hat der Roman „Fürftengunft“ den gerechtfertigtſten Unfprud auf dieſe Be— 
zeichnung, denn alle Politik löſt fi) hier in die Poeſie des Reinmenſchlichen auf. 
Selbſt die Gegner des biftoriihen Romans werden ihn loben müffen, da Wallis 
eine zum größten Teil erfundene Geftalt in den Mittelpunkt feiner Dichtung ftellte, 
von deren tragiihem Schickſal aus die Handlung ihr einheitliches Licht erhält. 
Diefen Mittelpunkt giebt Göran Perfon ab, aud) ein eiferner Kanzler, der Eric) 
unzertrennlich biß zum verhängnisvollen Morde der Mdlichen begleitet und dann 
jelbft der Rache der Ueberlebenden von ihm zum Opfer gebracht wird, Die Hi— 
ftorifer wiffen von Perſon wenig zu erzählen, und das wenige lautet nicht eben 
freundlich: als ein felbjtfüchtiger Günftling wird er Hingeftellt. Jetzt follen neuere 
Forſcher Rettungen an ihm verfuchen. Wallis macht aus diefem Perſon einen 
tragiſchen Idealiſten mit eiferner Willensftärfe. Ein fauftiiher Zug der Unbe— 
friedigung an rein gelehrter Grübelei läßt ihn von Melanchthon, der ihn als feinen 
genialjten Schüler häßt, an den Hof Guftav Wafas ziehen, um jelbft an dem 
Gewebe der Geſchichte mitzuwirken, das er bis dahin bloß aus Büchern Kennen 
gelernt. Er will Handeln, er will Ehren gewinnen, er will fein ſchwediſches Volk 
beglüden, er will unfterblid werden, Nur daß er mit feinen politiichen Idealen 
ein oder zwei Jahrhunderte zu früh kommt, daß er ein ftarrer Doftrinär ijt, nur 
daß er vor allem zu viel auf die Treue König Erich& gebaut hat, an den er fid) 
in der Jugend angejchloffen und ihm alles, Gtüd und Gewifjen, geopfert hat, um 
ſchmählich preiögegeben zu werden. 

Mit ungewöhnlicher Kraft ift auch die Geftalt König Erxichs ſelbſt gefchildert; 
ihn, den ein Hiftorifer wie ©. Droyſen (in feinem „Guſtaf Adolf“ ©. 15) als 
den „großen Erben des erſten Waſa,“ ald den „Mann der großen Politik“ be: 
zeichnet, charafterifirt Wallis al3 einen fittlihen Schwädling, der in banger Furcht 
für feine eigne Eriftenz, eine Furcht, die eine lebhafte Phantafie zu ewig wachen 
Mißtrauen oft furchtbar fteigert, zu den fchredlichften Thaten verleitet wird. Iſt 
Perſon der verfteinerte Charakter, jo ift Erich die Eharafterlofigkeit ſelbſt. Und 
mit gleicher Meifterfchaft ift fein Water Guftad Wafa in feinem patriarchalifchen 
Negimente (im erjten Bande) geſchildert. Die tragiſche Geftalt des Nils Sture, defien 
jugendlich frische Lebensart anfänglich früh entzüct, dejjen Sieg in einem Turniers 
jpiel aber den Engherzigen wieder fo neidiſch, mißtrauiſch, gehäffig ftimmt, daß 
er nicht ruht, bis er ihn tötet, dieſer Nils Sture atmet die veinjte Poefie und 
wird darin nur erreicht von der immer nur flüchtig auftauchenden duftigen Geftalt 
der Karin Mans, jener Sergeantentochter, die Erich ſchließlich heiratete. 

Doch genug mit diefen Andeutungen. Es ift ein Roman reich an Poeſie 
und Fräftiger Charakteriſtik. Das erotiſche Element fpielt interefjanterweife eine 
ſehr geringe Rolle, was dem Ganzen einen fhönen männlichen, wahrhaft epifchen 
Zug verleiht. Nur einen Fehler muß man hervorheben, der leider die Lektüre 
etwas erſchwert: das ift die breite, refleftirende Sprache. So liebenswürdig dieſer 
finnige Erzähler ſonſt auch erfcheint, jo frei er von jedem Philoſophem ift, fo ob» 
jeftiv er allen feinen Geftalten gegenüberfteht und überall gleiches Recht und Licht 
verteilt — jo fatal ift fein ewiges Reflektiren im Erzählen. Die Ueberfegung 
hätte fehr leicht den Roman um ein Dritteil kürzen und ihm Damit gewiß zu einem 
jchnellern Erfolge verhelfen können. 


288 £iteratur. 


Der legte Jude. Roman von Karl Erdmann Edler. Leipzig, Schlide, 1885. 


Der Autor diefer Dichtung erjheint und als eine liebenswürdige Fünftlerifche 
Andividualität. Er ſchreibt einen hiftoriihen Roman, zu dem er offenbar gründliche 
und umfaffende Studien gemacht hat, und mit gutem Gejchmad weiß er das wifjen: 
ſchaftliche Handwerkszeug, den Schweiß der Arbeit zu verbergen und die Mitteilung 
hiſtoriſcher Kuriofitäten nie, wie e3 etwa George Taylor gethan, zum Bwede feiner 
Dichtungen zu machen. Sein Stoff ift der Untergang des jüdifchen Nationalreiches, 
die Berjtörung Jeruſalems: aber fo nahe auch Beziehungen auf die Gegenwart 
gelegen hätten, fo vermeidet er fie doch mit glücklichem Takte und bewahrt ſich die 
fünftlerifche Objektivität gegenüber feinem großartigen, welthiftorischen Gegenitande. 
Er war der Verfuhung ausgejeßt, der jo viele erlegen find, anſtatt lebendiger 
Menfchen abftrakte, ſymboliſche Geftalten zu jchaffen, welche die hiſtoriſchen Mächte, 
die jened tragische Ereignis herbeiführten, perfonifiziven ſollten: aber er iſt diefer 
Verſuchung ausgewichen. Gerade die Charakteriftif ift feine Stärfe: die Bilder, 
welche er von Kaiſer Claudius, den Gefchichtsichreibern Polybius und Joſephus, 
von Titus und deſſen Vater Veipafianus entwirft, find interefjant durd) ihre kritische 
Schärfe. Edlers Piychologie ift eindringend, feine ironifche oder fatirishe Haltung 
verftärft nur den lebhaften Eindrud feiner Bilder. Und ebenſo vortrefflid find 
die Geftalten feiner Erfindung dargeftellt: der Held des Romans vor allen, Dthinel, 
welcher die Stärfe Simfond mit der Seelenreinheit Siegfried in fich bereinigt; 
die bubhlerifche und verführeriihe Königin Berenice, welche nur durch die Ver- 
heimlichung ihres wahren Namens und mit Anwendung der raffinirteffen Weiber: 
fünfte den gewaltigen legten Sprößling der Makkabäer, defjen Gejhleht von dem 
ihrigen, dem der Heroden, bid auf feinen eignen Water ausgetilgt wurde, in ihre 
Liebesbande zu loden vermochte; ferner andre frei erfumdene Charaktere, wie die 
humoriftifch ſtizzirten jüdifchen Typen der Pharifäer, Saducäer und Efjener, des 
rührend gläubigen Nazarenerd, des Soldaten. Und jelbit da offenbart ſich noch 
der Fünftleriihe Sinn Edler, wo er mit dem Hiftoriichen Roman in Konflikt gerät 
und ihn eigentlich ad absurdum führt, wo er nämlich Geftalten zeichnet wie den 
penfionirten Soldaten, die nicht? weniger als antik patinirt find, fondern nur aus 
unfrer lieben deutjchen Umgebung zweitaufend Jahre zurüd zu den Parthern ver- 
jeßt worden find. Uber troß aller diefer Tugenden, zu denen wir noch die einer 
trefflihen Proja anführen wollen, und die wir gewiß bereitwillig anerkennen, 
vermögen wir diefen „legten Juden“ doch nicht rückhaltlos zu loben. Es geht ein 
Zwieſpalt durch dad ganze Werk; man jagt fi: der Autor ift bei al feinem 
Können der großartigen Aufgabe nicht gewachfen gewejen. Man kommt nie zum 
Gefühl der Tragödie, die fi) in dem Untergange Serufalems abgefpielt hat. Die 
Liebesgefhichte zwifchen Othinel und Königin Berenice ift fo äußerlich mit jenem 
furchtbaren Ereignis verknüpft und nimmt gleihwohl foviel Raum ein, daß beide 
Handlungen einander ausſchließen. Kurz: es hat ein im Genrefache hervorragender 
Künftler ſich fruchtlos an eine übergroße, feinen Stil und feine fünftlerifche Bes 
* überſchreitende Aufgabe gewagt. Das Detail iſt intereſſant, das Ganze iſt 
verfehlt. 





Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. 
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Drud von Carl Marquart in Leipzig. 


— 





Der Tod des Mahdi. 


Fie Tories ſcheinen im ihrer ägyptiſchen Politik Glück Haben zu 
ſollen. Der Tod des Mahdi, von uns vor kurzem noch bezweifelt, 
ijt aus einem Gerücht zur Thatjache geworden, und jchon taucht 
ein zweite Gerücht auf, nad) welchem Osman Digma, der ge— 
ſchickteſte und thatkräftigite Unterfeldherr des Propheten, gleichfalls 
geitorben wäre. Bleiben wir bei dem erjten und widmen wir ihm zunächit einen 
furzen Nefrolog, jo können wir jagen: er hat jein Werf im ganzen wohlgethan. 
Zwar ließ er fich bisweilen eine Gelegenheit entgehen, aber im allgemeinen war 
er ein glänzender Gtreiter für Allah und den Islam, und wenn auch die 
Ferne viel zu der unheimlichen Majejtät beitrug, die ihn umgab, jo war er 
doch ohne Zweifel eine ungewöhnliche Erjcheinung in der Gejchichte des Sudan 
und des Nillandes überhaupt, ein großes Rätjel und eine jchtwere Gefahr. Wie 
ein Wüſtengeiſt trat er plöglich auf am Horizont. Erjt ein Heiner jchwarzer 
Punkt, jchwoll er von Jahr zu Jahr in die Höhe und in die Breite, bis er 
zum furchtbaren Rächer de Glaubens an dem geworden war, was man in 
Kairo und London Zivilifation nennt, des Glaubens, der im Sudan noch feine 
Urfraft bewahrt. Er war offenbar eine Verförperung diejes Glaubens, ſonſt 
hätte er nicht vollbracht, was er begann. Nach Jahren einfamer Andacht und 
Beichaulichkeit trat er aus feiner Zelle auf der fernen Inſel unter die Mullahs 
und verkündete ihnen: „Ich bin, der da fommen ſoll!“ Sie fpotteten feiner, 
aber die Frommen, die Derwilche des Landes, hörten auf jeine Stimme, und das 
Bolf jammelte fih) um ihn. Von Dorf zu Dorf, von Zeltlager zu Zeltlager 
ging die Rede, daß er der Mahdi, der Herold des taufendjährigen Reiches, des 
erjten Sturmes jei, der dem Auferftehungstage vorangeht, die Ungläubigen wie 
ein Kornfeld niederlegt und den Gläubigen wie die Pojaune des Erzengelö be- 
Grenzboten III. 1885. 37 





290 Der Tod des Mahdi. 





geifternb in Die Opren Ffingt. Die Stämme der Wüſte fielen — zu rn 
Icharten fich um das von ihm geweihte Panier, ſie jchliffen ihre Schwerter und 
Speere, fie legten jein Gewand an, das mit den Ktoranjprüchen gejtidt war, 
welche denen, die für den Glauben fallen, ewige Paradiejesfreuden verheißen. 
Sp zog er ins Feld, und jo behauptete er cd. Er war eine myftiiche Macht. 
Das Volf des Sudan wurde von feinem Namen angezogen wie Eifenjpäne 
vom Magneten, der ganze Islam erhob ſich mit hoffnungsvollem Laufchen. 
Vergebens bewiejen die Gelehrten und Berftändigen, daß er aus dem und jenem 
Grunde nicht der Berheißene fein fünne. Seine Antwort waren fiegreiche 
Schlachten und Belagerungen. EL Dbeid, die Hauptitadt von Kordofan, fiel in 
jeine Hand, und Chartum hatte dasjelbe Schickſal, nachdem zwei Jahre vorher 
ein ägyptiſches Heer troß feiner Kanonen und Hinterlader von den halbnadten 
Speerträgern der Wüſte vernichtet worden war. Der Feldzug ber britiichen 
Notröde gegen ihn miklang kläglich. Faſt der ganze Sudan befand fich zuletzt 
in jeiner Gewalt, das Land am untern Nil war bedroht, Arabien reifte einer 
Erhebung entgegen, die herrjchenden Türfen zitterten. Der Sohn eines Zimmer: 
mannes in Dongola, ein armer Derwiſch, hatte er und er allein die Schleußen- 
thore des muhamedanischen Glaubenseifers aufgebrochen und jenen Gewaltitrom 
entjefjelt, der mehr als einmal in der Geichichte der Schreden des Menjchen: 
geichlechts3 war. Die Stunde zu größerm Triumph wollte jchlagen, jchon bob, 
jo jchien es, der Hammer der Uhr dazu aus, da trat plöglich Ajrael zu ihm, 
um ihm ins Ohr zu flüjtern, und Mohammed Achmed, der Mahdi, der „Gott: 
geleitete,“ der Leiter, legte Macht und Herrjchaft nieder, wandte ſich und folgte 
dem Engel des Todes. 

Was werden die Heerfcharen dazu gejagt haben, die an ihn als Gejandten 
de3 Himmels zur Vollbringung eines großen Werfes glaubten? Er iſt geftorben, 
an proſaiſchen ſchwarzen Blattern geitorben, ehe es vollendet war. Statt jeine 
Sendung mit den letzten Triumphen zu frönen, hat er ſich nur als den Urheber 
eines örtlichen und vorübergehenden Aufjtandes, als Anftifter nußlojen Blut- 
vergießens, als einen Mann gezeigt, der Zeritörung, Mangel und Not ohne 
Zwed veranlaßte. Er ftürzte viel um und baute nichts auf der Trümmerftätte. 
Das Land, wo er fiegte, ijt weithin wüjte gelegt und leidet Hunger, ganze 
Stämme find in feinen Schlachten gefallen, und die Überlebenden haben Urjache 
zu fürchten, daß die Regierung ſich für ihre Niederlagen rächen wird. Seine 
Anhänger haben ihm aljo nichts zu danfen, und die, welche ſich von ihm fern- 
hielten, werden frohloden. In den Bazar aber wird man fich lebhaft über 
das Schicjal des Toten ftreiten. Warum jchicte ihm Allah den Todesengel, 
als er jchon nad) dem Siegespreife greifen konnte? Noch ein Jahr oder zwei, 
und Mohammed Achmed hätte den großen Pilgerzug nach Mekka geführt, den 
er immer verfprochen, er hätte, im Sudan unabhängig geworden, Ägypten als 
Papſt des Islam, als Abgeordneter des Propheten, ala Prophet eignen Rechtes 


Der Tod des Mahdi. 291 





beherrjcht. Statt dejjen ift er geftorben und hat damit feine eignen Weisfagungen 
zunichte gemacht und ſich als Betrüger enthüllt. Was wird er antivorten, 
wenn jest Monkir und Nakir, die ſchwarzen Engel, an jeinen Sarg treten, ihm 
aufzufigen gebieten und ihn über fein Leben und Thun verhören, wie das mit 
jedem Menfchen im Grabe geichieht? Wird er ihnen gegenüber bei feiner Be- 
hauptung, von Allah berufen worden zu fein, zu verbleiben wagen? Haben 
gute Engel, ftatt diejer Inquifitoren, der jcheidenden Seele begegnet und fie als 
die eines wahren Propheten unverweilt nach dem Paradieje geleitet, oder wird 
er in der Zwiſchenzeit bis zur Wuferftehung wie der körperloſe Geiſt eines 
Märtyrerd im Kropfe eines grünen Vogels fortleben, der fi) vom Laube der 
Baradiejesbäume nährt? War er wirklich der Mahdi, der Prophet Gottes, fo 
hat er jet jchon vom Waſſer des Himmelsftromes getrunfen, welcher den Durjt 
auf ewig jtillt, und ruht in prächtigem Gewande in feinem Zelte, das aus einer 
einzigen mondicheinfarbigen Perle befteht und unter dem alle Wonne tragenden 
Jubabaume dicht an einem Bache aufgeichlagen ift, darin Mil), Honig und 
Wein fließen. Eine Schaar fchwarzäugiger Paradiefesmädchen, von Mojchus 
duftend, umgaufelt ihn. Wehe ihm aber, wenn die Muaffibat, die Auffichts- 
engel, die jeden während feines Lebens begleiten, bei Allah ihr Verzeichnis ein— 
gereicht haben und ihm das für alle Paradiejesfandidaten unerläßliche Minimum 
von Wahrheit und Gerechtigkeit, „halb jo ſchwer als das Gewicht einer roten 
Ameife,“ mangelt; denn in diefem Falle wird, wie das „Lichtvolle Buch“ jagt, 
das Scidjal des Sohnes Abdallahs ein weniger feliges fein als das des ge- 
ringften feiner Speerträger, die in der Schlacht für den Glauben ihr irdijches 
Leben hingaben. 

Wir find überzeugt, daß dieje Fragen, die Fragen über den jenfeitigen Zuftand 
des Propheten, die Gemüter im Sudan jet vorwiegend bejchäftigen werden. 
Aber auch die politifche Seite des Todes Mohammed Achmeds wird in ihren 
Betrachtungen eine wichtige Rolle fpielen. Seine Anhänger müſſen feinen 
plöglichen Hingang wie einen jchweren Schlag empfunden haben und tief ent— 
mutigt jein. Namentlich die Derwijche, in denen vorzugsweiſe die Stärke jeiner 
Macht und der Nerv der ganzen Erhebung lag, müſſen förmlich betäubt davon 
fein. Es war das leßte, woran fie gedacht, was fie erwartet hätten. Was find 
fie ohne einen Mahdi? Was ift fein Neffe, den er zu feinem Nachfolger er: 
nannt hat? Ein andrer Mahdi ſoll aufgetaucht fein, aber er wird fich erſt 
durch Erfolge zu legitimiren haben, und die können nur durch einen Bürgerkrieg 
zunächit mit Landsleuten angeftrebt werden. Zerjplitterung der von dem nun 
geſtorbnen Propheten zujammengefaßten Kräfte, Ungewißheit und Zweifel werben 
an die Stelle der Begeijterung treten, welche die Bewegung bisher hob und 
trieb und unwiderftehlich machte. Sie muß auf jeden Fall eine Weile Halt 
machen. Die Aufftändischen werden ſich gegenfeitig bekämpfen, zerfleiichen und 
ihwächen. Bis die übriggebliebnen Führer und die Derwiſche fich für einen 





292 Der Tod des Mahdi. 


neuen Propheten entichieden haben, werden fie in ihr frühere Dunfel zurück— 
verlinken; denn fie lebten nur von dem Lichte, das der Tote entzündet und um 
fi) verbreitet hatte. Als Jünger und Gehilfen des Meſſias waren fie Perjonen 
von Bedeutung, aber er jtarb wie ein gewöhnlicher Menjch an den Blattern, 
und ihre Stellung ift jet eine höchſt unfichere, um nicht zu jagen eine abjurde, 
auf alle Fälle eine für den Chedive und England ungefährliche. Der Aufſtand 
des Sudan iſt fortan eine Gewitterwolfe, welcher die Elektrizität abhanden 
gekommen iſt. Eie kann fich wieder fammeln und fpannen, aber wahrjcheinlicher 
iſt, daß die Wolfe fich in fleine Wölkchen auflöfen und nach einem jchwächer 
werdenden Wetterleuchten ganz verichwinden wird. 

Der Tod des Mahdi bietet dem Lord Salisbury eine politische Gelegenheit 
zum Handeln, die mit einer finanziellen eng verbunden iſt. Die Bewegung im 
Sudan ſtockt damit, der Aufitand ift praftiich wenigſtens bis auf weiteres, 
vielleicht für lange Zeit, vielleicht jogar für immer tot wie fein Urheber. Osman 
Digma wird — fall er nicht wirflich ebenfalld geftorben ift — den Widerjtand 
fortjegen, und andre werden möglicherweije desgleichen tun. Aber das einigende 
Biel wird fehlen, die Bewegung wird auf Unabhängigkeit von Stämmen ge- 
richtet, weniger von religiöjen Kräften und Zwecken erfüllt und getrieben fein. 
So wird es für die engliiche Politif möglich werden, die Rüdzugspläne einer 
Nevifion zu unterziehen, welche in der legten Zeit die Operationen der britijchen 
Truppen und das Verfahren der ägyptischen Behörden bejtimmten. Schon hörte 
man in diefer Hinficht, daß ein Verfuch unternommen werden foll, durch einen 
Vorſtoß nach Kaſſala Hin die tapfere Beſatzung diefer Stadt zu retten, welche 
fih nun jchon länger als ein Jahr mühſam gegen die Angriffe der Sudanejen 
gewehrt hat. Ob man imftande fein wird, die wertvolle Brovinz Dongola ohne 
große Opfer wieder zu bejegen, ift eine Frage, die fich nicht eher beantworten 
läßt, als bis der jegt nach Konftantinopel abgejandte Drummond Wolff fi und 
Salisbury Gewißheit verjchafft hat, wieweit England nicht bloß auf Die 
Autorität des Sultans, fondern auch auf die türkische Armee, d. 5. auf ein 
Hilfskorps aus derjelben, rechnen darf. Auf alle Fälle iſt es Mar, daß die 
Politif der Tories am Ruder jekt, wo der Tod des Mahdi die Revolution der 
Sudanejen gelähmt hat, eine gute Gelegenheit vor fich fieht, das Bollwerk zwiſchen 
Ügypten und dem Sudan, welches felbft die liberale Regierung für notwendig 
erklärte, weiter nach Süden, über Wady Halfa hinaus vorzufchieben. Es gab 
eine Zeit, wo Ehartum zum füdlichiten Endpunfte der ägyptifchen Herrichaft zu 
machen gewejen wäre, aber mit Gordons Tode und dem Einzuge des Propheten 
in die Stadt am Zufammenfluffe des Blauen und des Weißen Nils ging die 
Ausficht auf diefe Ausdehnung verloren. Man darf indes nicht unterjchäßen, 
was fich bier jet wieder, wo die Perjönlichkeit des Mahdi und der Glaube an 
feine göttliche Sendung die Sudanejen nicht mehr einigt und ftärkt, dieje viel- 
mehr wieder in einzelne Parteien mit weltlichen Zielen, die fich widerjtreiten, 


Der Tod des Mahpdi. 293 








zerfallen werden, mit wohlgeführten ägyptifchen und türfiichen Truppen aus- 
richten läßt. Hicks Paſcha und Baker Paſcha haben ala Führer ägyptiicher 
Heere ſchmachvolle Niederlagen erlitten, nach denen die öffentliche Meinung 
ſchloß, mit folhen Truppen fei überhaupt nichts anzufangen. Indes dürfen 
jene Niederlagen doch nicht über die Zeit vor ihnen verblenden: wir dürfen Die 
Thatjache nicht vergefjen, daß ägyptische Soldaten Jahrzehnte hindurch in diejen 
jelben Gegenden arabische Horden und Stämme, ja felbjt Reiche wie Darfur 
und Kordofan beſiegten und den Namen des Chedive bis über den Äquator 
hinaus gefürchtet machten. In der That, es waren Ägypter, welche den Sudan 
unterwarfen und ihm Ordnung aufzwangen, und nur das Gebot Englands 
— ein ſehr unüberlegtes Gebot Gladſtones — war, wie wir wiſſen, ſchuld, 
da dieſe gewaltige Eroberung aufgegeben wurde. Daß die eingeborne Armee 
Hgyptens aljo im Sudan gute Dienfte leiften würde, namentlich wenn fie einen 
Beiſatz tüchtiger türkischer Mannichaften erhalten hätte und von guten türkiſchen 
Offizieren befehligt wäre, leidet faum einen ernftlichen Zweifel, und es fann 
ſich nur fragen, wie weit man mit der Wiedereroberung des Sudan zu gehen 
ein Intereffe und die Kraft hätte, 

Dieje Frage gehört jedoch der Zukunft an. Für jet war nur zu fon- 
ftatiren, daß der Aufitand der Subanefen mit dem Hingange des Mahdi auf: 
gehört hat eine dringende Gefahr zu fein. Auch die manchen Engländern jehr 
am Herzen liegende Rettung des Landes vor der Gefahr, wieder ein Schauplaß 
des Sflavenhandel3 und der Sklavenjagden zu werden, gehört der Zukunft an. 
Bei der Löfung dieſer Frage wird weniger Ägypten als der Herricher des neuen 
Kongojtaates die Hauptrolle zu übernehmen haben, wobei freilich vorausgeſetzt 
wird, daß der Kongojtaat joviel wert ift, als man behauptet hat, und jo gut 
gedeihen wird, daß feine Aufrechterhaltung fich lohnt, woran neuerdings vielfach 
gezweifelt worden ift. Einer der Gründe, aus denen die öffentliche Meinung 
in England — wir unterjcheiden immer zwiſchen diefer und dem englijchen 
Bolfe — dem Minifterium Gladftone feine zaudernde und ſchwankende Politik 
in Ägypten bis zu einem gewiffen Maße verzieh, lag in den außerorbentlichen 
Schwierigkeiten, die aus der englischen Verantwortlichfeit für den Sudan er- 
wuchjen. Sollte man, jo fragten fich viele, englisches Blut und engliches Geld 
darauf verwenden, da in Dajen der tropischen Wüſte wieder Ordnung und 
Gejeg Geltung erlangten? Wenn Lord Salisbury fich dagegen jebt das 
Bündnis und die Beihilfe des Sultans in der Angelegenheit fichert, jo fann 
er mit einer und derfelben Politif dem britifchen Intereffe, der Pforte, dem 
Chedive und feinen AÄgyptern dankenswerte Dienſte leiſten — wenn engliſche 
Blätter Hinzufügen, auch der Sache der Menſchlichkeit, der Ziviliſation, fo 
fehnen wir dies, wie oft ſchon, als eine mindestens halb heuchlerijche und nach- 
gerade verbrauchte Nedensart ab. Noch mehr aber würde man fich dagegen 
verwahren müjjen, wenn das Organ der englijchen Oberbehörde, die Egyptian 





294 Der Tod des Mahbdi. 











Gazette, in einem zu Ende des Juli von ihm veröffentlichten Leitartifel wirklich, 
wie vermutet wurde, die Abjichten der Toryregierung in betreff des Nillandes 
ausgeiprochen hätte. Mancherlei läßt dies annehmen. Das Blatt jteht no- 
torisch in Beziehungen zu der ägyptiſchen Regierung, zu den englischen Militär: 
und Zivilbehörden in Kairo und wohl auch zu Perfönlichkeiten des Kabinets 
in London. Gleichwohl ift die Sprache, welche der Berfafjer des Aufſatzes 
führt, und der Charakter des Planes, den er vertritt und empfiehlt, jo kraß 
und undiplomatiich, dag man Anjtand nehmen muß, zu glauben, er fchreibe im 
Auftrage Salisburys oder andrer maßgebenden Perſonen, und nicht vielmehr 
im Sinne der Times, deren Sorreipondent er neben dem berufenen Oppert— 
Blowig ift, und deren grober Chauvinismus in letter Zeit auch in andern 
Fragen oft über das Ziel hinausgejchofjen hat. Wäre feine Auslaſſung wirklich 
offiziöfer Natur, jo würde fie felbjt als bloßer Fühler ftarf genug fein, um 
Ichliegen zu laffen, daß den regierenden Tories infolge des Todes des Mahdi 
der Hamm ungebührlich geichwollen wäre. England würde dann damit an— 
fündigen, daß es im Begriffe ftehe, die Maske abzumerfen, die es unter Glad— 
ftones Regierung vor dem Gefichte trug, es würde zu Drohungen fortgejchritten 
fein und die Zeit für gekommen halten, offen zu erklären, daß Agypten hinfort 
als britiiche Kolonie anzujehen und zu behandeln ſei. Das Blatt ergeht ſich 
in Anflagen gegen Frankreich, dem es vorwirft, feinen frühern Einfluß am Nil 
durch Mißgriffe verjcherzt zu haben und fich jegt zu bemühen, den dortigen 
Einfluß der Engländer durch Aufhegung andrer Mächte zur Einmifchung zu 
untergraben. „Laßt uns, jo heißt es weiter, der Welt zeigen, daß wir die 
Verantwortung für die Handlungen übernehmen, die ung das Zandern fremder 
Mächte aufgendtigt hat. Ergreifen wir endlich nicht bloß dem Namen nad), 
fondern thatfächlich mit unfern Starken Händen die Verwaltung Ägyptens und 
zeigen wir den Konſuln fremder Mächte, die fich erdreiften, fich zu gunften 
ihrer Unterthanen in den Gang des Geſetzes zu mengen, daß wir die Herren 
im Lande find... Europa ſoll und muß innewerden, daf alles, was in Ägypten 
geichieht, auf Veranlaffung Englands gejchieht, und daß es für alles, was am 
Nil vorkommt, einzig und allein mit England zu rechnen hat. Wir wollen 
ficherlich alles vermeiden, was zu einem Zuſammenſtoße mit dem Vertreter 
einer auswärtigen Macht führen fann, wo aber ein jolcher Konflikt nicht zu 
umgehen ijt, muß England mit feiner ganzen Macht und feinem ganzen Ein- 
fluffe auftreten, damit das Anfehen feiner Vertreter gewahrt bleibe.“ 

Das heißt deutlich gejprochen, aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht, 
der nicht John Bull, fondern Europa heißt. Salisbury kann unſers Erachtens 
diefe Thatſache nicht überjehen, wie freundlich ihm auch dag Glüd lächelte, er 
muß wiffen, daß Großbritannien zwar mächtig, aber gerade jet weit davon ent- 
fernt ift, allmächtig zu fein. Der raſche Abjchluß des finanziellen Geſchäfts in 
betreff Ägyptens ift wahrfcheinlicy auf den Wunfch Deutfchlands und Dfterreich- 


Der dentſche Sivilprozeß in praktiſcher Bethaͤtiguns. 296 


Ungarns zurückzuführen, ſich den neuen Miniſtern, denen man in Berlin und 
Wien ſympathiſcher gegenüberjteht als den frühern, gefällig zu erweifen. Die 
Ausfiht auf Gewinnung türfiichen Beiftandes erwuchs aus der Bereitwilligfeit 
der Konjervativen, jich mit der Pforte auf freumdichaftlicheren Fuß zu ftellen. 
Aber der Tod des Propheten der Sudaneſen iſt lediglich ein Stüd guten Zufalls 
für das neue Kabinet und follte als jolches beurteilt werden. Er beweijt nichts 
für die Überlegenheit Salisburys über feinen Vorgänger, aber er kann jenem 
auch bei den Wahlen nügen. Das englische Volk liebt wie andre Völker Staats- 
männer, die Glück haben, bejonders wenn fie Verjtand, Gejchi und Energie 
genug befigen, die Gelegenheit zu bemußen, die der Zufall ihnen bietet, Vorteile 
für ihr Land daraus zu prägen. Salisbury hat jebt Gelegenheit, im Ein- 
vernehmen mit den beiden verbündeten Großmächten Mitteleuropas und auf der 
Bafis der unbeftreitbaren Rechte des Sultans das Interefje Englands am Nil 
in maßvoller Weife wahrzunehmen und zu fichern. Jene Rechte, auf die Bis- 
mard jchon einmal hindeutete, find für England jo nüglich, daß, wenn fie nicht 
Ihon vorhanden wären, es rätlic) fein würde, fie zu erfinden. 








EIER 





Der deutiche Sivilprozeß in praftifcher Bethätigung. 


TR] Inter diejem Titel hat der frühere Reichsgerichtsrat Dr. Bähr eine 
Schrift veröffentlicht (Jena, Fiicher, 1885; 96 ©.), die von 
BE feinem Sachkundigeren hätte verfaßt werben fönnen, da Der 
| Autor eine in Theorie und Praxis echt bewährte, hochbedeutende 

ee Saft iſt und überdies als Reichstagsabgeordneter Gelegenheit 
gehabt hat, an den großen Juftizreformwerfen mit thätig zu fein. 

Das Buch wendet fich zwar in erfter Linie an die Fachgenofjen, aber 
Dr. Bähr versteht es, jo lebendig zu fchildern, jo plaftiich zu geftalten, jo Har 
zu jchreiben, daß jeder Gebildete, der ein Interefje am öffentlichen Leben Hat, 
diefe Schrift mit Genuß und ſtets wachjender Teilnahme Iejen wird. Eben 
wegen dieſer allgemeineren Bedeutung halten wir es für unſre Pflicht, auf den 
Gegenstand näher einzugehen. 

Um es gleich vorweg zu fagen, mit einer Heinen Ausnahme unterjchreiben 
wir jedes Wort, und wenn es zuläffig wäre, unter den Juriften eine Abjtimmung 
herbeizuführen, jo find wir der Überzeugung, daß jeder, welchem das Wohl 
de3 Ganzen am Herzen liegt, fich zu der Kritik Bährs befennen wird. 





296 Der deutfche Zivilprojeß in praftifher Bethätigung. 


Unjre Differenz von Bähr ift feine erhebliche. Nach feiner Anficht joll 
es nicht darauf ankommen, ob im deutjchen Reiche ein paar Prozejje weniger 
gut entjchieden werden, wichtiger ilt für den Verfafjer, daß nad) der neuen 
Zivilprozekordnung die Ausbildung unſers juriftifchen Nachwuchjes nur eine 
mangelhafte jein kann, und daß wir infolge defjen uns ein jehr umgeeignetes 
Beamtentum großziehen. Wir fünnen dem lettgedachten Umſtande feine jo 
große Bedeutung beimefjen, ohme das Gewicht desfelben irgendivie verfennen 
zu wollen. Wäre dies der einzige Mangel der Zivilprozekordnung, jo müßte 
man darauf finnen, wie man die Ausbildung der jungen Beamten anders leiten 
fünnte, und, wäre das Werk fonjt gut, es bei demjelben lafjen. Wir legen 
gerade vom politischen Standpunfte der Thatjache die allergrößte Bedeutung 
bei, daß die Prozejje in dem überwiegend größern Teile des Reiches nicht mehr jo 
gut wie früher entjchieden werden, und wir find der Überzeugung, daß gerade dieſe 
Erfenntnis bereits in jo weite Kreiſe gedrungen ift, daß fie von den maßgebenden 
Gewalten im Reiche und in den Bundesstaaten nicht mehr überjehen werden fann. 
Im weitern Verlaufe hebt Bähr ſelbſt diefen Erziehungspunft nicht weiter hervor. 

Noch liegt in Deutichland der Schwerpunft des ftaatlichen und gejelligen 
Lebens im Mittelftande, und defjen Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit den 
bejtehenden Zuftänden ijt für die Gejtaltung des politischen Lebens in unſerm 
Vaterlande von einer nicht zu unterfchägenden Bedeutung. Gerade der Mitteljtand 
aber iſt es, welcher nach dem Zivilprozefje am meijten den Wert oder Unwert 
ftaatlicher Einrichtungen ſchätzen lernt. Er hütet ſich vor einer Übertretung der 
Strafgejeße, er vermeidet es, mit der Polizei in Konflikt zu geraten, er geht 
friedlich feinem Handel und Gewerbe nach, und gerade in diejer feiner Erwerbs— 
thätigfeit bedarf er zu ihrem Schuße eines ordentlichen Zivilprozefjes. Dieſer 
ift erforderlich für einen gefunden Kredit; der Schuldner muß wifjen, daß er den 
gerichtlichen Weg zu fcheuen hat, der Gläubiger muß ficher fein, daß er ſchnell 
und billig zu feinem guten Nechte gelangt. Staaten, denen ein Mitteljtand 
fehlt, in denen die Gegenfäße zwiſchen Reich und Arm jchärfer hervortreten — wir 
erinnern an Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Frankreich u. j. w. —, können 
einen guten Zivilprozeß entbehren. Der Arme, der dort nicht zu feinem Rechte 
gelangen fann, trägt mit andrer Unbill auch diefe, der Neiche aber ijt in ber 
Lage, auch im einzelnen alle auf fein gutes Recht verzichten zu können. Bei 
Völkern, welche eine weite Schicht des Mitteljtandes befigen, führt der Verzicht 
auf die Geltendmachung des Rechtes erhebliche wirtjchaftliche Schäden mit fich; 
ein verlorner Prozeß, die Unmöglichkeit, jein Necht geltend zu machen, ijt nicht 
felten der wirtjchaftliche Ruin. Aus diefem Grunde ift es für uns in Deutjch- 
land durchaus nicht gleichgiltig, ob die Prozeffe gut oder jchlecht entſchieden 
werden, ganz abgejehen davon, daß in die weitejten Kreiſe des Volkes dadurch 
Unzufriedenheit mit den ftaatlichen Einrichtungen und Mißſtimmung gegen die 
Regierung getragen wird. 








Der deutfche Sivilprozeß in praktiſcher Bethätigung. 297 





Abgeſehen von einzelnen kleinern Bundesſtaaten, in denen noch * alte 
gemeinrechtliche Prozeß mit ſeiner ganzen Weitſchweifigkeit und Dauer als Überreft 
des alten Reiches in Blüte jtand, war man in Deutichland mit dem frühern 
Zivilprozeß zufrieden. Die reichern Provinzen am Rhein und Elſaß-Lothringen 
fannten es nicht bejfer, für fie war ein Prozeß ein Luxus, den jich nur der 
Bermögendere gönnen konnte. In Altpreußen aber fonnte fich das Volk über 
nichts beklagen. Jedermann hatte Zutritt zu feinem Richter, kein Anwaltszwang 
veriperrte dem Minderbegüterten den Weg; der Richter behielt die ganze Leitung 
des Prozefjes in jeinen Händen, fein Gerichtsvollzieher war nötig, um den 
Verkehr unter den Parteien zu vermitteln und um das Urteil zu volljtreden. 
Seder fonnte ficher fein, daß alles, was er dem Nichter vorbrachte, auch Gegenftand 
des richterlichen Urteil® war, Die Mängel, welche der altpreußiiche Prozeß 
hatte, waren mit einigen Federſtrichen zu bejeitigen. Sie beitanden vom wirt: 
Ihaftlihen Standpunkte eigentlich) nur darin, dab es feine jofortige Voll: 
jtredbarfeit und fein Teilurteil gab, ſodaß aljo ein böswilliger Schuldner in der 
Lage war, fich jeiner Verpflichtung recht lange zu entziehen. Es hätte faum 
zweier Paragraphen bedurft, um dieje Übeljtände zu befeitigen, und bei allem 
Borurteil gegen altpreußijche Einrichtungen würde auch das übrige Deutjchland 
bald ihren Wert eingejehen und fich ihrer Segnungen erfreut haben. 

Der Wunſch nach einer einheitlichen Regelung des Zivilprozejjes war jchon 
vor der Entſtehung ded neuen Neiches in der Vevölterung rege, und es war 
deshalb nur allzunatürlich, daß dieſe Bejtrebungen nach der erfolgten Einigung 
zur Verwirklichung gelangten. Es ijt auch zu erflären, wenn, um einen eins 
heitlichen Prozeß zu erlangen, einzelne Opfer gebracht wurden, und wenn fich der 
einzelne Bundesjtaat damit tröjtete, daß er manches Sondergut aufgeben mußte, 
in der Hoffnung, eine minder gute Einheitlichfeit zu erlangen. Aber dieje 
Hoffnung iſt völlig zufchanden geworden. Es ift das große Verdienſt von 
Bähr, in feiner Schrift auf das fchlagendjte nachgewiejen zu haben, daß troß 
der einheitlichen Zivilprozegordnung wir dasjelbe vielgeftaltete Verfahren wie 
vorher haben. Ja dieje Mannichfaltigkeit ijt noch viel größer geworden; denn 
während fich früher die Geftaltung nur nad) den einzelnen Rechtsgebieten jchied, 
ift fie jegt nicht nur innerhalb desjelben Gebietes, ſondern oft auch an dem 
jelben Gericht verfchieden. Die grundlegenden Vorſchrifteu der Zivilprozeß— 
ordnung find jo dehnbar, daß fich jedes Gericht und jede Kammer ihr eignes 
Berfahren nach) Gutdünken einrichten können. Bähr Hat in dieſer Beziehung 
eine Enquete angeftellt, die, jo wenig erfchöpfend auch ein Privatmann eine 
joche veranftalten kann, bis zur völligen Überzeugung klarmacht, daß wir in 
Deutjchland einen einheitlichen Zivilprozeß weniger als je befigen. 

Alle Opfer, die Preußen gebracht hat, find demnad) völlig umjonjt ge- 
weien; wir haben unfre altbewährten guten Einrichtungen aufgegeben, ohne die 
eritrebte Einheit erreicht zu haben. 

Grenzboten III. 1885. 33 


298 Der dentfche Fivilprozeß in praftifcher Bethätigung. 








Daß aber eine folche Vielgeftaltung gerade in den Hauptgrundlagen der 
Rechtsanwendung möglich ift, liegt in den Vorfchriften, mit welchen die Zivil: 
prozekordnung Mündlichfeit und Schriftlichfeit nebeneinander ſetzte, ohne fie 
organijch miteinander zu verjchmelzen. Es würde zu weit führen, dies im 
einzelnen auseinanderzujegen — wer dies verfolgen will, mag Bährs Aus- 
führungen nachlejen. Heute liegt die Sache jo, daß niemand ficher iſt, ob feine 
Darftellung auch wirklich vom Richter geprüft wird. Früher mußte der Richter 
auf die Schriftjäge der Parteien eingehen, und wenn er es nicht that, jo war 
die Partei doch ficher, da der höhere Richter diejes Verjehen gutmachen würde. 
Jetzt find die Schriftjäge völlig Nebenjache; der Thatbeitand, die Grundlage 
der richterlichen Enticheidung, iſt dem Einflufje der Parteien entzogen. Der 
Richter macht ihm auf Grund jeiner Notizen in der mündlichen Verhandlung, 
und es bedarf feiner Ausführung, daß ein folcher Thatbejtand nur mangelhaft 
das wiedergiebt, was die Partei wirklich gewollt hat. Die Schrift iſt nicht um— 
ſonſt cin koſtbares Gut menjchlicher Bildung; jedermanı weiß, welchen Wert 
es bat, jeine Gedanken zu firiren. Bei allen wichtigen Verhandlungen im 
öffentlichen und privaten Leben bedienen wir ung der Schriftform, um uns 
eine fichere Grundlage zu verichaffen. Nur der Zivilprozeß iſt in Deutjchland 
jo gejtaltet worden, al3 ob die Bevölferung aus lanter Analphabeten bejtünde und 
die Schrifttunde wie bei den alten Ügyptern nur das Geheimnis weniger jei. 
Nach dem frühern altpreußischen Prozeffe mußte in jeder Verhandlung ein 
Mitglied als Referent und der VBorfigende die Sache gründlich jtudiren, ber 
erſte jogar eine jchriftliche Darftellung der Parteivorträge und jeine Rechts— 
auffaffung ausarbeiten. Die Parteien hörten den Vortrag des Thatbeitandes 
in der mündlichen Verhandlung und konuten jofort Unrichtigkeiten berichtigen. 
Das dritte Mitglied konnte fich in der Verhandlung ebenjogut informiren, wie 
jet aus den Vorträgen der Anwälte; gegenüber den beiden gut vorbereiteten 
Kollegen gab feine Stimme nur den Ausjchlag bei Differenzen. Jetzt dagegen 
braucht fein Mitglied vorbereitet zu fein, und iſt es auch im der Regel bei 
vielen Gerichten nicht; alle jollen ihre Weisheit aus den Vorträgen der Rechtö- 
anwälte jchöpfen, und jedermann weiß, wieviel fchwieriger es ijt, aus einem 
nur mündlichen Vortrage — der noch dazu parteiisch gefärbt jein muß — fid) 
feine Rechtsauffaffung zu bilden. Die Folge davon ift, daß an Stelle der 
frühern Sicherheit eine fchranfenlofe Willkür eingetreten und jeder Prozeß mehr 
oder weniger zu einem Würfeljpiel herabgejunfen iſt. Zu diefer Willkür in 
der Geftaltung des Prozepitoffes tritt dann noch das freie Ermeſſen, d. H. eine 
Willkür zweiten Grades, bei der Beurteilung des Beweiſes, und nach beiden 
Richtungen ift eine Nemedur durd) die obern Instanzen unmöglich. Selbjt wenn 
Schriftjäge gewechjelt worden find und der obere Richter ficht, daß diejelben den 
Thatbejtand ganz anders darjtellen, als es der erjte Richter gethan, er darf 
auf die erftern feine Nüdficht nehmen. Bei den Amtsgerichten endlich) muß 


Der deutfche Zivilprozeß in praftifcher Bethätigung,. 299 





fi) die VBartei überhaupt mit Haut und Haaren dem Richter überlaffen; er 
nimmt in das Protokoll auf, was ihm gut jcheint, denn hier ift die einzige 
Prozeßmarime: Tel est notre bon plaisir. 

Wenn aber ein Vorteil der mündlichen Verhandlung das unmittelbare 
Schöpfen des Urteild aus den Parteivorträgen fein fol, jo ergiebt fich, daß 
dieſes Schöpfen nur ein mangelhaftes jein fann. Denn die Zivilprozekordnung 
geht von der Vorausfchung aus, daß das vollfommenfte Weſen der Schöpfung 
ein Richter fei, er muß ein Ausbund der Weisheit, ein Engel von Geduld 
fein ; fie jtellt an feine Auffafjungsgabe und jeine Urteilskraft die höchſten Anforde- 
rungen, die jonjt an feinen jterblichen Menſchen gejtellt werden können. Und 
die armen Richter, die doch nur fterbliche Menjchen find, mit allen Fehlern 
und Mängeln, welche der irdischen Natur anhaften, jehen fich vor eine Aufgabe 
geftellt, die zu erreichen außerhalb der menjchlichen Möglichkeit Tiegt; fie müſſen 
folchen Anforderungen gegenüber unterliegen oder völlig verflachen, Kenntnis 
heucheln, wo fie beim beiten Willen feine haben können, ein Urteil fällen, wo 
ihnen noch jede Grundlage fehlt. Welche weitern Folgen ich hieraus auf den 
Charakter von Richter und Anwälten entwideln, brauchen wir nicht erft aus- 
zuführen. Die Eigenjchaft der Gründlichkeit, jonft bei den Deutfchen jo rüh- 
menswert, geht ihrem Untergange entgegen; fie wird in einigen Menjchenaltern 
zur Oberflächlichkeit geworden fein, an Stelle der Wahrheit tritt Schein, und 
e3 wird als Recht ausgegeben, was fein Recht ift. 

Bähr hat fich darauf befchränkt, nur diefe Schattenjeiten der Zivilprozeß— 
ordnung aufzudeden, offenbar weil gegenüber andern noch mehr zutage ge 
tretenen Beichwerden dieje Punkte fich bisher dem Auge des Publikums entzogen 
haben. Sie find das jchleichende Gift, deffen Vorhandenfein zunächft nur dem 
Sachkenner fund ift, bis der eingetretene Tod es allen offenbar macht. 

Nur kurz wird noch das Zuftellungs- und Gerichtsvollzieherweien berührt. 
Die Vermittlung der Prozeßſchriften umter den Parteien, das jogenannte Zu— 
ftellungswefen, ift bereit3 zu einer Geheimwiſſenſchaft geworden, deren voller 
Kenntnis ſich im deutjchen Reiche wohl nur wenige Gelehrte rühmen können. 
Wäre ed nicht fo traurig wahr, man wäre verjucht, diefen Teil der Zivilprozeß— 
ordnung al3 eine Satire zu betrachten, die würdig wäre, in eine neue Auflage 
von Wielands Abderiten aufgenommen zu werden. Wer unfre Kulturzuſtände 
nicht fennt umd dieje Beitimmungen der Bivilprozekordnung lieft, der muß un: 
zweifelhaft auf den Gedanken fommen, daß wir noch die Einrichtung einer Poſt 
nicht fennen. Und doch ift diefe im Neiche zu einer muftergiltigen Vollendung 
gelangt, zu einer Anftalt gediehen, auf die wir ftolz fein können, welcher der 
Staatömann jeine geheimjten Depeſchen, der Kaufmann feine wichtigjten Schrift- 
jtüde, jedermann jeine innigften Geheimniffe ficher anvertraut. Nur wer das 
Unglüd hat, einen Prozeß zu führen, muß feine Schriften durch den Gerichtö- 
vollzieher zuftellen laſſen, der natürlich dafür bejondre Gebühren berechnet. 


300 Der deutfche Fivilprozeß in praftifcher Bethätigung. 





Das Zuftellungswejen ift die Maufefalle der deutjchen Zivilprozehordnung, und 
wir bedauern nur, daß Ihering nicht unter ihr feine praktische Ausbildung er- 
fahren hat, ſonſt würde fein „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“ einen 
neuen Stoff humoriftisch-tragifcher Betrachtung erhalten haben. 

Dieſe Zuftellungen leiten uns aber zu dem Inſtitut der Gerichtävollzieher 
über, die wir direft aus fFranfreich haben importiren müffen, weil wir Deutjchen 
„bisher gar feinen Sinn für diefe Erfindung hatten. Durch fie iſt ein 
neues Organ in den Prozeß eingejchoben worden, das ebenfall3 auf often der 
rechtfuchenden Partei leben und unterhalten fein will. In feine Hände it die 
wichtige Zwangsvollftrefung, der Kernpunkt des Prozejjes, gelegt; denn an 
dem Urteil erfreut jich niemand feines gewonnenen Prozeſſes, ſondern erſt die 
Vollſtreckung Hilft ihm zu jeinem Rechte. Diefer wichtige Teil des Richter: 
berufes it fortan in ganz fubalterne Hände gelegt, die fih — natürlich und 
mit Necht — von ganz andern Zielen leiten lafjen, als von dem, zur Verwirf- 
fichung der Gerechtigkeit auf Erden beizutragen. Für fie ift ſelbſtverſtändlich 
und ohne da fie dafür ein Vorwurf treffen fann, ihr Beruf zum Gewerbe ge: 
worden. Daher die Klage, daß bald der Schuldner umerbittlich verfolgt wird, 
bald der Gläubiger fich in feinem Nechte gekränft fieht, und nicht felten durch 
Veruntreuungen beide gefchädigt werben. 

Der Richter war bisher der Herr des Prozefjes, und das gab dem Volfe 
ein großes Sicherheitsgefühl; e8 nahm ein Urteil auch dann mit dem Bewußt⸗ 
jein, ihm fei Necht gefchehen, Hin, wenn es zu feinen Ungunften lautete. Seht 
hat der Richter einen Teil feiner Befugniffe an den Gerichtvollzieher, einen 
andern Teil an den Anwalt abtreten müfjen. Auch bei ganz flarem Recht, 
auch in den einfachiten Fällen muß fich heute der Prozekführende bei größern 
Streitobjeften eines Anwalts bedienen, der nicht immer dafür forgt, die Sache 
beizulegen oder jchnell zu Ende zu führen. Und diefes Zerrbild cines Nechts- 
verfahren muß noch teuer bezahlt werden, denn was früher für die Gerichts: 
gebühr geleiftet wurde, das muß jet noch bejonders den Gericht3vollziehern 
und Anwälten vergütet werden. Daher die großen Klagen über die Prozeh- 
foften, die niemals aus der Welt geichafft werden fünnen, weil fie nicht in der 
Höhe der Süße, jondern in der Struktur des Prozeſſes, in dem Schmaroger: 
weſen der Zuftellungen und der Gerich3vollzieherafte ihren Grund haben. 

E3 ijt eine merfwürdige Erjcheinung, daß während wir auf dem wirtjchaft- 
lichen Gebiete mit dem Mancheftertum gebrochen haben, dasjelbe auf dem juri- 
jtiichen Gebiete in voller Blüte fteht. Während auf dem Wirtjchaftsgebicte der 
Staat den Schwachen ſchützt und forgend für ihm eintritt, berricht auf dem 
juriftiichen der Grundjag der freien Konkurrenz und des laisser-aller. 

Bähr bürdet die Verantwortlichkeit für die Zivilprozefordnung dem ver 
jtorbnen Minifter Leonhardt auf und weift an verfchiednen Beifpielen nach, 
wie wenig diejer imjtande war, das materielle Recht zu begreifen, und wie für ihn 


Der deutfche Zivilprozeß in praftifcher Bethätigung. 301 





alles nur im der form lag. In der That, die Zivilprozegordnung gleicht einem 
Gebäude mit ſchöner Faffade; wer es von außen betrachtet, wird entzückt jein 
über die Symmetrie feines Baues, über das Gleichmaß feiner Glieder, über die 
Bierraten und das Stuckwerk. Aber Hinter dieſer ſchönen Faſſade birgt fich ein 
unfolider Bau, der Grundriß iſt verfehlt, die Fundamente find morjch, die Wohn— 
räume eng und feucht, und wer fich von dem Scheine loden läßt und eintritt, 
der „laſſe alle Hoffnung draußen.“ Aber ganz war doc auch Minifter Leon: 
hardt ſeines Werfes nicht ficher, ja er hat in offner Reichdtagsfigung ausge: 
Iprochen, daß er mur mit Zagen das Werf vollendet jehe und gewünjcht haben 
würde, daß man es mit weniger Lob und mehr Bedenken behandelt hätte. 

Die Zivilprozekordnung trägt alle Merkmale jener Epoche in fich, die man 
jegt mit dem Namen Delbrüds, als des leitenden innern Minifters, bezeichnet; 
derjelbe Banferott, den jeine Wirtjchaftspolitif erfahren hat, droht auch der 
juriftifchen Reform. Es war jene Zeit, in welcher Fürſt Bismard, ganz von 
Sorgen um die äußere Bolitif, um die Erhaltung des Friedens, um die Kräf— 
tigung des jungen Reiches in Anjpruch genommen, die Zügel des Sonnen- 
wagens im Innern andern Kräften anvertrauen mußte, die ihrer Aufgabe nicht 
gewachlen waren. Wie fein andrer, verftcht er in der Volksſeele zu leſen, und jo 
hoffen wir, daß er fich jet auch diefer Zuftände erbarmen werde. Denn auch der 
„Hödur“ ift jehend geworden und läßt ſich nach den trüben Erfahrungen der 
legten Jahre nicht mehr von der Phraſe bfenden; wir find überzeugt, daß, 
wenn die Sache länger jo fortgeht, die Frage nach der Reform der Zivilprozeß— 
ordnung zur Parteifrage werden wird, und daß die Reform, zum Gegenftande 
der Barteiagitation geworden, viel weniger jachgemäß durchgeführt werden fann, 
als wenn eine wohlberatene Negierung die Führerrolle übernimmt. 

Es liegt nicht in der Bährichen Aufgabe, Vorfchläge zur Abänderung zu 
machen; aber aus dem ganzen Buche atmet nur der eine Gedanfe, daß der preu- 
Bilche Prozeß e8 war, der am meilten befriedigte, er iſt das Hoffnungsland, 
das er mit der Scele ſucht. Diefes Urteil ift aber von umſo größerm Gewicht, 
al3 e3 von einem Manne ftammt, der nicht Altpreuße ift, dem man alfo eine 
partifulariftiiche Befangenheit nicht vorwerfen kann, von einem Manne, der die 
Bierde von vier oberſten Gerichtshöfen geweſen ift, der fich in Theorie und Praris 
des höchiten Anſehens erfreut und jet außerhalb des politischen Lebens jtchend 
die Sache nicht von den Binnen der Partei, jondern von dem Standpunkte des 
Patrioten auffaßt, welchem die Not des Bolfes zu Herzen geht. 

E3 mag fein, daß es bei den gegenwärtigen Parteiverhältniffen im Reichs: 
tage nicht mehr leicht ift,, ein großes Geſetzgebungswerk zuftande zu bringen. 
Uber gerade auf dieſem Gebiete werden die Fraktionen jchieben müffen, um nicht 
geichöben zu werden. Selten hatten die höchjten Leiter der Juſtiz eine dank— 
barere Aufgabe, und ſelbſt wenn fie die Reform nicht durchführen könnten, ſollten fie 
fich den Ruhm, fie angeregt zu haben, bei Mit: und Nachwelt zu erwerben jtreben. 


Analeften zur Gefchichte der neuern deutfchen Runft. 


Don 5. U. £ier. 
4. Die Aufnahme der „belgifhen Bilder“ in Deutfhland. 





Zi der Gejchichte der neuern deut * Kunſt bei bem Belannt- 
toerben der „belgiichen Bilder“ der Fall ift. Im der That hat feine Schöpfung 
der bildenden Kunst in unjerm Jahrhundert eine jolche Revolution in den be- 
jtehenden Anjchauungen, eine folche Erregung der Gemüter, einen folchen 
Widerftreit der äſthetiſchen Anfichten hervorgerufen wie die Olgemälde Louis 
Gallait3 (Die Abdankung Karls V. zu Brüffel im Jahre 1555) und de Biefres 
(Der Kompromiß der niederländiichen Edeln), welche im Jahre 1842 ihren 
Triumphzug durch die Ausstellungen aller größern Kunſtſtädte Deutſchlands 
antraten. 

Bis zu Ddiefer Zeit war die Herrichaft der idealiftiichen Malerei, wie jie 
durch Cornelius und die von ihm ins Leben gerufne Münchener Schule ver: 
treten wurde, eine faſt unbejchränfte. Die Werke der Münchener Künſtler er— 
freuten fich einer ungewöhnlichen Anerkennung und wurden vielfach als das 
Höchſte gepriefen, was das deutjche Kunftvermögen bisher geichaffen habe. Zwar 
entitand in Düffeldorf unter Wilhelm Schadows Leitung eine eigne Maler: 
ichule, die im Gegenfage zu den Münchenern mit dem Anfpruche hervortrat, 
„malen“ zu können, zwar huldigten die Berliner Künstler jchon damals folo- 
riftischen Tendenzen und gingen fleißig in die Schule franzöfischer Meifter, aber 
weder hier noch da fonnten fich die Leiftungen mit den monumentalen Schöpfungen 
mefjen, die in der bairischen Hauptitadt unter dem Szepter König Ludwigs I. 
ind Leben gerufen wurden. 

Da mit einemmale trat in den „belgijchen Bildern,“ wie die Gemälde 
Gallaits und de Biefres ſofort und furzweg genannt wurden, eine bis dahin 
bei uns unbefannte Kunſtweiſe in den Gefichtsfreis der deutjchen Kunftfreunde 
und erzeugte einen Enthufiagmus, den wir heute faum noch zu fajjen ver- 
mögen. Damals erlitt das Anjehen der Münchener Schule die erjte empfind- 
liche Einbuße, und wenn auch der Meifter jelbjt bei feinen Zeichnungen für den 
Campo santo in Berlin, unbefiimmert um die Tagesjtrömungen, feiner idealen 
Nichtung treu blieb und gerade nad) den Anfchauungen feiner eifrigiten An— 


Analekten zur Gefhichte der neuern deutichen Kunft. 303 





hänger durch dieje jeine legte größere Arbeit jeine frühern Leiftungen noch über: 
traf, jo blieb doch die allgemeine Anerkennung, die ihm früher zur Seite ge- 
Itanden Hatte, aus und wandte fich dem neuaufgehenden Gejtirn zu. Die Zeit 
war eine andre geworden. Die lange vernachläffigte realiſtiſche Kunjtauffafjung 
machte lauter und lauter ihre Rechte geltend; man wiederholte immer wieder 
und wieder das Wort König Ludwigs: „Der Maler muß malen können“; und 
wenn es früher geheißen hatte: Nach Rom und Italien! jo galt jegt das Lo— 
jungswort: Nach Antwerpen umd nad) Paris! 

Das von Gallait und de Biefre gegebne Beijpiel fand denn auch bald 
unter den deutichen Malern Nachahmung, und es währte nicht lange, jo wurde 
die hiſtoriſche Malerei nach realiftiichen Grundjägen das Lieblingsfind der ge 
bildeten Laien, das auch die zünftige üſthetik bereitwilligit unter ihre Fittiche 
nahm. Man meinte, „daß fich das chrütliche Stoffgebiet für unjre Kunſt er- 
ihöpft habe und daß der geichichtliche Stoff an deren Stelle treten müſſe; 
nicht die Darjtellung des tranjzendentalen Gottes fomme unfrer Zeit zu, fon- 
dern des immanenten Gottes, der jich im Leben jelbjt in den großen Momenten 
der Gejchichte offenbare* (Alfred Woltmann, Aus vier Jahrhunderten, Berlin, 
1878, ©. 321). 

Wieder war es ein Münchener, Karl von Piloty, der ſowohl durch feine 
eignen Schöpfungen als in noch höherem Grade durch den Einfluß, welchen er 
vermöge feiner Schule gewann, den Prinzipien der Belgier einen vajch jich jtei- 
gernden und geraume Zeit andauernden Beifall verfchaffte und München noch 
einmal eine führende Stellung in dem deutjchen Kunftleben ficherte. Seine und 
jeiner Schüler Leiftungen fonnten bald den Wettfampf mit den Werfen der 
Belgier und Franzoſen aufnehmen, ja fie übertrafen fie jogar in vielen Stüden. 

Und heute? Offenbar ſtehen wir heute vor dem Verfall der Hiftorienmalerei, 
und fein auch noch jo wohlgemeintes Streben, nicht einmal die Verbindung für 
hiſtoriſche Kunſt, hat bis jet demjelben Einhalt thun können. 

Zwar fehlt es uns auch jegt noch nicht an Hijtorienbildern. Jedes Jahr 
fördert eine Neihe von Gemälden zutage, die uns über einen welthijtoriichen 
Moment belehren wollen, jei c8 daß fie uns den denfwürdigen Augenblid jchildern, 
wo eine franzöfiiche Königstochter in die glüdliche Lage fommt, einen Heirats- 
antrag zu erhalten, fei es daß uns die Graufamfeit, mit der ein römischer Kaifer 
ih an den Qualen der Chriſten weidet, vor Mugen geftellt wird. Und jollten 
wir etwa geringen Wert legen auf die Ausfüllung der Lücken unſrer Geſchichts— 
fenntnifje, die uns auf dieſe Weile geboten wird, jo gewinnen wir wenigjten® 
die tröftliche Überzeugung, daß unſre modernften Hiftorienmaler fleißig in die 
Schule unjrer Opernregifjeure gegangen find. 

Auch für die monumentale Malerei ijt gerade gegenwärtig ein aus der 
vaterländijchen oder fofalen Gejchichte entlehnter Stoff der am meijten will- 
fommne. Bald wird feine Aula einer höhern Schule, fein Sigungsjaal eines 





304 Analeften zur Geſchichte der neuern dentfhen Kunft, 








Suftizpalaftes oder Nathaufes, Feines unfrer allgemein zugänglichen Fürſten— 
ichlöffer mehr der Zierde jolcher hiſtoriſchen Schilderungen entbehren. Was 
einst Delaroche, der glänzendjte Vertreter der Geichichtsmalerei, den wir fennen, 
als die Aufgabe feines Lebens hingejtellt hat, heute jcheint es Wahrheit geworden 
zu ſein. „Warum, fagte er, joll es dem Maler verwehrt fein, mit dem Ge: 
ichichtichreiber zu wetteifern? Warum joll nicht auch der Maler mit jeinen 
Mitteln die Wahrheit der Geichichte in ihrer ganzen Würde und Poeſie Ichren 
fönnen? Ein Bild jagt oft mehr als zchn Bände, und ich bin feit überzeugt, 
daß die Malerei ebenjogut wie die Literatur berufen ift, auf die öffentliche 
Meinung zu wirken.“ Das Maß unfrer gefchichtlichen Keuntniſſe muß gewaltig 
zugenommen haben, unjer Verftändnis für den Geift der Gejchichte muß täglich 
wachen, und bald werden wir uns der Mühe überhoben jehen, die Werfe der 
Gejchichtichreiber zu Nate zu zichen: die Kunſt übernimmt heute die Aufgabe 
des Hiftorifers, die Gejchichte wird nicht mehr gejchrieben, man malt jie. 

Kein andrer Zweig künſtleriſchen Schaffens wird in unjern Tagen jo von 
oben begünftigt und durch öffentliche Mittel gefördert wie die Hijtorienmalerei. 
Dennoch kann einem aufmerkjamen Beobachter die Thatfache nicht entgehen, daß 
die Zahl der Hiftorienbilder gering it im Verhältniffe zu der ungewöhnlich ge: 
jteigerten Produktion auf den übrigen Gebieten der Malerei. Ein Blick auf die 
Kataloge der letzten Ausjtellungen geftattet feinen Zweifel über diejes Bahlen- 
verhältnis. Nur noch wenige unfrer deutjchen Künjtler jchwingen fich zu der 
Höhe eines Gejchichtsmalers auf, die Münchener von heute ſchon garnicht mehr. 
Haben fie ihren Führer Piloty auf der letzten internationalen Ausftellung von 
1883 nicht fast gänzlich im Stiche gelaffen? Haben wir es nicht erleben müffen, 
daß die Spanier fich auf dem höchjten Gebiete Der modernen Kunft uns Deutjchen 
weit überlegen zeigten? Welcher deutjche Künſtler vermöchte mit ihnen zu wett: 
eifern und verſtünde fich jo wie fie darauf, durch die Darjtellung der fürchter- 
lichten Gräueljzenen die Tragik der Geichichte wahrhaft ergreifend zu verkörpern? 
Es iſt Har, mit unſrer deutjchen Kunft geht es von Jahr zu Jahr jchneller 
bergab, ihr gänzlicher Verfall ftcht vor der Thür, denn was ſoll aus ihr werden, 
wenn Genre, Porträt und Landichaft dominiren und die hohe Hijtorie nicht 
mehr gepflegt wird? 

Sp etwa räjonniren diejenigen, für welche „die unbedingte Herrlichkeit der 
hiftorijchen Malerei, die an die Stelle der religiöjen getreten ift, immer noch) 
unwandelbar feſtſteht“ (Springer). Glüdlicherweife ift die Entwidlung der 
Kunft an derartige Dogmen nicht gebunden. Wäre dem jo, gewiß, dann müßten 
auch wir an den Berfall der Kunſt glauben, da allerdings der der Hiftorien- 
malerei außer Zweifel ericheint. Denn wo finden wir im diefer Gattung gegen 
wärtig Leiftungen, welche nur in den weſentlichſten Stüden den Anforderungen, die 
wir an ein Kunſtwerk jtellen müfjen, genügen? Wir wären in der That um eine 
Antwort verlegen, wenigſtens wenn wir Die jüngſte Vergangenheit ins Auge fafjen. 


Analekten zur Geſchichte der neuern deutſchen Kunft. 305 








Unter ſolchen Umſtänden iſt es nicht zu verwundern, daß auch der Laie, 
der lange Zeit hindurch auf die hiſtoriſche Kunſt ſchwören zu müſſen meinte, 
an ihrem abſoluten Werte irre wird, daß er ſich die Empfindung der Langen— 
weile, die ihn jchon lange den großen Majchinen gegenüber bejchlich, da ihm 
die dargejtellten Könige und Fürjten im Grunde höchſt gleichgiltig waren, offen 
einzugejtehen wagte und daß er ſich einmal die Frage vorlegte, ob überhaupt der 
Hiltorienmalerei an jich eine Höhere Bedeutung zukomme, als den übrigen Ge- 
bieten der Malerei. Solche Erwägungen mögen ihn dann zu der Erkenntnis 
führen, daß es höhere umd niedere Gattungen auf dem Gebiete der Kunſt über: 
haupt nicht giebt, und daß mur die innere Vollendung, nicht aber der Stoff 
den Wert eines Kunjtwerfes ausmacht, und auf diefem Standpunfte der Be: 
trachtung angelangt, wird er den Glauben an die Zukunft der deutjchen Malerei 
nicht verlieren, wenn er ſich auch eingejtehen muß, daß ein lange Zeit in reicher 
Blüte prangender Zweig derjelben heute dem Verwelfen nahe iſt. Ob die 
Hiftorienmalerei jemals wieder die alte frühere Bedeutung erlangen wird, darımn 
braucht er ich nicht zu jorgen, das ijt die Sache der Künstler, denen er die 
Zukunft ruhig überlaffen darf; ſie werden die naheliegende Frage: Was nun? 
gewiß über kurz oder lang in befriedigender Weile beantworten. Denn Das 
unterliegt feinen Zweifel, daß die Schule, welche die deutſche Kunjt unter der 
Herrichaft der realijtischen Hiftorienmalerei durchgemacht hat, eine heilſame und 
gewinnreiche war. Unſre Künſtler haben in ihr malen, zum Teil vortrefflich 
malen gelernt, und das iſt eine Errungenschaft, die niemand unterjchäßen jollte, 
jelbft wenn fie die einzige wäre, zu der uns das Einjchlagen realijtiicher Bahnen 
verholfen hätte. Daß jedoch dasjelbe auch jonjt günjtige Folgen gehabt hat, 
braucht kaum mehr bewieſen zu werden. Ein Vergleich unfrer heutigen Kunjt 
mit der, welche vor dem Bekanntwerden der „belgifchen Bilder“ in Dentjchland 
herrjchend war, läßt deutlich erkennen, daß wir wohl in manchen Stüden großes ver- 
loren haben, dafür aber in andern nicht minder wichtigen Dingen fortgejchritten 
jind und uns auf dem beiten Wege befinden, auch das Verlorne wieder zu gewinnen. 

Solche Gefichtspunfte wirden uns leiten, wenn ung die Aufgabe zufiele, 
die Gejchichte der Hijtorienmalerei, mit deren führender Stellung es heute offenbar 
vorüber ift, eingehender darzujtellen. 

Der Rahmen jedoch, den wir von vornherein dieſen Beröffentlichungen ge- 
geben haben, verbietet von jelbjt, auch nur in Gejtalt einer flüchtigen Skizze den 
Berjuch einer jolchen Schilderung zu wagen. Wir wollen hier nicht mehr als 
einen Heinen Beitrag für eine fünftige Bearbeitung diejes Gegenstandes liefern 
und fajjen daher zunächſt nur den Moment ins Auge, wo fid) der im Eingang 
erwähnte Umjchwung zu gunften der realistischen Hiltorienmalerei in den all: 
gemeinen Kunjtanjchauungen der Deutjchen vollzog. 

Gallaits und de Biefres Bilder erjchienen in Deutjchland zuerſt auf ber 


Kölner Ausftellung des Jahres 1842. War hier jchon das Aufſehen, das fie 
Grenzboten III. 1885. 39 


>06 Analeften zur Geſchichte der neuern deutfchen Kunft. 


erregten, ein überaus großes, jo überjticg der Beifall, den fie am Ende des 
Jahres in der preußischen Hauptitadt fanden, alles bisher dageweſene. An— 
fünglih in dem wenig günftigen Räumen des Akademiegebäudes aufgeftellt, 
wurden ſie auf Befehl des Königs in die Rotunde des Muſeums gebracht, wo 
freilich die Beleuchtung auch noch viel zu wünſchen übrig lich. Nichtödejto- 
weniger drängte ſich die ganze Schaar der Berliner Kunftfreunde zu ihrer Be- 
Jihtigung; fie wurden das Gejpräch des Tages, und der Nustaujc der Mei: 
mungen über die Vorzüge und Mängel der „belgischen Bilder“ erfolgte mit 
ungewöhnlicher Lebendigkeit. Selbſt Leſſings „Huß,“ der zum Beginn der Aus— 
jtellung am meiften die Aufmerfjamfeit der Beſucher gefejielt hatte, vermochte 
ſich den jpäter eingetvoffnen hiſtoriſchen Schüderungen der Belgier gegemüber 
nicht zu behaupten. Wir werden uns daher nicht wundern, daß, als Cornelius, 
der erſt furz zuvor von München nach Berlin übergefiedelt war, im folgenden 
Herbſte daſelbſt fein erſtes Olgemälde, „Chriſtus in der Vorhölle,“ zur all 
gemeinen Befichtigung brachte, dasjelbe faſt feine Beachtung fand und, wo es 
beachtet wurde, nur herben Tadel erfuhr. 

Wie wenig das Haupt der Münchener Schule jeinerjeits mit den Leiftungen 
der Belgier einverſtanden war, wie jehr ihn die allgemeine Begeifterung der Ber— 
liner empörte, da er hier nur Abwege von der wahren Kunjt erblickte, ift ans Ernft 
Förſters Darftellung zur Genüge bekannt und braucht Hier nicht wiederholt zu 
werden. Biel anerfennender verhielt ſich der alte Gottfried Schadow, dem, mie 
den meijten Berliner Künftlern, „die Harmonie der Farben und die Herzhaftig- 
feit der Binjelführung“ gewaltig imponirten, Der Eindrud von Gallaits und 
de Biefres Gemälden auf die Künftler war jo mächtig, daß fie jelbit das Bejte 
ihrer deutschen Landsleute unterfchäßten und einer der eriten unter ihnen „Jich 
jehr jcharf für die Belgier und ſehr jcharf gegen Leffing äußerte.“ 

Alle warnenden Stimmen verhallten ungehört in dem Lärm des Beifalls, 
den die Belgier fanden. Mean hielt fic an die Aussprüche der Kritiker, die im 
Grunde nur die allgemeine Stimmung der Künſtler und des Publikums wieder: 
tönen lichen. Das „Kunſtblatt,“ welches damals unter Ernjt Förfters Leitung 
al3 Beiblatt zu Cottas Morgenblatt in Stuttgart erjchien und bisher durchaus 
die Tendenzen der Münchener vertreten hatte, mußte dazu dienen, den Enthufias- 
mus der Berliner in Dentichland zu verbreiten. Jakob Burckhardt, welcher 
ichon im Jahre 1841 die beiden Werke Gallaits und de Biöfres in Brüffel 
gejehen und auf ihre Bedeutung Hingewiefen hatte, erklärte ſich mit geringen 
Einfchränfungen für die von ihnen vertretenen Grundſätze der realiftischen Kunft. 
In folgender Weiſe ließ er fich in feinem Berichte über die Berliner Ausftellung 
vernehmen: 

Aller Maßſtab fiel den Zuſchauern aus den Händen, als mit Anfang No- 


vember unvermutet die zwei beigiichen Bilder aufgeſtellt wurden. . . . Ein dichter 
Schwarm fteht ſeitdem tagtäglid vor den beiden Werken und ftreitet laut, ob die 


Analeften zur Gefchichte der neuern deutfchen Kunft. 307 





Abdankung Karls V., von Louis Gallait, oder die Unterzeichnung des Kompro— 
mifjes im Jahre 1566, von E. de Biefre, den Vorzug verdiene. Die ganze übrige 
Ausftellung erfährt den unbilligiten Tadel, ſelbſt Leſſings Huß nicht ausgenommen, 
der fich jedoch) och immer ein nicht unbedeutendes Publikum erziwingt. 

Die rheiniſchen Journale haben über diefe beiden Gemälde fo weitläufig ge: 
fprochen, daß wir einer umjtändlichen Rechenſchaft überhoben find. Hier nur wenige 
Bemerfimgen. Dieje Bilder imponiren nicht bloß durch ihre Maße, wie einige 
Stimmen fid) vernehmen ließen; auch ſollte mon lieber daraus lernen, als in 
mißgünftigem Kleinmut nad mißlungnen Einzelheiten jagen, die hier natürlich aud) 
nicht fehlen. Wir find weit entfernt, dieſe Bilder als das Höchſte zu betrachten, 
was in dieſer Nichtung geleiftet werden kann; fie verhalten fich zu dem, was ihre 
Schule geleiftet hat und noch leiften wird, nur etwa wie gute Tintorettos und 
jüngere Palmas zur venezianischen Schule. Manches Manierirte ift auch hier mit 
untergelaufen, und in beiden Bildern giebt es nachläffige, ja im Kompromiß 
wahrhaft jchlechte Partien, bejonders die Figuren links. Aber umſo jchlimmmer für 
uns, daß diefe Darftellungen doch im Prinzip und teilweiſe auch in der Ausführung 
alle unsre Hiftorifchen Bilder in Schatten Stellen. Bier jehen wir endlich einen 
geihichtlichen Stil vor ums; wir erfennen in beiden Werfen ein Gemeinfames, den 
Geiſt einer gewaltigen Schule, die ihren höchiten Entwidlungen erſt entgegengeht. 
Großartige Momente von hohem nationalen Intereſſe binden hier eine endloſe 
Menge bedeutender Andividualitäten zu einem Ganzen zujammen, welches durch 
leichte, freie Behandlung aller äußern Mittel einen Eindrud hervorbringt, dem ſich 
fein Beſchauer hat entziehen fünnen. 

Sm Palais de la nation zu Brüfjel werden dieſe beiden Rieſenbilder der 
Schlaht bei Worringen von de Keyfer und dem Sturm von Leyden von Wappers 
fortan gegenüberftehen, damit Belgien ein ewiges Denkmal befige des erſten Jahr: 
zehnts feiner Befreiung. In diefem echt Hiftoriichen Sinne find fie geftiftet und in 
diefeom Sinne gemalt worden. Ueber der Abdikation ſchwebt der trübe Gedanke 
einer jchweren Zukunft, der ſich in den tiefbewegten Zügen allev Zuſchauer aus: 
ſpricht; im Kompromiß jehen wir die nationale Begeifterung der Beſten des 
Bolfes, die zu einem heiligen Bündnis zufammenftrömen. Bei allen vier Szenen 
find die nördlichen Provinzen wie die füdlichen beteiligt geweſen, aber Befteller 
und Künstler Haben groß genug gedacht, um über Heinen Groll hinwegzuſehen. 

Die deutjchen Regierungen, befonders König Yudwig, haben ſchon ſo viele 
Darjtellungen aus der vaterländifchen Geſchichte maten lafjen; woher kommt es denn, 
daß wir Hinter unjern Nachbarvöltern zurüdgeblicben find? Fürs erſte genügt es 
nicht, eine Gejchichte gehabt zu haben; man muß eine Gejhichte, ein öffentliches 
Leben mitleben können, um eine Geſchichtsmalerei zu Schaffen. Sodanı find die 
großen Gejamtaufträge alle für Ausführung in Fresko gejchehen, während unjre 
Beit neben dem dramatijch.hiftorischen Inhalt eine individuelle Tiefe des Einzelnen 
verlangte, die nur der Delmalerei zu Gebote jteht. Und bier fehlt es unjern 
Malern an den nötigen Mitteln, an Kedheit, an Farbe, an Zeichnung. 

Mögen diefe ausgezeichneten Kunſtwerke unfre Maler aufmerkfjam machen auf 
das, was ihnen Not thut! Nicht Nachahmung ift zu winjchen, jondern Entwicklung 
deilen, was in der deutschen Kunſt noch jchlummert und mit dev Zeit erwachen mu. 


Ähnlich wie Burdhardt äuferte fich Franz Kugler in zwei ebenfalls im 
Kımftblatte abgedrucdten Artikeln. Die technische Meifterichaft der belgiſchen 
Bilder jtand ihm außer aller Frage, deshalb ließ er es fich in feinem Gutachten 


308 Analekten zur Geſchichte der neuern deutſchen Kunft. 





vornehmlich angelegen ſein, den „geiſtigen Inhalt, die Entwicklung und die Be— 
deutung desſelben“ gegen die in dieſer Beziehung erhobnen Angriffe zu ver— 
teidigen. Da die beiden Gemälde hiſtoriſche Bilder, oder deutlicher, Bilder 
geſchichtlichen Inhalts ſeien, meint er, hätten ihre Schöpfer Recht gehabt, die 
dargejtellten Perjönlichkeiten auch möglichit Hiltorisch treu wiederzugeben. Fand 
man vielfach, daß Karl der Fünfte in Gallaits Bild recht unbedeutend aus» 
jehe, jo glaubte Kugler den Künstler durch den Hinweis auf den gejchichtlichen 
Karl, wie er in Rankes Erzählung auftrete, rechtfertigen zu können — in unfern 
Augen eine ziemlich ſchwache Bemeisführung für einen Kunfttritifer. Überhaupt 
erhebt fich Kugler in feinen Darlegungen nirgends über das von Burdhardt 
gejagte, nur daß er noch deutlicher den Gegenſatz zwiſchen dem arijtofratischen 
Element der Münchener Schule und der demofratijchen Grundlage der belgijchen 
Kunſt hervorhebt. 

Der große Erfolg. welchen die „belgischen Bilder“ in Berlin hatten, war 
nicht zu verwundern. Die damaligen Stunjtbeitrebungen der preußiſchen Haupt: 
ſtadt entbehrten eines vereinigenden Mittelpunktes. Es fehlte eine große, führende 
Berjönlichfeit, der e3 gelungen wäre, die Kräfte jüngerer Genoſſen in ihre 
Bahnen zu lenfen und die Sympathien des kunſtliebenden Bublitums zu ges 
winnen. Auch war man in Berlin durch langjährige Anhänglichkeit an die der 
beigischen Kunſt näherjtehende Düffeldorfer Schule und durch den Einfluß 
franzöfiicher Bilder vorbereiteter für Die Aufnahme des Neuen als jonjt in 
Deutichland. Ganz anders in München, wo das Anfehen von Cornelius troß 
jeiner Überfiedlung nach Berlin unter den Künſtlern noch unerjchüttert war 
und das von ihm gegebne Beilpiel als heiliges Palladium gegen alle profanen 
Beitrebungen hochgehalten wurde. Umſo gejpannter mußte man fein, welche 
Aufnahme die Fremdlinge in der damaligen Kunftyauptitadt Deutjchlands 
finden würden. 

Schon che diejelben in München anlangten, war man dort von befreundeter 
Site durch ziemlich mißgünſtige Urteile auf jie vorbereitet worden. Ernit 
Förſter, der Zeit feines Lebens begeiftert für die Prinzipien der Cornelianiſchen 
Schule eingetreten ift, hatte die Bilder bereits auf der Kölner Ausstellung gejehen 
und gleichfalls im Kunftblatt jein Urteil darüber abgegeben. Das Lob, daß die 
Belgier die Werfe eines Rubens und van Dyd fleifig ftudirt hätten und in 
der Behandlung der Farbe ausgezeichnetes leijteten, mußte auch diefer Kritiker 
ihnen zugeftehen; dennoch bezeichnete er dieje Eigenschaften ala Proben einer 
Virtuofität, die mit der wahren Kunst nichts zu Schaffen hätten. Den Bildern 
fehle für eine hiftorische Auffaffung nichts weniger als alles, Gallait habe die 
Abdankung jelbjt keineswegs dargejtellt; jein Bild jei in der Darjtellung ver: 
fehlt, de Biefre aber habe fich jchon in der Wahl feines Gegenjtandes vergriffen. 
Darum, jo fautete fein ceterum censeo, jei es feine innigfte und feftefte Über— 
zeugung, „dal; jeder Verſuch vonjeiten dentſcher Künftler, in diefe Bahn eine 


Martin ‚Greif als dramatifcher Dichter. 309 





— das von unſern großen Genien eroberte Gut gefährden * die Kunſt 
raſchem Verfall zuführen müſſe.“ 

Noch entſchiedner ſprach ſich Quandt in Dresden in einem Briefe an 
Julius Schnorr von Carolsfeld, welcher bald darauf auszugsweiſe im Kunſt— 
blatt abgedruckt wurde, gegen den Realismus der Fremden aus. In Dresden 
waren die beiden Gemälde zum Beſten des Künſtler-Unterſtützungs und Witwen— 
fonds Ende Januar und Anfang Februar im Saale der Kunſtausſtellung auf 
der Brühlſchen Terraſſe zu ſehen geweſen und hatten gleichfalls allgemeine An— 
erkennung gefunden. Aber Quandt wollte nichts von ihnen wiſſen. Nachdem 
er in ſeinem Schreiben erſt ſeinem Unwillen über die Begeiſterung der Berliner 
Luft gemacht und ihnen zur Strafe für ihre Vorliebe für die Düſſeldorfer 
einen Hieb erteilt hat, holt er weit aus, um dem Freunde zunächſt eine Vor— 
leſung über die franzöſiſche Kunſt zu halten. Er findet, daß die Franzoſen in 
unſrer Zeit doch nur drei große Künſtler aufzuweiſen haben: Horace Vernet, 
Delaroche und Scheffer. Daß fie auch einen Delacroix hatten, ſcheint er nicht 
zu wiſſen. Dann charafterifirt er dieſe Künjtler, wie? das mag man jelbjt 
nachlejen, wenn man nach folgender Probe noch weitere zu vernehmen wünjcht: 
„Ale Kunſt ift ein Streben nad) Wahrheit, jedoch beruht die des Genrebildes 
auf der Übereinftimmung mit dem Scheine (!), die der monumentalen oder 
Hiftorienmalerei in der Übereinftimmung der Darftellung mit einem gejchicht- 
lich gegebenen Charakter oder Begriffe, und die Wahrheit der höhern Kunſt 
bejteht in der Einheit der Idee und ihrer Erjcheinung.* Ein jo jublimer Kri— 
tifer wie Quandt verabjcheut natürlich jeglichen Realismus; er begnügt ſich 
damit zu fonjtatiren, daß man in Paris und Düfjelvorf in gleicher Weife diefer 
Abart der Kunſt Huldige, und damit meint er auch die Belgier abgethan zu 
haben. Schluß folgt.) 





Martin Greif als dramatifcher Dichter. 


ec öfter ſich die Kritit veranlaft fieht, der übermäßigen Bewunde— 
u) | rung des Mittelmäßigen und dem Sichhreitmachen des Schlechten 
A Einhalt zu thun, deſto jeltner ereignet es fich, daß fie ein wohl: 
BE ausgeführtes, behagliches, herzliches Lob fpendet. Das hat jeine 
| NEE Y. 2 Gründe; ift doch der Menfch an fich mehr geneigt, von jeines 
Nächiten Fehlern als von deſſen Tugenden zu reden; giebt e8 doch unzweifel: 
haft weit mehr Tadelns- als Lobenswertes, und ift e3 doch befanntermaßen 
viel feichter, amüjant zu tadeln als intereffant zu loben. Aber eine Kritik, die 







310 Martin Greif als dramatiicher Dichter. 








nur zu negiren verficht, wird am Ende zur Krittelei und verfennt ihre ſchönſte, 
edeljte Aufgabe: das von der Menge zu wenig gewürdigte, im VBerborgenen 
blühende Gute ans Licht zu ftellen und darauf mit allem Nachdrud hinzu: 
weijen. Es giebt auch Heute noch Schriftiteller, die, im einer Zeit, wo im all: 
gemeinen Routine für Talent gilt und fich den Schein desjelden geſchickt an— 
jueignen weiß, von des Tages Mode unberührt ihren eignen einfamen Weg 
wandeln. Es jind zuweilen wunderliche Käuze, immer aber chrliche Leute, ver: 
einzelte Nachzügler einer idealeren Periode der Kunst, wo der Beifall der großen 
Menge noch nicht einziges Richtmaß und Ziel künstlerischer Ihätigfeit war. 
Nun ijt zwar auch im Reiche der Kunſt ein gutes Gewiſſen ein gar jchägbares 
Gut; allein die Gefahr der Vereinfamung liegt doch nahe, und dieje führt nur 
allzuoft zur Verbitterung. Das ijt in jedem Falle betrübend; und wenn man 
num unter jenen Einjamen gar einen wirklichen, einen bedeutenden Dichter in 
ftolzer Abfehr von der literariſchen Hreritraße, von der Mitwelt faſt unbeachtet, 
dahinjchreiten ſieht, ſo muß das einen ernithaften Kritiker aufrichtig ſchmerzen, 
und er muß, wenn er fein 'erbärmlicher Neider und Nörgler it, tief die Ver— 
pflichtung fühlen, dem wahren Propheten unter jo vielen faljchen Gehör zu 
ichaffen, auf daß denjelben nicht das bitterjte aller Künſtler- und Propheten: 
looſe heimjuche, das Kaſſandraſchickſal. 

Zu jenen einjamen Schern gehört auch der deutjche Dichter Martin 
Greif; zwar nicht jo jeher in Bezug auf feine lyriſchen Gedichte, Die, wie es 
jcheint, doch endlich den verdienten Beifall finden,*) als vielmehr binficht- 
lich feiner vier großen Dramen: Gorfiz Ulfeldt, Nero, Marino Fa— 
liert und Prinz Eugen, auf die fi) unſre Betrachtung für diesmal be— 
jchränfen joll. Daß dieſe bedeutenden Dichtungen an unſerm großen Lee 
publifum, deſſen müßige Zerſtreuungsgier eigentlich nur noch in gepfefferten 
Romanen genügende Reizung findet, unbemerkt vorübergegangen ſind, iſt ja na— 
türlich; aber unbegreiflich will uns die Gleichgiltigkeit der Theater ſcheinen, die 
ſo gern über Unproduktivität der zeitgenöſſiſchen Dramatik jammern. Iſt da 
von Armut die Rede, wo man ſo gediegne Werke, die den Stempel tüchtiger 
Kraft tragen, ignoriren kann? Ein Unbewanderter würde daraus wohl gar auf 
überfliegenden Neichtum jchliegen. Ja, wer nur nicht wüßte, von welcher Koſt 
die „deutſchen“ Bühnen leben! Bon franzöfiicher Fabrikwaare, nach wie vor! 
einige wenige Dichter abgerechnet, die — verdient oder unverdient — gerade 
Mode find, und jene immer zahlreicher werdenden Faiſeurs, welche die Fran: 
zöfische Art oder Unart möglichit ſtlaviſch nachahmen. Oder jollte unjerm 
Greif gegenüber die alte Klage Über technisches Ungeſchick, theatraliiche Hilf: 
lofigfeit bet unlengbarer poctijcher Begabung berechtigt jein? 

*) Die vierte Auflage der „Gedichte“ ift, wie wir hören, unter der Preſſe; Die dritte 
erichien bei Cotta 1883. 


Martin Greif als dramatifcher Dichter. 311 

Als vor nunmehr zwölf Jahren das Trauerſpiel „Corfiz Ulfeldt, der Reichs— 

hofmeiſter von Dänemark“ erſchien, erregte es geringes Aufſehen, obwohl es 
ihm nicht an berufenen Lobſpendern fehlte und Heinrich Laube es nach kurzer 
Friſt zur Aufführung brachte. Der Stoff erinnert ein wenig an Wallenſtein, 
und es iſt intereſſant, zu beobachten, wie ſehr die Art Greifs von der des 
großen Klaſſikers abweicht. Nicht in volltönender, prachtvoller Rede ſtrömen 
ſeine Perſonen ihr Inneres aus; alles iſt Handlung, alle überflüſſigen, den 
Schritt der Begebenheiten aufhaltenden Worte werden vermieden. Greif ſcheint 
die Gebilde ſeiner Phantaſie mit dem Auge des Hellſehers zu ſchauen; er ſieht 
und hört Handlungen, Bewegungen, Worte und ſchreibt ſie auf, ſcheinbar kalt, 
unbarmberzig, wie Shafejpeare und das Schidjal ſelbſt. Seine eigne Perjon 
tritt gänzlich zurück, wie jich’s für den Dramatifer gebührt. Dies mag em- 
pfindjame Seelen abjtoßen, verlegen; wen indes tiefere Einfiht in das Wejen 
des Dramas vergönnt ift, der wird unferm Dichter Schon deshalb ein befondres 
Interejje entgegenbringen. Greif hat durch jeine „Sedichte” glänzend bewiejen, 
daß es ihm nicht an der vollen Melodie des Lyrikers fehlt, ja daß er ein Ly— 
rifer von Gottes Gnaden ift; wenn nun in dieſem erjten Drama jchon das 
Iyrische Element völlig zurücdweicht, jo ift das nicht — wie jo oft — eine 
Folge mangelnder Fähigkeit, ſondern bewußtes Verſchmähen eines nach der Über- 
zengung des Verfaſſers unerlaubten Effektmittels. Iſt dieſe jtolze, männliche 
Zurüdhaltung an einem jugendlichen Dichter in hohem Grade beachtensiwert, 
jo imponirt diefes Erfilingswerk noch weit mehr durch die einfache Größe und 
überzeugende Gewalt der Charakterijirungsfunit. Diejem Corfiz ift fein uns 
hiftorischer Firniß aufgetragen, was doc umjo Leichter gewejen wäre, als feine 
Geſchichte ja leineswegs allgemein befannt it; wohlfeil erworbenes, jchwächliches 
Mitleid zu erregen, verjchmäht der Verfaſſer. So hochfahrend, rüdjichtslos, 
unpatriotiich, eigennüßig, kurz mit all den großen und abjtoßenden Eigenjchaften, 
wie die Gejchichte den dänischen Neichshofmeister kennt, jo zeigt ihn uns Greif; 
an ein Abwälzen feiner Schuld auf das beliebte „Schickſal“ denkt weder der 
Dichter noch der Held jelbjt; alle Berantwortung trägt der Held auf feinen 
Riefenjchultern. Rund, greifbar wie eine Statue, jtcht er von der erjten Szene 
an vor und. Aber diefe mächtige Gejtalt vermag auch zu fchreiten. Und wie 
nun der gewaltige, feine ganze Umgebung hoch überragende Mann, den der 
Anfang des Stüdes in glänzenditer Machtentfaltung zeigt, doch bei aller Größe 
von den plumpen Falljtriden erbärmlich kleinlicher Menſchen fich umgarnen läßt, 
wie die unterwühlte Eiche wanft und fällt, wie endlich der Geftürzte in troſt— 
fofer Verlafjenheit jich jelbit den Dolch ins Herz ſtößt — das alles ijt mit 
jo zwingender Gewalt gejchildert, daß wir uns wirklich in jene längſt verjun- 
fene Welt verſetzt fühlen. Von dem Heitern Anfang bis zu dem düſtern, wunder: 
bar jtimmungsvollen Schluß hält uns der Dichter wie mit magifchen Ketten 
jet. Er wollte uns fein Gedanfendrama, feine Ideentragödie geben, er beab- 








312 Martin Greif als dramatifcher Dichter. 








fihtigt nur das erjchütternde Schidjal eines großangelegten Menjchen, jein ver: 
gebliches Ringen gegen die vereinten Mächte des feindlichen Gejchides, der 
eignen Schuld und der jchleichenden Intrigue, vor uns aufzudeden, und dies 
it ihm im bewundernswerter Weiſe gelungen. Die banalen Schuflbegriffe von 
Schuld und Sühne wollen freilid) auf das merfwürdige Stüd nicht ganz pafjen, 
auch gegen das Hafjiiche Gewand des fünffüßigen Jambus jträubt fich die ur: 
wüchfige, aber noch ein wenig ungelente Kraft des Dichters. Nur hieran aber 
merkt man, dag man einen Erjtling vor ſich hat, außerdem vielleicht noch au 
gewifjen haftigen Übergängen der Stimmung und an einer hin und wieder zu 
deutlichen Motivirung; im übrigen ift alles mit reifer Kunſt geichaffen. Wie 
der Held, jo lebt auch jede der Nebenperjonen ihr eigenartiges Dajein; die edle, 
aufopfernde Leonore, der König, „ein Schwachkopf, doch gejcheit genug zur 
Züde,“ der jchlaue, falt berechnende Schlippenbach, die eitle, intrigante Königin, 
der erbärmliche Schitedt, der jugendjchöne und jugendreine Chrijtian, der harm— 
(08 vertrauende, jo jchändlich geopferte Wind — alles dies find feine Mario: 
netten, feine herfümmlichen Theatertypen, jondern jcharf umriſſene, lebenswahre 
Charaktere. Und ebenjo jicher wie in der Charafterijtif zeigt jich der Verfaſſer 
in der dramatijchen Technif. Die Schürzung des Knotens im Vorſpiel, die 
Führung der Handlung, der ganze Aufbau ift untadelhaft. Nie ruht die Hand- 
lung; in Monologen, häufiger in Zwiegeſprächen, noch lieber in prächtig grup- 
pirten Maſſenſzenen jchreitet fie vorwärts. Bon Ichteren ijt namentlich dic 
Reichstagsſzene im dritten Afte eine der wirkungsvolliten, welche die deutjche 
Bühne beſitzt. Wohl gemerkt, nicht mit einem bloß äufßerlichen Geſchick, mit 
einer gewandt angeeigneten Routine haben wir es zu thun; nicht mit Heinen, 
Ichlauberechneten Kunſtgriffen giebt jich der Dichter ab; jogenannte Knalleffelte, 
brillante Abgänge ꝛc. find jogar wie geflifjentlich vermieden. Die Wirfung be- 
ruht lediglich) auf dem großen dramatischen Zuge, der alles durchweht, auf der 
meifterlichen Charafterifirung, auf der Naturnotwendigfeit der Handlung und 
— nicht zu vergefjen — auf dem Reichtume an poetijchem Detail, der jelbit 
die fleinjte Szene in eine poetiiche Sphäre hebt. Welch tiefe Blide in des 
Helden Seele eröffnen ums die Monologe Utfeldts! Welch ein umvergleichliches 
Meiſterſtück eines Botenberichtes ift die großartige Erzählung des Kundjchafters 
um vierten Akte! 

Es iſt uns unbekannt, ob Corfiz Ulfeldt auf der Bühne Glüd gehabt hat; 
aber es jcheint doch jo, ſonſt hätte wohl Meiſter Laube nicht Schon nad) Sahres- 
frijt Greifs zweite Tragödie „Nero“ im Wiener Stadttheater aufführen laſſen. 
Der Dichter hat dann danfbaren Siunes die Buchausgabe des Dramas dem 
greifen Dramaturgen, der offenbar große Stüde auf ihn hielt, gewidmet. Einen 
Fortjchritt bezeichnet „Nero* injofern, als die Sprache, obgleich nicht immer 
forreft, reicheren Fluß und meicheren Tonfall gewonnen hat, wie diejes Drama 
tem Überhaupt an rein poetischen Schönheiten noch mehr aufweilt als der 


Martin Greif als dramatifcher Dichter. 313 





„Ulfeldt.* Allein wie uns dünkt, ift Hier ein großer Aufwand dichterifcher 
Kraft an einen im Grunde doch widerwärtigen Stoff gewendet, wenn aud) 
graufige, auf rohen Effekt und Sinnenfißel berechnete Szenen durchaus ver- 
mieden find. Dennoch hat Greif auch hier mächtige Wirkungen erzielt. So ift 
der ganze dritte Aft — die Planung und Ausführung des Muttermordes — 
wahrhaft großartig. Und geradezu erfchütternd wirft der vierte Akt, ſonſt die 
Achillesferje der Dramatiker. Zur erften Szene, welche das Ausbrechen des 
Wahnfinnes bei Nero fchildert ſteht die zweite, in der eine junge Ehrijten- 
gemeinde vorgeführt wird, in Kontraft. Der entjegliche Cäſar hat mitten im 
Sinnenrauſch die Geliebte, die reizende Sünderin Poppäa, um deretwillen er 
die gräßlichiten Verbrechen auf feine Seele geladen hat, niedergeftoßen; von 
Schauer gebannt, ftchen wir noch unter dem Eindrude, als ob der göttliche 
Nächerarm plöglich Hereingriffe in den tollen Reigen der blutigen Unmenſchen; 
da mit einemmale find wir all dem Entjeglichen entrücdt und jehen hoffnungs— 
voll bejfere Zeiten heraufdämmern. Das wirft nach dem beraufchenden Höllen- 
taumel rein und rührend wie ferne Glodenflänge; aus ſchwüler, verwejungduftender 
Atmoſphäre entronnen, atmen wir die würzige Quft des ftillen Waldgebirges. 
Dies alles ift von einer fo jchlicht erhabnen Schönheit, daß es auch auf der 
Bühne unfehlbar den tiefiten Eindrud hervorrufen muß. 

„Nero“ ijt feine gelehrte Studie. Unverjtändliches ift auch für einen 
Laien, der niemals in Friedländers „Sittengefchichte Noms“ gelefen hat, nichts 
darin. Der Berfaffer ift jo weit entfernt von der Manier unſrer poetiſch an— 
gehauchten Philologen, daß er ſogar vor einem Eleinen Anachronismus nicht 
zurüdicheut. Es giebt poetische Anachronismen, und Greif bietet ein jchönes 
Beifpiel eines folchen: er zeigt auf der Bühne ein leibhaftiges Bild des ge- 
freuzigten Chriftus, nur dreiunddreißig Jahre nach des Heilands Tod, obgleich 
er natürlich ebenjogut wie wir weiß, daß die erjten chriftlichen Jahrhunderte 
eine bildliche Darftellung des Erlöjers nicht fannten und als Götendienerei 
verdammt haben würden. Nun leje man aber die Szene, und man wird ein- 
geftehen, daß der Eindrud ein Hochpoetijcher ijt, und wird am Ende jenen 
Anachronismus garnicht mijfen wollen. 

Geftalten und Farben der einzelnen Perſonen Heben fich deutlich von 
einander ab. Bor allem ragt Poppäa hervor, eine dämoniſche Natur, 
bei tiefiter Verworfenheit doch imponirend durch faſt männliche Energie und 
anziehend durch diabolifche Grazie. Zu ihr bildet die edle DOftavia einen wohl 
thuenden Gegenfag, die neben der für alte Schuld reuig büßenden Sklavin 
Ute — einer überaus ſympathiſchen Figur — faft einzig das gute Prinzip 
vertritt. Wie rührend ift ihre verhaltne Trauer um den ermordeten Bruder! 
Auch der jchredlichen Ugrippina Hat der Dichter große Züge verliehen, die fie 
unſers Snterejjes vollfommen würdig machen. Der Stoff bringt es mit fich, 
daß wir uns faft ausjchließlich im fchlechter Gejellihaft jehen. Aber in wie 

Grenzboten III, 1885. 40 


314 Martin Greif als dramatifcher Dichter. 


vielfachen, ſchier unerfchöpflichen Schattirungen erjcheinen diefe Schurfen oder 
Schwächlinge! Welche Stufenleiter- von dem Erzböfewicht Tigellinus und den 
feilen Schmarogern Senecio und Anicetus an bis zu dem furchtiamen Seneca, 
dem jchwachen Otho (beide nicht ohme feinen Humor gezeichnet) und den 
leichtfinnigen, aber nicht fchlimmartigen Höflingen Epaphroditus und Phaon. 
Die Hauptperfon des Dramas, der blutige Nero felbit, ift zwar eine ent- 
Ihieden intereffante Figur, bietet auch eine der dankbarſten Aufgaben, die 
ein bedeutender Schaufpieler überwinden kann; dennoch liegt, wie uns fcheint, 
in der Art, wie der Dichter diefen Charakter darftellt, ein Fehler. Hätte Doch 
Greif feinem Cäſar irgendeine imponirende Eigenjchaft verliehen! Aber daran 
fehlt es! Diefer Nero ift fein grandiojes Scheujal, wie etwa Nichard der Dritte 
oder Franz Moor, jondern eine gemeine Seele, unberechenbar im Böjen und 
Guten, jchwanfend, eitel, feig, nichtswürdig, fur; ganz fo, wie Tacitus ihn der 
Nachwelt geichildert hat. Und der jtrenge, ernite Dichter erjpart ihm feine, 
auch nicht die tieffte Demütigung und zeigt ihn ung am Schluß von allen 
verachtet und der Beratung würdig — ein trauriges Schaufpiel, aber fein 
tragische. Daran jcheitert in gewifjen höhern Sinne das jo fühn angelegte, 
an großen Schönheiten jo reihe Stüd. Der Dichter hat ſich eine unlösbare 
Aufgabe geftellt: für diefen Nero menjchliches Mitgefühl zu erweden. Dazu 
fommt endlich, daß die Struktur des Dramas bei weiten nicht die jtraffe Ein- 
heit des „Corfiz Ulfeldt“ zeigt, jondern von ziemlich loderm Gefüge if. So 
fönnen wir bei aller Anerfennung des im einzelnen Gelungnen dennoch diefjer 
zweiten Tragödie, ald Ganzes betrachtet, nicht den gleichen Wert wie jenem 
großartigen Eritlingswerfe einräumen, 

Sceitert im „Nero“ die Kunft des Dichters zum Teil an den unüber- 
windlichen Schwierigfeiten des Stoffes, jo will uns fcheinen, als habe Greif 
bei der Ausarbeitung feines dritten Dramas „Marino Falieri oder die Ver— 
ſchwörung des Dogen zu Venedig“ nicht von dem vollen Mae poetiſcher Kraft, 
deſſen er mächtig erjcheint, Gebrauch gemacht. Es tritt dies in Heinen Nach— 
läffigfeiten der Darjtellung zutage, die ein dramatiicher Dichter nach Schiller, 
Kleift und Grillparzer vermeiden müßte. So verläuft 3. B. der trefflich an- 
hebende Monolog Stenos im Beginn des Stüdes ſchließlich in eine Art orien- 
tirenden Prologes im Terenzifchen Stile. Das war allerdings bequem, aber 
feiner, fünfllerifcher wäre es, wenn uns alle die Vorbedingungen der folgenden 
Verwicklung nicht in trodnem Bericht, fondern — ſcheinbar unabfichtlich — im 
Berlauf des Dialoges befannt würden. Zuweilen ftören auch proſaiſche Ausdrücke, 
lüchtigfeiten wie Seite 154: „Nie war ein Vater jammervoller je,“ Eleine 
Flecken, die der Dichter durch eine forgfältige Feile Teicht hätte tilgen können. 
Und da wir einmal von Kleinigkeiten reden, jo wollen wir auch gejtehen, daß 
die gereimten Verje im erjten Akte, zumal da fie im ihrer Form ganz allein 
jtehen, ung befremden. Die Anwendung des Reimes im Drama jcheint und nur 


Martin Greif als dramatifcher Dichter. 315 





in vorwiegend lyriſch gefärbten Stellen erlaubt, namentlih in Monologen, 
außerdem höchſtens im Zwiegefpräc ganz gleichgeftimmter Seelen, etwa zweier 
‚Liebenden wie Romeo und Julia; unnatürlic), mindeitens unmotivirt erjcheint 
der Reim im leidenjchaftlich belebten, die Handlung fürdernden Dialog. Noch 
wichtiger al3 dieſe immerhin unmejentlichen Bedenken möchten einige andre 
Ausstellungen fein. Schon die Wahl des Stoffes ift fein glüdlicher Griff, es 
fehlt ihm gänzlich der Reiz der Neuheit. Wie viele Marinos haben, von Byron 
bis auf Krufe, nicht Schon ihre Verſchwörung gegen die ftolze Republik Venedig 
auf den Brettern mit dem Tode gebüßt! Und wäre dem auch nicht jo, jo hat 
der Stoff überhaupt an fich fein befondres Intereſſe für ein jo überjättigtes 
Publikum wie das heutige; e3 würde ein enormes Genie dazu gehören, unjer 
Theaterpublitum für dieſe welchen Intriguengeichichten auf die Dauer zu er: 
wärmen. Dazu fommt, daß es dem dramatiichen Aufbau der Handlung an 
durchſichtiger Klarheit und auch an der vollen Sicherheit mangelt. So Teidet 
namentlich der vierte At am ftarken Umwahrjcheinlichkeiten. Alle Perjonen 
zeigen Mangel an Borficht. Vor allem it Pinolas Handlungsweiſe ſchwer be— 
greiflich,; ohne eigentlich zu wiffen, mit wen fie fpricht, plaudert fie vom 
Balkon aus auf die offne Strafe — könnte nicht, ſelbſt wenn wirflich der 
rechte Mann vor ihr ftünde, ein Laufcher in der Nähe fein? — Die ganze ge: 
fährliche Verſchwörung aus, ſodaß es von gegnerischer Seite nicht der geringjten 
Klugheit bedarf, das Geheimnis zu enthüllen und die Pläne des Dogen zu 
vereiteln; und gleich darauf begeht Pinola die zweite Thorheit, daß fie Giovanni, 
dem Falieri das Geheimmis weislich verjchwiegen Hat, zum Mitwiſſer macht. 
Zum Glüd werben alle diefe Mängel von den glänzenden Vorzügen des 
Stüdes überwogen. Vor allem ift e8 hier wieder die Charakterifirung der 
handelnden Perſonen, die alle Lücken der Intrigue überjehen läßt. Der Doge 
ähnelt zwar ein wenig dem Corfiz Ulfeldt, ift aber doch wieder eine ganz eigen: 
tümliche Gejtalt, imponirend, voll natürlicher Würde, leidenschaftlich aufbraufenDd, 
ſoldatiſch rauh und doch von reinem, fast weichem Gefühl. Diefe Eigenjchaften 
entwideln fich aufs fchönfte, bejonders in dem mit feiner Kunſt gezeichneten 
Berhältniffe zu feiner jungen Frau; daß Hier der Dichter den leiſeſten Schatten 
des Lächerlichen, das fo nahe lag, gänzlich vermieden hat, legt Zeugnis von 
hoher Meifterfchaft ab. Wie gut fteht dem greifen Helden die rührende Sorge, 
die väterliche Zärtlichkeit zu der Lieblichen Gattin, und wie wohlthuend ift das 
findliche Vertrauen und die liebevolle Ehrfurcht diefer reinen Seele zu dem 
mächtigen Manne! Ergreifend ift der dumpfe Schmerz des alten Falieri, da 
er fich einmal von dem geliebten Weibe getäufcht glaubt, rührend fein jchnelles 
freudiges Vertrauen, jobald er ihre Rechtfertigung vernommen, und erjchütternder 
als alle Rede der wortfarge Abichied von ihr vor feinem Gang zum Tode. 
Um den Haupthelden ftellen fic, die Nebenperjonen in Iebensvoller Gruppirung, 
da iſt das Haupt der Staatsinquifition, der eißfalte, bevechnende Lioni, deſſen 


316 Martin Greif als dramatifcher Dichter. 


einzige Menjchengefühl, die Vaterliebe, an ihm zum zerfchmetternden Werkzeuge 
des jtrafenden Schidjald wird. Da ijt ferner der lügenhafte, gewifjenloje 
Battifta, ein echt italienischer Gaumer, der feinen Gönner um einen Beutel 
Goldes belügt und jogleich, da ihn glängenderer Lohn Lodt, auch jenen zu er: 
morden bereit it. Etwas feiner offenbart fi) das windig weljche Weſen in 
dem frechen Steno, der ſchamlos und frivol ohne den geringjten Sfrupel eines 
hochverdienten Mannes Lebensglüd zerjtört. Noch heben wir die beiden jchönen 
Jünglingsgeitalten Bertuccio und Giovanni, die treuherzigen, aufopfernden 
Freunde, hervor. Die Szene, in der Falieri den Verſuch machen will, legtern, 
den Sohn feines erbittertiten Feindes, auf jeine Seite zu ziehen, aber, durch die 
harmlos reine Gefinnung desjelben entwaffnet, davon abjteht, ift ein Meijterjtüd. 
Der Eindrud des Dramas iſt überhaupt, trog der oben gerügten Mängel, doch 
ein tieferer und harmonijcherer ala der des „Nero,“ da das, was wir Dort ver: 
mißten, hier reichlich vorhanden ift: eine menschlich interejjirende Heldengeftalt, 
die den Mittelpunkt des Ganzen bildet; der Kampf und Sturz einer groß: 
angelegten Natur, de3 Dogen, „der im Leid auch fürftlich denkt,“ und gegen den 
gerade diejes „Fürftliche Denken“ zur tötlihen Waffe in der Hand feiner Feinde 
wird, ift ohne Zweifel ein tragisches Schaufpiel, und fo Hat der Dichter mit 
jeinem „Marino Falieri“ wenn auch fein Werf erjten Ranges, jo doch ein 
wirfungsreiches und poetijch wertvolles Bühnenjtüd geliefert. 

Auch) diefe Tragödie brachte Laube im Wiener Stadttheater zur erjten Auf: 
führung. Greifs viertes Drama dagegen — das Ichte, das durch den Drud 
veröffentlicht ward — erblidte zuerjt im Hofburgtheater das Lampenlicht, und 
zwar unter befonders ehrenvollen Verhältniffen, da es zur Feſtvorſtellung bei 
der filbernen Hochzeit des Kaiferpaares erforen wurde. Der Erfolg war ein 
glänzender und nachhaltiger. Rührend ijt die Freude des vom Schidjal augen- 
jcheinlich nicht verwöhnten Dichters, welche fich in den Verſen „Bei der Auf: 
nahme des »Prinz Eugen« in das Repertoire des Hofburgtheaters“ ausfpricht 
(Gedichte, 3. Auflage, ©. 421): 


Wer viel in fteinig Land gejegt, 
Den freut’s in jpäten Tagen, 

Daß ihm ein Stödlein endlich jegt 
Hat Wurzel wollen ſchlagen; 

Und daß es nad) der Höhe ſucht 
Und zu der Blätter Breite, 

Und daß e8 bilde an der Frudt 
Und künft'gen Keim bereite. 


Dem Hofburgtheater folgte die Münchner Hofbühne noch in demjelben Jahre, 
und auch hier gejtaltete fic die Aufführung für den Dichter zu einem jchönen 
Triumph, der ihm für manche jehmerzliche Enttäuschung ein wohlthuender Erſatz 
gewvefen fein mag. Dieje Erfolge waren aber auch jo wohlverdient, daß fie 


Martin Greif als dramatifcher Dichter. 317 


eigentlich dem hohen Werte diejes „vaterländischen Schaufpiels“ nicht einmal ganz 
entiprachen. Denn hätte man nicht meinen follen, die übrigen größern Bühnen 
Deutjchlands würden fich beeilt Haben, da3 Aufführungsrecht diejes bewährten 
Stüdes auch ihrerjeitS zu erwerben? Das war feineswegs der Fall; nur die 
Tichechenitadt Prag folgte Wiens und Münchens Beifpiel; aber für das echt 
deutjche Werk blieben die „deutſchen“ Theater gefchloffen, die fich wetteifernd 
um die unlautern Ausgeburten der franzöfiichen Modedramatifer reifen. Man 
jage nicht, die Tendenz diefes „Prinz Eugen“ ſei nicht deutſch, fondern ſpezifiſch 
öſterreichiſch. Das wäre unzutreffend. Das Drama ift von kerndeutſcher Ge- 
finnung erfüllt, und eine plump vorgebrängte Tendenz liegt dem feinfühligen 
Dichter überhaupt ganz fern. Der „heißgeliebte deutjche Mutterboden“ ijt es, 
für den das Herz des DVerfafjers mit inniger Empfindung jchlägt. Übrigens 
war Ofterreich zur Zeit Eugens die führende Macht in Deutfchland, und die 
Aufgabe des Bühnenschriftitellers ift faum, die Gejchichte zu leugnen, jondern 
vielmehr fie zu deuten und zur Beherzigung der Nachlebenden zu bringen. Aber 
von dieſem nationalen Interefje, welches das Schaufpiel erregt, ganz abgejehen, 
was für ein föftliches, frifches, liebenswürdiges, mit echt dichterifchem Geift 
fonzipirtes und ausgeführtes Kunstwerk haben unſre deutjchgefinnten und kunſt— 
verjtändigen Bühnenleiter hier unbeachtet Liegen laſſen, während fie der mittel: 
mäßigen Alltagswaare Thür und Thor öffnen. 

Greifs Schaufpiel behandelt jenen glänzenden Sieg, den „der edle Ritter,“ 
den Intriguen der Wiener Camarilla zum Troß, der Chrijtenheit zum Heil, ſich 
jelbjt zu undergänglichem Ruhme im Jahre 1717 bei Belgrad über die Türken 
davontrug. Um Ende des erjten Aktes wird dem Prinzen, der im Begriff tft, 
das Signal zur Schlacht geben zu laffen, die Drdre des von den Gegnern 
Eugen bethörten Kaiſers überbracht, des Inhalts, daß der Kampf vermieden 
werden jolle. Der Feldherr, von der Notwendigfeit der Schlacht durchdrungen, 
wagt den faijerlichen Willen zu umgehen, und wir jehen dann im zweiten Akte 
den großen Sieg fich entjcheiden. Es iſt zugleich ein Sieg des Genies über 
pedantiſche Schulweisheit. Aber noch mehr als dies, einen noch höhern Triumph 
hat der Dichter feinem Helden zugedacht. Der Kaijer, jo jehr er den Prinzen 
liebt und verehrt, kann doc; einen leifen Vorwurf gegen den Feldherrn, der 
jeine Weifung offen verjchmäht hat, nicht unterdrüden, der anfangs verlegte 
Held erkennt und würdigt des Monarchen edeln, wohlwollenden Sinn und 
demütigt fich vor ihm und vor fich ſelbſt durch das freimütige Bekenntnis, daß 
er troß Sieg und Ruhm eine Verjchuldung gegen den Geift der militäriichen 
Disziplin auf fich geladen habe, und nun fann der Kaiſer, was er jo ſehnlich 
wünfcht, ausführen, er fann den getreuen General feiner wärmjten Dankbarkeit 
verfichern und vor allem Volke mit hohen Ehren überhäufen. Erſt durch diefen 
freierfundenen ſeeliſchen Konflitt Hat Greif den an fich nicht ausgiebigen Stoff 
in eine höhere, allgemeine menjchliche Sphäre gehoben und ihm eine wahrhaft 


318 Martin Greif als dramatifcher Dichter. 


ethische und dichterifche Tiefe verliehen. Aber wie die ganze Anlage, jo ver- 
dient auch die warme und reiche Ausführung das uneingefchränftefte Lob; man 
müßte ſich denn auf ein paar gleichgiltige Nebendinge fteifen, wie etwa die Er- 
wähnung eines Madrigals aus Metaftafios Schule, was chronologisch unrichtig 
Icheint, oder die nicht ganz forrefte Sfandirung einiger franzöfiicher Vokabeln. 
Wir erwähnen diejer Slleinigfeiten nur, um nicht irgendeinem $tritifafter den 
Spaß zu lafjen, jie aufzufpüren und auszupoſaunen. Unjre Tagesfritif verlernt 
ja immer mehr in das innere Leben einer Dichtung einzudringen, oder nimmt 
jich wenigſtens nicht die Mühe, es zu thun. Iſt es doch viel bequemer, an der 
äußern Schale herumzunagen. Nicht ala ob die Form bei Greif zu tabeln 
wäre; es fehlt ihr nur das Pridelnde, Kofette, das unfern abgelebten, blafirten 
literarijchen Gourmands bejjer zufagt, als die einfach ſchöne, charakteriftische 
Formgebung. Dieje ift dem Dichter zumal in feinem jüngjten Drama vor: 
züglich gut gelungen; das treuherzige, trauliche, etwas altfränfische Gepräge, 
das er hier jeiner Sprache verlichen hat, entjpricht dem Stoffe jo vollfommen, 
daß es durch Fein faliches Archaifiren oder Deklamiren erjegt werden fünnte. 

Tadellos ift der dramatifche Aufbau des Stüdes. Von Anfang an be 
wegt fich die Handlung in rafchem und doch nicht fich überſtürzendem Tempo 
vorwärts, jede Szene bietet ein im fich gejchlofjenes aufprechendes Bild und ift 
doc unlösbar mit dem Ganzen verwachien, alles ift folgerichtig entwidelt, alles 
jtrebt dem Höhepunkt und der fchließlichen befriedigenden Löſung des Knotens 
zu, Die, ftreng genommen, jchon am Schlufje des vierten Aufzuges erreicht iſt 
Der legte Alt bietet nur noch eine Art prächtigen Schlußtableaug, etwa wie 
der Schlußakt von Schillers Tel. Miffen wird man ihn darum doch nicht 
wollen, da des Dichters Kunft gerade hier aus reichem Füllhorn die liebens- 
würdigiten Einzelheiten gejpendet hat und bis zum lebten Auftritt den Hörer 
in behaglicher Spannung zu halten verjteht. Ein heiteres, jonniges Licht, ein 
jattes, farbenfrohes Kolorit ift über das Drama als Ganzes ausgebreitet. 
Aber c3 fehlt auch nicht an ernten, in die Tiefe des Menjchenherzens greifenden 
Szenen. Wie reich an padenden Einzelheiten ift die wundervolle Schlachtizene 
im zweiten Afte! Hier wechjelt ferniger Humor, Fauftifche Satire und tief 
gemütlicher Ernft in ſchier unerfchöpflicher, ſcheinbar mühelos ſtrömender Bilder: 
fülle, und dieje Bilder geben zufammen ein großes, von reichem Leben erfülltes 
Gemälde, wie es jeit Kleifts „Prinzen von Homburg“ die deutjche Bühne nicht 
mehr gejehen hat. 

Der Vergleich) mit dem ebengenannten Schwanenliede Kleiſts liegt über- 
haupt, des verwandten Stoffes wegen, nahe. Iſt Kleiſt ohne Zweifel das höhere 
poetifche Genie, jo muß man doch jagen, daß Greif mit bejcheidneren Mitteln 
eine reinere Wirkung hervorbringt. Aller romantische Duft und Schmelz, alle 
überjprudelnde Genialität der Charakterifirung, all der wunderfame Zauber der 
Sprache, der unvergleichliche dichterifche Neichtum, der feine Wunderblumen 


Martin Greif als dramatifcdher Dichter. 319 





verſchwenderiſch nach allen Seiten Hin jtreut — alles dies fann nicht völlig 
die mancherlei jtörenden, wunderlichen, grillenhaften, befremdlichen Elemente, die 
der NRomantifer feinem unjterblichen Werfe einverleibt hat, vergeſſen machen. 
Bei Greif iſt der Konflikt nicht ind Tragifche gejpielt, die Handlung widelt jich 
ohne frappirende Sprünge und ſeltſam pifante Beleuchtungseffefte ab. Iſt jo 
die Wirkung des „Prinzen Eugen” eine bejcheidnere, jo iſt jie dafür auch ficherer 
und harmonischer als die des „Prinzen von Homburg.“ Bewundern wir bei 
Kleift die mühelofe, unbefangne, nur leider von Krankheitsſymptomen zuweilen 
entjtellte Grazie des Genies, jo erquidt uns an Greif die ferngefunde, ficher: 
wirfende, Licht und Schatten flug verteilende, von einem hervorragenden poe- 
tiichen Vermögen genährte, völlig reife Kunft, welche ſich zur bloßen Routine 
verhält, wie die Kunſt überhaupt zum Handwerk, und tiefer und jchöner Wir- 
fungen fähig ift, die auch der raffinirteften Mache ewig verjagt find. In der 
That, eine föftlichere Szene als das von feinjtem Humor und tiefjter Innig- 
feit durchwehte, im höchften Sinne dramatische Geſpräch im vierten Akte, in 
welchem der gutherzige Kaifer dem trogenden Helden jo zart zu Gemüte führt, 
daß er ihm, dem Kaifer, denn doc) eine Genugthuung ſchuldig jei, hat unfers Er- 
achten das deutiche Drama der legten vierzig Jahre kaum aufzumeijen. Und 
wie feinfinnig und padend zugleich ift die Weife, wie der Dichter das Eugenius— 
lied zu einem dramatifchen Effekt zu verwerten weiß, der namentlich von der 
Bühne her ein lberwältigender jein muß. 

Durchaus vollendet ift, worauf wir zum Schluß noch hinweiſen wollen, 
die Charakterifirung jämtlicher auftretenden Perſonen; auch nicht die £leinfte 
Rolle entbehrt des individuellen Reizes. Alle überragt natürlich der hochbetagte 
Held mit dem jugendlichen Herzen, der dreifache Sieger über Türken, pedantiſche 
Doktrin und eignen Stolz. Wie heiter iſt fein Scherz, wie beißend fein Spott! 
wie überzeugend zur Anjchauung gebracht ijt fein allen überlegener Geiſt! wie 
rührend fein jtiller Schmerz beim Tode des teuern Neffen und wie erhebend 
jeine Selbjtüberwindung nach jo glänzender That! Ein reiches, inniges Gemüts- 
leben hat der Dichter in diejer herrlichen Figur entwidelt; es ift nicht nur der 
tapferite Held und größte Staatsmann feiner Zeit, den wir bewundern, es iſt 
vor allem der gute, reine Menjch, dem wir Lieben müfjen. In wirkſamem 
Kontraſt zu ihm ftehen die alten pedantischen Generale Schlid und Starhemberg, 
und mit den lebhafteſten Farben gemalt bewegen ſich neben ihm der grillige 
Heijter, der boshafte Goltſch, der ritterliche Graf Hamilton, Die reizende 
Stephanie — eine der Tiebenswürdigiten Mädchengeftalten, die dem Dichter 
gelungen find —, der brave Sergeant Ejchenauer, und wie fie alle beißen. 
Bor allem aber ift der gute, weichherzige, milde und verjtändige Kaifer Karl 
der Sechfte mit wundervoller Meifterjchaft gezeichnet, und fein Verhältnis zu 
dem von ihm nicht nur dankbar verehrten, fondern auch perjönlich geliebten 
Prinzen erinnert — bei aller Verjchiedenheit — doc in rührender Weile an 


320 Die Auffen in Sentralaften. 


dasjenige, welches den größten Monarchen mit dem größten Staatsmanne unfrer 
Zeit, der Welt zum erhebenden Scaufpiel, jo innig verknüpft. Mit den herz- 
lichen Lobpreifenden Worten, die der danfbare menschliche Fürft an feinen 
treuejten Diener vor allem Volke richtet, ſchließt das Stüd. 

Greif hat durch feinen „Prinz Eugen“ glänzend bewiefen, daß das vater- 
ländiſche Drama fein eigenjtes Gebiet ift. Möchte er doch den jo glüdlich be- 
tretenen Boden weiter bebauen, und möchte dann auch dem edeln Dichter, der, 
wie wir hören, von förperlichem Leid vielfach heimgefucht, in keineswegs forgen- 
freier Lage zu München lebt, die lange entbehrte allgemeine Anerkennung der 
Nation zuteil werden, für welche er das Beite, das in feiner reinen Dichterjeele 
lebt und webt, jeit Jahren ſchon zutage fördert, ein echter Priejter feiner Kunſt. 
Denn wie mannichfache Modififationen auch das äfthetische Urteil über feine 
Dichtungen im einzelnen noch erfahren mag, eines ftcht feſt: Greif zeigt in 
allen jeinen Werfen eine deutlich) ausgeprägte Phyfiognomie — ein ernites 
Männerantlig mit fräftigen, etwas herben Zügen; diefer Umstand allein fchon 
unterjcheidet ihn aufs jchärfite von unſern Alltagspoeten, die mit ihren Durch— 
Schnittsgefichtern einander jo Häglich ähnlich ſehen; mögen fie nun lächeln wie 
Faune oder jtarr bliden wie ägyptijche Mumien, mögen fie das Monocle ins 
Auge fneifen oder Locken und Bart ä la Spielmann wallen Laffen. 





Die Auffen in Sentralafien. 
2, 


Fa {U Haben zu Ende des erjten Abjchnittes diefer Darftellung geſehen, 
(er >) da Rußland nach mehrjährigen Kämpfen mit Kofand und Buchara 

— —— A im Jahre 1869 zu beiden Staaten in freumdnachbarliche Beziehungen 
(55 getreten war, die vertragsmäßig gefichert wurden. Anders verhielt 
IS 2 e3 fich mit Chiwa, two der Chan Seid Muhammed Rahim Bahadur 
die Politif feiner Vorgänger fortjegte, im ruſſiſchen Kirgiſenlande Aufitände zu 
ichüren und zu unterftügen und die Nomaden der Eteppe immer von neuem 
Raubzüge nach ruffischem Gebiet unternehmen, Posten und Karawanen plündern 
und Unterthanen des Zaren als Sflaven fortichleppen Tief. Vorſtellungen 
fruchteten nichts, auch militärische Maßregeln wie die Bejegung von Krasnowodsk 
am Golfe von Balkan und verjchiedne Rekognoszirungen in die chimefiichen 
Turfmenengebiete hinein jchredten ihn nicht; denn er hielt fich auf Grund der 
Erfahrungen bei den frühern Erpeditionen gegen die Dafe, die das Kern- und 
Hauptland feines Reiches war, für unnahbar. Es erjchien unbedingt notwendig, 
ihn praftiich zu überzeugen, daß er hierin irre, und jo wurde in Petersburg im 
Dftober 1872 ein neuer Feldzug gegen Chiwa befchloffen, der im folgenden 





Die Ruffen in Zentralafien. 321 











Frühjahr unternommen werden follte. Vorher galt es, den Argwohn Englands 
zu beruhigen, welches alle Schritte der Ruſſen in Mittelafien eiferfüchtig beobachtete 
und nach Möglichkeit zu hemmen und zu vereiteln bemüht war. Schon 1864 
hatte Fürſt Gortjchafoff in einer Zirkularnote in betreff diefer Schritte die 
Abficht zu amneftiren geleugnet und fie mit der Notwendigkeit zu rechtfertigen 
verjucht, dem Unfuge der benachbarten Nomaden ein Ziel zu jegen. Seht jandte 
er Graf Schuwalow nach London, der dort ähnliche Verficherungen ſpeziell in 
bezug auf Chiwa abgab. Zu gleicher Zeit ging man an die jorgfältigite Vor- 
bereitung der Expedition, die von drei Seiten zugleich, von Turfejtan, Orenburg 
und dem faufafischen Militärdiftrikt, unternommen werden jollte. Das turkeſtaniſche 
Detachement follte von Oſten her in zwei Slolonnen, aus Kajala und Dijiſak, 
vorrüden und dann vereinigt nad) dem Amu Darja und der Stadt Chima weiter 
marſchiren. E3 hatte eine Stärke von 4687 Mann mit 1400 Pferden und 
20 Geichügen. Das orenburgiiche Detachement follte, bei dem Fort an der 
Emba gejammelt, in jüdlicher Richtung auf den Aralſee zu und dann an dejjen 
Weſtufer hin auf Urgumurun dirigirt werden. Es war 3461 Mann, 1797 
Pferde und ebenfalls 20 Geſchütze ſtark. Das kaukaſiſche Detachement jollte 
gleichfalls in zwei Kolonnen aufbrechen, deren eine, aus 2000 Mann, 900 Pferden 
und 9 Gejchügen beftehend und vom Oberſten Lomakin geführt, von der Kinderli— 
bucht am Kajpijee über die Halbinjel Mangyichlaf nad) dem Aibugirfee ziehen 
und fi dort mit den Drenburgern vereinigen jollte, während die andre, 
2200 Mann, 600 Pferde und 16 Geſchütze zählend, und vom Oberften Markoſow 
befehligt, die Weijung erhielt, von Tichifiihlar aus am füdöjtlichen Fuße des 
Balchan vorbei über die Brunnen Jgdy und Dudur auf die Stadt Chiwa zu gehen. 
Die Orenburger hatten für Gepäd und Verpflegung 10300 die Turfejtaner 9500, 
die beiden kaukaſiſchen Abteilungen anfangs nur 4000 Kameele zur Berfügung. 

Diejer Feldzugsplan gelang im wejentlichen, obwohl die Truppen troß aller 
Borfihtsmaßregeln mit großen Schwierigkeiten und Entbehrungen, namentlich 
mit Wafjermangel zu kämpfen hatten. Am 6. März 1873 trat die erſte tur— 
fejtanifche Kolonne von Kaſala, am 13. die zweite von Djijaf den Vormarſch 
an, und am 24. April vereinigten fie fich, nachdem die erjtere 450, die legtere 
700 Kilometer zurüdgelegt und viel von den Sandjtürmen der Wüjte gelitten 
hatten, bei Chalala, wo der General von Kaufmann den Oberbefehl übernahm. 
Um 30. April ging es bei einer Hie von dreißig Grad Reaumur in Eilmärjchen 
weiter durch die fandige, wafjerloje Einöde, und am 11. Mai bezogen bie 
Truppen, denen inzwiſchen fajt die Hälfte ihrer Kameele gefallen war, vor Utſch 
Uſak, am Rande der Daje von Chiwa, dag Biwak. Der Kampf mit der Wüſte 
war vorüber, und nun begann auf den Hügeln am Amu Darja der Kampf 
mit den Turkmenen und Slirgijen, die in der Zahl von 3500 Mann hier ein 
Lager bezogen hatten. Diejelben wurden geworfen, und die Ruſſen jegten ihren 


Marſch in der Richtung auf Schurachan fort. Am 16. wurde Ak Kamiſch, 
Grenzboten III. 1885. 4 





322 Die Ruffen in Sentralafien. 

7 Kilometer landeinwärts vom Amu, erreicht. Der Feind war über den Strom 
gegangen und hatte fich bei dem Fort Scheich Arik in einer verſchanzten Stellung 
feftgejegt, wurde aber nach kurzem Kampfe auch aus diejer vertrieben, worauf 
der General in den Tagen vom 18. bis zum 22. ebenfalls den Fluß überfchritt 
und zwiſchen diefem und den Ortichaften Chafarajp und Pitejaf ein Lager bezog, 
in welchem er die nachrüdenden Truppen erwartete. 

Das orenburgſche Detachement ſetzte fich, vom General Werewfin geführt, 
am 30. März von der Emba aus in Bewegung, hatte in den erjten Tagen noch 
viel von Kälte und tiefem Schnee und jpäter, auf dem Ufturt- Plateau und am 
Südrande der Barſukiwüſte, von furchtbarer Hite, die bis zu 36 Grad Reaumur 
jtieg, zu leiden, langte aber am 25. April ohne erheblichen Verluft in Kaſſarma, 
etwa in der Mitte des am Aralſee hinführenden Weges an. 

Die eine Kolonne der Kaufafier, die von Lomalin befchligte, verlich am 
15. April ihr Lager an der Bucht von Kinderli, marjchirte zunächjt in drei 
Abteilungen auf das Fort Michael bei Biſchakti und dann auf Iltje Idje, wo 
fie fich Eonzentrirte. Am 1. Mai jegte fie fich wieder in Marſch über den 
Ufturt, umging von Alan aus die wnüberjchreitbaren Salzjümpfe bei Barſa 
Kilmaß, überfchritt bei Kara Kumbit den Aibugir und vereinigte fich endlich bet 
der chiweſiſchen Stadt Kungrad mit den mittlerweile dort eingetroffnen Dren- 
burgern unter Werewfin. Die Mannjchaften hatten bis dahin und vorzüglich 
in den letzten Tagen ihres Marjches außerordentliche Schwierigfeiten zu über- 
winden gehabt; denn die Hige war faum zu ertragen und das Wafjer der we— 
nigen Wüſtenbrunnen bitter und ſalzig. Nicht jo glüdlich wie der Zug der 
Turfeftaner, Orenburger und Kaufafier von Lomakins Korps endigte der Verjuch 
der Truppen Markofows, von Tichikiichlar in nordöftlicher Richtung nach der 
Dafe Chiwa vorzudringen. Nachdem fie in drei Kolonnen am 19. 25 und 
26. März jenen Ort verlaffen, beim Brunnen Igdy einen Haufen Turkmenen 
geichlagen hatten und auf Orta Kuju weitermarjchirt waren, nahm die Hiße 
dermaßen zu, daß ein fünfundfünfzigteiliges Thermometer 52 Grad zeigte und 
zulegt zeriprang. Das in Behältern mitgenommene Wafjer verdunftete. Die 
Zahl der Maroden wurde immer größer, und viele Leute wurden vom Sonnen- 
ftich getroffen. Als man den Brunnen Bala Jfchen erreichte, überzeugte fich 
Markofow, daß er mit feiner entkräfteten Mannſchaft unmöglich weiter und big 
zum Saume der Dafe von Chiwa marjchiren könne; denn er Hatte bis dahin 
noch mindeftens zehn Tagemärſche vor ih, und Waſſer für diefe Zeitdauer 
mit fich zu führen war ganz unmöglich. Der Oberst entſchloß fich infolgedefjen 
ichweren Herzens, den Rüdzug nach Krasnowodsk anzutreten. Am 14. Mai 
trafen die legten Abteilungen feines Korps hier wieder ein. Er hatte in 57 Tagen 
eine Strede von 960 Kilometern zurücgelegt. 

Wenden wir und nun zu den Teilen des ruffifchen Invafionsheeres zurüd, 
welche glüdlich die Steppen und Wüften um die Daje Chiwa durchmefjen Hatten 


Die Ruffen in Zentralaften. 323 








und bereit3 in Dieje eingedrungen waren. Die bei Kungrad mit den Kaufafiern 
Lomakins zujammengetroffnen Orenburger erreichten im Verein mit den [eßtern 
am 30. Mai, über Chodjcheili vorrüdend, Mangyt. 3000 Chiwejen, die ſich 
ihnen hier entgegenftellten, wurden in die Flucht gefchlagen, worauf General 
Werewfin über Gürlen weiter nad) der Hauptjtadt Chiwas marjchiren fonnte. 
Um 26. Mai langte er in der Nähe derjelben an, am 27. erfolgte ein Ausfall 
gegen ihn, der zurüdgeichlagen wurde, und am 28. pflanzte er dicht vor dem 
nördlichen Thore eine Batterie leichter Gefchüge auf. General von Kaufmann, 
der inzwijchen das befejtigte Chajarafp genommen hatte und dann gleichfalls 
auf die Stadt Chiwa zumarſchirt war, erjchien jegt vor derjelben und jchidte 
fi) zum Sturm auf fie an. Im Innern hatte man vollftändig den Kopf ver: 
loren. Der Chan war entflohen und fein Bruder zum Nachfolger ausgerufen 
worden. Die eine Partei wollte Fortjegung des Kampfes, die andre Frieden 
ohne Verzug. Als der neue Chan dem ruffischen Oberfeldheren bereits feine 
Unterwerfung erklärt hatte, wurde am Nordthore noch gefämpft. Wererofin Lie 
es zujammenfchiegen und dann jtürmen. Um zwei Uhr mittags war alles zu 
Ende, und von Kaufmann z0g in die Stadt ein. Sein erſtes war hier, den 
frühern Chan zur Rückkehr aufzufordern, und als devjelbe gefommen war und 
fich bedingungslos unterworfen hatte, ihn in feine Würde wieder einzufeßen. 
Dann wurde die Sklaverei für abgejchafft erklärt, und die vorhandnen Sklaven, 
3000 an der Zahl, erhielten die Freiheit und die Erlaubnis heimzufehren. Die 
Hauptgegner Rußlands im Chanate waren die Turfmenen geweſen, und jo legte 
ihnen der General eine Kontribution von 300 000 Aubeln auf, die, als fie fich 
weigerten, zu zahlen, und ihr Widerftand erjt mit den Waffen gebrochen werden 
mußte, um 10000 Rubel erhöht wurde. Auch bei dem Frieden, der num mit 
dem Chan vereinbart wurde, fpielte die Rüdjicht auf die Turfmenen eine Rolle. 
Um fie für die Dauer einzufchichtern und Aufftände derjelben für die Zukunft 
rajch dämpfen zu können, hielt man die Anlegung eines ruffiichen Fort? am 
Amu und zwar auf dejjen rechtem Ufer für notwendig, und diefes Fort mit 
feiner Garnifon mußte von ruffifchem Gebiete umgeben fein. Infolgedeſſen hatte 
der Chan dem Zaren das rechte Ufer jenes Stromes abzutreten. Ferner verlangte 
und erhielt Rußland das Delta am Ausfluffe des Amu, da defjen Beſitz für die 
Befahrung des Fluffes mit Handelsfchiffen wünjchenswert war. Sodann durfte 
Chiwa nicht mehr in de rLage fein, den Harawanenverfehr Rußlands mit Buchara 
zu ftören, und jo wurde ihm die Abtretung eines weitern Stückes Gebiet rechts vom 
Amu auferlegt und diefes dem Emir Mojafar übergeben — zugleich ala Beispiel, 
wie der Zar einen guten Nachbar, als den der Emir fichwährend des Krieges re- 
wiejen hatte, zu belohnen wußte. Schließlich mußte der Chan in eine Kriegsfontri- 
bution von 2200000 Rubeln willigen, deren letzte Rate 1893 fällig fein jollte. 

Das durd) diejen Frieden erlangte Gebiet von 1880 Duadratmeilen wurde 
als „Amu Darja- Territorium" mit dem Generalgouvernement Turkeſtan ver- 


324 Die Ruffen in Sentralafien. 








bunden. Das Fort Petroalerandrowst, welches als eine Art Zwing-Uri der 
Turfmenen dienen jollte, wurde auf dem rechten Ufer des Amu zwifchen Chanfa 
und Schurachana erbaut und mit zwölf Feitungsgefchügen armirt und befam 
eine Garnijon von neun Kompagnien Infanterie, vier Sotnien Koſaken und 
einer Batterie Feldartillerie. Diefe Truppen, welche unter den Befchl des 
Oberſten Iwanow geftellt wurden, fanden bald zu thun, indem die Turfmenen 
jofort nad) dem Abzuge des ruffiichen Hauptheeres einen Aufftand verjuchten, 
der aber jchon im Februar 1874 unterdrüdt war. Um ähnlichen Verſuchen 
auch vom Wejten her rajch begegnen zu können, wurde im März der „Trans: 
fajpiiche Militärdiſtrikt“ organifirt, der nicht in Turfeitan, fondern in Kaufafien 
jeine Oberbehörde hat. Er umfaßt ein Areal von faft 6000 Duadratmeilen, 
das nördlich bis zur Mertwyibucht des Kajpifces, weſtlich bis an das Ufer des 
legtern, jüdlich bis zum Atrekfluffe und öftlich bis an das Chanat Chiwa reicht, 
ſodaß dieſes jegt allenthalben von ruffiichem Gebiet eingeichlofjen ift. 
Während hier nunmehr alles nach den Interefjen Rußlands geordnet war, 
machte im Sommer 1875 Kofand demjelben wieder zu jchaffen. Nachdem der 
Chan Alim Kul bei Tafchkend gefallen, war von den Ruſſen Chudojar zu 
defjen Nachfolger ernannt worden, der ſich der Politik des Generalgouverneurs 
Kaufmann in jeder Beziehung fügte. Er erlaubte fich aber die ſchwerſte Be- 
drüdung und Mikhandlung feiner Unterthanen, und infolgedefjen brach im Juli 
des letztgenannten Jahres ein Aufftand gegen ihm aus, der ihm zur Flucht auf 
ruffiiches Gebiet nötigte. An die Spite der Imjurgenten trat der energiſche 
und hochitrebende Abdurrachman Autobatſchi, ein Kiptjchafenhäuptling, der den 
Sohn des entflohenen Chang, Prinz Nakr Eddin, zum Herricher Kofands aus- 
rufen ließ und deujelben zu feindfchger Haltung gegen die Rufjen zwang. Er 
dachte an nichts geringeres als an eine Vereinigung aller Muslime Zentral 
afiens zum heiligen Kriege gegen die Gjaurd aus Mosfof, und in der That 
jammelten fich, von Mullahs und Derwiichen fanatifirt, große Mafjen von Ko— 
fanzen um feine Fahne. In der eriten Auguſtwoche überjchritten diefelben in 
drei Haufen die ruffiiche Grenze: einer, von Abdurrachman jelbit geführt, mar- 
ichirte gegen die Stadt Chodjchend, ein zweiter z0g vom Norden des Chanats 
aus nad Aulin Ata, ein dritter drang im das Thal von Angren ein. Es 
galt in Tajchfend rajch zu handeln, wenn die Empörung nicht auch) die erft 
zehn Jahre dem Zar unterworfnen Nachbargegenden ergreifen jollte, und jo 
jäumten die Ruſſen nicht, gegen die eingedrungnen Kokanzen mit den Streit- 
fräften vorzugehen, die in der Eile zur Verfügung ftanden. Am 8. Auguft 
marjchirte General Golowatjchem mit denjelben nach Teljau am Angrenfluſſe, 
wo er am 10. die Feinde zeriprengte und am folgenden Tage das ganze Thal 
von ihnen jäuberte. Die gegen Aulin Ata vorgerücdte Abteilung der Kofanzen 
fehrte darauf nad) dem Chanate zurüd. Dagegen blieb die Garnijon von 
Chodſchend, die mittlerweile von den Schaaren Abdurrachmans umzingelt worden 


Die Ruffen in Zentralafien. 325 





war, noch zwei Tage eingejchloffen. Am 12. erhielt Golowatſchew Verftärkungen, 
worauf er die Gegner vertrieb und bis an die Grenze verfolgte. Am 18. jtieß 
in Chodjchend General von Kaufmann mit weitern Truppen zu ihm, am 20. 
brachen die nun vereinigt operirenden ruſſiſchen Streitkräfte nad) Machram auf, 
wo die Kofanzen fi in der Stärke von 50000 Mann fonzentrirt hatten. 
Obwohl Kaufmann nur über fechzehn Kompagnien Infanterie, neun Sotnien 
Kofafen und zwanzig Geichüge verfügte, wurden die Feinde ſchnell geworfen 
und zeritrgıt und die Feſtung Machram eingenommen und bejegt. Am 26. 
marfchirte der Generalgouverneur weiter nach der Hauptjtadt Kofand, deren 
Befeſtigungen vier Tage jpäter in den Händen der Rufen waren. Abdurrachman 
hatte mittlerweile bei Margelarn neue Schaaren in der Zahl von 10000 Dann 
um ſich gefammelt, diejelben liefen indes, als die Gegner ſich ihnen näherten, 
bi8 auf 400 Reiter auseinander, mit denen Abdurrachman am 7. September 
nad) Aſſake entfloh. Schon vorher waren von verschieden Landſtrichen Depu— 
tationen erjchienen, die deren Unterwerfung erklärten und um Frieden baten. 
Andre folgten jet nach, und felbjt die meiften Führer der Injurgentenbanden 
thaten desgleichen. Nunmehr verhandelte auch der neue Chan Naßr Eddin mit 
dem Generalgouverneur, und es kam am 23. September zu einem Vertrage, 
durch welchen das ganze rechte Ufer des Syr Darja von der bisherigen ruſſiſchen 
Grenze bis zum Naryn in den Befit des Zaren überging. Kaum aber hatten 
die Truppen Kaufmanns fi aus dem übriggebliebnen Gebiete von Kofand 
zurüdgezogen, jo erhob Abdurrachman Autobatichi in Anditichan von neuem 
das Banner des Aufftandes, jammelte in kurzer Zeit an 10000 Mann um jich 
und erklärte Naßr Eddin für abgejegt und Pulat Bey, einen Verwandten des— 
jelben, zum Herrſcher. Am 28. September entjandte Kaufmann vom rechten 
Ufer des Syr Darja aus 1400 Mann auf das linke und gegen die Kiptichafen 
in Anditichan, und diefelben erjtürmten den verbarrifadirten Ort, vermochten 
ihn jedoch nicht zu behaupten, wurden vielmehr wieder daraus vertrieben und 
mußten jich bi8 nad) Namangan zurücziehen. Auch hier brachen dann Unruhen 
aus, die von Batyr Tjurja, dem frühern Bey diejer Stadt, hervorgerufen worden 
waren, und in der Hauptjtadt zwang ein Aufruhr den Chan Naßr Eddin, ſich 
zu den Ruſſen zu flüchten, und Pulat Bey zog ſtatt feiner in den Palajt ein. 
Doc) kehrte auf dem rechten (jegt ruffiichen) Ufer des Syr Darja die Ruhe 
bald zurüd, jodaß die Truppen fich in ihre frühern Garnifonen zurüdbegeben 
fonnten und nur eine jchwache Abteilung derjelben unter General Skobelew 
(dem jpäter durch feine chauviniftiiche Nenommifterei in Weſteuropa befannt 
gewordnen Heren) im Felde verblieb. Dieſe Verminderung der rufjifchen Streit- 
fräfte bewog Batyr Tjurja, von neuem den Kampf mit denfelben aufzunehmen, 
und anfangs hatte er Glüd. Er jammelte gegen 12000 Kirgiſen und Slips 
tichafen um ſich, und es gelang ihm, als Sfobelew ich gegen Tus gewendet 
hatte, fich auf furze Zeit der Stadt Namangan zu bemächtigen. Der rufftiche 


326 Die Rufen in Zentralafien. 





General aber führte inzwijchen, während ein Teil feiner Truppen Streifzüge 
gegen die bei Machram aufgetretnen Inſurgentenbanden unternahmen, einen 
großen Schlag gegen dad Hauptheer der aufftändischen Kofanzen aus, welches 
fi, 20000 Mann Stark, bei Balyfticht anſchickte, den Naryn zu überjchreiten. 
Dann wandte er fich einem Befehle des Generalgouverneurs zufolge in der 
legten Woche des Dezember 1875, nachdem er Namangan wieder bejegt, gegen 
die Winterlager der nomadischen Kiptichafen in der Ebne zwijchen dem Naryn 
und dem Kara Darja, um diejen, die ſtets die Hauptrolle in den legten Kämpfen 
geipielt und das jtärfite Kontingent zu den Infurgentenheeren gejtellt hatten, 
durch eine gründliche Niederlage für die Zukunft dieſes Treiben zu verleiden. 
Wieder war Abdurrachman Autobatjcht deren Führer und Anditichan ihr 
Zentrum. Am erften Weihnachtöfeiertage begann Skobelew mit 2800 Mann 
den Marſch gegen fie, und am 2. Januar war das rechte Ufer des Kara Darja 
vom Feinde geräumt, und die Ruſſen jegten nach dem andern über, wo An— 
ditichan am 7. mit jchwerem Geſchütz bombardirt und am 8. erjtürmt wurde. 
Abdurrachman z0g fich wieder nad) Aſſake zurüd, und erjt als er hier von 
Skobelew ereilt und nochmals aufs Haupt gejchlagen worden war, ergab er ſich 
am 24. Januar mit jechsundzwanzig andern Führern der Injurgenten dem 
ruſſiſchen General auf Gnade und Ungnade. Bald nachher geriet auch Pulat 
Bey nad) Einnahme der Feitung Utſch Kurgan in Gefangenjchaft, und Naßr 
Eddin fehrte auf den Thron von Kokand zurüd. Er war aber in dieſer Stellung 
feine Gewähr dafür, daß die Ruhe und das gute Einvernehmen mit Rußland 
erhalten bleiben würde. Man erfuhr vielmehr in Taſchkend ſehr bald, daß er mit 
den Ruſſenfeinden Eonfpirire, und daß er fich denjelben ſogar jchriftlich verpflichtet 
habe, den Krieg ſobald als fich Gelegenheit zeigen würde, wieder zu beginnen. 
Infolgedeffen ließ Kaufmann die Stadt Kofand bejegen, und am 19. Februar 
1876 wurde der Reit des Chanats dem Barenreiche als „Provinz Fergana“ 
einverleibt. Ein faiferlicher Ufas vom 5. März übertrug dem Generalgouverneur 
von Turfeftan die Verwaltung des neuen Gebiets, welches, ungefähr 1300 Quad— 
ratmeilen groß, das Areal Turfeftans bis zu 20500 Quadratmeilen vergrößerte. 

Das war in der That ein ungeheure Territorium, wenn man aber in 
Petersburg nicht andre, weitere Ziele dabei im Auge gehabt hätte, jo wäre der 
Gewinn der darauf verwendeten Mittel und Anftrengungen faum wert gewefen. 
Allerdings beſaß Turkeſtan jehr fruchtbare Landitriche, die fich bei georbneter 
Verwaltung zu großer Blüte entwideln ließen, aber die bei weitem größere 
Hälfte des Landes beitand aus Steppen, Wüjten und Sümpfen, und die Be- 
völferung war verhältnismäßig ſchwach an Zahl und nur in ihrer Minderheit 
jeßhaft. Das Übergewicht in ihr hatten die firgififchen und turfmenifchen 
Nomadenftämme, die jchwer zu regieren und noch fchwerer dahin zu bringen 
waren, da& gewohnte freie Hirtenleben aufzugeben und fich als Aderbauer und 
feitangefiedelte Viehzüchter in die ftaatliche Ordnung einzufügen, den Gejegen 


Die Rufen in Zentralafien. 327 








der neuen Herren zu gehorchen und pünktlich; Steuern zu zahlen. Der Fanatismus 
zwar, der fich gegen das od) der ungläubigen Moskofs wiederholt aufgebäumt 
hatte, erlojch bald; denn man begriff, daß der Kampf gegen fie ausſichtslos 
war, und man ſah allmählich ein, daß ihr Regiment, jo mangelhaft es in 
manchen Beziehungen auch fein mochte, der habjüchtigen und launenhaften 
Tyrannei der einheimüchen Herricher und ihrer Beamten jowie den ſtets fich 
wiederholenden Thronftreitigfeiten, Aufitänden und Kämpfen der Nomaden gegen 
die Usbefen bei weitem vorzuziehen fei. Aber die Steuerfraft des Landes ijt 
Ihwach, fie entipricht den Koſten nicht, die e3 erfordert, und wenn in ben 
Sahren 1868 bis 1872 die Einnahmen etwa 10, die Ausgaben dagegen une 
gefähr 28 Millionen Rubel betrugen, alfo in diefem fünfjährigen Zeitraume mit 
einem Defizit von 18 Millionen gewirtjchaftet wurde, fo wird fich das troß 
mancher Reformen und des dadurch gehobnen Wohlitandes der Bevölkerung 
jeitdem faum beträchtlich gebeffert haben. Bei alledem aber durfte ſich Rußland 
mit feinen Eroberungeu nicht zufrieden geben, es ſah fic) vielmehr genötigt, in 
Mittelafien weiter zu anneftiren, einmal weil die Sicherheit des bis dahin hier 
erworbnen Befiges die Unterwerfung der noch unabhängig gebliebnen nomadijchen 
Nachbarn als gefährlicher Räuber erforderte, ſodann weil im Laufe der Zeit 
der Plan gereift war, Mittelafien zur Operationsbafis für eine dereinftige Er- 
oberung Indiens, wenigitens des Indusgebietes zu geftalten, zu welchem Zwecke 
zunächit das gejamte Usbeken-, Turkmenen: und Slirgijenland von der perfiichen 
Dftgrenze big nad; Kaſchgar hinunter dem Szepter der Zaren zu vereinigen 
und dann wenigjtens ein Teil von Afghanijtan, etwa Wachan und Badakſchan 
fowie die Gebiete zwijchen dem Hindufufch und dem Amu Darja nebjt der 
Daje Herat, hinzuzufügen waren. 

Wir werden died in einem Schlußartifel weiter auszuführen verjuchen, denn 
es verdient troß aller Ableugnungen und Gegenverficherungen der Ruſſen die 
ernitejte Beachtung. Es wird die Hauptfrage der Zukunft, vielleicht einer nahen 
Zukunft jein, und diefelbe wird zwar direft nur Rußland und England, mittelbar 
aber mehr oder weniger fühlbar auch uns berühren. Für heute fahren wir 
noch in unſerm Rückblicke fort und erzählen zunächit kurz den Hergang der 
ruſſiſchen Eroberungen im ſüdweſtlichen Mittelafien, die in die Jahre nach der 
Einverleibung Kofands fallen, dann in einem eignen Abjchnitte ausführlicher 
die Ereigniffe der jüngiten Tage im afghanischen Turkmenenlande. 

Wie im Dften firgifiiche Nomaden, jo machten ſich im Weſten vorzüglich 
unabhängige turfmenische Stämme durch Raubzüge den Ruſſen läftig, jodaß fie 
unterworfen werden mußten. So zunächſt die Jomuden, dann die Achaltekinzen 
und jpäter die Horden, die in der Daje Merw ihren Mittelpunft hatten. Die 
Jomuden wurden 1878 angegriffen und befiegt. Schwerer war der Kampf mit 
den Achaltefinzen, die im folgenden Jahre dem General Lomakin eine empfindliche 
Niederlage beibrachten und auch Skfobelew, dejjen Nachfolger im Oberbefehl, 


328 Die Ruſſen in Sentralafien 


— — nes 





geraume Zeit ernſtlich zu ſchaffen machten, bis er am 24. Januar 1881 einen 
entſcheidenden Sieg über ſie erfocht und ihre Hauptfeſtung Geok Tepe nach 
blutigen Stürmen, bei denen über 6000 Mann von der Beſatzung fielen, ein— 
nahm und das Gebiet des Stammes in ruſſiſchen Beſitz brachte. 1882 begann 
hierauf die Bearbeitung der Turfmenen von Merw durch ruſſiſche Emufjäre, 
wobei der Rittmeijter Alichanow, jelbjt ein Turfmene, und der Ingenieur Lefjar, 
ein Jude von deutjcher Abitammung, gute Dienite leifteten. Zu gleicher Zeit 
befand fic) der Engländer O'Donovan dort, der für Englands Intereſſe zu 
wirfen juchte und in der That eine Partei unter den Däuptlingen fand, welche 
willfährig jchien, fich gegen klingende Münze auf die englijche Seite zu ftellen. 
Die dazu erforderlichen Sovereigns blieben aber aus, und der ruſſiſche Rubel, 
der jchneller am Plage war, und Alichanows Überredungstunjt behielten die 
Dberhand, jodah im November 1833 in einer Berfammlung der Stammbäupter 
von der Mehrheit beſchloſſen wurde, ſich freiwillig der Botmäßigfeit des weißen 
Zaren zu unterwerfen. Die Minderheit bereitete fich zum Wideritande vor, 
und als fich bald nachher ein ruffisches Korps unter General Komarow in 
Marſch jegte, um von der Daje förmlich Bıfig zu nehmen, begegneten fie feind- 
lihen Schaaren und hatten mit denjelben Kämpfe zu bejtehen, die nicht immer 
glücklich abliefen. Im der legten Woche des Februar 1884 fanden bei Karyb 
Uta und Aul Abdaltopas Reitergefechte ftatt, am 2. März wurden die Ruſſen 
bei Aul Sarychan bei Nacht überfallen, und erit am 4. fonnte Komarow die 
Eroberung der Daje durch Bejegung von Koſchut Chanfale, des befejtigten Mittel: 
punftes derjelben, vollenden. Am 22. März wurde das gejamte Gebiet von 
Merw in rujfische Verwaltung genommen. 

Vom volfswirtichaftlichen Standpunkte betrachtet, war dieje neue Erwei- 
terung des ruffiichen Reiches in Mittelafien fein erheblicher Gewinn. Die Stadt 
Merw zählte nicht viel über 2000 ſeßhafte Bewohner, und der übrige Teil 
der Daje wurde nur von wandernden Hirten durchzogen, die ſich von Zeit zu 
Beit, namentlich im Winter, in der Nähe der Stadt jammelten. Das ganze 
Gebiet war, vom Margab durchflojjen, zum Teil fruchtbar und gut angebaut, 
zur weit größeren Sn aber verjandet und menjchenleer, da die Perjer zu 
Ende des vorigen Jahrhunderts dic Bewäflerungsanjtalten, welche die Daje 
früher in einen Garten verwandelt hatten, in dem ein wohlhabendes Volk von 
Hunderttaujenden lebte, zevitört hatten, umd Neigung zu mühjeligem und Eoit- 
ipieligem Wiederaufbau nicht die Sache heutiger Zentralafiaten iſt. 

Stellte man ſich dagegen auf den politischen Standpunkt, jo war die Er- 
werbung von hoher Bedeutung. Zunächſt war wieder ein Räuberſtamm in der 
Nachbarſchaft Rußlands unschädlich gemacht, der namentlich) den Karawanen, 
die zwilchen den großen Märkten Buchara und Mejched hin- und herzogen, ge= 
fährlic) gewejen war. Sodann hatte Rußland eine wichtige Station am Süd— 
ojtrande der Turfmenenwüjte getvonnen, deren Wert fteigen mußte, wenn eine 
Eifenbahn, deren Bau feinen unüberjteiglichen Schwierigkeiten begegnete, fie mit 
dem SKajpijee verband — eine Station und Operationsbafis auf dem Marſche 
nach Herat und dem Indus. Merw bildet die Spite eines Dperationsdreieds, 
das fich vom Kaſpiſee und Aralfee im Norden nach Süden zu gegen Afghanijtan 
vorjchiebt. Weitblidende Sachkenner in England wuhten dies. Gladitone da— 
gegen jchien es nicht zu wiſſen; wenigſtens unternahm er nichts dagegen. Der 
—— des Jahres 1885 ſollte ihn belehren, daß dies eine ſchwere Unter— 
aſſungsſünde war. 





Um eine Perle. 
Roman von Robert Waldmüller (Ed. Duboc), 
Fortſetzung.) 


iorita war währenddeſſen allmählich wieder zu voller Beſinnung 
a: 1 gefommen. Sie jtand jtill und jagte, indem fie fich über die jeit- 
RZlichen Zugänge des Schlofjes mit den Augen zu orientiren juchte: 
— > Ve) Was hat mein Vater vorhin über einen herzoglichen Lafaien ge- 
m | jagt? Es gebe einen folchen, der mit jemand aus unfrer Diener- 
Ihaft von einem frühern Dienſte her wohlbefannt fei? 

In Ehren, gnädigftes Fräulein, ganz in Ehren. 

Alſo ein Bekannter von dir? 

Cosi &, jo ift e8, ein guter Belannter, Antonio Maria nannten wir ihn 
immer, objchon er Signor Gheddini genannt fein wollte; es fprach fich eben 
leichter aus oder was ſonſt der Grund jein mochte — ich bin wirffich nicht 
mehr imjtande, es zu jagen. Damals war ich auch noch jünger, und junges 
Volk gefällt fich ja in Nedereien — aber alles in Ehren, ich habe mich nie 
mit ihm näher eingelaffen. 

Sie war dennoc im beiten Zuge, auf Antonio Maria ältere Werbungen 
um ihre Hand zu fprechen zu fommen, aber vor Fioritas Geift ftieg immer 
deutlicher auf, was ihr Vater über Antonio Maria gejagt hatte, und plößlich 
erinnerte fie fic) mit Beftimmtheit der Worte: diefer Mann allein, jo werde 
man ihn bejchuldigen, habe gewußt, daß Giuſeppe Gonzaga mit dem Leben 
davongefommen fei, er allein habe ihn im Schloſſe verſteckt gehalten. 

Eufemia, jagte Fiorita, du Haft jegt einmal Gelegenheit, mir einen Beweis 
wirklicher Treue bi8 in den Tod zu geben. Willft du mir den geben? 

Beata md! Ihr fragt noch? 

Führe mich zu Antonio Maria. 

Grenzboten III. 1885, 42 


C_Nn 









330 Um eine Perle, 


Zu jenem Belannten aus deiner frühern Stellung. 

Als ob ich mich je ſoweit vergeffen hätte, feine Schwelle zu überjchreiten! 
Was denkt Ihr von Eufemia, gnädiges Fräulein! 

In welcher Abteilung des Schloffes er wohnt, ift dir aljo nicht bekannt? 

Das ſage ich nicht, ich, will mein Gewiffen nicht mit einer Züge bejchweren, 
noch dazu im gegenwärtigen Augenblide; haben wir nicht vielleicht ſchon das 
Gift im Leibe! Wie fange mußten wir vor dem Schloßthor parlamentiren! 
Sie ſah fih um. Wir find hier immer noch zu nahe, gnädiges Fräulein, jagte 
fie; Ihr wollt doc wohl nicht gar, daß ich Euch zu Antonio Maria führe? 
Nach der Rückſeite des Schloffes, in die langen, eisfalten, finſtern Gänge, wo 
man jich bei gefunden Zeiten fchon den Tod holen kann? 

Du willſt mich alfo nicht dahin begleiten? fragte Fiorita, und ſchützte fich 
endlich gegen den glühenden Sonnenbrand durch das ihr bisher von Eufemia 
vergebens aufgedrungene weiße Kopftuch). 

Eignorita! Ins Schloß, wo die vajuole wie toll wüten? 

So bezeichne mir die Richtung. 

Aber, gnädiges Fräulein, das Schloß ift ja ohnehin abgeſperrt. 

Das wird jich finden. Wohin gehe ich? 

Aber die vajuole! 

Eufemia erhob noch Einwände ohne Zahl, doch als Fiorita fie endlich 
ohne Antwort ſtehen lieh, überwand fie ihre jtarfe innere Scheu und folgte 
ihrer Herrin, eifrig befliffen, fie bis zum Betreten des todbringenden Schlojjes 
dur Gründe immer neuer Art noch von ihrem vermeſſenen Borhaben abzu= 
bringen. 

Fiorita war im Geiſte jchon in der Zelle Giufeppes, und ſah und Hörte 
nichts. 

Auf einmal hielt fie aber jemand mit fchwacher Hand am Ärmel feft und 
eine wohlbefannte zitternde Stimme fragte beforgten Tone: 

Unglüdliches Kind, was Haft du vor? 

E3 war der gebrechliche Pater; er hatte fie nach mühjamem Suchen end- 
lich doch noch gefunden. 

Fiorita war mit ihren Gedanfen ſoweit vorausgeeilt, daß fie ihn nicht 
gleich erfannte, aber Eufemia warb fofort nur umſo wortreicher und dringender 
um feine Hilfe beim Zurüdhalten ihrer Herrin, und während Fiorita nun aus 
Rückſicht auf jein langjames Gehen ihre Schritte verkürzte, lie er e3 auch nicht 
an Abmahnungen fchlen. 

Nie war der Zeitpunkt aber günftiger gewejen, um ungehindert gerade zu 
allen jenen diemftlichen Räumlichkeiten zu gelangen, welche jonjt nur von den 
im Schloſſe heimifchen betreten zu werben pflegten. Einige der Flüchtlinge 
hatten noch Habjeligfeiten nachzuholen und Kiften und Kaften zu verichliehen, 


Um eine Perle. 331 





andre wollten wenigitens jagen können, fie jeien nur um fich zu orientiren zeit 
weilig ing Freie gegangen, und diefe machten fich drinnen denn auf Augenblicke 
wieder zu fchaffen, worauf fie bei jedem neuen Ertönen der Peſtglocke aber- 
mals hinausjchlüpften. Won einer Abjperrung der drei bis vier rückſeitigen 
Schloßeingänge war nicht? zu fehen. Ein großes Teuer loderte in geringer 
Entfernung jedes Einganges, und troß der ohnehin jchon drückenden Hitze 
wurden dieje Feuer fleißig gejchürt und von zahlreichen Neugierigen umftanden ; 
denn die herzoglichen Holzfammern waren auf Anordnung des Dottore Poſſe— 
vino geöffnet worden, und wer freude an dem Praſſeln und Kniſtern des gie- 
rigen Elements hatte, der trug aus den reichen Borräten, foviel er wollte, hinzu. 

Fiorita hatte mit Beſtimmtheit erklärt, nichtS werde fie abhalten, fich zu 
Giuſeppe Gonzaga den Weg zu bahnen, und fo war denn endlich auch der 
Nedefluß Eufemias verfiegt. Ihr Gebetbuch in der Hand und, objchon des 
Leſens unkundig, doc beim Herjagen des allen Weibern und Kindern jener 
Zeit geläufigen Gebets gegen Belt, Boden und fonjtige Seuchen fich des Ge— 
betbuch& bedienend, jchritt fie, von niemand aufgehalten, ihrer Herrin und dem 
mühjam fich auf den Arm derjelben ftügenden Pater voran. 

Sie wußte recht wohl, in welchem Teile des Erdgeſchoſſes die beiden 
Zimmer Antonio Maria lagen, hatte fie auf fein Verlangen, ihr jeine Woh— 
nung zeigen zu bürfen, ihm doch einmal ſoweit gewillfahrt, daß fie bis an Die 
Schwelle gegangen war und durch die offne Thür die für fie, als feine erhoffte 
Bufünftige, bereitjtehende Einrichtung in Augenfchein genommen hatte. 

Wirſt du dich zurechtfinden? fragte Fiorita, als die Friaulerin nach furzem 
Hin- und Herbliden in einen der ſonſt halbdunkeln Gänge einbog, welche heute 
durch das Offenſtehen vieler in Eile verlaffenen Dienjtwohnungen abjonderlich 
hell und freundlich anmuteten. 

Sicuro, lautete die lafonijche Antwort. 

Kehrt Ihr aber um, ehrwürdiger Bater, wandte fich Fiorita gegen Pater 
Vigilio, die Kälte hier Fönnte Euch Schaden bringen. 

Du wirft meiner vielleicht noch ſehr bedürfen, gab der Alte ablehnend zur 
Antwort. 

Und fo wurde der Gang ohne weitern Aufenthalt durchichritten, worauf 
ein zweiter kürzerer an die Reihe fam und endlich ein pechfinfter verlaufender 
dritter. An eine der erften Thüren desjelben pochte die Friaulerin mit leiſem 
Finger. 

Poche vernehmbarer, ſagte Fiorita, da keine Antwort erfolgte. 

Eufemia pochte beherzter. 

Alles ſtill. 

Öffne, befahl Fiorita. 

Die Friaulerin zögerte. 

Er wird geflohen fein, jagte der Pater. 


332 Um eine Perle. 








Oder er ift der Seuche ſchon erlegen, vollendete Fiorita mit einem Froft- 
ſchauder. 

Alle drei lauſchten. 

Kein Laut vernehmbar. 

Jetzt endlich höre ich ihn, ſagte Fiorita. 

Es iſt das Gurren der Schloßtauben, berichtigte fie der Pater. 

So tretet beide zurüd, jagte Fiorita und machte fi) von dem in ihrem 
Arm ruhenden Arme des Paters los, wenn Antonio Maria noch der Rede fähig 
ift, jo werde ich fein Geheimnis auch ohne Eure Hilfe aus ihm herauszubringen 
wifjen; tretet ganz zurüd; gehe ich hier in die Höhle des jchwarzen Todes, jo 
wird mir eine gnadenreiche Fürſprecherin droben nicht fehlen. 

Sie öffnete die Thür, trogdem Eufemia ihre Herrin mit Gewalt zurüdhielt. 

Aber feine von beiden überjchritt die Schwelle. Starr blidten fie hinein. 
Dann warf Eufemia fi) auf die Kniee und jammerte: Durch meine Schuld ! 
Misera me! Infelice me! Ah! Ahi! Ahime! 

Sie klagte ſich an, ihn durch ihre Unfreundlichkeit, durch ihre Härte, durch 
ihre Graufamfeit in den Tod getrieben zu haben. Heiraten, nein, heiraten 
hätte ich ihn nicht fünnen, rief fie, er hatte jo ein eigned Weſen, und wenn er 
die Augen jo zufniff — nein, e3 ging nicht, troßdem daß ich nie etwas Böſes von 
ihm gefehen oder gehört Habe. Aber wozu brauchte ich ihn das legtemal jo bündig 
abzuweifen? Mai! ift ein großes Wort! Ahi! Ahime! Alle Hoffnung ihm 
jo zu rauben! Wozu brauchte ich: nie und nimmer! zu jagen. Jetzt hat er fich 
erhängt! Un dem nämlichen Fenſter, Signorita, auf deſſen Bret er damals 
die blühende Myrte geftellt hatte, als ich nicht über die Schwelle gewollt habe — 
auch eine Hartherzigkeit! Was fonnte mir gejchehen! Ah! Ahi! Ahime! 

Der Pater war in das Zimmer getreten. Ein ſehr langjähriger Kirchen- 
dienst hatte ihn gegen den Anblick Entfeelter abgehärtet, aber fein Amt machte 
es ihm auch zur Pflicht, an einem aus dem Leben Gejchiedenen nicht ohne eins 
der herkömmlichen Gebete vorüberzugehen. 

Er ſchloß die Thüre Hinter fich, überzeugte fi) zunächſt, daß der leßte 
Atem aus dem unglüdlichen Selbftmörder entflohen war, verrichtete ein jtilles 
Gebet und wollte fich dann wieder hinausbegeben, als fein Blid auf ein be- 
jchriebenes Stüd Papier fiel, das am Boden lag. 

Er büdte ſich darnach, Hob es auf, zog feine Brille hervor und las: 

Wenn Guiſeppe Gonzaga das Gift, wie ich annehmen muß, getrunfen hat, 
jo wird er jet hinüber fein; ich habe gethan, was ich thun follte; Hüte fich 
ein jeder, welcher dies Tieft, vor den Dienſte hoher Herren. 





Dreiundvierzigftes Kapitel. 


Pater Vigilio jchüttelte traurig den Kopf. Man traute dem Herzog viel 
übles zu. Viel übles gefchah ja auch an andern Orten. Venedig, Florenz, 


Um eine Perle. 333 


das Heilige Rom, wo jchredte man vor Gewaltthaten zurüd? Warum jollte 
Herzog Francesco ſich durch ein jo landesübliches Mittel wie den Dolch 
oder das Gift nicht „im Dienfte des Staates“ aus einer großen Verlegenheit 
herausgeholfen haben? 

Der Herzog hat vor jeinem Tode noch Gelegenheit gehabt, ji von dem 
Verdachte zu reinigen, mit dem ihn jener Zettel belajtet hatte. Aber Pater 
Vigilio verließ das Totenzimmer mit jchmerzlichern Empfindungen, als fie feit 
langem ihn aus dem Gleichgewicht gebracht Hatten. 

Dennoch faßte er fich, nachdem er den Inhalt des Zetteld wie ein Beicht— 
geheimnis zu verfchweigen bejchlofjen hatte, und fprach, zu Fiorita gewandt, mit 
der ihm eignen Gewohnheit, niemandem feine Meinung aufzudringen: Was num, 
meine Tochter? Sollte das traurige Ende dieſes Mannes, welcher allein um 
den Aufenthalt Giufeppe Gonzagas wiffen fonnte, uns nicht eine Mahnung 
fein, das weitere dem Himmel anheimzuftellen? Was vermögen wir jchwaches 
Gewürm gegen die Mächtigen diefer Erde! 

Fiorita hatte wortlos dagejtanden, erjchüttert von dem Anblid des Ent— 
jeelten, taub für den jelbjtquälerifchen Sammer der Friaulerin, ihr Hirn nad 
einem Erſatz für den allein in das dunkle Geheimnis eingeweiht gewejenen, nach 
einem Berater, wie Antonio Maria vielleicht einer gewejen wäre, zermarternd. 

Und der Doktor, der Giufeppe bis heute behandelt hat, gab fie jet aber 
zur Antwort, wird denn zu dem nicht zu gelangen fein? Auf, auf, Eufemia! 
Du allein bift Hier ortsfundig Wer kann ihn verpflegt haben? 

Es nahten Schritte. 

Fiorita horchte auf. 

Semach! bat der Pater. 

Laßt mich machen! 

Aber vergeht doch nicht, Tochter, fagte er, wir jtehen hier auf vulfanijchem 
Boden! Hatte einzig jener Unglückliche den Schlüfjel des Geheimniffes in 
Händen, was fann es dann helfen, daß wir einen Beliebigen, der uns in den 
Weg fommt, mit Fragen über einen des Hochverrats Bezichtigten beftürmen? 
Wird dein eben erjt der Haft entronnener Vater nicht für deines Eifers Über: 
maß büßen müfjen? Das bedenfe! 

Eine alte Negerin fam aus dem finftern Gange herangejchlurrt, die halb- 
taube Ubidia. Sie wehllagte und ſchnappte dazwilchen mühjam nach Luft. 

Fiorita verfuchte fie anzujprechen. 

Via! Via! weg! weg! war aber alles, was fie zur Antwort erhielt. 
Mehr noch als allen andern Schlogbewohnern war ihr das Läuten der Peit- 
glode in die Glieder gefahren. Sie hatte ſchon unzählige male fich ins Freie 
geflüchtet, und war jetzt wieder auf der Flucht begriffen, Hin und Her getrieben, 
bald von ihrer Angft vor der Anſteckung, bald von der Gewöhnung, ihrem 
Dienfte mechaniſch obzuliegen. 


334 Um eine Perle, 








Via! Via! Mit abwehrender Geberde ſchlurrte fie vorüber, und Fiorita 
ſtand wieder ratlos da. 

Aljo der Doktor! rief fie, zu ihrem legten Notanker zurückkehrend, wer 
kann meinem armen Freunde bis heute das Leben gefriftet haben? Verzeiht mir, 
ehrwürdiger Herr, aber glaubt Ihr, daß ich jemals wieder ruhig werden könnte, 
wenn ich jet nicht alle Mittel erichöpfe, um zu meinem Giufeppe zu ge 
langen? 

Meine Tochter, antwortete der Pater, endlich im Begriff, mit der trau— 
rigen Kunde herauszurücken, die er ihr fchonend vorenthalten zu dürfen gehofft 
hatte, jo mache dich denn auf eine Möglichkeit gefaßt, von welcher ih — 

Er hielt inne, denn von neuem nahten Schritte, und diesmal ſollte Fio- 
ritag Ausdauer gefrönt werben. 

E3 war der Minimi-Mönch, welcher, aus dem tiefen Dunkel des Ganges 
haftig heranfommend, beim Gewahren des Teatiner-Paters die Hände nad) Art 
der Minimi-Mönche als Zeichen eines dringenden Anliegen zu der Form eines 
Spitzbogens auf der Bruſt vereinigte. 

Pater Bigilio bedeutete feinen beiden Begleiterinnen, zurüdzutreten. 

Der Mönch war ftehen geblieben, Pater Vigilio ging auf ihm zu und 
fragte nad) feinem Begehren, denn der Mönch, objchon er jenes Zeichen ge- 
macht hatte, jchien jetzt doch in Zweifel, ob er reden folle. 

Sch habe nur die niedrigen Weihen erhalten, fagte er demütig, und fann 
einem Sterbenden aljo nicht beijtehen, wie es die Negel vorjchreibt. Es iſt 
aber feine Zeit zu verlieren, daher meine unüberlegte Eile. 

Er lebt noch? fragte der Pater. 

Ihr wißt von ihm? entgegnete der Mönd). 

Ih habe nur erſt Mutmaßungen. Wie heit der Mann, zu dem du mic) 
führen wit? 

Ich Ferne feinen Namen nicht, auch Ihr könnt jchwerlich von ihm gehört 
haben. Uber, nicht wahr, bis ich einen Priefter aus meinem Klofter herbei- 
ſchaffen kann, habe ich eine lange, lange Strede zurüdzulegen. Nun führt mein 
guter Stern Euch mir in den Weg; Ihr könntet ihm den Abjchied von der 
Erde erleichtern. Nur beruhigt zuvor mein Gewiffen, denn — Gott weiß aus 
welchem Grunde — ich habe bisher zu niemandem von dem Franfen Manne 
reden dürfen. Und fo frage ich mich denn: ijt es eine größere Sünde, wenn 
ich ihn ohne den Troſt unjrer heiligen Kirche fterben lajje, oder wenn ich Euch), 
ehnwürdiger Vater, zu ihm führe? 

Pater Vigilio überlegte. Er war immer voll Sfrupeln. Der Mönd 
mußte ihm deutlich jagen, wie jenes Verbot lautete und ob er dasſelbe hatte 
beichwören müffen. 

Das letztere war nicht der Fall gewefen. 

Dennoch hatte der Pater noch einige Bedenken. 


Um eine Perle. 335 





Aber nun miſchte fich Fiorita hinein, denn fie hatte einzelnes gehört und 
alles erraten: Und wenn Ihr zaudert, geiftlicher Herr, rief fie, jo ſoll mein 
armer Freund wenigitens nicht fterben, ohne daß feine Braut an feinem Lager 
betete. 

Sie verſchwand in dem dunkeln Gange, ehe die beiden Männer ihr ant— 
worten konnten. 

Die Friaulerin wollte ihr folgen. Ihr jedoch bedeutete Pater Vigilio, 
daß ſie hier die Rückkehr der Signorina abzuwarten habe; und, noch nicht wieder 
Herrin über ihre durch den gehabten Schreckensanblick zerrütteten Seelenkräfte, 
fügte ſie ſich ohne Widerſpruch, holte, als die beiden Männer dem Fräulein 
nachgingen, ihr Gebetbuch hervor, und fand, während ſie es aufblätterte, in 
ihrem Gedächtnis auch noch einige Sätze aus der einſt gleich andern Gebeten 
ihr geläufig geweſenen Fürbitte für Selbſtmörder, ſodaß, vor dem trübſeligen 
Gemache ihres einſtigen Umwerbers knieend, ſie durch unabläſſiges Herſagen 
jener Gebetbrocken ſich nach und nach Erleichterung verſchaffte. 


Vierundvierzigſtes Kapitel. 


Der Mönch Hatte die Thür zu Giuſeppes Zimmer nicht ganz geſchloſſen 
gehabt. Ein jchmaler Streifen Licht lag quer über dem fteinernen Ejtrid) des 
Ganges, welchen Fiorita pochenden Herzens durcheilte. Gütiger Himmel, flehte 
fie, zögere noch wenige Augenblide mit jeinem letzten Atemzuge! Gönne mir 
noch ein Wort von feinen Lippen, gönne mir die Gnade, daß er mich wenigjtens 
noch erkennt! 

Seht Stand fie auf dem lichten Streifen. Von einer furchtbaren Ahnung 
gelähmt — denn drinnen fchien alles totenjtill — zögerte fie, die Thür zurück— 
zudrücken. 

Aber da flatterte es drinnen, und nun auch noch von dem Gedanken be— 
ängſtigt, dem ohne Totenwache verlaſſen Daliegenden könnte das mitleidloſe 
Getier zu nahe kommen, ſtieß ſie die Thüre auf und ſtand auf der Schwelle — 
geblendet von der ſonnigen Helle, unfähig etwas zu erkennen, überflutet von 
Düften, bis auf den Grund ihres Herzens weh und doch auch wonnig bewegt. 

Denn er lebte ja noch! Dies war das erſte, das einzige, was ſelbſt durch 
ihre Blendung zu ihr drang. Blaß wie ein vom Monde beſchienener lag er 
unter dem blauen Betthimmel mit offnen Augen in weißem Nachtgewande da; 
die Hände waren fein geadert und abgemagert; der rote Bart war lang, ſehr 
fang geworden, aber der Atem Hob noch feine Bruſt — er Ichte noch! 

Ihre Füße wollten ihr nicht gehorchen, wollten fie im Fluge an feine 
Lagerjtatt tragen, auf ihren Lippen jchwebte fein Name, ihre Arme breiteten 
fih aus, ihn ſtürmiſch zu umfangen. 


336 Um eine Perle. 


Doc die Angft, den legten Tropfen in der Lampe feines Lebens zu ver- 
Ichütten, bändigte ihren Schritt zu lautloſem Nähertreten, den Ton ihres Mundes 
zu faſt unhörbarem Flüftern des geliebten Namens, die Geberde zu abmahnendem 
Beichtwichtigen. 

So erreichte fie feine Lagerftatt, jo fniete fie neben derjelben nieder, jo 
beugte fie fich über feine auf der Bettdede ruhende Hand. 

Er jpürte den Kuß, er fühlte Thränen heiß auf feine Hand tropfen, er 
jah eine goldblonde Lodenfülle, und er ftich einen Freudenjchrei aus, einen jo 
durchdringenden, daß die Tauben erfchroden vom Fenſterbrett ins Freie flohen. 

Fiorita flehte: Komme zu dir, Geliebter, wir wollen beide jchweigen; wir 
haben uns, wir halten ung, ich fann dir alles abbitten, du kannſt mit einem 
Händedrud mir jagen, daß du mir alles verzeihft. D nein, fuhr fie fort, jo 
viel, jo überjchwänglich viel Hatte ich vom Himmel nicht zu erflehen gewagt; 
fieh, mein Freund, ich dränge die Klage, ich dränge die Thräne zurüd — ich 
weine nicht, ich danfe, ich juble — bei dir! bei dir!! 

Ihre letzten Worte erjticten in Thränen — «8 ift nur das Übermaß 
von Wonne und Seligkeit, jchluchzte fie; aber ihr war doch, als müſſe fie vor 
Schmerz erliegen. 

D erliegen! Wie fie fich danach fehnte! Wie gern fie die Bitte, mit ihm 
zugleich abgerufen zu werden, gen Himmel geſchickt hätte! Ergebenheit in die 
Fügungen eines höhern Willens, dem fie das wehmütige Labjal diejes un— 
verhofft ihr bejcherten Wiederſehens dankte, verjchloß die Bitte auf dem Grunde 
ihres Herzens. 

Nur ftill fein, nur dankbar fein, nur allen von ganzer Seele vergeben, 
jo beichwichtigte fie, was an unverftändlichen Lauten über jeine Lippen wollte. 
Und matt zum Sterben, wie er war, begnügte er fich, ihre Loden zu ftreicheln, 
ihr Haupt an feine Bruft zu zichen und mit weit offnen Augen, als wie des 
nahen Nachtwerdens ahnungsvoll gewiß, ihr rührend Ticbliches Bild in jich 
hineinzufaugen. 

Der Minimi-Mönd und Pater Vigilio waren leije eingetreten. Der erjtere 
hielt fich fern, der alte Teatiner fam mit vorfichtigem Schritt heran. Die 
männliche Schönheit Giufeppe Gonzagas, den der Greis bisher nie gejehen, 
nur aus Fioritas Schilderungen kennen gelernt hatte, ergriff ihn mit jo mächtiger 
Gewalt, daß er Mühe hatte, angefichts der in Thränen aufgelöjten Braut jelbit 
nicht außer Faffung zu kommen. Sic transit gloria mundi! murmelte cr in 
fich Hinein, und er ſah im Geifte, wie er es einft mit Augen gejchaut hatte, 
jene Flocke Werg fich in Wiche verwandeln, die bei der Krönung des Papjtes 
als Symbol der Bergänglichkeit alles Irdiſchen verbrannt wird. 

(Fortjegung folgt.) 
Für die Redaktion verantwortlid: Johannes Grunow in Leipzig. 
Berlag von Fr. Wild. Grunow in Leipzig — Drud von Carl Margquart in Keipzig. 


EEE, 





Sanfıbar. 


— ag“ einiger Zeit wird in der Tagespreſſe eine Sanfibar- Frage 
— A erörtert, und in der legten Woche ift diejelbe in den Vorder: 
% % grund getreten, indem der Telegraph uns meldete, daß ein Ge- 
—— Aſchwader deutſcher Kriegsſchiffe vor der Stadt Sanſibar einge— 
Bi NG u troffen jei. So wird es wünjchenswert, zunächjt etwas über Land 
und Leute, mit denen der Kommandant dieſer Seejtreitfräfte zu thun haben 
wird, dann über Urjache und etwaige Zwede der Abjendung der leßtern zu er- 
fahren, und diefem Wunjche follen die folgenden Mitteilungen, joweit thunlich 
und rätlich, zu entjprechen verjuchen. 

Sanfibar im weitern Sinne ijt ein feines, aber infolge feiner Lage nicht 
umvichtiges Inſel- und Küſtenreich in der Nähe des ojtafrifanischen Kaps Del- 
gado. Bon den dazu gehörigen Injeln find die, nach welcher es genannt wird, 
das ungefähr 1600 Quadratkilometer große Sanjibar oder Sangibar, dann 
Manfeja und Pemba die anjehnlichiten. Der Gebietsjtreifen an der Küſte des 
Feſtlandes ſtellt feinen geſchloſſſen und zujammenhängenden Bejigitand dar, 
jondern iſt als eine Reihe einzelner Entlaven im Suahelilande zu bezeichnen, 
von denen überdies mehrere von dem Beherrſcher der übrigen Teile diejes 
Landjtrichs mit zweifelhafter Berechtigung beanjprucht werden. Ein bejonders 
wichtiger Punkt unter diejen Enflaven ijt Bagomoio, das Eingangsthor nad) 
dem Innern des jüdöftlichen Afrikas, nach den großen Seen und nad) den Bergen 
und Hügelfetten, die im Kilima Nojcharo ihr Zentrum und ihre höchſte Er- 
bebung haben. Hier legen die Küftenfahrer an, welche die Einfuhr europätjcher 
Waaren in diefe Länder und die Ausfuhr von deren Erzeugnijjen vermitteln, 
bier ſammeln fic die Kaarwanen arabiicher und fränkiicher Kaufleute, weld)e 

Örenzboten III. 1885. 43 









338 Sanfibar. 








die Gegenstände dieſes Imports und Erport3 weiter befördern, und von hier 
gehen die Expeditionen der Reiſenden aus, welche das Innere von Ditafrifa er- 
forjchen und der Zivilifation erjchliegen wollen. Der Mittelpunkt des Sultanat3 
ift aber die Infel Sanfibar, die, auf Korallengrund ruhend, vom Feitlande durch 
einen tiefen Kanal getrennt it und fich in der Mitte zur Höhe von etwa 
150 Meter über die Meeresfläche erhebt. Diejelbe eignet fich nicht zur Nieder: 
lafjung für europäische Landwirte; das Klima ift dem von Oman in Südarabien 
gleich, dejien Sommer für die heikejten auf ber ganzen Erde gelten, große 
Streden in der Ebne find faſt jo ungefund wie die fumpfigen Küſten Madagas- 
kars, und nur ein Drittel des Bodens gejtattet Plantagenwirtichaft. Man baut 
hier in den Senfungen und Thälern vorzüglich Zuderrohr, Reis, Maniok und 
Dichowari, eine Art Moorhirje, der in ganz Djtafrifa die Hauptbrotfrucht liefert. 
Die Abhänge der Hügel bededen Pflanzungen von Drangenbäumen und Ge- 
würznelfenfträuchern. Von größerer Bedeutung ift die Inſel durch die Bucht 
an ihrer dem Feſtlande zugefehrten Seite, welche, nach der See hin von zahlreichen 
Kleinen Eilanden gejchüßt, einen vortrefflichen Hafen abgiebt, und durch welche 
die an ihr erbaute Stadt, die Refidenz des Sultans, in wenigen Jahrzehnten 
zum vornehmften Handelsplage Dftafrifas geworden iſt. Zu Anfang unjers 
Sahrhundert3 jtanden hier nur ein Kaftell und einige Hütten, jet hat die Stadt 
über 3000 Häufer und mehr ald 80000 Eimvohner, während die ganze Inſel 
deren faum 120000 zählen ſoll. Mehrere europäiiche Staaten haben hier Kon— 
tore umd Konſuln. Die Einfuhr beträgt jährlich mindeſtens zehn Millionen 
Mark an Wert, und die Ausfuhr wird auf nicht viel weniger veranjchlagt. 
Jene beiteht vorzüglich in Baummollenzeugen, Schiegpulver, Gewehren, Brannt- 
wein, Glasperlen und Kupferdraht, dieje in Gewürzen, Harzen, Häuten, Kokos— 
nußöl, Zuder, Sefam, Elfenbein und Kaurimufcheln. Früher waren die Ameri- 
faner die Hauptimporteure, dann erjt waren die Engländer und in weiten 
Abſtande von diefen die deutjchen (Hamburger) Firmen zu nennen; auch führten 
die letztern faſt ausjchlieglich englüche Waaren ein. Später änderte fich diejes 
Verhältnis erheblich. Im Jahre 1875 verkehrten im Hafen von Sanfibar 89 
fremde Handelsfahrzeuge mit zujammen 49300 Tonnen Gehalt, und darunter 
befanden fich 42 englische mit 27100, 13 deutſche mit 5370 und 10 amerifa- 
nijche mit 5950 Tonnen Laſt. Jetzt aber fommt Deutichland in betreff der 
hier einlaufenden Schiffe, wie aus dem „Deutichen Handelsarchiv“ zu erjehen 
ift, unmittelbar nach England, und die Einfuhr deutjcher Fabrikate ijt jo be- 
deutend, daß fie mehr als die Hälfte des Gefamtwertes aller importirten Artikel 
ausmacht. 

Abgejehen von den fränkiichen Elementen, die ſich in Sanfibar zeitweilig 
angejiedelt haben, bejteht die Bevölferung des Sultanat3 aus Negern vom 
Suaheliftamme, Arabern, Mifchlingen von beiden, Perfern und Indern. Die 
berrjchende Raſſe ift die arabische. Nach Chroniken und Reijebefchreibungen 


Sanſibar. 339 





des Mittelalters hatten hier ſchon im zweiten Jahrhundert der muhammedaniſchen 
Zeitrechnung Auswandrer aus Südarabien, dieſem Lande des Seehandels und 
der Koloniſation, Städte und größere Gemeinweſen gegründet, welche im Laufe 
der Zeit zu beträchtlichem Wohlſtande gelangt waren, und als Vasco de Gama 
das Kap der guten Hoffnung umſchifft hatte und auf der Weiterfahrt nach 
Indien in dieſe Gegenden fam, fand er eine Anzahl anſehnlicher und wohl— 
gebauter Orte vor, welche lebhaften Handel mit Perfien und Dftafien trieben 
und dadurd ſich zu großer Blüte verholfen hatten. Wenige Jahre nachher 
unterwarfen ſich die auf der Inſel Sanfibar wohnenden Araber den Portugiefen, 
welche nun auch jene Handelsjtädte der Feſtlandsküſte zu unterjochen fuchten 
und ihren Zwed allerdings erreichten, Dabei aber den Handel vernichteten. Das 
Land verfiel unter ihrer Herrichaft mehr und mehr, und als fid) in dem be- 
nachbarten Südarabien eine erobernde Macht ausbildete, ging dieje Kolonie der 
Krone Portugal allmählich verloren. Der Sultan vder Imam von Masfat 
bemächtigte fich, nachdem er die Portugiefen von hier und aus dem ganzen 
Lande Oman vertrieben, mit feiner Sriegsflotte auch der Infeln und Küjten- 
gebiete, welche dieſe im jüdöstlichen Afrika bejagen, und jeit dem Ende des 
fiebzehnten Jahrhunderts bildete Sanfibar eine Provinz des Neiches jenes 
Herrjchers, der ihm aber viele Freiheit laſſen mußte, ſodaß fich hier eine Reihe 
fleiner, falt unabhängiger Staaten bildete, die fat nur dadurch mit dem 
Imam zufammenhingen, daß fie ihm zu beftimmter Zeit Tribut zufandten. In 
dem größten derjelben, der Inſel Sanfibar, wurde im erſten Jahrzehnte unfers 
Sahrhunderts Sahid Medjched, der zweite Sohn des Imams Sahid Said, 
Statthalter, und diefer fand Gelegenheit, fi nach und nad) jo unabhängig 
zu machen, daß er es 1856, als fein Vater mit Tode abging, wagen konnte, 
fich für jouverän zu erklären. Er wußte ſich jeitdem in diefer Eigenschaft zu 
behaupten, und bei feinem Ableben, das im Oftober 1870 erfolgte, erbte fein 
jüngerer Bruder Sahid Bargaſch die Titel und Rechte desfelben, in deren Beſitz 
er fich noch befindet. 

Diefer arabiiche Sultan hat wie jein Vorgänger die Grundjäge bewahrt, 
die im Stammlande Oman die Regierung leiten. Der Imam ift dort in erjter 
Linie ein Handelsfürjt, und das gebietet ein gewifjes Anbequemen an fremde 
Sitte und Art, das mit Duldfamfeit gegen andre Religionen verbunden ift und 
ein Beſtreben einfchließt, fi) mit andern Ländern befannt zu machen. Sahid 
Bargaſch duldete und begünjtigte fremde Kaufleute, die fich auf jeiner Inſel 
niederließgen; denn ihr Handel brachte auch ihm Geld ein, und vor einigen Jahren 
unternahm er jogar eine Reife nad) den Ländern der Franken, auf welcher er 
verjchiedne unſrer Hauptftädte .bejuchte. Eine von jeinen Schweitern iſt an einen 
deutichen Kaufmann verheiratet. An dieje Thatjachen knüpfte man die Hoffnung, 
er werde mit der Zeit noch mehr Geſchmack an abendländiicher Zivilifation 
finden, diefe in feinen Befigungen fördern und fi) zu vorteilhaften Handels: 


340 Sanfibar. 





verträgen mit europäiſchen Staaten bejtimmen laffen. Es gejchah auch einiges 
in dieſer Richtung. Aber das Hauptbejtreben dieſer arabischen Despoten, 
Mehrung ihrer Einkünfte, Füllung ihres Schages, fand dabei nur mittelbar 
und nur teilweife Befriedigung und namentlich in einem Punkte ein verdrieß- 
liches Hindernis. Die Einnahmen des Sultans flojjen vorzüglich aus hohen 
Ein» und Ausfuhrzöllen und daneben aus dem Verkaufe lebendigen Menjchen- 
fleifches. Er geitattete den Handel mit Sklaven, der ihm erhebliche Abgaben 
zahlte, war felbjt ein eifriger Gefchäftsmann in diefer Branche, und dieje 
Seldquelle wollte er fich von feinen fränkischen Freunden und Ratgebern, unter 
denen die dabei bejonders interejlirten Engländer die erjte Rolle jpielten, um 
feinen Preis verjchliegen lafjen. Noch im Jahre 1873 hielt Sahid Bargajch 
in Sanfibar einen offnen Markt für Sklaven, von dem aus er Taufende von 
Schwarzen, die ihm aus dem Innern Afrikas zugeführt wurden, auf feinen 
Schiffen nach den Häfen Arabiens, Perfiens und Ägyptens verfandte. Gelinde 
Vorſtellungen gegen diejen Gejchäftsbetrieb blieben bei ihm ohne Erfolg, 
Mahnungen waren gleichfalls fruchtlos. Er wich ihnen mit orientalischer 
Diplomatie in allerhand Winfelzügen aus, verſchanzte fich Hinter Rechte, die 
er mit frühern Verträgen erworben haben wollte, und juchte jich im übrigen 
mit Verjchleppen zu helfen, bis endlich der vom Kaplande her befannte englijche 
Diplomat Sir Bartle Frere der Sache ein jchleunige® Ende bereitete, indem 
er andre Saiten aufzog, zu unverblümter Drohung überging und dem Sultan 
für den Fall längerer Weigerung das Erjcheinen eines britiichen Gejchwaders 
mit Armjtrongfanonen auf der Rhede vor feiner Reſidenz in Ausficht jtellte. Das 
wirkte injofern, als 1874 ein Vertrag zuftande fam, in welchem Sahid Bargaſch 
für feine Perſon dem Sklavenhandel entjagte und fich zur Unterdrüdung des— 
jelben in feinem Machtbereiche anheijchig machte; unter der Hand aber wurden 
in Sanfibar bis in die leßten Jahre Sklaven gekauft und verfauft. Immerhin 
jedoch übte England feit 1874 hier bedeutenden Einfluß; nur ging neben der 
Furcht, auf welcher derjelbe beruhte, eine jtille Abneigung her, und eine Zeit 
lang jchien es jogar, als ob der Eultan fich den Deutjchen zuzuwenden gewillt 
fei, von deren wachjender maritimer Macht er Kenntnis hatte. Die deutjche 
Regierung beichloß, diefer Neigung entgegenzufommen und in Gejtalt eines 
Generalfonfuls einen Vertreter ihrer Intereffen an dem Hofe von Sanfibar zu 
beglaubigen. Die Aufträge und Verhaltungsmaßregeln, welche der Betreffende 
mitbefam, können wir nicht mitteilen. Sie fcheinen aber nicht mit dem erforder: 
lichen Gejchid ausgeführt und beobachtet worden, namentlich nicht mit der nötigen 
Vorficht bis zu der Zeit, wo fie geltend zu machen waren, vor interejfirten fremden 
Ohren bemahrt geblieben zu fein. Jedenfalls mißlang die Mifjion. Die Engländer 
befamen Wind von ihr, und ihre Eiferjucht beeilte fich, ihren Zweck zu vereiteln. 
Ihr Generalfonjul Kirk verjtand es, den Sultan gegen die deutſche Politik 
einzunehmen und die britifche ihr gegenüber in ein vertrauenerwedendes Licht 


Sanſibar. 341 


zu ſtellen. Jenes gelang ihm namentlich mit dem Hinweiſe auf gewiſſe Er— 
werbungen von Land, welche deutſche Geſellſchaften an den Grenzen des feſt— 
ländiichen Gebietes von Sanfibar, d. 9. außerhalb derjelben und zwar jehr 
entfernt davon, vorgenommen hatten — Erwerbungen, auf welche Sahid Bar- 
gaſch, wahrjcheinlich von Kirk erſt angeregt, felbjt fein Auge geworfen hatte 
und auf welche er vielleicht jchon einen rechtlichen Anjpruch zu Haben meinte. 
Die engliichen Intriguen, mit denen vermutlich Verſprechungen von Beiftand 
verbunden waren, bethörten den Sultan, und er ging foweit, daß er in 
einige der Landjtriche, welche den Deutichen von unabhängigen eingebornen 
Häuptlingen abgetreten worden waren, Soldaten jchidte, jeine Hoheitszeichen 
dort aufpflanzen und die jegigen rechtmäßigen Beſitzer troß des faijerlichen 
Schußbriefes, der ihnen verliehen worden war, bedrohen und, wie berichtet wurde, 
thatſächlich bedrängen lieg. Ein Beifpiel it das Land Witu nördlich vom 
Tanaflujje, dejien Sultan Simba den Deutjchen ein Stüd feines Gebietes 
überlafjen hat, während Sahid Bargafch behauptet, Befiger dieſes Landftriches 
zu fein. Derjelbe hat jedoch in Wirklichkeit nördlich vom Tanafluffe niemals 
etwas zu jagen gehabt. Simba it der Nachfomme einer alten Dynajtie, welche 
früher auf den Injeln vor Witu regierte, aber in den fünfziger Jahren diejes 
Sahrhunderts von den Arabern Omans vertrieben wurde und fich nach dem 
freien Feſtlande zurüdzog, wo fie in Witu ein jelbjtändiges Sultanat begründete 
deffen Unabhängigkeit bisher von niemand bejtritten oder auch nur angezweifelt 
worden ift, und welches bisher noch feines Beſchützers bedurfte. Nichtig da- 
gegen ift, daß jene Inſeln, von denen Lamu die größte ijt, 1856 von dem 
Reiche Sanfibar erobert worden und jeitdem rechtmäßiges Eigentum der Be 
herrjcher desjelben find; um dieje handelt es fich aber nicht. 

Was der Zwed der Entjendung eines deutjchen Gejchwaders nad; San- 
fibar iſt, ſcheint hiernach ziemlich far. Indes ift er damit wohl noch nicht 
hinreichend angedeutet. Schon die Stärke des Geſchwaders läht im Vergleiche 
mit den jchwachen Widerjtandsmitteln, über welche der Sultan verfügt, auf 
mehr als ein bloßes Erzwingen deutjcher Anjprüche auf Befig in Witu und 
andern Gegenden des Feſtlandes ſchließen. Es bejteht aus vier Hreuzerfregatten: 
Prinz Adalbert, Stojch, Gneijenau und Elijabeth, ſowie dem Kohlentender 
Ehrenfeld, und fein Befehlshaber, Kommodore Paſchen, verfügt mit ihm 
über nicht weniger al3 63 der jchwerjten Kruppgeſchütze und 1626 Mann. 
Was damit beabfichtigt wird, fünnen wir alſo nicht jagen. Gewiß iſt nur, 
daß von irgendwelcher Unterftügung des Sultans vonjeiten Englands und 
einem etwaigen Konflikte der deutichen Schiffe mit englijchen nicht die Rede 
fein wird, erſtens ſchon aus allgemeinen Gründen, Dann aber, weil Die eng- 
liſchen Schiffe fi) auf die Nachricht vom Kommen der deutjchen von Gan- 
fibar entfernt haben. 








Sur Frage der innern Rolonifation in Deutfchland. 


gan einem Märzhefte d. Bl. wird die Frage der Kolonijation im 
— Deutſchlands angeregt. und zwar zunächſt mit dem ei 


F D Eifer Bevölkerung bewohnten Gebiete in den Provinzen ofen 
nd MWeftpreußen. Der Gedanke, daß diefe Gebiete unbedingt zu 
germanifiren jeien, ift ein durchaus richtiger, weil fein Staat innerhalb feiner 
Grenzen feindliche Elemente, wie es in Preußen die polnischen find, dulden 
fann und darf, in unſern Tagen aljo die Germanifirung der preußiichen Polen 
mit demjelben Rechte angeftrebt wird, wie ehedem das gleiche in Deutjchland 
durch die faiferlichen Markgrafen gegenüber den ſlawiſchen Völkern öſtlich von 
der Elbe. Wir hoffen daher, daß die Staatsregierung auch heute die geeigneten 
Mittel und Wege wider die Polen in den genannten beiden Provinzen finden werde. 
Aber jehen wir einmal ab von der angeregten wejentlich politiichen Kolo— 
nifation, welche lediglich eine auf bereits angebautem Boden ſeßhafte fremde Be— 
völferung durch nationale Elemente erjegen will. Wir finden innerhalb des 
Reiches und bejonders Preußens auch auf reindeutichem Gebiete noch gewal« 
tigen Raum für innere Kolonifation auf unangebautem oder höchitens künſtlich 
bewaldetem Boden. Und die Gejchichte lehrt, daß der Gedanke einer Koloni- 
jation der Einöden in Deutjichland nicht neu ift, daß damit bereit3 im vorigen 
Sahrhundert praktische Verjuche, und zwar nicht erfolglojer Art, gemacht worden 
find, und an der Stelle, wo diefe Anfänge gemacht wurden, betreibt heute Die 
Staatöregierung die Kolonijation energiich und mit großen Mitteln. 

Der Raum, den nach nnfrer Anficht Deutichland für innere Kolonijation 
bietet, ijt im der großen norddeutichen Tiefebene mit ihren ausgedehnten, un— 
bewohnten Heideftreden, ihren Mooren und Kieferwaldungen zu finden. Es ijt 
Sache der Spezialunterfuchung, diejenigen Flächen ausfindig zu machen, welche 
jofort rationellen Aderbau mit Futterbau und darauf beruhender Viehzucht ge 
Itatten würden; folche Flächen finden fic jedenfalls in der Lüneburger Heide 
und ficherlih auch in der ganzen Tiefebene bis zur Oſtgrenze. Der größte 
Zeil derjelben mag einftweilen immer noch als fogenannter Waldboden ange- 
jehen werden; dennoch ift, wenn auch für ferne Zeit, die Niederlegung des 
fünftlich erzogenen Waldes und feine Überführung in Aderland in Ausficht zu 
nehmen. lberjehen darf Hierbei freilich nicht werden, daß der Wald, wie in 
ältejter Zeit, jo auch heute eine Stübe bilden fann, woran Anfiedlungen fich 
anlehnen können, nur jeßt nicht mehr des Feuerungsmaterials und der Weide, 





Sur frage der innern Kolonifation in Deutfchland. 343 








fondern derjenigen Induftrie wegen, deren Betrieb der Wald geitattet. Im 
ganzen und großen muß immer die Regel gelten: wo Aderland fein kann, ſoll 
fein Wald ſtehen, und umgefehrt, wobei natürlich zu bedenfen ift, daß zur all- 
gemeinen Wohlfahrt Waldflächen von bejtimmter Ausdehnung unentbehrlich find, 
die ihren Standort ebenjowohl in der Ebene wie auf den Bergen haben fünnen- 

In der norddeutschen Tiefebene bilden eine der ſeltſamſten und troß allem, 
was in neuejter Zeit darüber gefchrieben worden tft, in weitern Streifen wenig 
befannten Formationen die Moore oder Hochmoore. Wenn wir unjre Lejer in 
dieje entlegnen, öden Gebiete führen, jo geſchieht es, weil hier die erjten An- 
fänge einer Koloniſation in größerm Maßſtabe gemacht find, weil hier ſeit dem 
Sahre 1872 die Staatsregierung noch größere Unternehmungen mit entjprechend 
größern Mitteln durchführt, an deren Vorbereitung der Verfaffer dieſes Auf: 
jages jelbjt teilgenommen hat. 

Moore finden fich in größerer oder geringerer Ausdehnung in ber ganzen 
norddeutichen Tiefebene, die größten geichlofjenen Flächen aber wohl in der 
Provinz Hannover, und zwar hier im Herzogtum Bremen, in Dftfriesland und 
endlich im größten Umfange im Herzogtum Arenberg-Meppen, jener durch eine 
vielgenannte politische Perfönlichfeit weithin befannt geworden Landichaft. Hier 
liegen auf beiden Ufern der Ems die ungeheuern Moorflächen, auf dem linfen 
Ufer das etwa 28 Duadratmeilen große Burtanger Moor (genannt nach) einer 
frühern Heinen holländifchen Orenzfeitung Burtange), von dem ziemlich genau 
die eine Hälfte nach Holland, die andre nad) Preußen fällt, auf dem rechten 
Emsufer das annähernd gleich große arenbergiſche Moor, von welchem Teile 
zu Didenburg gehören. Eine Beichreibung diejer volljtändig den Charakter der 
Steppe tragenden Einöden fünnen wir ung erjparen, da eine jolche bereits früher 
von Grijebach und neuerdings vom Forſtdirektor Burdhardt geliefert worden 
ift; wir bejchränfen ung auf die Kolonijation und bleiben dabei im Burtanger 
Moor, weil diejed die bedeutenditen und Ichrreichiten Beijpiele Liefert. 

E3 ift nicht far, ob und wie in alter Zeit die Moore anders als durch 
Torfftich genugt worden find; daß aber der Torf in unjern Gegenden, wo die 
Wälder früh verjchwanden, das vorherrichende Brennmaterial gebildet hat, ſteht 
urkundlich feft. Im fiebzehnten Jahrhundert wurde die folgenreiche Entdedung 
gemacht, daß das Moor ſich brennen und in die heiße Ajche ſich Buchweizen 
ſäen laffe. Seitdem tft in den Mooren der Buchweizenbau heimisch, aber freilich 
erjcheint auch in jeinem Gefolge der Moor-Haar- oder Höhenrauch, der fich 
gegen Weiten bis an die Gejtade des Kanald und füdlich bis nach Mittel- und 
Süddeutichland verbreitet. Nur eine ganz rationelle Moorkultur vermag ihn 
im Laufe der Zeit zu bejeitigen. 

Die erjten Anfänge, die Moore im großen und zwar auf dem Wege förm— 
licher Kolonifirung der Kultur zu gewinnen, fallen für da8 Burtanger Moor 
in das Jahr 1788. Bereit 1765 hatte eine Kommiſſion der damaligen fürft- 


344 Sur frage der innern Kolonifation in Deutfchland. 





biichöflichen Regierung zu Münster, deren Gebiet den deutjchen Teil des Bur— 
tanger Moores umfaßte, berichtet, daß in demielben und zwar an der hollän- 
diſchen Grenze ganze Dörfer ſich niederjegen liegen. Geleitet von dem Beftreben, 
zahlreichen Befiglofen, nachgebornen Kindern von hörigen Bauernhöfen, zu einem 
fleinen Grundeigentume zu verhelfen, unternahm die münjterjche Regierung, nad) 
Austrag langjähriger Grenzitreitigfeiten mit den Generaljtaaten, die ſyſtematiſche 
Befiedlung der Moore und gründete allein im Burtanger Moore fieben Kolo- 
nien von indgefamt 229 bäuerlichen Befigungen, „Plätze“ genannt. Dieje An- 
lagen befinden jich heute in einem völlig befriedigenden Zustande, freilich nach 
jehr ſchweren Übergängen und Kriſen, veranlagt dadurch, daß es überjehen oder 
nicht für notwendig gehalten worden war, den neuen Anlagen die durchaus un— 
entbehrliche Entwäfjerung nad) der Ems, jowie die ebenfowenig zu entbehrenden 
Verfehröwege dahin und nach den Städten und größern Orten an der Ems 
zu verfchaffen. Erft im Laufe langer Jahre haben diefe Übelftände notdürftig 
bejeitigt werben können. 

Die neuen Unternehmungen der Staatöregierung zur Befiedlung und Kultur 
der Moore im Emsgebiet nehmen daher umfaffende und großen Kapitalaufwand 
erfordernde Voreinrichtungen zur Grundlage, nad) dem Muſter des Nachbar- 
landes Holland, bei defjen Moorfultur wir einen Augenblid verweilen wollen. 

Holland befißt in feinen öftlichen Provinzen Groningen, Drenthe und Dver- 
yijel die großartigiten Moorfulturen. Leider find diejelben in weitern Kreiſen 
in Deutjchland, jelbft in Gegenden, die der Landesgrenze nicht fern liegen, noch 
viel zu wenig befannt, jo jehr fie auch die Aufmerkſamkeit des Volkswirtes auf 
fich zu ziehen geeignet find. Wer fich eine genauere Kenntnis diefer Anlagen, 
ihrer Entjtehung und Entwidlung und ihres gegenwärtigen Standes verſchaffen 
will, den verweijen wir auf die im Anfang der fiebziger Jahre erfchienene Denf- 
jchrift des Minijterialdireftor Marcard: „Die Kanalifirung der Hochmoore im 
mittlern Emsgebiet." Der Berfafjer nennt nach eigner Anjchauung den blühen: 
den Stand vieler diejer holländischen Moorfolonien geradezu eine „faſt märchen- 
bafte Pracht.“ 

Das mindejtens zwei Sahrhunderte alte holländiſche Kulturverfahren, das 
folche glänzende Erfolge gezeitigt hat und das mit dem einfachen Ausdrude: 
Beenkultur (Been — Moor) oder auch Verveenung bezeichnet wird, beruht einfach 
darauf, daß derjenige Punkt im Hochmoor, von dem eine Kolonijation ausgehen 
joll, mit dem nächjten natürlichen oder fünftlichen Waſſerlaufe durch einen jchiff- 
baren Kanal in Verbindung gejegt wird. Jeder Anfiedler an einem der beiden 
Ufer des Kanals — denn an dieſen werden die jogenannten „Plätze“ an— 
gewiefen — muß deshalb von Anfang an in den Beſitz eines Schiffes, als des 
unentbehrlichen Vermittlers feiner Kulturarbeit zu gelangen juchen, wozu ihm 
übrigens, wenn nötig, von den Unternehmern neuer Veenanlagen leicht Unter- 
jtüßungen gewährt werden. Die eigne Pionierarbeit des Anſiedlers beſteht num 


Fur Frage der innern Kolonifation in Deutfchland,. 345 


zunächjt in der Abgrabung des Moores, deffen obere Schichten als wertlos bei- 
jeite geworfen werden, aus deſſen tieferen Schichten aber Torf bereitet und 
in die über den Kanal erreichbaren Städte und größern Orte verfahren wird. 
Als Rüdfracht nimmt dann der Beentjer Düngemittel, Straßenfehricht, vor 
allem aber den fojtbaren Seefchlid, der in ungehenern Maſſen von den Küjten 
fandeimvärts gebracht wird und um ein geringes zu haben iſt. Hat num der 
Beentjer die Abgrabung des Moores bis auf eine beftimmte Tiefe bewerkftelligt, 
jo beginnt er die bleibende Schicht de Moores mit defjen Untergrund, dem 
Diluvialjande, und dem jchon bereit gehaltenen Düngemitteln zu vermifchen, um 
auf diefe Weife einen Acderboden herzuftellen, der dem beſten Marjchboden an 
Ertragsfähigfeit faum nachjteht. Während der Kulturarbeit und bis zu deren 
Bollendung auf dem angerwiefenen Plate treibt der Veentjer feines Unterhaltes 
wegen im wilden Moor den Buchweizenbau mitteld Brennen des Moores; daher 
rührt e3, daß auch heute noch Holland, wo noch immer, wie am Dranjefanal, 
neue Veenanlagen im Entſtehen jind, feinen reichlichen Beitrag zu dem jähr- 
lihen Moorrauche liefert. 

Die Anlage der Beenpläße an beiden Ufern eines Kanals ift die ältefte 
Form der Beenkolonien. Erweitert wird diefelbe durch Seitenfanäle, Inwieken 
(Einweichen), welche ihrerjeits wieder in einen dem Hauptfanal parallel laufenden 
Kanal einmünden können. In neuerer Zeit iſt in Holland das jogenannte 
Zweikanalſyſtem aufgefommen, nach welchem von vornherein zwei parallele Ka— 
näle gezogen werden, an denen nur das eine, äußere Ufer bebaut wird, der 
zwijchen den Linien liegende Raum für Transportwege, Abladepläße u. dergl. 
frei bleibt. Diejes uns aus eigner Anjchauung nicht befannte Syſtem joll be- 
jondre Vorteile bieten; jedenfalls werden in Holland alle neue Beenanlagen 
darnach ausgeführt. 

Bon Holland gelangte im Jahre 1674 die Kenntnis der Veenkultur durch 
einen Prediger Bolenius nach Dftfriesland. Sie iſt dann auch dort mit großen, 
wenn auch nicht dem gleichen Erfolgen wie in Holland ausgeführt worden. 

Wenden wir ung mun zu den großartigen Voreinrichtungen, welche die 
preußiſche Staatsregierung für eine veenmäßige Kultur der Hochmoore auf 
beiden Emsufern trifft, jo iſt vorauszuſchicken, daß die holländifche Regierung 
mit der frühern hannoverſchen wegen Anſchluſſes ihrer an der Oſtgrenze ver- 
laufenden Veenkanäle mindejtens ein Jahrzehnt hindurch erfolglos verhandelte. 
Die Holländer wollten wohl das Emswafjer zur Speifung ihrer an der Grenze 
im Trocknen liegenden Kanäle haben, allein wenig Gegenleiftung gewähren. 
Die neue preußifche Staatsregierung entjchloß fich daher im Jahre 1871 kurz 
zu einer großartigen fyftematischen Kanalifirung ihres Anteiles des Burtanger 
Grenzmoors, indem fie den Holländern den Anſchluß daran und übrigens Ent: 
gegenfommen verhieh. Das großartige Unternehmen geht jegt feiner Vollendung 
entgegen, und es find bereits zwei Sanallinien, welche von der Ems ausgehen 

Grenzboten III. 1885. 44 


346 Sur Srage der innern Kolonifation in Dentfchland. 








und dann einen im Moor von Norden nach Süden laufenden Kanal jchneiden, 
mit holländischen Kanaliyitemen verbunden. 

Die Kanalifirung des Burtanger Moores auf der deutichen Seite verfolgt 
num eben den Zwed, die Grundlage einer Moorfultur zu bilden, wie wir fie 
in Holland fehen, und zwar auf einer Fläche, die fich auf etwa zehn Duadrat- 
meilen anfchlagen läßt. Man denfe fi) den Gewinn, den eine auf dieſem 
Raume durchgeführte DVeenfolonifirung bedeuten würde! Die Anfänge find 
natürlich ſchwierig, und ob die deutjchen Anfiedlungen jo bald auch nur annähernd 
den Glanz der Holländifchen erreichen werden, ift fraglich, da ihnen die Nach- 
barjchaft großer Städte oder auch nur größerer Pläge fehlt. Doch läßt ſich 
hierüber noch wenig jagen, da erſt abzuwarten ift, wie fich der Verkehr unfrer 
fünftigen neuen Moorkolonien mit den nicht zu fernen holländischen Grenzorten 
und den unweit der Grenze gelegnen größern Städten entwideln wird. Wenn 
die in jehr befriedigenden Verhältniſſen fich befindenden oftfriefiichen Veen— 
anlagen die Blüte der holländiſchen nicht erreicht haben, fo it die Urfache davon 
nur darin zu juchen, daß fie abjeit3 vom großen Verkehr liegen. Sollten aber 
die neugeplanten Anlagen auch feine höhere Stufe als die oftfriefischen erreichen 
fönnen, jo müßte man fie dennoch al$ gelungen und als einen großen Gewinn 
anſehen. An Koloniften wird es nicht fehlen, fie finden fich zur Genüge in 
den alten Gemeinden de3 Emglandes in den nachgebornen Söhnen auf Bauer- 
höfen, Heuerlingen u. . w.; ſelbſt Holland wird deren liefern. 

Über die Rechtsform, unter der die Veenpläge an unfern neuen Kanälen 
verliehen werden follen, jteht unſers Wiſſens noch nichts feit. Die Plätze in 
den obenerwähnten alten Kolonien find von den Grundeigentümern, nämlich 
der beteiligten Marfgemeinden und dem Domanialherrn als Markenrichter, gegen 
bejtimmte, für unablösbar erklärte, jetzt freilich dod) ablögbar getwordne Abgaben 
zu vollem Eigentum verlichen worden. Vielleicht wählt man jet die Erbpacht, 
obgleich dieſes Nechtsinftitut in jener Gegend nicht heimisch if Viel wird 
darauf anfommen, wie demnächit das hannoverjche Landesdirektorium verfahren 
wird, jobald dejjen Vorlage wegen Ankaufs einer zur Veenkultur beftimmten 
Moorfläche für 400000 Mark, welche der diesjährige Provinziallandtag zu 
näherer Ausführung und Begründung zurüdgeftellt hat, zur Annahme gelangt 
und ausgeführt jein wird. Die Erbpacht Hat unzweifelhaft ihre bedeutenden 
Borzüge und gewährt übrigens dem Erbpächter die Ausficht, daß mindeftens 
von feinen Nachkommen das Erbpachtgut im Wege der Ablöfung in freies 
Eigentum verwandelt werden fann. 

Eine nähere Beichreibung der allmählichen Entwidlung der Veenkolonien 
von ihren dürftigen Anfängen bis zu dem blühenditen Kulturftande würde hier 
zu weit führen. Wer den Übergang von der Erdhütte des erften Anfiedlers 
bi8 zu den luxuriöſen villenartigen, von Parkanlagen umgebnen Gebäuden, aus 
denen die Beenkolonien in den obengenannten holländifchen Provinzen bejtehen, 


Analeften zur Gefchichte der neuern deutfhen Kunit. 347 





fennen lernen will, dem ift eine Sommerreife dahin ehr anzuempfehlen. Gelangt 
man dabei aus unjerm wüjten Hochmoor in furzer Zeit in die fchönjten und 
üppigiten holländischen Kolonien, jo trifft man in Holland auc wieder am 
Dranjefanal auf die erjten Anfänge der Kultur, um fic deutlich zu überzeugen, 
daß an der Stätte der glänzenden Kultur, die man Hinter jich gelaffen, ehedem 
auch nur wildes Moor gewejen. 

Unjtreitig lafjen fich in der norddeutjchen Tiefebene auch anderwärts noc) 
ähnliche Eroberungen wie in den Mooren machen. So möchten wir z. B. manche 
Teile der Lüneburger Heide für durchaus anbau= und ſomit auch befiedlungs- 
fähig Halten. Wir überlafjen es aber billig ortsfundigen Federn, das Ob und 
Wie des Verfahrens näher darzulegen. Ebenſo wollen wir die Frage nur auf: 
geworfen haben, ob mit dem Fortichreiten der Bewaldung und Wiederbewaldung 
in Deutjchland auch eigentliche Walddörfer wieder begründet werden Fönnen. 





FRE ER 


I 





Analekten zur Gejchichte der neuern deutfchen Runft. 


Don 8. X. Eier. 
4%. Die Aufnahme der „belgifhen Bilder“ in Deutfdhland. 
Schluß.) 
— dieſem abſprechenden Sinne alſo war den Münchener Künſt— 
Alern von ihren Anhängern ſchon im voraus über die Belgier 
AA Bericht erjtattet worden. Der Empfang jedoch, der ihnen zu— 
Fa teit wurde, entjprach weder Förſters noch Quandts Erwar— 
— I >| tungen. Man ficherte ihmen zumächjt die Grundbedingung, die 
zur gerechten Beurteilung aller Bilder, deren Vorzüge i in erſter Linie koloriftiiche 
find, unerläßlich ift, d. H. man ließ ihnen eine pafjende Beleuchtung zuteil 
werden. Die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ meldete am 20. Dftober 1843 
aus München: „Seit einigen Tagen find die großen, unter dem Namen der 
>belgiichen Bilder« bekannten Olgemälde der Herren Gallait und de Bisfve*) aus 
Brüffel.... im hiefigen Föniglichen Afademiegebäude und zwar in der günftigjten 
Beleuchtung und überhaupt auf das Vorteilhaftejte öffentlich aufgejtellt.“ 
Natürlich) gingen auch in München die Meinungen jehr auseinander. Daß 
aber auch hier Maler fich finden follten, die mit voller Überzeugung für die 
äjthetifchen Grundanjchauungen, welche aus den beiden Gemälden laut und ver- 
nehmlich jprachen, eintreten würden, war faum vorauszujehen. Dennoch fanden 











*) Für de Biefre ift in dem erjteu Teile überall de Biefve zu leſen. 


348 Analeften zur Gefchichte der nenern deutſchen Kunft. 








ſich jolche, oder wenigſtens einer, wie wir uns vorfichtiger ausdrüden wollen, 
da wir nicht wiffen, ob derſelbe unter feinen Kollegen vereinzelt daftand. Die 
„Jahrbücher der Gegenwart,“ welche in jenen Sahren von Schwegler in Tü- 
bingen herausgegeben wurden und mit jeltner Energie und ungewöhnlichen 
Geichi den Kampf für das Necht der Gegenwart aufnahmen, enthalten im 
Sannarhefte des Jahres 1844 einen leider nicht unterzeichneten Aufſatz, der 
fich mit den belgiſchen Bildern bejchäftigt. Wie redaktionell bemerkt wird, rührt 
derjelbe von einem Münchener Slünftler her. Es wäre zu wünjchen, daß die— 
jenigen Männer, die damals Mitarbeiter an den Tübinger Zahrbüchern waren 
und den Namen des Berfaffers noch wiffen, den Schleier lüften möchten, da 
diefer Artikel ein Aktenftüd von höchitem Intereffe it. Denn er enthält einen 
Angriff gegen die Münchener Schule von einer Schärfe, wie es unſers Wifjens 
bis dahin noch nie gegen dieſelbe gerichtet worden war. In fortlaufender 
Parallele wägt der Berfaffer diefer Polemik die Leiftungen der Münchener und 
der Belgier gegeneinander ab und dedt mit großem Scarfinn und Freimut 
die Mängel und Gebrechen der erjteren auf, ohne ihre Berdienfte zu leugnen. 
Was er Negatives vorbringt, wird in den meiften Punkten auch heute noch als 
richtig gelten können, dagegen erjcheinen feine Pofitionen nicht immer unan= 
fehtbar. So vor allem das Kaufbach geipendete Lob, der als „der bedeu— 
tendfte Ofmaler der deutſchen Hiftorienmalerei” bezeichnet wird. Diefen Sat 
dürfte fein Künftler unfrer Tage mehr unterjchreiben. Daß Cornelius nicht 
malen fonnte, fteht feit; aber er wollte auch garnicht in dem Sinne, wie wir 
das Wort fafjen, ein Maler fein, und ebenfowenig erhoben feine Jünger den 
Anjpruch, daß man gerade die malerische Seite in der Beurteilung ihrer Werfe 
hervorfehren ſolle. Kaulbach aber glaubte ſich auf die Malerei zu verjtchen 
und dünkte jich auch Hierin beſſer als die übrigen Corneliusſchüler. 

Ebenjo wird man von der Anerkennung, welche der unbekannte Verfaſſer 
den Schöpfungen Gallait3 und de Biéfves zollt, heute einige Abzüge machen 
müſſen. Daß er aber ein Künftler ift, der fich auf das Wejen der Kunſt ver- 
jteht, verrät er fchon in den erjten Zeilen. „Ein glüdlicher Griff in die Ge- 
ſchichte!“ jagt er. „Nicht wegen der Wahl des Gegenstandes, jondern wegen 
jeiner Auffaffung und Behandlung.” Er lehnt alfo den Streit über den Stoff 
der beiden Bilder von vornherein ab, ihn intereffirt nur das Wie, das bei jeder 
Beurteilung eines Kunſtwerkes zuerjt ins Auge gefaßt werben follte. Er be: 
trachtet daher die beiden Gemälde, vornehmlich aber die Abdanfung, die er im 
Gegenſatz zu den Berlinern weit über den Kompromiß ftellt, unter den Gefichts- 
punften der Konzeption, der Kompoſition, der Zeichnung und des Kolorits, und 
bietet in jeder Beziehung eine Fülle der treffendften Bemerkungen. Wie weiß 
er 3. B. die Vorzüge der franzöfiichen Kunftübung zu charafterifiren: 

Diefe Technik [dev Belgier], diefe fihere und behagliche Fertigkeit ift etwas 
weit wichtigered in Beziehung auf die Produftionsfähigkeit, als man gemeinhin 


Unaleften zur Gefchichte der neuern deutfchen Kunft. 349 
glaubt. Der Franzofe übt mit dem erften Etrih, den er macht, die Hand für 
diefen Strid. Er will einen Gegenftand nicht nur wiedergeben, fondern auch mit 
Leichtigkeit wiedergeben, er will nicht, daß man feinen künſtleriſchen Arbeiten die 
Mühe, die fie ihn gefoftet, anfehe. Diejes Streben, aus der Technik eine Bravour 
zu machen, begleitet ihn Schritt vor Schritt; und wenn es ihn auch häufig zum 
Manieriften macht, jo fördert es ihn doch andrerjeit3 in der Ausweitung und Bes 
fruchtung feiner Phantafie: in der Ausweitung der Phantafie, denn fie hat nicht 
mehr nötig, jchwierigen Wufgaben auszuweichen; in der Produktivität, denn ihr 
Bilderreihtum vergrößert id). 


Ganz den Kern der Sache trifft auch folgender Paſſus: 


Die Ideen künftlerifcher Eingebung müſſen von der Art fein, daß fich die 
Anſchauung darein verjenten kann. Wie die Natur, fo follte auch die Kunft die 
würdigfte Kontemplation hervorrufen können, fei nun cin Madonnenbild oder eine 
niederländische Wirtshausfzene ihr Gegenstand. Dann würde fie Ideen anregen, 
aber nicht zumuten. Das lebtere, das Zumuten ijt es, was und in der meuern 
Kunft jo ungeihidt und plump entgegentritt und und nachgerade anwidern muß. 


Nicht minder gewichtig erfcheinen endlich die Ausführungen des Künſtlers, 
die er über Zeichnung, Modellirung und Farbe im Anſchluß an die Leiltungen 
der Belgier vorträgt. Überall erweift er ſich als ein gründficher Sachkenner 
und als ein in alle Geheimniffe der malerischen Technik Eingeweihter. Aber 
darin irrt auch er, da er den Geiſt der Gefchichte in jenen Gemälden gegen: 
wärtig glaubt, und ihmen ebenjoviel Gejchichte und ebenjoviel Poefie zufchreibt 
wie den Werfen der Münchener. Ja während er mit jcharfer Ironie das ftili- 
firende Verfahren diefer bei ihren Hiftorifchen Gemälden geihelt und über das 
ceremonieuſe Wejen vieler derjelben jpottet, legt er auf die einzelnen Porträt— 
figuren auf Gallait3 Abdanfung in einer Weife Gewicht, daß man glauben muß, 
er halte das Verfahren jenes Malers für das einzig richtige Nezept, um eine 
hiftorische Darjtellung genießbar zu machen. 

Dem zuftimmenden Urteile des Künſtlers Schloß ſich in den Jahrbüchern 
die philofophifche Begründung des Äfthetifers an. Unmittelbar auf den Artikel 
des Malers ließ Fr. Viſcher jeine „Gedanken bei Betrachtung der beiden bel- 
gischen Bilder“ folgen. Seine Ausführungen gipfeln in folgendem Sage: 

Dieje belgiſchen Bilder find . . . darum zu preifen, weil fie nicht ins Blaue, 
fondern in die gejchichtliche Wirklichkeit greifen und dem trefflichen Worte folgen, 
das Merd zu Goethe ſprach: „Dein Streben, deine unablenfbare Richtung iſt, dem 


Wirklichen eine poetiiche Gejtalt zu geben; die andern fuchen das fogenannte Poe— 
tiſche, das Jmaginative zu verwirklichen, und das giebt nichts wie dummes Zeug.“ 


Bei aller Anerkennung alfo, die Viſcher den fonftigen Vorzügen der Belgier 
zollt, it es vor allem die Wahl des Stoffes, die ihn für ihre Schöpfungen 
begeijterte. Er verwirft Cornelius und feine veligiöfen Gemälde, die er „grobs 
materialiftiich“ nennt, und trägt fein Bedenken, der ganzen Münchener Kunft 
„eine unwahre Idealität“ zuzuschreiben. Umfomehr ziehen ihn die „national- 


350 Analeften zur Geſchichte der neuern deutfchen Kunft. 


hiftorischen Gegenstände” der belgischen Kunſt an, die er als die richtigen Stoffe 
den falſchen gegenüberjteflt. Daß dies Feine künftlerifchen Erwägungen find und 
ein Afthetifer fich am wenigsten durch die Wahl des Gegenftandes imponiren 
lafjen follte, dürfte ar fein. 

Viſcher und viele feiner Zeitgenoffen wurden durch die politischen Verhält— 
niſſe zu jolchen Anfichten bejtimmt; der Umstand, daß der Aufſchwung der bel: 
giſchen Malerei in engſtem Zufammenhange mit den belgischen Freiheitsfämpfen 
ſtand, bewog fie mit jolcher Energie für fie einzutreten. In jüngfter Beit hat 
Viſcher jelbit auf diefen Zufammenhang hingewiejen, indem er gelegentlich einmal 
bemerkte: „Wir glaubten damals wie vor einer politischen Revolution, worin 
wir Recht hatten, jo vor der Geburt einer neuen Kunft zu ſtehen, die uns als 
notwendige Frucht derjelben erjchien, was freilich ein jchöner Traum war.“ 
Bon folchen politischen Erwägungen ausgehend, fuhr er umd ein befreundeter 
Mitarbeiter an den Tübinger Sahrbüchern fort, Heftige Angriffe gegen die 
Münchener Schule zu richten. Der Streit über die belgischen Bilder vertiefte 
fich für beide Männer zu einer Unterfuchung über die Berechtigung der Münchener 
Kunst überhaupt, die allerdings ungünjtig genug für dieſe ausfiel. Darnad) 
war dieſelbe ein durchaus fünftliches Geichöpf, das Kind einer fürftlichen Laune, 
das auf dem fterilen Boden der bairijchen Hauptjtadt, unter einer armen, un- 
gebildeten und firchlich bornirten Bevölkerung unmöglich gedeihen könne. Daß 
folche Angriffe weit über das richtige Maß Hinausgingen, iſt wenigitens von 
demjenigen, der fid) damals am meisten ins Zeug legte, längſt zugeftanden und, 
was mehr jagen will, e3 ift auch durch die Thatjachen widerlegt worden. Denn 
die Saat, die der erjte Ludwig einst im den keineswegs unvorbereiteten Boden 
feiner Hauptjtadt gejtreut hat, ift nachmals zu fröhlichem Gedeihen gelangt, und 
wenn irgendwo im Deutjchland, jo hat Heute in München die Kunſt in weiteften 
Schichten der Bevölferung Wurzel gefaßt und ift unzertrennlich mit den Inter: 
eſſen derſelben verwachſen. Das fann nur leugnen, wer München nicht fennt. 

Wie aber, jo fragen wir am Schluffe diefer Darlegung, wie verhielten ſich 
diejenigen Münchener Künftler, denen der durch die belgiſchen Bilder herauf: 
beſchworene Sturm in eriter Linie galt, die Genofjen und Zünger von Cornelius? 
Allgemein wurde ihnen eine jeltene Verwirrung der Begriffe und Widerjprud) 
über Widerſpruch vorgeworfen. 

Bir zweifeln garnicht, daß dem in vielen Fällen jo gewejen ift. Dennoch 
irrt man jehr, wenn man glaubt, daß nicht wenigitens die Führer und Leiter der 
Kunft in München eine feite und entjchtedne Haltung den neuen Erjcheinungen 
gegenüber eingenommen hätten. Ihr eignes Interefje mußte fie dazu führen, und 
obendrein jahen fie ich genötigt, gewiffermaßen offiziell Stellung zu nehmen. 

Die belgische Regierung hatte nämlich in richtiger Erwägung des maß— 
gebenden Einfluffes, den München damals noch im der deutjchen Kunjt ausübte, 
das Erſuchen an die bairische Regierung gerichtet, ihr die Urteile der an der 








de Biefves zu übermitteln. Infolgedefjen wurden die einzelnen Lehrer veranlagt, 
ihr Gutachten jchriftlich abzugeben. Unſers Wiſſens ift feines derjelben in die 
Offentlichkeit gedrungen, doch darf man annehmen, daß das Urteil der Münchener 
Afademifer ziemlich einjtimmig ausgefallen fein wird. War dod) damals die 
Einheit der Kunftanjchauungen unter den an der Anftalt thätigen Perjönlich: 
feiten noch nicht durchbrochen in der Weiſe, wic das jpäter unter Kaulbachs 
Leitung durch Piloty geſchah. Der bedeutendjte Lehrer der Akademie in jenen 
Jahren war Julius Schnorr von Carolsfeld, der es fich angelegentlich fein lieh, 
die von Cornelius überfommene fünftleriiche Tradition im Sinne des Meifters 
aufrecht zu erhalten und weiter zu bilden. Sein Urteil wird daher in dem 
vorliegenden Falle von ausschlaggebender Bedeutung gewejen jein und kann 
wohl ala dasjenige der Akademie, wenigjtens in allen wejentlichen Stüden, an= 
gejehen werden. 

Wir find in der glüdlichen Page, das von Schnorr verfaßte Gutachten nad) 
jeinem eigenhändigen Konzept mitteilen zu können; ficher wird dasjelbe von dem 
eingereichten Schriftjtüc nicht erheblich abweichen. Dieſes Gutachten jcheint 
uns ebenfo wie der oben bejprochene Artikel des unbekannten Münchener Malers 
von großer Wichtigkeit zu fein. Einmal — und jchon diefer Umjtand ijt be: 
merfenswert — enthält dasjelbe einen neuen Beweis für den innigen Anteil, 
den man in Belgien der heimischen Kunſt widmete, indem man diejelbe durchaus 
als eine nationale Ehrenjache betrachtete. Dann aber legt diefes Schriftjtüd 
klar und deutlich) Zeugnis dafür ab, warum die Münchener Hiftorienmaler den 
von den Belgiern befolgten Prinzipien fich nicht anschließen zu können meinten. 
Sie waren fich ihrer Vorzüge wohlbewußt und liegen fich diejelben nicht Durch 
den jchönen Schein der Belgier rauben. Trotzdem verfannten fie nicht im 
mindeiten das Große in den Schöpfungen jener und ließen die vollendetere 
Technik aufrichtig gelten. In diefem Sinne nahmen fie einen viel freiern Stand- 
punft ein als ihr Meiſter in Berlin und verhielten fich keineswegs abwehrend 
wie diefer gegen eine größere Bollendung nad) Seiten des Malerischen hin. Am 
allerwenigften aber unterjchägte Schnorr den daraus entipringenden Gewinn. 
Wenn ich noch ein junger Mann wäre, jo etwa pflegte er fich gelegentlich in 
vertrautem Kreiſe zu äußern, würde auch ich nach Antwerpen wandern, um dort 
das zu lernen, was mir auf meiner fünftleriichen Laufbahn bisher nicht ent— 
gegengebracht wurde. In folcher Gefinnung liegt fürwahr das größte Lob, nicht 
nur für die fremden Maler, jondern auch für den, der fie hegte; fie Liefert den 
beiten Beweis dafür, daß die damaligen Führer der Münchener Schule nicht 
in faljcher Selbitzufriedenheit über ihre Leistungen verharrten, fondern auch darin 
ihren idealen Sinn bewährten, daß fie bis ins Alter hinein eifrig bemüht 
waren, in ihrer Kunſt fortzufchreiten. Aus diefem Grunde ijt das folgende 
Sutachten eine glänzende Nechtfertigung gegen die Anfchuldigungen, welche die 


352 Analekten zur Gefchichte der neuern deutfchen Kunft. 





Schüler des Cornelius in der bewegten Zeit, die wir zu jchildern verfucht haben, 
jo vielfach erfahren mußten. *) 


Gutachten über die im Herbfte 1843 zu Münden ausgeftellten Ge- 
mälde der Herren Öallait und de Biefve. 


Der Unterzeichnete hat gern jede Gelegenheit ergriffen die Bewunderung aus- 
zudrüden, mit welcher er die Gemälde der Herren Gallait und de Bisfve betrachtet 
hat. Sa er geiteht, daß es ihm Bedürfniß war und ift, die eigenthümlichen 
großen Borzüge, welche diefe Gemälde auszeichnen, ganz befonders in's Auge zu 
fajjen und deren Anerkennung auszuſprechen und zwar in um jo höherem Maaße, als 

*) Um denjenigen unſrer Lefer, die gefonnen find, fich eingehender mit der Geſchichte 
der belgiſchen Bilder zu beichältigen, die Mühe des Auffuchens zu erleichtern, ftellen wir kurz 
die von uns benußten Quellen zufammen. Die wichtigfte derfelben it das „Kunjtblatt,“ 
Jahrg. 1843. Hier findet fi der der Hauptjache nad) reproduzirte Artikel Jalob Burdhardts 
in Nr. 4, ©. 14—15. (Exit nad) Abſchluß unſrer Arbeit bemerften wir, daß A. Rojenberg 
bereits früher in dieſen Blättern die Bedentung des Burdhardtichen Aufſatzes hervorgehoben 
hat. Bergl. Grenzboten 1880, I, ©. 334.) Die beiden Auffäge Kuglers jtehen im „Kunſt— 
blatt“ Nr. 6, ©. 21, und in Nr. 58 und 59, ©. 241— 243 und 246— 248. Aud in Kuglers 
Kleinen Schriften, Bd. III (Stuttgart, 1854), ©. 377 und 401—407 find ſie aufgenommen. 
Hörfter handelte über Gallait und de Biefve im „Kunjtblatt“ Nr. 26 und 27, S. 110—113 
und 118—119, Er fügte eine allerdings höchſt dinnftige Reproduktion, „einen in Stein gravirten 
Umriß“ von Gallaits „Abdankung“ bei und drudte die Beichreibung beider Gemälde aus 
dem Katalog der Kölner Austellung wörtlih ab. Quandts Brief ſteht in Nr. 39 und 40, 
&. 165—166 und 170—171. Das; derjelbe an Julius Schnorr von Carolsfeld gerichtet iſt, 
entnehme ich aus einem Briefe Quandts an Schnorr vom 26. März 1843, den mir Herr 
Rrofefior Schnorr mitzuteilen die Güte hatte. ES heißt darin: „Daher willige id) ein, was 
Sie und Herr Profeſſor Marggraff für gut finden werden, mit meinem Briefe zu thun, ihn 
druden zu lafjen, oder zu Fidibus zu machen. Sollte er gedrudt werden, jo würde ich 
wünſchen, das er ald Auszug eined Briefes von Quandt erjhiene. ... Was die Namen 
Förfter und Maguus und Fürſt betrifft, jo könnten folche mit Buchftaben bezeichnet werden. 
Was ich von Hotho gejagt habe, kann diefen ziwar auf feine Weife beleidigen, allein da die 
andern mit Buchjtaben nur bezeichnet werden, fo wollen wir und gleidy bleiben und ftatt 
Hotho ein 9. jegen.* Cornelius’ Anficht über die Belgier ijt bei Förfter, Peter von Cornelius, 
Teil II (Berlin, 1864), ©. 216—218 zu leſen; Schadows Äußerung bei Rofenberg, Die Ber- 
liner Malerſchule (Berlin, 1879), ©. 107. Die beiden Artifei in den Jahrbüchern der Gegen- 
wart Jahrg. 1844 findet man auf S. 24—45. Der beiläufig erwähnte ſchroffe Angriff auf 
das Münchener Kunſtleben iſt enthalten im Jahrg. 1845, ©. 1022 flg. unter der Überfchrift : 
Kritiſche Gedanken iiber die Münchener Kunst,“ wozu Viſcher im folgenden Sahrgange (1846) 
eine Ergänzung lieferte: „Die Münchener Kunſt. Eine Ergänzung der kritifchen Gedanken 
im Novemberheft 1845,” S. 95—108. Vergl. dazu: Viſcher, Altes und Neues (Stuttgart, 
1881), Heft 1, ©. 107 und 108. Die Austellung von Gallaits jpäteren Gemälden, „Die 
Brüſſeler Schüpengilde, weldhe Egmont und Hoorn die lepte Ehre erweift“, veranlaßte dann 
noc einmal einen Vergleich zwifchen der deutichen und beigifchen Kunſtweiſe, indem N. Teichlein 
ein Schriftchen veröffentlidte: „Louis Gallait und die Malerei in Deutſchland. Eine Epi— 
fode aus der modernen Kunſtgeſchichte“ (Minden, 1853). Leider ift uns dieje Arbeit nicht 
zu Geficht gefommen. Schließlich noch die Bemerkung, daß A. Hagen, „Die deutſche Kunſt 
in unferm Jahrhundert” (Berlin, 1857), Teil 1, ©. 425, 427, den Verſuch einer Ähnlichen 
Schilderung über den Eindrud der belgiſchen Bilder, wie er bier vorliegt, gemacht hat. 


Analeften zur Gefchichte der neuern deutfhen Kunit. 253 
diefe Vorzüge ihm ſelbſt noch al3 ein ganz umerreichtes Ziel vorjchweben. Gern 
wiirde er auch jeßt fich auf den Ausdrud diefer Anerkennung und Bewunderung 
beſchränken; e8 ift aber dem Collegium, zu welchem er zu gehören die Ehre hat, 
die Aufgabe gejtellt worden, ein umfajiendes Urtheil über die genannten Werke ab- 
zugeben, ein Urtheil, welches von einem andern Standpunkt aus, ald dem, welchen 
die eigene Neigung wählen möchte, ausgehen muß. Die f. belgiſche Regierung 
will von der Münchener Akademie ald einer Stelle, von der vorzugsweiſe die 
deutiche Hiftorienmalerei vertreten wird, ein Gutachten vernehmen, das nicht bloß 
die Genugthuung gewährt die im Auslande gewonnene Anerkennung und Hochad): 
tung belgiſcher Kunſt von Neuem bezeugt zu jehen, fondern womöglich auch dazu 
dienen könnte, das Biel inländiſcher Kunftbejtrebungen immer höher zu rüden und 
Harer zu erfennen. Die einzelnen Glieder des Collegium follen ihr Scherflein zu 
diefem Gutachten beitragen; jo iſt denn jene unjerer Akademie geftellte Aufgabe 
zugleich auch die des Unterzeichneten geworden. 

Um fo würdiger erjcheint e8 aber den eigenthümlichen Standpunft, welchen die 
Münchener Hiftorienmalerei eingenommen bat, bei diefer Beurtheilung zu behaupten, 
weil don ihm aus eine Reihe von Betrachtungen fi) ergänzen möchten, weldye 
jene Werfe jonft jchon hervorgerufen haben. Es ift wohl feine Frage, daß ander: 
wärts überall die hervorragenden Vorzüge derjelben ganz bejonders erfannt und 
gewürdigt worden find; denn bei einzelnen öffentlich gewordenen Urtheilen, welche 
weiter Darauf eingegangen find, Yuffaffung und Anordnung zu beleuchten und von 
bier aus über die ganze Ridhtung jener Kunft einen Ausjpruc zu motiviren, konnte 
es wohl zweifelhaft bleiben, ob fie nur einzelnen Perjonen angehörten oder die 
Meinung einer ganzen Kunſtſchule ausdrüdten, und zweifelhaft bleibt es dann 
auch, ob dieſe Urtheile einen Zugang gefunden haben an der Stelle, von der wir 
zu einem Gutachten aufgefordert worden find. Wie dem auch jei, im vorliegenden 
Falle haben wir alle Urſache und zu der von und gewählten und vertretenen Rich— 
tung zu befennen. 

Die Münchener Schule ift durch den Entwidiungsgang der neuen deutjchen 
Kunft, durch ihre hervorragenden Führer und durch die ihr von ihrem erhabenen 
Beihüber gejtellten Aufgaben auf einen Standpunft geführt worden, welder vor- 
zugsweiſe zur Ueberſchau des geiftigen Gebietes der Kunſt günftig ift. Wie ſehr 
ih mich nun, wie jchon bemerkt, zur unbedingten und ausfchließlihen Anerkennung 
einer Meifterfchaft in der Durchführung jener Kunſtwerke, namentlich) was die Be- 
herrihung des eigentlichen Elementes der Malerei, der Farbe, anbelangt, geneigt 
fühle und geradezu erfläre, von Seiten der belgiſchen Meifter ein Ziel erreicht zu 
jehen, bei welchem unfere Schule (von mir ſelbſt gar nicht zu veden) nod lange 
nicht angelangt ift, jo möge doch jene andere Seite ind Auge gefaßt werden, die 
auf dem Gebiete liegt, welches die eigentlich jchöpferiihe Thätigkeit der Künftler 
einschließt, die Thätigkeit nämlich, die der Ausführung, während welcder das Werf 
mit der Modellwahrheit ausgejtattet wird, vorangeht, und hier drängen ſich mancherlei 
dag Urtheil näher beftimmende Betrachtungen auf. 

Ich gebe von vorn herein zu, daß die Natur der dem Herren de Biefve und 
Gallait gewordenen Aufgaben, in fo ferne fie vereinzelte und an fich nicht fehr 
günftige Gegenftände der neueren Geſchichte darzuftellen hatten, ein Hinderniß war 
der höheren Kunftrichtung zu folgen, wie fie von den wahrhaft großen Meijtern 
der italienischen Schulen vorgezeicdhnet worden if. Eine Richtung, welcher die 
größten jemals in der Welt hervorgebradten Kunjt-Schöpfungen angehören, Die 
ſich an einer Reihe von Werfen verfolgen und nachweiſen läßt, welche, aud) völlig 

Grenzboten III. 1885. 45 








354 Analeften zur Gedichte der neuern dentfchen Kunft. 





entfleidet von ihren Vorzügen ernithaft gehandhabter Technik und jelbft in den mangel- 
bafteften Nachbildungen noch, das Gepräge hoher geiftiger Abftammung und wahr: 
haft jchöpferischer Kraft auf den erſten Blick beurkunden; eine Richtung, die ganz 
innerhalb des Gebietes ſich Hält, wo die Poeſie die ihr zufommende Herrſchaft be- 
bauptet. Wie gejagt, die Natur der den belgiſchen Meiftern gewordenen Aufgaben 
führte fie von ſelbſt fhon an die Grenze dieſes Gebietes und gab die Veranlafjung 
fid) demjenigen zu nähern, wo die höhere Wahrheit ſich vertreten läßt von der 
Porträt: und Modellwahrheit, mit einem Wort, wo ftatt der Poefie dad Wirf: 
lichfeitsprincip herrſcht. Aber auch auf diefer Gränze foll der große Künftler 
die höheren Eigenjchhaften und die Vorredhte wahrer Kunft nicht aufgeben; er darf, 
wenn er fi nicht über die Gränze hinausdrängen lafjen will, die Compofition 
nicht mit dew Urrangement vertaufhen. Man wird verftehen, daß ich unter Com— 
pofition bier durchaus eine ſchöpferiſche Thätigfeit des Künſtlers begreife. Wenn 
auch in gewifjen Regionen eines Werkes jene PVorträtwahrheit und ein glüdliches 
Arrangement ausreicht, jo ift dies doch nur da der Fall, wenn diefe durch andere 
Theile getragen werden, in denen das höhere Kunftgepräge ſich geltend macht. 

Nach diejen Bemerkungen bin ich auf der Stelle angelangt, wo id) mid) ver- 
anlaßt finde nicht zu verichweigen, daß ein Mangel an den beiden font jo ausgezeich— 
neten Werfen mir fühlbar geworden ift. Während id) mir, abgejehen von der 
etwas gewöhnlichen Auffaffung und Unordnung der Gegenftände (namentlich in 
dem Bilde der Abdankung Kaijer Carls V) in den untergeordneten und (hinficht- 
lich ihrer Bedeutung) mittleren Partien dev Gemälde an der durch jo vorzügliche 
Ausführung getragenen Porträthaftigfeit der Köpfe und Gejtalten ganz genügen 
lafje, jo finde ich mid) doc durchaus nicht befriediget durch die Hauptfiguren. 
Weder Kaiſer Earl V. nod fein Sohn Philipp in dem einen Bilde, noch Graf 
von Brederode und Graf Philipp von Marnig in dem andern fcheinen mir das, 
wa3 ſie fein follten. Und die Urjache, die diefen Mangel verſchuldet, beruht nicht 
zunächſt darauf, daß in den Hauptfiguren der Höhepunkt der Aufgabe ruht, daß 
[diefer], da der Siegerfranz am höchſten hängt, folglich [auch] am jchwerften zu 
erreichen ift, jondern es beruht dieſer Mangel (wie mir wenigſtens fcheint ) 
darauf, daß von vorn herein die Künftler [die] Gränze des Gebietes der höheren 
Kunft aus dem Auge verloren und fich mit jener nur in den untergeordneten Re: 
gionen der Kunftthätigkeit allenfall® ausreichenden Porträt- und Modellmahrheit 
begnügt haben. Daher kommt es aud), daß ihre Darjtellungen im bloßen Umriß 
gegeben, oder auch nur entkleidet von dem Reiz der Färbung und künſtlicher Be— 
leuchtung, mit einem Wort auf denjenigen Ausdrud rveduzirt, worin ſich eben nur 
die ſchöpferiſche Kraft, das Urfprüngliche des Gedanfens in Anordnung und Grup— 
pirung, Erfindung von Charakteren und Geftalten abfpiegelt, nicht das Gepräge fo 
ausgezeichneter Leiftungen an ſich tragen, wie fie e8 durch die große Meifterjchaft 
in der Ausführung und durch Beherrihung des äußeren Stoffes (dev allerdings 
hierdurch auch zum Träger des geiftigen Elementes der Kunft verflärt wird) in 
der That geworden find. 

Hiemit auf den Punkt zurüdgelommen, von dem ic ausging, nämlich auf 
die volfte Anerkennung der großen, in neuerer Zeit felten erreichten Meiſterſchaft 
in der Ausübung der eigentlichen Malerei, erkläre ich noch zum Schlufje, daß ich 
dieje Meifterihaft in dem Gemälde ded Herrn Gallait (Abdankung Kaiſer Carls) 
in einem ganz bejonders hohen, mir in neueren Werfen noch nicht vorgekommen, 
Grade ausgeübt finde. 


Münden den 10. Novemb. 1843. Julius Schnorr. 


Unpolitifche Briefe aus Wien. 


%. Neue Arditeftur und Plaftif. 


un 1. Mai diejes Jahres feierte der Ring jein zwanzigites Ge: 
Be burtsfeit. Der Himmel half ihm ein zu den traurigen Beitläuften 
I pajjendes Seid anlegen. Der Regen floß reichlich hernieder und 
Ahielt ihm Lärm und Feittagsgetümmel vom Leibe. 

Ein andres Bild bot der 1. Mai 1865. Wien war des 
engen Banzers, an dem es zu eritiden drohte, endlich ledig geworden, Bajteien, 
Türme, Gräben und Glacis waren zum großen Teile verfchwunden, und über 
die an ihrer Stelle neuerjtandene, freilich noch gar fpärlich mit Häufern be- 
jepte Straße fuhr der Kaiſer durch die Reihen der jubelnden Bevölkerung in 
den Prater, um dort, althergebracdhter Sitte gemäß, das Diner einzunehmen. 
Seitdem hat ſich auf dem Gürtel zwiſchen Stadt und Vorftadt faft alles, was 
reich und vornehm ijt, angefiedelt, ein neues Wien ift hier entitanden, das mit 
den Bautraditionen des alten Wiens gebrochen hat. Aber noch mehr: all» 
mählich ijt die Ringftraße für den architeftonischen Charakter unfrer Stadt 
überhaupt bejtimmend geworden, mit ihr beginnt gleichjam eine neue Periode 
der Wiener Baugejchichte. 

Dap feine Stadt etwas der Wiener Ringſtraße genau Entiprechendes auf: 
zuweiſen hat, jcheint man heute wohl allgemein zugeben zu wollen, und fein 
Fremder, der — etwa gegen Abend, wo die Beleuchtung am günftigften ift — 
vom Opernhauſe an den Burgring hinaufwandelt, wird ſich eines tiefen Ein- 
druckes erwehren fünnen. Da zeichnen fich zuerjt die ungeheuern Kuppeln des 
neuen Mujeums auf dem purpurnen Himmel ab, dann — bei einer Biegung 
der Strage — überrafcht das Parlamentsgebäude mit feinen edeln Linien, zu: 
legt öffnet jich ein riefiger Plaß, den rechts das gothiſche Rathaus, links das 
Burgtheater, im Hintergrunde das Univerfitätsgebäude, beide im Renaiffance- 
ftil, begrenzen, und aus der ferne winfen die jchlanfen Thürme der Votiv— 
firche herüber. Staunend wird da jeder Beſchauer zugeben, daß nicht leicht 
auf einem Fleckchen Erde jo viele herrliche Bauwerke jo nahe beijammen zu 
finden find. 

Ein großartiger Schauplag aljo, aber — es geſchieht wenig auf ihm. Der 
Berfehr der Ringitraße ift mur jtellenweije lebhaft genug, um bei ihrer riefigen 
Anlage fein Gefühl der Leere in uns auffommen zu lafjen, jobald der erfte 
Moment des Staunens vorüber ijt. Gerade auf dem weiten Plate vor dem 





356 Unpolitifhe Briefe aus Wien. 





Nathaufe aber iſt der Verkehr am geringiten: bier fehlt das Leben, dem bie 
neuen Monumentalbauten erit zum Hintergrumde dienen follten, ganz und gar, 
und jehr leicht gerät man bei längerem Verweilen auf diejer Stelle in eine an— 
dächtige Muſeumsſtimmung, oder man fühlt fi) wohl auch wie in einem Theater 
voll herrlicher Dekorationen, in welchem man vergebens figt und harrt: es 
fommen feine Schaufpieler. 

Man hege immerhin von der Kunjt den höchiten Begriff, man betone noch 
jo jehr die Pflicht von Gemeinde und Staat, fie zu fördern, eines vermag doch 
bloß SKathederweisheit hinwegzuleugnen: Kunſt ift die Blüte des Lebens und 
Strebens eines Bolfes, jeines Handels und Wandels, jeiner Arbeit und feines 
Verdienſtes. Aber ein Baum, der wurzelfaul ift, blüht nicht. Man fördere 
Landwirtichaft und Industrie, und für den FFortjchritt der Kunſt wird man 
fürder nicht zu jorgen haben. Der Aufwand, den man in einem Gemeimwejen 
für fünftlerifche Zwede macht, muß in einem richtigen Verhältniffe zu dem Na- 
tionalwohlitande jtehen: thut er dies nicht, jo bewirkt er feine Blüte, jondern 
einen gefährlichen Auswuchs. Solange ein Volk nicht Brot genug hat, braucht 
es feine Kunst, und wer ihm Brot jchafft, Hat mehr gethan als ein Phidias 
oder Naffael. Nicht mur im Kriege jchweigen die Mufen, auch in der Seit 
der Not, und es iſt dann auch ihre verdammte Pflicht und Schuldigfeit, zu 
ſchweigen. 

Wien iſt als Stadt ſo wie die Wiener als Volk. Das geigt und ſingt 
und ſpielt die neueſten Kompoſitionen, als ob überall nur Wohlſtand herrſche. 
Es giebt ſchier keine Hausmeiſterstochter mehr, die nicht „muſikaliſch“‘ wäre. Für 
Wien aber find jeine neuen großen Bauwerfe jet das, was das Klavier für die 
Hausmeijterstochter ift; e8 wäre ja jchön und gut, wenn man nur nicht Phi- 
lifter genug jein müßte, um zu jagen: es hätte für beides Wichtigeres zu faufen 
gegeben. 

Doc von dem „bedrängten Wien“ wollen wir hier nicht jprechen; betrachten 
wir die großen Neubauten, abgelöft von allen andern Verhältniffen, bloß als 
Kunſtwerke. 

Der im vorigen Jahre verſtorbene Kunſthiſtoriker Thauſing pflegte die 
Schöpfungen unſrer modernen Baufunft gern mit den lateiniſchen Dichtungen 
der Humaniftenzeit oder mit den griechifchen der alerandriniichen Schule zu ver- 
gleichen. Nicht mit Unrecht! Man baut heute romanich, gothiich, Früh- und 
Spätrenaiffance, Barod, byzantiniſch und maurifch, zeigt dabei jehr viel Wiſſen 
und Technif, auch eine liebevolle Vertiefung in die Vorlagen, aber — wenig 
Driginalität. Einen charakteriftiichen Ausdrud für das, was unfre Zeit erfüllt 
und bewegt, hat die Baufunft jo wenig gefunden wie die Poefie. 

Aber freilich, fie verfucht es, ihn zu finden: fie finnt diefem Probleme nad), 
fie arbeitet nicht in dunfelm Drange, jondern völlig bewußt, und bisweilen jcheint 
es ihr, als hätte fie jenen Ausdrud gefunden. Schmidt, der Erbauer unjers 


Unpolitiſche Briefe aus Wien. 357 





Nathaufes, pflegte von diejem zu jagen, es ſei weder gothiſch noch Renaiſſance, 
ſondern das Werk eines modernen Künſtlers, der das Reſultat der architek— 
toniſchen Vorausſetzungen vergangner Jahrhunderte gezogen hat. Wenn aber 
Schmidt ſchließlich doch von der Gothik ansgeht, um endlich zu dieſem Reſultat, 
der wahrhaft modernen Baukunſt, zu gelangen, ſo knüpft Hanſen in derſelben 
Abſicht an die altgriechiſche Baukunſt an. Die Renaiſſance, ſagte er einmal, 
hätte ſich viel bedeutender entwickelt, wenn ſie gleich von allem Anfang, ſtatt 
römiſchen, griechiſchen Muſtern gefolgt wäre. Was nun die Renaiſſance ver— 
ſäumt hat, verlangt er von der Architektur der Gegenwart, und in ſeinen Bau— 
werken glaubt er das Problem, den modernen Stil aus dem griechiſchen heraus 
zu entwickeln, gelöſt zu haben. Ferſtel endlich, ein Eklektiker, der heute ein herr: 
liches gothiüches Denkmal erfinnen konnte — die Votivfirche, dann wieder Re— 
naifjancebauten wie das Ofterreichiiche Mufeum am Stubenring und zufeßt die 
Univerfität, hat fich über die Aufgabe der modernen Architektur und feine eigne 
Stellung in diefer nicht wie Hanjen und Schmidt deutlich ausgeſprochen, we 
nigften® find folche Äußerungen nicht in die Öffentlichkeit gedrungen. Aber wir 
glauben, mit weit mehr Recht al3 Schmidt den Stil feines Nathaufes, Hanjen 
den des Parlamentsgebäudes, hätte Ferjtel den der Univerfität al$ den wahrhaft 
modernen bezeichnen und jich der Löſung des oben aufgejtellten Problems rühmen 
fünnen. Gewiß hat er dasjelbe der Löſung genähert. Denn mit allem Scharf: 
finn, allem Studium, allem Geſchick der in Schmidts oder in Hanjens Fuß— 
itapfen wandelnden Schulen wird doch weder der Stil des Rathaufes, noch der 
ded Parlaments erhalten werden fünnen. Sie ftellen Wiederbelebungsverfuche 
von Kunftformen dar, die dem Menjchen des neunzehnten Jahrhunderts jehr 
fremd geworden und überdies mit den Anfprüchen, die wir an Gebäude — öffent: 
liche oder private — jtellen, unvereinbar find. 

An großartigen Details iſt freilich weder am Rathauſe noch am Parlaments: 
gebäude Mangel. Aber was man an dem erjtern bejonders rühmt — daß der 
Vertikalismus ſich in muftergiltiger Weile aus dem Horizontalismus löſe, 
daß die Türme fich organisch aus dem Bau heraus entwideln —, fünnen wir 
nicht beftätigen. Die Schligfenfter, mit denen der Mittelturm anſetzt, find viel 
zu lang geraten und jchligen in buchjtäblichem Sinne den Turm auf: dadurch 
verliert aber auch; das Darunter und das Darüber feine fejte Verbindung. 
Daß der Hauptturm an den Kanten der Rückſeite Fleine Stiegentürme an- 
gejegt erhalten hat, läßt übrigens fein Profil unfymmetrifch erjcheinen. Dem 
Parlament kann man vorwerfen, daß es nicht mehr gegliedert, jondern zer: 
gliedert iſt: es ftellt eine Anzahl planmäßig gruppirter, mehrfach nur durch 
Gänge verbundner Gebäude und Tempel — nicht einen einheitlichen Bau — 
dar. Es ift dies ein Fehler, von dem auch Univerfität und Burgtheater nicht 
freizufprechen find. Bei dem Parlament tritt er aber noch ftärfer hervor, weil 
es auf unebnem, nach rüdwärt3 auffteigendem Terrain fteht. Stünde es auf 


358 Unpolitifche Briefe aus Wien. 








einer Anhöhe, von Bäumen und Gebüfch umgeben, nicht in Gejelljchaft von 
Bauten, die es überragen und erdrüden, dann erjt wäre die Wirkung da, die 
Hanjen wohl zu erreichen bejtrebt war. Die vielverläfterte und bewigelte Rampe 
ift zulet doch nicht jo fchlecht ausgefallen, wenn auch nicht geleugnet werden 
joll, daß fie — von der Seite betrachtet — höchſt unruhige ftörende Linien in 
den eben, ruhigen Bau bringt. Die beiden großen Situngsjäle find originell 
und voll geiftreicher Detaild. Aber wenn irgendwo, muß man es hier empfinden, 
daß dieſer Stil eben für alle die Anforderungen, welche man heute an ein Ge- 
bäude folcher Beitimmung stellt, abfolut nicht ausreicht. Das Burgtheater iſt 
in Plan und Anlage ein Nachlomme des Semperjchen Theaters in Dresden. 
Hafenauer hat indes feine Vorlage mit jchöpferifcher Kraft behandelt, ſodaß er 
zulegt doch ein ganz eigenartiges Werk geichaffen hat. Man fieht auch, wie 
hier der Künstler bejtrebt war, die zwei Flügel organiſch an den Mittelbau zu 
fnüpfen. Dies jcheint ums allerdings, wie wir oben bereits jagten, nicht er- 
reicht: fie find zwar mit demjelben fejt verbunden, hängen aber gleichjam matt 
und lahm herab, weil ihre Größe nicht in dem richtigen VBerhältniffe zu der des 
Hauptteiles fteht. Auf dem Dache thront ein turmartiger Bau, Hinter dem— 
jelben erhebt fich der Giebel der Bühne — alle? nur zujammengeftellt, nicht 
verbunden. Bon Detail nur eins: der Mittelbau, der ſich fonver gegen den 
Beichauer herauswölbt, hat neun große Bogen in der erjten Etage. Über den 
drei mittleren Bogenöffnungen jtehen die Büſten von Schiller, Goethe, Leſſing. 
Links über den nächiten Bogen die der Weltdichter Shafeipeare, Calderon und 
Moliere, recht? ſpezifiſch öfterreichiiche Dichter: Grillparzer, Hebbel, Hal. 
Die Zwidelfelder der Bogen find je von einem Paare aus des betreffenden 
Dichters populärjten Geftalten ausgefüllt: jo fieht man unter Goethe Fauft und 
Gretchen, unter Leffing den Major und Minna, unter Schiller die Jungfrau 
und Lionel u. ſ. w. 

Die beiden Mufeen find ebenfalld ein Werk Hajenauerd, obwohl Semper 
einen bedeutenden Einfluß auch auf die endgiltige Geftaltung ausgeübt hat, wie 
die jegige Ausführung mit dem 1873 in Wien ausgeftellten Plane ergiebt. Hier 
it der Gefamteindrud durchaus groß, edel und harmonifch, die Detail dagegen 
befremden bie und da. Zur rechten Wirkung werden übrigens die beiden Bau- 
werfe erjt gelangen, wenn der Hintergrund ihnen ftiliftisch einigermaßen ans 
genähert und der riefige Raum zwiſchen ihnen durch das Maria: Therefia-Denfmal, 
das ich Ichon im Gußhauſe befindet, einen Mittelpunkt finden wird. Won der 
Überfiedlung der Sammlungen — namentlich der Gemäldegalerie des Bel: 
vedere — hierher in das Zentrum der Stadt darf man fich wohl einen 
bedeutenden erziehenden Einfluß auf die Wiener veriprechen. Vielleicht erleben 
wir dann hier auch den Anblid, der einem in Berlin das Herz erfreut: daß der 
ichlichte Bürger, ja der Arbeiter des Sonntags vor dem Mittagefjen feinen 
Gang in das Muſeum macht. 


Unpolitifche Briefe aus Wien. 359 








Über neuere Wiener Privatbauten liche fich fo manches bemerfen. Im 
ganzen Herricht cine gute Tradition, die jtrenge gehandhabt wird. Noch wirft 
hier vielfach eine ältere Schule — die von van der Null und Siccardsburg — nad), 
die jich namentlich durch Elare, charakteriftiiche Zeichnung verrät. Daneben freilich 
ſtößt man mitunter auf jenen trodnen Gräcismus, deren legter Repräjentant in 
Wien der verjtorbne Förster war. Einer jüngern Generation — wenigjtens was 
ihre künſtleriſche Manier betrifft — gehören Thienemann, Stiaßny, Korompay, 
Giefel an. Durch ihre Schöpfungen geht ein frischer, fröhlicher Zug, fie paftiren 
mit dem praftiichen Bedürfnis und wiſſen auch in den nüchternjten Vorwurf 
etwas Pikantes zu bringen; wir erinnern Hier nur an das Porzellanhaus 
Korompays. 

Wien iſt trotz des wirtſchaftlichen Niederganges des letzten Jahrzehntes 
noch immer auf dem Wege, die architektoniſch ſchönſte Stadt des Kontinents 
zu werden. Sein Reichtum an hiſtoriſchen Bauten und ſeine landſchaftliche 
Lage kommen ihm dabei zugute. Beklagen muß man nur, daß ein alter Gedanke 
Ferſtels, einen Generalbauplan zu ſchaffen, noch immer nicht verwirklicht worden 
iſt, ferner daß ſo mancher alte Bau immer noch der entſprechenden Umgebung 
entbehrt. So ſteht die herrliche Karlskirche ganz vereinzelt, die Stephanskirche 
dagegen will ewig nicht frei werden. Schade auch, daß Wien ſo gut wie keinen 
Rohziegelbau beſitzt, in dem Berlin wirklich Bedeutendes aufzuweiſen hat: ſo 
die Reichsbank, die Kriegsſchule, das Friedrichs-Werderſche Gymnaſium u. ſ. w. 
Übrigens iſt die bauliche Entwicklung der Donauſtadt noch lange nicht ab— 
geſchloſſen. Ein altes Stadtviertel — zwiſchen der Rotenturmſtraße und der 
Wollzeile, wo die alten Univerſitätsgebäude ſtehen — wird demnächſt der 
Hacke und der Schaufel zum Opfer fallen, mit der Wienthalregulirung iſt der 
Bauthätigfeit in den ſüdweſtlichen Vorjtädten ein neues Terrain in Ausficht 
gejtellt, und wir wollen nur hoffen, daß es nicht in der Weije ausgenußt wird, 
wie dies in den Borjtädten und Vororten big jett faſt ausſchließlich geſchieht. 
Namentlich eine größere Schonung des dort noch vorhandnen Gartengrundes 
wäre dringend zu empfehlen, ſonſt ift die nächite Generation bereits in Gefahr, 
in einem Häufermeer zu erjtiden. 

Eng verwandt mit der Architektur iſt die Plaſtik: beide Künjte Haben auch 
eine gemeinjame Gejchichte. Selten können fie einander ganz entraten, und 
gerade in ihrem Zuſammenwirken find fie des größten Erfolges ſicher. Ein 
Denkmal, eine Büſte bedarf immer eines, wenn auch noch jo unbedentenden 
architeftonifchen Aufbaues, und bauliche Kunſtwerke unjrer Tage entbehren nie 
ganz des bildnerischen Schmudes. Bon größter Wichtigkeit iſt es mun, bei 
einer bejtimmten Aufgabe jeder der beiden Ktünjte den gebührenden Raum jtreng 
abzugrenzen. Dies gejchieht aber leider nicht immer: meiſt iſt der Architekt in 
der Verwendung der Plaſtik glücklicher ala der Plaftifer in der Verwendung 
der Architektur. 


360 Unpolitifche Briefe aus Wien. 





An jelbftändigen Denfmälern und folchen plastischen Werfen, die ald Teile 
eines architeftonischen Ganzen zu wirfen bejtimmt find, ift in Wien heute fein 
Mangel mehr. Die Pläge unfrer Stadt — es giebt deren nicht jehr viele — find 
entweder bereit® mit Denfmälern geziert oder werden es doch im Laufe der 
nächjten Jahre werden. Goethe und Mozart freilih haben bis jett weder 
Standbilder, noch Stehen jolche im baldiger Ausficht, Haydn aber, Grillparzer 
und Tegetthof werden nicht mehr lange zu warten brauchen. Der Komponiſt 
der „Jahreszeiten“ joll im Eſterhazy-Garten, Tegetthof vor dem Prater, Grill- 
parzer viclleiht im Volksgarten ein Denkmal befommen. Es muß als ein 
glücklicher Gedanke bezeichnet werden, Standbilder in Gärten aufzuftellen. Mehr 
als belebte und unruhige Plätze find fie geeignet, Stimmung im Bejchauer zu 
weden und zu erhalten, und feine andre Umgebung ift wohl imftande namentlich 
dem Marmor fo zu Hilfe zu fommen, wie das dunkle Laub der Bäume Das 
herrliche Schaperiche Goethedenfmal in Berlin dankt einen Teil feiner Wirkung 
jeinem Plage im Tiergarten, und unjer Donauweibchen im Stadtpark braucht 
die Bäume jo notwendig wie Fiſche das Waſſer. Wäre nur.die Gartenfunft 
ein wenig mehr geneigt, mit der Architektur in nähere Beziehung zu treten! Wir 
haben in Wien vor vielen großen Gebäuden Gartenanlagen. Aber daß man bei 
dem Entwurfe derjelben an die Gebäude gedacht hätte, ift nirgends zu verjpüren. 
Die Wege jchlängeln fih in Kurven dahin, dic bloß den Zwed zu haben 
icheinen, die Pafjanten zu recht großen Umwegen zu nötigen. Nur bei dem 
Beethovendenfmal iſt ein harmoniſches Zuſammenwirken zwilchen Monument 
und Gartenanlage angejtrebt und auch jo ziemlich erreicht worden. 

Mit einer ſehr fchönen Einführung ift das Ofterreichifche Mufeum voran- 
gegangen, und jein Beifpiel verdient Nachahmung. Auf der Treppe, die vom 
Erdgejchoffe ins erite Stodwerf hinaufführt, hat man einer Anzahl von Männern, 
die hervorragende Berdienfte um die Anjtalt haben, Büjten und Dentiteine er: 
richtet. Ein ſolches Campo santo jollten auch andre große Injtitute haben, 
und man wird es wohl in unjerm Parlament ebenjowenig vergefjen wie im Rat— 
haus und in der Umiverfität. In dem legtern dachte ſich Feritel wenigitens die 
Arkaden des großen Hofes durch die Büjten verdienter afademiicher Lehrer 
ausgefüllt. 

Faſt alle fünjtlerischen Aufgaben, die innerhalb der legten Jahre Wiener 
Bildhauern geitellt wurden, hängen in irgendeiner Weiſe mit den großen Neu: 
bauten längs des Ringes zujammen. Sowohl die zwilchen den Gebäuden ent- 
itandnen Plätze, als auch die Gebäude jelbjt find oder werden mit plaftiichen 
Kunftwerfen geihmüdt. Die mindejtens ihren Dimenfionen nad) bedeutendite 
Schöpfung der Bildhauerei wird das Maria-Therefia- Monument, bejtimmt, den 
Platz zwifchen den beiden Muſeen zu zieren. Schon ift das Gerüft aufgefchlagen 
und aus jeiner Anlage fann man den Grundriß des Fundamentes erfennen, 
das Standbild der Staiferin hat bereits die Werkſtätte Meijter Zumbuſchs mit 








Unpolitifche Briefe aus Wien. 361 





der Gießerei vertaufcht, und die zahlreichen Nebenfiguren werden in fürzefter 
Beit cbenfall3 die Werkſtatt der Bildhauer verlaffen. 

Es ift aber auch in der That hohe Zeit, daß wir ein Maria: Therefia- 
Denfmal befommen. An Berjönlichfeiten, die fi) um den öjterreichiichen Staat 
verdient gemacht haben, wird man in Wien am jeltenften erinnert: die Statue 
Sojefs II. hat jchon Kaiſer Franz im Jahre 1808 ſetzen laſſen, die beiden 
Reiterftandbilder vor der Katjerlichen Burg, Prinz Eugen und Erzherzog 
Karl, find auch Schon Schöpfungen einer vergangnen Kunftperiode, und in den 
fegten zwanzig Jahren ijt außer dem Feldmarſchall Schwarzenberg und dem 
Bürgermeijter Belinfa feinem einzigen um Staat und Stadt verdienten Manne 
ein Denfmal gejegt worden; Radetzky und Kaunitz befigen keins, Starhemberg 
hat — mie auch alle politiichen Größen unfrer ältern Gejchichte — mit einem 
Pläschen auf der Elifabethhrüde vorliebd nehmen müfjen, und von den ältern 
Habsburgern — einem Maximilian J., Ferdinand I, Marimilian IL, Sojef L, 
Karl VI. — meldet in Wien weder Stein nod) Erz. Doch dies alles ginge nod) 
an. Aber daß an die große Kaiſerin noch fein einzige® Denkmal erinnert, 
nimmt jelbit den Mann aus dem Volke Wunder, wenn man ihn darauf auf 
merffam macht. 

Der Grund diejes Mangels ift wohl der, daß man in dem gebildeten 
Kreifen Ofterreich® lange Zeit hindurd) die Wirkjamfeit und Bedeutung Maria 
Thereſias unterjchäßte, ja fie wohl von der ihres Sohnes völlig in den Schatten 
gejtellt wähnte. Seitdem aber auch hierzulande die rationalijtische Bildung 
allmählich der hiftorifchen gewichen tft, hat man anders denfen gelernt. Biel 
hat auch für eine beſſere Auffafjung Alfred von Arneth gethan, der viele Jahre 
daran gewendet hat, um der genialen Frau ein würdiges literarisches Denkmal 
zu ſetzen: aus feinem umfafjfenden Werfe über Maria Therejia ging dann auch 
in die populäre Gejchicht3literatur und in die Zeitungen die Erkenntnis über, 
daß der große Prozeß der Umbildung des mittelalterlichen in den modernen 
Staat Ofterreich durch fie viel mehr gefördert worden ift als durch die Ne- 
formen Joſefs: fie Hat die Fundamente gelegt, die zum Teil noch heute unjern 
Staatöbau tragen, während von den Schöpfungen ihres Sohnes nur wenige ihren 
Urheber üiberdauert haben. Und jo wird denn am Enthüllungstage de neuen 
Denfmales nur eine große alte Schuld abgetragen werden, und Zumbuſchs Maria 
Therefia wird uns Wienern hoffentlich das werden, was Rauchs Friedrich der 
Große ſchon lauge den Berlinern ift. 

Das Rauchſche Standbild hat jedenfalld die Kompofition Zumbuſchs im 
Unfange einigermaßen beeinflußt: man fieht dies aus dem erjten Entiwurfe, der 
noch in jeinem Atelier zu ſehen if. Der Eindrud desjelben it ein jehr 
günftiger: alles ift plastisch gedacht und empfunden, die Kompofition gedrängt, 
die Urchiteftur maſſig, wenn auch in einigen Details etwas hart. Diefer erjte 
Entwurf wurde aber teils durch äußere Einflüffe, teils durch die jeitdem fort- 

Grengboten III. 1385. 46 


. 362 Unpolitifche Briefe aus Wien. 








gejchrittene Entwidlung des Künftlers wejentlich verändert. Namentlich im 
dritten Entwurfe — dem, welcher ausgeführt wird — iſt die ganze Archi— 
teftur von Haſenauer entworfen, nachdem fchon im zweiten Semper an diejer 
viel geändert haben joll. Set ift die Anlage des ganzen Werfes ungefähr dieje. 
Auf einem architektonisch veich entwidelten jäulengetragenen Mittelbau erhebt fich 
die figende Geſtalt der Kaiſerin. An den Seiten des Mittelbaues find große 
Neliefs angebracht; von der Baſis derjelben gehen vier Plattformen aus, auf 
denen koloſſale Reiterbilder jtehen, welche die großen Generäle der Kaiferin dar- 
jtellen: wir erinnern ung, davon Laudon, Daum und Shevenhüller im Atelier 
faft völlig fertig gejehen zu haben. Zwiſchen diejen Reiterbildern befinden fich, 
wieder auf eigner Plattform angebracht, vier überlebensgroße Einzelfiguren — dar: 
unter Kaunig —, teilweife die hinter ihnen jtehenden Reliefs verdedend. Die 
Ähnlichkeit mit Rauchs Friedrich II. ift aber unverkennbar. Nichtsdeftoweniger 
werden die beiden Denkmäler doch jehr verjchieden wirken. Rauch hat feine 
andern Rüdfichten zu nehmen brauchen, als die ihm feine Kunſt auferlegte. 
Der Mittelbau feines Werkes entbehrt faſt jeder architeftoniichen Gliederung, 
der ganze Bau iſt ein ftreng einheitlicher. Sämtliche Figuren, die um den 
Mittelbau herum angebracht find, ftehen mit den Neitern, die aus den Reliefs 
hervorfommen, und mit den Reliefs ſelbſt auf einem einheitlichen Schauplaße: 
alles gehört zujammen und wirkt zufammen. Ganz anders bei dem Maria- 
Therefia- Denkmal. Der Mittelbau iſt fajt quadratisch —- der Grundriß des 
Stuhles, auf dem die Kaiſerin fit, brachte das mit fich, dadurch wird er 
ichlanf und erjcheint ſehr hoch. Eine reichentwidelte Architeftur — Säulen, 
Bogen, überhängende Geſimſe — heben ihn noch mehr hervor und machen ihn 
viel zu wichtig: er wird gleichham Selbſtzweck anſtatt Mittel zum Zwecke. 
Auch von einem einheitlichen Schauplage um den Mittelbau herum iſt feine 
Nede. Die Reiterfiguren fommen nicht aus den Reliefs hervor, fie ftehen ganz 
frei, vielleicht zu frei. Der zur Seite ftehende Beichauer wird drei Reiter in 
verjchiedner Richtung auseinanderreiten jchen, und vor dem Modelle wenig: 
jtens denft man an ein Karoufjel, wie es alte Kupferjtecher darzuftellen Liebten. 
Zwiſchen den Neitergeftalten ftehen, wie jchon erwähnt, große Einzelfiguren. 
Was fuchen diefe da? fragt man unmillfürlich. Denn fie wiffen von den Reitern 
nicht8 und wiffen von den Reliefs Hinter fich noch weniger. Die Reliefs jelbit 
jind allerdings nicht ganz ohne Nücdficht auf die Figuren fomponirt, aber 
die Nückjicht ift bloß äußerlich, d. h. die Nelief3 Haben in der Mitte einen 
freien Raum, den die vorftchende, tiefer ſtehende Figur zu verdeden und aus— 
zufüllen berufen ift. Nun braucht nicht erſt gejagt zu werden, daß die Reliefs 
als jolche dadurch Feineswegs gewonnen haben, die Kompofition wird dadurch 
zerriffen. Doch kann man Hier überhaupt noch von Kompofition fprehen? Zum: 
buſch jtellt die Figuren nur jo nebeneinander Hin, fie find eine jede für ſich, haben 
nicht3 miteinander gemein. Uns dünft aber, daß damit die Natur des Reliefs 


Unpolitifhe Briefe aus Wien. 363 











verfannt wird, daß es jo nicht richtig verwendet iſt. Das Relief ijt ein ein- 
heitliher Schaupla wie eine Theaterizenerie oder eine Bildfläche. Keinem 
Maler wird es einfallen, auf ein Bild mehrere Porträts zu bringen und fie 
nichts von einander wijjen zu lajjen. Leben, Handlung muß hineingebracht 
werden, um zu einigen. Man denfe an Kaulbachs Zeitalter der Reformation. 
Und auch im Relief muß ein gewifjes Enjemble, eine fünftlerische Gruppen 
bildung vorhanden fein. Betrachtet man aber z. B. das Relief mit Haydn, 
Sud und dem jungen Mozart, jo hat man den Eindrud als jtünden die drei 
bloß beilammen, um jich photographiren zu laffen. Auf dem Denkmal Fried: 
rich II. hat Rauch das ganz anders gemacht, freilich Hatte er die Sache auch 
leichter. Aber jeine Generäle find im eifrigiten Geſpräch, und auch dort, wo 
Staatsmänner und Künftler jtchen, it eine geijtige Bezichung zwiſchen den 
einzelnen Figuren erreicht, wenn auch nur Leifing und Kant direft miteinander 
zu verfehren jcheinen. Aber wenn das Maria-Therefia = Denkmal nach feiner 
Bollendung auch nicht fehlerlos erjcheinen wird, eines kann man mit Sicherheit 
vorherjagen: daß es eines gewaltigen Eindrudes auf den Beichauer nicht ver: 
fehlen wird. Die folojfalen Dimenfionen (e8 it zwanzig Meter hoch, Rauchs 
Friedrich nur vierzehn Meter) werden es vor der aufzehrenden Gewalt des großen 
Platzes jchügen und zur Geltung fommen lajjen. Die einzelnen Figuren find, für 
jich betrachtet, wahre Meifterjtüde an Charafteriftif und Ausführung und werden 
zu dem Schönften gehören, was Wien an neuern plaſtiſchen Kunſtwerken befißt. 

Die beiden Kuppeln der Mufeumsgebäude tragen die Kolofjalfiguren Apollo 
und Minerva von Johannes Benk. Die beiden Statuen waren vor einigen 
Jahren im Ofterreichifchen Mufeum aufgeftellt: wir fünnen nicht, behaupten, daß 
fie allen Anforderungen, die man aus jolcher Nähe an fie zu jtellen geneigt 
war, hätten genügen fünnen. Jetzt auf der luftigen Höhe der Kuppeln, zu bloßen 
Deforationsfiguren herabgedrüdt, erfüllen fie ihren Zwed jehr gut, namentlid) 
der fadeljchwingende Apollo hat durch die Erhöhung gewonnen. Bon Johannes 
Benk jind auch die vier allegorishen Gruppen auf dem neuen Burgtheater: 
Liebe, Hab, Egoismus, Heroismus, die zwar ſchön gedacht und ausgeführt find, 
aber wegen ihres afademifchen Fdealismus nicht jedermann gefallen werden. 
Mit den Karyatiden aber vor dem Parlament ift Benk entjchieden hinter dem 
zurüdgeblieben, wa3 man von einem Künſtler von ſolchen Anlagen und joldyer 
Schule zu erwarten berechtigt war. 

Bon Kundtmann, dem Wien das jchöne Schubert: Denkmal im Stadt: 
parf verdankt, haben wir auch neuerdings wieder Arbeiten zu jehen befommen. 
Wir möchten hier nur auf die an den Pforten des kunſthiſtoriſchen Muſeums 
aufgeftellten Figuren der Architektur und Plaſtik himweifen: namentlich letztere 
ift von der edeljten Formvollendung. Auch Viktor Tilgner hat hervorragenden 
Anteil an dem plaftischen Schmude unfrer Gebäude. Kürzlich wurde im Oſter— 
reichiihen Mufeum die Büste Ferftels, die fein Werk ift, enthüllt, auch die unter 


364 Unpolitifde Briefe a aus is Wien. 





der Kanzel — Volivlirche aufgeſtellte Büfte Serftels — er — In der 
letzten Jahresausſtellung des Künſtlerhauſes ſahen wir die für das neue Burg— 
theater beſtimmte „Phädra,“ die aber ſehr unklar gedacht iſt, und den „Hans— 
wurſt,“ der eine nur allzu grob deutliche Komik beſitzt. Ganz manierirt iſt 
Tilgners neue „Brunnenfigur.“ 

Auch das Parlament iſt mit einer großen Anzahl plaſtiſcher Werke ge— 
ſchmückt. Bejonders fallen die Duadrigen von Vincenz Pilz ins Auge: es ift 
dies derjelbe Künstler, deffen zwei Flügelpferde ſich einjt auf unjerm Opernhauſe 
befanden, dann aber wieder herabgenommen worden find. Die Duadrigen zeigen 
einen bedeutenden Fortichritt, eine ausgereifte Künjtlerindividualität. Von den 
Gruppen, welche die Gicbelfelder ausfüllen, nennen wir die von Härdtl, die 
Justiz darjtellend und Fürzlich im Künſtlerhaus ausgejtellt. Die vier Sodel 
an den Brüftungen der großen Nampe harren noch des bildneriichen Schmudes, 
vor derjelben joll ein großer Brunnen zur Aufjtellung fommen. Es wäre zu 
wünſchen, daß dies bald gejchähe, denn ein Bau wie das Parlament bleibt Torjo 
jo lange, bis das letzte Figürchen auf feinem Plage ftcht. 

Rudolf Weyr, der die architektonische Arbeit am Grillparzerdenfmal über: 
nommen hat, ijt aud) der Schöpfer des großen Reliefs am Burgtheater. Be— 
jondre Klarheit in der Kompofition kann man dem Werfe nicht nachrühmen, 
aber die Details find ſehr jchön. 

Nicht vergefjen wollen wir aud) der beiden Löwen von Franz Pendl, welche 
vor dem Juſtizpalaſt aufgeftellt find. Schade, daß der Bildhauer fie jo unjchön 
ſitzend — eigentlich hockend — dargeitellt hat; der ausdrudsvolle Kopf macht 
den beiten Eindrud, aber die Haltung erwedt immer die Vorſtellung eines 
Pudels in und. Der Künftler muß auch darauf bedacht fein, fo unangenehme 
Ideenaffoziationen in dem Beſchauer nicht auffommen zu laffen, — er ſonſt nie 
die beabſichtigte Wirkung zu erreichen imſtande iſt. 

Mit einer ſehr proſaiſchen Bemerkung wollen wir ſchließen. wien thut für 
die Erhaltung ſeiner Denkmäler ſo gut wie garnichts. Allerdings verſchwinden 
viele derſelben im Winter hinter ganz ungeheuerlichen Pfahlbauten, aber die 
töſtliche Wirkung eines Schwammes und reinigender Waſſerſtröme iſt unſern 
öffentlich aufgeſtellten plaſtiſchen Werfen unbekannt. Die Schmutzpatina auf 
Marmor kann aber doch nicht den künſtleriſchen Effekt erhöhen, und deshalb 
ſollte vonſeiten der Wiener Gemeindeverwaltung in diefem Sinne wirklich etwas 
gejchehen. Überhaupt könnte ein eigner Referent in der Bauabteilung mit der Sorge 
um die Erhaltung der Denkmäler im Weichbilde der Stadt betraut werden; er 
hätte wenigjtens für die nächfte Zeit genug zu thun. 





Die dramatifche Runft E. v. Wildenbruchs. 


Don Arnold Fokke. 


2 


Ey der Beiprechung des „Harold“ hatte ich vorzugsweiſe das Geſetz 

von der Einheit der Handlung al3 den Gejihtspunft aufgeftellt, 
von dem aus über den Wert des Stüdes geurteilt werden müſſe. 
Wenn e3 im folgenden die „Karolinger“ find, die uns bejchäftigen 
— ſollen, ſo legt zwar der Titel, welchen Wildenbruch dieſem Stücke 
gegeben hat, von vornherein die Vermutung nahe, als ob es ihm auch hier nicht 
ſonderlich um das Prinzip der Einheit zu thun geweſen ſei. Denn der Name der 
Karolinger ſtellt für die Zeit, in welche die Handlung fällt, nicht weniger als eine 
Dreiheit dar, in der die Söhne Ludwigs des Frommen aus erſter Ehe die eine, 
jeine zweite Gemahlin Judith mit ihrem Sohne Karl die andre und der jchmwache 
Kaiſer jelbjt, der zwilchen den beiden Gegenjägen hin und her ſchwankt, die dritte 
Partei darjtellt. Indefjen ein Titel braucht nicht immer ein direkter Fingerzeig 
für den Inhalt zu fein, und in den hier auseinanderfallenden Elementen ijt 
feicht eine dramatische Einheit zu jchaffen. 

Zwar war e3 eine geraume Zeit, daß den großen Karl das Grab in Aachen 
aufgenommen hatte, aber frijch und unvergehlich lebte fein Name, und der Ein- 
heit3gedanfe, der das große Franfenreich gejchaffen hatte, konnte, wenn auch die 
jtarfen Impulſe zu wirken aufgehört hatten, leicht in einem Enkel wieder auf: 
[eben un®® die geplante Teilung in Frage ftellen. Wenn dies num auch nicht 
der Fall geweſen ijt, jo liegt doch darin fein Hindernis, den Gedanfen zum 
Motive eined Dramas zu machen. Ein Lothar, der unter dem Vorwande, einen 
frühern Teilungsvertrag zu jchügen, in Wahrheit aber um das Ganze für fic) 
zu nehmen, die Waffen ergreift und in dem von ihm heraufbeichwornen Konflikte 
erliegt, ift ein jo vortrefflicher Held einer Tragödie, wie man ihn nur wünjchen 
fan. Oder man könnte einen andern Gefichtspunft vorzichen. Es iſt befannt, 
daß Ludwig der Deutjche ſich am längjten gejcheut hat, die Waffen gegen den 
eignen Vater zu erheben, bis auch er durch die Schwäche desfelben gezwungen 
ward, gegen die Verringerung jeiner Zande zu proteftiren. Für die Notwendigkeit 
diefer Auflehnung müßte leicht eine ausreichende Begründung gefunden werden 
können. Als der Teilungsgedanfe fiegte, fiel den Deutſchen die Aufgabe zu, 
den von Karl dem Großen in ihre Lande gepflanzten Keim des neuen Glaubens 
und der alten Kultur nach Oſten weiter zu tragen. In der Stellung zu den 
heidnifchen Slawen, die den vom Welten fich aufdrängenden Einfluß nicht bloß 





366 Die dramatifhe Kunft €. v. Wildenbrucs. 





feindlich abtwehrten, ſondern jelber aggreffiv waren, konnte eine Schwächung des 
Dftreiches gewichtige Bedenfen erregen. Wenn man ſich denkt, dal Ludwig von 
jolden Erwägungen gedrängt in den Kampf mit dem Vater eintritt, jo findet 
man auch hier des tragischen Stoffes die Fülle. Doc) die in diefen Richtungen 
ſich eröffnenden Momente liegen in weiterer Entfernung; in erfter Nähe bietet 
fi) ganz von jelbjt die Verwidlung, welche aus dem Widerjtreite des formellen 
Nechtes der drei erjtgebornen Söhne mit dem natürlichen des nachgebornen 
hervorgeht. Es iſt das diejenige, welche vom einfachen Verlaufe der Gejchichte 
geboten wird, für den wählenden Dichter injofern leichter, als fie ihn der eignen 
Erfindung überhebt, aber dadurch jchwerer, daß fie ihn zwingt, in Gegebenes 
die tiefere poetijche Motivirung zu legen. 

Aber ob näher oder ferner, ob ſchwieriger oder leichter, von einem Dichter, 
der mit foviel Emphaje fein durchdringendes Erfafjen gejchichtlicher Vorgänge 
anfündigt, ſollte man erwarten, daß er nach einer oder der andern Richtung 
den vorliegenden Stoff nicht bloß dramatifirt, jondern auch erichöpfend zur 
Darjtellung gebracht hätte. Dies iſt aber nicht der Fall. Nicht als ob 
Wildenbrucd) dem durchaus aus dem Wege gegangen wäre. In Wirklichkeit 
geht er von dem zuletzt angegebnen Gefichtspunfte aus, aber nur für den 
Anfang und um ihn dann alsbald zu verlaffen und feine nur ihm eigentüm— 
lichen Pfade zu wandeln. Wer durch den Titel beivogen etwa meint, die 
Handlung habe irgendeinen der Karolinger zu ihrem Führer, der fieht ſich bald 
völlig getäufcht. Die Karolinger handeln in diefem Trauerjpiele überhaupt nicht. 
Auf der einen Seite bilden jie eine träge und ftumpfe Gejellichaft, die für ihr 
Recht nur mehr oder weniger plumpe Worte reden fann, auf der andern Seite 
leiden fie an der Unerfahrenheit der Jugend und der Schwäche des Alters. 
Selbſt die jonft feurige Judith mit eingejchlofjen, geht ihnen jegliche Initiative 
zur That ab. Die Handlung geht lediglich von einer Perfönlichkeit aus, die ur- 
Iprünglich mit den Karolingern im Drama faum etwas zu thun hat. Das ijt 
Bernhard, der Graf von Barcelona, der, ald Großer des Reiches zum Reichstage 
berufen, jofort die Fäden der Intrigue gegen das Recht der ältern Brüder in 
die Hand nimmt und damit zum Mittelpunfte und Helden des Stüdes wird. 
Mit diefem haben wie gejagt die Karolinger garnichts oder nur in leidendem 
Zuftande zu thun. Sie fünnten unbejchadet der Entwicklung und des endlichen 
Ausganges ebenfowohl hinter den Kuliffen bleiben und andre für fich daraus 
hervortreten lafjen. Mit dem beiten Nechte fann man fragen, aus welchem 
Grunde Wildenbruch gerade diejen Titel gewählt und warum er das Stüd nicht 
„Der Graf von Barcelona” genannt habe. In diefem Falle hätten die Nach: 
folger Karla des Großen jo auftreten dürfen, wie es gejchieht, und es wäre 
nur die Frage, ob fie fich pafjend in den Gang der Handlung einfügen. Im 
entgegengejeßten Falle aber ift denn doch ihr Name Hiftorifch zu bedeutend, als 
dag man nicht mit dem beiten Grunde erwarten jollte, er werde, wenn man ihn 


Die dramatifche Kunft €. v. Wildenbruchs. 367 





als Titel eines Schaufpieles angegeben fieht, demjelben auch den Gang und 
die Einheit geben. 

Indes nicht mit Unrecht könnte man dies als eine Äußerlichkeit bezeichnen, 
und wir wollen deshalb nicht länger mit dem Dichter darüber rechten. Das 
Schild, weldhes am Wirtshaufe angebracht ift, täufcht über den Namen des 
Meines, der drinnen vorgejegt wird, aber was macht's aus, wenn der Wein jelbjt 
nur fenrig it und Blume hat und dem lechzenden Trinfer Erquidung gewährt! 
Nicht von ungefähr habe ich gerade dies Bild gewählt. Wildenbruch hat in 
neuefter Zeit folgendes Rezept über die Zubereitung eines Dramas ausgegeben: 


Fang’ ein Meer in einem Becher, 
Größer nicht fei der Potal, 

Als ihn mühelos ein Becher 
Schlürfen fann mit einem mal. 
Lab den Trunk im Becher gähren, 
Miſch' zum Herben Süßes cin, 
Laß verfühlend ihn ſich Hären 
Und das Drama — es iſt dein. 


Und jo wäre denn die Frage, welchen Trunk er uns in der vorliegenden Tra— 
gödie fredenzt hat. Es ift meine Meinung, daß da nur Herbes zur Verwendung 
gefommen ift, und daß das Süße, welches nach Wildenbruchs Urteil mit unter- 
laufen joll, von dem Herben verjchlungen wird wie ein Tropfen Negenwafjer 
von der Salzflut des Weltmeeres. Das kommt daher, daß der Graf von 
Barcelona, der, um auch das nebenbei zu bemerken, nicht etwa im Auftrage 
einer Partei der Sarolinger, jondern nur in feinem Intereſſe handelt, in all 
feinem Thun und Lafjen ein Böjewicht, und nur ein Böſewicht ift. 

Es ijt immer ein verfängliches Unternehmen, einen Menjchen, der zum 
Schaden feiner Mitwelt die Gebote der Moral nicht achtet, zum Helden eines 
Dramas zu machen, und zwar deshalb, weil cr jeine jchwer beizubringende Be— 
rechtigung nachweilen muß. Shafejpeare ift diejer Aufgabe in zweien jeiner 
größten Tragödien gerecht geworden. Bon diejen hat man „Richard den Dritten“ 
angefochten, aber von andrer Seite find die gewichtigiten Gründe für den hohen 
Wert der Dichtung beigebracht worden. Schon lange hat man erfannt, daß ſowohl 
die Kraft als auch die Begierde zu herrjchen, welche im ganzen Haufe der Plan: 
tagenet3 hervortritt, in „Richard dem Dritten“ zum ſtärkſten Ausdrud gelangt. In 
ihm vollzieht fich abichliegend das Verhängnis, das auf dem ganzen Gchlechte 
ruht und darin bejteht, Schuld auf Schuld zu häufen und fchließlich in einer 
maßlojen Häufung von Leiden die der ewigen Gerechtigkeit jchuldige Sühne 
zu zahlen. Perſönlich fommt für ihm noch Hinzu, daß außer umübertroffner 
Herricherkraft die Natur ihm einen häßlichen, mißgeitalteten Körper gab. 
Richard ift in der jchlimmiten Lage. Vom Throne hält ihn trog feiner Re— 
gentengaben die Willfiirlichfeit des Gejeges, von heiterm Lebensgenufje die 


368 Die dramatifhe Kunft €. v. Wildenbruchs. 


zwingende Notwendigleit der Natur ausgeſchloſſen. Wäre es Po ——— ge⸗ 
weſen, die ganze Fülle einer überſchwänglichen Kraft in der Richtung harmloſer 
Freude am Daſein auszuſtrömen, ſo hätten die nach der entgegengeſetzten Seite 
gehenden Gedanken nicht übermächtig zu werden brauchen. Nun aber beherrſcht 
Zorn über die ungerechte Verteilung der Gaben und Neid über das Glück tief 
unter ihm ſtehender ſeine Seele. Da er die von der Natur geſteckten Grenzen 
nicht überſchreiten kann, ſo ſucht er die vom Geſetze errichteten niederzuwerfen 
und wird ein Böſewicht. In dem Monologe Richards, mit dem das Schau— 
ſpiel beginnt, liegt die Erklärung des Geheimniſſes, daß wir bei aller Unge— 
duld, ihn dem Rächer überantwortet zu ſehen, doch in der vorletzten Szene 
ihm das Pferd geſtellt wünſchen, das er mit einem Königreich nicht zu teuer 
bezahlt erachtet. 

Etwas ähnliches findet man im „Macbeth.“ Aus dem Dunkel der Zukunft 
reichen die Schickſalsſchweſtern dem fieggefrönten Feldherrn die Hand und halten 
ihm das verlodende Bild einftiger Königsherrichaft vor. Dadurch wird das 
böje Gelüjten in ihm gewedt und gewinnt mehr und mehr Raum in jeinem 
nad Ehre und Glanz dürftenden Herzen. Was noch unklar in feiner Seele 
it, das erhält feite Gejtalt durch den Ehrgeiz feiner willensftarten Gemahlin. 
So wird Macheth unwiderftehlich auf die Bahn des Freveld gezogen: wir ver— 
jtehen vollfommen, wie der jonjt jo wadre Mann im Kampfe mit dem Böjen 
unterliegt. Hierdurch aber und nicht minder, wenn wir jehen, wie jeine befjere 
Natur immer von meuem wieder den alten Kampf beginnt, weiß der Dichter 
das tiefe Mitgefühl zu erregen, das troß aller Verbrechen bis zum letzten 
Augenblide nicht aufhört. Aus diefem Grunde ift Macbeth nicht minder als 
Richard eine echt tragische Figur, und beide werden niemals aufhören, Die 
Herzen denfender und fühlender Menjchen zu bewegen. 

Mitleid ift überhaupt das Pathos, an das vorzugsweiſe ber tragijche 
Dichter zu appelliren hat. Es ijt nicht genug, bloß durch Überrafchung, durch 
plöglichen Wandel vom Glück ing Unglüd, durch Haß, Furcht, Schreden 
den Sturm unſrer Seelen zu erregen; am legten Ende zeigt fic) darin die 
Meifterjchaft, ob er mit dem Gefühle des moralischen Umwillen®, das Die 
Thaten jeiner Perſonen zur Folge haben, auch das zartere des Mitgefühls zu 
entfachen und wachzuhalten verjteht. Dieſe Negung braucht und nicht ein 
ganzes Stüd hindurch zu begleiten, fie fann fange Zeit völlig zurüdtreten, 
aber wenn fie am Ende hervorbricht, jo ift es der untrügliche Beweis, daß der 
Tragifer mit derjenigen Kenntnis der menfchlichen Scele gedichtet hat, die das 
Gute und Böſe in richtiger Abwägung gegeneinander hält und, wenn biejes 
überwiegt, jenes nicht völlig erjtidt. Es giebt feine abjoluten Böjewichte, und 
wenn Doch, jo dürfen fie nicht die Mitte der tragischen Handlung einnehmen, 
Selbſt Jago, der nicht einmal die Hauptperjon ijt, handelt nicht bloß aus 
Liebe zum Böjen, jondern weil er ſich in feinem Weibe beleidigt und im 


Die dramatifhe Kunft E. v. Wildenbruchs. 369 


Streben feines Ehrgeizes zurüdgefegt glaubt. Alles dies find alte Wahrheiten, 
die von Leſſing und andern viel beffer erörtert worden find, als wir es bier 
vermögen, und doch müſſen fie immer von neuem gepredigt werden, weil immer 
von neuem dagegen gejündigt wird. 

Auch von Wildenbruch. Es ijt zu verwundern, mit welcher Leichtigkeit er 
jeinen dramatischen Becher aus dem Weltmeere der Geichichte anfüllt und in 
welcher Mifchung er uns den’ Labetrunf vorhält. Da ift nicht einmal ein Ber- 
juch, die infernaliiche Schlechtigfeit de8 Grafen von Barcelona piychologiich zu 
motiviren. Oder man müßte den Umstand dafür geltend machen, daß in irgend- 
einer frühern Zeit, als der alte Kaiſer Ludwig die Judith zur zweiten Ge- 
mahlin nahm, der Graf Bernhard in Licbe zu der fchönen Welfentochter ent: 
brannt gewejen ift. Aber abgejchen davon, daß fie feine Ahnung von dieſer 
Neigung und nad) dem Drama nicht einmal Kenntnis von ihrem Liebhaber 
gehabt Hat, ijt dies ebenjowenig ein ausreichende® Motiv, um der Kaiſerin in 
der umvermittelten Weife, wie es geichieht, mit feinen Anträgen zu nahen, als 
feine Siege in der jpaniichen Mark es find, um feine Anjprüche auf das Reid) 
Karls des Großen zu erflären. Von diejen feinen Siegen hören wir nur aus 
jeinem eignen Munde, und das iſt nicht genug. Wenn wir fie jelbjt micht ſehen 
fünnen und doc an fie glauben follen, jo müſſen fie ſich wiederjpiegeln, ſei es 
in den Berichten von Augenzeugen, welche die ganze Vortrefflichfeit des Gefeierten 
wiedergeben, oder in der Dankbarkeit desjenigen, dem feine Thaten zugute ge: 
fommen find. So wird die Heldenkraft Macbeths aus den Gnadenbeweifen 
flar, mit denen König Dimcan ihn überhäuft, und Othellos Wert zeigt fich in 
der Anerfennung, die ihm von Freund und Feind gezollt wird. Von all diejem 
oder ähnlichem iſt Hier nicht zu jehen. Bernhard von Barcelona drängt fic 
ganz unvermittelt, ebenjowenig gekannt von den Großen des Reiches als vom 
Kaiſer und feinen Verwandten, mitten in die Dinge hinein umd macht fich zum 
Helden des Stüdes. 

Im erjten Akte erklärt fich auf Zureden des Abtes Wala von Eorvey Kaiſer 
Ludwig bereit, am erjten Teilungspafte feitzuhalten. Da gewinnt Graf Bern: 
hard aus der ſpaniſchen Mark die Licbe der Kaiſerin nnd damit die Zuſtim— 
mung, ihrem Sohne Karl zum Throne zu verhelfen. Nachdem im zweiten Afte 
der frühere Vertrag erneuert und der junge Karl vom Throne ausgeſtoßen 
worden ift, weiß Bernhard, den der Kaiſer furz vorher zum Kämmerer ernannt 
hat, durch Vorzeigung einer Botjchaft König Pipins an feine Brüder den Bes 
weis der Verräterei diefer drei zu erbringen und dadurch die ebengefaßten Be- 
ichlüffe zunichte zu machen. Im ftürmifcher Verhandlung wird Karl als König 
gefrönt und feinen Brüdern gleichgeftellt. Bis zu dieſem Punkte gehen die 
Intereffen Bernhards mit denen des jungen Königs zujammen; von nun an 
treten fie in den Vordergrund. Im dritten Mfte gilt es, die Kaiferin auf dem 


Pfade ihrer verbrecherichen Liebe weiter fortzureißen. Das geichieht in der 
Grenzboten Ill. 1885. 47 





370 Die dramatifche Kunft E. v. Wildenbruchs. 








erjten Szene: jchon gewöhnt ſich Judith an den Gedanken, ihren faijerlichen 
Gemahl aus dem Wege zu fchaffen, und König Karl erklärt ſich bereit, unter 
Nichtachtung der Rechte feiner Brüder die Krone Karls des Großen aus Bern: 
hards Händen entgegenzunehmen. Doc ſoll vonfeiten des letztern Hiermit 
feineswegs die Sache ihr Bervenden haben. Wenn der Kaiſer und die älteften 
Söhne aus den Wege geräumt find, dann muß auch der jüngste fallen. Im 
der lebten Szene wird Starl von jeinen Brüdern Fehde angejagt, und damit 
find wir bereits vor der Enticheidung angelangt. Im vierten Akte ſtehen ſich 
die Parteien bei Kolmar gegenüber. Im Lager der Brüder jtirbt Pipin infolge 
eines Sturzed mit dem Pferde, im andern Lager ijt Kaifer Ludwig ſchwer er: 
franft: die Wirkung des Giftes, das ihm vom Grafen mit Hilfe feines mau— 
rischen Sklaven beigebracht worden il. Nur wenige Stunden hat er noch zu 
leben, da begiebt fich König Karl ind Lager feiner Brüder, wo man eben von 
jenem Sklaven den Sachverhalt im feindlichen Heere erfahren bat. Weil er 
augenblicklich ſowohl diejes als auch das Verhältnis feiner Mutter zum Grafen 
erfährt, jo ift das der Grund der Ausſöhnung zwijchen den Karolingern. Wereint 
begeben fie ich ins Lager des Kaifers, der gerade noch joviel Leben in ſich Hat, 
um jeinen verföhnten Kindern den Segen zu geben. An feiner Leiche wird endlich 
die Strafe an dem Schurken vollzogen, der die Verwirrung angerichtet hat. 
So der Verlauf der Handlung. 

Wenn wir jchon oben gejagt haben, daß der Dichter aus der Vorgefchichte 
des Grafen von Barcelona auc nicht ein einziges Moment beigebracht hat, 
dag Diejen in irgendeiner Art berechtigte, die Stelle des Helden einzunehmen, jo 
ift auch während der Handlung fein Impuls feines Thuns wahrnehmbar, der 
darnach angethan wäre, ihn zu diefer Höhe zu erheben, oder auch nur unjer 
Intereffe für ihm zu erwärmen. AL fein Handeln geht aus der kraſſeſten Selbjt- 
jucht hervor und hat nicht mehr Entjchuldigung als das des gemeinjten Straßen- 
räubers, der fein Opfer niedergeftoßgen hat und nun die Tajchen desſelben Iehrt. 
Schon die erfte Szene des erjten Aftes läßt ihn ganz als den falten, berech- 
nenden Böfewicht erfennen, für den nur die Rückſicht auf den eignen Nutzen 
beitimmend ift. An den Hof von Worms ijt ihm Hamatelliwa, die Tochter 
eines Maurenfürjten, gefolgt. Sie hat ihm einſt in harter Todesnot das Leben 
gerettet und glaubt nod) an feine Liebe, während er ihre edle That und zärt- 
fiche Anhänglichfeit mit dem ſchnödeſten Undank lohnt. Alles was er hier vor- 
bringen fann, ich will nicht jagen um fein Thun zu entjchuldigen, fondern zu 
erflären, liegt in den Worten: 

Mein Leben ift mein Gut; ich will es mir 

Zu einem Bau von Madht und Ehre türmen. 
Dein Wert ift abgethan; du warſt die Schwelle. 
Hier fei die Werkitatt, Hier am Hof zu Worms; 
Dies Haupt der Meijter, Werkzeug diefer Arm; 
Maurin, fahr wohl — mir winken andre Sterne. 


Die dramatifhe Kunft E. v. Wildenbrucs. 371 











Man fünnte fich überhaupt wundern, weshalb uns der Dichter mit diefem Buben— 
ftreiche befannt macht oder vielmehr ihn begehen läßt, wern man nicht nachher 
merkte, daß die Anweſenheit der Maurin dazu notwendig ift, damit jowohl der 
fie begleitende Sklave als zwei aus der Heimat entjandte Boten von Wichtig- 
feit für die Handlung werden fünnen. So hat auch diefe That nichts innerlich 
Notwendiges, jondern fie ift lediglich ein äußerliches Mittel, fiir das jedes andre 
ebenjo gut wäre, um die Aktion in Gang zu halten. 

Wir fommen zu dem Auftritt, in welchem es dem Grafen gelingt, die 
Kaiſerin für feine Abfichten zu gewinnen. Es it jchwer, den Charakter des 
erſtern zur Schildern, ohne auch ſchon hier auf den der legtern näher einzugehen. 
Die Szene muß für jeden, der richtig fühlt und denkt, etwas Verletendes haben. 
&o leicht läßt fich fein ſtolzes Weib, gejchweige denn eine Kaiſerin gewinnen, 
oder wenn es wäre, jo hätte doch der dramatijche Dichter, wenn anders er das 
fittliche Interefje für die betreffende Perjönlichfeit wach erhalten will, die Pflicht, 
die Möglichkeit jo fern ald nur möglich zu Halten. Da ift zwar eine große Ver: 
juhung: im legten Augenblide wird ihrem Sohne nicht bloß ein Teil des 
Frankenreiches, jondern die Ausficht auf das ganze geboten. Welches Frauen: 
herz, welches Mutterherz würde nicht bei jolchem Angebot erbeben! Aber es 
gejchieht um den Preis ihrer Ehre, und wer ift es, der dieſen Preis verlangt? 
Wenn die Kaiferin ihren jtürmifchen Bewerber gefannt hätte, wenn fie von jener 
Beit her, wo fie dem bereit alternden Ludwig ihre Hand reichen mußte, dem 
früher geliebten ein treues Andenken bewahrt hätte, jo war es ein andres. 
Der Dichter hätte Gelegenheit gefunden, in ergreifender Schilderung eines 
zwiſchen Liebe und Pflicht, zwilchen Glanz und Entjagung fchwanfenden Frauen- 
herzens den Hörer zu gewinnen und ihn, wenn auch nicht von der Moralität 
ihres Handelns zu Überzeugen, doc) mit zartem Erbarmen zu erfüllen. Aber Hier 
it ein völlig Unbefannter, ein Abenteurer, dem für den Zufchauer der Dichter 
nichts mit auf den Weg gegeben hat, als das Bewußtjein einer höchſt unmora= 
füchen That. Die Kaiferin wei zwar davon nichts, aber im übrigen hat er 
nichts für fich, al$ daß er mit feurigen Worten die Glut feiner Liebe und mit 
mehr als Selbjtbewußtjein feine jonjt nicht vernommenen Thaten zu jchildern 
vermag. Will ung der Dichter glauben machen, daß immer und überall Frauen- 
tugend bloß durch glatte und prahleriiche Worte zu Falle gebracht werden? 
Mag das im einzelnen Falle der Wirklichkeit entjprechen, aber es giebt auch 
jchwerer wiegende Motive, und hier wären fie am Plage gewejen, nicht bloß 
um an die Kaiferin, jondern auch an ihren Verführer glauben zu machen. 

In der That, es fehlt überall an der ausreichenden Begründung. Wenn 
jemand Anſprüche auf eine in rechtmäßigen Händen ruhende Herrichaft macht, 
wenn er, um fie zu verwirklichen, vier Könige mit Gewalt aus dem Wege 
räumen, einen Saifer ermorden will, dann muß derjelbe fehr jtarfe und Halt: 
bare Beweile vorbringen, daß nur in feiner Perſon die Welt, der er andre 


372 Die dramatifche Kunft E. v. Wildenbruchs. 





Geſtalt geben will, Rettung und Gedeihen finden kann. Es fann ums hier nicht 
beiftommen, den Weg anzudeuten, den der Dichter hätte gehen müſſen, aber c3 
mußte ein hoher Gedanfe fein, der in dem Prätendenten verlörpert wäre, um 
uns jeine Unthaten vergefjen zu machen. Es giebt genug Momente in der Welt: 
geichichte, wo die Entwidlung der Menjchheit und ihrer Staatengebilde nur 
möglich ift mit dem gewaltfamen Durchbrechen des formellen Rechtes. Entweder 
eine folche Notwendigkeit hätte der Dichter an den Dingen und feinem Helden 
nachweijfen, oder wenigſtens ihn ſolche Worte reden, ſolche Thaten verrichten 
laffen müfjen, daß nicht der mindejte Zweifel an feiner vollfommenen Helden- 
und Herrichernatur in uns auffommen fann. Um Beifpiele zu haben, jo finden 
wir das eine im „Wallenftein,” das andre in „Richard dem Dritten.“ In jenem führt 
Schiller den Beweis, daß nur Wallenjtein den Einigungsgedanfen auf den Ge- 
bieten des Glaubens und des Staates gegen die bejtehenden Gewalten erheben 
durfte, während bei Shafejpeare, wo ohne Wechjel eines Syſtems nur die eine 
Berjönlichkeit die Stelle der andern einnimmt, Richard in ciner Weije rebet 
und handelt, daß ums jeden Augenblick feine alles überragende Herrichergröße 
bewußt bleibt. Aber wir brauchen die „Karolinger“ nicht mit diefen Meiſter— 
werfen zufammenzuftellen, um zu finden, daß die Worte, mit denen Bernhard 
von Barcelona feine Handlungen begleitet, in Mbficht auf den von ihm gewollten 
Zweck bloß hohle Phrajen find. Der Graf fennt nur die Welt des jubjeftiv 
Begehrten, wie die des jubjektiv Behaupteten. Daß über beide ſich das Reich 
einer objektiven Sittlichfeit erhebt, davon hat er feine Ahnung, oder will er 
feine haben. Im all feinem Thun jeßt er fich ohne jegliches Bedenken über 
das Moralgejeg hinweg, an feiner Stelle, jelbit da nicht, wo er von cinem 
jähen Tode ereilt wird, zeigt er, daß auch ein Gewiffen in ihm jchlägt, „das 
Zünglein an der Waage der Thaten.” Damit aber ſchießt er über das Ziel 
hinaus, und je höher er in der Leidenschaft feine Worte fpannt, umfoweniger 
erreicht er mit ihnen, was er will. Denn diefe Leidenichaft ift feine echte, fie 
erhebt fich wicht über den realen Boden einer wenn auch durch feine Thaten 
geleugneten, jo doch innerlich auch von ihm anerfannten Moralität. Und 
jo tritt, weil die von ihm verachtete Welt fittlicher Ideen in uns lebendig ift, 
auf die wir alles Gethane zu beziehen pflegen, das ein, daß jeine Worte, da 
fie feinen Glauben haben und feine Liebe erweden, uns vorfommen wie „ein 
tönendes Erz und eine Hingende Schelle.” Nur einige von feinen Tiraden mögen 
hier Pla finden. In der zweiten Szene des vierten Aftes, in welcher er bie 
deutjchen Großen für feine Pläne gewonnen hat, heißt es: 
Und dies Wort Schuld 

Iſt nur der Geufzer der Ertrintenden, 

Die in dem Lebens-Ozean der Kräfte 

Zu ſchwach zum Schwimmen [näml.: find]. — Du fei meine Göttin, 

Die du den Abgrund zwiichen Recht und Unrecht 

Im Lömwenfprunge überwältigit: That! 


Die dramatifche Kunft E. v. Wildenbruchs. 373 





Eine andre Stelle ift die, wo er neben. der ohmmächtigen Judith knieend in die 
Worte ausbricht: 

Mein ift fie heute, und mein joll fie bleiben 

Diesfeits und jenfeits, mag der Schlund der Hölle 

Sid vor uns öffnen, jauchzen werden wir ꝛc. 
Endlich noch eine Stelle, die jo recht dazu angethan ift, den Widerfpruch zwifchen 
dem Lärm der Worte und dem Mangel an der ihnen entiprechenden Subjtanz 
darzuthun: 

Berriffen von der Karolinger Meute — 

Die Flammen, die die Welt durchloderten, 

Erjtidt vom Schwalle der Alltäglichkeit! 
Mag e3 damit genug fein. Wir fommen auf das zurüd, wovon wir aus: 
gingen: daß das Böfe als ſolches uns fein andres Intereffe abgewinnen 
fann, al3 ein negatives, den Wunjch nämlich, daß wir vor ihm behütet werden 
mögen. So ift es hier. Wenn wir den Grafen von Barcelona im legten Afte 
unter den Streichen feiner Feinde fallen jehen, jo gejchieht e3 mit dem ganz 
bejondern Gefühle der Genugthuung, daß wir nicht nötig haben, uns noch in 
einem weitern Akte mit feinem Unweſen zu befaffen. 

Bon den andern Berfonen des Dramas, die wir zu betrachten haben, tritt 
am meiſten Judith hervor. Ich Habe jchon von der Szene gejprochen, in welcher 
Bernhard zuerjt mit ihr zufammentrifft. Ein ähnlicher Auftritt, aber von noch 
widerwärtigerem Charakter, iſt derjenige, in welchem fich die Statferin ganz ihrem 
Berführer Hingiebt. Es ift mir unbegreiflich, wie der Dichter ſolche Vorgänge 
auf die Bühne bringen fan. Wenn er in dem befannten Motto jagt, daß der 
Hiltorifer nur die Zeilen leje, der Poet auch den Sinn derjelben erfläre, jo 
muß ich ihn auf etwas aufmerkſam machen, was er ohne Zweifel weiß, aber 
für den Augenblick vergeffen zu haben fcheint, daß ſchon auf unjern Schulen 
die Gejchichte pragmatiich behandelt wird. Jeder Geſchichtslehrer belehrt feine 
Schüler über den Charakter der Judith: mit ihrer ehelichen Treue war es nicht 
zum Beſten bejtellt, aber er hütet fich, darüber wie über andre ähnliche Dinge 
den Schleier weiter zu lüften, al der Zujammenhang und die geforderte Ob— 
jeftivität im Gejchichtsunterrichte verlangen. Auch in der Thätigkeit des dra- 
matijchen Dichters ift ein hervorragendes Moment das erziehliche. Aber nicht 
bloß Erwägungen von der Moral hergenommen, fondern auch äfthetijche hätten 
ihn veranlafjen jollen, vorjichtiger zu fein. Wie kommt es, daß er fich joweit 
gehen läßt und auf offener Bühne die Kaijerin zur Metze macht? Heißt das 
den Sinn der Gejchichte erklären? Eine innere Notwendigkeit liegt nicht vor, 
fie von der Seite ihres fchlafenden Sohnes hinweg in den Garten zu locken, 
denn mit den politischen Abfichten des Grafen hat es nicht das mindeite zu 
thun. Außer dem Bedürfnis des Effefts alfo und die Sinne zu erregen fann 
fein andrer Grund für die Szene vorliegen, als um durch fie den Tod der 


374 Die dramatifche Unnſt E. v. Wildenbrucdhs. 


Hamatelliwa herbeizuführen. Da nämlich die Maurin die Liebesizene im Garten 
bemerft hat und, wenn fie auch die Kaiſerin nicht erkannte, eine Entdeckung herbei— 
zuführen droht, jo fällt fie von der Hand ihres frühern Gelichten. Indes auch 
ihr Tod iſt durch nichts motivirt. Fordert es auch die poetilche Gerechtigkeit, 
daß fie nicht weiter leben darf, jo braucht fie doch nicht in diefer Weile zu 
fallen. Ihr treuer Eflave Abdallah, der fie vom VBaterhaufe Her begleitet hat, 
hat in der Treulofigfeit des Grafen Beweggrund genug, die ſchwerſte Nache 
an ihm zu nehmen. 

Es ist überhaupt jchwer zu jagen, was die ganze Maurengeichichte in Wilden- 
bruch® „Karolingern“ fol. Daß fie in einen organischen Zujammenhang mit 
dem Streite derjelben um das Frankenreich gebracht wäre, läßt fich nicht bes 
haupten. Hamatelliwa ijt in Worms, damit der fie begleitende Sklave einſt 
Rache für fie nehmen und durch den Tod des Grafen das Stüd zu Ende bringen 
fann. Noch eine andre Notwendigkeit für ihre Anweſenheit it da. Bon ihrem 
Vater werden der Unglüdlichen Boten er der um fie vom Grafen zurück— 
aufordern; aber da dieje Gefandtichaft viel pafjender ſchon im Spanierlande 
ſelbſt gejchieft worden wäre, jo fommt man auf den Gedanken, da der ange- 
gebene Grund nur ein Vorwand ijt, und daß die Mauren in Wirklichkeit in 
einer ganz andern Abficht vom Dichter nach Worms gejchieft werden. Bernhard 
hat jene Botjchaft Pipins an jeine Brüder nötig, damit er den Reichstag jprengen 
fann. Die Mauren geben fie ihm gegen die Herausgabe Hamatelliwas preis 
und werden jo das rein äußerliche Mittel, um die Dinge in Fluß zu erhalten. 
Auch darüber fünnte man fich wundern, daß Pipin gerade den Sarazeneı, deren 
Treue mindejten® noch nicht erprobt war, zu Weberbringern eines jo wichtigen 
Geheimniſſes macht. 

Schon mehrfach ift die Rede darauf gekommen, daß es den „SKarolingern“ 
an einer leitenden Idee fehle; nur wäre es unrecht zu behaupten, daß dergleichen 
überhaupt in dem Stüde nicht zu finden ſei. Erftens ift da der Gegenjat 
zwifchen den Franken und den Deutjchen, der fich in der Parteijtellung der 
letstern für den Grafen von Barcelona fundgiebt, zweitens der Einheitsgedanfe 
Karls des Großen, der vom Abte Wala von Corvey betont wird. Aber jo 
Ichroff die Barteinahme der Deutjchen auch iſt, jo vollzieht ſich doc) die Hand: 
lung in dem Maße ohne die individuelle Färbung ihres nationalen Charakters, 
daß ſie faum Geltung erlangt und ohne eigentliche Wirkung vorübergeht. Auch 
hier fchallt mehr das lauttönende Wort ins Ohr, als da der Grund desjelben 
Herz und Verſtand durchdränge. Gleiches it auch von dem zweiten Bunfte zu 
jagen. Der Abt redet in den jchönften Worten für die Notwendigkeit des Bus 
jammenbaltens, aber jo warm fie dem Munde des Alten entjtrömen, jo wollen 
doc auch fie feinen rechten Glauben erweden. Denn wie it es zu veritehen, 
dag eine Teilung unter dreien die Einheit, diejenige unter vieren die Zerſplit— 
terung bedeute? Man kann immerhin die letztere als eine Neuerung Hinftellen, 
welche eine kaum eingetretene Beruhigung der Gemüter wieder in frage jtellt, 
aber ein Abweichen von den Grundjägen des großen Karl war die erite nicht 
minder als die zweite. 

So entjpricht denn auch nach diefer Seite da3 Drama nicht den Erwar— 
tungen, die das an die Spite geitellte Motto erwedt. Es ift überhaupt mit 
diefer Tragödie ein wunderliches Ding. Wenn uns Wildenbruch doch jagen 
wollte, was er eigentlich mit dem Stüde will! Was hat er im Buche der Ge- 
ihichte von Ludwig dem Frommen und feinen Söhnen gelejen, und was will 


Die dramatifhe Kunft E. v. Wildenbruchs. 


375 
er, daß wir darin finden? Sollen wir an dem Beifpiele der einen ſehen, daß 
Umeinigfeit nie zu etwa8 Gutem führt, oder an dem des andern, daß unmora- 
liches Handeln Schon in dieſem Leben Strafe nach fich zieht? Doch wer möchte 
glauben, daß es dem Dichter, der jo tief in dem Zeilen der Gejchichte zu leſen 
vermag, um jo triviale Wahrheiten zu thun geweſen jei? Mit dem Motto dürfte 
es ihm aljo nicht ganz ernſt gewejen jein, und fo müfjen wir wohl eine andre 
Nichtung einschlagen, um den tiefern Grund der Dichtung zu finden. Vielleicht 
entdeden wir ihn in der Vorrede? Nein, auch dort lejen wir nirgends etwas 
von der Geltendmachung oder Durchführung einer Idee. Dagegen ir umjomehr 
von der eigentlich technischen Kunſt des Dichters die Nede, der bemüht fein joll, 
„alles, was an dramatilcher Wirkungsfähigkeit in ihm jchlummert, zu nachdrüd- 
lichitem Leben hervorzurufen.“ „Dies Bedürfnis, heißt es, erjcheint mir als 
ein jo entjcheidendes Merkmal wahrhaft dramatischer Begabung, daß ich nicht 
anjtehe zu behaupten, daß aus dem Maße der Schonungslofigfeit, mit welcher 
der Dichter fein eignes Gebilde wieder umd immer wieder in die gejtaltenden 
Hände nimmt, ein unmittelbarer Rückſchluß auf das Maß feiner dramatifchen 
sähigfeit überhaupt gezogen werden kann.“ 

Darnach iſt aljo das, worauf der dramatische Dichter in erjter Linie fein 
Augenmerk zu richten hat, die formale Gejtaltung. Stellt ein Ding in die 
richtige „perſpektiviſche Entfernung,“ das heißt hier, jeht es euch vom Zuſchauer— 
raum an! Sit es zu lang, fo fchneidet es zurecht, oder zu kurz, jo redt e2. 
Die Handlung als jolche, das ijt die große Frage, alſo nicht jo ſehr, wie fie 
zuftande kommt, al3 daß jie überhaupt zu ftande fommt, nicht wie fie ſich ent- 
widelt, al3 daß fie überhaupt im Gange bleibt. Daher bei Wildenbruch der 
rajche Wechjel der Szenen, ein aufs knappſte geipannter und darum jelbit 
jpannender Dialog, daher die pridelnden und pifanten Vorgänge, die voll 
Heftigfeit und Leidenschaft die Sinne tumultuiren und die Lüſternheit erregen, 
daher endlich eine jtet3 bewegte und belebte Handlung, die nicht im Räfonnement 
hängen bleibt, jondern ftet3 von dem Gedanken getrieben erjcheint, zu Ende zu 
fommen. Kurz, im einzelnen und im ganzen ijt alles auf die Wirkung be- 
rechnet, und die erfährt man nicht im bedächtigen Abwägen der einjchlagenden 
Momente, fondern „in der Berührung mit der Bühne,“ das heißt unter dem 
Tumulte des Beifall jpendenden und Miffallen bezeigenden Publikums. „Unter 
der lebendigen Mitwirkung der Zuhörerichaft ſoll ſich das dramatische Werf 
zu voller Körperlichkeit entwideln.“ Dagegen brauchte man nun nichts zu haben, 
wenn nur an irgendeiner Stelle auch von einem die Handlung tragenden Ge: 
danfen die Rede wäre. So aber wird hier das ganze Gejchäftsgeheimnis 
Wildenbruchs, das vor allem den äußern Schein ins Auge faßt, verraten. 
Körperlichkeit? Unter andern Umſtänden könnte man darunter verjtehen, was 
man wohl ein in ſich abgejchlofjenes, lebensvolles Ganzes nennt, hier muß 
man fie als den Gegenjag zu Geiſt und Seele auffafjen. Was braucht es 
auch der Ichtern, warum eine Idee, um aus ihr das Drama zu gejtalten? Die 
Alten, Ariftoteles, Leifing haben lange genug geherricht, endlich tjt es Zeit, frei 
und jelbjtändig zu werden. Der Liberalismus hebt die Parlamente, Wilden: 
bruch das große Publikum auf den Thron. Anjtatt die Menge zu fich empor: 
zubeben, fett er fich mitten unter fie, um fich von ihr hinunterzichen zu Lafjen. 
Die „Karolinger” find ein Produkt der höhern Mache, in jeiner Vorrede jagt 
e3 der Dichter jelbit. 





Um eine Derle. 
Roman von Robert Waldmüller (Ed. Duboc). 
(Fortjeßung.) 


a ein Sohn, begann dann der Pater in beivegtem Tone, du wirft 


€: 
Ss) ; 9— nicht von hinnen ſcheiden wollen, ohne zu bereuen, was du als 

F A fleiſchlich Geborener an Fehlern nicht auszutilgen, an guten Vor— 
Jätzen nicht zur That werden zu laſſen vermocht Haft. Iſt dir 
nA von Menjchen Leid bereitet worden, jo löſche e8 in diefer feier: 
lichen Stunde aus deinem Gedächtnis. Haft dur ihnen weh gethan, jo laß heute 
deinen Blick einzig auf die ihmen bereiteten Schmerzen gerichtet fein, nicht auf 
die Unbill, durch welche fie dich zuvor gefränft oder gereizt hatten. Schließe 
Frieden mit allem, was dich befriegte, was du befriegt Haft, und öffne ein 
willige8 Ohr den Troftworten, mit welchen ich als geweihter Prieſter dir die 
Bergebung deiner Sünden und ein jeliges Eingehen in das befjere Ienjeits zu 
verheißen berufen bin, 

Er Hatte, indem er fich jo zum Ablejen der vorgejchriebnen Formeln an- 
jhidte, von Sat zu Sat dem ſprachlos Daliegenden zu einem Blide oder 
einem Kopfniden beijtimmenden Berjtändniffes Zeit gelajfen, und jo oft Fiorita 
mit tropfender Wimper nach einem jolchen Zeichen Giufeppes aufichaute, Hatte 
der Sterbende ihr mit einem fchmerzlichen Lächeln um die bläffer und immer 
bläfjer werdenden Lippen gewillfahrt. 

Als aber Pater Vigilio zu Ende war und fich zurüdziehen wollte, bemäch- 
tigte fi) Giufeppes eine Unruhe, welche zu verraten fchien, daß er, von ganz 
andern Gedanken erfüllt, den troftjpendenden Zufpruch des Greifes faum wirk 
li in fi aufgenommen hatte. 

Dleibt, ehrwürdiger Vater, bat Fiorita, und zu Giufeppe gewandt, jagte 
fie: Pater Vigilio harrt bei uns aus. Er liebt dich ja auch, armer Freund. 





Um eine Perle. 977 


Er Hat, wie oft! meine Thränen fließen fehen. Er weiß, wie gut du bift. 
Ich habe vor ihm, vor meinem treuen Beichtvater, fein Geheimnis. Setzt Euch, 
Pater Vigilio, jept Euch dort mit dem Blicke nach) dem ſchönen Sonnenjcheine 
draußen. Ich könnte, wenn Ihr nicht in der Nähe bliebet, die legten Augen: 
blide meines Geliebten doch noch mit ungeftümen Sammer erfüllen — 

Sie jtockte, denn während fie jo durch Neden fich im Zaume zu halten 
juchte, hatte Giuſeppe die Hand des Greifes ergriffen, und jeßt fuchte er diefe 
alte zitternde Hand, wie einen Segensſpruch von ihr heifchend, auf die in einander 
feſt verjchlungenen beiden Hände zu drüden, auf die Hände Giufeppes und 
Fioritas. 

Die Tochter Marcello Buonacolfis erblaßte. Sie erriet Giuſeppes Ge— 
danfen: der Segen der Kirche jollte fie dem Geliebten verbinden, das Piel 
ihres und feines ganzen Wünſchens und Schnens, es follten im Augenblide des 
Zuſammenbruchs alle ihre und feine irdiichen Hoffnungen erreicht werden. 

Giuſeppe, jtotterte fie, eingedenf ihres Vaters, verjtche ich dich recht? 

Er gab feine Antwort. 

Ehrwürdiger Vater, wandte fie fich flehenden Tones zu dem Pater, bes 
ratet ung! Darf ich die Kindespflicht jo unerhört verlegen? Wird mein Vater 
es überleben? Das Bündnis einer Buonacolfi und eines Gonzaga! An dem 
Tage, wo ich dich, Geliebter, zum erjtenmale ſah, Hatte furz zuvor mein Vater 
mir dad Geburtshaus der armen Giulia Cappuletti mit bitterböjen Abmahnungen 
gezeigt. Es war, als ahnte er, was ihm bevorjtand, und mir, die nie aud) 
jelbjt nur deinen Schatten an der Wand gejehen hatte, mir jchoß der Gedanke 
angjtvoll durch den Sinn: wenn mein Herz einmal zu Worte fommt, wird mein 
Bater nicht Trauerfleider anlegen müfjen wie der alte Cappuletti? 

Sie preßte, von ihren Gefühlen überwältigt, ihre Lippen auf die feſt in 
der ihren ruhende Hand Ginfeppes; aber dann, erjchredt von dem Gedanken, 
irgend ein Opfer zu jchwer gefunden zu haben, um es ihm zu bringen, ver: 
wehrte fie dem Pater, welcher eben mit abratender Geberde das Wort nehmen 
wollte, e3 zu thun. Nein, nein, rief fie, antwortet nicht, gebt mir nicht Recht! 
Die Wunde, die dort todbringend aufgebrochen ift, mein Vater hat fie ja ge- 
fchlagen. Ach, ich Arme kann fie nicht jchließen! Aber Balfam vermag ich 
hinein zu thun. Verzeihe mein Zögern, Geliebter. Draußen rollt der Donner. 
Ruft er dich ab? Biſt dur noch bei mir? Hurtig, Hurtig, Bater Vigilio, ſegnet 
unſern Bund! Hier find unjre Hände — jprechet und zujammen! Lafjet alle 
überflüffigen Formeln! Hier find unfre Hände! Unlösbar! Unlösbar! 

Sie warf ſich fchluchzend an Giufeppes Brut. 

Draußen rollte der Donner. Die Sonne hatte ſich Hinter jchwarzen 
Wetterwolken verborgen. Es war faft finfter geworden, nur das bläuliche 
Licht der zuckenden Blige Teuchtete ind Zimmer hinein. Raufchend ging ein 


wolfenbruchartiger Regen nieder. 
@renzboten 111. 1885. 48 


878 Um eine Perle, 





Der Sturm der Elemente hätte in diefem Augenblide jedes Wort übertäuben 
müfjen ; e8 war, al3 wollte der Himmel jelbit nicht, daß die Tochter um ihrer 
Liebe willen ſich ihrer Kindespflichten jo weit über alles Maß hinausentjchlage. 

Pater Vigilio, mit feinem Herzen hüben wie drüben, flehte im ftillen zur 
Mutter Gottes, fie möge ihm eingeben, was er thun jolle. 

Die römische Kirche hat nie durch ein „allgemeines“ Geje die Giltigfeit 
der Ehe förmlich an die priefterliche Einſegnung gefnüpft; die letztere wird feit 
dem Jahre 1215 für nötig erflärt und es wird an ihr feitgehalten, doch daneben 
hat fich, wenn auch nicht im Bereich der Sitte und des Herfommens, der Grund: 
fat erhalten, daß ſchon die beiderjeitigen Stonjenje genügen, daß aljo eine jo- 
genannte Gewiſſensehe eine wirkliche Ehe ijt, vorausgeſetzt, e8 ftehen ihr nicht 
andre aus den Landesgejegen oder aus dem kanoniſchen Rechte abzuleitende 
Hinderniffe im Wege, nahe Blutsverwandtichaft, Slaubensverjchiedenheit, Paten— 
und Täuflingsverhältnis und ähnliches. 

Pater Bigilio hätte am liebjten den firchlichen Segen, auf Grund jenes 
noch immer beftehenden Mangels eines darüber beftimmenden allgemeinen Kirchen: 
gejeges, als eine ja zur Not entbehrliche Zeremonie erklärt und daraufhin fich 
von der ihm abverlangten Leiftung freigemadht. 

Aber es widerjtrebte ihm doch, ſich auf diefe unpriefterliche Weiſe aus der 
Klemme zu bringen. Ihm fiel ein andres Ausfunftsmittel ein. E3 war, wie 
in den meiſten Orten Italiens, jo auch in Mantua die Gegenwart zweier Zeugen 
bei jeder Trauungszeremonie üblich; gegen dies Herfommen wenigitens brauchte 
er nicht zu verftoßen. Während der Sturm der Elemente nachzulaſſen begann, 
wendete der Pater demnach jeinen Bli nach der Thür, wo der Mönch ftand. 

Dort ſteht der eine Zeuge, fagte er, wenn Ihr denn ernftlich dabei be- 
harrt, liebe Kinder, Euerm Bunde noch die Firchliche Weihe geben zu laſſen. 
Aber die Wahrheit, jo heißt es im Volksmunde und fo ift es gutes Herkommen, 
wird nur aus ziweier Zeugen Rede fund. Wo ijt der Zweite? Gehe einen 
zweiten Zeugen zu holen, Bruder, befahl er, als Fiorita, getvohnt, in kirchlichen 
Fragen die Autorität des Paters als Geſetz gelten zu lafjen, mit betrübter Miene 
Ichwieg. Aber, ehrwürdiger Vater, wie könnte ich! erhob der Mönch befcheidnen 
Einwand, ich jagte Euch ja, mir ift es auf die Seele gebunden, gegen niemand 
ein Wort über das Dafein dieſes Mannes verlauten zu laffen, Ihr wolltet 
ihm, als einem Sterbenden, den Troſt unfrer heiligen Kirche jpenden. Sch 
zittre, daß ich, indem ich Euch dazu hierher geleitete, ſchon meine Befugnis 
überjchritt. Laßt mich aber auf diefem abjchüffigen Wege nicht weitergehen. Ich 
möchte mein Gewijjen nicht belaften — es giebt auf Erden nichts ſchlimmeres —, 
non si dä al mondo cosa peggiore! 

Du haft Recht, ftimmte Pater Vigilio verlegnen Tones bei, denn er Hätte 
e3 gern allen vecht gemacht, dem Liebespaar, dem alten Marcello und nicht 
minder dem guten Kloſterbruder. 


Um eine Perle, 379 





Giuſeppes Atem wurde jchwächer — Fiorita bemerfte es. Und alfo wäre 
mir's wirklich nicht vergönnt, dich meinen Gatten zu nennen! ſchluchzte fie. 

Aus dem Hintergrunde des Zimmers fang es tonlos: Hier ift der zweite 
Beuge. 

Das jchwarze, Schlangenartige Lodengeringel der Neapolitanerin wurde über 
dem Walde von DBlattpflanzen fichtbar, welchen Antonio Maria als angeblicher 
Schloßgärtner dort zunächjt des legten FFenfters im Laufe der Schmerzenswochen 
Giuſeppes zufammengetragen hatte. 

Langjam trat fie näher. Sie war in jenen Verſteck entwichen, als der 
Minimi-Mönch, wie er es täglich that, fich durch das fünfmalige langſame, 
bei dieſen Ordensbrüdern übliche Klopfen an der Thür des Kranfenzimmers zu 
feinem Erbauungsdienfte gemeldet hatte, Da er fich danır, nachdem ihm der 
hoffnungsloſe Zuſtand des Gefangnen augenfällig geworden war, ohne Mufent- 
halt wieder entfernt hatte, war fie leiſe auf ihren Poſten am Bette zurüdgefehrt, 
beglüct, daß ihr das Schickſal vergönne, ihm den legten Liebesdienft zu er 
weijen. Aber von neuem hatte das Nahen eiliger Schritte fie in ihren Vers 
Steck zurückgeſcheucht. Und jeitdem war fie mit finftrer Stirn im Hintergrunde 
des Zimmers, den ſtarren Blick auf den Boden gerichtet, von allen Furien der 
Eiferfucht gemartert, mit wider Willen laujchendem Ohr Zeuge gewejen der be- 
wegten Szene, die fi) um das Lager des Sterbenden abjpielte — ein Auftritt, 
bei dem in der leidenschaftlich erregten Phantafie der Tragödin fih Thatſäch— 
liches und einjt von ihr jelbit Gefpieltes allmählich jo unentwirrbar vermengten, 
daß fie fich wie ihres Stichworts in der Kuliſſe harrend vorfam. War jener 
Schmerzensichrei Fioritad ihr Stichwort gewejen? Die Meduja in ihr hatte 
nein! gerufen, nein und nochmals nein! feine Gattin wenigſtens ſoll fie nicht 
werden! Aber die Neapolitanerin war nicht einzig Medufa, fie war auch Gia— 
cinta, deren Herz von großmütigen Wallungen erfüllt war, und fo hatte fie 
die Worte gefprochen: Hier ift der zweite Zeuge! 

Seht jtand fie gejenkten Blides zu Häupten des Bettes, an der Seite, von 
welcher fie herangefommen war. Auf der andern fuiete noch immer Fiorita, 
von der fo plöglich im Zimmer aufgetauchten Erſcheinung erjchredt und doch 
auch Fich nicht Zeit zum Nachdenten gönnend; hinter der Knieenden ſtand, zur 
Zeugenschaft nunmehr fügſam herangetreten, der Minimi- Mönch; neben der 
Neapolitanerin Pater Vigilio. 

Er hatte beim Vernehmen jener tonlofen Worte fich raſch befreuzt, denn 
fein alter Kopf war fchon während der Donnerfchläge und der bläulich das 
Zimmer erhellenden Blige von der Erinnerung an arge Spuferfebnijje heim— 
gejucht worden. Aber feines Amtes zu warten, lag ihm denn doch vor allem 
am Herzen, und fo z0g er ohne weiteres Zögern jein Brevier hervor und jagte 
eine der Gebetformeln her, welche jedem Trauungsakt voraufzugehen pflegen. 

Er hatte die kürzeſte gewählt. 


380 Um eine Perle. 


Mit wenigen Worten rief fie die Bichtigfeit eines 3 für das ganze — 
geſchloſſenen Bundes den Verlobten ins Gedächtnis zurück. 

Fürs ganze Leben! 

Fioritas Thränen floſſen. 

Es folgte die Frage an Giuſeppe Gonzaga, an Fiorita Buonagcolſi. 

Er nickte, ſie hingegen rief laut: Ja, Geliebter, die Deine, die Deine in 
alle Ewigkeit! 

Wenige Minuten darauf ſchloſſen ſich die Augen Giuſeppe Gonzagas, und 
ſein Herz hörte auf zu ſchlagen. 


Fünfundvierzigſtes Kapitel. 


Mantua Hatte ſich beruhigt. Die Pockenſeuche war in wenigen Wochen 
überjtanden worden. Wieder ertönten abends die länge der Mandolinen und 
der Guitarren. Die Weinlefe hatte reichlichen Ertrag gegeben, da3 Maisbrot 
war im Preiſe gefallen. Die Zeit der drüdenden Hitze hatte ſich von klaren, 
fühlen Herbittagen ablöjen laſſen. 

Im Palazzo Ducale refidirte ein neuer Herzog, Herzog Fernando. Man 
hatte unter dem furzen Regiment feines Vorgängers manches Unerfreuliche erlebt, 
war wegen feines mißtrauischen, menſchenſcheuen Wejens nicht dazu gelangt, ihn 
lich zu gewinnen, und hatte feinen umd jeined arınen Söhnchens Tod raſch 
verjchmerzt, zumal da das nun jtadtfundig gewordne tragiiche Ende Giuſeppe 
Gonzagas dicke Herzen rührte und ihn im einer Art Verklärungslicht er: 
jcheinen ließ. 

AS früherer Johanniterordensprior war Herzog Fernando denn auch dem 
allgemeinen Wunſche, die Beitattung feines Vetters mit der einem Ordengritter 
gebührenden Pracht vollzogen zu jehen, nachgefommen. 

Manta hatte ſich außerdem belehren laffen, daß die Ernennung des greifen 
Primaticcio eine der vielen Übereilungen des verftorbnen Herzogs geweſen fei, 
für welche mehr feine Kränklichkeit als fein Kopf verantivortlich gemacht werden 
müjje, und man erzählte fich, daß die durch den jegigen Herzog berufnen neuen 
Näte durch große päpftliche Schenkungen in den Stand gefegt werden würden, 
Meantua zu einer Univerfitätsjtadt zu machen, ein Vorhaben, das befanntlich 
zur Verwirklichung gelangte, wenn auch erſt mehr als ein Jahrzehnt jpäter 
und mit gleichzeitigem Einzuge der Jejuiten in die Räume der neuen Hochjchule. 

Mantua war joldherart wieder guter Dinge. 

Anders jah es im Palazzo Paſſerino aus, 

Der alte Marcello hatte zwar vorausgejehen, daß, wenn jeine Tochter ihren 
Geliebten noch am Leben finden werde, fie nicht anders denn als die Gattin 
Giuſeppe Gonzagas ihrem Vater wieder gegenübertreten fünne, und jo war 


Um eine Perle. 381 





Fioritas Bejorgnis, diefer ihr nad) ſchwerem Kampfe gethaner Schritt werde 
das Leben ihres Baters gefährden, unbegründet gewejen. Aber der alte Marcello 
grollte, und viele Tage verftrichen, che er nur wieder eine Handreichung von 
ihr annahm. 

Sie ging in Trauerfleidern zur Meffe, fie lebte ganz in der Erinnerung 
an ihren Gatten; der neue Herzog hatte alles, was aus dem Sterbezimmer 
feines unglüdlichen Vetters für ihr Herz einen Wert haben fonnte, mit gütigen, 
teilnehmenden Worten zu ihrer Verfügung ftellen laſſen; die jömtlichen Blatt: 
pflanzen und Blumenftöde, jogar einige der als Giufeppes Boten ausgejandt 
gewejenen Tauben waren ihr überantwortet worden, umgaben fie, täufchten fie 
in einfamen Stunden mit dem Gefühl feiner Gegenwart; Eufemia, Zazzaro, der 
alte Pater Bigilio, wer immer nur mit ihr in Berührung fam, alle bemühten 
fich, indem fie des Verftorbnen nicht allein mit Worten des Deitgefühls, nein 
auc als des Gatten Fioritas gedachten, ihr wohlzuthun, dem Bunde, objchon 
er für das Erdenleben ohne Dauer gewejen war, fein volles Recht widerfahren 
zu laſſen. Nur Marcello Buonacolfi glaubte einer Fiorita Gonzaga fein 
tröftendes Vaterwort jagen, glaubte nicht ihr verzeihen zu dürfen. 

Allmählich gelang es ihr wenigjtens, in ihm das Bedürfnis nach ihrer 
Nähe wieder zu enveden. Lazzaro hatte bis dahin fie erfegen müſſen, aber er 
war faſt jo alt wie fein Herr ſelbſt, und wenn der leßtere über das jchlechte 
Gedächtnis und über die Zangfamkeit des Diener jchmälte, jo mußte er fich 
von dieſem jagen laffen, daß er, Lazzaro, fünfzig Dienftjahre auf den Schultern 
habe, und daß Diener gerade jo gut wie ihre Herren mit den Jahren ftumpf und 
gebrechlic; würden — jo fei es einmal der Wille Gottes. 

Aus Heinen Handreihungen, die folcherart Fiorita nach und nach zu Leisten 
Gelegenheit fand, wuchs dann im Laufe der Zeit in dem mürriſchen Greiſe wieder 
das Begehren nach etwas anderm als blogem Dienerumgang hervor, und endlich 
nahm er, um eine äußere Nötigung dafür vorzufchügen, zu der Ausrede, ihm 
wolle fein Augenglas mehr genügen, feine Zuflucht, ſodaß Fiorita ihm in feine 
Bibliothek folgen und ihm dort von nun an täglich aus feinen Lieblingsfolianten, 
den alten Chroniken, vorlejen durfte, zu viel größerer innerer Befriedigung 
Marcellos al3 vordem, denn ihr Berjtändnis war ein den Kern der Dinge leichter 
erfafjendes geworden, fie war bei der Sache, während er früher Mühe gehabt 
hatte, jie bei irgendetwas mehr als vorübergehend feitzuhalten. 

E3 war mit dieſer Dienftleiftung ein fchiwerer Drud von ihr genommen, 
denn Hatte das Unglück fie auch gejchult und abgehärtet, fie litt doch bisher 
täglich bei dem Gedanken, das Necht, ihrem Vater etwas zu fein, verjcherzt zu 
haben — o wie jchlecht glüclicherweife traf das Wort verjcherzt Hier zu! — 
und jo blühte fie unter dem verjöhnlicher werdenden Blide des Greijes 
wie eine verabfäumt geweſene Blume, die eine gütige Hand begoß, langjam 
wieder auf, 


382 Um eine Perle. 





Nie war über Giufeppes Heimgang anders als durch den Pater PVigilio 
zu dem Vater FFioritad geredet worden. Der alte Pater hatte jeine Zaghaftig— 
Feit angefichtS der wuchtigen Schidjalsjchläge, von denen Hoc, wie Niedrig in 
Mantıa Heimgefucht worden war, überwunden, und wenn er in feinen Rede— 
gefechten mit Marcello von der Verteidigung feines Beichtkindes nach langem 
Mortitreite auch Feine andern Früchte geerntet hatte, als dag Marcello ihm 
endlich jchweigendes Hinnehmen des nun einmal nicht ungejchehen zu machenden 
gelobte, fo war die frühere vermeinte Überlegenheit Marcellos über den fo gern 
alles friedlich ausgleichenden Pater doch ins Wanken gebracht, und Marcello 
hatte jeitdem nicht anders als durch ſtummes rollen feiner verbitterten Stimmung 
Ausdrud zu geben gewagt. 

Aber jchweigendes Hinnehmen ift für manche Naturen etwas auf die Länge 
ımerträgliches, und der alte Feuerkopf Marcello gehörte zu diefen Naturen. 

Nun Hatte er schon gleich nach feiner Einferferung, einen übeln Ausgang 
feines Prozeſſes vorausfehend, fein Haus zu bejtellen begonnen, und die Damals 
von ihm zu Papier gebrachten Verfügungen waren bisher, in jenem jelben un— 
leferlichen Zujtande gelafjen, in einem der Folianten aufgehoben worden; mit 
ihnen zugleich ein Verzeichnis des Familienſchmuckes der Buonacolji. 

Fiorita hatte nicht bemerkt, was die Bapiere enthielten, als fie diejelben 
eines Tages, um in der Lektüre fortfahren zu fünnen, auf die Seite legte, denn 
e3 handelte fich um eine für die Bnonacolji-Dynaftie wichtige Stelle der Chronif, 
um den im Jahre 1302 von Guido Buonacolfi, benannt Bottigella, begonnenen 
Bau des Palazzo Ducale, und Marcello begleitete jedes Wort des Chroniſten 
mit einem mürriſchſtolzen Cosi &, fo ift es. 

Aber auf einmal machte er ihr mit düfterm Stirnrunzeln ein Zeichen, es 
jei für heute genug. 

Sein Blid war auf jenes Verzeichnis gefallen, das Verzeichnis des Fami— 
lienſchmuckes, und indem er es in die Hand nahm, hefteten fich feine Blicke auf 
eine Zeile, welche er nach der Rüdkehr aus Verona dem Regijter Hinzugefügt 
hatte, eine Zeile, in welcher über die Herkunft und den Kaufpreis der dort ein— 
gehandelten Perle das nähere aufgezeichnet worden war. 

Fioritas Auge war feinem Blicke gefolgt, ihre Wangen röteten ſich. 

Auch vor ihrem Geifte ſtand plößlich alles, was jener Berlenhandel, was 
jene in Verona verlebten Stunden fir fie bedeutete. 

Ihr ward beflommen zumute, fie preßte die Hand aufs Herz und erhob 
jich, um das Zimmer zu verlafien. 

Bleib! donnerte Marcello, und feine Stirnader ſchwoll, als wolle jie zer: 
ipringen. Um jener Berle willen, fuhr er mit bebender Stimme fort, wanfe 
ich mit gebrocdhnem Herzen dem Grabe zu; um jener Perle willen wurde das 
Wappen der Buonacolfi in den Staub getreten; um jener Perle willen bin ich 
ohne Kind, jehe ich ein Weſen an meiner Seite, da3 auf den Namen Gonzaga 








383 





Bordenone, der dur nur Ehrenvolles von meinem Gejchlechte zu berichten wußteft, 
ſteige aus deiner Gruft empor, trage nach, was dieſe Wochen an Schimpf und 
Schande auf mein greifes Haupt brachten, und dann jchreibe ans Ende deines 
Werkes die Worte: 

Um eine Berle! um eine Perle! 

Fiorita war weiß geworden wie die Wand. Ihr fchwindelte, alles bewegte 
fich vor ihr im Kreiſe, fie hielt fich nur aufrecht, indem fie die Lehne ihres 
Stuhles umklamınerte. 

Der Greis jah es, wollte aufſtehen, um ihr beizufpringen, unterdrückte aber 
diefe Regung in demjelben Augenblide und fegte den Folianten aus der Hand, als 
jei nun ausgejprochen und abgethan, was fich einmal hatte Luft machen müffen, 
was nicht um jenes VBerjprechens des ſchweigenden Hinnehmens willen unter 
drückt werden konnte, (Fortfegung folgt.) 





Siteratur. 


Der Kampf um den Befib. Bon Dr. 5.2. Chleborad. Wien, Manzfcher Verlag, 1885. 


Der Verfaſſer hat fein Bud), von dem hier eine deutfche Ausgabe vorliegt, 
bereit3 im Jahre 1884 in dev Sprache feiner Landsleute erſcheinen laffen; ob dies 
mähriſch oder tichehifch ift, vermag Referent nicht zu beurteilen, da er feiner diefer 
beiden Weltſprachen mächtig ift. Der Verlagsort der Abhandlung war Brünn, 
der Berfaffer jcheint aber auc) viel in Böhmen gelebt zu haben. 

Der Inhalt des Buches berührt und im allgemeinen foympathifch; denn es 
beruht darauf, daß die joziale Frage nur durch das foziale Königtum gelöft werden 
fünne. Der Kampf um den Beſitz ijt etwas dem Menjchen angeborenes, der 
Menſch wird zu demfelben durch die Natur und durch feine Mitmenjchen genötigt, 
aber die bisherige Entwidlung dieſes Kampfes hat zu der ungleichen Verteilung 
des Beſitzes, zu den wenigen Befigenden und zu der Menge Befiklofer führen 
müſſen. Der Verfaſſer rät den Beliglofen, fid) mit der Monarchie zu verbinden 
und infolge diefer Allianz die erlangte Macht zu einer Umgeftaltung der fozialen 
Zuftände zu benußen. Dieſe Umformung findet der Verfaffetteil3 in der Defen- 
five der Befiglojen, teil in der Dffenfive. Die erftere ruht mehr noch auf poli- 
tiſchem als auf ſozialem Gebiete, denn zu ihr wird gerechnet: Förderung des Aſſo— 
ziationsweſens, freies Verfammlungs:, Vereins und Petitionsrecht, fein Vermögens: 
wahlzenjus, obligatorifcher Unterricht, Reform der Steuergefeßgebung mit progreffiver 
Einfommenfteuer unter Freilaſſung gewiſſer Eriftenzminima, Beſchränkung der beute- 
ſüchtigen Konkurrenz, Schußzölle u. dergl. m. Für die Dffenfive, d. h. für die 
Erfämpfung neuer öfonomijcher Verfaflungsformen, faßt der Verfafjer alle Vor— 
ſchläge zufammen, die ſonſt von einzelnen als Löſung der fozialen Frage in An: 
vegung gebracht worden find. Dieſer Gedanke ift unzweifelhaft richtig, denn die 
foziale Frage umfaßt das geſamte gefellihaftlihe und mirtfchaftliche Leben und muß - 
ſich deshalb auf alle Beziehungen der Menfchen in diefer Nichtung erftreden. Be: 


* 


384 £iteratur. 





fürwortet wird daher fowohl die Ermöglichung eines Sondereigentums, als für ge: 
wife Fälle die Herftellung eines Kollektiveigentums zur Förderung der ald zweck— 
mäßig anerkannten gemeinjchaftlihen Urbeit. Die Ermöglichung eines Sonderbefites 
für die Befiglofen fieht der Verfafjer in der Kolonijation, in dem Uebergange von 
Paht und Miete zum Eigentum, in der Gemeindehilfe für obdachloſe Arbeiter, in 
der Einführung eines Grundbefigmarimums und bezüglich der Anduftrie in dem 
fogenannten Partnerſhipſyſtem. Das Kollektiveigentum wird fich namentlich bei den 
Transportmitteln, Wafferleitungen, Kanälen u. |. w. bewähren. Zur Erhaltung des 
Erworbenen kommt endlich in betradht: ein Eriftenzminimum des Befißes, aud) 
des Grundbefiges, durd Schaffung von Heimftätten nad) amerikaniſchem Mufter; 
ein Bindmarimum und die Bmwangdverfiherung gegen Krankheit, Unfälle und In— 
validität. Hierbei will jedoch der Verfaſſer keine ausſchließliche ſtaatliche Verficherung, 
fondern auch Privatgejellichaften zulafjen. 

Man Sieht, das Programm ift weitihichtig, und es hätte fich deshalb em- 
pfohlen, wenn der Verfaſſer betont hätte, daß die Erfüllung diefes Programınd 
nicht das Werk einer Generation fein könne. Den Mangel dieſes Gefichtspunftes 
muß man als eine Gefahr bezeichnen. Denn die Aufitellung eines ſolchen Pro- 
gramms enthält etwas Agitatoriſches. Wer nur gejehen hat, welche Beit und Ar- 
beitsfraft im deutſchen Reiche die Einführung der Krankheits- und Unjallverfiherung 
der Arbeiter in Anſpruch genommen hat und noch nimmt, der muß fich feloft 
fagen, daß nicht auf allen Punkten, fondern nur fchrittweife vorgegangen werden fann. 

Freilich hält der Verfaſſer ald nationaler Slawe es nicht einmal der Mühe 
wert, auf die fozialen Reformen im deutjchen Reihe aud nur einen Blid zu 
werfen. Und doch Hätte er darauf hinweiſen müfjen, daß viele von ihm als De- 
fenfivmittel gemachten Borjchläge im deutfchen Reiche erreiht und angeftrebt find, 
daß mit der Ausführung feiner Offenfivvorjchläge das deutſche Reich den erſten 
großen Schritt gethan, daß jogar die Heimftätte ſchon im preußifchen Abgeordneten- 
hauſe ihren Verteidiger gefunden hat. Für den Slawen jcheint aber das deutjche 
Reich nicht zu erijtiven; ftatt deſſen erwähnt er die ſſawiſche Grundbeſitzgemeinſchaft 
in einer Breite, ald ob davon das Heil der Welt abhinge. Als hervorragende 
Monarchen werden neben Maria Therefia und Franz Joſeph I. nur noch die ruf: 
ſiſchen Kaiſer Alerander II. und Alexander III. erwähnt. Kaifer Wilhelm und 
deſſen hohe Botihaft werden von dem Slawen nicht berührt, und der Name de& 
Fürften Bismarck findet fi) — wenn wir genau gelefen haben — in dem ganzen 
Buche nicht einmal. Wenn wir die hier befonders rügen, fo geſchieht dies nicht 
aus Chauvinismus — wir wollen aud) die Slawen nad) ihrer Façon felig werden 
fafjen —, fondern um zu zeigen, daß ein derartige Verfahren der Objektivität 
entbehrt, welche bisher immer das Beiden eines wiſſenſchaftlichen Werkes war. Auch 
wenn die Slawen von den reformatoriſch-ſozialen Plänen des deutichen Reiches keine 
Notiz nehmen, werden diefe Pläne für alle Zukunft fowohl innerhalb wie außer: 
halb des Neiches maßgebend bleiben, und wenn Graf Belcredi, dem der Verfafjer 
fein Buch widmet, längft vergefjen fein wird, wird auch noch nad) Aeonen Fürft 
Bismard, der ſchöpferiſche ſoziale Geift, in dankbarer Erinnerung aller Schwächern 
— feien e8 Deutjche oder Slawen — fortleben. 





Für die Redaktion verantwortlid: Johannes Grunom in Leipzig. 
Verlag von Fr. Wild. Grunow in Leipzig — Drud von Carl Marquart im Leipzig. 





Wahlen und Parteien in Frankreich. 


zug ccaume Zeit haben wir nichts wejentliches über Frankreich zu ſagen 
gehabt und deshalb wohlzuthun geglaubt, ganz darüber zu ſchweigen. 
Jetzt aber jcheint e8 an der Zeit zu fein, des Nachbarlandes, das 





En nieder einmal zu gedenken. Bor furzem hat das franzöfiiche 
Unterhaus, die Kammer der Deputirten, daS Leben, welches ihr die Mandate der 
Wähler gaben, beendet, und im der erjten Woche des Dftober wird das Vol 
oder werden, wie man fich jachgemäßer ausdrüdt, die Barteien neue Vertreter 
nach Paris zu jenden haben. Von ſelbſt ergiebt fich für den Beobachter in 
der Zwiſchenzeit ein Nücdblid auf die Thätigfeit der bisherigen Kammer, ein 
Hinblid auf den Charakter der Parteien, die in und außer ihr Politif machen 
oder in Politik machen, und ein Ausblick auf die Zukunft der gejeßgebenden 
Gewalt, zunächſt auf die Wahrjcheinlichfeiten, die in betreff der neuen Wahlen 
obwalten, und auf die Gejtaltungen, welche neben diefen Wahrjcheinlichkeiten 
möglich find. 

Hinfichtlich unfrer erften Aufgabe, des Nefrologes auf das heimgegangne 
Abgeordnetenhaus, dürfen wir uns kurz faffen; denn es läßt ſich ihm eben nicht 
viel nachrühmen. Es verjprad) oder manche Leute verjprachen fich von ihm 
große Dinge, und es hat davon wenig gehalten oder erfüllt. Gambetta und 
jeine Partei jahen in der Wahl diefer Kammer einen Sieg und hofften von 
ihr eine gründliche Umbildung der politiichen Einrichtungen und Zuſtände 
Frankreichs, Verwirklichung des Parteiideals nach den verjchiedenften Richtungen 
hin und Befeftigung der Republik, wie fie diefelbe Haben wollten, über alle 
Bweifel und Anfechtungen hinaus, Befeftigung der Republif ſtrebſamer Advokaten, 


Beitungsfchreiber und Geldleute. Das letzte ift bis zu einem gewiffen Maße — nicht 
Grenzboten III. 1885. " 49 


386 Wahlen und Parteien in Frankreich. 





zu unferm Schaden — gelungen. Indes wuchjen die Bäume der Opportunijten 
nicht in den Himmel, und ihre Partei, welche zwar in der Sammer die jtärkite 
war und blieb, aber mit ihren Abfichten vielfach auf Widerftand ſtieß und ſelbſt 
nicht immer einig war, mußte ſich mit ihren Leistungen in bejcheidnen Grenzen 
halten. Es war das gut für Frankreich, da es jo nicht im hHeillofe Verwirrung 
hineingeiteuert wurde, und gut für die Welt, weil jo die Republik beftehen blieb, 
welche, wie die Dinge liegen, die für die Nachbarn der Franzojen bequemite 
Lebensform diejer unruhigen, chrgeizigen und begehrlichen Nation ijt. ragen 
wir, was die jeht zu ihren Penaten heimgegangne Kammer von den Aufgaben, 
welche fie nad) Gambettas Plan ausführen jollte, zuftande gebracht hat, jo 
finden wir zunächit, daß jie in Verbindung mit dem Senate den Berfailler 
Kongreß abhielt, bei dem es ein paarmal zu jehr unerbaulichen Auftritten kam, 
und bei dem man gewiffe Abänderungen der gejeglichen Vorſchriften für die 
Wahlen zum Senate vereinbarte, welche nur Doktrinäre interejfiren fonnten und 
von der herrichenden Partei der Kammer nur betrieben wurden, weil man jie 
in Wahlreden verjprochen hatte. Später gab es die von Gambetta auf das 
Programm feiner Unhängerichaft gejette „Reinigung des Richterjtandes,” d. h. 
die Bejeitigung der Perjönlichkeiten in demfelben, die im Verdacht antirepubli- 
kaniſcher Gefinnung ftanden, wobei der Juſtizminiſter Gelegenheit hatte, eine 
Anzahl verdienjtvoller Opportuniften mit einträglichen Stellen zu verjorgen, die 
bei der Partei auch jonjt ein vielbegehrter Artikel fein und oft das eigentliche 
Ziel des gefinnungstüchtigen Eifer bilden jollen, den deren Mitglieder zur 
Schau tragen. Drei Jahre fang verhandelte man Reformvorichläge in bezug 
auf die Heeredorganijation, aber nur ein Geſetz über die Feltungsartillerie 
gelangte zur Annahme. Ebendasjelbe war mit dem Gejeßentwurfe über die De— 
portation rvückälliger Verbrecher der Fall, nur weiß num niemand, wie man 
davon Gebrauch machen joll, weil die Kammer unterlich, die dazu erforderlichen 
Kredite zu bewilligen. In Sachen der Kolonialpolitik zeigte man dagegen die 
größte FFreigebigkeit und gewährte der Regierung Millionen auf Millionen, 
jodaß, wenn Tonking damit nicht zu teuer erfauft fein jollte, wie manche 
behaupten, die Hammer in diefer Hinficht Lob verdienen würde. Schließlich 
iſt von den pofitiven Leijtungen derjelben noch das neue Wahlgeſetz zu ere 
wähnen, das zur Hinterlaffenichaft Gambettas gehörte und von dem man die 
gute Wirkung hofft, daß die Deputirten fih in Zukunft nicht jo jehr in die 
Aufgaben der Berwaltung einmengen werden wie in den legten Jahren, wo 
diefe Gewohnheit oft ein unerträgliches Hemmnis war und das Regieren zu 
einem jehr umfichern Gejchäfte machte. Die Kammer hat mit ihr nicht weniger 
als ein halbes Dutzend Minifterien zur Abdankung gezwungen: erjt Ferrys, 
dann Gambettas, darauf Freycinets, Dueleres, Fallieres und nochmals Ferrys 
Aominiftration. Unter dem Einfluffe der Energie und der rhetorifchen Künste 
des Mannes von Cahors gewählt, beeilte fich die Mehrheit der Deputirten bei 


Wahlen und Parteien in Sranfreich. 387 





ihrem Bufanmentritt, dem „großen Miniſterium,“ das jener aus einen ver- 
trautejten Jüngern zufammengejegt hatte, feierlich ihren Segen zu erteilen. 
Aber die Herrlichkeit währte nur wenige Wochen. Gambetta hatte fich, von 
den Wolfen des Weihrauchs verblendet, der unabläjfig vor ihm angezündet wurde, 
Täuſchungen über feine Macht Hingegeben und überjehen, daß außer den Herren, 
die er zur Mitregierung berief, andre dawaren, die auch etwas zu bedeuten 
überzeugt waren und auch etwas werden wollten. Er glaubte, als er mit einem 
ganzen Arm voll Reformpläne einfchneidendjter Art die Tribiine bejtieg, der 
Unterftügung der gejamten republifanifchen Seite des Abgeordnetenhaufes gewiß 
zu fein, und Hatte in Wirklichkeit, als eS zur Probe feiner Rechnung fam, nur 
einen mäßigen Teil jener Seite um fi. Die andern Mitglieder der Kammer 
jammelten fich in gegnerifche Gruppen, und diefe jchloffen fich dann allmählich) zu 
gemeinfamem Widerjtande gegen feine Abfichten zufammen — eine Haltung, die im 
Elyjee, wo man das felbjtbewußte und gebieteriche Weſen des Premiers ſelbſt— 
verjtändlich nicht mit Befriedigung empfand und feinen Ehrgeiz zu fürchten Hatte, 
mit ftillem Wohlgefallen betrachtet wurde. Die Oppofition war in ihren Zielen 
noch unklar, und ihr Zujammenhang war noch nicht feit geworden, als Gam- 
betta den zweiten Mißgriff beging, indem er fich mit Ungeftüm auf die noch 
ſchwankende Mafje warf und fie zwingen wollte, vor ihm die Waffen zu jtreden. 
Wie mit einem Machtipruche mutete ev dem Gegnern eine dreifache Revision, 
eine Reform des Senates, der PBräfidentichaft und der Kammer ſelbſt zu, bei 
welcher jein perjönlicher Wille die Grenze bilden follte, und das war zu viel 
auf einmal verlangt und gewagt. Er begegnete einer Weigerung, blieb in der 
Minorität und muhte vom Ruder zurüdtreten. Mit etwas mehr Geduld 
hätte er die Oppofition teilen und die eine und die andre Gruppe derjelben 
jeiner Gefolgichaft angliedern fünnen, die allein ſchon zwar nicht die Mehr: 
heit, wohl aber den Schwerpunkt der Verſammlung darjtellte. Aus letzterm 
Grunde war denn auch das Minifterium Freycinet, welches der Präfident dem 
großen Minijterium mit dem furzen Atem folgen ließ, nicht auf die Dauer 
lebensfähig, und zwar fam dazu, daß eins der Glieder desielben, Ferry, fich 
insgeheim den Gambettiften zuneigte und für deren Rückkehr zur Regierung 
wirkte, Dieje Thätigfeit lieg Ferry, als Gambetta ftarb, als gegebnen Führer 
der opportuniftiichen Partei erjcheinen, und nachdem Duclere ein paar Monate 
die Staatsgejchäfte als oberſter Leiter beforgt hatte, gelangte jener auch zum 
Poſten des Premiers, und mit ihm befanden fich die Gambettiften wieder im 
Belize der Gewalt. Als Minister hat Ferry nur das betrieben und ausgeführt, 
was der Rat der Epigonen Gambettas bejchloffen und defjen Organ, Die 
R£epublique Frangaise, empfohlen und gefordert hatte, und da jene Beſchlüſſe 
und Dieje Forderungen immer nach den Grundgedanfen formulirt waren, Die 
Gambetta feiner Schule gewiljermaßen als Erbichaft hinterlaſſen hatte, fo ift 
Ferry als deſſen Tejtamentsvollftreder zu bezeichnen. Er Hat in diefer Eigen- 


388 Wahlen und Parteien in Frankreich. 





ichaft nicht wenig Energie und Talent befundet und namentlich jich als einen 
faltblütigen und zähen Politifer erwiefen, und man fann ihm das Zeugnis 
geben, daß er alles zuftande gebracht hat, was mit diefer Kammer und diejem 
Senate zuftande gebracht werden fonnte, mehr vielleicht als das, was der 
Meifter der Schule bei feiner higigen und ungeduldigen Art an jeiner Stelle 
zu leiten vermocht hätte. Schwach freilich war er infolge der parlamentarifchen 
Verhältniffe immer, und das Minifterium, welches an die Stelle des jeinigen 
trat, iſt nicht jtärfer. Es ift ohne politische Initiative, mehr eine Behörde der 
Liquidation. Briffon denft mehr an den zukünftigen Präfidenten der Republik 
als an feine jegige Stellung al3 Premier, er jtrebt nach Verföhnung der Gegen- 
ſätze, aber es wird ihm ſchwerlich gelingen, die weitere Zerſetzung der oppor: 
tumiftischen Partei zu verhindern, geſchweige denn die Spaltungen zu jchließen, 
welche die Republikaner überhaupt trennen und in fich gegenfeitig befümpfende 
Gruppen abjondern. Er würde damit mehr vermögen als die Natur. 

In der Wahlbewegung, die feit einigen Wochen begonnen hat, jeßten die 
Gambettiiten auf den frühern Meinijterpräfidenten, ihren nunmehrigen Führer, 
große Hoffnungen. Indes hat Ferry dieje bisher nicht zu erfüllen vermocht, 
namentlich war fein Erjcheinen in Lyon, mit dem er den Wahlfeldzug eröffnete, 
von geringem Erfolg. Eine aufgeregte Volksmaſſe empfing ihn bereit3 am 
Bahnhofe mit dem Aufe: „Nieder mit dem Tonkinefen Ferry!” und verfolgte 
ihn mit Schmähungen bis in das Hotel, wo dann feine Wahlrede einem jehr 
entichiednen Widerfpruche begegnete, obwohl fie unleugbare Wahrheiten aus: 
ſprach, wenn es darin hieß, an eine ſoziale Gefahr in Frankreich jei vorderhand 
nicht zu glauben, weil hier dafür fein Boden ſei, wohl aber fünne man injofern 
in Sorge jein, als die unfruchtbare Agitation der radikalen Wühler, der Mon- 
archiſten und der roten Unverföhnlichen imftande fei, die Bildung einer ftarfen 
Negierungsmehrheit zu verhindern und die Möglichkeit herbeizuführen, da ein 
monarchiicher Abenteurer fich der Regierungsgewalt bemächtige. Ein großer 
Teil der franzöfiichen Prefje, darımter auch Organe des maßvollern Republi- 
fanismus, äußerte fich tadelnd über dieje Nede des Exminiſters. Das Journal 
des Debats fand, daß fie aus cinem Programm und einer Borlejung über 
Wahlmoral beftehe, die fich wenig glichen, da das Programm von einem Staats: 
manne, die Vorlejung aber von einem Opportunijten herrühre Der National 
meinte, Ferry, der fonjervativ thue, ohne e3 zu fein, Opportunift ohne Be- 
geijterung jei und fich radifal geberde, ohne überzeugt zu fein, habe damit allen 
feinen frühern Anfichten ind Geficht gejchlagen. Bejonders giftig und heftig 
ging Clemenceaus Justice dem Redner zu Leibe, indem ſie die Politik desjelben 
„eine Bolitif ohne Gedanken und Grundjäge” nennt, die „je nad) der Sachlage 
heute weiß, morgen jchwarz färbt, die es verjtcht, den Nod rajch genug umzu— 
wenden, um durch nichts überrajcht zu werden, und die als einzigem Ideale 
dem augenbliclichen Erfolge nachjagt und zu diefem Zwecke alles opfert, ſelbſt 


Wahlen und Parteien in Frankreich. 389 


die Achtung vor der Wahrheit und die eigne Würde.“ Ferry Hat fich durch 
den Mißerfolg in der radifalen Großjtadt an der Rhone bejtimmen laffen, feine 
Wahlreife, die zunächſt nach Grenoble gehen jollte, nicht fortzujegen und fich 
nad) St. Die in den Vogeſen, feiner Heimat, zurüdzuziehen. Es heißt, er halte 
feine Wiederwahl in Frankreich für zweifelhaft und wolle in Algerien als Kan— 
dDidat auftreten. Auch andre Größen der Partei, Spuller z. B., Nanc, Walded: 
Rouſſeau, Allain-Targe und Martin Feuille, follen keineswegs ficher fein, ihre 
bisherigen Sie in der nächſten Kammer wieder einzunehmen, und die vier eriten 
haben in der That nicht die geringite Ausficht, in den Pariſer Bezirken, die fie 
bis vor furzem vertraten, wiedergewählt zu werden. 

Die Franzofen werden nach neuer Methode wählen: jtatt wie wir, die 
Engländer und fie ſelbſt bis zur legten Wahl einzelne Abgeordnete, von jetzt 
an ganze Gruppen, jo, daß der einzelne Wähler für eine ihm vorgelegte Lifte 
von Kandidaten jtimmt (das „Liftenfkrutinium*). Das Ergebnis diejes Verfahrens 
wird darin bejtehen, daß die Mehrheit in jedem Departement alle Abgeordneten 
für diejen Teil Franfreich8 wählen und die Minderheit ganz unvertreten jein 
wird. Die Unbilligfeit diejes Planes tritt am deutlichjten im Departement der 
Seine zutage, welches achtunddreigig Deputirte in die Sammer jendet. Es 
jchließt eine beträchtliche Anzahl von Konſervativen und nicht wenige gemäßigte 
Republifaner ein, aber die äußerte Linfe gebietet hier über die große Mehrzahl 
der Wähler und wird ihre Lifte durchſetzen, ſodaß im fünftigen franzöſiſchen 
Unterhaufe nicht ein einziger Abgeordneter figen wird, welcher den Reichtum, 
die Bildung und die gereifte Erfahrung von Paris und jeinen Vororten ver- 
tritt. An der Spige jener Lifte wird Clemenceau jtehen, fie wird den Namen 
Nocheforts, des Sournaliften, der ftatt mit Tinte mit Blaufäure und Vitriol 
jchreibt, den Hommunarden Joffrin und Leute ähnlichen Kaliber, aber niemand 
aus der Schule Gambettas aufweifen, auch Rane nicht, weil derjelbe zwar einmal 
für die Kommune aufgetreten, jeitdem aber flüger geworden und unter die 
Opportuniſten gegangen it. So hält Paris an feiner alten unpraftichen Politik 
fejt, die ihm immer das jeweilige Regiment zu hafjen und zu bekämpfen gebietet. 
Während der Julimonarchie und dem Kaiferreiche fagte man der Welt, Paris 
wäre unzufrieden, weil es Könige und Kaiſer verabjcheue.. Man hätte darnad) 
erwarten follen, die große Stadt, die nach Viktor Hugo das Herz der Welt 
und ein Wunder an Intelligenz ift, werde eine Regierung, die aus dem freien 
Willen des franzöfischen Volkes hervorging und aller republifanischen Tugend 
teilhaftig war, mit Beifall begrüßen und mit Lorbern befränzen. Statt deſſen 
fand die Republif mit ihren Präfidenten und Minijtern jo wenig Gnade in den 
Augen der Kapitale als früher die Monarchie. Napoleon der Dritte brachte 
es einmal fertig, daß in den kommerziellen und arijtofratiichen Vierteln der 
Stadt einige SKaiferlichgefinnte aus der Wahlurne hervorgingen, aber die Re- 
publik, wie fie jet ift, wird von allen Pariſer Wahlbezirken verſchmäht und 


390 Wahlen und Parteien in Frankreich. 


befigt in der Metropole Frankreichs fo gut wie gar feine Anhänger. Diejelbe 
ift von der Revolution, der politischen Stritif wie von einer unheilbaren Seuche 
angejteckt, deren Weſen ſich darin äußert, daf die Bevölferung, gleichviel, welche 
Grundjäße gelten, welche Einrichtungen beftehen, welche Perſönlichkeiten regieren, 
fich für verpflichtet Hält, zu murren, Oppofition zu machen und, wenn es an— 
geht, das Beſtehende umzumerfen und auf den Kopf zu ftellen, lediglich weil 
es bejteht, vielleicht nicht immer mit Bewußtſein, immer aber mit dem Triebe, 
es fernerhin ebenjo zu halten und jedes weiter zu Beitand Gelangte ebenfalls 
anzugreifen und, wo möglich, umzujftoßen. 

Der Hauptgegner der gemäßigten Nepublif ift Elemenceau mit feinem An- 
hange. Das Programm, welches dieſe Bolitifer empfehlen, kann eines Tages 
Annahme beim franzöfifchen Volke finden. Gegenwärtig fehlt es ihm an 
freunden in der Provinz, feine Politik ift im wejentlichen Pariſer Weisheit, 
die auch in drei oder vier großen Bevölferungszentren, in Lyon, Marjeille und 
Bordeaug, dem Gejchmade der Menge zufagt. Es fünnte auch unter den Bauern 
populär werden, nur müßte es vorher von feinen jozialiftiichen Artifeln gejäubert 
werden; jonft empfiehlt es fich diejer Stlaffe der Bevölferung befonders dadurch, 
daß e8 „auswärtige Abenteuer“ emphatijch zurüdweilt. Das bäuerliche Fraukreich 
empfindet die Wehrpflicht und die Aushebung ſchwer, es verabjcheut allen Kricg 
und würde es mit Subel begrüßen, wenn die Armee abgejchafft werden könnte. Sach— 
fenner finden dies begreiflich. Die Bevölkerung der großen Städte leidet in ihrer 
Mehrzahl jo ſchwer von ungünstigen Ertitenzbedingungen, daß fie nur einen Heinen 
Teil der Rekruten zu liefern vermag, die man zur Ergänzung des Heeres bedarf. 
Man jtellt in Frankreich an deren körperliche Tüchtigfeit geringe Anforderungen, 
und jo enthalten die franzöfiichen Regimenter viele Mannjchaften, die man bei 
uns zurüdgewiefen haben würde. Die Pariſer entjprechen aber vielfach nicht 
einmal diejen mäßigen Anforderungen der Militärbehörden, und jo kommt es, 
daß fie noch lange nicht die Hälfte der Zahl von Soldaten jtellen, die fie zu 
jtellen haben würden, wenn ihre jungen Leute die nötige Länge, Bruftweite und 
Gefundheit bejäßen. Die Folge ift, daß die Landdiftrifte den Mangel erjegen 
und mehr Rekruten liefern müſſen, als fie ſonſt brauchten, und als fie ohne 
Nachteil entbehren können. Man darf jagen, daß, wenn der Pariſer nach Krieg 
ichrie, nicht fowohl er, als der Bauer ihn führen mußte. Als Paris 1870 
belagert wurde und fich auf die eigne Kraft angewiefen jah, war jein Wider: 
Itand, vom militärischen Gefichtspunfte beurteilt, ſchwächlich, namentlich hatten 
die Ausfälle einen faft Eäglichen Charakter. Nun verwirft Clemenceau nicht 
nur den Krieg in Tonfing und andre militärische Expeditionen in Kolonial: 
jachen, fondern auch jeden gewaltfamen Verſuch, Elſaß-Lothringen wieder zu 
gewinnen, indem er überzeugt zu jein behauptet, daß einmal bei einer allgemeinen 
europäifchen Grenzregulirung Frankreich auf frieblichem Wege wieder zu dem 
Seinen gelangen werde. Wir Halten das für Aberglauben, freuen uns aber 


Wahlen und Parteien in Frankreich. 301 











der Thatjache, daß die vorgefchrittenite Partei in Frankreich auf die Politik 
der Revanche verzichtet, die im Programme Gambettas jehr deutlich zwiſchen 
den Beilen zu lefen war. Man darf fich dabei auch erinnern, dab das kom— 
munardifche Element auf dem äußerjten linken Flügel der franzöfiichen Parteien 
traditionell feinen Chauvinismus fennt. Die Träume der Kommune waren 
internationaler Art wie die der Nevolutionsmänner von 1793, ihre Theorie 
ging ihnen über das Vaterland, und jo ift e8 noch jeht: ein franzöfiicher 
Sozialift von reinem Waffer wird einen deutjchen Arbeiter al3 Freund, einen 
franzöjifchen Kapitaliften als Feind betrachten. 1793 waren die Pariſer nicht 
damit zufrieden, jich der Verwirklichung ihrer Ideen daheim zu erfreuen, jondern 
ichidten fie über die Grenzen in die Welt hinaus, und Kriegsvolk, das für fie 
erobern mußte, hinterdrein. Ihre Nachfolger find bejcheidner und proklamiren 
fie bloß zu Haufe. Statt: Fraternit& ou la mort! — jei mein Menjchenbruder, 
oder ich jchlage dich tot — fagen fie: „Weil wir Brüder find, fennt man bei ung 
feine Rache. Wir wollen fein deutſches Blut vergießen, um die Eljaffer und 
Lothringer von der Fremdherrichaft zu befreien.“ Als Zugabe zu diejem edeln 
und prinzipientreuen Verzichte jchlagen fie vor, die Dienjizeit unter den Fahnen 
ſtark zu verkürzen und die Armee zu einer Art Miliz oder Nationalgarde um- 
zugejtalten. Damit läßt ſich nichts jenjeit® der Grenze unternehmen, nichts 
erobern, und fo wird fortan das franzöfiiche Volk ſich daheim verftändigeren 
und nüßlicheren Kämpfen, dem Kriege gegen die Kirche mit ihrem Anjpruch auf 
Beherrſchung der Geifter und der Konfiskation des Beſitzes der Reichen durch 
eine pafjende Einkommensteuer, die allmählich alle Staatsangehörigen auch in 
Bermögensangelegenheiten gleichmacht, zu widmen imftande fein. Die Bauern 
veritehen und billigen den erjten Teil diejes Kredos vollftändig, in wirtichaft- 
lichen Fragen aber find fie ftramme Konfervative und feſt entichloffen, den 
zweiten zurückzuweiſen und ihren Ackerbeſitz ſowie den Strumpf, in welchem fie 
ihre Erjparnifje verwahren, hartnädig zu verteidigen. Sie würden mit Gam— 
betta gegangen fein, weil er national dachte, fie werden nicht mit Clemenceau 
und Nochefort gehen, weil dieje Jozialiftiich denfen. Sie werden „rejpeftable“ 
Republifaner in die Kammer jenden, jolche, die fich zu Grundjähen befennen, wie 
fie Rebot und andre Abgeordnete ded Pas de Calais in ihrem Programm auf: 
jtellen. Dieje Herren wollen eine „Republik der VBerföhnlichkeit und eine feite, auf 
maßvolle Ideen bafirte, praktische Reformen erjtrebende Politik.“ Sie verwerfen 
dag unaufhörliche Zimmern und Schnigeln an der Verfaſſung und die „Pläne 
jogenannter lofaler Autonomie,” welche die Regierung außer ſtand ſetzen, in der 
Hauptjtadt die Drdnung ficherzujtellen. Die Geiftlichfeit ſoll fich nicht in 
politische Dinge mijchen, aber es joll mit der Kirche Friede gejchlofjen werben 
auf Grund der Freiheit in allen Neligionsfragen und feiter und billiger An- 
wendung des Konkordats. Die auswärtige Politik ſoll „nicht auf die nationale 
Würde und die franzöfüichen Intereffen und Rechte verzichten [was iſt damit 





392 Wahlen und Parteien in Frankreich. 


gemeint?], aber vorfichtig und jparfam verfahren.“ Zum Schluſſe werden die 
Aufmunterung und Unterftügung von Spavvereinen und eine Revifion der 
Steuern, „welche den Landmann entlaftet,“ empfohlen. Diejes Programm würde 
Millionen von Wählern um fich jcharen, wenn es eine organifirte Partei mit 
rührigen und gejchieften Führern Hinter fich hätte. Aber diefer Apparat fehlt, 
und es ift fein Troft für die gemäßigten Republikaner, daß auch andre Gruppen 
derfelben feine energifchen Führer befigen und überhaupt im Laufe der Zeit 
ſchwächer getvorden find als ihre radialen Nebenbuhler. Der Präfident Grevy 
beobachtet eine Enthaltjamfeit, die an Apathie grenzt. Briffon und Freycinet 
üben nicht die perjönliche Anziehungskraft aus, welche zur Führerjchaft gehört. 
Terry hat erjt vor furzem ziveimal, ala Minifter und als Wahlredner, Schiff: 
bruch gelitten. Ohne Yahnenträger von der nötigen Größe und Stärke jicht 
e3 um das Banner der gemäßigten Nepublit mißlich aus. Mit den Royaliften 
aller Schattirungen fteht es aber noch weit jchlimmer. Der Graf von Paris 
it ein reipeftabler ältlicher Herr, der mit feinem Verhalten als die fleijch- 
gewordne Geduld und Vorficht bezeichnet werden kann. Der Tod des Grafen 
von Chambord hat ihm einen Anſpruch zugewendet, der mit jedem Jahre 
Ichattenhafter wird und cigentlich fchon in die Numpelfammer gehört. Die 
Ariftofratie Frankreichs hat fich niemals jehr für ihn erwärmt, und fein Fiſchblut 
hat den Eifer der Geiftlichfeit, foweit fie folchen zeigte, was von nicht vielen. 
geichah, faſt allenthalben erfalten laffen. Die Bonapartiften find hoffnungslos 
gejpalten und als Partei faum noch mitzuzählen. Die eine Gruppe derjelben 
iſt halb Elerifal, die andre halb rot. Der Flügel, der vom Prinzen Napoleon 
die Parole empfängt, greift mit der Linfen die Monarchiften an, der andre, 
welcher aus den Anhängern des Prinzen Biftor bejteht, ſchmäht in Gemeinschaft 
mit den Bourboniften die Republik, feiner von beiden aber ijt diejer gefährlich. 
Eine Gefahr für diefelbe Liegt einzig und allein in dem Wachen der radikalen 
Parteien in Paris und den andern großen Städten. Gewinnt der Sozialismus 
bier weiter Kraft und Ausdehnung, gelangen Clemenceau und feine Anhänger 
zu einer Stellung, in der fie ihre Pläne mit Staatsmitteln fördern fünnen, jo 
hat die legte Stunde für die gemäßigte Republik gefchlagen, und bald könnte 
dann auch die letzte für die Nepublif der Nadifalen anbrechen. Scwerlid) 
würde ihr dann eine Ara des voten Prinzen als Kaiſers oder die Krönung 
de3 Grafen von Paris zum Stönig der Franzofen folgen, wohl aber die Monarchie 
in Geftalt des Generals, der als Vorkämpfer der Befitenden den kommuniſtiſchen 
Drachen erlegt hätte. Wir Deutjche haben feinerlei Urfache, diefen Gang der 
Dinge herbeizuwünfchen, und jo freuen wir uns, daß e$ mit der Republik noch 
nicht jo weit ift, und wünjchen lebhaft, daß fich Mittel und Männer finden mögen, 
mit welchen die fie bedrohenden Mächte beichtworen und ihr neue Lebensträfte 
eingeflößt werden fünnen, und zwar bald, fchon durch die neuen Wahlen. 


Hur Frage der Diätenprozefie. 


02 eitungen haben berichtet, dab auf Grund einiger Beſtimmungen 
des preußiſchen Landrechts (Teil J, Tit. 16, 88 172, 173, 205, 
J206) der preußiſche Fiskus Klage erhoben habe gegen mehrere 
Reichstagsabgeordnete der Fortſchrittspartei und der ſozialdemo— 

= fratiichen Partei auf Herauszahlung der Beträge, welche fie von 
Re als Diäten für ihre Neichstagsthätigfeit bezogen haben. Die ge- 
nannten Landrechtsparagraphen bejagen, daß dasjenige, was gegen ein ausdrüd- 
liches Verbotsgeſetz oder zu einem wider die Ehrbarfeit laufenden Zwecke ge: 
geben worden jei, dem Empfänger vom Fisfus abgefordert werden fünne. Eine 
Borjchrift diefer Art kennt weder das gemeine Necht noch das franzöfische Recht. 
Und auch in Altpreußen it von jener Vorjchrift wohl jo jelten Gebrauch ge: 
macht worden, daß ſie faſt in VBergefjenheit geraten zu fein jcheint. Schon 
hieraus erklärt fich, daß jene Klaganſtellungen überrajcht haben. Wir find nun 
weit entfernt, der Nechtsfrage, welche die Gerichte zu entjcheiden haben werden, 
mit unferm Urteil vorgreifen zu wollen. Wohl möchten wir aber, den Aus- 
lafjungen mancher Blätter gegenüber, die Fragen, um die es fic handelt, etwas 
näher ind Auge fafjen und Earjtellen. 

Niemand wird zweifeln, daß es fich bei den fraglichen Prozeſſen nicht um 
einen Geldgewinn für den preußiichen Fiskus handelt, daß vielmehr bei den— 
jelben ein hochpolitijcher Zweck ins Auge gefaht iſt. Als die Neichsverfaffung 
geichaffen und im dieſer für die Neichstagswahlen das allgemeine Wahlrecht ein- 
geführt wurde, beitand Fürſt Bismard auf der Diätenlofigfeit der Abgeordneten, 
weil er in diefer das unentbehrliche Ktorreftiv für die Gefahren des allgemeinen 
Wahlrechts erblicte. Daraus ijt der Art. 32 der Neichsverfaffung hervorgegangen, 
welcher ausipricht, daß Mitglieder des Neichstages als jolche feine Bejoldung 
oder Entichädigung beziehen dürfen. Auch zahlreichen jpätern Beſchlüſſen des 
Neichstages gegenüber, dejjen Mehrheit fich für die Gewährung von Diäten 
ausjprach, verhielt fich der Neichsfanzler ſtets ablehnend. Man wird nicht be: 
haupten können, daß diejes Prinzip fich fchlecht bewährt habe. In dem erjten 
Sahrzehnte feines Beſtehens war der Reichstag eine hochangejehene Verſamm— 
lung hervorragender Perjönlichfeiten. Und auch noch heute würden ficherlich 
ausgezeichnete Männer in zureichender Anzahl fich finden, welche jich eine Ehre 
daraus machen würden, im deutjchen Reichstage zu figen, wenn nicht mancherlei 
Gründe teils ihnen jelbit die Annahme einer Wahl verleideten, teils jie von 
den einem wüſten PBarteigetriebe verfallenen Wahlen ausjchlöjjen. Für diejes 
Parteigetriebe bildet die Diätenlojigkeit ein bedeutendes Hemmnis. Nicht 

Grenzboten IIL. 1885. 50 





394 ‚ur Frage der t Diatenprozeſſe. 








jede Partei — in realer Anzahl ihr zugethane Kandidaten finden, 
welche das Geldopfer eines diätenlofen Aufenthaltes in der Neichshauptitadt 
alljährlich) zu bringen vermöchten. Da ift man mın, um die Schranfe der 
Diätenlofigkeit illuforifch zu machen, auf das Mittel verfallen, daß die Parteien 
von der Gejamtheit ihrer Anhänger größere Fonds ſammeln, aus denen fie 
ihre Mitglieder während der Reichstagsſeſſion bejolden. Daß darin eine Um- 
gehung defjen liegt, was der Art. 32 der Reichsverfaſſung gewollt hat, dürfte 
außer Zweifel fein. 

Bei der angeregten Frage haben nun Zeitungsjtimmen die ganze Gejchichte 
der Diätenfrage herangezogen. Man hat auf die Thatjache verwicjen, daß wohl 
in allen deutjchen Ländern, namentlich) auch in Preußen, die Landtagsabgeord— 
neten Diäten beziehen. Man hat auf die zahlreichen Abjtimmungen hingewieſen, 
durch welche die Mehrheit des Neichstages für Diäten auch der Reichstagsmit- 
glieder fi) erflärt hat. Aus dem allen hat man die Folgerung gezogen, daß das 
Bezichen von Diäten vonjeiten eines Reichstagsmitgliedes unmöglich etwas dem 
Rechtsbewußtſein und der Ehrbarfeit zumwiderlaufendes fein könne, und dab die 
fraglichen Abgeordneten die Diäten jedenfalls in gutem Glauben bezogen haben. 
Alle diefe Momente find aber für die vorliegende Frage ohne Bedeutung. Wenn 
auch das Bezichen von Diäten überhaupt nicht durch Art. 32 der Reichsver— 
faffung unterfagt wäre, jo würde doch jchon eine andre Beitunmung der Reichs— 
verfajjung gegen das Beziehen von Fraktionsdiäten Bedenken erregen müjjen. 
Nach Art. 29 der Reichsverfafjung (übereinftimmend mit Art. 83 der preußiſchen 
Verfajlung) find die Mitglieder des NReichstages Vertreter des gejamten Volkes 
und au Aufträge und Inftruftionen nicht gebunden. Dieje Borjchrift hat den 
Bwed, den Abgeordneten als einen unabhängigen, nach feiner jederzeit freigebil- 
deten Überzeugung handelnden Mann Hinzuftellen. Diejem Zwecke geichieht 
auch dadurd fein Abbruch, wenn vom Staate der Abgeordnete Diäten er: 
hält; wie denn auch die preußische Verfaffung in Art. 55 den Bezug ſtaat— 
licher Diäten für die Abgeordneten ausdrüdlich vorichreibt. Wenn der Staat 
dem Abgeordneten Diäten zahlt, jo erhält fie der Abgeordnete cben vom ge: 
jamten Volke, als defjen Vertreter er fich fühlen fol. Ganz anders, wenn der 
Abgeordnete von einer Fraktion Diäten bezieht. Dann ift er nicht mehr, wie 
die Berfaffung will, ein freier, unabhängiger Mann, jondern er ijt der Fraktion 
verfauft. Hier, wie überall in politischen Dingen, gilt der Grundjag: Do, ut 
des. Wollte cin ſolcher Abgeordneter bei einer Abjtimmung von der Fraktion 
abfallen, jo würde ihm jofort der Fraftionsvorjtand entgegendonnern: Die, cur 
hie! Und wenn ihm dann zur Strafe die Diäten entzogen würden, jo ſäße er 
wie ein Fiſch auf dem Trodnen und müßte ausjcheiden. Dächte man ſich, daß 
der Fraktionsfonds, aus welchem die Diäten bezahlt werden, aus einer bejtimmten 
Quelle, 3. B. von einer bejondern Klafje von Staatsangehörigen, herrührte, 
jo würde fich dadurd) die gejamte Fraktion zu diefer Klaſſe in ein unverkenn— 


Die Handwerferbewegung und ihr x mögliches Ziel. 39 





bares Abhängigfeitöverhäftmis geitellt Haben. So etwas iſt noch Kchfimmer als 
jede Injtruftion. 

Nun mögen ja viele Abgeordnete von vornherein von dem Geiſte ihrer 
Fraktion jo erfüllt fein, daß es für ihr Auftreten feinen Unterfchied macht, ob 
fie von der Fraktion bezahlt werden oder nicht. Auch ſieht man ziemlich all- 
gemein das Fraktionsweſen als etwas jo Selbitverjtändliches an, daß man 
garnichts dabei findet, wenn jemand fich mit Haut und Haar einer Fraktion 
verjchreibt. Würde diefer Gedanke fonjequent durchgeführt, jo brauchten eigentlich 
die Wahlkörperjchaften garnicht mehr einen wirklichen Menjchen in den Reichs— 
tag zu entjenden, jondern fie votirten nur eine Zuſatzſtimme für den Herrn 
Richter, Windthorft, Bebel zc., welche dieje fich bei jeder Abjtimmung zurechnen 
dürften. Macht man jich aber von dieſer Befangenheit, mit welcher man das 
Fraktionsweſen betrachtet, frei, jo kann man doch in der That nicht verfennen, 
daß es für einen Menfchen, der fich jelbjt fühlt, etwas moralisch Herabwürdigendes 
ift, wenn er für eine Thätigfeit, bei der er nach freier Überzeugung handeln 
foll, von einem Intereffirten fich bezahlen läßt und damit feine freie Über: 
zeugung von vornherein gefangen giebt. 

Die Frage, inwieweit dieſe Momente dergeitalt ausjchlaggebend find, daß 
fih das Beziehen von Fraftionsdiäten unter die gedachten Vorjchriften des 
preußischen Landrechtes jubjumiren läßt, wird die von den preußiſchen Gerichten 
zu beantwortende fein. 






ZEN 
— 





Die Handwerkerbewegung und ihr mögliches Siel. 


ie gegemvärtige deutjche Handwerferbeivegung (jo darf und muß 
man fie nennen, da es in andern Ländern bis jegt nur Anläufe 
zu ähnlichen Beftrebungen giebt) dreht fich um die Frage, ob es 
möglich fei, kleingewerbliche Selbftändigfeit mitten in dem ge: 
waltigen technischen und industriellen Leben unfrer Zeit zu be- 
wahren. Iſt dies möglich, jo fann es wieder ein Handwerk geben, natürlic 
in andern als den mittelalterlichen Formen, aber doc in ſolchen, welche eine 
gewiffe innere Verwandtichaft mit denjelben haben; iſt es nicht möglich, jo 
behalten diejenigen Necht, welche in allen zur Zeit ftattfindenden Anftrengungen 
zu einer Wiederbelebung des Handwerks nur eine unnüge, den Todeslampf 
diefer Wirtfchaftsform verlängernde und qualvoller machende Grauſamkeit er- 
bliden. 





396 Die Handwerferbewegung und ihr mögliches Ziel. 


Man hat vielfach verjucht, diefe peinliche Frage dadurch auf ein andres 
Gebiet zu verlegen, daß man die „Unentbehrlichkeit des Handwerks“ in jozialer, 
wirtschaftlicher und ſelbſt technischer Hinficht nachwies und hieraus die Folgerung 
zog, daß das Handwerk beitehen, beziehentlich mit allen, nötigenfalls den gewalt: 
jamften Mitteln beitandsfähig gemacht werden müſſe. Es iſt wahr, daß diejer 
Weg die jchiwerwiegenditen Gründe an die Hand giebt, und infolgedeffen vieles 
Verführerische hat. Wie joll es möglich fein, den jozialen Umsturz zu vermeiden, 
wenn die ganze Maſſe der indujtriellen Bevölkerung fich im wenige Groß: 
fabrifanten und Millionen unjelbjtändiger Arbeiter aufgelöit hat, und wenn 
diefer Prozeß obendrein eine verhängnisvolle Tendenz zeigt, aus den an der 
Spite ftehenden „Wenigen“ in leßter Inftanz eine minimale Anzahl von Groß: 
fapitaliften zu machen? Wie joll die bürgerliche Gejellichaft in befriedigender 
Weiſe beftchen, wie das twirtichaftliche Leben feine Mannichfaltigfeit und Eut— 
wiedluugstähigleit bewahren künnen, wenn die Maſſe Eleinbürgerlicher und dabei 
doc) auf eignen Füßen ftehender Elemente, welche nur das Handwerk liefern 
zu fünnen jcheint, nicht mehr vorhanden ift? Und diejen beiden Fragen hat 
man im neuerer Zeit mit nicht minderem Rechte die weitere hinzugefügt: Wie joll 
eine gewiſſe Bürgichaft, eine Sicherheit für Beſtand und Fortpflanzung der 
vollen gewerblichen Tüchtigfeit, die gegenwärtig in unferm Volke vorhanden ift, 
gewonnen, wie ſoll es verhindert werden, daß das zur Zeit noch vorhandne 
geſchloſſene und ſyſtematiſche gewerbliche Können fich in eine Anzahl empirischer 
Dandfertigkeiten auflöfe (devem Gejamtwert doch nicht annähernd an denjenigen 
der handwerklichen Ausbildung würde heranreichen fünnen), wenn an dem Er: 
werben jowohl wie an dem Bewahren handwerflicher Ausbildung niemand mehr ein 
Interejje Hat? was könnte auf diefem Gebiete jonjt gefunden werden, um, wie 
das Handwerk es gegenwärtig thut, in dem Getriebe der technifchen Entwidlung 
gleihjam als feithaltendes, über den „toten Punkt“ ſtets hinweghelfendes 
Schwungrad zu wirken? Das find gewiß Fragen, die es völlig verjtändlich 
machen, daß die Unmöglichkeit, auf fie vom großindujstriellsfapitaliftiichen Stand— 
punfte aus eine jelbjt nur leidlic) befriedigende Antwort zu geben, von vielen für 
ein Eingejtändnis gehalten wurde, daß diefer Standpunkt eben jchlechterdings 
nicht zur Alleinherrichaft gelaffen werden dürfe. Ja man kann noch einen Schritt 
weitergehen und mit gutem Gewiſſen jagen, daß irgend ernjtliche Anhaltepunfte 
dafür, Induftrialismus und Kapitalismus möchten vielleicht imftande fein, neue, 
uns zwar vielleicht weniger jympathiiche, aber doch auch beſtands- und ent- 
widlungsfähige Formen des jozialen, wirtjchaftlichen, technischen Kleinlebens zu 
ichaffen, bis jegt nicht vorliegen; man hat viel gejprochen von einer Beteiligung 
der Arbeiter anı Unternehmergewinn, von einer bevorjtchenden Rüdbildung der 
Großinduftrie zu Formen Eleinern Betriebes, von einem neuen Kleinbürgerftande, 
den die Fabrikmeiſter, Vorarbeiter und ähnliche Leute in fich darftellen — aber 
an allen diejen Dingen ift doch bis heute viel, viel mehr Phraſe ald Wirklichkeit, 


Die Kandwerferbewegung und ihr mögliches Siel. 3097 





und vollends von Erjcheinungen, welche ald Keime einer hoffnungsreichen Weiter: . 
entwidlung oder Neugeftaltung auf diefem Gebiete aufgefaßt werden könnten, iſt 
doch wirklich jo gut wie nichts zu verjpüren. So weit aljo befinden fich die 
Verfechter der Idee, dak man das Handwerk eben nicht untergehen laffen dürfe, 
weil man nichts an feine Stelle zu jetendes habe und fein Verſchwinden gleich- 
bedeutend mit dem Verschwinden der lebten, uns gegen die joziale Weltrevolution 
ſchützenden Schranfe jein wiürde, in einem unleugbaren Borjprunge. Dennoch 
fönnen und dürfen wir dieſen Gefichtspunft nicht maßgebend machen. Denn 
wenn es nicht gelingt, dem Handwerk eine innere Beitandsfähigfeit zur geben, 
welche fich mit den Bedürfniffen der Zeit und unſers heutigen Kulturzuftandes 
verträgt, jo nüßt uns wiederum alle theoretische „Unentbehrlichkeit“ des Hand— 
werks nichts; wir fünnen es dann troßdem weder jchaffen noch viel weniger 
erhalten. Mit einem Eünftlich hergeitellten, nur fünftlich aufrechterhaltnen Ge- 
bilde laffen jich die Aufgaben, die wir dem Handwerke zufchieben, doch nicht 
erfüllen, und jelbjt der mit dev Energie der Verzweiflung unternommene Berjuch, 
ein neues Handwerk zu begründen, müßte und würde jcheitern, wenn nun einmal 
die innere Möglichkeit, ein folches als ein zeitgemäßes und den Zeitverhältniffen 
ſich anfchliegendes erjcheinen zu laffen, nicht vorhanden iſt. Auch Haben wir, 
jo unfympathiich uns die indujtriellefapitalitische Entwidlung fein mag und fo 
jehr wir uns außer jtande fühlen, in derjelben Keime einer erfreulicheren, fozial 
beitandsfähigeren Zufunftsgeitaltung zu erbliden, doch nicht das Recht, ohne 
weiteres zu erklären, weil wir jet noch feine Hoffnung jähen, darum ezijtire 
auch) feine und werde in Ewigkeit feine exiftiren. Wer jagt uns, welche, wenn 
auch vielleicht unfern Vorjtellungen und Wünjchen noch jo wenig zujagenden, 
jo doch immerhin möglichen und feineswegs zufunftslofen Formen fich da 
vielleicht noch ausbilden? Vielleicht werden wir es lernen müffen, uns auf ftete 
joziale Zuckungen und gelegentliche heftige Stürme einzurichten, und werden ung 
hieran am Ende jo gut oder jo jchlecht gewöhnen wie die Bewohner von Strom: 
boli an den Vulkan zu ihren Häupten; vielleicht erweiſt ſich das Kapital felbit, 
wenn ihm nur bejtimmte VBergünftigungen eingeräumt werden und die Möglichkeit 
stetigen Eingreifens in die öffentlichen Dinge ihm gewährt wird, nicht nur als 
ein fräftiger, jondern auch, worauf es hier vor allem anfommt, als ein jehr wider: 
jtandsfähiger Faktor; vielleicht müjjen wir allen Sträubens uneradhtet den Weg 
der Sozialdemokratie wandeln und finden ihn doch gangbarer, als unjre Staats: 
weijen bisher geglaubt haben; und folcher denkbaren Fälle, die als Fortentwicklung 
des heutigen Zuſtandes betrachtet und nicht ohne weiteres als innerlich unmöglic) 
angejprochen werden fünnen, mag es wohl noch manche geben. Die Gegenwart 
hat, jagen wir, fein Recht, die induftriell-fapitaliftiiche Geſellſchaftsform schlechthin 
zu verwerfen, weil fie zur Zeit noch nicht abzujehen vermag, wie fi) hieraus 
eine einigermaßen haltbare, genügende Elemente zur Forterhaltung der Kultur 
in ſich darbietende Form ausbilden ſoll, oder gar lediglich darum, weil dieſe 


398 Die Handwerferbewegung und ihr mögliches Ziel. 


. Form ihr nicht gefällt; umd fie hat am wenigſten das Recht, einer immerhin 
großartigen Wirklichkeit einen bloßen Schatten gegenüberzuftellen, jolange nicht 
irgendeine ernsthafte Wahrjcheinlichkeit vorhanden ift, daß es gelingen fann, diefem 
Schatten Körper zu verleihen. Die Frage kann und darf nicht fein: Welcher 
Mittel müffen wir uns bedienen, um, es möge innerlich) möglich fein oder nicht, 
unter allen Umftänden nur wieder etwas Handwerfsartiges entjtchen zu laſſen 
und dieſes, wenn auch noch jo fünftliche Etwas an die Stelle des Induſtrial— 
fapitalismus zu ſetzen? — ſondern die Frage muß jein: Iſt es innerlich möglid), 
ein Handwerk meu zu jchaffen, welches auch unter den jozialen und technifchen 
Kräften unfrer Zeit zu beftchen und feine Rolle zu jpielen vermag? und unter 
welchen VBorausjegungen iſt dies möglich? 

Konftatiren wir zunächit, da das Handwerk, jo wie es ift, dem Unter: 
gange geweiht it, und daß auch Innungsgejege zc. an und für ſich hieran nichts 
zu ändern vermögen. Alle dieje, wenn auch nicht nur wohlgemeinten, jundern 
auch in ihrer Art recht nützlichen gejeßgeberischen Neujchöpfungen fünnen und 
follen ja doch weiter nichts als dem Handwerfe gewifje joziale Ermöglidyungen 
an die Hand geben, und infofern fie notwendig in dieſem Beſtreben fteden 
bleiben, treffen fie den Sig des Übels garnicht. Denn diefer Sit; liegt zunächſt 
nicht auf dem fozialen, ſondern auf dem wirtfchaftlichen Gebiete, nämlich in 
der Frage, ob der Handwerker mit dem Großinduftriellen und mit den Handels: 
gejchäften fonkurriren kann — eine Frage, die leider Gottes entjchieden verneint 
werden muß. Daß der Schornitein bei dem Handwerker nicht mehr raucht, das iſt 
Ausgangspunkt und Kern des ganzen Übels; und wenn der Sak wahr ift, daß 
Not und Gefahr die Tüchtigen und aus Überzeugung Zufammenhaltenden nur 
noch feſter zufammenjchliegt, die Umtüchtigen und Eigenfüchtigen aber immer 
weiter augeinandertreibt, jo find die Schlußfolgerungen hieraus für das Hand- 
werf feine jonderlich ermutigenden. Der Berfall des Handwerks ijt fein ein- 
jeitig joztaler, jondern ein wirtjchaftlich-jozialer; der wirtichaftliche Rückgang 
fiel zujammen mit dem Verluſte der Kraft, ihn als eine joziale Schädi- 
gung des ganzen Handwerks zu empfinden und biergegen mit den ſozialen 
Kräften des Handwerks anzufämpfen. Hieran ändert auch die allerdings un 
leugbare Thatjache nicht®, daß der Rüdgang des Handwerks durch allerhand 
fünftliche Mittel, jelbjt durch gejeggeberiiche und Berwaltungsmaßregeln, und 
daß er weiterhin durch eine im höchiten Maße unreelle Konkurrenz, durch die 
* verächtlichiten, dem Handwerfe feiner Natur nad) unzugänglichften Praktiken 
begünftigt worden iſt. Gewiß, die Gefängnisarbeit allein Schon ift ausreichend, 
den NRüdgang der handwerksmäßigen gegenüber der fabrifgmäßigen Arbeit in 
mehreren Gewerbszweigen zu erklären, und es iſt wirklich eine arge Sache, daß, 
während der Staat auf Koſten der Gefamtheit die Fabrifarbeit durch die Ges 
fängnis- und Zuchthausarbeit begünftigt (und wenn er dies nur dadurch thäte, 
daß er die Mafje der in den Konkurrenzkampf eintretenden Fabrifartifel ver- 


Die Handwerkerbewegung und ihr mögliches Ziel. 399 


mehrt und dadurch der Iegtern die Anfüllung und Beherrichung des Marktes 
erleichtert), er obendrein auch noch, immer auf Koſten der Gejamtheit, der Fabrik: 
arbeit für ihren Konkurrenzkampf gegen das Handwerk Arbeitskräfte ausbildet, 
ihr aljo förmlich vorgebildete Refruten liefert. Es ift wohl möglich, daß, wenn 
dergleichen ftaatlide Begünftigungen des Großbetriches und des Handels mit 
Handwerksartifeln niemals vorgefommen wären, und wenn unſre Gejeggebung 
zu pafjender Zeit brauchbare Handhaben gegen alle unreellen Gejchäftspraftifen 
dargeboten hätte, der heutige Verfall des Handwerks nie eingetreten wäre. 
Aber was nüßt ung dieſe rüdläufige Betrachtung? Die Wirkung iſt einmal 
da! Der Gejchäftsbetrieb ijt an feine jegigen Bezugsquellen, dag Publikum an 
jeine jegigen Kaufgelegenheiten mit ihrer mafjenhaften Auswahl und ihrer An: 
pafjung an feine Schwächen und Neigungen einmal gewöhnt, und wir jtehen 
immer wieder vor der entjcheidenden Frage, ob diefem Zuftande gegenüber das 
Handwerk im großen und ganzen fonkurrenzfähig ift, einer Frage, die wir 
auch im diefem Zuſammenhange verneinen müjjen. Daran wird, wir wieder: 
holen es, auch alle Entwidlung eines bloßen Innungsweſens als jolchen nichts 
ändern — jo wenig, daß jogar der leidige Rückſchluß gejtattet ift, die Wirfungs- 
(ofigfeit aller auf dem Boden des jpezifiichen Innungswejens ftattfindenden 
Bemühungen werde zulegt die Folge haben, das Innungsweſen ſelbſt bei der 
Maſſe der Handwerker wieder zu disfreditiren. Denn was nützen alle Quar— 
tale, alle Maßregeln für Lehrlingsausbildung und für die Kontrole derjelben, 
alle Hilfgkafjen und jonjtigen gemeinfamen Anjtalten, alle Anjtrengungen für 
Wiederherjtellung eines geordneten ©ejellenwejens; was nützen weiterhin alle 
Sunungsverbände, alle Handiverferverfammlungen, Verbands: ımd Innungstage, 
ja auch alle Neichsinnungsämter und Handwerferfammern — wenn alle dieje 
ſchönen Dinge das Handwerk nicht fonfurrenzfähiger machen? Das thun fie 
aber an umd für fich nicht, höchſtens injofern, als fie bei vielen einzelnen Hand- 
werfern eine gewifje fittliche Kräftigung, eine Hebung und Ermutigung erzielen 
und dadurch auch auf die Leiſtungen derjelben erfreulich zurücwirfen mögen, was 
jedoch jchwerlich von durchſchlagender Bedeutung iſt. Solange der kleine Ge— 
werbsmann nicht unter gleich günftigen Bedingungen wie die Großinduſtrie die 
Hilfskräfte der Maſchinen anwenden, für gewijje Arbeiten einen fabrifmäßigen 
Betrieb herjtellen, Lager und Magazine in geeignetem Umfange unterhalten, 
bequemen und billigen Kredit befommen, zum Abſatze fic) des organiſirten 
Handeld bedienen kann, jo lange bildet er Lehrlinge und Gejellen doch immer 
wieder nur für die Fabrikinduſtrie aus, jo lange fommen alle feine gemeinnügigen 
und wohlthätigen Anstalten wohl gewifjen Bebürftigen, aber nicht dem Handwerf 
als ſolchem zugute, und jo lange nützen alle Verjanmlungen und eignen Be— 
hörden den Handwerfern wohl zum Wehklagen, aber zu ſonſt nichts. Gelingt 
es nicht, dem Handwerk cine gleiche gejchäftliche Leijtungsfähigfeit einzuhauchen 
wie der Großinduftrie, jo behalten die Gegner Recht: alles verzweiflungsvolle 





400 Die Bandmwerferbewegung und ihr mögliches Ziel, 


Kämpfen um Innungsvorrechte und um Wusjtattung des Innungsweſens mit 
jtaatlich anerkannten Formen und Namen kann doc) höchitens zu einer vorüber: 
gehenden Galvanifirung des Handwerks führen, zu einem Aufraffen mit letten, 
aber unter allen Umitänden ungenügenden Kräften — bis auf die fünftliche An— 
ſpannung umjo ficherer die Ermattung und der gänzliche Zufammenbruch folgt. 

Giebt es denn num ein Mittel, um dem Handwerke diejes Unerläßliche, die 
Möglichkeit einer Konkurrenz auf gleicher gejchäftlicher Grundlage zu geben? 
Sa, es giebt ein jolches. Aber unſre Handwerker jind noch nicht reif dazu, 
weil es ihnen noch zu gut geht. Unſre Handwerker haben immer noch Die 
Boritellung, wenn es mit ihren VBerhältniffen auch heute jchlecht bejtellt jei, fo 
könne und müſſe jich dies doch wieder bejfern, und fie nehmen ihren Mapjtab 
jür die Beurteilung der allgemeinen Handwerferlage immer nod) davon her, daß 
doc) jelbjt in unjern Tagen jo viele Handwerfsmeifter zu Vermögen und An— 
jehen fommen, es aljo doch wohl nur am untergeordneten Punkten liege, wenn 
dies nicht bei der Mehrheit ähnlich der Fall je. Sie begreifen noch nicht, daß 
dies mehr und mehr aufhören wird, da derjenige Zujtand, welcher gegenwärtig 
der maßgebende ift, eine natürliche Tendenz hat, in immer jteigendem Umfange 
zuerjt der allein maßgebende, dann der allein vorbhandne zu werden. Gewiß, 
heute hat der Handwerferitand als jolcher immer noch eine gewiſſe Bedeutung, 
weil es nod) Privatfundfchaft giebt, mit andern Worten, weil das Publitum ſich 
noch wicht ganz und gar an das TFertigfaufen feines Bedarfes in großen Maga— 
zinen gewöhnt hat, und weil der Entwidlungsprozeß, welcher das Magazin: 
wejen zuerjt in den größern, dann aber auch in den kleinern Städten zuerft 
einbürgert und dann zur Herrichaft bringt, noch nicht auf feiner Höhe ange- 
fommen iſt. Aber man zweifle nicht, daß diefer Prozeß in vollem und unaus— 
gejeßtem Gange ift, und daß alle Wiederbelebung des Innungswejens hieran 
bis Heute nicht das geringste geändert hat. Die Handwerler fühlen dies auch 
jehr wohl, und ihr verzweiflungsvolles Rufen nad) der obligatorischen Innung 
ijt einfach darauf zurüdzuführen, daß fie denfen, wenn fie nur erjt einmal alle 
beijanmen jeien und dann auch eine Art Jurisdiftion über den ganzen Gewerbe- 
betrieb und das Recht zur Ausübung desjelben bejähen, dann werde und müjje 
es am Ende doc) möglich fein, die Übermacht des Induftrialismus und des Ka— 
pital$ zu brechen. Sie irren fich; die obligatorische Innung (jobald fie materiell 
möglich geworden fein wird) fann ohne Zweifel vieles bejjern und die Kraft 
der Handwerker jtärken, weil dieje fich dann nicht mehr jo wie bisher im 
Kampfe gegen die eignen Genofjen aufzureiben brauchen, und weil dann die un: 
billige Zumutung nicht mehr an die Handwerfer herantritt, Zeiftungen, die der 
Gejamtheit zugute fommen jollen, mit den Mitteln und Sträften eines Teiles zu 
beftreiten. Aber das Wefentliche an der Sache, die ungeheure Überlegenheit 
der Fapitaliftiich-großindufiriellen Produktions- und Vertriebsmethode, läßt auch 
die obligatorische Innung unberührt. Wird es unerläßlich fein, daß die Hand» 


Die Handwerkerbewegung und ihr mögliches Ziel. 401 


werfer dieje Erfahrung in vollem Umfange machen, und daß das bischen mo— 
ralifcher und jozialer Kraft, über welches das Handiverf gegenwärtig noch ver: 
fügt, bis auf ein Minimum gejchwunden fei, ehe man den Mut findet, das 
erlöjende Wort zu jprechen und mit diefem Lojungsworte die wirkliche, reelle, 
erfolgverheißende Arbeit in Angriff zu nehmen? 

Diefes Wort heißt Genofjenjchaft. Dem jchmeichlerifchen Traume, die 
fapitaliftiiche Betriebsform überwinden und dabei doc) ihre volle Keingewerbliche 
Selbjtändigfeit bewahren zu können, müſſen die Handiwerfer entjagen. Sie haben 
nicht etwa dazwiſchen die Wahl, ob jene, zur Zeit fo mächtig vordringende Be: 
triebsform zur Herrichaft gelangen joll oder ob einzelne kleine Handwerker wieder 
zu Kraft und Ehren fommen, jondern nur dazwijchen, ob fie ihre wirtjchaftliche 
Gelbftändigfeit jcheinbar noch eine Zeitlang behaupten und währenddem umfo 
ficherer in thatjächliche, immer jchlimmer werdende Abhängigfeit von Kapital und 
Großinduſtrie fommen wollen, oder ob fie freiwillig ihre, oft jo zweifelhafte 
und ohnehin micht aufrecht zu erhaltende Selhitändigkeit zum Teil einer Ge— 
meinjchaft, der fie jelbjt angehören, opfern wollen. Die Frage, ob die Hand: 
werfer dies begreifen und den moralischen Mut finden, temgemäß zu handeln, 
ift die Frage mach der möglichen Nettung und der Zukunft des Handiwerfs. 
Die „Innung“ ohne wirtjchaftlichen Gehalt iſt ein Geiſt ohne Körper. Die 
Innung des Mittelalters wurde feineswegs bloß durch den Gemeinfinn ihrer 
Mitglieder getragen und entwickelt, jondern fie hatte eine jehr reale Bedeutung; 
fie bildete für den Handwerfer das, was für den Stadtbürger feine Stadtmauer 
und jein Stadtrecht war: die feite Umgrenzung zu Schuß und Truß feiner Rechte 
und jeiner ganzen bürgerlichen Stellung. In Wirklichkeit fann man die damalige 
Innung als die joziale Heimat ihrer Mitglieder bezeichnen. Das ijt heute weder 
mehr möglich noch nötig, wohl aber ijt e3, wenn die Innung wieder eine ähn- 
liche Bedeutung wie damals für die Handwerker haben joll, auch unerläßlich, 
ihr wieder einen ähnlichen Inhalt zu geben. Mit blogen Nedensarten aber ijt 
das ebenſowenig zu machen, wie fich mit den Worten „Freiheit, Gleichheit und 
Brüderlichkeit” die ideale Republik herjtellen Tieß, und fo vortrefflich alle Lehr- 
lings- und Gefelleneinrichtungen, jo ſachgemäß alle Unterhaltungen der Hand- 
werfer über Submiſſionsweſen, Gefängnisarbeit, Nechtzverhältniffe der Hand» 
werfer 2c. fein mögen, ſo find doc) alle diefe, wejentlich immer nur auf dem 
guten Willen der Einzelnen fußenden Einrichtungen nicht geeignet, der Innung 
gerade das zu geben, was fie braucht: eine Gewalt nad) innen und nach außen, 
einen jtändigen, geficherten, ummiderftehlichen Einfluß auf alle ihre Mitglieder, 
eine Möglichkeit, die gefamten Kräfte der Einzelnen für die Zwecke der Ge— 
jamtheit zujfammenzufajfen. Erjt wenn fie dies erlangt, hat der umher: 
ipufende Geift der Handwerferjache und der Verſuch, an Stelle der kapi— 
taliſtiſch-großinduſtriellen Betriebsweife die modern = handwerkliche zu fegen, 
jeinen Körper gefunden. Die Innung muß jelbft zur Genoſſenſchaft werden, 

@renzboten IIL 1885. 51 





402 Die Handwerkerbewegung und ihr mögliches Ziel. 





fie muß den genofjenfchaftlichen Gedanken ganz in jich aufnehmen, fie muß 
alle diejenigen Dinge, die ſich zu gemeinfchaftlichem Betriebe cignen, in ihre 
Hand nehmen, fie muß die Lieferantin, die reditanftalt, die Verkaufshalle, das 
Auskunftsbüreau, die Hilfskaffe, fie muß auch in gejelliger Hinficht der Mittel: 
punkt für dag Innungsmitglied werden, fie muß jedes Mitglied mit jtarfen 
Armen umjpannen, um nun auch jedes Mitglied mit ftarfen Armen ſchützen 
und heben zu fünnen. Mit der bloßen Idee des Zuſammenhaltes ijt e8 nicht 
gethan, jondern dieſer Zufammenhalt muß, ſoll er ftarf genug fein, um nad) 
augen Hin eine wahrnehmbare Wirkung zu üben, auc nach innen den Mit- 
gliedern zu ſtetem, lebendigem Bewußtfein fommen, er muß ein reale® Band 
für fie bilden, aus dem fie garnicht herausfönnen, er muß cine Summe praf- 
tiſcher Interefjen für fie darjtellen, gegen welche alles andre garnicht auffommt, 
ja faum beachtet wird. Ohne Drangabe eincd Stüdes individueller wirtjchaft- 
licher Selbjtändigfeit iſt das freilich jchlechterdings nicht zu machen; jeder 
Einzelne wird in Zukunft von feiner Innung in wefentlichen Punkten abhängig 
jein und wird fich überhaupt nur innerhalb des Rahmens derjelben wirtichaftlich 
bewegen fünnen, Aber es hilft, und es it das Einzige, was hilft. Denn das 
unterliegt allerdings feinem Zweifel, daß die Innungsgenofjenichaft in einer 
Weiſe die Vorteile des Stleinbetriebes mit denen des Großbetriebes wird ver- 
einigen können, gegen die feine Konkurrenz aufzufommen vermöchte. Das Hand: 
werk würde gerettet fein; der Handwerler allerdings nur noch in bejcheidnem 
Maße als wirtjchaftliche Individualität, der Hauptjache nach nur als „Genoſſe,“ 
alg Mitglied feiner Innung, als Teil eines Ganzen. 

Einzelne Anläufe zur Geftaltung der Innung als wirtichaftlicher Genoſſen— 
ſchaft Haben nie ganz gefehlt. Viele Innungen haben ſchon Rohmaterialien 
für ihre Mitglieder bezogen oder ſonſtige gemeinfame Anftalten errichtet und 
gemeinfame Verträge (Verficherungsverträge u. dergl.) abgejchloffen; in neuerer 
Zeit ift aud) der Gedanke, eigne „Innungsbanken“ zu begründen und dadurch 
jowohl die Kojten wie die Verlujte des Bankgeichäftes auf ein Minimum zu 
reduziren, auc) die Einrichtungen der Anftalt den Bedürfniſſen der Mitglieder 
möglichft anzupafjen, vielfach erörtert worden (in Berlin ift eine ſolche „In— 
nungsbanf,“ wenn auch in kleinſtem Maßſtabe, jogar ins Leben getreten). Aber 
alle dieje Anläufe haben es bis Heute nicht vermocht, ein engbegrenztes Gebiet 
zu überjchreiten, und wir wiljen jehr gut, daß der Gedanfe, die Innung prin= 
zipiell zur Genoffenschaft zu machen und alle für den gemeinjfamen Betrieb jich 
eignenden Dinge prinzipiell diefer Gefamtheit zu überweifen, zur Zeit noch in 
den Streifen der Handwerfer jelbjt auf den hartnädigiten Widerjtand jtoßen würde, 
weil die Herren eben in ihre „Selbjtändigfeit* noch zu jehr verliebt find, 
jo jehr fie auch jelbft jehen oder doch fühlen mögen, daß diefe Selbjtändigfeit 
zu einem Teile nur noc eine angebliche, zum andern Teile bereit3 furchtbar 
unterwühlte und jchwerlich noch ein Menjchenalter lang haltbare ift. Nun, die 


Die Handwerkerbewegung und ihr moͤgliches Fiel. 403 





Geſchicke müſſen ſich erfüllen, und in unſrer Zeit erfüllen ſie ſich ſehr ſchnell. 
Auch die Handwerfer werden, wollen fie überhaupt das Handwerk als ſolches 
gerettet und die Welt vor den Konſequenzen der Fapitaliftifch-großinduftriellen 
Betriebsform bewahrt jehen, die Gejchichte von den fibyllinifchen Büchern an 
fich erleben müffen. Je länger fie zögern, fich diejes einzigen vorhandnen Mittels 
zu bedienen, dejto geringer wird ihre Kraft, und dejto furchtbarer wird der zu 
überwindende Feind. Und jchlieglich wird man einen viel höhern Preis für ein 
viel geringeres Gut, al8 heute noch für niedrigern Preis zu erlangen wäre, 
doch zahlen müſſen! Je länger man wartet, dejto mehr werden die Handwerker 
zu gunjten der künftigen Innungsgenofjenjchaften von ihrer Selbftändigfeit opfern 
müfjen! 

Man wird uns entgegenhalten, bei Ausführung diefer Idee werde ja der 
Strom de3 Sozialismus unaufhaltſam in unfer wirtjchaftliches und joziales 
Leben hereinfluten. Ja was iſt da zu machen? Soweit die weitere Entwidlung 
ſozialiſtiſcher Gefichtspunfte eine notwendige Erjcheinung unjrer vorausfichtlichen 
wirtjchaftlichen und ſozialen Zufunft ift oder fein muß, wird man an der Sache 
dadurch nichts ändern, daß man alles auf fie Hinzielende jorgfältig hintanhält. 
Gewiß, unjre Innungsgenoffenjchaft würde ſich in ihren legten Konjequenzen 
zur reinen Produftivgenoffenjchaft geitalten, nur mit dem Unterjchiede, daß es 
eine Genofjenjchaft von Meiftern und jelbjtändigen Bürgern, dab fie aljo mo- 
ralifch möglich wäre. Über die Frage, ob nicht in der That eine Zunahme 
Jozialiftischer Ideen ebenjo unverkennbar wie unaufhaltiam fich vollzieht, ließe 
ſich viel reden; wir behalten uns dies für ein andermal vor. Für diesmal 
nur noch zweierlei. Fürs erjte, daß auch die ausgeprägtefte Innungsgenoffen- 
ſchaft an dem Belige der Mitglieder nichts ändern, ſondern immer höchiteng 
ihren Privaterwerb treffen würde. Fürs zweite, daß die fozialen Stürme des 
künftigen Kapitalismusjtaates oder die verzweifelten Verjuche, mit Bolizeimaß- 
regeln die wirtjchaftliche Entwicklung in unmöglich gewordne Bahnen preffen zu 
wollen, und um nichts verlodender, wohl aber um jehr viel weniger hoffnungs- 
voll erjcheinen al8 der Gedanfe der Innungsgenojjenjchaften. 

Wie Ddiejelben ich entwiceln würden, wie die Keime zu ihmen zu Tegen 
wären, und welche gejeßgeberiiche Maßregeln für fie getroffen werden Fönnten 
und müßten, darüber gleichfall3 ein andermal. 





Hartmanns Armer Heinrich. 


FEN eit dem Erwachen der germaniftischen Studien in der zweiten Hälfte 
el des achtzehnten Jahrhunderts ift dem „Armen Heinrich” des hö— 
Ka \fiichen Dichters Hartmann, eines ritterlichen Dienftmannes der 
| 4 Herren von Aue, befondre Teilnahme zugewendet worden. Zwar 
A siitlte ſich Goethe, der den Nibelungen, König Rother und andern 
—— Dichtungen liebevolles Studium widmete und ihre Geſtalten 
1810 in dem Masfenzuge „Die romantische Poeſie“ verherrlichte, gerade von 
diefem Werke unangenehm abgejtoßen. Das „an und für fich betrachtet höchſt 
ſchätzenswerte Gedicht,“ äußerte er in den Tages: und Jahresheften von 1811, 
habe ihm „phyſiſch-äſthetiſchen Schmerz“ gebracht. „Den Efel gegen einen aus: 
jägigen Herrn, für den ſich das waderjte Mädchen opfert, wird man jchiwerlich 
(08; wie denn durchaus ein Jahrhundert, wo die widerwärtigite Krankheit in 
einem fort Motive zu leidenjchaftlichen Liebes- und NRitterthaten reichen muß, 
uns mit Abjchen erfüllt. Die dort einem Heroismus zu grunde liegende jchred- 
liche Krankheit wirft wenigſtens auf mic) jo gewaltfam, daß ich mic) vom bloßen 
Berühren eines ſolchen Buches ſchon angejtedt glaube.“ Allein trog Goethes 
Urteil wurde gerade dieſes Gedicht in der Folge das am meijten gelejene der 
ganzen deutichen Literatur des Mittelalterd, da Adalbert von Chamifjo 1839 
eine den Brüdern Grimm gewidmete Bearbeitung im Mujenalmand) veröffent- 
lichte, welche danı, in Chamifjos Werfe aufgenommen, mit ihnen allgemeine 
Verbreitung fand. Ja das Werk, welches ſchon als Dichtung auf Goethes 
Phantafie einen jo widrigen Eindrud machte, wurde vor einigen Jahren (1877) 
jogar mit Jluftrationen herausgegeben. Welchen unmutsvollen Tadel würde 
Goethe, der Iebenslang an den Kunſtlehren des Leſſingſchen Laofoon feit- 
hielt, vollends gegen eine bildliche Darjtellung diefes Gedichtes ausgejprochen 
haben! 

Indes, an und für fich betrachtet, erflärte Goethe das Gedicht für ſchätzens— 
wert. Und unfre Anerkennung muß fich noch fteigern, wenn wir e8 mit Hartmanns 
übrigen Werfen vergleichen. Hartmann hat von jeher enthuſiaſtiſche Bewun— 
derer gefunden. Stein geringerer als Gottfried von Straßburg hat die reine, 
lautere Rede, die kryſtallne Sprache des von Aue gepriefen und ihm als dem 
Meifter der deutichen Epif Kranz und Lorber zugewiefen. Nach der Wieder- 
erwedung der mittelalterlichen Literatur ift Hartmann als Sprachmufter von 
der einen Partei unſrer Germaniften geradezu fanonifirt worden; und bie Kor— 
reftheit jeiner Sprache und Metrit mag wirklich eine tadellofe fein. Nur hätte 





Hartmanns UArmer Heinrich. 405 


man ihn ob feines formalen Vorzuges nicht als den größten Meifter unfrer mittel- 
alterlichen Epif auf den Schild heben follen. Gottfried, an der berühmten 
Stelle des Triftan, verbindet das Lob Hartmanns mit einem höchſt bifjigen 
Tadel gegen den Finder wilder Mären, den Verwilderer höfifcher Erziehung — 
Wolfram von Eſchenbach. Es hat mich befremdet, auch in der neueften Ausgabe 
des Hartmannschen Gedichtes, einer jonjt danfenswerten Gabe aus Wilhelm 
Wadernagel3 Nachlag,*) einem ähnlichen Urteile wieder zu begegnen, wie es 
Gottfried im Beginn des Dreizehnten Jahrhunderts ausgejprochen hat. Un: 
zähligemale hat man nad) dem Vorgange von Gervinus den Gegenſatz erörtert, 
in welchem ſich Gottfried und Wolfram und ihre Schulen bewegten. Sogar 
in einer modernjten Zuckerwaſſerdichtung iſt dieſe literarhiftorische Thatſache 
belletriftiich verwertet worden. Jener Gegenſatz ift wirklich eine der wichtigern 
Erjcheinungen unſrer Literaturgefchichte. Er fehrt im achtzchnten Jahrhundert 
wieder in der Gegenüberjtellung Hagedorns und Hallers, Klopſtocks und 
Wielands. Haller juchte in einer leſenswerten Abhandlung fich jelber über Die 
Natur diefes Gegenſatzes Klarheit zu verichaffen. Hat die literarische Forſchung 
des neunzehnten Jahrhunderts aber mit vollem Rechte auf den Gegenjaß 
Gottfrieds von Straßburg und Wolframs von Ejchenbach hingewieſen, jo darf 
darüber doch nicht vergejjen werden, da Gottfried jelber Hartmann von Aue 
und Wolfram als die Führer verjchiedner Richtungen einander entgegenjegt. 
Hartmann ift der Vertreter des korrekten Formalismus, wie er fich unter andern 
Berhältniffen und in andrer Form dann im achtzehnten Zahrhundert wieder in 
Gottſcheds Schule bildete. Dieſer äfthetiichen Korrektheit entjpricht auch eine 
ethijche; doch mein, dies Wort jagt zu viel, e8 deutet zugleich auf das Element 
hin, welches Hartmanns Sittenlehre eben nicht in fich enthält. Hartmann 
jchildert uns in feinen beiden großen Epen das Ideal höfticher Sitte, von einer 
tiefern Auffaffung ift bei ihm feine Rede. Der Anftand, man möchte fajt jagen 
nach einem Komplimentirbuche, wird hier in ritterlichen Beijpielen gelehrt, das 
allgemein menschliche Sittengebot und Gefühl fommt dabei aber entjchieden zu 
kurz. Auc Wolfram ift in den Anjchauungen jeines Standes vielfach befangen. 
Der junge Parcival tötet eigentlich aus findischem Umftande den edeln König 
Ither von Gaheviez, den flecdfenreinen, von dem nie ein Ohr etwas tadelns: 
werte vernommen. Der Dichter beklagt feinen Tod, weil diefer durch einen 
Gabylot (Wurfipeer), nicht durch eine Turnierlanze erfolgt it. Solches Auf: 
gehen in der formelhaften Courtoifie fommt auch bei Wolfram öfter als einmal 
vor. Aber wie weit jtcht er nichtSdeftoweniger von Hartmann und jeinem rein 
äußerlichen Wejen ab. Ic gebe jtatt aller weitern Ausführung nur ein Beifpiel, 
das mir jo charakteriſtiſch erjcheint, daß ich mich wundre, es nicht jchon längſt 








*) Hartmanns Armer Heinrid. Mit Anmerkungen und Abhandlungen von Wil: 
heim Wadernagel herausgegeben von W. Toiſcher. Bajel, Benno Schwabe, 1885. 








406 Hartmanns Armer Heinrich. 


angeführt gefunden zu haben. Geradezu als einen Lieblingsgedanten Wolframs 
muß man feinen häufig wiederfehrenden Ausspruch betrachten, man jolle nicht 
nach dem Scheine urteilen. Er legt bejondern Wert auf diefe Sentenz, die 
mit der Grundlage feiner ganzen moralichen Weltanfchauumg im engjten Zu— 
jammenhange fteht. Wohl könne der Zweifel den Menjchen erfafjen, daß fein 
Thun dem moraliichen Beobachter gefleckt erjcheine wie die Farbe der Eljter. 
Wenn nur fein Herz nicht ganz die finjtere Farbe trage, dürfe man an feinem 
ichließlichen Heile nicht irre werden, Aufs mannichfachjte wechjelnd liegt dieſe 
Idee vielen feiner Bilder und Ausſprüche zu grunde, er Elagt, daß man diefe 
Lehre nicht genügend befolge. 


Manch Weibes Schönheit ruft man aus. 
Iſt die im Herzen nidt zu Haus, 

So lob ih, wie ich oben mollt, 

Den Glasfluß, den man ſetzt in Gold. 
IH acht Verfchulden nicht gering 

Dei, der in niedrigen Meſſing 

Den edelen Rubin jeßt feite 

Und alle feine Wunderfräfte. 

Ein rechtes Weib dem Steine gleicht, 
Die nie von rechter Weibheit weicht; 
Richt Äußere Farbe an mic zieht, 

Des Herzens Dad), das jeder fieht. 
Sicht gut in ihrer Bruft es aus, 
Daun flieg ihr Ruhm ins Land hinaus. 


Nun hat es Hartmann auch einmal für gut befunden, das Sprichwort, man 
jolle nicht nach dem äußern Scheim urteilen, feinen Hörern einzufchärfen. Herr 
Eref giebt feiner Überzeugung Ausdrud: 


Dep Wort geht ſicher fehl, der dreift 
Bon einem Weib jein Urteil jagt 
Nur nad) dem Kleide, das fie tragt. 
Man foll an einem Weibe 

Urteilen nad) dem Leibe, 

Ob diefem Lob und Preis gebührt, 
Nicht nad dem Kleide, das ihm ziert. 


Mag man einwenden, Hartmann habe hier nicht in eigner Perſon gejprochen; 
e3 bleibt doc für ihn ſelbſt charakteriftiich, wie ein und derjelbe Grundgedanfe 
von jeinem Helden, und wie er von Wolfram aufgefaßt wird. 

Nur in einem Werke hat Hartmann den engbegrenzten höfijchen Geſichtskreis 
überjchritten, eben in feinem „Armen Heinrich." Das arme Bauermädchen, das 
auf der Grenze von Kind und Jungfrau fich für feinen ausfägigen Herrn opfern will, 
halb aus religiöfer Schwärmerei, halb fich jelber unbewußt aus irdifcher Minne 
zu dem Wohlthäter feiner Eltern, erwedt rein menfchliche Nührung. Wird der 


Hartmanns Armer Heinrich. 407 


Leſer mit Groll gegen den jelbjtjüchtigen Kranfen erfüllt, der das gute Kind 
einem graufamen Tode preiszugeben entſchloſſen ift, jo erfreut die entjcheidende 
Wendung umjomehr, und die jchlieglich ftattfindende Mesalliance fichert dem 
alten Gedichte die unzweifelhafte Gunft des neunzehnten Jahrhunderts. Zum 
Lobe des Gedichtes, das zwilchen Legende und Novelle jchwanft, darf auch in 
betracht fommen, daß es eines der ungemein jeltnen Werfe unjrer mittelalterlichen 
höfischen Literatur ift, das feinen Stoff nicht dem Auslande fchuldig ift. Eine 
von der Sage ausgefchmücte wirkliche Begebenheit im Geſchlechte von Hart- 
manns Dienjtherren, derer von Aue, liegt der Dichtung zu grunde. Die neue 
Ausgabe iſt aus Wilhelm Wadernagel3 akademischen Borlefungen hervor: 
gegangen; Toijcher hat in taftvoller Weije die ſeit Wadernageld Tode heraus: 
gekommene Literatur über Hartmann und feine Werfe ergänzend herangezogen, 
jodaß die Ausgabe nach jeder Richtung hin dem neueften Stande der For— 
chung entjpricht. Die umfangreichen Anmerkungen Wadernagel® — in Fedor 
Bechs gleichfalls kommentirter Ausgabe zählt das Gedicht 49 Seiten, in der 
Ausgabe von Wadernagel und Toiſcher 98 Seiten — find hauptjächlich ſprach— 
erflärend und für Fachgenoſſen berechnet. Die Abhandlungen des Anhanges da- 
gegen werden aud) für weitere Kreiſe intereffante Belehrung bieten. Der „Ausſatz 
und defjen Heilung innerhalb der Gejchichte* bildet die allgemeine gefchichtliche 
Grundlage diefer und vieler verwandten Dichtungen (Konrads von Würzburg 
„Engelhard,“ die Legenden von Sanft Silvejter, Jourdans von Blaivins Amis 
et Amiles u. a.). Wadernagel giebt, auf medizinische Vorarbeiten gejtüßt, eine 
Beichreibung der verjchiednen Arten des Ausjages und der Behandlung, welche 
vonjeiten de3 Staates und der Gejellichaft den Ausfägigen zuteil wurde. Der 
Glaube, daß der Ausjag durch das Blut unjchuldiger Kinder geheilt werden 
tönne, war bei Laien wie Ärzten allgemein verbreitet. Im Mittelalter, jagt 
Wadernagel (S. 198), „waren ſehr häufig die Ärzte Juden“; in verjchiednen 
Erzählungen (von Papſt Innocenz VIIL) und Sagen (Hirlanda, Konſtantinus 
und Silvejter) „find es jüdijche Ärzte, die den Nat geben. Rechnet man hierzu 
noch, daß unter den Juden, wie es jcheint, der Ausjag noch lange als häufiges 
Erbübel fortgedauert hat, jo fällt ein neues Licht auf die fort und fort und 
überall wiederfchrenden Erzählungen, wie von den Juden Ehrijtenfinder auf: 
gefangen und ihnen das Blut jei abgezapft worden.“ Die zweite Abhandlung 
unterfucht die „jagenhafte Ausbildung und Amwvendung des gejchichtlichen 
Stoffes,” eine dritte „die Sage vom armen Heinrich und Hartmanns Dar: 
ſtellung.“ Nicht mit Unrecht hebt Wacernagel dabei hervor, daß Hartmann 
in der Darjtellung der Krankheit jehr disfret verfahren jei; in der That, ver- 
gleicht man wie 3. B. Stonrad von Würzburg in feiner Allegorie Der werlte 
lon den von Maden durchwühlten Rüden der ausjägigen Dame Welt mit Zola— 
chem Naturalismus gejchildert hat, jo weiß man dem jtreng den höfijchen Ans 
jtand wahrenden Kunjtjtile Hartmanns einmal aufrichtig Dank, Daß er diejen 


408 Ein Knopf von Goethe. 








„Armen Heinrich“ zwar beibehalten, aber auf einen rein menfhlic — 
Storf angewandt hat, giebt dieſem Gedichte feine eigentümlich bevorzugte Stel- 
fung im Kreiſe feiner und der mittelalterlichen Erzählungsfunft überhaupt. 


Marburg i. 5. Mar Kod. 


IR, w RED 





Ein Rnopf von Goethe. 


enn ich einen Knopf von Goethe einmal zufällig bekäme, ich 
hr glaube, ich würde ihn aufheben — wer von Gebildeten würde das 
>, * 2 nicht thun? — und vielleicht jorgfältig, vielleicht heilig aufheben, 
8 4 794 ‘ würde ihn mit Vergnügen, vielleicht mit Wichtigfeit zeigen, würde 
mir wohl auch gegen Spott, der zu erwarten wäre, Waffen zu— 
rechtlegen — das wäre eine fchöne Aufgabe, fie fünnte mich zur Ausführung 
reizen auch ohne den wirklichen Knopf. Ich weiß das ja nicht ficher, da ich 
eben keinen habe, aber ich kann mirs jo lebhaft denfen, daß es mir jo ergehen 
würde, und wahrlich, der befefjene Knopf von Goethe ijt mir unter der Hand 
ſchon wie ein wirklicher geworden! 

Aber — iſt er, wäre er wirklich von ihm? Nicht von irgend cinem All 
tagsmenjchenfinde? Allenfalls von einem Schreiber von ihm? Dann hätte ihn 
Gocthe wohl aber wenigſtens gejehen, wenigjtens einmal mit den Augen ge- 
jtreift — aber wer beweiſt oder beiviefe dies oder jenes? Er müßte von einem 
Manne oder einer Frau herrühren, die ihn etwa von einem abgelegten Rode 
oder einer Wejte (warum nicht im Notfall, auch von Beinffeidern?) an fich 
genommen hätte als Andenken. Hat man doch von Schiller eine ganze Weite 
im Scillerhaufe in Gohlis mit einer ganzen Garnitur von Knöpfen, warum 
nicht von Goethe einen Knopf? 

Und Goethe hat doch ficherlich auch Knöpfe an fich getragen, viel mehr 
als Schiller — wie viel? Die Frage ift wohl noch nicht aufgeworfen, nicht 
einmal von Dünger — fie wäre aber nicht ganz gleichgiltig, denn in dem Maße, 
wie die ermittelte Zahl der von ihm getragenen Sinöpfe wüchje, wüchſe auch 
die Möglichkeit, daß der betreffende Kuopf ein Goethe-Knopf wäre; ijt das nicht 
ſtatiſtiſch Togisch ficher? Statijtif und Logik aber find die allerficherjten, wo 
nicht die einzig fichern Werkzeuge zur Conjtatirung eines Saßes, den einer an— 
gezweifelt; das ijt ja cine der glüclichiten Errungenschaften der Jeßtzeit, die 





Ein Knopf von Goethe. 409 


alle Vorzeit an Tiefe und Weite des Gefichtsfreifes jo unendlich weit hinter 
ſich läßt. 

Aber — wenn nun der Knopf jo als Goethe-Knopf glücklich wahrſchein— 
(ich gemacht wäre — denn weiter würde man es jchwerlich bringen — es müßte 
denn der erite Beſitzer oder Enverber den Eugen Einfall gehabt haben, etwa 
von der Univerfität in Jena herüber angeweht von dem hohen Begriffe wiffen- 
Ichaftlicher Gewißheit, der fich jeit Kant ausgebildet hat in den Geiftern, die 
von Wahrheit den jtrengjten Begriff haben (und kann der je zu ſtreng fein?) — 
e3 ijt ja eine Freude, zu jehen, wie die jchöpferiiche Phantafie auch in der 
Arbeit der ftrengen Wiſſenſchaft nun gejchult wird und jich dichtergleich immer 
weiter jelbjt jchult in Auffindung aller Möglichkeiten, die einen zu beitimmenden 
fraglichen Punkt umlagern: wir machen dadurd) die wunderbare Erfahrung, daß 
die Kritik, fonjt die Feindin der Kunſt als Welt des ſchönen Scheins, ſelbſt 
zur Dichterin wird ohne, ja wider ihren Willen, eine der erfreulichiten und hoff- 
nungsschwangeriten Erjcheinungen in der Gegenwart — alfo wenn der glückliche 
erfte Erwerber jenes Knopfes, um für die Zukunft die Fülle negativer Mög- 
lichfeiten abzujchneiden, jo weile gewejen wäre, ich über feine Echtheit eine 
wohlbeglaubigte Urkunde ausjtellen zu laſſen — ja von wen denn? von einem 
Notar? da würde er fich wohl zu jeher vor Muslachen gefürchtet haben — am 
liebſten von Goethe jelbjt, der hätte ihn vielleicht nicht ausgelacht, hätte wohl 
in dem Begehren einen tiefen, ſchönen Sinn empfunden, hätte die ihm damit ans 
geregten Gedanken wohl gar eines jchönen Morgens (mo er ja jo gern etwas 
Großes oder Kleines in Reimen tiefen Sinnes fich zufammenfaßte, Eryftallgleich) 
Reime davon gemacht — viel wunderbarer wäre das nicht, als daß er 5. ®. 
Stricdnadeln jo finnig mit Reimen verewigte (daß diefe Stridnadeln nicht auf- 
gehoben worden find!) — aber freilich, die Reime wären dann auch erhalten 
und mein Goethe-Knopf fällt damit ins Nichts — aljo lieber etwa vom Stammer- 
diener, um den Eoboldgleich andringenden Möglichkeiten furz den Pfad abzu— 
ichneiden — 

Aljo wenn eine folche Beurkundung vorläge (mag mein Sa, wie ich ihn 
ſo Ianggefchlängelt in meinem langen Leben doch noch nicht gelejen habe, ſelbſt 
ein Heine Abbild fein von jener Unendlichkeit der vom Wirbehvind der Phantaſie 
aufgetriebenen Möglichkeiten) — aus welcher Zeit wäre er? Der gewifjenhafte 
Mann füme um die Frage nicht herum zu ganzer Freude an dem Gocthefleinod. 
Und bei jedem Gebildeten, ber in der Luft des Geiltes der Wiſſenſchaft lebte 
und dem er es zeigte, müßte er auf die Frage gefaßt fein, wie bei einem neu- 
gefundnen Goethe-Briefe ohne Datum, er fände feine Ruhe vor der Frage, wenn 
fie ohne Antwort bliebe. 

Nun, das Retten des merkwürdigen Knopfes wäre etiwa im die zwanziger 
Jahre zu jeßen, faum früher — aber auch den Knopf jelber? Bon einem neuen 
Goethe-⸗Kleide wäre er doch ficherlich nicht! Das braucht jich die Phantafie 

Grenzboten IIL 1885. 52 





410 Ein Knopf von Goethe. 


nicht weiter auszumalen, fie wird fo noch genug zu thun finden. Alſo älter, 
von einem ältern Rode des Minifter-Dichters, um fortan beim Rode zu bleiben 
und der geplagten Phantafie, die da die Wege der ftrengen Wiſſenſchaft zu 
wandeln hat, auch darin die Arbeit zu erleichtern. 

Die Entſcheidung läge eigentlich in der Geſchichte der Knopffabrikation oder 
des Geſchmackes und der Mode, wie ſie ſich an den Knöpfen nach Form und 
Stoff entwickelt haben, doch wohl auch nach Pariſer Vorbild, wie die ganze 
Geſchichte des Kleidergeſchmacks im achtzehnten Jahrhundert und länger. Giebt 
es ſchon ſo etwas wie eine Geſchichte der Knöpfe? Oder hat ſchon ein gelehrter 
Liebhaber an ein vorläufiges Sammeln dafür gedacht? Für Haartracht und 
Fußtracht iſt ſchon fleißig geſammelt, auch für die Kleidung, ob aber für die 
Kuöpfe? Ich zweifle daran. Es wäre eine Aufgabe des Germaniſchen National- 
mufeums, das da diefer Goethe⸗-Frage helfend beilpringen könnte. Es bedürfte 
wohl nur einer Anregung. Sammelt man doch dort fo eifrig 3. B. für die 
verfchiednen Sporenformen ber ältern Zeiten, warum nicht auch für die ver- 
ſchiedne Knopfform unfrer Väter, Großväter, Urgroßväter u. f. w.? Mein 
Goethe-Knopf fünnte vielleicht dazu den Anftoß geben, ja er könnte dadurch in 
der deutjchen Wiffenjchaft der Zukunft berühmt werden als Ausgangspunkt 
eines neuen und lehrreichen Zweiges der vaterländiſchen oder europätichen 
Wiſſenſchaft, der doch früher oder jpäter einmal eingereiht werden muß in Die 
Gejamtforichung über das Menjchliche in feinem Werden und Wandeln, wenn 
diefe Forichung zu einem ihrer legten Ziele, zu Vollſtändigkeit und abjchliegender 
Erledigung fommen fol, nach der jede gelehrte Seele lechzt. Man würde 
daran auch jehen, in welch weitem Sinne, viel weiter als man noch ahnt, 
Goethe nunmehr für alle Menjchenforfhung unwillkürlich der gebietende und 
lebenausſtrahlende Mittelpunkt wird, um den fich alles Menjchliche für die Zu- 
funft der Menjchheit wohlgeordnet herumlagert oder vielmehr herumbewegt, 
wie die Gejtirne um die noch zu findende Urjonne, wozu ja jchon in dem be— 
wußten oder halbbewuhten Gedankenkreiſe des Lebenden der Anjat oder Keim 
gegeben und ausgeiprochen ift. Auffallend ift mir dabei, daß er, der plaſtiſche 
Nealift, der alles Erjcheinende, bejonders am Menjchen, jo Har und jcharf vor 
fi) ſah, auf feine oder andrer Knöpfe nie geachtet Hat, joviel ich mich erinnere. 

Aber wir, die Nachgebornen, künnen oder müſſen das wohl nachholen nach 
Möglichkeit, nicht bloß meines Goethe-Knopfes wegen. Und wenn jekt Abitu— 
rienten, die ſich ausweiſen jollen, daß fie reif find für Mitarbeit in der höhern 
Geifteswelt, auch nach den Trinfgefäßen gefragt werden, aus denen Horaz feinen 
Wein getrunfen hat, jo find wir vielleicht in zwei- dreihundert Jahren jo weit, daß 
fie auch nach den verjchiednen Röden, Knöpfen, Perücen u. ſ. w. gefragt werden 
können, in denen man Goethen in verjchiednen Perioden in den fiebziger, acht- 
ziger, neunziger Jahren u. ſ. w. gejehen hat, vielleicht auch nach ben tiefern 
Beziehungen, in denen dieſe feine verjchiedne äußere Erjcheinung zu feiner ver- 


Ein Hnopf von Goethe. 411 








ſchiednen Weltſtimmung, zu ſeiner innern Erſcheinung geſtanden haben muß; 
denn wenn die Goethe-Forſchung, außer etwa bei ſeinem Auftreten in Weimar 
in Wertherkleidung, auf dieſen Punkt noch nicht weiter eingegangen iſt, ſo wird 
ſie doch wohl noch darauf kommen müſſen, die erhaltnen Bildniſſe geben Anhalt 
genug dazu, und da können denn auch die Knöpfe nicht außer Acht bleiben. 
Iſt's einem doch in Augenblicken einer gewiſſen ſo recht goethiſchen Stimmung, 
als könnte auch jeder Knopf an ſeinem Kleide nicht anders als irgendetwas 
Goethiſches an ſich gehabt haben. 

Aber ich kann mit meinem Goethe-Knopf nicht ſo lange warten, ich lebe ja 
dann nicht mehr. So muß denn die Phantaſie einſtweilen die verſteckten Pfade 
ſuchen, welche einſt die ſtrenge Wiſſenſchaft finden wird. Iſt es doch ohnehin 
einer von den Zeitirrtümern, denen man ſich entziehen muß, daß die ſtrenge 
Forſchung die Phantaſie ganz entbehren könne oder ängſtlich meiden müſſe, 
während fie in Wahrheit ſchon vielfach die Wege der Phantaſie wandelt, wie 
oben erwähnt ift. 

Die Phantafie fteht da zuerjt vor der Frage: Wie lange trug Goethe 
jeine Röde? Gewiß nicht, wie fich das nun in der guten Gejellichaft entwidelt 
hat, nur etwa ein Jahr lang; denn das Geſellſchaftsgeſetz, eigentlich Schneider- 
gejeß, beitand nod) in meiner Jugend nicht, daß man jedes Jahr oder wohl 
auch für jede Sommer: und Winterfaifon einen neuen Rod brauche, um im 
Einklange zu bleiben mit dem gebictenden Geifteshauc dort vom Pariſer 
Schneider- Olymp her, der für jede Saijon etwas ungeahnt Neues, Schönes 
aufitellt, als äußerjten, alſo ficherften Maßſtab der Bildung. Sicherheit für 
Goethen wäre wohl mur zu gewinnen, wenn es einem gelänge, eine Überlieferung 
in einer weimariichen Schneiderfamilie aufzutreiben, was ich nicht für unmöglich 
halten kann, da ich z. B. jelbjt einmal vom Schwiegerjohne des Sohnes eines 
Diener Goethes Züge von feinem Verhalten bei dem plündernden Auftreten 
der Franzoſen in Weimar nach der Jenaer Schlacht erzählt befommen habe, 
und das war im Jahre 1878 oder fo, alfo um fiebzig Jahre oder mehr zurück 
gehend. 

Goethe trug jeine Röde, das darf man fich einftweilen mit der Phantafie 
vorstellen, gewiß länger als wir, und auch dann, wenn er fie öffentlich ablegte, 
trug er fie wohl noch im Haufe weiter, wie man das ja jegt nod) macht. Auch 
das fann mich in der Vorftellung nicht irre machen, daß wir ihm bei Heinrich 
Voß im Anfang unfers Jahrhunderts ‘abends in einer wollenen Jade am Ofen 
lehnend und Weijes und Hohes jagend jehen, aljo ganz wie ich in dem vierziger 
Jahren meinen Onkel, der Tijchlermeifter war, gejehen habe, d. h. was Die 
wollene Jade betrifft. Leider giebt Voß die Farbe der Jade nicht an, was 
doch für die Vorftellung eine leidige Lücke bleibt, man denkt fie ſich nun une 
willfürlich oder vielmehr willfürlich von ungefärbter Wolle, alſo in häßlichſter 
Farbe (die meines Onkels war blau). 





412 Ein Knopf von Goethe. 





Aber, meine liebe Bhantafie als Pionier der Wiffenfchaft, ſuche mir endlid) 
die Zeit, in welcher der abgelegte Goethe-Rock jung war oder jung wurde! Greif 
lieber gleich weit, um ficher zu gehen, daß feine kleinſte Möglichkeit ausfalle. 
Du weißt doch, wie es deine ernſte Schweiter, die Wiſſenſchaft, bei ſolchem Suchen 
im Finftern mit dem terminus ad quem und dem terminus a quo macht. Den 
eritern hätteft du wohl jchon in den zwanziger Jahren unſers Jahrhunderts, 
num greif mutig nach dem letztern. Ob etwa gar noch die Werther:Beit? d. 5. 
für und die Werther-Stleidung, in der er in Weimar auftrat? Das wäre wohl 
der wachjenden Goethe-Gemeinde das liebſte. Aber nein, die Hoffnung ift nicht 
haltbar. Er wandte fich in Weimar von der Werther-Stimmung bald fo ent: 
ichieden ab und lernte ihr den Rüden kehren bis zu Widerwillen dagegen, dat 
er ja den Werther jelbjt über ein Jahrzehnt nicht wieder anjah, daß er, wenn 
das Buch nicht ſchon gedrucdt geweſen wäre, ihn vielleicht auch aus Sinn und 
Händen verloren hätte, wie den Prometheus, diefen troßig geworden Werther, 
wie man ihn wohl nennen fünnte. Aljo mit einem Werther-Goethe-Knopf ift 
es auf alle Fälle nichts, Liebe Phantafie, jo jchön es wäre. Das Werther-stleid 
ift ficher bald beijeite gelegt und weiter verbraucht worden. 

Anders ftcht es mit Italien. Dort ift ja feine Seele fo Hängen geblieben, 
daß er noch ſpät Äußerungen fallen läßt, die einem weh thun, wie die, daf er 
feinen glüdlichen Tag wieder gehabt Habe, feit er über den Ponte Molle heim 
wärts fuhr. Was er von dort mitbrachte, hatte ficher für ihm den Schein um 
ji), den Italien, Rom jelbft für ihn hatte, und wurde ficher, je nad) feinem 
Werte, getreulich und heilig im Hauswejen aufgehoben, gewiß auch Die Kleidung, 
die er in den glüdlichen Tagen getragen hatte, deren Glanz jich erhöhte mit 
der wachjenden Ferne von Zeit und Naum, und da möchte ich denn der lieben 
Bhantafie für unjern Knopf den Nat geben, auf ihrer Suche Halt zu machen 
und in dem Meere von Möglichkeiten hier Anfer zu werfen. Gewißheit iſt damit 
freilich nicht gegeben, aber eine gewijje gemütliche Wahrjcheinlichkeit — und, 
geftehe man ſichs nur — weiter bringt mans auch) jonjt nicht in allen eigent= 
lichen Menjchenfragen, ja: je wichtiger an innerm Wert cine jolche Frage iſt, 
je mehr muß man ſich endlich bei einer gemütlichen Wahrjcheinlichkeit der Ant: 
wort beruhigen, bi3 in die höchſte Philojophie Hinein. 

Bliebe zulegt nur noch eine Frage: war das betreffende Kleid mit von 
Weimar nach Rom genommen? oder dort gefertigt und mit nad) Weimar ge- 
fommen? Befjer und wahrfcheinlicher ift Doch das zweite — aljo ein römijcher 
Knopf und damit wohl noch goethifcher, als wenns nur ein deutjcher wäre, 

Sa aber — was rede ich da drauf los von dem Knopfe Goethes mit ift, 
ijt! wo ift er denn? ach, auch mur noch in der Phantafie! mir wars aber 
wirklich immer mehr geworden, als hätte ich ihn zu Haufe im Kaften liegen. 

Nun, dabei bleibts doch: wenn ich ihn Hätte, ic) würde ihn als wert und 
wichtig aufheben, wie der Schillerverein in Leipzig Schillers Wefte, wiirde mir 


Brauch uud Mißbrauch. 413 








— Goethen wie — näher fühlen, als es durch Pepier er Druderfchwärze 
möglich ift. Hätte ich ihm nur erjt! 
Berfa, Auguft 1885. $.D. 





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Brauh und Mißbrauch. 


1 nire Zeit hat es zu einer bemerfenswerten Fertigkeit in der Kunſt 
1 gebracht, jchöne Gebräuche in Mißbräuche, nügliche Beſtrebungen 
LE | Durch Übertreibung in ihr Gegenteil zu verwandeln. Eine lange 





mand in Verlegenheit ſein, der mit einiger Aufnertſamtei den 
Vorgängen des Tages folgt; wir wollen für diesmal nur zwei Fälle heraus— 
greifen, welche ganz bejonders den Vorzug der „Aftualität” genießen. 

Es ift noch fein halbes Jahrhundert her, daß die Übung und Steigerung 
der Körperfräfte in Deutjchland wieder als Erfordernis einer vernünftigen Er- 
ziehung anerfannt wird. Das Turnen war al3 hochverräterijche Beichäftigung 
geächtet, Schwimmen und Rudern wurde vernachläffigt, Gelegenheit zum Reiten, 
einer Kunst, welche noch im Anfange unſers Jahrhunderts jedermann verjtand, 
hatten fait nur noch der Soldat und der Landwirt, und jyjtematijches Fuß— 
wandern fand beinahe nur bei der afademijchen Jugend Pflege, jeitdem auch) der 
Handwerfsburfche auf der Eifenbahn „wanderte.“ Doch follte gerade die Eijen- 
bahn einem eignen Zweige der Wandertechnif zu einem früher ungeahntem Auf: 
ſchwunge verhelfen, dem Bergejteigen. Was fich früher nur der Bewohner oder 
Anwohner einer Gebirgsgegend gewähren konnte, das ift nun jedem ermöglicht. 
Die Schienenwege bringen uns in fürzejter Zeit aus der Ebne an den Fuß 
der Ulpen, und in hellen Haufen ziehen namentlich die Großftädter, fobald „der 
Schnee von der Alm weggeht,” in Lodenjoppe, Lederhojen und Bundichuhen, 
mit Bergitöden und Steigeijen bewaffnet, aus, um in die Gletſcherwelt empor: 
zuflimmen. Und ijt das nicht Hocherfreulih? Wer möchte dem rüftigen Jüng— 
linge mißgönnen, in der erhabnen Bergnatur den Dunft und Staub und die 
Mühſal des jtädtiichen Alltagslebens abzuſchütteln, in der reinen Luft die 
Bruſt auszuweiten, das arbeitsmüde Auge zu erquiden an dem kräftigen Grün 
der Matten, die Spannkraft der Muskeln zu üben in mühjamem Aufjtieg, für 
den (wenn das Glück gut ijt) ein Blid in ungemeffene Fernen auf die im 
Abendlicht glühenden Schneehäupter entjchädigt. Gewiß feiner, der felbjt jemals 
dieſe Luft gefojtet Hat. 


414 Braub und Mifbraud. 





Uber num beginnt der Sport, die Manie, das „Fexentum.“ Micht um 
jene Fülle von Genüffen ift e8 heutzutage Unzähligen zu thun. Nicht um fich 
an der Ausficht zu erfreuen, Hettern fie empor, fonderu nur um zu Klettern, und 
das nicht zur Stählung der Muskeln und Nerven, fondern — des Ruhmes 
halber. Das Wagnis ift der Kern der Sache. Mit Verachtung bliden fie auf 
die Philifter herab, die den Gipfel auf gebahnten oder doc) gefahrlojen Wegen 
erreichen wollen: das hat feinen Reiz für den profejfionellen Bergfteiger. Ein 
Punkt muß erflommen werden, den noch feines Menjchen Fuß betreten hat, 
oder zu dem doch wenigjtens noch nie jemand auf diefem Wege gekommen: ift. 
Hat aber fchon einer den Ruhm vorweggenommen, unter fteter Lebensgefahr 
an der fteilen Wand aufgejtiegen zu fein, jo muß der zweite das Kunftitüd in 
fürzerer Zeit vollbringen. Ein Führer? Lächerlich, den braucht der Sonntags- 
tourijt; der Bergjteiger von echtem Schrot und Korn würde fich ſchämen, die 
Gefahr feines Unternehmens irgendwie zu verringern. Wer aber reiht jich gern 
in die Schaar der Pilettanten ein? So wächſt denn von Jahr zu Jahr die 
Zahl der Mitglieder der ZTouriftenvereine, deren Mitgliedgfarte wohlfeilere 
Fahrt auf den Eijenbahnen verjchafft, aber leider nicht die Kurzſichtigkeit Heilt, 
fräftige Musfeln und Bänder, Bejonnenheit und Geiftesgegenwart verleiht. 

Und ift das Wagnis mißlungen, ift der Slletterer ausgeglitten und in den 
Abgrund gejtürzt, oder hat er, vom Nebel überrajcht, einen noch furchtbareren 
Tod auf einem Eisfelde gefunden, oder hat er als einzige Ausbeute die Lungen— 
Ichwindjucht mit nach Haufe gebracht, dann bringen Touriftenseitichriften und 
Tagesblätter jchwungvolle Nachrufe auf den Heldenmütigen, welcher fein junges 
Leben der guten Sache zum Opfer gebracht hat. 

Der guten Sache? Welcher denn eigentlich? Würde das geglücdte Unter: 
nehmen etwa der Wiſſenſchaft irgendeine Frucht geliefert haben? Bei den aller: 
meiſten geht das Berftändnis für die Dinge, welche da in Frage fommen könnten, 
nicht über den ordinären Dilettantismus hinaus, ſodaß ihre etwaigen Meffungen, 
meteorologischen, geologischen u. |. w. Beobachtungen keinerlei Sicherheit ge— 
währen. Um Mut und Ehrgeiz ift es wahrlich eine jchöne Sache, aber wenn - 
fie nicht im Dienfte eines vernünftigen Zweckes jtehen, giebt man ihnen andre 
Namen. Mit Necht ift bemerft worden, daß Leute, welche ihre Thatfraft und 
ihre Beherztheit nur auf Bahnen bewähren fünnen, auf welchen uns andre der 
Schwindel ‚ergreifen würde, die nüßliche Beichäftigung des Dachdeders ergreifen 
jollten: da könnten fie zwilchen Himmel und Erde auf Eifenjproffen auf» und 
abfpazieren, auf Dachfirſten balanciren und auf einem Turmknopf jtehend die 
Bewunderung des unten verfammelten Wolfes erregen; und begegnete ihnen da 
ein Unglüd, jo wären fie wirklich in einem Berufe, für eine gute Sache gejtorben 
wie der Soldat im Felde. 

Aber es iſt ein Stüd Größenwahn, was jo viele junge Männer und — 
Damen zu den waghaljigen Unternehmungen treibt, und wie jeder Wahnfinn 


Brauch und Mifbraud. 415 


— — — 


hat auch dieſer etwas anſteckendes. Wer nicht genügende muſikaliſche Anlagen 
oder Zahlenfinn mit auf die Welt gebracht hat, um zu einem Wunderkinde 
abgerichtet zu werden, der kann auf feine einfachere Weile jchon in jungen Jahren 
berühmt werden als durch tollfühnes Klettern. Alle Zeitungen nehmen von 
feinen Unternehmungen Notiz, dejto ausführlicher, je unvernünftiger diefe waren; 
bald Heißt er „der befannte,“ und nach jeder neuen „Kraxlerei“ lauten die 
Epitheta jchmeichelgafter. Wie viele Schanzen müßte er erjtürmt, wie viele 
Planeten entdedt, wie viele gelehrte Werke verfaßt haben, um nur die Hälfte 
jolches Zeitungsruhmes einzuheimjen? Und wofür lebt denn die heutige Menfch- 
heit noch al3 für den Zeitungsruhm? Der Berunglüdte liejt freilich die Tiraden 
nicht mehr, welche ihm ins Grab nachgejchrieben werden; allein wir erleben ja 
auc) wirkliche Selbjtmorde, welche mit aller Borjorge für den Nachruhm in 
den Zeitungen in Szene gejeßt warden find! Wielleicht daß die ſich immer 
mehr häufenden Unglüdsfälle endlich einen wohlthätigen Schreden erzeugen und 
insbejondre den Beförderern und Lobrednern des Bergferentums ihre jchwere 
Verantwortlicjkeit zum Bewußtſein bringen: an eine eigentliche Heilung der 
Manie glauben wir vorläufig nicht, da wir fie nur für ein Symptom eines 
tieferliegenden ÜÜbels unfrer Zeit halten. 

Auf eine andre Seite in diefem Kapitel gehört der mit Kränzen getriebne 
Unfug. Welche fchönen und welche lieblichen Bilder zeigt ung die Geſchichte 
des Kranzes in vergangnen Zeiten! Da ziert der Olzweig den Scheitel des 
Siegerd in den Kampfſpielen der Griechen, mit Epheu und Roſen befränzten 
ſich die Genofjen beim feftlichen Mahle, mit Blumenfränzen im Haar erjcheinen 
die Kinder bei Prozeſſionen und andern kirchlichen Feierlichkeiten, Jünglinge und 
Sungfrauen bei Tanz und Spiel, der Lorber Frönt den Krieger und den Dichter, 
mit goldnen Kränzen ſchmücken fich die Frauen von Florenz; der Franz iſt der 
höchſte Schmud der Braut, den Kranz legt man al3 Huldigung auf ein Grab 
oder auf die Stufen eines Denkmals nieder; Kranz, Blumen- und Fruchtgehänge 
haben die deforativen Künſte jeit den Tagen der Nenaiffance in umendlicher 
Mannichfaltigfeit und mit unerjchöpflichem Neiz zur Anwendung gebracht. Ein- 
zelne von diefen guten Sitten find noch nicht außer Gebrauch gefommen, aber 
faft muß man ſich wundern, daß dem noch aljo if. Denn dürfen wir einem 
großen Manne noch den Zorber zu bieten wagen, der haufenweis jeder Sprin- 
gerin und jedem Poſſenreißer vor die Füße geivorfen wird? Und dafür kann 
nicht als Entichuldigung gelten, daß „die Nachwelt dem Mimen feine Kränze 
flechte,” denn das iſt längft nicht mehr wahr. 

Und nun die finnloje Übertreibung des jchönen Herkommens, den Toten 
noch einen Blumengruß mit ind Grab zu geben! Als ob der Grad der Liebe 
und die Größe der Trauer durch Umfang und Preis der Spende ausgedrüdt 
werden müßte! Im manchen Städten hat man nachgerechnet, daß nicht Hunderte, 
Sondern Taujende für die Kränze aufgewandt worden find, welche mit in eine 











416 Brauh und Mißbrauch. 











von händebreitem Bande zujammengehalten werben, auf deren Enden Widmung 
und Name des Spenders in Goldichrift prangen. Und Widmung und Name 
prangen natürlich auch am nächjten Tage in der Zeitung. Wie oft würde ein 
Begrabner, wenn er wieder auferftünde, ftaunen, unter feinen „Verehrern,“ 
„Freunden,“ „dankbaren Schülern” u. ſ. f. fo viele Perſonen aufgezählt zu 
finden, zu denen er in ganz oberflächlichen, vielleicht nichtS weniger als freund- 
Ichaftlichen Beziehungen gejtanden hatte! Eine widerwärtigere Art der Reklame 
iſt faum zu denken. 

Und wenn num gar an dem friichen Grabe Verwaiſte jtehen, die ihren Ber: 
jorger verloren haben, welcher ihnen nicht3 als den guten oder berühmten Namen 
hinterlafjen Hat, wenn mit Mühe und Not nur joviel aufgebracht wird, daß 
die letzte Ruheſtätte des Dahingegangnen, in würdiger Weiſe für die jpätern 
Generationen gekennzeichnet werden fan, muß es dann nicht als finnloje Ver— 
Ihwendung erjcheinen, große Summen in der Erde verwejen zu lajjen? Es ijt 
vielfach gegen die Eojtjpieligen, mit Schmäufen verbundnen Leichenfeierlichkeiten 
geeifert und es ift nachgewiejen worden, daß in manchen Gegenden der Auin eines 
Hausftandes mit dem Begräbnifje des Vaters zu beginnen pflegt; man bemüht 
fi, der Unfitte zu jteuern, daß Witwen, die nicht wiffen, wie fie fich und ihre 
Kinder durchbringen follen, doc, das Lebte zujammenraffen, um das Familien— 
haupt nad) einer „höhern Klaſſe“ beerdigen zu lafjen, weil fie das feiner oder 
ihrer eignen Ehre jchuldig zu fein glauben. Aber folche Bejtrebungen haben 
wenig Ausficht auf Erfolg, wenn die Höhergeftellten mit jchlechtem Beiſpiel 
vorangehen. Jeder Luxus iſt verdammenswert, der den Unbemittelten zur Nach: 
ahmung reizt. Und die Blumenzucht und die Seidenweberei werden nicht zu— 
grundegehen, wenn die den Verjtorbnen erwiejenen Ehren fich wieder in ver- 
nünftigen Grenzen halten. Ein Blütenzweig, in treuer Liebe dargebracht, Ipricht, 
dünft uns, beredter, als ein Kranz von zwei Metern im Durchmefjer und Die 
pomphaftejten Phrajen. 








Um eine Perle. 
Roman von Robert Waldmüller (Ed. Duboc). 
(Fortjeßung.) 


3 ift heraus, jagte der Alte in etwas milderem Tone; jei e3 damit 
genug; ſetze dich, jchlage das Buch wieder auf und lie weiter. 
* Es iſt heraus, wiederholte Fiorita tonlos, indem ſie traurig 
Mniederblickte; der vergiftete Pfeil iſt aus dem Köcher heraus, und 
a ſein Widerhafen ſteckt mir im Herzen. 

Der Greis zudte die Achjeln. 

Ihr werft mir vor, Vater, fuhr Fiorita fort, da8 Wappen unjers Haufes 
in den Staub getreten, Euer greijes Haupt mit Schimpf und Schande bededt 
zu haben. Iſt dem wirklich jo? Nie zuvor ift man Eurer Tochter mit folcher 
Ehrfurcht begegnet wie jeit dem Tage, der fie zum Witwenjchleier verurteilte. 
In der Kirche macht mir Alt und Jung Platz, auf dem Wege dahin darf ich 
nicht aufbliden, ohne daß Hoc und Niedrig, Vornehm und Gering eine teil- 
nehmende Miene, einen mitfühlenden Gruß für mich in Bereitjchaft haben, ohne 
daß alles in dem Bemühen, mir meine Schmerzensbürde tragen zu helfen, wett- 
eifert. Erjt heute noch hat es mich bejchämt, der Gegenstand fo alljeitiger Anteil 
bezeugungen zu fein; ich hatte, um beim Verlaſſen der Kirche ans Weihbeden 
zu gelangen, gleich vielen andern einige Augenblicke warten müjjen, da boten 
mir drei Hände gleichzeitig Weihwafjer an — ein ganz gewöhnlicher Liebes- 
dienft, werdet Ihr jagen; gewiß! eine Freundlichkeit, die das Volk fich unter- 
einander täglich erweilt; aber wann wagt es fi) damit an eine Dame von 
Stande heran? Nie früher hat man fi) um mein Warten gekümmert. Jetzt 
iſt es rings um mich her jedem ein inniges Bedürfnis, mir einen Liebesdienjt 
zu leiten, mir wohlzuthun. Und mein Vater wirft mir vor, fein greijes Haupt 
mit Schimpf und Schande bededt zu haben! 

Marcello murmelte unverjtändliche Worte vor fich Hin. 

Grenzboten III. 1885. 53 





418 Um eine Perle. 





Ich weiß, fuhr Fiorita fort, Ihr verachtet das jchwanfende Urteil der 
Menge; es fei darum, fie ift nicht fähig, die Tagesereigniffe anders als nad) 
dem trüglichen äußern Scheine zu bemefjen; fie hatte über PBrimaticcios Be- 
rufung gejubelt, und heute ſchwört fie auf die höhern Verdienſte der neuen 
Räte; Fernando ift heute ihr Abgott, wer weiß, ob fie ihm nicht morgen fteinigen 
möchte! Ich will jene Herzlichfeit, mit der man mir begegnet, nicht für mehr 
gelten laffen als für den Ausdrud des natürlichiten Gefühls, welches Gott in 
die Bruft des Menjchen legte, das des Mitempfindend. Aber daß Ihr dies 
Gefühl in Eurer Bruft erjtidet — warum? um eines politischen Hajjes, um 
eine vbermeinten Sonderrechtes, um eines Wappenfultus willen —, o mein 
Vater, glaubt Ihr damit in Wahrheit Euch höherzuftellen als jene von 
warmen Antrieben blindlings® beherrichte Menge? Wenn fie Zeuge geweſen 
wäre der Worte, mit welchen Ihr Eurer Tochter vor wenigen Augenbliden das 
Blut aus den Wangen triebet, die Menge würde jenen Haß, jenen Rechtsdünfel, 
jenen Wappenfultus, dem zuliebe Ihr jo hart und unverjöhnlich wurdet, mit 
dem Worte Gößendienft gebrandmarkt haben, und diesmal hätte Gott jelber 
durch ihren Mund gejprochen. 

Marcello ballte zornig die Fauſt, aber er biß nur die Zähne zuſammen, 
er redete nicht. 

Ich ſoll unſer Wappen in den Staub getreten haben? hob Fiorita von 
neuem an. Es prangt zwar in Stein gehauen über unjrer Thür, umd jeder 
bezeugt ihm Achtung. Aber Ihr jagt, ich trat es in den Staub, und ich will 
annehmen, daß dies nach Eurer Auffafjung durch meinen Bund mit einem 
Gonzaga geſchah. Aber was bedeutet das Wappen der Buonacolfi in der 
Stadt, die fie einft al Gebieter beherrfchten? Bedeutet e3 nicht dem under- 
jährbaren Anſpruch auf ein Wiederbefteigen des Thrones von Mantua? Num, 
e3 ijt ein Gonzaga gewejen — wie dort in Eurer Chronik zu leſen fteht —, 
der den letzten Regenten unſers Stammes mit dem Schwerte durchbohrte, 
warum follte es nicht wieder ein Gonzaga fein, der jenen Frevel rächte? Aber 
Ihr jagt vielleicht: jo Handelt ein Gonzaga, ein Buonacolfi fteht dafür zu body. 
Da antworte ich: Hat denn jener erjte fede Capitano generale, der den Namen 
Buonacolfi mit der Fürjtenkrone jchmüdte, Hat denn Pinamonte YBuonacolfi 
Bedenken getragen, durch Verrat und blutige Straßenfämpfe fi den Weg zum 
Throne zu bahnen? Wenn Eure Chronijten nicht lügen, jo watete er im Blut. 
Und haben wir uns diejes Gründers unfrer Dynaftie jemals gejchämt? des— 
wegen geihämt? Dort im Saale hängt feine Rüftung, und alljährlich mußte 
ich bisher für feinen Helm ein Lorberreis brechen. 

Marcello jchüttelte unmutig die filbernen Locken, aber fein Mund blieb 
geichlofien. 

Unehrenhaft, fuhr Fiorita fort, ift e8 aljo nicht im Sinne der Buonacolfi, 
eine Regierung auf dem Wege der Gewalt an fich zu reißen, und unehrenhaft 





Um eine Perle. 419 


ift es ebenjowenig, diejenigen Männer dazu als Helfer fich gefallen zu lafjen, 
die fich dazu erbieten. Ein folcher, fette fie mit thränenerftidter Stimme Hinzu, 
ein folcher war mein Gatte — und Ihr, Vater, gabet ihm den Tod! 

Marcello bededte jeine Augen mit den Händen. Höre auf! murmelte er. 

Ihr wußtet nicht darum, Vater, fuhr Fiorita, nähertretend, fort, Eud) 
trifft fein Vorwurf; Ihr glaubtet einen Entführer Eurer Tochter zu erjchlagen, 
und zu einem Entführer hatte Euer mir verhaßtes Vorhaben mit meinem Better 
Abbondio — Gott habe ihn ſelig — ja in der That Giufeppe Gonzaga ge: 
macht. Aber nun er jeine Liebe zu Eurer Tochter, nun er feine Abficht, für 
Eure Rechte, Vater, eintreten zu wollen, mit dem Tode gebüßt hat, warum ver: 
folgt Ihr ihn jegt noch mit Euerm Haffe, warum ſchmähet Ihr Eure Tochter, 
der es nur bejchieden war, die Ängſte und Schmerzen der Liebe zu foften, nicht 
ihre Wonnen, warum vergiftet Ihr den Dajeinsreft, der Euch und mir hienicden 
noch zugemefjen ift, jtatt daß Ihr mir, der Trauernden, Troſt jpendet, jtatt 
daß Ihr aus dem Quell meiner findlichen Liebe Frieden jchöpfet, Frieden, endlich, 
endlich, mit Gott und den Menjchen? 

Sie war an feinem Seffel niedergejunfen, denn er hatte mit abgewandtem 
Gefichte feine zitternde Hand nach) ihr ausgejtredt, Halb unbewußt, faft wider 
Willen. 

Noch immer fträubte fich etwas von dem alten Buonacolſi-Trotze in ihm, 
er wollte ſich nicht für beficgt erklären, er jtemmte ſich gegen feine eigne Bewegung, 
er hätte ihr jeine Hand, die fie ergriffen Hatte, wieder entzogen, wäre er nicht 
mit fich jelbft im Zwieſpalt gewejen. 

Sp ließ er fie ihr; und Fiorita, welche fühlte, daß die Eisrinde feines 
Herzens dahinjchmolz, jchlang den Arm um jeinen gebeugten Naden. 

Mein Vater, jagte fie ſanften Tones, ich atme zum erjtenmale jeit langer, 
langer Zeit wieder aus dem Grunde meines Herzend. Habet Dank für dieſe 
große Wohlthat, nicht viele Wochen oder Monde mehr hätte ich ihrer entbehren 
fönnen. Wir werden nicht beglüdte, nicht frohe Tage von der Gunft des 
Himmels erbitten wollen — das hieße verunehren, was wir heilig halten 
jolfen —, aber wir werden unfre Stirne entrungeln und den Dingen, wo es 
irgend möglich ift, einen freundlichen Schimmer gönnen. 

Sie blidte fic) nad) dem Verzeichnis um, welches den Anlaß zu ihres 
Vaters heftigen Ausbruch gegeben Hatte. 

Ich möchte, fuhr fie fort, auch für jene Perle und für das, was ich bei 
ihrem Anblick fünftig empfinden darf, eine verföhnliche Auffafjung finden. Ya 
um eine Perle, mein Vater, haben wir den Ritt nach dem jchönen Verona 
gemacht, und viele Thränen hat mir diefer Nitt um eine Perle gefojtet. Uber 
darf fie mir nicht zu einem Symbol der köftlichen Perle werden, nach der jo 
manches arme Menjchenherz vergebens in die unermeßlichſten Tiefen hinab— 
taucht und die mac dem Ratſchluß des Himmels mir zu heben befchieden 


420 Um eine Perle. 


war: liebe ich nicht von ganzem Herzen? wurde ich nicht von ganzem Herzen 
geliebt? 

Sie wijchte die Thränen aus dem Auge und richtete fi auf, denn bie 
Züge des Greifes hatten einen jo milden Ausdruck angenommen, daß es fie 
faft erjchredte, gewöhnt wie fie bis heute gewejen war, vor feinem ftrengen 
Blick die Augen zu jenfen. 

Langjam erhob er ſich aus feinem Seffel und winfte fie heran. 

Auf ihre Stirne drüdte er einen langen Kuß. 

Dann legte er feinen Arm in den ihren, blickte nieder, als jammle er ſich 
zu einem großen Entichluffe und ſprach: Führe mich an feine Ruheſtätte. 


Sehsundvierzigftes Kapitel. 


Viel Minciowaffer war feitdem in den Po geflojfen, viele Sommer hatten 
das Pflaſter des Largo di Mezzo durchglügt, viele Winter den Schildwachen 
auf der Zitadelle fuchswilde Flüche über die jchneidende Tramontona entlodt, 
die von den ſchneebedeckten Trientiner Alpen eifig herüberblies. 

In dem Palazzo Ducale hatten die zwei legten Mantuaner Gonzagas, der 
eine nad) vierzchn=, der andre nach einjährigem Regiment, das Zeitliche gejegnet, 
Herzog Fernando und jein Bruder und Nachfolger Herzog Vincenzo der Zweite. 
Beider Loos war fein beneidenswertcs gewejen. Fernando hatte jeine Bewerbungen 
um Camilla, die jchöne Tochter des Grafen Aırdizzino, zwar im dritten Jahre 
nach feinem Regierungsantritt mit Erfolg gekrönt gejehen, und als fie ihm 
einen Sohn gebar, hatte er aus frendigem Herzen, indem er auf die Sitte 
des pagar la fiera, des Blumenjchenfens am Tage der heiligen Barbara, aus 
ipielte, nach Ferrara geichrieben, ihm ſei zur Mefje die jchönfte Hyazinthe ge- 
ſchenkt worden; aber obſchon Kamilla im Befige eines jchriftlichen Ehegelöbnifjes 
des Herzogs war und ihr Sohn nad) Mantuaner Herkommen dadurd) als recht: 
mäßiger Erbe galt, wußte Fernandos ferrarefiihe Tante den jchwachen Herzog 
doch zu dem Verſuche, ſich von Camilla loszumachen, zu beftimmen, und als 
diefe fich der Trennung widerjegte, wurde ihr Kind jo augenfällig mit dem 
Tode bedroht — nachträglich ift es im der That vergiftet worden —, daß fie 
endlich mit brechendem Herzen im Klofter Corpus Domini zu Ferrara ſich dem 
Schleier bequemte. Mit der jchon erwähnten Berufung der Sejuiten an Die 
neue Hochſchule von Mantua jchloß Herzog Fernandos Leben und Regiment 
trübfelig ab, ohne daß feine der Opferung Camillas gefolgte ebenbürtigere Ehe 
mit Catarina von Medici feinen Wünfchen und den Wünjchen feines Volkes 
Erfüllung gebracht hätte. Im gleicher Weife dem Glauben an jene alte Prophe— 
zeiung Recht gebend, verliefen beide furze Ehen Vincenz08 des Zweiten, weshalb 
beide Gattinnen, ſowohl Sjabella Gonzaga, die Witwe des Fürſten Ferrante, 


Um eine Perle. 421 





wie auch Maria, die Schwejter des fleinen Lodovico, — päpſtliche Vollmacht 
von Vincenzo geſchieden wurden, ohne daß die ihm zugemeſſene Lebensfriſt 
— er ſtarb ſchon im Alter von dreiunddreißig Jahren — zum Schließen eines 
dritten Ehebundes ausgereicht Hätte. 

Aber wie viele hatte überhaupt die Senje des Schnitter® Tod hinweg— 
gemäht! Mit Vincenzo war die regierende Linie ausgeftorben. Alſo mußten 
die blutigen Würfel des Krieges herbei, denn wann wäre das Erlöfchen eines 
Herrfcherjtammes nicht das Signal zum Geltendmachen von allerlei Erbfolge: 
anjprüchen gewejen, gleichviel ob mit oder ohne Necht, gleichviel ob mit oder 
ohne Zuftimmung der Zandesfinder! Für den Herzog Karl von Nevers, welcher 
Maria Gonzaga, jene zweite, von Vincenzo gejchiedne Gattin geheiratet Hatte, 
traten Frankreich, Venedig und der Papſt in die Schranken; Spanien Arm in 
Arm mit Öfterreich wollte die Mantuaner mit dem Herzoge Karl Emanuel von 
Savoyen beglüden. Eines ſchönes Tages — im heigen Julimonat 1630 — 
nahmen die Soldtruppen Aldringers und Gallas’ die Stadt mit Sturm und 
verleideten dann während dreier furchtbarer Plünderungstage den armen Man— 
tuanern für lange, lange Zeit das Vertrauen auf ihre Kartaunen, ihre Mörfer, 
ihre natürliche Wafjerumgürtung, ihre Bruftwehren, ihre Palliſaden und ihre 
bombenfeiten Pulvertürme. Hinterdrein famen dennoch die Diplomaten dahin 
überein, daß Karl Gonzaga von Nevers, eben derjenige, den der Kaiſer in Die 
Acht erflärt und aus Mantua hinaußgeräuchert hatte, nun doch von den 
Mantuanern ſich Huldigen zu laffen habe, was denn auch, obſchon unter trüb- 
jelig beruntergefommenen Berhältniffen der herzoglichen Refidenz, gejchah, denn 
die Kroaten Mldringers hatten vor allem an der Pracht des Palazzo Ducale 
ihre Freude gehabt, und als fie endlich Mantua räumten, gab es in dem ganzen 
ftattlichen Gebäude feinen Stuhl, auf den fich Herzog Karl hätte jegen, fein 
Bett, in welchem er hätte jchlafen können, ganz zu gejchweigen von dem Silber: 
und Goldgejchirr, ohne das ein Herzog von Mantua doch ſchicklicherweiſe nicht 
jpeifen durfte. Um jeinen Berlegenheiten abzubelfen, jchlugen fich feine Hohen 
Verwandten ins Mittel: mit Tijchgerät half Parma aus, mit allerlei Möbeln, 
Betten und Teppichen Toscana. 

Aber der Plünderung und den Greueln, welche diefem Austoben aller argen 
Triebe der tierischen Natur des Menfchen gejellt jind, folgte noch ſchlimmeres: 
der jchwarze Tod, die Peft, diesmal die wirkliche Peit. Mantua hatte vor dem 
Kriege nahe an jechzigtaufend Einwohner gehabt. Als die Seuche ihre Beute 
endlich losließ, jtanden die meiften Häufer leer. Gras wuchs in den Straßen. 
Ob bei einer Zählung mehr als zwölf- bis dreizehntaufend Seelen zuſammen— 
zubringen jeien, blicb zweifelhaft. 

Alles das hatte das arme Mantua über fich ergehen laſſen müffen. Stein 
Wunder, wenn viele entmutigt waren und fich fragten, ob am Leben geblieben 
zu fein nicht ein zweifelhafteres Glück fei, als im fühlen Grabe zu ruhen. 








422 Um eine Perle. 


Eine von der Peſt genejene Nonne, welche in dem großen, am Mincio 
gelegenen, von immergrünen Eichen bejchatteten Garten des Mantuaner Kloſters 
der Muguftinerinnen ſich heute im Frühlichte eines milden Märztages erging, 
war nicht im folchem Grade entmutigt und fragte nicht jo, wie ernjt ſich 
auch ihre geſchwungenen dunfeln Augenbrauen wölbten. Sie ftüßte fich auf den 
Arm einer robuften Halbnonne, die jedoch nicht zu dem Kloſter des heiligen 
Auguftin gehörte, einer jener fongregirten Urjulinerinnen, welche fein Gelübde 
ablegen und auch in der Welt verfehren, fi) aber der Armen und Kranken— 
pflege widmen und in diefer Eigenichaft auch wie Nonnen gefleidet gehen. Die 
von der gejundheitjtrogenden Pflegerin geführte war, fo fchien es, noch ſchwach, 
und die Kleinen golbblonden Löckchen, welche hie und da unter dem fchwarzen 
Vortuch und der weißen Stirmbinde der Nonne hervorgudten und fih im 
Morgenwinde fräufelten, zeugten von der langen Dauer des endlich von ihr 
überftandenen Kranfenlagers, denn nur während eine Nonne zu den noch nicht 
völlig Hergejtellten zählte, wurde ihr Haupt von der Scheermeifterin verfchont. 

Als die Urjulinerin, der es micht an Linterhaltungsgabe fehlte, an den 
jpärlicher werdenden Antworten der Nonne bemerkte, daß es nun wohl des 
Redens zu viel werden könne, beurlaubte fie fich, um im Kloſter jich über den 
Stand einer Verhandlung zu unterrichten, deren Ausgang der Gegenjtand ihrer 
redfeligen Auslaffungen gewejen war; und jo blieb die Nonne allein. 

Die Krankheit hatte fie weniger entkräftet, als es fcheinen konnte, jo lange 
die Nonne von der ländlichrotbädigen Urfulinerin geführt wurde. Ihre blauen, 
faft Schwarzbewimperten Augen glänzten im danfbaren Erfaffen des lenzfreund— 
lichen Bildes um fie her, ihre Haltung war nicht gebeugt, fie hatte fajt etwas 
jo Stattliches, wie einjt ihrer fchönen Urahne, der Beltlinerin, nachgerühmt 
worden war, und nur Hin und wieder verriet etwas in ihren Bewegungen die 
Nachwehen der Krankheit, vielleicht auch die Wucht der zwei Jahrzehnte, welche 
die Nonne von der frohen Zeit der Jugend trennten. 

Bon diefen zwei Jahrzehnten hatte fie das erſte noch an der Geite ihres 
Vaters verleben dürfen, und heute, wo jein Sterbetag zum zehntenmale wieder- 
fehrte, prüfte fie noch ernſter, als fie es jchon oft gethan hatte, ihr Gewiffen auf 
die Frage hin: wieviel fie ihm geweſen war und wieviel fie ihm hätte fein ſollen? 

Mit Deutlichfeit traten die Stunden, Die feinem Scheiden vorangegangen 
waren, ihr wieder vor Die Seele. 

Was wirft du thun, mein armes Kind? jo hatte er mit ſchon jchwächer 
werdendem Atem gefragt. 

Und ihre Antivort war gewejen: 

Befehlt, mein Bater. 

Widerftrebt dir die Klauſur? Hatte er dann weiter gefragt, zum erjtenmale, 
denn feit langem hatte er Gejpräche gemieden, welche den Fall feine? Todes 
berührten. 


Um eine Perle. 423 


Wie fünnte fie! war Fioritad Antwort geweſen, und fie hatte hinzugefügt: 
Sch ſehne mich nach ihrer Stille. Wo giebt es heute eine andre FFreiftatt? 

Dann gehe zu den Schweitern des heiligen Augustin, hatte der Greis ich 
weiter vernehmen laffen, und von einer Anwandlung feines alten Chrgeizes 
überfommen, hatte er an den welfen Fingern zujammengerechnet, wie viele 
Ädtiffinnen aus dem Buonacolfi-Gefchlechte im Laufe der Zeit hervorgegangen 
feien; zwei, fagte er, bildeten den Glanz und die Ehre des Kloſters zur heiligen 
Klara in Guaftalla; die dritte verhalf dem hiefigen Kloſter des heiligen Auguftin 
zu hohem Anſehen und großen Schenkungen. Auch ich — jo ungefähr hatten 
fi feine Worte ihrem Gedächtnis cingeprägt —, auch ich habe in meinem 
Tejtament für diejes Klofter geforgt. Man wird dich dort, defjen bin ich gewiß, 
bei der nächſten Vakanz nicht übergehen. Won jeher haben Die unverchelicht 
gebliebenen Töchter fürjtlicher Häufer hohe geiftliche Poſten befleidet. Ich ſterbe 
beruhigt, num ich dich auf dem Wege weiß, unjerm edeln Gejchlechte wie bisher, 
fo aud) bi3 zu deinem legten Atemzuge den ihm gebührenden Rang zu bewahren. 

Mit Wehmut verfenfte fich die Nonne in die Erinnerung der Gefühle, 
welche, gemijcht aus Schmerz und freude, beim Hören jener Worte ihre Bruft 
bewegt hatten. Wie bisher! Keine Bitterfeit war aljo in feinem Herzen geblieben. 

Aber Pater Bigilio, welcher zugegen geweſen war, hatte zu dem Erfaufen 
und Erjtreben hoher geijtlicher Würden den Kopf gejchüttelt, und che fie es 
hatte verhindern fünnen, war dem für die legte Wanderjchaft ſich Bercitenden 
von ihm mit vorwurfsvollen Worten zu Gemüt geführt worden, er jolle am 
Rande des Grabes feinem Hochmute Balet geben. Was find irdijche Rang- 
unterjchiede, was find Krone und Zepter, was find Ballium und Inful, was 
find Stab und Ring angefichts der Majeftät des Ewigen! jo hatte der um das 
Seelenheil feines alten Freundes bejorgte Pater gemahnt; gedenfe der Worte 
unſers Erlöjers, Marcello, hatte er gejagt, denn wie willft du ihm gegenüber 
beitehen, wenn du auch noch im Werjcheiden nicht von deinem Dünfel der 
Herrſchervornehmheit zu laſſen vermagſt? — Und taub für Fioritas Bitten 
hatte er weiter gemahnt: Der Größte unter euch foll euer Diener fein, jo 
lehrt die heilige Schrift. Und ferner: Einer nur ift euer Meijter, Chriftus; 
ihr aber jeid alle Brüder. Demütige dich, Marcello, und Haft du das in 
deinem Herzen gethan, jo wirf auch noch den letzten Groll aus ihm hinaus — 
ich weiß, du meineft einen folchen Groll, den Groll gegen unfer Herricherhaus, 
verftedt hinüberfchmuggeln zu können, wie der Pafcher zuunterjt in feinem Sacke 
mit ehrlich verjtenerter Waare ein verbotenes Gut den Augen des Thorwächters 
verbirgt. Aber der heilige Petrus hat fchärfere Augen, Marcello, als ein 
ſimpler Thorwächter, und er wird Dich mit deinem Bündel ein paar hundert 
Sährchen auf Wanderichaft Ichiden wie den Ahasverus, den ewigen Juden, und 
unter der Laſt des einen Groll3 wirft du noch hundert und aberhundert male 
zujammenbrechen. 


424 Um eine Perle. 


Das war ein Beichtfermon gewefen, wie er der Nonne noch heute bei der 
bloßen Erinnerung das Blut erftarren machte. Aber der Verſcheidende mochte 
gefühlt haben, wie gut ihm der ehrliche Pater durchichaut hatte, und er hatte 
fügfam nachgeiprochen, was ihm am Abbitteworten von feinem alten Gewifjens- 
berater vorgeiprochen worden war; und dann, auf Fioritas fchüchterne Frage 
nach) dem Namen, den fie ald Nonne führen jolle, hatte er nach mühjamem 
Sammeln feiner legten Kräfte freundlichen Blicdes den Namen: Giuſeppa in ihr 
Ohr gehaucht. 

Nie war der Name Giufeppe Gonzagas über Marcellos Lippen gekommen, 
weder vor noch nach feinem Friedensſchluſſe mit Fiorita und mit dem Grabe 
des Erjchlagenen. Kein noch jo inniger Segensipruch hätte daher das Herz 
Fioritas mit wärmerem Dante erfüllen können, als diejes letzte verſöhnende Wort 
ihres Vaters es gethan hatte. 

Seitdem war fie, der Weilung des Berjtorbenen getreu, in das Klojter 
der Nonnen zum heiligen Auguftin getreten, und bald hatte jie fich gewöhnt, 
ungleich mancher ihrer noch mit Forderungen an die Welt behafteten Kloſter— 
Ichweitern, wie ein aus ſchwerem Schiffbruch Geborgener auf das draußen tojende 
Meer bliden mag, fo in ihrer vergitterten Zelle den Zuſammenhang mit den 
Dingen, die fich draußen begaben, willig zu entbehren. 

Ihre Schiefale waren härtere geweſen als die der Mehrzahl ihrer Schweiter- 
nonnen. Das hatte fie gefchult. Dazu trug fie ein treues Erinnern im Herzen: 
fie war geliebt worden, und fie hatte mit Jubrunft geliebt. Nichts vermochte 
ihr dies große Befigtum zu rauben. Mit reuigen Gedanken hatte fie endlich 
abfchliegen dürfen. Auf ihre Träume, auf ihre Vifionen — unter diefen das 
Auftauchen jener von niemand gefannten und von niemand jemals wieder 
mit Augen gefchauten Trauzeugin — fonnte fie als auf Rätſel zuridbliden, 
deren fie fich nicht zu jchämen, die fie aber auch nicht zu Löfen brauche. Ohne 
daß fie des Betens minder bedurfte als zur Zeit jener ihrer angftvolliten Be— 
drängniffe, hatte fie doch unter der eijernen Geißel der immer wilder und recht- 
lojer gewordenen Zeitläufte fich feit auf die eignen Füße zu ftellen, den eignen 
Kräften mehr und immer mehr zuzumuten begonnen. Da war die Zeit jener 
verheerenden Striegsläufte beängjtigend heraufgezogen. Die Belagerung hatte 
auch für die Nonnen große Entbehrungen gebracht, die Plünderungstage 
waren zu furchtbaren Heimfuchungen geworden, denen die Stirn zu bieten 
die alternde, jeitdem verftorbene Äbtiſſin ohne den Beiftand Giufeppas — fie 
durfte ſich's belennen — unfähig geivefen wäre. Während dann die Seuche 
mit ihrem Flammenjchwerte in dem armen Mantua aufräumte, hatte Giufeppas 
Pflegeeifer den Mut nicht nur vieler Schweitern ihres Ordens aufrecht er- 
halten; dem Beifpiele der Tochter Marcello Buonacolfis folgend — in dieſer 
Weile hatte fie dem Ehrgeize ihres Vaters noch im Jenſeits Befriedigung zu 
Ihaffen gejtrebt — waren die Schweitern des Kloſters zum heiligen Auguftin 





BE ” Notiz. 425 
auch in die Spitäler gegangen und hatten durch dieſen Schritt diejenigen 
Nonnen beſchämt, die, objchon durch ihre DOrdensregel zur Krankenpflege ver: 
pflichtet, fich von den Peſtkranken fernhielten. (Schluß folgt.) 


Notiz. 


Lord Beaconsfields Home Letters. Den Freunden und Bewunderern 
Lord Beaconsfield3 fowie der literariſchen Welt im allgemeinen hat Mr. Ralph 
Disraeli eine angenehme Weberrafhung und einen großen Genuß bereitet, indem 
er die lebensvollen und geiftiprudelnden Briefe veröffentlicht hat, welde fein ver— 
jtorbner Bruder während feiner Reifen in den Jahren 1830 und 1831 in die 
Heimat jandte.*) Diefe Briefe bilden in der That eine höchſt anziehende Lektüre. 
Sie datiren aus einer Zeit, wo Benjamin Disraeli, ſpäter Lord Beacondfield, in 
der politifchen Welt fich noch nicht hervorgethan hatte und nur ald der Verfafjer 
einiger Romane und leichter belletriftiicher Erzeugnifje befannt war. Unzufrieden 
über den keineswegs durchſchlagenden Erfolg ſeiner — nur in den eigentlich 
literarifchen Kreifen günftig aufgenommenen — Erftlingswerfe und überdies nad) 
angejtrengter Arbeit der Erholung bedürftig, wandte er fich, nad) Zerftreuung und 
abenteuerlichen Irrfahrten dürftend, in Begleitung zweier Gefährten, des Mr. Meredith 
und des jpätern Parlamentsmitgliedes Mr. James Clay, den ſonnigen Geftaden 
des mittelländifchen Meeres zu. Seine Reifebriefe führen uns innerhalb eines 
Zeitraumes von zwölf Monaten, vom 1. Juni 1830 bis zum 26. Mai 1831, durch 
die Grenzländer dreier Erdteile: von Gibraltar und Spanien nah Malta, Korfu 
und Griechenland, von dort durch die Dardanellen nad Konftantinopel und wieder 
zurüd nad den Weftküften Sleinafiend, nad) PBaläjtina und Wegypten. Diejelbe 
Kreislinie ift zwar von vielen andern Reiſenden durchlaufen worden; allein der mit 
mehr al3 gewöhnlicher Begabung ausgeftattete junge Disraeli, dem ein inftinktiver 
Trieb nad) den Abenteuerlichen innewohnte, der nicht allein die Menjchen zu er— 
forfchen und zu verjtehen, fondern fich auch unter ihnen bemerkbar zu machen fuchte, 
deſſen Geift und Auge immerwährend in Thätigfeit waren, hatte über menſchliche 
Charaktere, über die ihm ſelbſt innewohnende Kraft, über die Welt und das, was 
in ihr ift, während jener einen Reiſe mehr gelernt, al3 Minderbegabte in Jahren 
lernen würden; und er verjteht es, Menjchen, Städte, Landidaften und Monumente 
der Baukunst: ſei es die Alhambra oder Konftantinopel, ſei es Baläftina oder die 
Pyramiden Aegyptens, ſeien es malerifch gekleidete Andalufier oder türkiſche Beis 
und Paſchas, oder was fonft ihm Sinn und Yuge reizt, in fed hingeworfnen Sil— 
houetten, in meilterhaften Skizzen, in reizenden Genrebildern, panoramagleid, 
in bunter, nie ermüdender Neihenfolge an unferm geiftigen Auge vorbeizuführen. 
Seine Berichte geben Beugnis von feltner literarifcher Kraft: leicht und fließend 
gejchrieben, bewegen fie fi, ohne Effefthafcherei und je nachdem der Gegenftand 
e3 erfordert, in allen Schattirungen des Ausdrudes zwifcher einfahem Geſprächsſtil, 
geiftreihem Geplauder und erhabener Rede Hin und wieder. 

Bereits hat ein Zitat aus den Home Letters dem ftreitbaren Lord Randolph 
Churchill, den man, mit Recht oder mit Unrecht, al3 den politifchen Erben Lord 
Beaconsfields anficht, jüngft in einer Parlamentsfigung als ein grelles Be— 


*) Home Letters. Written by the late Earlof Beaconsfield in 1830 and 1831. 
London, John Murray, 1885. 


Grenzboten III. 1885. 54 


426 Notiz. 





leuchtungsmittel des Weſens und der Politik des gegenwärtigen engliſchen Premier— 
miniſters dienen müſſen. Wo Disraeli ſeinen Empfang bei dem türkiſchen Groß— 
vezier Redſchid Paſcha beſchreibt, ſagt er (in einem von Konſtantinopel datirten 
Briefe): „Ich verbeugte mich mit der in St. James'-Street üblichen Nonchalance 
vor einem kleinen, grimmig blickenden, ſchrumpeligen, ausgezehrten und ſchlicht ge— 
kleideten Manne, deſſen Stirn von Runzeln und deſſen ganzes Antlitz von bangen 
und ſorgenvollen Gedanken überwölkt war. Ich ſetzte mich auf den Divan des 
Sroßvezierd (der, [wer?] wie der öfterreichifche Konful bemerkte, im Laufe der 
legten drei Monate — nit im Kriege — mehr als viertaufend meiner Bekannten 
vernichtet hat) mit einer Selbftbeherrichung, als ob ich eine Morgenvifite machte. 
Unfre Unterhaltung brauche ich nicht zu wiederholen. Wir beglüdwünjdten ihn 
wegen der Heritellung der Ruhe in Albanien, worauf er erwiederte, daß dev Fricde 
der Welt fein einziges Streben und das Glück der Menſchheit fein einziger Wunſch 
fei.” Nachdem Lord Nandolph diefe Worte zu Ende zitirt, wandte er fi der 
Minifterbant zu, und, auf Mr. Gladjtone deutend, erflärte er, daß dort in der 
Perſon des Premierminifterd der wiedererftandene Redſchid Paſcha fiße. 

„Beichreibungen, fagt Disraeli in einem andern Briefe, find anerfanntermaßen 
langweilig, daher überlajje ich Konftautinopel deiner Einbildung.“ Allein nad) diejer 
entjchwldigenden Einleitung entwirft er mit wenigen farbenvollen Pinjelftrihen ein 
lebendiges Bild von der Königin unter den Städten des Orients: „Eyprefienhaine, 
Kuppeln von Moſcheen, Häufermaffen, die auf ſanft aus dem Waſſer empor: 
jteigenden Anhöhen gruppirt find, Millionen von Minarets, ein Meer, das einem 
Strome gleiht und von unzähligen fchlanfgeformten Booten wimmelt, die jo leicht 
und jchnell dahinfahren wie Gondeln, aber einen weit prachtvollern Anblick dar- 
bieten, da fie mit Schnitzwerk und Bergoldungen verziert find — alles dies, und 
dazu die Dichten Volksmengen mit ihren reichen, glänzenden und bunten Koſtümen, 
wird dir ein lebhafte: und ficher ebenfo richtiges Bild geben als cin halbes 
Dutzend Seiten, die eine Horace Smith würdig wären. Zwei Dinge giebt es 
hier, die man fich nicht vorftellen kann, ohne fie gejehen zu haben: den Bosphorus 
und den Bazar. Denke dir ein Meer nicht breiter als die Themje bei Gravesend, 
nit Ufern von al der Mannichfaltigkeit und Schönheit des Rheins, die überjät 
find mit Baläften, Mofcheen, Dörfern, Cypreſſenhainen und Kaftanienwäldern; die 
Ausficht auf den Pontus Euxinus im Hintergrunde ift daß wundervoll Erhabenite, 
dejjen ich mic) erinnern Fann. Der Bazar würde dich nod) mehr ergößen als der 
Bosphorus. Stelle dir die Burlington Arfade vor oder eine von den Pariſer 
Galerien und Panoramen; denke dir eine (engliihe) Duadratmeile mit foldhen 
Arkaden bededt, die einander in allen Windrichtungen durchkreuzen, und die ftroßen 
von allen und jeglichen Erzeugniffen des Reiches don Diamanten bis herunter zu 
den Datteln. Die Pradıt, die Neuheit und die Mannichfaltigfeit der zum Verkauf 
ausgejtellten Waaren, das zahlreihe Wolf der Krämer, alle in verfchiednem Pub, 
die wogenden Schwärme von Käufern aus allen Teilen der Welt, alles das kann 
man eben nur andeuten. Der geringjte Kaufmann im Bazar fieht einem Sultan 
in einem vrientalijhen Märchen gleich.“ 

Ueberall, wo wir in den Home Letters auch blättern, finden wir intereffante 
Mitteilungen, bald erufter, bald Heitrer Natur. Unter den Ergüffen fröhlicher 
Laune greifen wir den folgenden heraus: Auf der Spitze des Pindus waren Dig: 
raeli und feine Gefährten mit einem türkischen Bei zufammengetroffen, und da fie 
der Landessprache unfundig waren, jo fanden fie es ſchwierig, ihrem Verlangen 
nach einer Mahlzeit Uusdrud zu geben. „So raudjten wir denn. Dad war aller- 


Notiz. 427 








dings ein gutes Aushilfsmittel, konnte indes nicht immer währen, und es war 
überdied ein lächerlicher Anblid, wie wir rauchten, uns einander anfahen, vor Nede- 
begier fat ftarben, dann als eine Artigfeit gegenfeitig die Pfeifen austaufchten und 
als Ausdrud des Dankes die Hand aufs Herz drüdten. Der Bei faß in einer 
Ede, ich unglüdticherweife neben ihm, ſodaß mir das Onus ftummer Aufmerkſam— 
feit zufiel; mir zunächſt befand ſich Elay, der fich wenigftend mit Meredith Hin und 
wieder einen Scherz erlauben fonnte, obwohl wir natürlich zu anftändig wareır, 
über eine gelegentliche und umwiderftehliche Bemerkung hinauszugehen. |?] Auf Elays 
Wunſch machten wir und daran, 6carts zu fpielen, und zwar mit fo ernſten Ge: 
fichtern, als ob wir unſre Andacht verrichten wollten, aber gerade als wir im Be: 
griff ftanden anzufangen, fiel uns ein, daß wir Brandy bei uns hatten, und daß 
es gut fein würde, unjerm Wirt ein Glas anzubieten, um ihm damit anzudeuten, 
weſſen man nad einem fo ftarfen Schnapfe bedürfe. Maſchallah! Hätte die Wirkung 
fi vor 1830 Jahren ereignet, anftatt im gegenwärtigen Beitalter des Skeptizismus, 
man würde fie jofort für ein Wunder erjten Ranges erflärt haben. Unſer lich» 
veicher Freund ſchnalzte mit den Lippen vor Luft und forderte ohne weiteres nod) 
eine Taſſe voll — wir tranfen nämlich aus Taffen. Als Meredith, der unter 
einem VBorwande dad Haus verlafjen hatte, zurüdtehrte, fand er uns in höchſt heiterer 
Stimmung: unfer Wirt, Elay und ich hatten eine Flaſche Brandy in fürzerer Zeit 
exrpedirt, al3 ich je zur Bertilgung einer Flajche Burgunder gebraucht habe. Nun 
fing der Bei an, mit Meredith zu trinken und lich und einige Feigen borjeßen; 
währenddem ſchwatzte er unaufhörlich, erging fi in dem graziöjeiten Geberden- 
- spiel .... und gab fi die größte Mühe, Giovannis Griechiſch zu verftchen, was 
ihm auch joweit gelang, daß er alle unſre Mitteilungen in der ſpaßhafteſten Weife 
mißverſtand. Er ließ jedoch alles mit gutem Humor dorübergehen, und ich muß 
jagen, daß ich mein Lebtag mit feinem jo gemütlichen Kerl zuſammengetroffen bin. 
Inzwilchen hatte uns ein wahrer Heißhunger erfaßt, denn die trodnen, runden, 
nicht zucerhaltigen Feigen reizen gewaltig den Appetit. So bejtanden wir jchließlid) 
darauf, daß Giovanni um Brot bitten follte. Der Bei verbeugte ſich gravitätifch 
und jagte: »Ueberlafien Sie das mir, machen Sie fid) feine Gedanken.« Da fid) 
nicht3 weiter ereignete, bereiteten wir und fchon auf hungrige Träume vor, als zu 
unferm Entzüden ein vorzügliches Eouper aufgetragen wurde, zu dem man — wir 
jahen es mit Entfeßen — aud Wein fervirte. Wir afen — wir tranfen — wir 
aßen mit den Fingern — wir tranfen, ib weiß nicht wie. Der Wein war nicht 
Ichleht, aber wäre es Gift gewefen, trinken mußten wir doch; war ed dod für 
einen Mufelmann eine ganz außerordentliche Aufmerkſamkeit. So jdlürften wir 
denn Wein in Strömen. Der Bei aber verlangte nad) Brandy: er trank ihn aus. 
Bald drehte fi das Zimmer im Kreife herum; die wilden Wärter, die zu unfern 
Füßen faßen, jchienen in feltfamen und phantaftifchen Wirbeln zu tanzen; dev Bei 
Ichüttelte mir die Hand und jauchzte mir auf Englifch zu: Very good! ſdas hatte 
er und nämlich abgelernt), ich erwiederte auf Griehifh: Kalo, Kalo! Er wollte 
faft berften vor Lachen, ich Hopfte ihm den Nüden. Weiter geht meine Erinnerung 
nicht mehr. Mitten in der Naht erwachte ich und fand mid) fchlafend auf dem 
Divan, in deſſen heiligem Teppich ich aufgerollt lag. Ic fühlte einen brennenden 
Durft. Alle fchliefen, außer zweien, die während der Nacht das große Holz- 
feuer unterhielten. Ich ftand auf, fchritt leiſe über meine jchlafenden Gefährten 
hinweg, und hier und da deuteten blihende Waffen mir an, daß die in Mäntel 
gehüllten ſchwarzen Mafjen menſchliche Weſen jeien. IH fand Abrahams Schoß 
iu einem Wafjerfruge. Ih glaube, ich muß eine ganze Sallone auf einen Zug ge- 


428 Notiz. 





Holzblöcke in der Halle von Bradenham: ich fragte mich, ob ich mich in der That 
in der Bergfeſte eines albaniſchen Häuptlings befände, und, die Achſeln zuckend, 
ging ich zu Bett und erwachte ohne Kopfſchmerz.“ 

Wenn Disraelis Reiſebriefe, als von einem in der neuern engliſchen Ge— 
ſchichte einzig daſtehenden großen Manne kommend, nichts als eine angenehme 
und lebensvolle Lektüre bildeten, jo würden fie damit allein ſchon ein Anrecht auf 
Beachtung haben, doch gewinnen fie einen erhöhten und unfchäßbaren Wert 
dadurch, daß fie die eigentliche Duintefjenz des Denfend und Willens nicht 
allein de3 damaligen, fondern auch des jpätern Disraeli enthalten, und daß bie 
der ungebundnen Jugendfriſche und Unmmittelbarkeit entfließenden Bekenntniſſe 
de3 jeflelfreien jungen Reiſenden ein aufflävended Licht auf die Lebendmarimen, 
den Charakter und das öffentliche Wirken des gereiften Staatsmannes werfen. 
Was ums immer und immer wieder in den Home Letters entgegentritt, ijt Dis— 
raelis Worliebe für glänzende Koftüme. Als Berfaffer von „Bivian Grey“ 
glaubte er eine gewiſſe malerifhe Ertravaganz zur Schau tragen zu müſſen. Er 
bediente fid) dazu des Koſtüms. Das erfte, was er feiner Mutter von Gibraltar 
ichreibt, ift, daß er überall feinen „Ruf als Kenner von Koſtümen“ aufredt er— 
halte. Großes Furore erregte er in Malta in der Tracht eines griedifchen Pi— 
raten — „blutrote® Hemd mit filbernen Knöpfen von der Größe eined Schillings 
bejegt, eine ungeheure Schärpe mit Piftolen und Dolchen gefpidt, vote Mühe, rote 
Schuhe, Wamms und Beinfleider mit breiten blauen Streifen.“ Ein einziger 
Spaziergang die Hauptitraße entlang brachte ihm fünf Einladungen zum Diner 
ein. Bon feinem Beſuch in Zanina fagt er: „Sch vergaß dir zu fagen, dab id) 
mic in Janina in einem Koftüme zeigte, welches id) aus meiner englifchen, ſpa— 
nischen und Phantafiegarderobe zufammengeftellt hatte, und welches auf dieſes koſtüm— 
liebende Volk einen ganz außerordentlichen Eindrud machte. Viele Türken ftatteten 
mir einen Beſuch ab, in der Abficht, es ſich anzufehen; aber der Kleine griechische 
Urzt, der in feiner Jugend ein Jahr in Pifa zugebradht hatte, wäre mir beinahe 
auf die Spur gelommen. Questo vestito Inglese o di fantasia? fragte er fehr zu- 
treffend. Orakelhaft erwiederte ich: Inglese e fantastico. Ohne Zweifel, Disraeli 
liebte den Eklat, er liebte e8 vor der Welt zu fcheinen, und mit Entzüden be— 
richtete er, daß er in einem Lande nad) dem andern ungeheures Auffehen erregte. 
Die „bunten Flitter,“ mit Egmont zu reden, mit denen er fi) umgab, darf man 
wohl als ein äußered Beichen ſeines Wunſches und feined Strebens nad einem 
harmonisch freudevollen, nad) einem glanzerfüllten Leben anfehen. Indes war das 
Koftüm ihm oft nur Mittel zum Bwed, der Ausdrud einer Idee: wie er auf 
feinen Reifen hier als Andalufier, dort als griechiſcher Pirat auftritt, fo erichien 
er einmal in ſpätern Jahren feiner politifchen Laufbahn im Carlton Club in der 
Tracht eines britiichen Farmers, um auf diefe Weife feine Sympathien für die 
Intereſſen der landwirtjchaftlichen Bevölkerung zu erfennen zu geben. Ja mir 
fünnen noch einen Schritt weiter gehen. Disraeli bediente ficy des Koſtümes, wie 
er fih Häufig dev Sprache bediente — nit jo ſehr um feinen Gedanken, als 
vielmehr feiner alle konventionellen Feſſeln durchbrechenden Kühnheit, feiner Ent: 
ſchloſſenheit, anders zu erſcheinen und zu fein ald andre, Ausdrud zu leihen. Wie 
hier durch den Glanz und die maleriſche Ertravaganz des Koftüms, fo ſuchte er 
jpäter durd) die Gewalt und den Zauber feiner Nedefiguren, durch Neuheit und 
berausfordernde Kedheit der Sprache die Augen der Welt auf fi) zu lenken und 
die ſolch äußeres Blendwerk anftaunenden Mafjen feiner höhern Intelligenz dienft- 


Aotiz. B 429 





bar zu machen, fo ließ er feine kühnen Gedanfenblige, zündend, vernichtend und 
belebend zugleich, auf Feind und Freund einſchlagen. Ein durchaus charakteriftiiches 
Bekenntnis feiner Lebensphilofophie giebt und der damals fehsundzwanzigjährige 
Benjamin Disraeli, indem er von Malta am feinen Vater ſchreibt: „Um die Menfchen 
zu beherrfchen, muß man fie entweder in ihren Leijtungen übertreffen oder fie ver: 
achten. Clay thut das eine und id) dad andre; und wir find beide gleich populär. 
Mit Affektation fommt man bier noch viel beffer fort als mit Schöngeifterei. Als 
ich geftern dem Radettjpiel beiwohnte, flog der Ball in die Galerie, in welcher ich) 
unter Fremden faß, berührte mich leicht und fiel dann zu meinen Füßen nieder. 
Sch hob ihn auf, und indem ich einen außerordentlich fteif außjehenden jungen 
Snfanteriften bemerkte, bat ich denjelben, ihn in den Saal zurüdzubefördern, da ich 
in der That nie in meinem Leben einen Ball geworfen hatte. Diefer Zwiſchenfall 
ift Heute in allen Kafinod dad Tagesgeſpräch geweſen.“ Es giebt nod) Leute 
— md ihre Zahl ift glüdlicherweife im Abnehmen begriffen — die Lord Beaconsfield 
für nichts als einen Charlatan haften. Es ift wahr, er hat eine Borlicbe für 
äußern Glanz, für theatralifche Attitüden, aber er bleibt ſich ſtets deſſen bewußt, 
daß eben alles dies nur äußerer Schein ift, und Hat nur ein fpöttifches Lächeln 
für die, welche ſich dadurch imponiren laffen. Hier kann alfo nicht von einem ges 
wöhnlichen Humbug die Nede fein, es ift eine Art bewußten Humbugs, bewußter 
AUffektation, die er fich felbft und feinen Freunden gegenüber freimütig bekennt. 
Es ift Mittel zum Zweck. Er ſpricht und thut Dinge, die gegen alles Erwarten, 
gegen alles Herkommen find, um damit anzudeuten, daß er feinerjeit3 alles Kon— 
ventionelle und die Sklaven allen konventionellen Wejens verachtet. Daher wir 
ihn denn auch fpäter den beherzigenswerten Ausſpruch thun hören: „Die erfte 
Pflicht eines Staatsmannes ift, Popularität zu verachten.“ 

In feinem andern Staatsmanne Englands — nody vielleicht irgendeine! 
andern Landes — findet ſich in fo auffallendem Maße Harer Blick mit poetifcher 
Auffafjung der höchſten Pflichten und der höchſten Endzwede der Staatskunſt ver 
einigt wie in Lord Beacondfield. Als er der Königin vom Parlamente dem Titel 
einer Kaiſerin von Indien übertragen ließ, charafterifirten feine politifchen Gegner 
dies als einen inhaltleeren Alt, der nichts als ein Ausflug feiner phantafievollen 
Einfälle fei. Für Lord Beaconsfield, den Mann der praktifchen Ideen im phan- 
taftifchen Gewande, war der Kaiſermantel durchaus feine inhaltlofe Hülle, für ihn 
war er die Berförperung einer neuen und fühnen politischen dee, der erſte 
und mächtigfte Schritt zur Verwirklichung einer Imperial Policy und Imperial 
Federation, d. 5. der Verbindung der bis dahin loder zufjammenhängenden Ko— 
lonien und des Mutterlandes in ein organiſch verknüpftes, Einer für Alle und 
Alle für Einen eintretendes ſolidariſches Gefamtreih; eine Politik, die, außer 
von den Konjervativen, auch bereit? von den Gemäßigt-Liberalen entgegen den auf 
die Zerjegung des Kolonialreiches Hinauslaufenden Tendenzen und der laisser aller: 
Politik der Reaktion als die einzig richtige und als eine abfolut notwendige an— 
erfannt worden iſt. Mit Leuten, die in dem Leben und dem Wirken Lord Beacons— 
field8 nichts als Charlatanismus erbliden, läßt ſich alfo nicht rechten; ihnen fehlen 
eben die Eigenjchaften, die jenen Staatsmann jo großgemadt Haben: Einſicht und 
Einbildungsfraft. Und wer nur anerkennen will, daß unter dem phantaftifchen 
Gewande, in welches Disraeli ich felbft, feine Ideen und fein Thun und Treiben 
zu Heiden liebte, ein gehaltvoller Kern von hervorragenden Fähigkeiten, von tiefer 
Menjchenkenntnis und großer Unpafjungsgabe, von Scharfblid und von außer: 
ordentlicher Kühnheit des Geiſtes und des Willens verborgen liegt, der wird aud) 


430 £iteratur, 


aufhören, fi) darüber zu wundern, daß der geiftreiche Phantaft von 1830, jo wie 
er fih in den Home Letters enthüllt, zweimal Premierminifter von England war, 
daß er jeine Königin mit dem faiferlichen Diadem des indifchen Wunderreiches 
ſchmückte und für fich felbit die Grafenfrone errang. 


£ondon, Juli 1885. 


Siteratur. 


Einhbard und Imma. Eine rheiniihe Sage aus der Zeit Karls des Großen. Bon 
%. Thikötter. Heidelberg, E/ Winters Univerfitätsbuhhandlung, 1885. 

In den lebten beiden Sahrzehnten Hat der kulturgeſchichtliche, überhaupt der 
hiftoriiche Roman eine zuvor kaum dagewejene Ausdehnung gewonnen. Dadurd 
ift unzweifelhaft unjerm Wolfe manche Gabe von bleibenden Werte zuteil ge— 
worden, und weil die bevorzugte Gattung des Romans der realiftifchen Nichtung 
der Zeit entſprach, fand fie auch in weiten reifen begeifterte Aufnahme. Aber 
irren wir nicht, fo hat die auch auf diefem Gebiete eingetretene Ueberproduftion 
auch bereitö zu einem Rückſchlage geführt. Man will endlich einmal wieder etwas 
andre auf dem Büchertiſche fehen, als eine endlofe Reihe Hiftoriicher Romane. 

Thikötter bringt iu der That eine neue Art von Früchten auf den Markt. 
Sein Heines Buch berührt fich freilich feinem Stoffe und feinem allgemeinen Cha: 
rafter nad) mit unfern hiſtoriſchen Romanen. Denn es verknüpft auf dem Grunde 
wirklicher archäologischen Studien frei Erfundenes mit folchen, was die Gejchichte 
oder die Sage an die Hand gab. ES ift aber fein Roman, ſondern ein epijches 
Gedicht, eine Erzählung in Verſen. Ob der Berfaffer, der aljo von dem zuleßt, 
wie wir annehmen, zur läftigen Gewohnheit gewordnen abweicht, gerade durch 
diefe Form viele Leſer heranloden wird, ift freilich zweifelhaft. Denn das große 
Publikum lieft Verſe überhaupt nicht. Wenn man die Katolvge der Bibliotheken 
unfrer mittelftädtifchen Lefegejellfchaften, Harmonieen, Bürgervereine und andrer 
derartiger Zirkel durchgeht, ſtößt man fehr felten auf poetifche Werte — apparent 
rari nantes in gurgite vasto; nicht nur jchlechte, fondern aud) gute Verſe find fir 
den deutjchen Philifter, felbft wenn er im übrigen nicht ohne Geſchmack it, eigent: 
lich garnicht mehr vorhanden. Der Kothurn, ja felbft der soccus, ift ihm ein 
Gräuel. Wer Erzählungen in metriſcher Form jchreibt, findet heute fein Publikum 
fafl nur noch in den Reihen eines Teiles der (veifern) Jugend und — unter den 
eigentlich) Gebildeten. Wer die letztern auf feiner Seite hätte, dem wäre freilich 
geholfen. Dazu gehört aber eine fozufagen geiftig ariftofratiiche Gangart, und man 
darf nicht vergefjen, daß Haffisch gebildete Leute, je bereitwilliger fie auch Poetiſches 
zulafjen, dejto größere Anforderungen Hinfichtlicd der Vollendung der Zorn an den 
Dichter jtellen. 

Unfer Dichter, deffen anderweitige Gedichte, wie wir beiläufig bemerken, bereits 
in zweiter Auflage vorliegen, fagt jelbit (in den Noten S. 281), nichts bedaure 
er jo fehr, al3 daß er feinen Trochäen nicht etwas vom der Formenſchönheit Habe 
verleihen können, mit der Dante in feinen Terzinen den Thomismus wiedergegeben 
habe; und in der That ift im ganzen feine Verskunſt und feine dichterifche Sprache, 
wenn auch vecht wohl genießbar, jo doch anſpruchslos. Befondre Neizmittel Hat 
er nicht anwenden wollen, Altertümliche, d. h. hier mittelalterliche Formen, etwa 
Anklänge an die Nibelungenftrophe oder au die Lyrik Waltherd von der Vogelweide 
oder an noch ältere Dichter des Mittelalter, hat er garnicht geſucht. Seine Sprache 
ift modern (fteht übrigens gewifjermaßen in der Mitte zwifchen Herders Eid umd 


Literatur. 431 
Scheffels Trompeter von Säkkingen), und hin und wieder ftören uns Härten (wie 
©. 190 die Verwendung der Silbe „zu“ in dem Worte zufchrieb ald Kürze: „ihres 


Bauber/vings zu/jchrieb‘), oder journaliftifhe Schlagwörter (wie S. 204 das vom 
„Ernft der Lage“), oder grammatifche Kühnheiten (wie S. 241 die Konftruftion 
des Beitworts ſich erfreuen mit dem Akkuſativ „Glück“). An die Stelle der Trochäen 
treten vielleicht zuoft Daktylen; ja hier und dort glauben wir mehr „numerofe 
(rhythmiſche) Proſa,“ als Berje zu vernehmen. Aber auf der andern Seite ift 
die poetiihe Sprache doch meift fließend, und in einem Teile der eingelegten, die 
Erzählung unterbrechenden, den Trochäus mit andern Versfüßen vertaufchenden 
lyriſchen Gedichte zeigt ſich doch wirkliches poetiſches Talent. 

Abgeſehen hiervon erhebt ji Thikötter über das Niveau gewöhnlicher Skri- 
benten einmal durch feinen edeln Patriotismus, ſodann durch feine foliden Studien. 
Er hat nicht nur Einhards „Leben Karls" (des Großen) genau ftudirt, fondern 
auch die demjelben zugejchriebnen Annalen, Briefe des Lupus von Ferrikres, die 
Urkundenfammlung des Mönche zu Lorſch (Chronica Laurishamensis) und manche 
andre mittelalterliche Quellenjchrift, ferner aud die einfchlägige moderne Literatur. 
Daher find auch die Züge, weldhe den Kulturzuftand, den Buftand der Landwirt: 
ſchaft und der Technik, das Hofleben, die Hofichule und dergleichen betreffen, joviel 
wir jehen, jo hiftorijch getreu, wie man fie jonft nur von einem kulturgeſchichtlichen 
Noman erwartet. Sein PBatriotismus aber ift teild ein deutjchuniverfaler und zwar 
ein ſolcher, dem die höhere Einheit zwiſchen der Herrlichkeit Kaifer Wilhelms und 
der Herrlichkeit Karl des Großen einleuchtet (während bis 1871 die meiften Ro— 
mantifer die Glanzepochen der ältern deutichen Geſchichte gegen die Hohenzollern 
als Parvenüs, Einheitjtörer und Partifulariften auszufpielen pflegten); teils ijt er 
rheinifcher Lokale, Provinzial» oder vielmehr Fluvialenthufiasmus, und zwar ijt in 
diejer leßtern Gejtalt fein Patriotismus nicht nur echt, was aud eine ſpät erworbene 
Begeijterung für den Rhein fein kann, fondern zugleich urwüchſig und in der Wolle 
gefärbt. Der Verfaſſer ijt eben Rheinländer; er kennt die rheinischen Berge, Burgen 
und Sagen nicht erjt aus dem Bädeder und die rheinischen Weine nicht erit aus 
den Ratöfellern norddeuticher Großftädte; fondern er ift von Kindesbeinen an auf 
und im jenen zu Haufe gewefen, und die rheinischen Feuerweine find ihm ins Blut 
übergegangen. Daher ijt aud die Ingelheimer „Weinprobe“ (S. 66—94) ein 
Kabinetftük in jeinem Epos. 

Thikötter hat ſich nicht auf eine Wiedergabe der befannten, von den Gebrüdern 
Grimm in ihre „Deutjchen Sagen“ aufgenommenen, in andrer Form fodann von Karl 
Simrock mitgeteilten und 3. B. von Fouqué in NRomanform behandelten Sage von 
„Einhard und Imma“ bejchränft, jondern, wie er jagt, ein Bild Einhards und feiner 
Stellung zu Karl dem Großen zu zeichnen verjucht. Objektiv genau Hat er freilic,, 
meinen wir, dabei nur den wirklichen Charakter feines Helden und die wirklichen 
Beziehungen desjelben zu Karl darjtellen wollen. Eine Biographie war ja teils 
wegen Mangel3 an Quellen nicht möglich, teild von unſerm Dichter, der jelbjt in 
den Noten genau das Hiſtoriſche in feiner Daritellung vom Sagenhaften und von 
beidem dag frei Erfundne unterfcheidet, offenbar garnicht beabfichtigt. Denn wovon 
er erzählt, dad Liebesverhältnis zwiſchen Einhard und der Kaijerstochter, die um 
desjelben willen erlittene Verbannung und die durch ein zufälliges Jagdabenteuer 
eingefädelte Verſöhnung mit Karl — alles diejes gehört der Sage an. Auf Ein- 
zelnes kann bier nicht eingegangen werden. 

Nur ein Moment, auf welches der Dichter ſelbſt großen Wert legt, darf nicht 
ganz übergangen werden: der fcheinbar etwas doftrinäre Anfang des Gedichtes. Die 





432 £iteratur, 





erfte Szene führt und nämlich in die Hofſchule Karls, in der die feierliche Entlafjung 
zweier Scholaren, Einhard und eines zweiten Abiturienten ftattfindet, welche Anlaß 
giebt zur Entwidlung zweier verfchiednen Weltanfhauungen oder. vielmehr zweier 
verſchiednen Anfichten über das Verhältnis von Ehriftentum und Metaphyſik. Adal— 
bert und Einhard jollen ſich darüber ausſprechen, welder unter den fieben freien 
Künften fie die Palme zuerkennen, und jener benußt diefe Aufgabe dazu, die Ver: 
quidung der Kriftlihen Religion mit der Metaphyfit, welche von der Zeit der 
(zum Teil aus der ftoifchen oder platonifchen Schule hervorgegangnen) Kirchenväter 
ber noch heute felbft dem orthodoren Dogma anklebt, zu verherrlichen, während Ein- 
hard auf eine reinliche Sonderung des (übrigens keineswegs von ihm verachteten) 
theoretifchen Welterfennens vom chriſtlichen Glauben al3 einer rein praktiſch und 
ethisch motidirten Betrachtungsweiſe der göttlihen und menſchlichen Dinge dringt. 
Adalbert entwicelt dabei feine Weltanfhauung, wie der Dichter in den Noten 
verrät, mittel einer Berfififation der Grundzüge des Syſtems feines jüngern Beit: 
genofjen, de3 Johannes Erigena. Referent will nicht unterfuchen, ob daS ganz 
eigenartige Syftem des Erigena, im weldem weder die vorhergegangne orthodore 
Lehrentwidlung zufammengefaßt, noch die jpätere Scholaſtik präformirt ift, hier 
pafjend gewählt jei. Jedenfalls waren die Hoftheologen Karl durchweg recht— 
gläubig, Erigena aber betrieb feine fpefulative Verquidung der Theologie und 
Philoſophie nicht in der Weife der orthodoren Kirchenväter und Scholaftifer, fondern 
in der feßerifchen, halb pantheiftiichen ded Neuplatonigmus. Wichtiger ift die Frage, 
ob es nicht überhaupt ein etwas kühner Griff war, mit einem derartigen Turnier 
das Gedicht zu eröffnen. Man fann dem Berfaffer zugeben, daß der Gegenfaß jener 
beiden Auffafjungen des Chrijtentums (einerſeits der jcholaftiichen oder mönchiſch— 
myſtiſchen, andrerjeit3 der echt praftifch veligiöjen, die mit voller Würdigung auch 
der weltlihen Berufsarten und auf der andern Seite jchärferer Betonung gerade 
der ftreng wifjenschaftlichen Methode der freilich von der Religion ſcharf gefonderten 
Philofophie verfnüpft fein Fann), wie zu allen Zeiten, fo auch im Beitalter Karls 
vorhanden war. Mit einem gewiſſen Rechte beruft er fi aucd auf den Borgang 
Immermanns, nämlich auf das von diefem dem Münchhauſen eingefügte romantifche 
Waldmärchen, wo gleichfalls zwei Scholaren ähnlid) entgegengejeßte Weltanſchauungen 
vertreten. Endlid; weiß er es jogar als einen befonders glüclichen Zug in feinem 
Kompofitionsplan hinzuftellen, daß er Einhard das Programm, deſſen Verwirklichung 
er als Mann im Leben erftrebe, als Scholaren vorweg verfündigen lajje. Aber 
wir fürchten, daß das anderweitige Publikum ſich großenteil$ durd das Labyrinth 
diefer (übrigens geſchickt) verfifizirten Syfteme, durch welches man fih an der 
Schwelle des Buches hindurchwinden muß, wird abjchreden lafjen, diejenigen 
theologifch und philoſophiſch intereffirten Lejer aber, denen es etwa Vergnügen 
macht, die Anficht Albrecht Ritſchls und die feiner jpefulativ fein wollenden Gegner 
einmal in populärer Fafjung, im Gemwande des neunten Jahrhundert3 und in 
Bersform ſich vorführen zu lafjen, nachdem ihnen ihr Lieblingsgericht jo zuvor: 
fonımend als Entrée ſervirt worden ift, vom übrigen zu wenig foften werden. 

Sollten wir und hierin täufchen, jo würde e8 und lieb fein. Denn im Grunde 
verdient das im übrigen lebensvoll ſich abjpielende Kleine Epos, in welchem das 
berichtigte Bild des großen Kaiferd den eigentlichen Anziehungspunft bildet, nebſt 
den eingewobnen lyriſchen Partien entihieden die Beachtung des Publikums. 








Für die Redaktion verantwortlihd: Johannes Grunow in Leipzig. 
Verlag von Fr. Wild. Grunow in Leipzig. — Drud von Carl Marguart in Leipzig. 





Die erfte Ronftitution für Öfterreich. 


a ic jo mancher andre Staat, kann Dfterreich innerlich nicht zur 
Ruhe gelangen, weil wiederholt neue Grundgejege erlafjen worden 
a Tind, ohne daß man ſich die Mühe genommen hätte, vom Alten zum 





ne Scucht bleibt die nämliche, daß der bejtehende Zujtand nur von 
einem Teile der Bevölkerung als ein rechtlicher anerfannt wird. Das Merk: 
würdige ift, daß Ddiefer Mangel oder Fehler injtinftiv von allen Parteien 
empfunden wird. In Frankreich z. B. ftellen fich jämtliche Parteien in gewiſſem 
Sinne auf den legitimiftiichen Standpunft. Royalijten der alten und der neuen 
Linie, Bonapartijten, Republifaner, alle berufen ich gelegentlich auf eine 
Periode, während welcher fie anerfanntermaßen geherricht haben, und jelbjt die 
Anarchiſten Haben ihren NRechtsboden von 1793 und 1871; aber thatfächlich 
an das Beſtehende anzufnüpfen, wenn fie die Macht haben, ihre Grundjäge zur 
Geltimg zu bringen, das fällt feinem von ihnen ein. Natürlich wird das auch 
immer jchwerer, je länger diejer revolutionäre Zuftand andauert, und je gründ- 
licher daher der Sinn fir gejegliche Entwidlung ausgerottet wird. Etwas 
ähnliches erblicken wir wie gejagt in Ofterreich. Im März 1848 hatte der 
Abjolutismus rechtlich ſein Ende erreicht, und daran änderte die Thatjache 
nicht3, daß der Eonjtituirende Reichstag, wie die meijten fonftituirenden Ver— 
jammlungen jenes Jahres, nicht Zeit gewann, die im Prinzip gewährte Ver: 
faffung formell feftzuftellen, weil die Luft, Konvent zu fpielen, zu groß war. 
Das erkannte auch das Minifterium Schwarzenberg dadurch an, daß es fich 
nicht begmügte, den Reichstag in Kremſier aufzulöjen, bevor er jein Verfafjungs- 
werf beendigt hatte, jondern gleichzeitig eine Berfaffungsurfunde erließ. Die 
Berechtigung dazu war anfechtbar und doch nicht fchlechthin zu leugnen. Genug, 
Grenzboten III. 1885. 55 


434 Die erfte Konftitution für Oſterreich. 


Ofterreich Hatte nur eine Verfaffung auf dem Papier. Zur Ausführung fam 
fie niemals. In wenigen Jahren hatte die Regierung fich wieder jo vollitändig 
in die abjolutiftiiche Gewohnheit eingelebt, daß ihr jede öffentliche Kontrole 
höchſt unbequem geworden fein würde, und da das Volk eigentlich auch nie 
einen Begriff von verfafjungsmäßigen Zujtänden befommen, den Rauſch von 
1848 ausgeichlafen hatte, fonnte man es 1851 wagen, auch die oftroirte Ver: 
fafjung von 1849 einfach aufzuheben. Der Staatzjtreich hätte fich rechtfertigen 
lafjen, wenn die alten Landitände wieder einberufen und im Einvernehmen mit 
diejen eine neue Form der Gefamtverfaffung gejucht worden wäre. ber die 
Scheu vor allem parlamentarifchen Wejen, vor allen Wahlen u. j. w. war von 
dem tollen Jahre her jo groß, daß jogar das Mandat des Wiener Gemeinderates 
ungejeßlicherweije unbegrenzte Dauer erhielt; und je mehr Bad und Genojjen 
inne wurden, daß troß der verhängnisvollen Erfolge in der auswärtigen Politik 
der gebildete Teil der Nation fich immer entjchiedner von ihnen abiwende, umſo— 
weniger wollten fie dieſen Widerfpruch zum Ausdrud fommen lafjen. Wurden 
doch die ungarischen Altkonjervativen, welche nur um die Wiederherjtellung der 
alten Berfafjung bitten wollten, verhindert, ihre Denfichrift zur Kenntnis Des 
Kaiſers zu bringen. Und damals wäre auch das bejcheidenite Zugejtändnis von 
Deutjchen, Tichechen, Magyaren u. |. w. mit Dank angenommen worden, wären 
Grundlagen für den ruhigen, gejeglichen Fortbau zu gewinnen gemwejen. Denn 
jelbjt, als im „verftärkten Reichsrat“ von 1860 der Siebenbürger Maager fich 
von Kuranda hatte das Verlangen nach einer Repräjentativverfaffung jouffliven 
lajjen, verjtand man in den niedern Schichten darunter nichts als eine Wieder- 
holung des Jahres 1848. Das Minijterium aber glaubte die Wünjche der 
Geduldigen und Bejcheidnen ignoriren zu dürfen und holte fich lieber einen 
Korb um den andern von den Stalienern. 

Das Diplom vom 20. Dftober 1860 war abermals eine Dftroirung, eine 
völlig neue Schöpfung; und als deſſen Durhführung wejentlich durch den 
Widerjpruch der deutjchen liberalen Prefje verhindert worden war, folgte im 
Februar 1861 das Patent, angeblich die Vollziehung des Diploms, in der 
That wiederum etwas Neues, wieder eine Dftroirung. Die Völkerſchaften der 
weitlichen und nördlichen Reichshälfte nahmen das Patent an, wenn auch zum 
Zeil unter Verklaufulirungen; die Ungarn lehnten es in fo barjcher Form ab, 
daß faum etwas andres als die Auflöfung bes Landtages übrig blieb. Und 
diefer Aft that für den Moment feine Wirkung. Was der (vor einigen Jahren 
ermordete) Tavernifus Georg von Mailath in der legten Sigung des ungarijchen 
Oberhauſes ausſprach, das erkannte im Stillen jeder Verftändige unter feinen 
Landsleuten an: nämlich daß man unbejonnenerweife die zur Verſöhnung 
gereichte Hand zurüdgeitoßen hatte, Hätte damals Schmerling gethan, was er 
als jeine Abſicht verfündigen ließ, innerhalb der gejeglichen Frift die Neuwahlen 
ausgejchrieben und die Abgeordneten den Groll von zehn Jahren von der Leber 


Die erfte Konftitution für Öfterreidh. 435 





herunterreden lafjen, jo hätte wohl manche jpätere Krifis — werden 
können. Allein bald meinte er, „Garantien“ für das Zuſtandekommen einer 
regierungsfreundlichen Mehrheit abwarten zu müſſen, und ſo gewährte er den 
Altkonſervativen Ungarns Zeit, eine Koalition gegen ihn zu bilden, feinen Sturz 
vorzubereiten. Was darauf folgte, die Sijtirung, die Neaftivirung und die 
Revifion der Berfaffung für die deutichen und flawijchen Länder, die Wieder: 
einberufung des ungarischen Landtages, endlich die Wiederherftellung der achtund— 
vierziger Gejeße in Ungarn, der Ausgleich) — alles das iſt noch jedem in beut- 
liher Erinnerung. 

Die Magyaren hatten durch zähes Beharren auf ihrem Rechtsboden, den 
rechtskräftig zuftande gefommenen Gejegen von 1848, gefiegt, und Die ihnen 
preisgegebenen Siebenbürger und Kroaten winden fich vergeblich in ihrer eijernen 
Umjchlingung. Daß das Beijpiel Nachahmung finde werde, war vorauszufehen. 
Tichechen und Polen perhorreiziven den Gejamtjtaat, und da fie feinen Rechts— 
boden Haben, machen fie jich einen folchen oder auch mehrere; je nachdem 
proflamiren die Tichechen den Zuſtand vor 1618, oder das myftiiche böhmiſche 
Staatörecht, oder die pragmatiſche Sanftion, oder das Dftoberdiplom, und die 
Galizier geberden ich, als fei ihr Land nur durch Perjonalunion mit den 
übrigen verbunden. Beide haben auch von den Ungarn gelernt, jedes Zu— 
geftändnis für ungenügend zu erklären, aber es vorläufig auszunußgen. Nun 
find wieder die Deutjchen unzufrieden und machen Miene, ihrerjeit3 zur Abjtinenz- 
politif überzugehen. Giebt es einen Ausweg aus diefem Wirrwarr? 

Anton Springer, welcher zwar vor länger al3 dreißig Jahren die 
öfterreichifche Staatsbürgerjchaft aufgegeben, aber nichtsdeſtoweniger der Heimat 
warmes Intereffe bewahrt hat, glaubt feinen Landsleuten den Ausweg zeigen 
zu fönnen, und der heißt: Nüdfehr auf den Punkt vor dem Beginn der 
Dftroirungspolitif, Rückkehr auf den von dem Reichstage in Kremſier in der 
Zeit vom 13. Januar big zum 4. März; 1849 hergejtellten Rechtöboden. 

Der Verfaffungsausichuß hatte ſich ſchon in den erften Auguſttagen des 
Jahres zuvor in Wien fonftituirt, die eigentliche Arbeit beganı jedoch erjt am 
13. Januar in Kremſier. Am 15. März jollte das Plenum in die Beratung 
des Entwurfes eintreten, doc) fchon am 7. März erfolgte die Auflöſung. Daher 
ift der Entwurf vielen Mitgliedern des Reichstages und vollends ber Be— 
völferung Öfterreich® gänzlich unbefannt geblieben. Ein Ausſchußmitglied, der 
mit Springer verwandte böhmiſche Abgeordnete Pinkas, Hatte jich vorfichtiger- 
weiſe eine Abjchrift der Situngsprotofolle verjchafft; dieje wurde von Springer 
fchon für feine „Geſchichte Ofterreichs feit dem Wiener Frieden 1809“ benugt, und 
nun hat er fie vollftändig und mit einer Einleitung verjehen veröffentlicht. *) 


) Brotofolle des Berfaffungsausihujjes im öfterreidgifhen Reihstage 
1848— 1849. Herausgegeben und eingeleitet von Anton Springer. Xeipzig, S. Hirzel. 


436 Die erfte Konftitution für Oſterreich. 

Das iſt eim Buch, welches nicht nur jedem Politiker in Dfterreich, ſondern 
jedem, der an der Geftaltung der dortigen Verhältnifje Anteil nimmt, zur Lel- 
türe aufs dringendite empfohlen werden muß. Alle Sonderinterefjen, welche 
gegenwärtig eine Einigung unmöglich zu machen jcheinen, gelangten auch in 
jenem Ausjchuffe jchon zum Worte; hart platten die Gegenjäße aufeinander, 
eine Verföhnung derjelben ſchien auch damals unerreichbar zu jein, die itio in 
partes war nahe. Aber die von der Reaktion drohende Gefahr und der 
idealiftiiche Hauch, welcher troß allem die Bewegung von 1848 durchwehte, 
führte die feindlichen Elemente doc wieder zujammen, und durch allfeitige 
Kompromiffe fam ein Werk zuftande, welches in dritter Lejung einjtimmig an— 
genommen wurde, 

Um jich das Gewicht diefer Thatjache zu vergegenmwärtigen, muß man 
wifjen, welche befannten Namen als Autoren diejes BVerfaffungsentwurfes er: 
jcheinen. Aus Niederöſterreich Fiſchhof (der nun feit einem Bierteljahrhundert 
über Verföhnungsprogrammen brütende frühere Präfident des revolutionären 
Sicherheitsausjchufjes und Minifterialrat, urſprünglich Arzt), Goldmarf (als 
Anftifter der Ermordung des Grafen Latour in contumaciam zum Tode ver- 
urteilt, nad; Reviſion ſeines Prozefjes freigejprochen), Brejtel (Profefjor der 
Mathematik, nachmals Sekretär der Kreditantalt in Wien und 1868 bis 1870 
Finanzminister); aus Salzburg Laſſer (1860 bis 1865 und 1871 bis 1879 
Minijter des Innern); aus Galizien Smolfa (damals Präfident des Reichs: 
tages, gegenwärtig Präfident des Abgeordnetenhaufes), Ziemialkowski (jet 
Minijter für Oalizien); aus Böhmen außer Pinkas Palacky und Rieger, der 
frühere und der jeßige Führer der Tſchechen; aus Schlefien Hein (im verjtärften 
Reichsrate der Sprecher der feinen zentraliftiichen Fraktion, erſter Präfident 
des Schmerlingichen Reichsrates, dann Juſtizminiſter); aus Steiermark Mitloſich 
(der berühmte Slawiſt, Profeffjor an der Univerfität Wien); aus Tirol 
Piregfchner (welcher im 1861er Reichsrat eine gewifje Rolle jpielte); neben diejen 
ein ruthenischer Bichof, Slawen und Italiener aus Krain, dem Küftenlande, 
Südtirol, Dalmatien. Wie wir jehen, waren nicht nur alle „Sronländer, * 
jondern auch alle Nationalitäten vertreten, und alle Vertreter wurden endlich 
einig! Welche Fortjchritte haben feitdem die zentrifugalen Tendenzen gemacht, 
welche auf dem Wiener Parlamentshauje durch acht nach verjchiednen Richtungen 
davonjtürmende Duadrigen jo ſchön verfinnficht find! 

Aljo die Arbeit, wenn auch nicht der ganzen zur Berfaffungsgebung be= 
rufenen Verfammlung, doch eines Ausfchuffes derjelben, welcher, wie wir gejehen 
haben, jo zujammengejegßt war, daß das Plenum jchwerlicd; das fo mühjam 
zuftande gebrachte Werk in wejentlichen Punkten verändert haben würde, eine 
Berfafjung, welche nicht, wie die oftroirten von 1849 und 1861, mit auf die 
ungarischen und reinitalienischen Befigungen berechnet war — auf fie zurüdzu- 
greifen follte jegt mindejtens nicht mehr die Erinnerung an die Zeit ihrer Ent: 


Die erſte Konftitution für Öfterreich. 437 » 





ftehung abhalten, nachdem man in Ungarn über diejes Bedenken a 
it und einitige Hochverräter Sig im Nate der Krone erhalten haben! 

Paragraph 2, der die Länder aufzählt, für welche die Konftitution Geltung 
haben jollte, war zu einem gewaltigen Zankapfel geworden, da jede Landichaft 
meinte, mit den benachbarten unmöglich unter einer Verwaltung leben zu können; 
doc fam man zulett dahin, nach der Interefjengemeinjchaft vierzehn „Länder“ 
zu bejtimmen: Böhmen, Galizien mit Lodomerien und Strafau, Dalmatien, 
Ofterreich unter der Enns, Öfterreich ob der Enns ohne das Innviertel, Salz- 
burg ſamt Innviertel, Steiermarf, Kärnten, rain, Schlejien, Mähren, Tirol 
jamt Borarlberg, Küftenland, Bulowina. Die größern Länder jollten mit Be- 
rüdjichtigung der Nationalität in Kreiſe geteilt werden, die kleinen je einen 
Kreis bilden; auf diefe Weile fam man 3. B. den Wünfchen der Wälichtiroler 
und Vorarlberger, wie der Windifchen in Steiermark entgegen, und ſchuf die 
Möglichkeit, in Böhmen und Mähren jlawijche und deutjche Gebiete zu jondern. 
Diefer Einteilung entjpricht die Gliederung in Reichs- und Landesregierungs: 
gewalten, Reichstag (aus Volks- und Länderfammer bejtehend), Landtage, Kreis: 
tage und Gemeinden. Die Länderfammer jollte von jedem Landtage durch ſechs 
Abgeordnete bejchiett werden, wozu in den größern Reichsländern noch je einer 
aus jedem Streife, vom Streistage zu wählen, gefommen wäre, ſodaß fie in allem 
115 Mitglieder gezählt haben würde. Wie die Minifter dem Reichstage, jollte 
der Statthalter dem Landtage verantwortlich fein. Neichsländern von gemifchter 
Nationalität blieb vorbehalten, „eine Jnftitution in die Landesverfaſſung auf: 
zunehmen, durch welche Angelegenheiten von rein nationaler Natur nach Art 
eines Scied3gerichtes zu entjcheiden find.“ Den Landtagen wird u. a. inner— 
halb der durch Reichsgeſetze feitgeitellten Beitimmungen zugewiejen die Regelung 
des Unterricht3- und Erziehungswejens; dem Neichstage (dejjen Funktionen in 
den fleinern Ländern dem Landtage mit zufallen) wird, „wenn er e3 im Interejje 
des Kreiſes für notwendig findet, innerhalb der Schranfen der Reichs- und 
Landesgejege zur Regelung und Verwaltung überlafjen: Volfsunterrichts- und 
Erziehungswefen mit dem Rechte der Beitimmung der Unterrichtsjprache und 
der Sprachgegenftände, jedoch mit gleich gerechter Beachtung der Sprachen des 
Kreifes* u. a. m. Zur Revifion einer Beitimmung der Konftitution ſoll nur 
ein eigens zu diefem Zwecke einberufener Reichstag befugt fein; gegen Ünde- 
rungen, durch welche das verfafjungsmäßige Recht der Krone gejchmälert 
würde, jteht dem Kailer das abjolute Veto zu, im übrigen hat er nur ein 
ſuspenſives. 

So trägt der Entwurf vielfach den Stempel der Zeit ſeiner Entſtehung, 
und hie und da iſt eine Schwierigleit nicht gelöſt, ſondern nur umgangen. 
An einer Annahme desſelben, wie er iſt, wäre heute nicht zu denlen. Aber der 
aufrichtige Wille, ein Gebäude herzuftellen, in welchem alle Ofterreicher wohnen 
und gedeihen Könnten, ſpricht doch jo deutlich aus allen Bejtimmungen, daß 


438 Die Karolineninfeln. 








man beinahe — möchte, ein zur zeitgemäßen Reviſion dieſer Verfaſſung 
einberufner Reichsrat werde ſich unwillkürlich zu der Höhe des Patriotismus 
aufſchwingen, auf welcher jene Männer von Kremſier ſtanden. Freilich müßte 
auf der andern Seite auch der feſte Wille beſtehen, mit der Sonderbündlerei, 
welches Banner ſie auch aufpflanzen möchte, gründlich aufzuräumen! 





Die Karolineninſeln. 


Fie Frage wegen der Karolinen hat in Madrid zu Kundgebungen 
gegen Deutjchland geführt, die, obwohl nur von republifanischen 
Wühlern in Szene gejeßt, in der Pariſer Prefje ald Meinungs: 
* IE und Willensäußerungen des ganzen ſpaniſchen Volkes behandelt 

SL md gegen uns verwertet worden find. Wenn dabei viel Hibe 
verbraucht und viel Unüberlegtes in die Welt hinaus geredet und gejchrieben 
worden iſt, jo joll uns das nicht veranlaffen, desgleichen zu thun. Wir 
werden durch Fühle, nüchterne Darftellung des Sachverhalts die Angelegen- 
heit aufzuklären und zu verftändiger Beurteilung derjelben beizutragen be- 
müht jein. 

Die Karolineninjeln jehen auf der Landkarte wie ein bloßes Geiprig von 
Tröpfchen aus einer Feder aus, das fic über die weite weiße Fläche hinjtredt, 
welche den Stillen Ozean bezeichnet; genauer betrachtet aber find fie einer der 
größten Archipele dieſes Meeres, denn fie nehmen zujammen einen Raum ein, 
dejjen Länge ungefähr 32 Grad oder 400 Seemeilen bei einer Breite vun neun 
Seemeilen beträgt, und ihr Flächeninhalt wird auf etwa 330 Quadratkilometer 
angegeben. Sie liegen in drei Gruppen gejchieden zwifchen den Ladronen umd 
Neuguinea. Die Zahl der bewohnten Injeln jener Gruppen beläuft jic auf 44; 
rechnet man auch die kleinſten Eilande mit, jo fommen über 400 Inſeln heraus. 
Die meijten find niedrige Laguneninjeln, die ihre Entjtehung Korallentieren ver- 
danken; oft umfchließt ein Ning oder Halbfreis von Land, das auf Bauten 
ſolcher Tierchen ruht, ein Wafferbeden, aus dem fich eine Maſſe kleiner Riffe 
erheben. Bei Hogolu umfaßt diefer Korallengürtel ein Baſſin von zehn Meilen 
Durchmefjer mit einem ganzen Schwarme anmutiger und fruchtbarer Eilande. 
Die übrigen Injeln find hohes Land, entjtanden durch vulfanische Erhebung, 
aber zugleich von Korallenriffen eingejchloffen. Als die bedeutendften von diejen 





Die Karolineninjeln, 439 


find Palao, Jap, Auf, PBonape und Kufaie, als die größten von den flachen 
Inſeln Ulie, Uluzi, Lamotref, Lufunor und Namolipiafan zu nennen. Das 
Klima iſt jehr angenehm und im allgemeinen gejund, da die Hige durch häufig 
wehende Winde abgekühlt wird. Die Korallenriffe und vulfanischen Srater be- 
fleidet eine reiche Vegetation. Man findet hier die Kokosnuß- und die Arefa- 
palme, den Pandang, Orangenbäume, Bambus, die Betelnuß, Zuderrohr, füße 
Kartoffeln und den eßbaren Arum. Auf den niedrigen Injeln liefert der Brot: 
fruchtbaum den Einwohnern ihre Hauptnahrung. Auf allen würden ſich wahr: 
Icheinlich auch die übrigen tropischen Nubpflanzen einbürgern laſſen. 

Die Zahl der Eingebornen wird ungefähr auf 30000 geſchätzt. Diefelben 
gehören wie die Ureimvohner der Mariannen, der Ladronen und der Philippinen 
zur mifronefischen Raffe. Sie gelten für gejchicte und unternehmende Seefahrer, 
ein Gewerbe, worauf fie die Lage ihrer Heimat und die Menge vortrefflicher 
Häfen, welche diejelbe dem Schiffer darbietet, hinweifen. Im übrigen find fie 
ein äußerlich nicht unjchönes und gegen Fremde zuvorfommendes und freund: 
liches Völfchen. Das Lob freundlichen Verhaltens kommt indes mehr den 
Bewohnern der flachen Injeln als denen der bergigen zu, da die leßtern ſich 
bisweilen feindjelig zeigten. Europäer haben fich auf einzelnen Punkten ala 
Trepangjammler und Schildfrötenfänger, auch als Handelsleute niedergelafjen, 
und Bonape wird häufig von Walfiichfängern angelaufen. 

Eine eingehende Schilderung von den Inſeln Iap, Ponape und Kuſaie 
hat kürzlich Hernsheim geliefert.*) Die erjte und die lette werden von einem 
„König,“ die mittlere von Häuptlingen beherrſcht. Jap ift von friedfertigen, 
gutmütigen und ziemlich fleißigen Menſchen bewohnt, die früher einen lebhaften 
Tauſchhandel mit Perlmutterjchalen, Walroßzähnen, Schildpatt, Matten, Körben, 
Taſchen und Bajthüten trieben, der ſich bis nach den Mariannen Hin erjtredte. 
Es hat gegen 10000 Eimwohner in 67 Dörfern, die großenteils, namentlich 
an der Küfte, durch gute Straßen mit einander verbunden find. Die Infel 
wird leider von epidemilchen Halskrankheiten und einem anjtedenden Huften 
heimgejucht, der oft in wenigen Stunden mit dem Tode endigt. Auf Kuſaie 
ijt davon nichts befannt, aber die Bevölkerung ift auch hier im Sinken begriffen, 
wahrfcheinlich, weil unter ihr Laſter gejchlechtlicher Natur Herrichen, die auch 
das von amerikanischen Mifjionären feit 1852 eingeführte Chriftentum nicht 
auszurotten vermocht hat. Zeugnifje dafür, daß früher hier ein zahflreicheres 
und auf höherer Kulturjtufe jtehendes Volk wohnte, find in Eyflopenbauten mit 
15 big 18 Fuß Dielen Mauern zu jehen, zu denen Bajaltblöde von 5000 Pfund 
Schwere verwendet find. Auf ähnliches laſſen Terraſſen, Höfe und Kammern 
der „Königsgräber” am Metaleinan Harbour auf Ponape fchließen, einer Infel, 


*) Südfee-Erinnerungen von Franz Hernsheim, ehemaligem Konful des deutfchen Reiches 
auf Jaluit. Berlin, Hofmann u. Co. 


440 Die Karolineninjeln. 








die im Munde der Matrojen wegen ihres Reichtums an Lebensmitteln und 
wegen der Schönheit ihrer Bewohnerinnen berühmt ift. Noch vor drei Jahr- 
zehnten joll diejelbe eine Bevölferung von 15000 Seelen bejefjen haben. Da 
ichleppte ein englisches Schiff die Blattern ein, und jest wird Ponape nur noch 
von etwa 2000 Menjchen bewohnt. Auch hier haben die Amerikaner mit einigem 
Erfolge das Ehrijtentum gepredigt. 

Die eriten Nachrichten über dieje Infelgruppe haben wir von dem portu— 
giefiichen Seefahrer Diego de la Roche, der fie 1525 entdedte und ihr den 
Namen der SegueirasInjeln gab. Im Jahre 1686 jah fie der ſpaniſche Schiffer 
Francisco Lezcano und benannte die größte derjelben nach dem damals herr- 
chenden Könige Karl dem Zweiten Carolina, ein Name, welcher jpäter auf die 
ganze Gruppe ausgedehnt wurde. Die Jeſuiten von Manila beichlofjen, die 
Inſeln zu „evangelifiren,“ aber der erjte Verjuch dazu, der im Jahre 1710 mit 
einem dom Kapitän de Padilla befehligten Schiffe gemacht wurde, mißlang, 
und zwei weitere Erpeditionen zu gleichem Zwecke hatten fein beſſeres Schidjal. 
Auch die, welche 1733 vom Pater Cantova unternommen wurde, endigte er— 
folglos, denn Gantova wurde von den Eingebornen erjchlagen. 

Wenn ſpaniſche Blätter aus diefen Thatjachen ein „unzweifelhaftes hiſto— 
riſches Recht“ Spaniens auf den Beſitz der Sarolinen herleiten und dafür 
außerdem anführen, daß die befannte Bulle Papſt Alexanders des Sechſten, 
welche die überjeeifche Welt zwilchen Spanien und Portugal teilte, jene Inſel— 
gruppe dem erjtern zugeiprochen habe, jo it das zum mindejten eine twunderliche 
Behauptung, welche durch die weitere Behauptung nicht gebejjert wird, daß 
gegen jenes Befitrecht niemald Einſpruch erhoben worden ſei. Faſſen wir bie 
Sclußfolgerung der ſpaniſchen Preſſe kurz zufammen, fo lautet fie: die Karo— 
linen find Eigentum der jpanifchen Krone, erftens weil vor etwa zweihundert 
Jahren ein jpanifcher Seefapitän eine derfelben ſah und nach feinem Könige 
taufte, zweitens weil die Jeſuiten der jpanischen Kolonie Manila Verjuche 
machten, die Injeln für das Chriftentum zu gewinnen, und weil diefe Verſuche 
jämtlich mißglücten, drittens weil ein Papſt die Karolinen jtillichweigend den 
Spaniern zugewiejen hat, endlich vierten weil jeit der Entdeckung jener Inſel— 
gruppe niemand den Befittitel Spaniens bezweifelt, gejchtweige denn bejtritten hat. 

Prüfen wir dies, jo ergiebt fi) folgendes. Die bloße Thatjache der Ent: 
dedung eines Landſtriches oder einer Injel giebt feinen Anspruch auf den Beſitz 
des Entdedten, e8 müſſen Anzeichen einer Befigergreifung hinzufommen, die hier 
nicht vorliegen, und überdies war der erjte Entdeder der Karolinen fein Spanier, 
jondern ein Vortugiefe. Ferner begründen drei oder vier oder noch jo viele Ber- 
ſuche einer religiöfen Gejellichaft, einen heidniſchen Stamm zum Chriftentume 
zu befehren, auch wenn fie jchließlich Erfolg haben, feinen Befittitel des Staates, 
zu dem jene Gejellichaft gehört, auf das Land, das diejer Stamm bewohnt, 
und bier find jene Verſuche überdies mißlungen. Drittens ift die Weltver- 


Die Karolineninfeln. 44] 














teilungsbille Bapjt Alexanders des Sechiten, der beiläufig 1503, aljo vor Ent: 
defung ter Karolinen, jtarb, eine hierarchische Anmaßung ohne irgendwelche 
rechtliche Bedeutung. Würde ihr eine jolche zugejprochen, jo gäbe es feine eng: 
lichen, feine franzöfiichen, feine holländischen und feine deutjchen Kolonien, feine 
Vereinigien Staaten und feine jpanischen Republifen in Amerifa. Die Be- 
hauptung endlich, die Karolinen jeien legitimer Befig der ſpaniſchen Strone, weil 
jeit der Entdeckung der erftern niemals Einspruch gegen dieſe Auffajjung erfolgt 
jet, ift einfach umvahr; denn ein jolcher Einfpruch hat vor zehn Jahren that: 
ſächlich ınd in aller Form jtattgefunden, und zwar von zwei Mächten zu 
gleicher Zeit. Der einzige bekannte Verſuch der jpantjchen Regierung, die 
Karolinen als Eigentum der Krone Spanien geltend zu machen, ijt von 
Deutjchland und England in gleichzeitigen Noten mit aller Deutlichfeit 
zurüdgewiejen worden. Es war am 4. Mär; 1875, als der Vertreter Des 
deutjchen Reiches in Madrid, Graf Hatfeldt dem ſpaniſchen Staatsminijter De 
Gajtro eine Note übergab, in welcher es im wejentlichen hieß: „Durch Berichte 
des deutſchen Konſulats in Hongkong ijt Die fatjerliche Regierung davon in 
Kenntnis gejeßt worden, daß der dortige jpaniiche Konjul aus Anlaß der Aus- 
Elarirung des deutſchen Handelsſchiffes Coeran nad) den Palao- oder Pelew— 
injeln für die jpanische Regierung die Souveränität und Zollhoheit über das 
ausgedehnte Gebiet der Karolinen und jpeziell der Palao- oder Belew-Injeln in 
Anſpruch genommen hat, während dieje Injeln bisher von dem handeltreibenden 
Bublifum als feiner zivilifirten Macht unterworfen angejehen und von deutjchen 
und andern Schiffen jtet3 ungehindert bejucht worden find... Nach den all: 
gemeinen Grundjägen des modernen Völferrechtes würde die faiferliche Negierung 
nicht in der Lage fein, die von dem fpanifchen Konſulat in Hongkong behaup— 
tete Souveränität und Bollhoheit über jene Injeln anzuerkennen, jolange die 
jelben nicht als eine vertragsmäßig janftionirte oder wenigſtens als eine that- 
ſächlich ausgeübte erjcheint. Es ift aber fein auf den Kolonialbefig Spaniens 
im Stillen Ocean bezüglicher Vertrag befannt, in welchem die Karolinen= und 
Pelerv-Injeln erwähnt werden, und ein thatjächlicher Beſitzſtand, beziehentlich eine 
Einrihtung, durch weld;e Spanien auc nur den Willen der Ausübung einer 
DOberhoheit über die Pelews bekundet Hätte, ijt auch vonjeiten des Konſulates 
in Hongkong nicht als vorhanden behauptet worden. Dem gegenüber jteht 
aber nad) glaubwürdigen Ausjagen der Umftand feit, dag die Injelgruppe jeit 
Jahren ungehindert von Kauffahrteiichiffen aller Nationen, dagegen außer von 
englifchen, niemals von fremden Striegsichiffen befucht worden ift, und jodann 
die notorische Thatjache, dab es auf den Pelews wie auf den Starolinen feinen 
jpanifchen Beamten und mithin feine jpanische Negierungsgewalt giebt... . . Die 
faijerliche Regierung giebt fich der Hoffnung Hin, daß der von dem jpanifchen 
Konfulat bei Gelegenheit der Ausklarirung des deutichen Handelsjchiffes Coeran 


erhobene Anjpruch auf Souveränität und Zollgoheit über die Karolinen- und 
Grenzboten III. 1885. 56 


ie EEE 


Palao- oder Pelew-Inſeln auf mißverjtändlicher Auffaffung de: ihm erteilten 
Weilungen beruht. Indem fie mich daher beauftragt hat, Eure Sreellenz ges 
neigte Aufmerkſamkeit auf diefe Frage zu lenken und hinzuzufügen, Dıp ‘ie die 
von dem ſpaniſchen Konſul in Hongkong beanfpruchte Souverönitat ZJoll— 


Die Karolineninfeln. 














hoheit über jene Inſeln aus den angeführten Gründen nit cn. mm, 
beehre ich mich im Namen der faiferlichen Regierung die Hoffnuns .ı&3 .. Jen, 
daß die füniglich jpaniche Regierung den fpanifchen Ktolonialbeli wi ° Be= 
fehlshabern der in den dortigen Gewäſſern ftationirten Kriegsjiit. » den 
ipanischen Konfulaten in DOftafien und Bolynefien die Weiſung » : : fen 
wird, dem direkten Verkehr deutjcher Schiffe und Staatsangehö: u: »ı nd 
auf den gedachten Injelgruppen keinerlei Hinderniffe in den Weg ; In 


der Note, welche Layard, der engliſche Geſandte am ſpaniſchen Hofe, an de Caſtro 
richtete und welche einen ähnlichen Gedankengang verfolgte wie die deutſche, hieß 
es am Schluſſe: „Ihrer Majeſtät Regierung erkennt das von Spanien bean— 
ſpruchte Recht über die Karolinen- oder Pelew-Inſeln, über welche dieſelbe niemals 
irgendwelche thatſächliche Herrſchaft ausgeübt hat noch jetzt ausübt, nicht an.“ 

Das waren Verwahrungen jo förmlich und entſchieden, als man fie nur 
verlangen fann, und wenn die jpanische Regierung gegen dieſe Noten feinen 
Widerjpruch erhoben hat, jo iſt anzunehmen, daß fie diefelben als wohlbegründet 
anfehen mußte. Thatjache aber iſt, daß fie auch jeitdem von den Karolinen 
in feiner Weiſe effektiv Beſitz ergriffen hat und erjt jeßt, nachdem die Deutjchen 
das Protektorat über diejelben übernommen haben, Anfprüche auf deren Befit 
erhebt. Deutichland war mit diefem Vorgehen die erſte Macht, welche nach den 
neuen von der Berliner Ktongofonferenz fejtgejtellten Prinzipien ein erotisches 
Gebiet, welches noch von feiner zivilifirten Macht offupirt war, in Beſitz nahm. 
Daß Spanien in der That, als dies gejchah, die Karolinen noch nicht offupirt 
hatte, giebt die offiziöfe Agentie Fabra indirekt jelbjt zu, indem fie jagt, Der 
Gouverneur der Philippinen habe die effektive Okkupation jener Inſeln jeit dem 
März d. I. „vorbereitet.“ Wenn fie fi) dann aber bejchwert, daß die deutſchen 
Konfuln ihre Regierung von diefer Abficht und Vorbereitung in Kenntnis gejeßt 
haben, fo ijt das völlig unbegreiflich. Die Konſuln haben damit nur ihre Pflicht er- 
füllt und im Interefje ihres Landes gehandelt, und andrerjeit3 hat es der Gouver- 
neur von Manila an der in jolchen Fällen notwendigen Raſchheit und vorfichtigen 
Verſchwiegenheit fehlen laſſen, ſodaß e8 den Deutjchen möglich war, ihm zuvorzu— 
fommen. Durch) diejen Aft war die Frage jo geftellt, daß das deutjche Reich formell 
und effektiv Befier der Karolinen geworden war, und da Spanien, went es 
aus einer völferrechtlichen Frage nicht eine Machtfrage machen wollte, vor Europa 
den Beweis zu erbringen hatte, daß es jchon vorher von der Infelgruppe formell 
und effektiv Beſitz ergriffen. Mit geräufchvollem Protejtiren, fich in die Bruft 
werfen und Reden von faftiliicher Ehre war natürlich nichts zu machen. Das 
war aber auch garnicht die Abficht der Wühler in der Straße del Principe 


Y 
‚ Die Karolineninfeln. 343 





und in den Beitungsbüreaus. Die Sarolinenfrage bot den republifanifchen und 
andern oppofitionellen Barteiführern Gelegenheit, ihr Gewerbe zu betreiben und 
ihre Verſuche, das konſervative Kabinet zu erfchüttern und zu ftürzen, Die in 
den Cortes mißlungen waren, wieder aufzunehmen. Eine jo gute Gelegenheit 
wie hier, die Mehrheit der Nation Hinter eine Anklage gegen dag Miniſterium 
zu bringen und ſich mit dem Nimbus des Patriotismus zu umgeben, fand fid) 
nicht jobald wieder, und jo beeilten fich die Herren, unter denen fich der General 
Salamanca und die Erminifter Martos und Becerra befanden, fie auszubeuten. 
Die Regierung jcheint dem gegenüber nicht gleich den rechten Weg gefunden zu 
baben. Zuletzt aber griff fie emergifch gegen die Speftafelmacher ein. Ber: 
ſchiedne Offiziere, die fi an dem Geſchrei und Gejchimpfe gegen die Deutjchen 
beteiligt hatten, befamen ihren Abjchied, fieben Hebblätter wurden mit Bejchlag 
belegt, das Militärkafino, wo der Hauptichauplag der Kundgebungen gewejen 
war, wurde gejchlofjen, die Behörden erhielten vom Minifterpräfidenten Canovas 
del Eajtillo den Befehl, ähnliche Auftritte zu verhindern, und anderjeits empfing 
der jpanifche Gejandte in Berlin die Weifung, hier in der Angelegenheit Bor: 
jtellungen zu machen, welche der Art gewefen fein müſſen, daß die deutjche Re— 
gierung in einigermaßen entgegenfommender Weije darauf antworten fonnte. 
Am 24. Auguſt fandte Benomar, der Berliner Vertreter Spaniens, an den 
Miniſter des Auswärtigen in Madrid folgende Depejche ab: „Der Minifter der 
auswärtigen Ungelegenheiten teilt mir nachitehendes mit: Als die Regierung 
Sr. Majeftät des Kaiſers einwilligte, dem wiederholten Anjuchen deutjcher Unter: 
thanen, welche auf den Slarolineninfeln Handel treiben, Folge zu geben und die 
Schutzherrſchaft über dieſe Injelgruppe aufzurichten, hatte fie feineswegs Die 
Abficht, in ältere Rechte einzugreifen. Auf Grund der Urkunden, welche die 
deutjche Regierung gejammelt hat, glaubt fie, daß die Karolineninjeln unbeſetztes 
Gebiet find, deshalb hat fie den erwähnten Entſchluß gefaßt und verfteht nicht, 
daß Spanien darin ein gegen jeine Unabhängigfeit gerichtete Borgehen erblickt 
hat. Um ein Übriges zu thun und felbft den Schein einer folchen Abficht vor- 
zubeugen, hatte die deutjche Regierung die Spanische von ihrem Vorhaben in 
Kenntnis gejeßt, che fie die deutiche Flagge auf den Karolinen aufpflanzen lief. 
Zugleich hatte fie angeboten, die Frage zu prüfen, und den deutjchen Kriegs— 
Ichiffen den Befehl erteilt, jedem Zuſammenſtoße mit den fpanifchen Streitkräften 
aus dem Wege zu gehen. Die Regierung ift noch immer durchaus geneigt, 
die Anjprüche, welche Spanien erhebt, zu prüfen und an diefe Prüfung mit den 
freundichaftlichen Gefinnungen zu gehen, welche fie den guten Beziehungen 
jchuldet, die ftet3 zwijchen den beiden Mächten beftanden haben und die fie 
lebhaft zu ftärfen und enger zu knüpfen wünſcht. Falls jene Prüfung nicht 
auf Grund gegenfeitiger Verftändigung zu einem befriedigenden Ergebniſſe führen 
jollte, ift die deutiche Regierung geneigt, die Vermittlung einer mit beiden Ländern 
befreundeten Macht anzunehmen.“ 


4-44 Die Aufgabe der Staatsanmwaltfchaft im Strafverfahr:- 








Aus dieſer Depeſche ergiebt fich, daß die deutiche Regie ma mi größter 
Gewifjenhaftigfeit und Loyalität gehandelt hat, und da das eht 1:"weifel 
haft auf ihrer Seite ift, jodaß wir mit Zuverficht einem guteı Ausge dieſes 
Handels entgegenjehen dürfen, falls in Spanien Vernunft und Blinleit Die 
Oberhand behalten. 


Tragen wir zum Schluffe, was die deutjche Politik bavsacı ui. mag, 
die weitentlegenen und an fich nicht eben jehr wertvollen Karol u © cı erben, 
jo gehen wir wohl mit folgender Bermutung nicht fehl. In Dein man 
in einem befannten Balais der Wilhelmftraße, daß der Stille Own ın " uch: 
ftechung der Landenge von Panama ein jehr Lebhafter und geranndy >» Dzean 
und der Schauplaß einer neuen großen Epoche im fommerziellen Lover ©» "ölfer 
werden wird. Mit einem Blide auf diefe umausbleiblihe ud xl rückte 
Revolution hat Fürſt Bismard ein gutes Stüd von Neuguim ı fin Teutſch— 


land erworben, und mit demjelben Blicke bemächtigt er ſich je Dr Hardlinen 
oder einer von den Gruppen diejer Inſeln. Diejelben mögen ievi noch als 
ein mäßiger Gewinn erjcheinen, werden aber eine andre Bedeutung erlangen, 
wenn von Panama aus ein Dubend oder mehr Dampferlinien nach China, 
Indien und Auftralafien gehen werden. 





Die Aufgabe der Staatsanwaltfchaft 
im Strafverfahren. 


) m Hlönigreiche Sachjen war im Frühjahr diejes Jahres ein Yand- 
= mann infolge der Anzeige irgendeiner Berjon wegen Forftdiebitahls 
angeklagt und vom Schöffengerichte nach gepflogener Hauptver- 
‘$) 1 handlung auf Grund des Zengniffes jener Perſon, der einzigen, 

EA yelche Kenntnis von der fraglichen Handlung aus eigner Wahr: 
nehmung hatte, zu Strafe verurteilt worden. Der betreffende Amtsanwalt hatte 
die Schuld des Angeklagten für zureichend erwieſen angejehen und auf Grund 
diejer feiner Überzeugung die Verurteilung beantragt; das Gericht war derjelben 
Anficht und Hatte auf Grund diefer feiner Überzeugung die Verurteilung aus— 
geiprochen. Auf erhobene Berufung wurde der Angeklagte vom Landgerichte 
von der Anklage freigejprochen, und zwar nachdem der nicht lange zuvor in jein 
neues Amt als Generalſtaatsanwalt eingetretene Geheime Nat Held die Ber: 







Die Aufgabe der Staatsanwaltfhaft im Strafverfahren. 445 





— Bi Stantsanwalticait in dem — Falle ſelbſt — 
und für die Freiſprechung des Angeklagten plädirt hatte. 

Herr Generalftaatsanwalt Held Hat nach dem Berichten der öffentlichen 
Blätter in der fraglichen Berhandlung die Notwendigkeit betont, beffere geſetzliche 
Garantien für die Enticheidung der Thatfrage zu jchaffen, da aus den ver: 
Ichiedenften Gegenden Deutjchlands Mitteilungen über ungerecht erhobene Anz 
Klagen und unbegründet erfolgte Berurteilungen zuſammenfließen, welche geeignet 
erscheinen, Bedenfen zu erregen. „Für einen Unjchuldigen, Heißt es in einem 
ſolchen Berichte, ift es ſchon ein Übel, vor das öffentliche Gericht als Angeflagter 
geftellt zu werden. Das Übel wird zu einer eminenten Gefahr, wenn das Gericht 
in Berfennung des wahren Wefens der freien Beweiswürdigung die durch Logik 
und Erfahrung gebotenen, von der Wiſſenſchaft verarbeiteten und fejtgejtellten 
Grundſätze des Beweiſes zurücktreten läßt hinter Gefühlgeindrüden, welche mehr 
oder Weniger unzuverläffig find.” Seines Amtes, hatte der Herr Generalftaats- 
anwalt erklärt, jei e8, darüber zu wachen, daß die Staatsamvaltichaften ihrer 
Aufgabe ſich bewußt bleiben. Mit allgemeinen Inftruftionen ſei wenig gethan- 
Aber in der Praxis werde er jede Gelegenheit wahrnehmen, um für eine richtige 
Handhabung der Gerechtigkeit einzutreten. Im Laufe der weitern Verhandlung joll 
jodann der Herr Generalftaatsamwvalt nach diejen Berichten wörtlich gejagt haben: 
„Die deutiche Strafprozeßordnung ſpricht nicht wie die frühere ſächſiſche den 
Grundſatz aus, es folle die Staatsanwaltjchaft darüber wachen, daß fein Un— 
jchuldiger geitraft werde. Der Grundſatz ift aber ſelbſtverſtändlich. Die Staats: 
anwaltſchaft, die ihn verleugnen wollte, würde ihren wahren Beruf verfennen, 
ihr Anjehen unterminiren, den Staat direft jchädigen. Jede Verurteilung eines 
Unfchuldigen, ja jede Verurteilung eines der Schuld nicht genügend Überwieſenen 
ift ein Angriff gegen die Nechtsficherheit, ein Angriff gegen den Zwed und die 
Erijtenz des Staates. Ic jage abfichtlich »eines der Schuld nicht genügend 
Überwiejenene; denn jo will ich jenen Sat verjtanden wiffen. Der Staats- 
anwalt joll nicht eine Verurteilung betreiben, wo es an ausreichenden Beweijen 
Fehlt. Das Juftizminifterium erachtet ihn, wie es wiederholt ausgejprochen, für 
dienstlich verantwortlich, wenn er ohne genügende Beweiſe eine Anklage erhebt 
und eine Verurteilung beantragt, und läßt es nicht als Nechtfertigung gelten, 
daß dann die Verurteilung wirklich erfolgt ift.“ Die Berichte fügen dann oc) 
einige Säge an, welche der Herr Generalftaatsanwalt aus dem reichen Schage jeiner 
Erfahrungen angeführt habe; er joll davor gewarnt haben, fich durch ungünſtige 
Eindrücde beeinfluffen zu lafjen; Befangenheit zeuge keineswegs von jchlechtem 
Gewifjen; Lüge und Heuchelei verjtünden es vortrefflich, ſich mit Unbefangenheit 
und Sicherheit zu jchmüden; im täglichen Leben nehme der vorfidhtige Mann 
Anftand, nach flüchtiger gejellfchaftlicher Begegnung über den Charakter eines 
Fremden zu urteilen, um wie viel mehr müfje man fich hüten, im gerichtlichen 
Verfahren aus dem flüchtigen Eindrude ſchwere Konjequenzen zu ziehen; Dem 


446 Die Aufgabe der Staatsanwaltfchaft im Strafverfahren. 





Beichuldigten dürfe man prinzipiell und von vornherein durchaus nicht mit 
größerem Miktrauen entgegentreten als dem Beichuldiger, es werde ſonſt leicht 
der Zufall enticheiden, der dem Einen oder dem Andern diefe oder jene Rolle 
im Prozeſſe anweiſe. 

Wir wiſſen nicht, ob im Königreich Sachſen Erſahrungen gemacht worden 
find, welche Anlaß zu geben geeignet waren, mit einer Anſprache an die Offent- 
lichkeit zu treten, welche, wenngleich in befter Abficht erfolgt, nicht ermangeln 
fonnte, demjenigen Teile der Preſſe, welcher es fich zur Aufgabe gemacht hat, 
die ftaatliche Autorität bet jeder Gelegenheit anzugreifen und deren Vertreter 
zu disfreditiren, den willtommenften Anlaß zu bieten, fie in ihrem Sinne aus— 
zunußen. Was die fortichrittliche Prefje aus der Anfprache des Herrn General: 
Itaatsanwalts herauslas und ihren Leſern als deſſen Meinung verfündete, war 
natürlich die Behauptung, es jei die frevelhafte Sucht ſämtlicher deutjchen 
Staatsanwälte und Richter, unbegründete Anklagen zu erheben und durch— 
zujegen, den offenbarjten Entlaftungsbeweifen gegenüber nichtsdeftoweniger un— 
bekümmert Strafen zu beantragen und zu erfennen, und es jei eine anzuerfennende 
That des neuen jächfiichen Generalftaatsanwalts, daß er diefem jchändlichen 
Treiben öffentlich entgegengetreten fei. Über die Beſchaffenheit vieler unfrer 
Richter und Staatsanwälte, jchreibt ein folches Blatt, jcheine jede Bemer— 
fung überflüſſig; jage doch jelbjt der berühmte Kriminalift Heinze, gegen die 
Frage, ob als Nichter nur Männer beichäftigt werden, welche der Aufgabe, 
vertrauenswerte Strafurteile zu fällen, vollflommen gewachjen feien, dürfe man 
„einige Zweifel“ hegen. Die zuverläffigite Kritif des Richtermaterials enthielten 
die Urteile des deutjchen Reichsgerichts. Dem Bolfe jei die Qualität feiner 
Richter und Staatsanwälte genugjam befannt. Würden diefelben im Geifte der 
Heldichen Anjprache handeln, jo ftünde es jelbjt unter der heutigen, an hundert 
Stellen mangelhaften Strafprozegordnung bejjer um die Nechtöpflege im 
deutſchen Reiche. 

Wenn der Herr Generalſtaatsanwalt nach ſeiner Rede etwa noch im Zweifel 
war, ob dieſelbe nur die von ihm beabſichtigte Wirkung habe, ſo hat ihn ſicher— 
lich der ungeteilte Beifall der fortſchrittlichen Preſſe davon überzeugt, daß er 
zur Bekanntmachung ſeiner Anſicht einen Weg gewählt hat, der zum Vorteile 
der Sache nicht dienlich war. Was er in ſeiner Anſprache geſagt hat, iſt, wie 
ihm ſelbſtverſtändlich ganz wohl bekannt war, ein Grundſatz, der ausdrücklich 
in der Strafprozeßordnung ausgeſprochen iſt, und keineswegs, wie die fort— 
ſchrittliche Preſſe glauben machen will, ein Standpunkt, welcher von ihm allein, 
im Gegenſatze zu den übrigen Juſtizbeamten des Reiches, eingenommen wird. 
Der $ 158 der Strafprozeßordnung beſtimmt, daß die Staatsanwaltſchaft nicht 
bloß die zur Belaftung, jondern aud) die zur Entlaftung dienenden Umftände zu 
ermitteln und für die Erhebung derjenigen Beweiſe Sorge zu tragen hat, deren 
Verluſt zu befürchten fteht; nach $ 338 der Strafprozeßordnung kann die Staats- 


Die Aufgabe der Staatsanwaltfchaft im Strafverfahren. 447 





anwaltichaft von den zuverläffigen Nechtsmitteln gegen gerichtliche Entjcheidungen 
auch zu gunften des Bejchuldigten Gebrauch machen. Die Aufgabe der Staat3- 
anwaltſchaft ift, ganz wie diejenige der Richter, nichts al3 die Ermittlung der Wahr- 
heit, fie hat fein Jutereffe daran, VBerfolgungen vorzunehmen, wo fein Grund 
zu jolchen vorhanden iſt, und fie hat, jo wenig wie ein Richter, irgendeinen 
Vorteil davon, eine Verurteilung jtatt einer Freiſprechung zu erzielen. Der 
Staatsanwalt hat aber nicht nur fein Interefje an einjeitiger Verfolgung des 
Belajtungsbeweijes, er Hat vielmehr ein großes Interefje an genügender Infor: 
mation in Beziehung auf relevante Entlaftungsbeweije, denn vielfach beruht auf 
jeiner Thätigfeit da8 ganze dem Gerichte vorgeführte Material, und er würde 
jeiner Umficht ein jchlechtes Zeugnis ausftellen, wenn er durch Nichtbeachtung 
erheblicher Entlaftungsmomente im VBorverfahren fich in die Lage verjegen wollte, 
in der Hauptverhandlung Berteidigungsmittel gegen fich gebrauchen Lafjen zu 
müjjen, auf deren Benußung er nicht vorbereitet wäre und die ein Nejultat 
herbeiführen könnten, welches in direftem Widerjpruche mit der von ihm vertretenen‘ 
Anficht jtünde. Das weiß jeder Staatsanwalt und jeder Richter jelbjt, und nach 
diefem Grundjage handeln jowohl die Richter als die Staatsanwälte. 

Die Überzeugung, daß dem fo ift, hat ohne Zweifel auch) der Herr General: 
ſtaatsanwalt, und er braucht dagegen nicht in Schuß genommen zu werben, 
daß es ihm jemals in den Sinn gefommen jei, jeiner Anſprache Schlußfolge- 
rungen geben zu wollen, wie fie derjelben nunmehr von der fortichrittlichen 
Preſſe umtergefchoben werden. Ihrer Ausbeutung in dem eben bezeichneten 
Sinne aber mußte er von dieſer Seite gewärtig ſein, und eine etwaige Er- 
innerung bejonders eifriger Vertreter der Staatsanwaltichaft an die wahre Auf: 
gabe derjelben wäre wohl geeigneter im Wege dienftlichen Ausjchreibens als 
auf dem gewählten Wege erfolgt. Urteilsfähige Leute wiffen feine Anjprache 
richtig zu würdigen, jo gut wie jie aus den zur Kennzeichnung der Mangelhaftig- 
feit der deutichen Rechtspflege von der Fortichrittspreffe angeführten Urteilen 
des MNeichsgerichts gerade im Gegenteil erjehen, wie viel Gewifjenhaftigkeit, 
Fleig und Einficht täglich im Dienste der Rechtſprechung von dem deutjchen 
Suftizbeamten aufgewendet wird; urteilsloje oder böswillige aber legen fie aus, 
wie oben gezeigt worden ift, und deren Handwerk zu unterjtügen haben wir 
feinen Anlap. 





Hwei fürftliche Srauen des achtzehnten Jahrhunderts. 
I. Die „große £andaräfin.* 


a iſt eine der edeliten Frauenerſcheinungen der deutschen Gejchichte, 
BA der die nachfolgenden Blätter gewidmet find. Zwar find es feine 
3 Sroßthaten der Bolitif, durch welche ſich Karoline von Heſſen 
gleich ihren Zeitgenojfinnen Maria Therefia von Ofterreich und 
= Statharina der Zweiten von Rußland einen Namen in der Ge- 
schichte der Völker erworben hat. Das Land, dem fie an der Seite ihres fürft- 
lichen Gemahls vorjtand, war klein und einflußlos in dem vielverjchlungnen 
Getriebe der Zeitpolitif. Die Bewunderung, welche ihr die Zeitgenofjen in einem 
jeltnen Grade zollten, entiprang durchweg nur dem Eindrude, welchen ihr ganzes 
Denken, Fühlen und Handeln auf alle machte, denen es vergönnt war, in ihrer 
Umgebung zu leben und fie in den vielfachen jchtwierigen Lagen, in welche fie 
ihre Stellung im Leben brachte, zu beobachten. Wer möchte leugnen, daß diejer 
Nuhm der weniger vergängliche it? Nicht jelten ſchwinden auch die glänzendjten 
äußeren Erfolge vor dem unparteiiſch prüfenden Blick der Nachwelt auf ein 
befcheidnes Maß zujammen, aber für alle Zeiten unverrücdt bleibt das Bild der 
großen und edeln Seele, welches von den Bejten jeiner Zeit erfannt und für 
das Gedächtnis der jpäteren Gejchlechter feitgehalten worden ift. Eine jolche 
Erjcheinung war die Landgräfin Karoline von Hefjen-Darmitadt. Die „große 
Landgräfin“ nennen fie Goethe und Herder, und Friedrich der Große bezeichnet 
fie als die „Hierde des Jahrhunderts.“ 

Meine vorzüglichite Quelle für die nachfolgende Darjtellung ift der Brief: 
wechjel der Fürftin. Die Landgräfin forrejpondirte viel, denn fie war ber 
Sprache und des Ausdrudes mächtig wie wenige Frauen; fie forreipondirte 
nach allen Seiten hin, weil es ihr ein Bedürfnis war, ihren warmen Gefühlen 
für andre Ausdrud zu verleihen. Ste hatte die Gewohnheit, an jedem Tage 
nach der Tafel einige Stunden zu fchreiben, obgleich ihr dies als ihre Ge- 
ſundheit jchädigend von den Ärzten widerraten worden war. Wie groß ihre 
Korrefpondenz war, erjicht man daraus, daß fie an ihren Gemahl, von dem fie 
allerdings, wie wir jehen werden, einen großen Teil ihres ehelichen Lebens 
hindurch getrennt leben mußte, nicht weniger als 2555 Briefe gejchrieben Hat. 
Ähnlich zahlreich find ihre Briefe an ihren Schwiegervater, an ihre Freundin 
und Schwägerin, die Marfgräfin Karoline von Baden, an ihre Mutter, an 
Friedrich den Großen, an die Prinzeſſin Amalie und den Prinzen Heinrich von 
Preußen, an E. F. von Mojer, an den Encyklopädijten Grimm und andre mehr. 
Dieje ganze Korreipondenz findet fich im Darmftädter Hausarchiv, teils in den 





Zwei fürftliche Frauen des achtzehnten Jahrhunderts, 449 


nad) der Hoffitte nach, dem Tode der Landgräfin zurüdgegebnen Driginalen, teils 
in Abjchriften vor. Die Briefe an die Landagräfin find nur zu einem Eleinen 
Zeile noch vorhanden, da, ihrem legten Willen zufolge, alle Briefe, welche nicht 
auf Staat3verhältniffe fich bezogen, mit Ausnahme derer Friedrichd des Großen, 
der Kaiſerin Katharina von Rußland, des Groffürjten Baul und der Groß- 
fürjtin Natalie verbrannt werden mußten. 

Die nachmalige Landgräfin Karoline von Hefjen-Darmjtadt*) war die Tochter 
des Herzogs Chriftian des Dritten von Pfalz: Zweibrüden:Birkenfeld und wurde 
am 9. März; 1721 geboren. Früh Schon jtarb der Vater, nachdem er faum die 
Negierung des Heinen Landes angetreten hatte. Wie jo häufig große Menjchen 
das Beſte und Eigenfte ihre Wejens ihren Müttern verdanfen, jo darf aud) 
bei Karoline von Heſſen die fpätere Entfaltung der herrlichiten Eigenjchaften 
des Geiftes und Herzens auf Rechnung der ihr durch ihre hochgebildete Mutter, 
eine geborne Prinzeffin von Nafjau-Saarbrüden, gewordnen trefflihen Erziehung 
gejeßt werden. Mit rührender findlicher Liebe hat denn auch die danfbare 
Tochter an der Mutter gehangen. In jedem ihrer zahlreichen Briefe an diejelbe 
leigt fie diefem Gefühle den innigiten Ausdrud. Nur eine einzige von den vielen 
Stellen ihrer Briefe, die von diefem findlich dankbaren Gefühle Zeugnis geben, 
jei hier al3 Beifpiel angeführt. Ich entnehme fie dem Briefe, den fie am die 
Mutter jchrieb, als dieje noch einmal nad) Darmjtadt gefommen war, um die 
Tochter und die Enfelinnen vor deren Abreife nach St. Petersburg zu jehen. 
Da Schreibt fie: „Ich hörte dich geftern morgens wegfahren, meine liebe und 
angebetete Mutter; ich war um fünf Uhr erwacht; Gott weiß, wie ich gelitten 
habe, als ich den Wagen wegfahren hörte; ich ließ mich in meinem Bette auf 
die Kniee nieder und bat Gott, daß er mir die Gnade gewähren möchte, dich 
in Gejundheit wiederzujehen; dann ließ ich meinen Tränen freien Lauf, die 
mich jeit zwei Tagen ſchwer gepreßt hatten. Gott erhalte dich! ijt mein höchſter 
Wunſch, taufendmal und abertaufendmal Dank für alle die Beweiſe der Liebe, 
die du mir im Leben gegeben haft. Beraube mich diejer Liebe niemals, ihr 
Verluſt würde mich töten. Du biſt das Glück deiner Kinder und Enfel, dir 
verdanfen wir alles.“ Dasjelbe innige Gefühl ſpricht ji auch in den andern 
an die Mutter gerichteten Briefen aus, und man darf jagen, daß jelten zwei 
Menſchen mit gleich inniger Liebe aneinander gehangen haben, wie dieje zwei fürft- 
lihen Frauen, welche der Tod fait an demjelben Tage von diejer Welt abrief. 

Am 20. Augujt 1741 vermählte fich Karoline mit dem Erbprinzen Ludwig 
von Hefjen-Darnftadt, der zugleich von feinem Großvater mütterlicherjeits Herr 
der linfsrheinifchen, unter franzöſiſcher Oberhoheit ftehenden Grafichaft Hanau 
war. Die erjte Beit ihrer Ehe verlebten die jungen Gatten in Buxweiler, der 
Hauptjtadt der genannten Herrichaft.e Doch litt es den Erbprinzen, der ein 





) Sie ift die gemeinfame Urgroßmutter des deutfchen Kaiſerpaares. 
@renzboten III. 1885. 57 


450 Zwei fürftlihe Frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 











großer Liebhaber des Militär: und Soldatenweſens war, nicht lange in dem 
ehelichen Stillleben. Er trat daher in franzöfiiche Kriegsdienfte und machte an 
der Spike feines Regiments den Feldzug zwifchen Frankreich und Ofterreich in 
Böhmen mit. Bei dem furchtbaren Rückzuge von Prag entfam er nur durch 
ein Wunder dem Erfrierungstode. Vielleicht dieſe Mißerfolge, verbunden mit 
dem jehnlichen Wunſche, eignes Militär halten zu können, veranlagten ihn bald 
darauf, feine Entlaffung aus dem fremden Dienfte zu nehmen und mit allem 
Eifer an die Organifirung einer Kleinen Landesarmee zu gehen. Mit welcher 
Genugthuung feine Gemahlin diefen Entjchluß begrüßte, geht deutlich aus einem 
an ihre Schwägerin Karoline von Baden gerichteten Briefe vom 26. Juni 1743 
hervor. „Mit welcher Freude — jchreibt fie — werde ich den Erbprinzen die 
weiße Kokarde ablegen jehen, jobald fic dies thun läßt; allein ich kann es nicht 
wünjchen vor dem Schlufje des Tyeldzuges, er iſt Prinz von Hefjen, und die 
Ehre iſt ihm teuer.“ 

Zum Schauplat jeiner militärischen Liebhaberei wählte jich der Erbprinz 
den in der heutigen bairijchen Pfalz gelegnen Ort Pirmaſens. Da derjelbe für 
eine fürftliche Hofhaltung i in feiner Weife genügenden Raum bot, jo entſchloſſen 
ſich die Gatten zu einer zeitweiligen Trennung. Die Erbprinzeſſin blieb in 
Buxweiler, der Erbprinz ſiedelte nach Pirmaſens über. Karolinens einziger 
Umgang in dem ſtillen Landſtädtchen war eine Geſellſchaftsdame; eine angenehme 
Abwechslung boten die gegenſeitigen Beſuche der Mutter und Geſchwiſter. Einen 
beſondern Gefallen fand die Prinzeſſin in dem zwangloſen Umherſchwärmen in 
der auch von Goethe mit lebhaften Farben geſchilderten reizenden Umgebung 
des Städtchens. Daneben bot die Beſchäftigung mit der franzöſiſchen und der 
deutſchen Tagesliteratur und die Pflege der Muſik den edelſten Genuß. 

Ganz anders war die Lebensweiſe des Erbprinzen. Die Verſchiedenheit 
zwiſchen ihm und der Prinzeſſin trat ſchon in dem landſchaftlichen Charakter 
der neuen Reſidenz deutlich hervor. Pirmaſens liegt 1240 Fuß über dem Meere 
am Abhange des Berges Horeb. Bis auf die Zeit des Großvaters des Erb— 
prinzen hatte hier nur ein ärmliches Köhlerdorf geſtanden. Der Großvater 
hatte jodann wegen des Wildreichtums der Gegend ein Jagdhaus gebaut, das 
aber nur für einen vorübergehenden Aufenthalt eingerichtet war. Als der 
Erbprinz feine Reſidenz hierher verlegte, beitanden nur 34 Häuſer; durch die 
ihm gewordne Begünftigung war der Ort bis zum Jahre 1789 jo empor: 
gefommen, daß er 450 Häufer und mehr als 6800 Einwohner zählte. 

Man kann fich nicht leicht etwas Eigenartigeres vorftellen als dieſen Ort 
und das in ihm herrichende Treiben während der zweiten Hälfte des vorigen 
Sahrhunderts. Die Soldatenjpielerei, welche zur damaligen Zeit an den meiften 
großen Höfen Europas Modejache war, war hier in dem winzigen Ländchen 
zur SKarifatur geworden. Im der Mitte der Stadt erhob ſich das Refidenz- 
Ichloß, in dem der Erbprinz in einem Zimmer wohnte, deſſen Leinwandtapeten 


Zwei fürftlihe Frauen des achtzehnten Jahrhunderts, 451 








mit Abbildungen von einzelnen Soldaten oder ganzen Soldatengruppen bededt 
waren. In der Nähe des Schloffes lag das Ererzierhaus, das jo geräumig 
war, daß mehr ald taufend Mann gleichzeitig darin exerzieren fonnten. Eine 
in dem Umfange einer Stunde rings um die Stadt gezogne Mauer follte das 
Dejertiren der Soldaten verhindern. Diejes jtand deshalb zu befürchten, weil 
der Erbprinz, in dem Beftreben, die fchönften und größten Soldaten zu haben, 
jeine Armee aus aller Herren Ländern refrutirte. Diefe fremden Soldaten, 
unter denen fich jogar Zigeuner befanden, wurden die „Unvertrauten“ genannt 
und durften die Stadt niemals verlafjen, während die „Vertrauten“ fich frei 
bewegen und jelbjt bürgerlichem Erwerbe nachgehen konnten. 

Die militärifshen Schaufpiele bildeten ein Hauptinterefje der Bürgerschaft. 
Dahin gehörten die große Staatsparade, die Slirchenparade, der Zapfenitreich 
und die Ankunft des Geldiwagens von Darmftadt, der immer durch eine ftarfe 
Abteilung Hufaren esfortirt wurde. Um Mitternacht ward noch ein bejondrer 
Marich, der jogenannte Scharwachenmarich, getrommelt. Nach der Erzählung 
der damaligen Zeit führte deſſen Urjprung in die Türfenkriege zurück. Als 
Wien von dem Erbfeinde der Chrijtenheit belagert wurde, war diejer im Begriff, 
zu mitternächtiger Stunde die Stadt an einem unbewachten Punkte zu über: 
rumpeln. Da ward eine hejfen-darmftädtiiche Trommel die Retterin der Stadt, 
fie begann fich von felbit jo ftarf zu rühren, daß die ganze Beſatzung noch 
rechtzeitig allarmirt wurde Ein Neifender, der im Jahre 1789, als der Ort 
in feiner höchften Blüte ftand, nach Pirmaſens fam, jchildert in dem damals 
erfcheinenden „Zournal von und für Deutjchland ” den Eindrud, den ihm der 
dortige Militärjpektafel machte, folgendermaßen: „Hier in Pirmafens bin ich 
wie in eine ganz neue Welt verjeßt, unter eine zahlreiche Kolonie von Bürgern 
und Soldaten, die fein Reifender auf einem jo öden und undankbaren Boden 
juchen würde, Alles um mich wimmelt von Uniformen, blinft von Gewehren 
und tönt von kriegeriſcher Mufil. Der Landgraf wohnt in einem wohlgebauten 
Haufe, das man weder ein Schloß noch ein Palais nennen fann, und das, genau 
genommen, nur aus einem Geſchoß bejteht. Nahe bei demjelben, nur etwas 
höher, liegt das Ererzierhaus. Hier nun exerziert der Fürſt täglich fein an— 
jehnliches Grenadierregiment, da8 aus 2400 Mann beftehen ſoll. Schönere 
und wohlgeübtere Leute wird man jchwerlich beiſammenſehen. Allerlei Volt 
von mancherlei Zungen und Nationen trifft man unter ihnen an, die num 
freilich auf die Länge nicht fo zujammenbleiben würden, wenn fie nicht immer 
in die Stadt eingejperrt wären und Tag und Nacht von umberreitenden Hufaren 
beobachtet werden müßten. Soeben fomme ich aus dem Ererzierhaufe von der 
eigentlichen Wachtparade, ganz parfümirt von Fett- und Oldünften der Schuhe, 
des Lederwerfes, der eingejchmierten Haare und von dem allgemeinen Tabat- 
rauchen der Soldaten vor dem Anfang der Barade. Wie ich eintrat, fam mir 
ein Qualm und Dampf entgegen, der jo lange meine Sinne betäubte und‘ mich 


452 Zwei fürftlihe Frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 





faum die Gegenjtände unterjcheiden lich, bis meine Augen und Nafe fich endlich 
an die mancherlei Dämpfe und widrigen Ausflüffe einigermaßen gewöhnt hatten. 
Wer Liebhaber von wohlgeübten und jchöngewachjenen Soldaten ift, wird für 
alle die widrigen Ausflüffe Hinlänglich entſchädigt. So wic das Regiment auf: 
marjchirt und feine Fronten durch das ganze Haus ausdehnt, erblidt man von 
einem Flügel zum andern eine fehr gerade Linie, in welcher man jogar von 
der Spite des Fußes bis an die Spite des aufgejegten Bajonnet3 kaum eine 
vorwärts oder rücdwärts gehende Krümmung wahrnimmt; durch alle Glieder 
erfcheint dieſe pünftliche Nichtung, und fie wird weder durch die häufigen Hand» 
griffe noch durch die vielfeitigen Körperbewegungen verſchoben. Die Schwen- 
kungen und Manöver gefchehen mit einer außerordentlichen Schnelligkeit und 
Pünktlichkeit, man glaubt eine Mafchine zu fehen, die durch Räder: und Trieb» 
wert bewegt und regiert wird, Man foll jogar öfters das ganze Regiment 
im Fechten exerziert und in den verjchiednen Tempos feinen einzigen Fehler 
bemerft haben. Auf den 25. Auguft, al® dem Namensfeit des Landgrafen, 
ift jährlich Hauptrevue, und dann wimmelt es in Pirmajend von auswärtigen 
Dffizieren und andern Fremden, die teils aus Frankreich, Zweibrücken, der 
Unterpfalz, Hefjen und andern Ländern hierherreifen. Den Landgrafen habe ich 
auch in aller Thätigfeit dabei gejehen; mit ſpähendem Blide befand er ſich 
bald auf dem rechten, bald auf dem Iinfen Flügel, bald vor dem Zentrum, 
bald in den Hintern Glicdern; alles war geichäftig an ihm, und er fcheint mit 
Leib und Seele Soldat zu fein. Doch läßt er hierbei feine fremden Zufchauer 
aus den Augen; es wurde fogleich bei Anfang der Parade ein Offizier an mid) 
gejchiekt, der fich nach meinem Namen erkundigen jollte, und nach einiger Zeit 
hatte ich die Ehre, den Herrn Landgrafen jelbit zu ſprechen, wobei er jich in den 
höflichiten und gefälligften Ausdrücken mit mir unterhielt. In feinem Haufe und 
in feinen Appartements erblict man wenig Pracht, man glaubt bei einem kampi— 
renden General zu fein, überall leuchtet die Lieblingsneigung des Fürjten hervor.“ 

Nur felten, und dann immer nur auf furze Zeit, fam die Prinzeſſin nach 
diefem Klein Potsdam. Sie bewohnte dann einen ihr zuliebe inmitten eines 
Gartens erbauten Pavillon. In einem an die Prinzeffin Amalie von Preußen 
gerichteten Briefe jchildert fie den Eindrud, den der jeweilige Aufenhalt in 
Pirmaſens mit jeinen Ererzitien und den Trommelproduftionen des Gemahls, 
der Meifter auf dieſem Inftrument war, auf ihre feingeftimmte Seele machte: 
„Das Leben hier ift weniger noch als ein Vegetiren, und wenn eines Tages 
eine Seelenwanderung jtattfindet, weiß ich nicht, ob ich nicht vorziehen würde, 
eine Aufter zu fein, wenn man mir die Wahl ließe, ein jolches trauriges Tier 
zu fein oder hier zu wohnen.“ 

Wir gehen über die nächjte Zeit hinweg und bemerfen nur, daß der Pir- 
mafenjer Aufenthalt zweimal durch eine zeitweilige Überfiedlung der beiden 
Gatten nah Prenzlau eine Unterbrechung erlitt. Der Erbprinz begte Die 


Zwei fürftlihe Frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 453 


(autefte Betvunderung für Friedrich den Zweiten — eine Bewunderung, Die 
nur noch von der enthufiatiichen Verehrung übertroffen wurde, von welcher 
die Prinzeffin von dem großen Könige erfüllt war. Er trat daher jchon im 
Jahre 1744 in preußifche Kriegsdienfte und machte dann den Feldzug von 
1744 und 1745 mit, leijtete aber nach beendigtem Kriege dem Wunſche feines 
öfterreichijch gefinnten Waters Folge und fehrte nach Pirmaſens zurüd. Im 
Jahre 1750 fiedelte er zum zweitenmale mit feiner Familie nach Prenzlau über 
und blieb dort bis zum Jahre 1757. Zum erjtenmale während ihres Eheitandes 
war e3 der Prinzeffin vergönnt gewejen, mit geiftig bedeutenden Menſchen in 
Berfehr zu treten. Prenzlau jelbjt bot zwar wenig mehr als Burweiler oder 
Pirmafene. Dafür gewährte aber der Umgang mit dem preußischen Hofe, 
namentlich mit der geijtreichen Schweiter Friedrichs des Zweiten, eine Fülle von 
Anregungen. Mit jchwerem Herzen verließ daher Karoline das Land, in dem 
fie mit prophetiſchem Blick den künftigen Hort Deutichlands erkennen zu dürfen 
glaubte. Wie jchwer mußte es ihrem ehrlichen Charakter werden, ihren Ge— 
fühlen für den großen König daheim feinen lauten Ausdruck geben zu dürfen; 
es verbot ihr dies die Rückſicht auf ihren zärtlich geliebten Schwiegervater, 
der ein leidenfchaftlicher Anhänger der Kaiſerin Maria Therefia war. 

Das hohe Alter, in welchem der regierende Landgraf ſtand und welches 
jeinen baldigen Tod befürchten lajjen mußte, veranlafte die Prinzeſſin im 
Jahre 1765, mit ihren Kindern — es waren umterdes vier Töchter und ein 
Sohn geboren worden — nach Darmſtadt überzufiedeln. Der Gemahl zog 
auch jet den Aufenthalt unter feinen Pirmajenjer Grenadieren vor und war 
höchſtens zu jeltenen und furzen Bejuchen zu bewegen. Welche Schwierigfeiten 
der Prinzefjin aus einem folchen abjichtlichen Fernbleiben erwuchſen, leuchtet 
ein, wenn man erwägt, daß zur damaligen Zeit die Negierung eines Landes 
im eigensten Sinne des Wortes eine rein perjönliche Sache des Fürſten war. 
Bei feinem andern Negenten aber trat dieſe Auffaffung der Staatsidee in fo 
ichroffer Weife zutage als bei dem Landgrafen Ludwig dem Neunten von Hefjen- 
Darmitadt, dem Gemahl Karolinend. Gehorchen ohne Widerrede gegen die 
Befehle des gebietenden Herrn galt ihm als die erjte Pflicht. Diejen Gehorjam 
verlangte er aber auch im vollften Maße von jeiner Gemahlin, feiner erjten 
Unterthanin, und es ift begreiflich, daß aus folcher Anfchauung der edeln fürft- 
lichen Frau eine Menge von Bekümmerniſſen erwuchs, wenn ihre fluge Nach: 
giebigfeit, die fie aber jtetS mit möglichitem Feſthalten am Recht und mit der 
Wahrung ihrer fürftlichen Ehre zu vereinigen juchte, nicht alles zu vermeiden 
vermochte, was ihr feineres Gefühl verlegen mußte. Und es ijt nicht das ge: 
ringjte Zeugnis ihrer Geiftes- und Seelenſtärke, daß trog aller VBerfchiedenheit 
der beiberfeitigen Charaktere der eheliche Friede ungejtört blieb. 

Daneben jollen aber auch die guten Eigenfchaften des Fürften nicht außer 
Acht gelafjen werden. Es ift dies umſo notwendiger, al® das gejchichtliche 





454 Zwei fürftlihe Frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 


Bild desfelben, zumeiit aus Anlaß der von ihm gegen den vielgefeierten Friedrich 
Karl von Mofer in Szene gejegten Verfolgungen, einen übermäßig düſtern 
Anjtrich erhalten hat. Strenge Nechtlichkeit, gepaart mit jeltener Einfachheit, 
zeichneten jein ganzes Leben aus. Er ift, jo jchwerjchädigend auch für das 
Landeswohl die Soldatenjpielerei war, nach vielen Seiten hin ein Wohlthäter 
feiner Unterthanen gewejen. Gleich feine erſte Kabinetsordre ließ dem bis dahin 
mit Unterdrüdung aller andern Einwohnerflajjen ausschließlich und einjeitig bes 
günftigten Adelsjtande feinen Zweifel über den ftreng rechtlichen Geift auffommen, 
der die Regierung diejes Fürften fennzeichnet. Durch diejelbe wurde insbejondre 
die Parforcejagd aufgehoben, die dem Landbau jo unfäglichen Schaden zufügte 
und den Landmann zwang, „die Früchte feines Feldes, den Schweiß feiner 
Hände mit wilden Tieren zu teilen,“ die in der Nähe der Wälder halbe 
Wüſteneien jchuf, weil feiner das Land zu bauen für der Mühe wert hielt. 
In berjelben Ordre erjcheint ferner die Empfehlung der höchſten Sparjamtfeit 
im Hofdienfte und im Staatshaushalte, die Weiterführung der Landjtraßen 
das Hereinziehen von Imduftrie ins Land umd die Einräumung leerjtehender 
herrichaftlicher Gebäude für jolche und vieles andre Nützliche mehr. Und jeine 
weitere Regierung iſt durch eine Reihe der trefflichiten Einrichtungen bezeichnet, 
die eine jpätere Zeit weiter fortzubilden vermochte. 

Aber wenden wir und zur Landgräfin zurüd. Schon am 17. Dftober 1766 
ftarb der alte Landgraf. Der Negierungswechjel brachte tiefeingreifende Ande- 
rungen mit fih. „Du weißt, jchreibt Karoline an die Schwägerin in Baden, 
in welcher Unordnung die Verhältniffe Liegen; der Landgraf wird, um fie zu 
bejjern, in allen Zweigen der Bermialtung Einjchränfungen machen. Die Par- 
forcejagd ift jogleic) aufgehoben worden, der Marftall hat nur fechzig Pferde 
behalten, die Pferde der Dragoner wurden genommen, um die Gardes du Corps 
beritten zu machen und um den Marjtall in Pirmajens zu ergänzen. Die 
Pagen find entlafjen. Unſre Tafel ift vereinfacht und für gewöhnlich auf 
vierzehn Perjonen beichränft, viele Diener find entlafjen. Ich beflage aber nur 
die, welche lange treu gedient haben, das jchmerzt mich, aber ich jehe ein, daß 
es fein muß. Es ijt nicht die Einfchränfung des »Staates,« was mich betrübt, 
denn ‚aus diefem habe ich mir nic etwas gemacht, aber ich leide, weil ich Un— 
glückliche ſehe.“ 

Einen wichtigen Abjchnitt in dem Leben der Landgräfin bildete die Ver- 
heiratung ihrer Töchter. Zwei derjelben, Wilhelmine und Friederike, follten 
auf die Throne der beiden mächtigften Neiche des damaligen Europas kommen. 
Die lettere wurde im Jahre 1769 in dem jugendlichen Alter von achtzehn 
Jahren mit dem Kronprinzen von Preußen, dem nachmaligen Könige Friedrich 
Wilhelm dem Zweiten, vermählt. Die Wahl war eine Herzensjache des großen 
Königs gewejen. „Ich geitche — jchreibt er hocherfreut an die Freundin —, daß 
der Eindrud der Trefflichkeit der Mutter einzig und allein veranlaßt hat, daß 


Zwei fürftlihe Frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 455 


unjre Wahl auf die Prinzeifin Ihre Tochter gefallen ift.“ Mit Sorge fieht 
dagegen die Mutter der bevorjtehenden glänzenden Verbindung entgegen. „Du 
wirſt begreifen — fchreibt fie an die vertraute Schwägerin —, daß mich dies 
Ereignig mit hoher Freude erfüllt, obgleich ich fühle, daß die meiner Tochter 
bejtimmte Stellung ebenjo Roſen wie Dornen bieten wird; aber ihre Denf- und 
Gefühlsweile und ihr Charakter beruhigen mid. Sie iſt ſehr glüdlich über 
dag 2008, das fie erwartet, aber fie kann nicht begreifen, wie der Prinz fie 
andern jchönen und reizenden Prinzeſſinnen vorziehen konnte, da fie weder das 
eine noch das andre ſei; das macht fie dankbar gegen den Prinzen von Preußen, 
und jchon glaubt fie ihn zu lieben.” Und an den König jchrieb die Landgräfin: 
„Sch bitte für fie um Nachficht für die Fehler, die Unerfahrenheit und Mangel 
an Gewöhnung ein junges Wejen begehen laſſen, welches noch nicht in der 
großen Welt gelebt hat.“ Und als die Tochter bereit3 Jahre vom Elternhaus 
weggezogen iſt, waltet über ihr noch die zärtliche Sorge der Mutter. Ihre 
zahlreichen Briefe find voll von trefflichen Natjchlägen oft über die jcheinbar 
unbedeutenditen Berhältniffe. So jchreibt fie der Tochter am 6. Dezember 1771: 
„Wo weiljt du und bift du, im Berlin oder Potsdam? Ich möchte dich in 
jeder Stunde zu finden wifjen und dir folgen in allen deinen Beichäftigungen. 
Wenn ich Sylphe wäre, würdeſt du mich dir einige Worte ins Ohr flüftern 
hören. Wenn du in ein Zimmer trittjt, in dem fich viele Menfchen befinden, 
würde ich dir ganz leije zuflüftern: alle Augen find auf die Gemahlin des 
Thronerben gerichtet, man erwartet von dir eine noble Haltung, einen erhobenen 
Kopf. Ein andresmal würde ich dir zuflüftern, daß man die Frifur nicht zum 
Schreden des Mr. Snieder betaftet, und daß die Finger nichts im Geficht und 
an der Naje zu thun Haben; dann ein andresmal würde dir die Sylphe zu— 
flüftern, daß man den Mund öffnet, wenn man jpricht, ohne zu bejorgen, daß 
man die Zähne fieht, und damit man nicht in Gefahr fommt, fie verbergen zu 
müffen, würde die Sylphe raten, diejelben recht vein zu halten; fie würde dir 
danı in die Garderobe folgen... .; fie würde bitten, gleich nach dem Aufitchen 
ſich frifiren zu lafjen oder wenigjtens die Haare in Ordnung zu bringen, man 
muß bejonders jchön fein, wenn ihre Unordnung nicht auffallen fol; fie würde 
dir eine recht große Nettigfeit im Morgenanzug empfehlen; wenn derjelbe jelbjt 
etwas raffinirt erjcheint, jchadet das nichts, denn es iſt eine Pflicht für eine 
junge Frau, ſich in den Augen ihres Gemahls jo anziehend al3 möglich zu 
machen." Die jchiwierigen Verhältniffe am Berliner Hofe verlangten einen be- 
jondern Takt. „Ich bin jehr glücklich — jchreibt daher die Mutter einmal —, dic) 
mit allem, was dich umgiebt, zufrieden zu jehen. Sch bitte dich inftändigit, jeden 
in jeiner Urt glüclich zu machen, und wenn du Anwandlungen von übler Laune 
und Heftigfeit Haft, dich dem einen und dem andern gegenüber zu prüfen; 
bemühe dich nicht nur, deine Heftigfeit zu zügeln, jondern fie auszurotten, denn 
fie verlegt die Menfchen. Um der Liebe Gottes bitte ich dich dafür zu jorgen, 





456 Zwei fürftlihe Frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 


daß dir nicht nachgejagt wird, deine Herzensgüte und Sanftmut jeien nur 
icheinbar gewejen und ſeien verjchwunden, jobald du dich unabhängig gefühlt. 
Suche deinen Frauen den Dienjt leicht zu machen, daß fie ihren Dienjt preilen; 
belohne ihren Eifer und jede aufrichtige Anhänglichfeit mit gütiger Behandlung 
und mit Vermeidung alles deſſen, was einer übeln Laune zugejchrieben werden 
fünnte.“ 

In die letzten Lebensjahre der Landgräfin fällt die Vermählung ihrer 
dritten Tochter Wilhelmine mit dem Großfürjten-Thronfolger Paul von Rußland. 
Auch bei diefer Verbindung hatte Friedrich der Große feine Hand im Spiele 
gehabt. Zu Anfang des Jahres 1773 Iud die Kaiſerin Katharina die Landgräfin 
ein, mit ihren drei noch unverheirateten Töchtern nach St. Petersburg zu fommen. 
Die Einladung rief die verjchiedenartigiten Empfindungen bei der Landgräfin 
wach. Auf der einen Seite lodte die glänzende Ausficht, ihre Tochter auf dem 
glänzenditen Throne Europas zu jehen; auf der andern Seite tauchte die Be- 
ſorgnis auf, es fünnte am Ende feine der PBrinzeffinnen Gnade vor den Augen 
der Zarin finden. Dazu fchien ihre gejchwächte Gejundheit den Anjtrengungen 
einer jolchen weiten Reife nicht mehr gewachſen zu fein. Nur mit Mühe gelang 
es endlich dem Zureden ihres großen Freundes in Sangfouci, alle erhobnen 
Bedenken niederzuichlagen. Am 3. Mai 1773 wurde die Reife angetreten. Nach 
einem jechzchntägigen Aufenthalte am Potsdamer Hofe jchiffte fich Die Reiſe— 
gejellichaft am 8. Juni in Travemünde zur Überfahrt nad) Reval ein. Bon hier 
aus wurde der Weg zu Wagen fortgejegt. Im Gatſchina, dem reizenden Landſitze 
des Grafen Orlow, erwartete die Landgräfin eine große Überrafchung. Bei der 
Ankunft erbat der Graf, während er jeinen Gaſt zu feinen Gemächern geleitete, 
für eine Dame um die Erlaubnis, ihr Gejeljchaft leisten zu dürfen. Wie groß 
war das Staunen Slarolinens, als ihr unter diefer Maske die Staiferin jelbit 
entgegentrat! Aus den Briefen der Landgräfin an ihre Mutter erjehen wir, 
daß die beiden großen Frauen jchon in den erjten Augenbliden ihrer Begegnung 
jich lebhaft zu einander hingezogen fühlten. Mutter und Sohn Hatten fich bald 
für Wilhelmine entjchieden. „Gott gebe dazu feinen Segen — fchrieb die Land» 
gräfin unterm 29. Juni an ihre Mutter —, möge es fein Wille fein, daß das 
Bündnis zu feiner Ehre, zum Glücke von fünfundzwanzig Millionen Menjchen und 
des Prinzen, der Kaiſerin und meiner Tochter ſich vollziehe! Mehrere Herren 
haben zu Niedejel gejagt, es thue ihnen leid, daß fie nicht drei Großfürſten hätten, 
um alle meine Töchter hier behalten zu Fünnen.“ 

Gleich nach der Trauung reifte die Landgräfin nad) Deutjchland zurüd. 
Leider jollte dieſe Rüdreije die Urjache ihres frühen Todes werden. Eine 
heftige Erfältung, von der fie in Riga befallen worden war und die auch der 
ſorgſamſten Pflege der Tochter in Potsdam nicht weichen wollte, jteigerte ein 
jhon länger vorhandnes Leiden zu einem das Leben gefährdenden Grade. Am 
27. Januar 1774 traf fie im Vorgefühl ihres nahen Todes ihre legten Ans 


Hwei fürftliche Srauen des achtzehnten Jahrhunderts. 457 





ordnungen. Unter anderm bejtimmte fie, daß alle ihre Briefe, mit Ausnahme 
derer dom Könige von Preußen und von der Kaiſerin von Rußland, verbrammt 
werden jollten. Der Schluß diejes denfwürdigen Aftenjtüces lautet: „Nun 
bin ich ruhig. Ich empfehle meine Seele Gott. Ich habe niemals abfichtlich 
jemandem wehe gethan. ch verzeihe meinen Feinden, wenn ich jolche habe, und 
den Berrätern. Ich beflage meine Kinder, meine Mutter und meine Freunde; 
möge ich in ihrem Andenken fortleben!“ Doch follte die zärtlich geliebte Mutter 
der Tochter noch im Tode vorangehen. Sie jtarb am 25. März während eines 
Bejuches in Darmjtadt; fünf Tage daranf folgte ihr die Tochter nach. Wenige 
Stunden vor ihrem Ende richtete fie noch mit feiter Hand folgende Zeilen an 
ihren Gemahl, die noch) einmal cin vollgiltiges Zeugnis ihrer herrlichen Secle 
abfegten: „Teuerſter und liebjter Gemahl! Die enticheidvende Stunde meines 
Todes naht, und ich danfe Gott, daß er mid) nach jo vielem Glüd in der Welt 
noch des Glückes wert hält, jie mir jo laut anzufünden. Auf Erden jet mic) 
nichts mehr im Unruhe. Meine Seele genießt jchon den Borgejchmad der 
Freuden jener Welt. Ich wünsche Ihnen und meinen Sindern ein frohes Leben, 
ein ruhiges und feliges Ende. Meine Schatulle wird Ihnen Baron Riedeſel 
einhändigen. Ic weiß, daß fie in Hände fommt, die ſich ebenfo gern wie die 
meinigen für die Dürftigen öffnen. Aber noch einen Wunſch habe ich, md 
dieſer iſt der legte, den ich in die Welt ſchicke. Lafjen Sie mich in dein großen 
Bosquet im englifchen Garten begraben! Man wird dajelbit eine Grotte finden, 
die außer mir niemand als ihrem Werfmeijter befannt war, Hierin ijt mein 
Grab mit einigen Steinen bezeichnet, und ich habe den größten Teil mit meinen 
Händen vollendet. Hier, an dem Orte, wo ich oft, von dem Geräuſch des 
Hofes ferne, meine Seele mit Gott unterhalten habe, dem ich bald für ein 
Leben Rechenjchaft geben werde, welches ich mit Ihnen geteilt habe, hier, au 
dem Drte, wo ich oft Sie und meine Kinder dem Herrn empfohlen habe, hier, 
wo Gott alle meine Wünjche guädigit erhört hat, bier will ich auch ruhen. 
Sie, meinen teuerjten Gemahl und Herrn, erwartet jenjeit8 des Grabes 
in einer bejjern Welt Ihre treue Gemahlin, die noch den letzten Laut mit 
Ihnen teilt.“ 

„Eine BViertelftunde vor ihrem Ende — jo erzählt Mojer in feiner um: 
gedrudt gebliebnen Leidensgejchichte der Fürſtin — zeigte und erflärte fie mir 
ein von der ruffischen Kaiſerin zum Geſchenk erhaltenes Kabinet von ruſſiſchen 
Marmorarten. Wir Amwejenden bemerkten in ihrem von innerer Hige glühenden 
Geſicht und Blick bedenkliche Züge, fie mötigte uns gleichwohl, zur Tafel zu 
gehen. Kaum jahen wir, jo ward ich heimlich abgerufen, ich eilend, die fürft- 
liche Familie Hinterdrein — allein fie war nicht mehr, und ſtummer, tiefgefühlter 
Schmerz machte jede Thräne unmöglich, wir waren wie verſteinert.“ Am 
3. April, abends zehn Uhr, erfolgte ihre Beifegung an dem gewünſchten Plate. 
Nicht ohne Mühe Hatte man denjelben ausfindig gemacht. Ein unterivdiicher 

Grengboten III. 1885. 58 


458 Swi fürftliche Frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 








Eingang führte zu einer Gruft, im welche durch eine fleine Offnung von scche 
Boll, die man von innen mit einem eingepaßten Stein verſchließen fonnte, jo 
viel Licht fiel, als zum Lefen notwendig war. Unter diejer Offnung ftand ein 
Ruhebett, und daneben war das Grab vorbereitet. Zwiſchen Steinen lagen 
Andachtsbicher, u. a. Squire, Bon der Gleichgiltigkeit gegen die Religion, und 
Gellerts geiftliche Oden. 

Die Trauer um die dahingejchiedne Fürſtin war eine allgemeine und tieſe. 
Es iſt uns ein Schreiben Friedrichs des Großen erhalten, in welchen derjelbe 
gegen einen der vertrauteften Freunde der Landgräfin, den Oberjägerneijter 
von Nicdejel, feinen jchmerzlichen Empfindungen über den Berluft der Freundin 
Ausdrud giebt. Ich teile ihm mit, weil er auch über die Entftehung des cin- 
fachen Grabdenkmals Aufichluß giebt, das fich noch heute als Zeugnis des 
edeln Bandes, das jene beiden feltuen Meenjchen aneinander gefettet hielt, in 
den ſchönen englifchen Garten zu Darnıftadt, der im wejentlichen eine Schöpfung 
Karolinens ift, befindet. „Mein Herr Oberſt Baron Riedejel! Die Beran- 
lafjung zu Gegenwärtigem erinnert mich an ein gar trauriges Ereignis. Es 
ift der Berluft, den wir durch den Tod der Frau Laudgräfin von Heſſen-Darm— 
ſtadt erlitten haben, dieſer vortrefflichen Fürftin, welche die Zierde und Be— 
wunderung unfers Sahrhunderts bildete. Sie wifjen, wie ich fie ftets wegen 
ihres Verdienſtes hoch verehrte und wie ihr frühzeitiger Tod mich lebhaft er- 
griffen hat. Sie wiſſen auch, daß ich, ſobald ich ihr Ableben erfahren, den Ent- 
ſchluß gefaßt hatte, ihren Grabhügel mit einer Urne zu ſchmücken, welche fünftigen 
Sahrhunderten meine Gefühle der Verehrung für ihre großen Geiftesgaben und 
reichen Tugenden verkünden follte. Diefe Urne ift num fertig, und ich werde fie 
durch den Fuhrmann Charles Ihnen zukommen laffen, da ich nicht weiß, au 
wen ich fie bejjer adrefjiren könnte als an Sie, mein lieber Oberit, der Sie 
am bejten wiljen, wie wohl die hohe Verſtorbene ihre Aufftellung am liebjten 
haben könnte. So traurig die Aufgabe ift, um die ich Sie erjuche, jo werde 
ih Ihnen dankbar fein, wenn Sie diejelbe im Sinne der Berjtorbenen zur 
Ausführung bringen. Der licbe Gott nehme Sie in feinen heiligen Schuß!“ 

Die Urne von weißem Marmor, welche jeitdem den von Gebüjch und 
Bäumen umjchatteten, von Ephen umrankten Grabhügel ſchmückt, trägt den 
Namen der zum ewigen Frieden Eingegangenen mit dem bedeutungsvollen 
Beijaß: Femina sexu, ingenio vir. Am Fuße der Urne jteht der Name des 
großen Mannes, welcher der großen Frau dieſes Denkmal der Seelenfreund- 
ſchaft jegte. 

ragt man, worin eigentlich die von den Zeitgenojjen mit jo beredten 
Worten gepriejene Größe diefer Frau befland, jo darf man, wie jchon im Ein- 
gange hervorgehoben worden it, nicht bei der einen oder andern ihrer Eigen- 
ichaften bleiben. Man muß das ganze Bild ins Auge fafjen, wenn man ich 
über ihre Wirkung auf ihre Zeitgenofjen Aufklärung verjchaffen will. Karoline 


Hwei fürftlihe Frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 459 








von Heſſen war eine ganze Frau, gleich ausgezeichnet als Regentin, Gattin, 
Mutter und Freundin. Sie würde vermöge der ihr innewohnenden Fähig— 
keiten und Eigenſchaften ebenſowohl dem glänzendſten Throne zur Zierde 
gereicht haben, wie ſie dem kleinen Lande und ſeiner Hauptſtadt eine Bedeu— 
tung und Anziehungskraft verlieh, die ihm ſonſt nicht im entfernteſten zuge— 
kommen wäre. 

Es iſt eines der ſchönſten Vorrechte der Frauen, nicht ſelbſt zu ſchaffen 
— denn nur in den ſeltenſten Fällen gelingt dies ohne Einbuße der Eigenart 
derſelben —, ſondern erweckend, aufmunternd und leitend auf die hervorragend— 
ſten Männer und deren Arbeiten in Kunſt und Wiſſenſchaft einzuwirken. Zu 
diefen edeln FFrauengeftalten gehört unfre Landaräfin. Wenn Goethe von dem 
Darmftädter Kreife jagt: „Wie jehr er mich belebte und förderte, wäre nicht 
auszusprechen,“ jo dürfen wir uns als den Mittelpunkt dieſes Kreifes die für 
alles Gute und Schöne begeifterte Landgräfin denken. Die Bezichungen des 
Dichterfürften zu ihr wurden von dem befannten Kriegsrat Johann Heinrich 
Merk eingeleitet, welcher zugleich Lehrer der Prinzeſſinnen war. Ein zweiter 
Sammelplaß der jchönen Geilter Darmjtadts war das Haus des Geheimen 
Rates Heffe, dejfen Schwägerin Karoline Flachsland die jpätere Gattin Herders 
war. Häufig verfammelte auch die Landgräfin den geiftreichen Kreis um fich, 
deſſen einheimische Genofjen außer Merk und Heffe der Gejchichtsforicher Wenk, 
die Prinzenerzieher Peterjen und Zeuchjenring, der Hoffavalier von Thrautenbad), 
Fräulein von Ziegler, von Goethe als Lila bejungen, und Fräulein von Rouſ— 
fillon, die Urania Goethes, waren. 

Im Jahre 1770 trat Herder im diefen Kreis ein, als er als Lehrer und 
Reijeprediger des Prinzen von Holjtein, deſſen Mutter eine darmftädtifche Prin— 
zeffin war, zu einem Aufenthalte von mehreren Wochen hierher gelommen war. 
Gleich während dieſes erjten Mufenthaltes verlobte er ſich mit Karoline Flache: 
land. Seit 1772 fam dann Goethe von Frankfurt aus nach Darmjtadt. Die 
in dieſer Zeit an Herder gerichteten Briefe jeiner Verlobten geben uns ins ein- 
zelme gehende Berichte über diefe Beſuche. Schon bei dem erſten derjelben 
joll die Begegnung Goethes mit der Landgräfin ftattgefunden haben, welche 
die Tradition und ihr folgend die erzählende und dramatiiche Dichtung in 
höchſt umwahricheinlicher Ausſchmückung in die Grabesgrotte verlegt haben. 
Auch Wieland, Gleim und Sophie La Roche famen im jenen Jahren nad) 
Darmitadt. 

Aber nicht bloß zu den Herven unſrer deutichen Literatur trat die Land» 
gräfin in nähere Beziehungen. Schon feit dem Jahre 1756 war fic mit dem 
Encyflopädilten Grimm in einen Briefwechiel getreten, der von da an bis zu 
ihrem Tode fortdauerte. Sie bezug jeine Correspondence littöraire und be— 
diente fich feines Beirats in allen ihren literarischen und künſtleriſchen Anliegen. 
Sie führte ihm bei Friedrich dem Großen und bei der Kaijerin Katharina ei. 


460 Zwei fürftliche Frauen des adhtzehnten Jahrhunderts. 








Durch Grimm wurde die Landgräfin mit zwei andern Häuptern der Encyflo- 
pädie befannt, mit Helvetius und Voltaire. Der Ichtere hatte für das Schidjal 
der don der fatholischen Geiftlichfeit in Toulouſe verfolgten proteftantischen 
Familie Sirven die Teilnahme der von der edeliten Toleranz; erfüllten Land— 
gräfin gewonnen. Am 22. Juli 1766 jchreibt er ihr von FFerney aus: „Mas 
dame! Herr Grimm, der Ihrer Hoheit attachirt ift, kommt meiner Schüchtern: 
heit zu Hilfe; er teilt mir mit, daß ich mich ohne Scheu an Sie wenden und 
um Hilfe für eine Familie bitten dürfe, die ebenjo unglücklich iſt wie die Fa— 
milie Galas. Ich weiß, Madame, dak Sie die Vernunft gegen die Tyrannei 
des Aberglaubens fchüten. Der Fanatismus entehrt noch die franzöfiiche Nation, 
Dentichland muß fie belehren durch Wort und Beilpiel. Eure Hoheit hat jchon 
das Beiſpiel des Mitleides und der Großmut gegeben, die Calas preifen Ihre 
Wohlthaten, und die Weifen jauchzen ihnen Beifall. Die höchſte Ehre werden 
die haben, welche die Sirvens verteidigen helfen. Wenn Ihre Hoheit fich ent: 
Schließen fann, mir ein Zeichen Ihrer Güte und Ihres Mitleides für die Sirven 
zufommen zu lafjen, dann wird die Familie aufhören unglüdlich zu fein. De 
mehr der Fanatismus Anftrengungen macht gegen die menschliche Natur, deito 
mehr wird dieſe durch Ihre Schöne Seele verteidigt fein. Niemals hat man in 
Frankreich Vernunft und Wahrheit mehr verfolgt als jetzt. Der Aberglaube 
übt feine Qualen und Sie Ihre Wohlthaten; ces ift der Kampf der Grazien 
gegen Ungeheuer.“ Als dann die Landgräfin troß der ihr knapp zugemejjenen 
Mittel der verfolgten Familie ihre Unterftügung hatte zuteil werden lafien, 
jchrieb ihr Voltaire: „Madame! Erlauben Sie mir, Ihrer Hoheit den tief— 
gefühlten Dank der Familie Sirven und mit ihm mich ſelbſt zu Füßen zu legen. 
Die legten Worte Ihres Briefes, mit dem Sie mich beehrt haben, haben meinem 
Alter Troft gewährt und die hinjchwindenden Reſte meiner Seele erwärmt. Sie 
verabjcheuen die Tyrannei und den Aberglauben; pflanzen Sie dieje edeln Ge— 
fühle allen denen ein, auf die ein Wort Ihres Mundes und ein Blid Ihrer 
Augen Eindrud machen. Sie haben die Macht der Schönheit und der Philo- 
jophie; ach, daß es mir nicht vergönnt ist, che ich mein Leben beſchließe, zu 
Ihnen zu kommen, Ihnen meine Verehrung auszufprechen, Sie zu jehen, Sie 
zu hören und den Himmel und die Natur zu jegnen, die ſolche Wejen wie Sie 
erichaffen haben zum Schuß gegen die Ungeheuer, welche die Erde betrüben.“ 
Breslau. Chriftian Meyer. 





Budget d’une femme incomprise. 


der Frau Carlyle bedarf es nur weniger einleitenden Bemerkungen. 
Garlyles Einfommen war in den Jahren, die auf die Ver: 
öffentlichung „romwells“ (1845) folgten und der Beendigung 
— = Friedrichs des Großen“ (1865) vorhergingen, nicht bedeutend. 
Gartyfe setbjt war einer armen Familie entiprungen und war lange Jahre 
hindurch darauf angewiefen, von dem färglichen Lohne feiner Magazinartifel zu 
leben, jelbft jeine beiten und heutzutage populärjten Bücher: „Sartor Reſartus,“ die 
„Geſchichte der franzöſiſchen Revolution,‘ „Bergangenheit und Gegenwart“ u. ſ. w., 
waren nicht imjtande gewejen, feine Verhältniſſe weientlich günftiger zu geftalten- 
Frau Garlyle auf der andern Seite war nad) dem Tode ihrer Mutter (1812) 
zwar in den Beſitz der PBachteinkünfte ihres Familiengütchens Graigenputtod 
(150 Pfund Sterling) gelangt; aber fie jowohl wie ihr Gatte waren überaus 
freigebig und wohlthätig, und das Leben in London war im Vergleich zu ihrem 
frühern einfamen Landaufenthalte teuer und anfpruchsvoll. Dazu fam, da; 
Garlyles Reije nach Deutjchland (1852) zu Vorftudien für die Gejchichte Friedrichs 
des Großen und die baulichen Veränderungen im eignen Haufe, wozu namentlich 
die Einrichtung eines „lärmfejten“ (noiseproof) Zimmers unter dem Dache 
gehörte, viel Geld gefoitet hatten. Nein Wunder, daß die Haushaltungsausgaben 
oft eine Höhe erreichten, die Frau Carlyle mit Schreden erfüllten. Sie hatte 
bis dahin ihre Bejorgniffe joviel wie möglich für ſich behalten, denn Garlyle 
war, wie andre Ehemänner, zur Neizbarfeit und Ungeduld geneigt, wenn man 
ihm mit dergleichen Angelegenheiten fam. Endlich aber wurde eine Erklärung 
notwendig, und die humoriſtiſche Bitterfeit des Tones, in der diejelbe abgefaht 
wurde, beweijt, wie viel Frau Carlyle gelitten haben muß, ehe fie fich entichloß, 
das Schriftjtüd ihrem Gatten zu unterbreiten. Es trägt das Datum des 
12. Februar 1855 und ift von Carlyle mit der Auffchrift: „Janes Sendichreiben 
über das Budget“ verjehen und mit folgender Anmerkung: „Der Einjchluß 
wurde mit großem Gelächter gelejen; ich fand ihn auf dem Tiſche, als ich aus 
dem froftigen Garten vom Nauchen zurückkam. Die Schuld ijt bereits bezahlt. 
Vierteljährliches Einfommen joll in Zukunft 58 Pfund Sterling fein, und alles 
ijt zur Zufriedenheit meines armen Herzchens abgemacht. Das Schreiben tit 
jo geijtreich, daß ich eS nicht übers Herz bringen fann, es jegt jchon zu ver: 
brennen, wie ich vielleicht thun jollte. T. €." 





462 Budget d’une femme incomprise, 








Das Schriftſtück jelbit lautet wie folgt: 
Budget einer femme incomprise. 


Ich will die Geldfrage nicht nocd) einmal mündlich erwähnen. Die Antworten 
des edeln Heren find ungerecht und unfreundlich und wenig angebradt. Wenn 
du mir fagit, daß ich Dich „mit dieſen Geldgejchichten zu Tode quäle,“ daß du es 
müde bift, davon zu hören, und daß ich „beifer daran thäte, mit dem Gelde aus- 
zufommen,“ „dich wenigstens um des Himmels willen damit zufrieden zu laſſen“ — fo 
nenne ich das alles vollkommen ungerecht, nicht wenig unfreundfich und zu nichts 
anderm gut, als Zwietracht zu ftiften. Wenn ich habgierig oder verſchwenderiſch 
oder eine ſchlechte Haushälterin wäre, jo würdeſt du Recht haben, mich mit lauten 
Worten abzujpeifen, aber (mas auch immer fonjt) das fannjt du doch von mir 
nicht jagen, ja nicht einmal denken. Auf alle Fälle weiß ich, daß ich weder dic 
noch jonft jemanden, nicht einmal meine eigne Mutter in meinem ganzen Leben je 
um mehr gebeten, und da ich fechdundzwanzig Nahre lang für dich mit größeren 
oder geringeren often zwar, je nad Umständen, Haus gehalten habe, immer aber 
mit weniger audgefommen bin ald die Mehrzahl der Leute, die mit und auf 
gleichem Fuße leben. Ic hätte vielmehr folgende Antwort von dir erwartet: Mein 
liebes Kind, deine Finanzen müſſen dich fürchterlich bedrüden, du mußt furchtbar 
beforgt und unglüdlich darüber fein und ganz am Auskommen verzweifeln, da 
fogar du um einen Zuſchuß bitteftl. Erkläre mir denn die Sadhe! Ach kann und 
will dich wenigitens von dieſem elenden Leiden befreien, indem ich div entweder 
mehr gebe, wenn mir das richtig evicheint, oder meine Bedürfniſſe bejchränfe und 
meinen gegenwärtigen Mitteln anpafje. Das oder etwas dem ähnliches würdeſt 
dur gejagt haben, wärejt du ein volllommener Mann. ch vermute alfo, du bift 
nicht vollfommen. In dem Falle würde ich dir in Frieden und Zutrauen mündlich) 
mein Budget auseinandergejeht haben, anftatt die halbe Nacht nachher in meinem 
Bett mit Weinen zuzubringen. Sebt aber bin ich dazu getrieben, es ſchriftlich auf 
dem Papier zu thun; getrieben, denn ich kann meiner Natur nach nicht in „Kleinig— 
keiten verſtrickt“ dahinleben, und ich wills aud nicht. Eher würde ich mich auf: 
hängen. Obſchon dich mit Geldangelegenheiten zu plagen mir ebenfalls weit mehr 
widerftrebt, als du denkſt. 

Du verjtehft nicht, warum das Haußhaltungsgeld, das in früheren Jahren 
genügte, jebt nicht mehr genügt. Das iftd, was ich dem edeln Herrn ausein- 
anderjegen möchte, wenn er nur, was foll ich jagen, feinen Gleihmut bewahren 
wollte. 

Es wird den edeln Herrn nicht überraichen, zu hören, daß meine Verlegen— 
heiten mit den Reparaturen im Haufe ihren Anfang nahmen, da diejelben für ihn 
jelbft ebenfalls die Quelle aller nur möglichen menfchlichen Leiden wurden. Während 
der ganzen Periode oder vielmehr zweier Perioden herrichte ein großer Verbrauch, 
große Unregelmäßigfeit, und eine unaufhörliche Wiederfehr Heiner gelegentlicher 
Ausgaben, und ic befand mich im September lebten Jahres zehn Pfund im Nüd: 
ftande, anftatt ein paar Pfund für den Kohlenvorrat im Winter gejpart zu haben. 
Ich hätte mich jedod im Laufe der Zeit aus der Verlegenheit ziehen können, wenn 
wir beide und nicht an eine uneingefchränkte Lebensweiſe gewöhnt hätten und wenn 
nicht unvermeidliche laufende Ausgaben gleich auf jene zufälligen gefolgt wären. 
Ih werde dem edeln Herrn mit feiner Erlaubnis zeigen, worin diefe laufenden 
Ausgaben beftehen, und wie hoch fie fi) im Jahre belaufen. (Hört, hört! und 
Rufe: Sei kurz!) 


Budget d’une femme incomprise, 463 








1. Wir haben eine „feinere“ Magd, als wir je zuvor zu mieten wagten. 
Sie foftet mehr Geld. Ahr Lohn beträgt 16 Bid. St. im Jahre; Janny bezog 
nur 13, Die meiften andern mur 12 Pd. Dazu will fie wohl verpflegt fein. 
Die übrigen jchlugen fid) durch, indem fie von unferm Tifche lebten; aber Anne 
muß um ein Uhr ihr vegelmäßiges Mittagefjen mit Fleisch Haben, ihr regelmäßiges 
Duantum Butter u. j. w., und das macht die jährlichen Rechnungen wenigjtens 
um drei Pfund im Jahre größer. Dafür ärgert fie und aber aud nicht mit An- 
fällen von Krankheit, ift nie betrunken, klagt über nichts und Fündigt uns nicht 
periodifch auf. Das, wofür fie bezahlt und gefüttert wird, thut fie vollkommen 
gut. Sch kenne Häuſer, die mit einer Köchin, einem Hausmädchen und einem 
Diener nit jo gut im Ordnung gehalten werden. (Zur Sade!) Anne ift 
der legte Posten, für deſſen Verringerung ich ftimmen möchte. Ich will die Mehr: 
foften, die fie verurfacht, auf ſechs Extrapfund feitjeßen. 

2. Wir haben jeßt Gas- und Wafjerleitung im Haufe, und zwar beides mit 
den beiten Rejultaten. Aber zwifchen einer Wafjerleitung im Haufe zu einem Pfund 
ſechzehn Schilling jährlih und Wafler, das uns zu vier Pfennigen in dev Woche 
ind Haus getragen wurde, ijt ein jährlicher Unterſchied von neunzehn Schilling 
und vier Pfennigen, während das Gas im ganzen Jahre ſich auf ein Plus von 
fünfzehn Schillingen anfchlagen läßt. Diefe beiden vortrefflihen Neuerungen ver- 
mehren demnach die jährliden Ausgaben um ein Pfund vierzehn Schilling und 
vier Pfennig; eine geringfügige, faum nennenswerte Summe! Aber der edle 
Herr, der im jparfamen Schottland geboren und erzogen wurde, kennt das Sprid)- 
wort: „Wer den Heller nicht ehrt, ift des Thalers nicht wert.“ 

3. Unfre Abgaben find höher. Innerhalb der letzten achtzehn Monate wurde 
die Leucht-, Pflafter- und allgemeine Berbefjerungsfteuer um zehn Schilling im 
Sahre erhöht, die Armenſteuer um ein Pfund, die Abzugskanatfteuer um zehn 
Schilling, umd die verdoppelte Einfommenftener macht jeßt einen Unterjchied von 
fünf Pfund jechzehn Schilling und acht Pence, jodaß, wenn man diefe Summen 
addirt, der Geſamtunterſchied an Steuern, die ſich ohnehin ſchon auf fiebzehn Pfund 
zwölf Schillinge und ſechs Pence belaufen, die Summe von fieben Pfund jechzehn 
Schilling und acht Bence im Jahre erreicht. Wir brauchen uns über den Mangel 
an Abgaben keine Gedanken zu machen. 

4. Lebensmittel aller Art find teurer als früher. Bier Schilling die Woche 
für Brot, anjtatt zwei Schilling und ſechs Peuce, beträgt jährlid drei Pfund acht— 
zehn Schilling mehr. Die Butter war dad ganze Jahr zwei Pence das Pfund 
teuver, als id) mic je erinnere. Bei dem Quantum, das wir gebrauchen, nämlich 
dritthalb Pfund die Woche regelmäßig, macht das einen Unterfchied von einund- 
zwanzig Schilling und acht Pence im Jahre. Friſches Fleiſch ift einen Pfennig das 
Pfund teurer. Nechnet man anderthalb Pfund täglid (Knochen eingejchloffen), und 
das ift für drei Perfonen nichts übertriebnes, fo ergiebt fid) ein jährlicher Unter: 
jhied von zwei Pfund fünf Schilling und ſechs Pence. Kohlen, die in frühern 
Sahren 21 Schillinge die Tonne zu koſten pflegten, waren diejes Jahr mit dem 
beften Willen nicht unter 26, ja 29 Schilling zu haben. Wenn ic 50 Schilling 
jür die Tonne bezahlen wollte, wie einige Hausfrauen haben thun müſſen, Gott 
weiß, was aus uns geworden wäre. (Laute Rufe: Zur Sache, zur Sade!) Wir 
brennen oder pflegten zu brennen, ein Jahr wie das andre, zwölf Tonnen. Diejen 
Winter, fürchte ich, verſchwinden fie noch fchneller al8 gewöhnlich. Lichte find im 
Breife geftiegen und Eoften Stearinlichte das Pfund einen Schilling, anftatt zehn 
Pence, Talglichte acht Pence anftatt fünf oder ſechs Pence. Bon den erftern ver- 


464 Budget d’une femme incomprise. 





brauchen wir drei Pfund in neun Tagen — den größten Teil des Nahres, weil 
du fo Spät auffißeft — und von den letzteren zwei Pfund in vierzehn Tagen im 
Durchschnitt. Das Pfund Sped ift zwei Bence teurer, Seife gleichfalls; die billigſten 
Ntartoffeln koften einen Penny das Pfund, ftatt daß man früher zwei Pence für 
drei Pfund bezahlte. Wir gebrauchen drei Pfumd Kartoffeln in zwei Tagen, uud 
wer follte es glauben, daß dies am Ende des Jahres einen Unterſchied von fünf: 
zehn Schilling und zwei Pence macht bloß an Kartoffeln? Rechnet man alles zu- 
ſammen, fo wird man finden, daß der Unterjchied an Lebensmitteln allein nicht 
geringer als zwölf Pfund im Jahre angefchlagen werden darf. 

5. Ich würde mic ſchämen, den folgenden Punkt zu erwähnen, wenn id) 
nicht dazu gezwungen wäre. Solange wir in London find, haft du in ver frei: 
gebigiten Weife die Winterbutter aus deinem eignen Gelde bezahlt, obſchon es nicht 
im Bertrage jtand; durch dies edle Verfahren deinerjeit® wurden mir zwei Pfund 
erjpart, bis die Butter ungenießbar wurde, 

Nun wollen wir einmal addiren: 


last. sh. d. 
1. Höherer Dienjtbotenlobn . . . 6 — 
2. Mehr an Licht und Waſſer . . 1 14 _ 
2. Mehr an Abgaben . . ... 7 16 8 
4. Mehr an Lebensmitteln . . „12 — — 
5. Aufhören des Buttergelded . . 2 — — 


Zuſammen: Ist. 20 106h. 8d. 


Man wird meine Berechnungen völlig korrekt finden, obſchon ich nicht ſtark im 
Rechnen bin. Aber ih habe alles wohl überdacht, und Unwille taugt jo gut zum 
Rechnen wie zum Verſemachen. Berftehft du num endlid,, warum das Haushaltungs- 
geld, mit dem ich früher ausfam, mir jegt nicht mehr genügt, und bedauerjt du 
meine Schwierigfeiten, anftatt über diejelben in Zorn zu geraten? 

Das einzige, was du mir vorwerfen fannft, wenn du Luft haft, it, daß ich 
nich nicht vor fünfzehn Monaten ſchon, als ich bereit in Schulden ſteckte und 
alles unter meinen Händen teurer wurde, ſofort aufs Einfchränfen und Sparen 
warf, wie damals, als wir nicht wußten, wo das nächſte Geld herkommen jollte, 
jondern in der gewohnten Lebensweije fortwirtjchaftete, ja die Ausgaben durch ein 
beſſeres Dienſtmädchen vergrößerte. Du mußt aber bedenken, daß, ald ich zuerjt 
dir gegenüber über Die Preife Hagte, du ganz gutmätig jagteft: „So ftehit du 
alfo wirklich vor dem Bankrott? Kaunft nicht mehr jo weiter wirtichaften? Nun 
gut, jo müſſen wir dir zu Hilfe kommen, armes Geſchöpf! Bankrott darfft du 
nicht werden.“ So beruhigte id) mich denn, ſparte in nichts und verließ mid) 
auf die verfprocdhene Hilfe. MUS es fi aber immer länger Dinzog und meine 
Nüdftände jedes Vierteljahr eine drohendere Höhe erreichten, was fonnte ich da 
andred thun, als dir dein Verjprechen ins Gedächtnis zurüdrufen? Ein- oder 
zweimal, nachdem ich dreimal gejprochen, wurde mir, was du im Scherz einen 
großen Haufen Geld nannteft — fünfzehn Pfund — fozufagen hingeworfen. Aber 
diefe Summe war um fünf Pfund zu gering, um mid) von meinen Schulden zu 
befreien, von einem Ueberihuß, um den erhöhten Anfprücen der nächſten neun 
Monate zu begegnen, garnicht einmal zu veden. Bon Zeit zu Zeit aber fielen er- 
mutigende Worte von den Lippen des edeln Herrn. „Nein, du kannſt Die doppelte 
Einfommenftener nicht bezahlen, das ift Har. Ich muß fie für dich bezahlen.‘ 
Und ein andre mal: „Ich will jo viel Kohlen verbrennen wie ich Luft habe. 
Wenn du fie nicht bezahlen kannt, jo muß jemand anders es thun.“ Das Refultot 


Budget d’une femme incomprise. 465 
war aber ftet3: „Nicht wahr, du möchteſt es wohl haben?“ Ich hätte entjchieden 
mehr als fterblic) oder des Chaos eigned Kind fein müſſen, wenn ich hätte jo 
fortleben wollen, ohne den Verſuch zu machen, mic zu vergemiljern, was es mit 
dem „mir zu Hilfe fommen“ auf fi Habe; ob es etwa jene ein= für allemal miß— 
mutig vorgeftredten fünfzehn Pfund bedeuten follte, und wenn dem jo twar, was 
für Einfhränfungen geftattet jein jollten. 

Du fragteft mich bei den legten ärgerlichen finanziellen Erörterungen mit 
ſchneidendem Sarkasmus, „ob ic) die geringfte Idee habe, wie viel Geld mir ge- 
nügen würde; fünfzig, vierzig oder dreißig Pfund? Ob es irgendeine denfbare 
Summe gebe, die diejen ewigen Quälereien ein Ende machen könnte?“ Ich will 
die Frage beantworten, al3 hätte man fie mir in praftiicher und freundlicher Weije 
vorgelegt. 

Sa, ic) habe eine vedht gute dee, welche Summe mic befriedigen würde. 
Ich habe es oft genug berechnet, wenn ich nachts wachend in Bette lag. Ueber- 
haupt jind ed meine Schwierigfeiten, an die ich jeßt mehr denken muß als an meine 
Sünden, die mid am Schlafen hindern. Sie find mir zu einer wahren inneren 
Dual geworden. 

Die oben erwähnte Summe von neunundzwanzig Pfund in vierteljährlichen 
Abzahlungen würde mic, befriedigen (mit einer gewiſſen Sparfamfeit in Kleinig- 
feiten dürfte jogar etwas weniger ausreichen). Dabei würde ich mein Ehrenmwort 
geben, am Ende des Jahres ſoviel davon zurüdzuerftatten, al3 die Verringerung 
der an mich geftellten Anfprüche mir zu erübrigen möglid) machen wiirde. 

Ich bin jedoch nicht jo unpraftifch, un die neunundzwanzig Pfund zu bitten, 
ohne daran zu denken oder mid darum zu befümmern, wo fie herfommen jollen. 
Das habe ih alles arrangirt (Spöttifches Gelächter und Hört, Hört!), ſodaß du 
nur neun Pfund mehr zu entrichten haben wirft al3 deine längft gewohnten Zah: 
(lungen. (Hört, hört!) Du vermuteft vielleicht irgendweldhe Anſprüche an deinen 
Papierkorb. Nein, mein Herr! ich habe nie die Gewohnheit gehabt, mic mit dero 
Mitteln und Wegen, Geld zu verdienen, oder mit der Schnelligfeit, mit der es ver: 
dient wird, abzugeben; ic) habe es in früheren Sahren nie gethan und es ift nicht 
wahricheinlich, daR ich e8 jett thun werde. Mein Gejegvorfchlag über die Mittel und 
Wege hat nichts mit dem Erwerben des Geldes zu thun, jondern nur mit der Aus— 
gabe des bereit3 erworbenen. (Bravo! Hört!) 

1. Sp lange meine Mutter tot ift, haft du mir drei Pfund jährlich für die 
alte Mary Mill3 gegeben. Sie braucht fie nicht mehr. Zahle die drei Pfund ferner 
für den Haushalt. 

2. Ebenfo lange Jahre hindurch haft du mir die fchönjten Weihnachts: und 
Geburtstagsgeſchenke gemadt; und als ichs dir abfichtlich verleidete, mir Gegen— 
jtände zu faufen, gabft du mir am Neujahrstage fünf Pfund. D id kenne die 
Bedeutung diefer fünf Pfund recht gut! Schenke mir nichts; weder Geld nod) 
Geldes Wert. Zahle du die fünf Pfund ferner für den Haushalt. 

3. Seit wir nad London kamen, Haft du etwa zwei Pfund, glaube ich, Fiir 
Butter bezahlt, die jeßt ungenießbar geworden ift. Bahle die zwei Pfund ferner 
jür den Haushalt. Das find ſchon zehn Pfund, die du nicht vermiffen kannſt, da 
du fie nie gebrauchteit. 

4. Mein eignes Tafchen- oder Nadelgeld von fünfundzwanzig Pfund iſt ein 
jehr veichliche8 und hat mir allerlei Anjchaffungen für meine eigne Perſon möglid) 
gemacht. Darin liegt, ich will e8 nicht leugnen, ein Vergnügen, jo lange im 
Haushalt feine Krifis exiſtirt. Aber bei einem jo fchredlichen Defizit im Schagamt 

Grenzboten III. 1885. 59 


466 Budget d’une femme incomprise. 

ift es nicht nur fein Vergnügen, fondern eine Unmöglichkeit. Ich kann meine Würde 
und meine Garderobe mit weniger aufrecht erhalten und kann mit fünfzehn Pfund 
im Jahre recht gut ausfommen. Ein feidenes Kleid, ein hübjcher Morgenrod, ein 
Hut von der Putzmacherin weniger — was madht das aus, jobald man einmal 
jo alt ift wie ih? Nichts. Außerdem befomme ich fo viele Kleider geſchenkt, daß 
ich auf zwei oder drei Jahre hinaus verforgt bin. Gott weiß, ob ich dann über: 
haupt noch Kleider nötig haben werde. Ziehe daher zehn Pfund von meinen 
Tafchengelde ab umd zahle fie ferner für den Haushalt. 

Warum id die Summe nicht privatim aus meiner eignen Zafche auf die 
Haushaltungskaſſe übertrage und nur um meunzehn Pfund bitte, obſchon es be- 
iheidener geflungen und beffer ausgejehen haben würde? Einfad darum, weil mir 
dergleichen nicht gefällt. Ach habe es verſucht und nicht bewährt gefunden; es ift 
eine Tugend, die den Lohn nicht im fich felber trägt. Sch ziehe es vor, jeden 
Hering bei feinem eignen Kopfe hängen zu jehen, und laſſe jeden Geldbeutel feine 
eignen Ungelegenheiten bejorgen. Es wiirde mich fortwährend beunruhigen, wenn 
die Leute von mir dächten, ich ſei überaus glücklich in dem veichen Beſitz von fünf: 
undzwanzig Pfund, während ich doch mit fünfzehn ausfäme und die übrigen zehn 
in Kohlen und Abgaben anlegte. Frau Soundfo ift einer derartigen Selbjtauf- 
opferung fähig und findet Erſatz in der Sympathie vieler Freunde. Mir jelber ijt 
weder eine jolche Großmut noch ein ſolcher Erfah möglich; ich bin aber gern bereit, 
zehn Pfund von meinem Tajchengelde in offener und ehrlicher Weile, wie es her— 
gebracht ift, aufzugeben und brauche mid) auch dazu nicht exit auf die Zehen zu 
jtellen. Und was mehr ift: ich bin feſt dazu eutichloffen und will bei der gegen 
wärtigen Lage der Dinge garnicht mehr als fünfzehn Pfund annehmen. 

Es bieibt jet nur noch übrig, den thatſächlichen Stand der Finanzen zu 
enthüllen. Das Schatzamt ift leer wie eine Trommel. (Aufſehen.) Wenn ich neun: 
undzwanzig Pfund für das künftige Jahr, vom 22. März an gerechnet, für un: 
entbehrlih halte, jo gejchieht e8 eben, weil mid die Erfahrungen des vorigen 
Jahres, das ich, wie Schon gejagt, mit zehn Pfund Schulden begann, dazu gebracht 
haben. Du gabft mir einen Zuſchuß von fünfzehn Pfund, ich felbft gab zehn: 
fünf, die ich am letzten Auguft aus der Sparkaſſe nahm, und die fünf, Die du mir 
am Neujahrstage jchenktejt und die id dem Kohlenfonds einverleibte. Vermute 
ja nicht, daß ich dir Dies in der unedeln Abſicht vorerzähle, ſchadlos gehalten zu 
werden. Bei allen, was mir heilig ift, dem Andenken an meinen Vater und meine 
Mutter — und wobei fann ich, ein gottloſes Geſchöpf, jonjt ſchwören? — id) 
würde daß Geld nicht wieder nehmen, und wenn es mir in der liebenswitrdigften 
Weife angeboten würde und du es auf der Straße gefunden hättet. Ich erzähle 
e3 div nur, damit du fiehft, daß ich nicht jo chrediich Habfüchtig bin, wie du in 
jüngſter Beit anzunehmen jceinft. 

Wenn man nun mit meinen zchn Pfund die urſprünglichen Schulden dedi 
und deinen Zufchuß von fünfzehn Pfund dazurechnet, jo folgt nach meiner Berechnung, 
daß ich noch vierzehn Pfund nötig haben würde, um Rückſtände in den wöchent- 
lichen Rechnungen zu berichtigen und bi8 zum 22. März, dem nächſten Quartals- 
tage, jchuldenfrei die Wirtfchaft zu führen. (Rufe: „Schändlich!“ „Hinaus mit 
ihr!“) Ic jage bloß: „nötig haben würde.” Dein Geld gehört natürlich dir 
allein, und du faunjt damit machen was du willjt, und id) würde gern, jehr gern, 
gehobenen Hauptes wie Herr A., der Möbelhändfer, und ohne „niemand nichts 
Ihuldig zu fein“ meines Weges gehen und dich ungefchoren lafjen, wenn ich mur 
wüßte, wen jonft meine Haushaltung etwas anginge, oder an wen ich mid) fonft 


Populäre Schriftfteller. 467 


im Augenblid wenden könnte, insbefondre da ich infolge jenes teuern und vecht 
überflüffigen Morgenkleides und meines billigen, aber auch überflüffigen Ehiffonniers 
und jonjtiger halbjährlicher Necdynungen nur biß zum Juni auskommen fanı. 

Wäre id ein Mann, jo würde id) der Gejelichaft den Fehdehandſchuh hin- 
werfen, mid mit ein paar mutigen Kerlen zujammenthun und einen Bojtwagen 
berauben. Aber mein Gefchleht erlaubt mir das doch kaum. Guter Gott! Wenn 
man denkt, daß es Frauen giebt — deine Freundin Lady U. zum Beifpiel (Ge 
murmel und Aufregung) —, id) jage zum Beifpiel, die nit nur die paar Pfund 
Zufhuß, um deretwillen ich joviel Umstände machen muß, jondern viermal mehr als 
mein Gejamteinfommen auf den Ball einer Nacht verwenden und damit weder 
jemand jchaden noch nüßen, jo kommt einem dad, auf Ehre, jonderbar vor. Aber 
ebenfogut könnte Frau Freeman jagen: „Wenn man bedenkt, daß es Frauen giebt, 
Frau Carlyle zum Beijpiel, die drei Pfund vierzehn Schilling und ſechs Pence 
für einen einzigen Morgenrod ausgeben, während id) mit zwei Laib Brot und 
achtzehn Pence Gemeindeunterftügung die ganze Woche hindurch) ausfommen muß, 
was foll man da jagen?“ Solche Betradhtungen find bodenlos. Eins ift völlig 
gewiß: daß ſchließlich alles auf eins herausfommt; und ich kann nicht behaupten, 
daß ich den Verluft meiner eignen Berfon bedauern werde. Ich füge nichts weiter 
hinzu, ſondern zeichne, geehrter Herr, 

als dero gehorjame, demütige Dienerin 
Kane Welfh Eariple. 

Der arme Garlyle, der ich eines Vergehens durchaus nicht bewußt war 
und deſſen gelegentliche Heftigfeit in feinen förperlichen Leiden und der großen 
Anjtrengung, die ihm jeine Arbeiten verurjachten, ihren Grund fand, nahm dieje 
Züchtigung feiner Fran geduldig hin. Er freute ſich über das geijtreiche Schrift: 
ſtück und jchrieb ang Ende desjelben: „VBortrefflich, mein liebes, gejcheites Herzchen, 
ſparſamſte, wigigfte und geiftreichjte aller Frauen! Natürlich werde ich dir 
wieder aufhelfen. Deine dreißig Pfund jollen dir gewährt, deine kleinen Schulden 
bezahlt werden, und dein Wille joll geichehen. 

D. 12. Febr. 1855. T C.“ 





Populäre Schriftiteller. 


za or kurzem fiel mir ein Bud) in die Hände, welches in Jahresfrijt 
fünfzchn Auflagen erlebt hat: Buchholzens in Italien. Reiſe— 
J abenteuer von Wilhelmine Buchholz. Herausgegeben von Julius 
N Stinde. Nach wenigen Seiten wollte ich es wieder weglegen, 
me aber die Neugier veranlafte mich zum Weiterlejen. Hier war ja 
unzweifelhaft zu erfunden, welche Eigenjchaften ein Buch haben müſſe, um rajch 
populär zu werden. Der Verfaffer war als Humorift bezeichnet worden. Nun, 
ein Humorijt ift ja wohl Gottfried Keller, aber Leute jeiner Art haben jich von 





468 Populäre : Schriftfteller. 


jeher mit der — — Gemeinden begnügen —* Ei Humorift 
und zugleich populärer Schriftiteller ift Frig Reuter, allein ſolcher Erfolge bat 
er fich nicht zu rühmen, nicht einmal nad) jeinem Tode. Julius Stinde muß 
aljo wohl noch bejondre Qualitäten befigen, welche ihm die allgemeine Gunit 
eingetragen haben. Gewifienhaft hielt ich aus, bis Frau Buchholz wieder in 
Berlin eingetroffen war, und als ic) mir dann die wechjelnden Eindrüde während 
der Lektüre wieder vergegenwärtigte, fam ich zu einem eigentümlichen Rejultat. 
Sollte der warme patriotifche Ton, welcher hie und da anklingt, viele Taufende 
bewogen haben, drei Mark für ein Buch auszugeben — in Deutichland, dem 
klaſſiſchen Lande der Leihbibliothefen? Das wäre fehr jchön, ift aber ſchwer zu 
glauben. Einzelne von den Reifeabenteuern find in der That komiſch, Schwimmen 
aber als jpärliche Fettaugen auf einer zu langen und dünnen Brühe.) Da 
muß doch wohl eben diefe Brühe den Geſchmack des großen Leſepublikums 
getroffen haben! Und damit würde fich beitätigen, daß das Banale, mit Prä- 
tention vorgetragen, des Beifalls immer ficher jein darf. Der ojtenfible Zwed 
des Buches ift, jene Sorte von Reiſenden zn perfifliven, welche Italien be: 
juchen wie eine neue Vorjtellung im Theater oder im Zirkus — weil alle 
andern es thun —, und entiveder genau nach Vorjchrift des Bädeker bewundern 
oder ſich „alles ganz anders gedacht haben.“ Solche Landplagen werden 
auch in dem Buche öfter ganz ergöglich gejchildert, jolange der Verfaſſer ſich 
beicheidet, zu den hausbadenen Betrachtungen der Berliner Spiekbürgerfrau 
Anmerkungen zu machen. Das wird ihm jedoch bald zu umftändlich, und jo 
läßt er die gute Dame zur Abwechslung einen jüffifanten oder Hochtrabenden 
Ton anfchlagen, welcher zu ihrer fonftigen Denk: und Ausdrudsweiie durchaus 
nicht ſtimmt. „Und fo was reift nach Italien!” ruft Frau Wilhelmine in ihrer 
Entrüftung über ein albernes Pärchen aus; aber wenn an der Grenze das 
Ablegen einer Prüfung verlangt würde, jo hätte fie wahrjcheinlich in Ala Herrn 
Stinde wie ihres Mannes Eigarren durchichmuggeln müfjen. Mitunter meint 
man einen neuen Nicolai zu hören; freilich war der alte Nicolai, der vor einem 
halben Jahrhundert jo viel Ausbrüche des Zornes und des Spottes gegen jich 
hervorgerufen hat, ein Philifter, welcher ehrlich an feine Miffion glaubte, der 
durch Goethe und Konjorten betrogenen Welt die Augen über Italien zu öffnen; 
während fein Nachfolger trog der Miene der Überlegenheit ſtets darauf bedacht 
iſt, jein normales Verftändnis für die Schönheit des Landes und für die Kunft: 
denfmäler leuchten zu lafjen. Nur auf die „Kunjtbrahminen* ijt er ganz ſchlecht 
zu Sprechen, jo jchlecht, als ob dieje Gilde fich verjchworen hätte, Herrn Stinde 
mit Liſt oder Gewalt anzınverben, oder — als ob er ſich nicht nur damit 
— Papier, ſondern auch damit, Leinwand zu färben. Die Zeit iſt 


*) Von verſchiednen Seiten wird verſichert, daß das Buch, deſſen Fortſehung das hier 
erwähnte bildet, vor dieſem in jeder Beziehung den Vorzug verdiene. 





Populäre Schriftiteller. 469 


eben eine andre geworben, die Nicolais von heute find jehr gebildet, jehr ab: 
iprechend, haben unter Stangens Führung die Mitternachtsjonne und die Byra: 
miden perjönlich fennen gelernt; und wenn ein Schriftjteller jo recht ausſpricht, 
was fie jelbjt auf ihren Reifen im Einklang oder im Widerjpruch mit dem 
Neijehandbuch bei Ausfichten, in Galerien oder an der Table d’höte empfunden 
haben, ohne es jo fließend von ſich geben zu können, damı ift er ihr Mann. 

Nicht auf eine Linie mit Julius Stinde iſt Max Nordau zu ftellen, aber 
eine gewiffe Gemeinschaft beiteht doch zroischen ihnen. Der Name diefes Schrift: 
jteller8 it mir meines Erinnern zuerjt durch Anzeigen jeines Buches „Die 
fonventionellen Zügen der Kulturmenjchheit“ bekannt geworden. So lobend die 
Beiprechungen meiſtens waren, mußte man doc, den Eindrud erhalten, daß da 
lauter allbefannte Dinge als neue Entdedungen an den Mann gebracht werden 
jollten. Auch das genannte Werf hat es in kurzer Zeit auf elf Auflagen ge: 
bracht, was noch mehr jagen will, da es den doppelten Preis von „Buch— 
holzens“ hat. Gehen wir etwa abermals einer Periode der Rückkehr zur veinen 
unverdorbenen Natur entgegen, daß die Leute mit jolcher Andacht dem alten 
Liede von Europens übertünchter Höflichkeit laujchen? 

Wie dem aud) jei: in dem neuen Buche von Nordau, Baradore*) (sic! 
bisher jagte man Paradoxen), begegnen wir in der That teil® Wahrheiten, an 
welchen faum jemand zweifeln dürfte, und Zweifeln, welche zu dem bewußten 
alten Sauerteig gehören, während der Verſaſſer der Meinung ift, „Behaup— 
tungen, die für unantajtbar gelten, weil man jie nie zur Rede gejtellt hat, nad) 
ihren Legitimationspapieren gefragt und Gemeinpläße gezwungen zu haben, den 
Wahrheitöbeweis anzutreten.” Ich kann mich nicht rühmen, jämtliche 414 Seiten 
des Buches gelejen zu haben, denn die Methode bleibt immer diefelbe und hat 
etwas jehr ermüdendes. Schon die eben gegebene Probe aus dem Vorworte 
zeigt die Manier, denjelben Gedanken mehrmals in verjchiedner Form vorzu— 
bringen; und die Vorliebe des Verfafjers für den geiftreichelnden Feuilletonſtil, 
der fich ſeit Börne und Heine ausgebildet hat, die Sucht nach überrajchenden 
Wendungen und erzwungenen Vergleichen wird bei der Erörterung ernjter Themen 
recht unangenehm. Wäre Nordau ein Autodidakt, jo wirde der naive Glaube, 
jeine Gedanken feien früher nie gedacht worden, nicht befremden. Allein er ift 
ein jehr unterrichteter, befefener Mann, feines Zeichens, wie es jcheint, Phyſiolog. 
So it faum etwas andres anzunehmen, ald daß er ein Einfiedlerleben führe, 
jet es in einem weltvergefjenen Winfel, jei es in einer großen Stadt, 3. B. Paris, 
von dem er am häufigjten jpricht. Ganz wörtlich wird das allerdings nicht zu 
nehmen jein; aber daß er nicht oder jelten mit wirklich gebildeten Menſchen ver: 
fehrt, geht u. a. aus der Schilderung einer Abendgeſellſchaft (S. 75 ff.) hervor 
— denn mag er noch jo arg farifirt haben, jo muß die Gejellichaft doch eine 


*) Leipzig, B. Eliicher, 1885. 


470 Populäre Schriftfteller. 


recht Schlechte gewvelen fein —, und aus den verichiednen, ımerhört eimjeitiger 
Ausiprüchen über die Frauen. Da wären aljo wirklich Baradoren? Allerdings, 
aber der Verfaſſer gelangt zu denjelben nur, indem er die Puppe aus Goethes 
„Zriumph der Empfindjamkeit“ hervorholt, behauptet, dieje habe bisher der 
Welt ala Ideal gegolten, und dann ftolz demonjtrirt, daß fie aus Lumpen zu— 
jammengeflict iit und alte Schartefen anftatt der Eingeweide hat. 

Einige Proben jollen uns mit dem Verfaſſer näher bekannt machen. 

In dem erjten Kapitel wird ganz verftändig, aber auch ganz alltäglich, 
auseinandergejegt, daß „wir fein Recht haben, die Vorgänge im Kosmos mit 
der furzen Elle menschlicher Logik zu mejjen,“ und daß der Menich von Haus 
aus fein Peſſimiſt iſt, jondern ein unverbefjerlicher Optimiſt. Da erfahren 
wir u. a. wieder, daß „die Unzufriedenheit die Urjache alles Fortichrittes“ ſei, 
während bei andrer Gelegenheit fühn behauptet wird, alles Große geichehe nur 
um des Beifalls der großen Menge willen. Das Märchen von den drei 
Wünjchen, die den Wünjchenden nur zu einer Bratwurft verhelfen, joll beweijen, 
„daß jeder Menſch ſich in den eignen Berhältniffen ausgezeichnet befindet!“ 
In dem Kapitel „Mehrheit und Minderheit“ dozirt der Verfafjer, wer jtolz 
darauf fei, zur Minderheit zu gehören, müfje logifcherweife „die Verſchiedenheit 
vom Troß in allen Zebensäußerungen markiren, andre Kleiderformen zur Schau 
tragen, andre Gewohnheiten, Sitten, Moralbegriffe annehmen)”; und doc) 
gelte es als geichmadvoll, nicht aufzufallen ꝛc, und gerade die Verächter der 
Menge gäben 3. B. als kräftigſte Stüßen des Geſetzes, „das doch nichts iſt 
als die Zuſammenfaſſung der Anjchauungen des Volkes, das heit der Mehr: 
heit,“ jtllfchweigend zu, „die Anjchauungen des Marttpöbels jeien in ihren 
Hauptzügen richtig und achtenswert." Fügen wir noch hinzu, daß eben dieſe 
Verächter der Menge „den Parlamentarismus verteidigen,“ jo wird die Be: 
hauptung nicht „parador“ ericheinen, daß eine größere Willfür im Durchein- 
anderwürfeln der heterogenjten Dinge zum Zwede eines Trugjchluffes ſchwer 
zu erreichen jein dürfte. Nein, Herr Nordau, man fügt fich im Umwejentlichen, 
weil es fich nicht der Mühe lohnt, darum mit der Menge in einen Konflikt 
ju geraten, dem man in wichtigen Angelegenheiten nicht ausweichen kann und 
will, und man braucht nicht andre Begriffe „anzunehmen,“ um fich von der 
Menge zu unterscheiden, jondern man umterjcheidet fich von ihr durch andre 
Begriffe. Eine Blüte des Sophismus folgt gleich darauf. Dem Ansipruche 
Montesquieus, daß im Schwurgerichte eigentlich die Meinung der Minderheit 
den Ausjchlag geben ſollte, weil unter den Zwölfen ficher mehr Dumme als 
Weile jein würden, jet Nordau entgegen, daß die Minderheit nicht nur 
diejenigen, welche fi über das Durchſchnittsmaß erheben, umfaſſe, jondern 
auch die unter jenem Maße Bleibenden, die „Trottel.“ Übrigens ijt der Fall 
nicht vereinzelt, daß wir an talmudiiche Beweisführungen erinnert werden, Mit 
großem Aufwande von Wit und Unwitz wird der „Widerjpruch,* daß große 


wirfen, oder, was dem VBerfafjer gleichbedeutend zu fein jcheint, um deren Bei— 
fall werben, von allen Seiten beleuchtet, um endlich „auf biologischer Grundlage“ 
erflärt zu werden: die Originalität des Einzelnen überwindet allmählich die 
Banalität der Mafje, die Originalität von gejtern it die Banalität von heute. 
Es ijt eritanmlich! Und um zu diefer epochemachenden Entdedung zu gelangen, 
müffen wir uns lang umd breit auseinanderjegen lafjen, daß die Abſtammung 
von einem elterlichen Organismus ÜHnlichkeiten und einen gewifjen Zufam- 
menhang der Individuen bewirkt, das urjprüngliche Lebensgeſetz aber deren 
Sonderung und Selbjtändigfeit. Nun brauchte bloß noch ermittelt zu werden, 
von welchen Umftänden es abhängt, daß fich eimmal dieje, ein andermal jene 
geiftigen oder fürperlichen Eigenjchaften der Erzeuger auf die Kinder vererben, 
weshalb troß Darwin jo oft gerade die Originalität bedeutender Geiſter als 
Erbichaft von mütterliher Seite erjcheint, wie die jo häufigen Sprünge in den 
Ähnlichkeiten vom Großvater auf den Enkel zujammenhängen, und wir wären 
wirklich der Löſung eines Rätſels beträchtlich nähergerüdt. 

Schr einverftanden muß man wohl mit Nordau fein, wenn er für Die 
einzigen wirklichen Neuerer die aufgellärten Despoten erklärt, und findet, daß 
die Revolutionen, welche von der Maffe ausgingen, „unaufhaltiam in den Ge— 
meinplab zurücfielen.“ Und wenn er das beite Mittel, die Menge von der 
Unfinnigfeit ihrer Forderungen zu überzeugen, in der Gewährung derjelben 
jieht, jo fann er glauben, daß zu folcher Erkenntnis Unzählige längjt gelommen 
jind; leider verrät er nicht, wie diejes Erperiment ohne ſchwere und nachhaltige 
Schädigung der Gejamtheit durchzuführen wäre. 

Unter dem Titel „Rüdblid* erhalten wir die bereit? erwähnte Schilderung 
einer Gejellichaft, welche bei dem Verfaſſer Ekel und Grauen erregt und ihn 
an der Menjchheit verzweifeln läßt; als er fich jedoch erinnert, dag Menſchen 
das Mikroſkop und das Telejtop erfunden haben, und daß es ausgezeichnete 
Naturforicher und Philoſophen unter ihnen giebt, jchwindet der Katzenjammer. 
„Eine tiefe Liebe uud Bewunderung für die ganze Menjchheit zog in mein Herz 
ein, und fie hat thatjächlich jo lange gedauert, bis ich — wieder unter Menjchen 
ging.“ Sollte diejer Gedanfengang noch niemals als Grundlage für deutſche 
Aufſätze in höheren Töchterfchulen gedient haben? 

Werfen wir schließlich noch einen Blick in die „Evolutioniftische Äſthetil.“ 
Dieje lehrt uns: „Das Erhabene hängt am direkteften mit dem Selbiterhaltungs- 
triebe de3 Individunms zufammen, nämlich mit feiner Gewohnheit, ich als 
Gegenſatz zur Außenwelt zu empfinden, dieſe ald möglichen Feind aufzufafjen 
und die Ausfichten des Sieges oder der Niederlage im Falle des Zuſammen— 
ſtoßes abzujchägen.“ Alſo die Peterskuppel macht auf uns den Eimdrud des 
Erhabnen, weil wir abjchägen, daß fie, zufammenbrechend, uns zermalmen würde. 
Wenn ich aber nur wüßte, was wir bei einem Zujammenftoße mit der neunten 


172 Popnläre Schriftfteller. 


Symphonie befürchten! Das Schöne „regt das höchite Gejchlechtszentrum im 
Gehirn an... Darum verfinnlicht man fich den Begriff des VBaterlandes, des 
Nuhmes, der Freundichaft, des Mitleids, der Weisheit u. |. w. als Weib.“ Wie 
gcht es nun zu, daß wir die Licbe nicht al3 Weib, jondern als Knaben ver- 
finnlihen? Das ift ein Erbjtüd aus der klaſſiſchen Mythologie! Ganz wohl, 
und jene andern Berjonififationen nicht? Und waren die Gricchen und Römer 
Menjchen andrer Art als wir? „Das Niedliche iſt diejenige Erjcheinung, die 
direft oder durch Gedankenverbindung an die Vorſtellung des Kindes anfnüpft, 
und den unmittelbar mit der Gattungserhaltung zujammenhängenden Trieb der 
Kindesliebe anregt... Die Muſik kann nicht den Eindrud des Niedlichen geben, 
weil fie die weientlichen Züge der Kindeserjcheinung weder nachahmen noch durch 
SGedanfenverbindung auf fie bringen kann u. ſ. w.“ Doch der Lejer hat wohl 
genug von diefer materialiftiichen oder meinetwegen biologijchen Äſthetik, durch 
welche „hundert Bhilojophen von Plato bis Fichte, Hegel, Viſcher und Carriere“ 
widerlegt werden jollen. Sehr drollig nimmt jich daneben die Stelle aus: „Es 
wäre jo niedlich), wenn auch die gediegenjten Bettler oder Weinbeiker hoffen 
dürften, den abjteigenden Teil ihrer erfolgreichen Lebensbahn mit dem Schmude 
eines paffenden Titels, der etwa Fechtrat oder Kneiprat lauten fönnte, zurüd- 
zulegen.“ Alſo das wäre „niedlich“! Würde das den Trieb der Kindesliebe 
anregen? Recht kindiſch ericheint der Satz allerdings. Überhaupt feiftet das 
Kapitel, in welchem derjelbe vorfommt und welches ausführt, daß der Staat 
durch Titel und Orden den Charakter vernichte, das äußerte an Banalität. Der 
Verfaſſer fann darin feinen Tadel erbliden. Denn auf Seite 69 feined Buches 
ift zu Tefen: „Die Banalität von heute ift nicht nur die Originalität von gejtern 
jchlechtweg, ſie ift jogar die Blütenlefe diefer Originalität, das beſte und wert- 
vollite derjelben, das von ihr, was Dauer verdiente, weil es nicht neu allein, 
jondern neu, wahr und gut war. Hut ab vor der Banalität! Sie ift Die 
Sammlung des Vortrefflichiten, was der Menfchengeift bis zur Gegenwart 
hervorgebracht hat.“ Beweis? Der Vergleich der Augen mit Sternen ift banal 
geworden, weil er vortrefflich it; Lenaus „padendes Bild (An ihren bunten 
Liedern Hettert die Lerche felig in die Luft) wird diefes Schickſal nicht haben. 
Es ift dazu nicht tieffinnig genug.” Was man doc alles lernt! Ich hatte 
dieſes Gleichnig immer für geradezu abgejchmadt, durchaus unfinnlich und un- 
poetijch gehalten; der wie ein Papagei fletternde, und zwar an feinen eignen 
Liedern und zwar an jeinen bunten Liedern Hletternde Vogel fchien noch Münch— 
haufen, der fich an feinem Zopf aus dem Sumpfe zieht, zu übertreffen. Doch 
ift fein Fehler nur ein zu geringes Maß an Tieffinn! Es iſt Har, die Afthetit 
muß evolutioniſtiſch werden. 








Um eine Perle. 
Roman von Robert Waldmüller (Ed. Duboc). 


Schluß) 
le dieſe Erinnerungen zogen heute an dem geiſtigen Auge der 
2 > Nonne Giuſeppa mit befondrer Lebendigkeit vorüber, denn der 
— m Ehrgeiz ihres Vater hatte ihr ja noch ein andres, mehr äußer— 





liches Biel gefteckt: die Abtiffinnenwürde, und in diefem Augen: 





SEEN blice waren die nicht durch Krankheit oder Krankpeitsnachwehen 
behinderten Schweſtern des heiligen Auguftin zur Wahl einer neuen übtiſſin im 
großen Klojterfaale verfammelt. 

Giufeppa prüfte ſich, ob die von ihr allmählich wiedergewonnene Ruhe 
Stand halten würde unter dem Drude von Obliegenheiten, wie fie in Zeiten 
allgemeiner Unficherheit die Schultern einer Äbtiffin belaften mußten, und fie 
jagte fich, daß für den Fall ihrer Erwählung ein größerer Abbruch an innerer 
und äußerer Stille damit über fie verhängt werde, als fie werde ertragen können. 

Aber wie vieles, jo ſagte fie ich, wie vieles Habe ich meinem Vater gegen- 
über gutzumachen! Xrifft mich das Loos, jo muß ich mein Kreuz auf mic) 
nchmen. 

Sie blickte fi) um. Über ihre Zukunft waren die Würfel, jo fchien es, 
Ihon geworfen worden. 

Atemlos fam die Urjulinerin gerannt. 

Gnädiges Fräulein, gnädige Signora, gnädiges Fräulein Santa Giufeppa! 
tief fie, in ihrer Verwirrung das rechte Wort nicht findend, jtellt Euch meinen 
Schred vor! Ich kann mich nicht auf den Beinen halten — er ijt wieder da! 

Sie ließ ſich auf eine Steinbanf finfen. 

Wer? fragte die Nonne und atmete auf. 

Ich dachte, der Schlag müßte mich rühren! 

Aber wer ift da? 

Wenn man einen zwanzig volle Jahre nicht zu Geficht befommen hat, und 
auf einmal fieht man ihn leibhaftig auf dem Pferde jigen — id) Done ich habe 

Grenzboten III. 1885. 





47 { 4 Um eine Perle. 





meine Augen wie ein Scheunenthor aufgejperrt! In coscienza mia, jeßt bringen 
mich zwanzig Maulejel nicht auf die Straße hinaus. 

Ich kann dich nicht verftchen, ſagte Giufeppa, fomm erjt wieder zu Atem. 

Gnädige Signora, fuchte die Urfulinerin fich zu fammeln, jegt Euch in 
meine Lage! Auf den Ärger, der vorausgegangen war, einen ſolchen Schred! 
Man ift doch auch nur ein Kind Gottes, man hat doch nicht Baden wie der 
Hamfter, dem nichts zu viel wird. An dem Ärger hatte ich ſchon mehr auf- 
geladen, als ein ganzes Schod Kameele fortichleppt, und jet auch noch der 
Scred, der blikblaue Schred! 

Sie fonnte fich nicht faſſen. 

Alfo zunächſt Haft du dich geärgert, ſagte Giufeppa, erzähle; vielleicht be⸗ 
trifft es mich, man will mich nicht zur Äbtiſſin machen; o ſie haben ja tauſend— 
mal Recht! Um meines Vaters willen hätte ich mich freilich gefügt, aber gönnt 
mir Iddio, in meinem beſcheidnern Looſe verbleiben zu dürfen, ſo will ich ihm 
ewig dankbar ſein. 

Seid nicht zu gut, widerſprach Eufemia; man kann auch zu gut ſein, 
Signora, und bei uns in Friaul heißt es: wer zu gut iſt, der ſtirbt vor Sonnen— 
untergang. Wißt Ihr denn, warum man Euch nicht will? Wegen der ver— 
eitelten Schenkung. Als Euer Vater — Gott habe ihn ſelig — ſein Teſtament 
machte, da hätte er nicht vergeſſen ſollen — 

Wie dank' ich's ihm! 

Da hätte er bedenken ſollen, Signorina, daß er ſich längſt vorher die 
Hände gebunden hatte und daß dem heiligen Stuhle — 

Sreigeftellt worden war, ergänzte Giufeppa, jede jpätere Schenkung für null 
und nichtig zu erflären; ich weiß ja alles, gute Eufemia, weiß auch), daß um diejen 
Preis mein armer Vetter Abbondio feines Priefteramtes entbunden wurde, weiß, 
daß die Vorjehung, Gott jei Dank! Einjpruch erhob, als ich fein unglückſeliges 
Weib werden jollte, und daß fie hingegen die Hand meines Giujeppe in Die 
meinige legte — beata me! felicissima me! 

Giuſeppa mußte fi) abwenden. 

Jetzt gebt mir einen derben Badenjtreich, rief Eufemia und jprang von der 
Bank auf! Euch auf jo trübe Gedanken zu bringen! Eine jchöne Plegerin, 
die die eben davonhinfende Krankheit wieder heranwinft! Und fie züchtigte fich 
jelbft, da Giufeppa, von jenen Erinnerungen überwältigt, ihr nur ein Zeichen 
machte, ſie allein zu Lafjen. 

Aber Eufemia hatte ja nur erft ihrem Ärger genugfam Luft gemacht, fie 
war über die Veranlaffung ihres Schredes noch faum zum Ausfprechen ge- 
fommen, und ausjprechen mußte fie fich, wozu Hatte Jddio ihr eine Zunge und 
einen Mund gegeben! 

Signoretta, bat fie daher, laßt mich wieder gut machen, was ich jchlecht 
gemacht habe. Bleibt Ihr hier allein, jo weint Ihr Euch wieder einmal die 


Um eine Perle. 475 


Augen rot, und wer weiß wie notwendig Ihr fie noch gebrauchen müßt, wer 
. weiß, ob eine Äbtiffin, die nicht für alles einen fcharfen Bli hat, überhaupt 
fih im Amte zu behaupten vermag. Ihr ftaunet? Aber zu Ende war die 
Wahlverhandlung ja noch Feineswegs, bejte Signoretta. Man hatte ſich ja nur 
erit wegen jener vereitelten Schenkung abfällig über Euch ausgejprochen. Als 
ob Ihr allein nicht zehnmal mehr Gewicht hättet al3 alle Schäße des Kaiſers 
von China! Sch meine Eure Vornehmheit, merc& di Dio: die Leite aus dem 
TFürftengefchlechte der Buonacolfi! Und was Euch ſonſt noch alles von dem 
Miſchmaſch der übrigen Betſchweſtern unterjcheidet — Gott verzeihe mir meine 
Sünde, aber Ihr allein, Signora, macht doch die Suppe jchmadhaft. 

Giuſeppa Hatte ihre Feſtigkeit wieder zurüdgerufen. Ich jubelte aljo zu 
früh, jagte fie; reden wir von deiner Angelegenheit. Du haft Recht, ich darf 
die Erinnerung an vergangne Dinge und Zeiten nicht Gewalt über mich ge 
winnen laffen. 

Natürlic) war Beppo der Reiter gewejen, welcher zu Eufemias Schred 
plöglih in Mantua wieder aufgetaucht war, und zwar hoch zu Roß vor dein 
Klofter des heiligen Auguftin, glüclicherweife ohne ihrer anfichtig zu werden, 
denn, jagte fie, was hätte werden jollen, wenn er da wieder angefangen hätte, 
wo wir dor zwanzig Jahren aufgehört haben! Nicht daß ich für ihn zu alt 
wäre — bei mir heißt e3 noch nicht, wie man bei uns zu Haufe in Friaul 
nedt, o bella, der erſte Schnee! — ich paſſe täglich beim Kämmen auf: mein 
Haar iſt noch ganz jo ſchwarz wie nur irgend ein Schmiedejchlot. Aber, aber, 
wie jagen noch die Neapolitaner? nozze e maccheroni caldi caldi! heiß, hei 
müfjen Hochzeiten und Maccaroni verzehrt werden. Und mit mir hat das Be: 
finnen denn doch etwas zu Tange gedauert. 

Du weißt aljo, daß er noch an dich denkt? fragte Giufeppa, um nur 
etwas zu jagen. 

Al contrario, ich weiß von nichts. 

Sp ijt er vielleicht längſt verheiratet? 

Leicht möglih — er war ja nicht häßlich, Signoretta, jehr denkbar jogar; 
etwas mohrenhaft, ja jo fonnte man ihn wohl nennen, vielleicht wegen des 
vielen Schwarzen Barthaars und der kohlſchwarzen Augen; aber dabei eine Cypreſſe 
von Statur, wohl einen halben Kopf größer als ich, nicht ala Ihr, Signoretta, 
denn Ihr feid ja noch ein gutes Stück nachträglich über Eure Eufemia hinaus: 
gewachjen; aber neben mir konnte er fich ſchon als ein Mann von ſchönem 
Wuchſe jehen laffen. Sollte er verheiratet fein, jo that er Unrecht, hierher zu 
fommen und vernarbte Wunden aufzureißen. 

Eine Novize war mit einem zufammengefalteten Zettel in der Hand heran 
gekommen. 

Domina, wandte fie fich mit einem tiefen Verneigen an die Nonne, ein 
Reitergmann aus Verona ift vor der Pforte abgejtiegen und wartet jeßt im 


476 Um eine Perle. 





Barlatorio; er hat nach diejer Urfulinerin gefragt, und als man ihm bedeutete, 
fie fpaziere mit der frau Domina im Garten, hat er diejen Zettel für fie be- 
ſchrieben. 

Du nennſt mich Domina? fragte Giuſeppa mit einem unterdrückten Seufzer. 

Man kommt ſchon, um dich in den Kapitelſaal zu führen, Santa Giu— 
ſeppa, antwortete die Novize, indem ſie nach der Seite des Kloſters deutete, 
und gleichzeitig ertönte von dorther der Geſang Veni, ereator. 

Die Friaulerin war bei dem Worte Verona rot geworden wie der Saft 
eines Granatapfels. Sie zupfte ihr graues Unterkleid und dann ihren ſchwarzen 
Rock zurecht. 

Giuſeppa reichte ihr den Zettel. Aber Eufemia bat: Leſet! ſie hatte nie 
Geſchriebenes leſen können. 

Wie ſieht der Mann aus? fragte Giuſeppa die Novize, indem ſie den 
Zettel entfaltete. 

Wie ein feiner Kavalier auszuſehen pflegt, lautete die Antwort, auch das 
Sattelzeug ſeines Grauſchimmels iſt nicht übel. 

Die Friaulerin wiſchte eine Thräne aus den Augen; er iſt es und er hat 
ſich gebeſſert, ſchluchzte ſie, ich ſagte es ja, beſte Signora! Und meiner ſich 
noch zu erinnern! Merc& di Dio! Welch ein Gedächtnis! 

Giuſeppa las: Schönjte Signora Eufemia! Der Kriegsſpektakel ift vorüber. 
Das Scheufal, an dem man ftirbt, hat fich auch empfohlen. Mein Pferde- 
handel blüht. Meine Knochen find endlich wieder heil. Wie wäre es nun? 

Beppo. 

Eufemia lief mit glühenden Wangen in großer Aufregung hin und ber. 
Aber ift denn das möglich! rief fie, mach jo vielen Jahren! Kann ich mich 
denn in Diefer Tracht jehen lajjen, beite Signora? Und wie kann er denu 
verlangen, daß ich mich jo plig plaß entjcheide! Der Sturmrenner! Der Hetz— 
peitiher! Der — der — Sie hatte völlig den Kopf verloren. 

Giuſeppa juchte fie zu beitimmen, ſich wenigftens erjt wieder zu fammeln. 
Die Novize wurde daher zunächſt mit der Bitte an den Veronejer fortgejchidt, 
der Signore möge ſich etwas gedulden. Aber die Friaulerin ängjtigte fi) doc), 
wie fie jagte, die junge Novize fünne ihm etwas Verkehrtes ausrichten, und ge= 
duldet, meinte fie, Hat er fich doc) auch wahrlicd) lange genug. So ergriff 
Eufemia denn beide Hände ihrer einftigen lieben Herrin, drüdte ihre Lippen 
darauf und eilte mit den Worten davon: Was kann man gegen den Willen des 
Himmels! 

Sie hat Recht, jagte Giufeppa und ging mit dem Entjchluffe, die ihrer 
wartenden Pflichten nicht bloß geduldig, ſondern frohen Herzens auf fich zu 
nehmen, den fingend mit Standarten und brennenden Lichtern unter dem immer: 
grünen Zaubdache heranziehenden Schweitern entgegen. 


Um eine Perle. 477 


Siebenundpierzigftes Kapitel. 

Wieder iſt es März, Jahre find verftrihen. Die Eichen des Kloftergartens 
haben gelichtet werden müfjen, eine hinderte das Wachstum der andern. Auch 
die Feſtungswerke Mantuas find nicht mehr die frühern. Die militärijchen Be— 
roter Karls des Erjten hatten jchon vieles für veraltet erklärt und geändert, 
diejenigen Karls des Dritten, feines Enfels, haben auch an jenen Änderungen, 
angejichts der weitertragenden Belagerungsgefchüße, wiederum zu tadeln gefunden, 
umd jetzt find die Berater Karls des Vierten am Ruder. Sie lafjen alle 
Schleujen, von deren Unzerjtörbarkeit die Sicherheit der Waſſerfeſtung Mantua 
abhängt, mit dicken fteiriichen Eijenplatten belegen und behaupten, nun endlich 
jet Mantua uneinnehmbar. 

Dazu gehört freilich, daß der Feind es nicht aushungere, und um dem 
vorzubeugen, müſſen auch die Apoftelmühlen gepanzert werden. 

Das wird den ganzen Märzmonat in Anspruch nehmen. Wie werben die 
arınen Müller, ohne taub zu werden, bei dem ohrzerreikenden Getöje ihren 
Dienst verrichten können? 

Einer von ihnen hat jeine Räder bereits abgeftellt: die Mühle des heiligen 
Petrus Hat Ferien, und ihr Herr ift zu feiner Erholung von dem Pochen und 
Hämmern, das den ganzen Mühlendamm umtoft, auf einige Wochen in das Fran 
zisfanerflofter übergefiedelt, in welchem er zu Lebzeiten jeiner Mutter nac) 
Landesbrauch gleich andern hin und wieder der Sammlung bedürftigen fchon 
manchesmal ſich auf das heilige Oſterfeſt vorbereitete. 

Der Sammlung bedürftig ift er zwar nun freilich nicht. Wie er als 
Blinder till vor fich Hin lebte, al der Gedanke an die arme Gejarina fein 
tägliches Brot war, jo hat er neben der gebrechlich geworbnen Matrone in 
Frieden fortgewerfelt, während die Welt draußen voll Kriegslärm war; jo hat 
er es auch gejchehen laſſen müſſen, daß der heilige Petrus trog aller An— 
rufungen die ihm geweihte Mühle nicht gegen das jchwarze Sterben zu jchügen 
vermochte und dag man eincd Tages ohne Sang und Klang, vermutlich auch ohne 
Sarg — er konnte es glüclicherweife nicht jehen — die gute, alte Mutter aus 
dem Bett und der Stube, wo fie ihn geboren hatte, fort und über den Steg aufs 
Land geichafft hat, wohin? das konnte ihm nie ordentlich nachgewiejen werden. 

Seitdem ift Cefarina nicht mehr jein alleiniger Gedanfe geweſen, die Mutter 
hat fich in feinem Geifte ihr zugejellt, und dabei ijt er allmählich ins Grübeln 
gefommen, ind Grübeln über die ewigen Dinge, an denen fich ja Gelehrte wie 
Ungelchrte jeit Jahrtaufenden müde gedacht haben; aber er tft dabei nicht müde 
geworden, ganz im Gegenteil, und der Franzisfaner- Prior, der darüber bereits 
müde geworden war, wird wieder aufgelegt für das unergründliche Thema, jo 
oft der blinde Gervaſio ihm jeine Ideen mit fanftem Lächeln und noch janfterer 
Stimme ausfranıt, denn die Ideen des blinden Greifes find poetijch, und den 
ewigen Dingen läßt fich ja nicht anders beikommen. 


478 Notiz. 


Nur eine hohe Mauer trennt den Garten des Franziskanerkloſters von dem 
der Auguſtinerinnen. Es ſoll Zeiten gegeben haben — unter Vincenzo des 
Erſten vergnüglichem Regiment —, wo in dieſer Mauer einige Steine fehlten, 
ſodaß wohl hin und wieder eine Auguſtinerin einem Franziskaner die Hand 
gedrückt haben mag. Seit vielen Jahrzehnten aber iſt das Epheugewebe auf 
beiden Seiten jo dicht, daß fein Stein mehr von der Stelle gerückt werden kamır. 
Und fo fiten, ohne daß fie aneinander denfen oder auch nur ahnen, daß fie 
einander nahe find, drüben der blinde reis Gervafio im Gejpräd mit dem 
ihm freundlich zugethanen Prior, und hüben die greije Domina, allein, mutter: 
jeelenallein, aber in der Gejellfchaft guter tröftlicher Gedanken. Denn während 
der Blinde, von dem Getöje des Mühlendammes erlöft, mit danfbarem Ohre 
den gejcheiten Worten des Priors laujcht und dabei in vollen Zügen die Friſche 
des Märzmorgend und den Duft von blühenden Orangen- und Eitronenbäumen, 
den Lieblingspfleglingen des Priors, einatmet, hat die Domina, im Schatten 
der immergrünen Eichen fitend, ihr Gebetbud in den Schoß gelegt und ihre 
Blide in die Ferne fchweifen laffen, wo wie eine Fata morgana fchneebededte 
Gebirge in der Luft schwimmen. Näher und deutlicher und mit jüngeren Augen 
hat fie diefe ewigen Grenzhüter einft von Verona aus gejehen. Und bei dem 
Gedanten will ihr anfangs weh ums Herz werden, denn jene alten traurigen 
Worte zittern einmal wieder durch ihre Seele, jene Worte, welche ihr Giufeppe 
ausgeftoßen haben jollte, als — ohime! — Marcello Buonacolfis Degen ihn 
durchbohrte, die Worte: Un fine amaro fa scordare del prineipio dolce — ein 
bittres Ende tilgt die Erinnerung an einen jüßen Anfang. 

Thränen wollen ihren Augen entjtürzen; aber nein, fie will nicht klein— 
mütig, fie will nicht undankbar fein, fie will nicht daran glauben, daß Giuſeppe, 
wenn fi in dem Zuſammenbrechen feiner jungen Kräfte auch der Beginn jener 
Klage, das Wort von dem bittern Ende, das alle, aud) die jühejte Erinnerung 
verbittert, auf jeine Lippen drängte, fie will nicht daran glauben, daß je feinem 
Gedächtnis die Wonne, geliebt zu haben, geliebt worden zu jein, habe ent— 
ſchwinden fünnen. Und jo heißt es denn von nun an in ihrem Sinne: Sein 
noch jo bittres Ende vermag die Erinnerung an einen ſüßen Anfang zu tilgen. 


DiB> 
Notiz, 


Gemiſchte Ehen. Ein genau unterrichteter Freund teilt und folgende That- 
fahe mit: Ein fatholifcher Offizier begehrte für feine Verehelichung mit feiner evan— 
geliihen Braut den Segen des evangeliihen Seelforgerd. Unaufgefordert giebt er 
die Erklärung ab, daß die etwaigen Kinder in dem Belenntnis ihrer Mutter er: 
zogen werden jollen. Nachdem er ald Beamter in feine römiſch-katholiſche Heimat 
zurüdgefehrt ift, üben dafelbft feine Umgebung und feine Familie ihren Einfluß 














Notiz. 479 








auf ihn. Der Mann bittet nunmehr ſeine Frau, um ſeiner Familie und um ſeiner 
geſellſchaftlichen Stellung willen, ſich doch die Form einer nachträglichen katholiſchen 
Trauung gefallen zu laſſen. Sie willigt ein, nachdem auch der römiſche Prieſter 
ihr ausdrücklich die Verſicherung gegeben: es werde ſchlechthin kein Verſprechen in 
betreff der Kindererziehung von ihr gefordert werden. Die Familie des Mannes 
ſorgt für eine große Hochzeitsfeier. Als num die Eheleute vor den Altar getreten 
find, erklärt der Priefter, er könne die Trauhandlung nicht eher vollziehen, als bis 
die üblichen Ehepaften in der Sakristei unterjchrieben feien; e8 ſei dies eine reine, 
aber doch unerläßliche Form. Die Frau, in diefer Weife überrumpelt, und da 
ihr zur Befinnung und zum Einholen eine wohlwollenden Rates keine Zeit blieb, 
unterjchreibt ein — lateinifches Formular. Nach der Trauung erfährt fie, daß fie 
die Seelen ihrer Kinder der römischen Kirche verfchrieben hat. 

In einem andern Falle, der ſich Fürzlich zugetragen hat, war ausgemacht, 
daß nad der Eheſchließung und Trauung die Knaben der Konfeifion de3 Fatho- 
lifchen Mannes, die Mädchen der der proteftantifchen Frau folgen jolten. Der 
Mann war eben in die Dienfte eine Fatholifchen adlichen Herrn getreten. So: 
bald diejer von jenem Kompromiß Kenntnis erhalten hatte, drohte er, jofort feinen 
Beamten wieder zu entlaffen, wenn er nicht auf das bejtimmtejte verjpräche, die 
jämtliden Kinder, welche etwa aus der bevorftehenden Ehe hervorgehen würden, 
der römiich-Fatholifchen Kirche zuzuführen. Diefe Forderung bat in der Familie 
der evangeliihen Braut und zumal bei diejer jelbjt viel Kummer und Thränen 
hervorgerufen. Die Familie fteht vor der Frage: fol dem Anfinnen des Standes: 
herrn nachgegeben oder foll die eben erſt angetretene geficherte Stellung mit aus— 
reichendem Brote wieder aufgegeben werden? 

Es ijt ja zur Genüge bekannt, wie jehr Rom darauf aus ift, namentlich unter 
dem evangelifchen Adel Anhänger und Belenner zu werben, und dazu find in feinen 
Augen die gemijchten Ehen wie gemadt. Es iſt gar feine Frage, daß man deren 
Eingehung ganz beſonders patronifirt, mit der bejtimmten Abſicht, auf diefe Weife 
die Kinder evangelifcher Männer oder Frauen zu gewinnen und dann am Ende 
auch ſchwache Männer und bethörte Frauen in den Schoß der „alleinfeligmadhenden“ 
Kirche aufzunehmen, diefes wahren und echten Hortes „Lonfervativer* Beftrebungen. 
Da kann ed wohl nicht ausbleiben, daß bei der fcharf polemifchen und jeden Kom— 
promiß ablehnenden Haltung der römischen Kirche, die von vielen ihrer Zaienmit- 
glieder gebilligt und im geheimen und öffentlich mit vertreten wird, auch die be— 
wußten Protejtanten fchärfer al3 bisher Stellung nehmen und auch bei kommenden 
politiijhen Wahlen die Eonfejfionelle Stellung von evangelifchen Männern adlichen 
oder nichtadlichen Standes, welche in Mifchehen gelebt haben oder noch Leben, 
aufs genauefte prüfen. Man darf auch erwarten, daß evangelifche Männer, welche 
einmal unter dem Drude einer gemifchten Ehe geftanden und die Herbigfeit der Beein- 
flufjung einer katholiſchen Verwandtſchaft perjönlich erfahren haben, ſich nicht mehr 
unter das knechtiſche Joch beugen, fondern vielmehr im Falle einer zweiten Ehe wiſſen, 
was fie dem eignen Glauben und Gewiſſen vor Gott und Menjchen ſchuldig find. 
In den jchweren und heißen Kämpfen der Gegenwart können wir, zumal innerhalb 
Preußens, feine Abgeordneten brauchen, welche geneigt und bereit find, ihren oder 
ihrer Rinder Glauben um ein Linſengericht unter römifche Botmäßigfeit zu verkaufen. 
Wir können den Gedanken nicht ald unberechtigt zurückweiſen, daß ein wejentlich 
proteftantifcher Staat das Recht und die Pflicht habe, zu verlangen: feine evan— 
gelifchen Beamten und Offiziere jollen ſoviel Selbftbewußtfein und Mannhaftigkeit 
an den Tag legen, daß fie nicht, wenn fie in gemijchter Ehe leben, ihre Nachkommen, 


480 Notiz. 


zumal diejenigen männlichen Geſchlechts, einer Kirche überlaffen, die in den Zeiten 
der Gefahr für das Vaterland in vielen ihrer Diener und Gefinnungsgenofjen eine 
höchſt bedenkliche und zweifelhafte Haltung offen dofumentirt hat. Der Staat fann 
bei feinen Dienern in hervorragenden Stellungen und bei denen, welche die Ehre 
haben, feine Schußmauern unter Waffen im jchwierigen Zeiten zu bilden, feine 
ihwachen, zum Widerftande unfähigen Charaktere brauchen. Seine Stüßen müſſen 
vielmehr durchaus fefte, zuverläffige, harakterftarfe Männer fein, die es mit Ent- 
rüftung von fich weifen, einer Gefinnung unterthan zu fein, wie fie die Frau eines 
höhern Dffizierd vor einiger Zeit ausſprach: Id) habe doch natürlich von der Liebe 
meine Mannes erwarten dürfen, daß er mir (der Katholikin) zu Gefallen feine 
(vier oder fünf) Söhne im römiſch-katholiſchen Bekenntnis erziehen lieh. Daß der 
Betreffende auch jeinerfeits, nahdem er die Töchter willig der Konfeifion der Mutter 
hatte folgen laffen, ein Opfer feiner Frau, der Mutter jeiner Söhne, erwarten 
durfte, daß ſchien dem von Rom gegängelten Weibe fchier unbegreiflih. Freilich 
ift Dies im Grunde die Stellung der römischen Kirche felber, fie ift e8 zum mindeſten 
bisher geweſen. Bon eurer $riedensliebe und Gerechtigkeit erwarten wir mit 
Beitimmtheit, daß ihr und zehn Schritte entgegenthut; alddann werden wir uns 
darüber zu befinnen anfangen, ob dann auch wir einen halben Schritt nähertreten 
ſollen oder nid. 

Hat vor kurzem nod ein jehr urteildfähiger und wohl unterriditeter 
Mann erklärt: Die evangelifche Kirche hat nicht nur mit Worten, fondern mit 
der That zu behaupten und feitzuhalten, daß, wer dad Verſprechen Fatholifcher 
Erziehung feiner jämtlihen Kinder giebt, ebendamit aus der evangelifchen Kirche 
austritt, jo laffen wir das bezüglich proteftantifcher, ihrer kirchlichen Verpflichtung 
uneingedenf handelnder, oftmals durch Hoffnung auf materiellen Nugen und Dedung 
fühlbarer Defizits angelodter Männer gelten, und ben evangelifchen Frauen gegen 
über vergejjen wir nicht, daß nicht nur manche evangelifche Nechtögelehrte, fondern 
aud; Theologen ausdrücklich bis heute für den Saß eintreten: dad Weib jteht in 
der Ehe unter Leitung und Gewalt ihres Mannes, und darum beftimmt dieſer 
allein Kirche und Sonfeffion feiner ſämtlichen Kinder. Wir möchten unfrerjeits 
dem Weibe, al$ dem „Ihwädern Zeile,’ alle Ehre erzeigen und ihm unter Hin- 
weiß auf den befannten Grundſatz: Suum cuique in gemifchter Ehe die Kinder 
feines Gejchlechtes überlaffen. Inſofern wir aber die römische Kirche nicht für 
die wahre, aljo Eine halten, außer der es fein Heil gebe, jagen und behaupten 
wir mit größter Entjchiedenheit: Wer irgendwie evangelijche Ueberzeugungen hat, 
kann nicht feine Kinder anhalten, einem Priefter zu beichten und deſſen Abjolution 
als göttliche anzumehmen, die geweihte Hoftie anzubeten, an die Wirkung der 
Saframente ex opere operato, aud) ohne innere Beteiligung, zu glauben, an Maria 
und die Heiligen ihre Gebete zu richten, im Abbeten des Nofenkranzes eine gottes— 
dienftlihe Handlung zu jeden. Er kann feine Kinder weder zum römischen Gottes— 
dienft, noch auf Wallfahrten und Prozeffionen begleiten. Er kann nicht mit ihnen 
um Ausrottung der Ketzerei beten. Der Proteftant weiß, daß auch er dem 
römiſchen non possumus fein: Ich fann nit anders, Gott helfe mir! entgegen- 
jtellen muß; und dies umfomehr, als bei evangelifcher Trauung das katholiſche 
Gewiſſen nicht gefmechtet ift. Den frommen Katholiten ehren und achten wir; 
ultra montes zu gehen verbieten und Pflicht und Gewifjen. 


Für die Redaktion verantwortlid: Johannes Grunow in Leipzig. 
Verlag von Fr. Wild. Grunow in Leipzig. — Drud von Carl Marguart in Leipzig. 





Die Ruſſen in Sentralafien. 
3. 


ir fommen heute zu der legten Epijode des weltgejchichtlichen Pro- 

zeſſes, dejjen bisheriger Gang hier dargeftellt wird. 1873 waren 
ARußland und England in betveff Mittelafiens zu einem Überein- 
| fommen gelangt, nach welchem die unabhängigen Turfmenen fünftig 
I der Intereffen- und Aktionsiphäre der Ruſſen, die afghanifchen 
Länder dagegen derjenigen der Engländer angehören jollten — eine Bejtimmung, 
welche verjchiedne Deutungen geftattete, da jene Turfmenenjtämme Nomaden waren 
und es fich fragte, wie weit ihr Gebiet nach Süden Hin reichte. Nun jchlug das 
Petersburger Kabinet bald nach der Einverleibung Merws, um über etwaige 
Abfichten auf afghanischen Befig, Herat u. dergl. zu beruhigen, dem Londoner 
vor, fi) mit ihm über eine genauere Feſtſtellung der Grenzen zwiſchen dem 
ruffiichen und dem afghanischen Turkeſtan zu verftändigen. Gladjtone ſchwieg 
eine Weile über den Vorjchlag umd gab dann eine zweideutige Antwort, die 
Gierd ungenügend fand. Während noch darüber Verhandlungen ſchwebten, ließen 
die Engländer von Duetta eine von etwa 1000 Soldaten begleitete Kommiſſion 
von Offizieren abgehen, welche, vom General Lumsden geführt, im Verein mit 
ruffiichen Bevollmächtigten die ruffiich-afghanische Grenze im Gebiete des 
Herirud und Margab abiteden follte. Die jtarfe militärische Esforte Lumsdens 
fonnte und follte wohl auch helfen, faits accomplis nach dem Grundjage beati 
possidentes zu jchaffen. Aber Rußland traf, zumal da der Emir von Aighanijtan, 
von englicher Seite angeregt, gewifje Punkte, die er für jein Reich in Anfpruch 
nahm, mit Truppen bejegt hatte, rajch Gegenmaßregeln, und als die englüchen 


Kommiffäre nach mehrmonatlihem Marjche mit ihren Truppen am Herirud 
Grenzboten III. 1885. öl 





482 Die Ruffen in Zentralaflen. 











anlangten, fanden fie die Ortlichkeiten, die fie für Afghaniftan offupiven ſollten, 
bereit in den Händen ruffiicher Soldaten, die ihnen von Merw über Sarachs 
zuvorgefommen waren, und hinter denen General Komarow mit dreitaujend 
Mann ftand. 

Ehe wir die daraus fich entwidelnden Vorgänge erzählen, geben wir einen 
kurzen gejchichtlichen Rüdblid zur Drientirung über die Befigverhältniffe in 
betreff Pendſchdehs, um das es fich dabei vorzüglich handelte. Vor etwa 
45 Jahren, als Lord Audland Vizefönig von Indien und Major Todd britiicher 
Nefident in Herat war, erhob fich ein Streit zwijchen dem Chan der lekt- 
genannten Dafe und dem Chan von Chiwa, der den Beſitz Pendſchdehs zum 
Gegenſtande Hatte. Auf einen Bericht Todds geftügt, entichied das indijche 
auswärtige Amt, daß der Ort rechtmäßiges afghanifches Eigentum jei. Als 
der jeßige Emir Abdurrachman den Thron beftiegen hatte, ſchickte er Juſuf 
Bey Jamſchidi ald Gouverneur dahin. Als die Ruſſen Merw und Julatan 
anneftirten, begab ſich diefer mit einigen Häuptlingen der Sarufturfmenen, 
welche die Daje von Pendſchdeh bewohnen, nach Herat, um den Emir zu bitten, 
fie offen zu Unterthanen aufzunehmen. Infolgedeſſen legte der letztere eine 
afghanische Sarnifon hierher, während er fich bis dahin begnügt hatte, in Bala 
Margab und in Karawulkana, elf englische Meilen weiter flußabwärts kleine 
Militärpoften zu halten. Den Saruks wurde große Selbjtändigfeit gelafien. 
Sie hatten eigentlich nur den Tribut nach Herat weiter zu zahlen, welchen 
fie jeit ihrer Auswanderung aus der Daje von Merw in die von Pendſchdeh, 
die vor etwa drei Jahrzehnten ftattfand, entrichtet hatten. Der Emir beanjpruchte 
fie nicht als unabtretbare Unterthanen, jondern betrachtete nur das Land, wo 
fie ihre Herden weideten, al3 zu feinem Reiche gehörig. Die Ruſſen aber jahen 
jenes Laud deshalb als Eigentum des Zaren an, weil diefe von Merw 
ftammenden Nomaden e8 innehatten. Die Engländer wollten dies nicht zugeben. 
Sie waren der Meinung, die Grenze zwijchen der Daje von Pendſchdeh und 
Sulatan, dem jüdlichen Teile der Dafe von Merw, jei am Margab bei Hajrat 
Imam, vierzig englische Meilen nördlich von Pendjchdeh, und machten geltend, 
daß das nördlichjte Lager der Sarufs bei Saryjafi, fünfundzwanzig Meilen 
nördlich von Af Tepe fich befinde, und daß die äußerten Vorpoſten der Afghanen 
bis zum September 1884 in Uruſch Doſchan, achtzehn Meilen von dort, ge- 
weſen ſeien und fie Patrouillen bis Saryjafi und zuweilen felbjt bis Hajrat 
Imam am Rande der Wüjte, die fi) von hier bis Julatan erjtredt, aus— 
geſandt hätten. 

Die Ruſſen madten nun zwifchen dem 1. November 1884 und dem 
31. März 1885 dreimal den Verſuch, ſich in den Veſitz von Badkis und 
Pendichdeh zu jegen. Das erſtemal offupirten fie die Bofition Pul i Chatun 
am Herirud. Der Emir proteftirte, und Lumsden forderte Rüdzug der Truppen 
Komarows, die hier unter Führung Alihanows eingerücdt waren. Aber fie 


Die Ruffen in Zentralafien. 483 


blieben, und als Lumsden das benachbarte Sarachs am 11. November verlieh, 
marjchirte jener weiter auf Pendichdeh zu. Die Afghanen in Uruſch Dofchan 
wichen vor ihm, aber das Eintreffen von Verftärkungen für fie gebot ihm 
Halt, auch erfolgte die von ihm erhoffte Erhebung der Saruks nicht. Sie 
wollten nicht ruffiich werden und erwarteten Unterjtüßung von den englischen 
Kommiffären, aber der Agent des Emirs Abdurrachman, Kaſi Saad Eddin, 
that alle, was er fonnte, um jeden Verkehr der Sarufs mit jenen zu ver- 
hindern, und als dennoch eine Gejandtichaft derjelben bei Lumsden erſchien und 
dort Gejchenfe empfing, die beiläufig unflug verteilt wurden und fo nur böfes 
Blut machten und bei den Häuptlingen einen Umſchlag der Stimmung zu Un- 
gunſten Englands hervorriefen, ließ der Afghane jogar einen Teil der Leute 
verhaften. Der größere Teil der Kommilfion verlieg Bala Margab am 
15. Februar und erreichte Kalah i Maur am Kajchkfluffe am 18. Als fie am 
9. etwa zwanzig Meilen von Pendſchdeh waren, hörten fie, daß die Ruſſen die 
afghanischen Vorpoſten in Aimak Dſchari und Saryjafi angegriffen, ſich aber 
dann bald entfernt hätten. Oberſt Ridgeway und Kapitän Laeffon juchten fie 
auf Befehl Lumsdend auf, um durch Beiprechung mit ihnen weitere Zufammen- 
ſtöße zu verhüten, die ruffischen Offiziere gingen den beiden Engländern jedoch 
jorgfältig aus dem Wege. Während der Abwejenheit der letztern verjchlimmerte 
fi) die Stimmung unter den Saruf3; fie hatten gehört, daß in Hajrat Imam Ber- 
ftärfungen für die Ruſſen eingetroffen feien, und glaubten, die Engländer würden 
fie verlaffen. Sie dachten deshalb an Aufitand gegen ihre afghanischen Gebieter 
und Übergang zu Alichanow, der fie fortwährend aufreizte, während der Agent 
des Emirs fortfuhr, fie vom Verkehr mit den britischen Offizieren fernzuhalten, 
Am 18. Februar erlangte Ridgeway in einer Beiprechung mit Kafi Saad Eddin 
Erlaubnis für die Sarufs, ihn im Pendichdeh zu bejuchen. An demjelben 
Tage erjuchte er brieflich Alichanow, der fich in Hajrat Imam befand, fich mit 
ihm zur Vermeidung einer Kollifion zu verftändigen, eınpfing jedoch die Ant: 
wort, wenn die afghanischen Vorpoften nicht auf Pul i Chiſti zurückgezogen 
wirden, jo werde er fie dazu zwingen. Lumsden ordnete darauf den Rückgang 
derjelben nad) Urufch Dofchan an und jchrieb Alichanow, wenn er big zu diefem 
Punkte vorrüde, müfje e8 zu einem Zujammenftoße fommen. 

Als Ridgeway am 19. nad) Pendichdeh zurückkehrte, beſuchten ihn Die 
Sarufs in Mafje und baten um jeinen Rat. „Was fie jagten, war — wir 
zitiren im nächftfolgenden auszugsweiſe den Bericht eines bei diefer Angelegenheit 
beteiligten Engländers — in der Kürze folgendes: »Wir ziehen die britijche 
Herrichaft der ruffifchen bei weiten vor. Wir wiſſen, daß die Afghanen den 
Ruſſen ohne englische Unterftügung nicht widerjtehen fünnen. Wenn ung daher 
die britifche Regierung nicht bejtimmt ihren Beiftand verjprechen fann, müſſen 
wir ung, um uns jelbjt ficherzuftellen, ohne Verzug den Ruſſen unterwerfen.« 
Da Oberſt Ridgeway die, gelind gejagt, jehr unbejtimmte Politik feiner Re— 


484 Die Ruffen in Sentralafien. 





gierung kannte, jo fonnte er ihnen nur die Verficherung geben, die Kommiſſion 
werde ihre Interefjen im Auge behalten, und ſie mit der Bemerkung, Alihanows 
Drohungen jeien wahrjcheinlich nur Großjprecherei, zu neutralem Verhalten er— 
mahnen.“ 

Am 20. Februar foreirte Alichanow die afghanijche Stellung bei Uruſch 
Doſchan und rüdte dann gegen den linken Flügel der Afghanen vor, der fich 
auf PBul i Chiſti ftüßte „Ein Trupp ruffischer Reiter, aus Turkmenen be— 
jtehend, zog voran, in der Entfernung einer [englifchen] Meile folgte eine 
Schwadron Ktojafen, und weiter entfernt waren zwilchen den Hügeln mehr 
Truppen fichtbar. Ein afghanifcher Offizier ritt den Auffen entgegen und jagte 
dem Befehlshaber derjelben, wenn er weiter vorginge, jo würden jeine Leute 
das Feuer auf ihn eröffnen. Nach einigem Barlamentiren erlaubte man einem 
ruffiichen Offizier und drei Mann, unter afghanischer Bedeckung ſich bis nad) 
Pul i Chiſti zu begeben, und nachdem er von dort zurüdgefehrt war, traten 
die Ruſſen ſämtlich den Rückmarſch an.“ Pul i Ehijti wurde alſo an diefem 
Tage von ihnen nicht bejegt. Dagegen fand man am nächſten Morgen, daß 
Alichanow in der Nacht zuvor auf einem Hügel, der Kifil Tepe heißt und etwa 
eine engliiche Meile von PBul i Chiſti liegt, eine Abteilung von Saruks aus 
Julatan aufgeftellt hatte. Unſer Berichterjtatter zieht daraus den Schluß: 
„Es ift unbegründet, wenn die Ruſſen behaupten, fie hätten vor der Attacke 
vom 30. März Bul i Chiſti innegehabt. Es war nur ein Vorwand. Und 
jet, wo jener unprovozirte Angriff Gegenstand eines Schiedsſpruches werden 
joll, ift es höchjt wünjchenswert, genau zu wiffen, daß das ganze Vorgehen der 
Nuffen, mit dem fie ihren Gewaltfchritt rechtfertigen, ſich nicht auf Wirklich- 
feit, jondern auf einen geographiichen Irrtum bafirt, den man fi) zunuße 
machte.“ 

Der Rüdzug der Ruffen am 20. Februar wirkte auf die Sarufs von 
Pendichdeh in einem den Engländern vorteilhaften Sinne. Sie erboten jich 
ſogar beim Widerftande gegen die Ruſſen mitzuwirken, aber die Unflarheit der 
Politik Gladftones und Gramvilles lich die Kommiffion nicht zu dem Entjchluffe 
fommen, Widerftand zu leiſten und von ihrem Anerbieten Gebrauch zu machen. 
Man ermahnte fie abermals, neutral zu bleiben, und tröftete fie im übrigen 
jo gut als möglich über ihre Zukunft. ES war infolgedeffen nicht zu ver: 
wundern, wenn fie Englands Interefje nicht mehr für das ihrige hielten und 
den Kommifjären, die ihnen nichts zu bieten hatten, endlich ganz den Rüden 
fehrten. Alichanows heimliche Intriguen begannen jet Frucht zu tragen. Als 
am 1. März die Nachricht eintraf, daß in Hafrat Imam ruſſiſche Infanterie 
und Artillerie angelangt fei, merften die Häuptlinge der Sarufs, wie der Wind 
blieg, und daß es hohe Zeit fei, den Verkehr mit dem britifchen Lager abzu— 
brechen. Aber noc) einmal lächelte den Kommiſſären das Glüd für eine kurze 
Friſt. Die ruſſiſchen Verftärkungen machten in Hafrat Imam Halt, und die 


Die Ruffen in Sentralafien. 485 
bisher wenig zahlreichen afghanischen Truppen in der Daje von Pendſchdeh er: 
hielten ihrerjeit3 von Herat her erhebliche Verſtärkung. Die Sarufs fahten 
wieder Mut. Am 11. März fam Kapitän Mate in Pendſchdeh an, und am 
20. kehrte Oberſt Ridgeway zu feinen Verpflichtungen als Mitglied und Sekretär 
der Grenzfommilfion zu Gulran zurüd. Gefegt den Fall, daß die britische 
Regierung jett eine entjchiedne Haltung angenommen hätte, jo wäre einige Hoff: 
nung vorhanden gewejen, Alichanows Pläne zu vereiteln. (Daß fie das nicht 
fonnte, ijt in frühern Aufjägen hinreichend dargethan worden.) Pate jete 
das verjöhnliche Berfahren, welches Nidgeway eingeschlagen Hatte, fort und 
redete nad) feinen Inſtruktionen den Sarufs gleichfalls zu, neutral zu bleiben. 
Sie wiederholten aber auch ihm gegenüber mehrmals ihr Anerbieten, ſich bei 
der Bekämpfung der Ruſſen zu beteiligen. 

Endlich traf am 22. März die Nachricht ein, daß ein ftarfes ruſſiſches 
Korps unter dem General Komarow im Anmarfche gegen Uruſch Doſchan be- 
merft werde. „Die Saruf3 gerieten in Angjt und Sorge, und die Slapitäne 
Hate und Laefjon hatten alle Hände voll zu thun, um fie zu beruhigen und 
den Afghanen Rat zu erteilen. Am 25, erjchien die ruffiiche Streitfraft vor 
der Stellung der legten, die fich von Pul i Ehifti bis zu dem Hügel At Tepe 
ausdehnte. Ein Trupp von Tefereitern ritt von ruffischer Seite her vor, zog 
ji) aber zurüd, als die Afghanen euer zu geben drohten. Vom 26. bis 
zum 29, bemühten jich die Ruſſen eifrig, ihre Gegner dahin zu bringen, an: 
griffsweife gegen fie vorzugehen, während die britischen Offiziere alles, was in 
ihrer Macht ftand, thaten, fie durch Vorftellungen davon abzuhalten. Die 
Sarufs ihrerſeits wußten nicht recht, was fie bei diefer Lage der Dinge thun 
und lafjen follten, fie jchwebten fortwährend zwilchen ihrem Haß gegen die 
Ruſſen und ihrer Furcht vor denjelben. Die Afghanen, und zwar jowohl Die 
Dffiziere al3 die Mannjchaften, bewieſen einer höchſt umwürdigen Herausfor- 
derung gegenüber große Selbjtbeherrichung und Zurüdhaltung. Es war eine 
jehr angjtvolle Zeit. Einmal traten mehrere Aufjen und Turfmenen, anfjcheinend 
ohne Waffen, in eine Verſchanzung der Afghanen und zupften den dort be- 
fehligenden Offizier am Barte. Ein andermal galoppirte Alihanow mit einem 
Trupp von Tees durch die Vedetten und um den linken Flügel der Afghanen 
da3 Thal des Kaſchkfluſſes hinauf. Der afghanische General Gaus Eddin folgte 
ihm mit einem Regiment Kabulireitern und zwang fie dadurd) zur Umtfehr, 
ohne indes Gewalt anzınvenden. Zu derfelben Zeit rüdte ruſſiſches Fußvolk 
auf dem rechten Ufer des Margab vor und zog fich nicht eher zurüd, als bis 
der Naib Salar, der Oberbefehlshaber der Infanterie des Emirs, ſich ihr mit 
der legtern entgegenftellte und zu feuern drohte, wenn der ruſſiſche Offizier den 
Berfuch unternähme, feine Linie zu durchbrechen oder zu umgehen. Nachdem 
diefe Manöver der Ruſſen fehlgeichlagen waren, nahmen fie ihre Zuflucht zu 
anonymen Briefen, in welchen fie den General und den Gouverneur aufforderten, 





486 Die Ruffen in Zentralaflen. 


ohne Wiffen der Engländer mit ihmen zujammenzutreffen und zu verhandeln. 
Diefe Briefe fanden Feine Beachtung und wurden alle dem Kapitän Yate gezeigt. 
Am 26. hatte diefer Offizier mit Oberft Zafrfchewsti, dem Stabschef Komarows, 
eine Beiprechung, die jedoch zu feinem feiten Ergebnis führte. Am 29. fandte 
Komarow dem General der Afghanen cin Ultimatum zu, in welchem er ver- 
langte, derjelbe folle jeine Truppen vom linfen Ufer des Kaſchk und vom rechten 
Ufer des Margab bis zu der Stelle, wo jener in ihn mündet, zurüdzichen. 
Am 29. nachmittags hatte Mate wieder eine Zufammenkunft mit Zakrſchewski, 
in welcher jener auf die dreiften und herausfordernden Akte der ruffiichen Offi— 
ziere und Soldaten hinwies, wofür der Ruſſe feinen Grund und feine Entſchul— 
dDigung anzuführen wußte. Er jpielte nur [man vergefje nicht, daß unfre 
Darftellung hier ein Auszug aus englischer Quelle ijt] vage Behauptungen 
von afghanischer Inſolenz als Trümpfe aus, die jeden Grundes ermangelten. 
Er gab zu, da General Komarow von feiner Regierung Befehle erhalten habe, 
die ihn im Einflange mit dem zwijchen dem Petersburger und dem Londoner 
Kabinette vereinbarten Abfommen vom 16. März, nach welchem feiner der beiden 
Teile vorläufig über die bisherige Stellung hinausgehen folle, anwieſen, einen 
Zuſammenſtoß zu vermeiden. Als Pate darauf Hinwies, daß die ruffiichen 
Truppen Pul i Chiſti niemals bejegt gehalten hätten, und daß ihr Vorrücken 
nach diefem Punkte, das in Komarows Ultimatum lag, ein flagranter Brud) jener 
Übereinfunft fein würde, hatte Oberſt Zakrſchewski nichts darauf zu erwiedern. 
Mate jagte dann, der General der Afghanen fuche den Wünjchen Komarows 
dadurd) zu entjprechen, daß er jeine Vedetten zurüdzöge, und als Zakrſchewski 
äußerte, die ganze afghanische Aufftellung ſei eine Bedrohung des ruſſiſchen 
Lagers, wurde ihm mit dem Hinweiſe darauf geantwortet, daß die Afghanen 
Ichon deshalb feinerlei Angriffsmaßregeln beabfichtigen könnten, weil fie die 
Pferde der ruffiichen Kavallerie ruhig innerhalb ihrer Borpojtenfette grajen 
liegen. Nachdem Mate eine weitere Beiprechung mit Komarow vorgejchlagen 
hatte, endigte die Unterredung mit Zakrſchewski.“ 

Der General und der Gouverneur der Afghanen waren beide der Meinung, 
daß man einem weitern VBormarjche der Rufen mit Gewalt entgegentreten müffe, 
und zwar erjtens, weil jede Nachgiebigkeit auf afghanischer Seite das Signal 
für die Sarufs fein würde, zu den Ruſſen überzugehen, zweitens aber, weil 
nad) Räumung der Höhen im Weften von Pul i Chifti der Reſt der dortigen 
afghanischen Stellung unhaltbar fein würde. Am Morgen des 30. März erhielt 
der Naib Salar, der General der Truppen Abdurrachmang, einen zweiten Brief, 
der unter Drohungen das mit dem Ultimatum gejtellte Verlangen wiederholte, 
und bald nachher ging die ruffiiche Armee gegen die bei Pul i Ehifti ftehenden 
Aahanen vor. Dieſe gaben Feuer, wurden aber nad) tapferer Gegemwehr 
durch die Übermacht der Gegner erdrüct und zum Teil zufammengehauen, zum 
größern Teile zerſprengt. Sie verließen, joweit fie nicht gefallen oder in Ge— 


Die Rufen in Zentralafien. 487 


fangenjchaft geraten waren, in Eile ihr Lager und flohen ſüdwärts nad) 
Marudichat. „Die britischen Offiziere verblieben noch einige Stunden an Ort 
und Stelle. Kapitän Yate bot den Ruſſen bricflich die Dienjte Dr. Owens 
für die Verwundeten an, dann bat er um eine Unterredung und zu diejem 
Bwede um eine Esforte. Statt irgendwelcher Antwort reizten die Ruſſen die 
Saruks zu einem Angriffe auf das engliiche Lager an, und ein Häuptling der 
Turfmenen überbrachte dem englischen Kapitän die Stiefeln des afghanischen 
Generals mit den ſpöttiſchen Worten, fie jeien ein Gefchent General Komarows.“ 
Die Engländer befanden fich, als fie zunächſt den vertriebnen Afghanen folgten, 
auch diefen gegenüber in jehr übler Lage. Jene behandelten fie als die eigent- 
fichen Urheber ihrer Niederlage und des Verluſtes von Pendfchdeh, welches nad) 
derjelben von Komarow in Befi genommen wurde. Die afghanischen Beamten 
ließen ihnen mehrere Tage weder Lebensmittel noch Futter für ihre Pferde 
zufommen und entzogen ihnen fogar die Zeitungen und Briefe, welche die Poſt 
aus Herat für fie gebracht hatte. Man wußte eben noch nicht, wie der Emir 
die Vorgänge des 30. März auffaffe, und fürchtete feinen Zorn, den man dann 
auf die englifche Kommiſſion abzuleiten gedachte. Endlich erleichterte eine De- 
peiche aus Kabul ihre Herzen. „Was bedeutete, jagt darin jener hochfinnige 
Monarch), das Leben von ein paar hundert fterblichen Menjchen? Sind fie 
nicht allefamt jeßt im Paradiefe, wo fie im Genuſſe der Höchjten Freuden 
jchwelgen und von unvergleichlichen Huris mit nimmer endenden Liebfofungen 
getröftet werden? Ihr habt recht gethan, den Moskofs Widerjtand zu leisten, 
und ich lobe euch dafür.“ Von Stund an änderte ſich das Benehmen der 
afghanischen Beamten gegen die Briten, welche fie durch ihre Einmifchung und 
ihre Natjchläge, Hinter denen fein Entſchluß zu thatkräftigem Beiſtande ftehen 
fonnte, auf irrige Wege geführt hatten. 

Wir unterjuchen nicht, welcher von beiden Teilen in der Zeit zwischen dem 
16. und dem 30. März mehr gejündigt hat, jondern nehmen an, daß beide 
etwa gleichviel Werg am Rocken hatten. Die Politif und der Krieg haben 
nicht viel mit dev Moral zu jchaffen. Eins nur ift ficher: die Negierung, die 
hinter Komarow und Alichanow Stand, wußte, was fie wollte, die dagegen, in deren 
Auftrage Lumsden, Ridgeway und Hate handelten, war ebenſo unklar über ihr 
Biel ala machtlos in ihren Mitteln. E3 iſt nun noch zu zeigen, warum die Rufen 
fo begierig find, im Süden von Merw feiten Fuß zu faſſen, und warum es 
für England jehr nachteilig fein wird, wenn die Berhandlungen über die Sache, 
die noch ſchweben, dahin führen, daß Rußland ſich hier zwiſchen Herirud und 
Margab feitfegt. Die Wüfte füdlich der Dafe von Merw würde eine natürliche 
und ganz vortreffliche Grenze zwiſchen dem ruſſiſchen und dem afghanischen Ge: 
biete fein, eine jolche, die nur zu gut gegen Abfichten der Ruſſen auf das letztere 
und namentlich auf Herat wäre. Am Margab begegnet man zwiſchen Sulatan 
bis nach Saryjafi nicht einem Morgen anbaufähigen Landes. Die vegetations- 


488 Die Ruffen in Zentralaften. 


Iojen Sandhügel des Landes erjtreden fi biß hinab zum Rande des Waſſers. 
In der Umgebung von Saryjafi dagegen öffnet fi das Flußthal zu einem 
weiten Beden mit dem fruchtbariten Boden, welches einem aus der Wüſte im 
Norden heranzichenden Heere Getreide und andre Lebensmittel in Fülle liefern 
fönnte. Pendſchdeh ferner ift eine hochwichtige ftrategiiche Pofition. ES be— 
herricht die Straße, weldhe das Thal des Kaſchk Hinauf direft nach Herat führt, 
jowie die Routen, die über Kalah Welt und Bala Margab nad) Maimene 
laufen. Behalten die Ruffen, wie jegt vollfommen feftzuftehen jcheint, Pendſchdeh, 
jo ift wenigjtens der weitliche Teil des afghanischen Turkeftans von Herat ab— 
getrennt. Aber das ift noch nicht alles. Nördlich von Chaman i Bid, fünfzig 
englische Meilen jüdlich von Pendſchdeh, am Paſſe von Kaſchk, an dem von 
Zalfikar und am rechten Ufer des Herirud breitet ſich zwiſchen dem legtern und 
dem Kajchkfluffe eine waſſerloſe, unpaffirbare Wüſte aus, welche alle Kommuni— 
fation von recht? und links her ausſchließt. Die Ruſſen, welche die Abficht 
haben, in Zukunft, wenn ihre Eifenbahn nach Zentralafien fertig ift, zur Er— 
oberung Herats zu jchreiten, bedürfen einer ununterbrochenen Front, von der 
aus fie weiter operiren fünnen. Sobald fie fih Zalfikars, Afrobats und 
Chaman i Bids bemächtigt haben, ijt ihr Zweck erreicht. Das find die ftrate- 
giſchen Vorteile, nach denen fie bei den gegemmwärtigen militäriichen und diplo= 
matiſchen Manövern ftreben. Dazu kommt aber noch, dab die Turfmenenjtämme 
von Chahar Aimak unausbleiblic) nad) der Macht hin gravitiren werden, welche 
fich im Befige von Pendſchdeh befindet, und daß das ganze afghanische Turfeftan 
bis nach Chulm, Kandus und Mafari Scherif hin, durch die Bergfette des 
Hindukufh von Kabul und durch die ruffiichen Garnifonen im Nordweiten, 
zwilchen Margab und Herirud, von Herat getrennt, binnen kurzem eine Beute 
der Rufjen werden muß. Sie werden dann ihr mittelafiatiiches Reich bis an 
den Fuß des Hindukuſch und des Paropamijus ausgedehnt haben. Solche Er- 
gebnifje vertragen fich in feiner Weije mit dem Interefje Englands in Indien 
und ebenjowenig mit den Verjprechungen, welche man dem Emir gegeben hat, 
der die Engländer jet als unfähig, fie zu erfüllen, anjehen wird. „Wir waren, 
jo jagt der oben zitirte Berichterjtatter, mit Belümmernis Zeugen, wie die 
Epijode von Pul i EHifti und Pendſchdeh ung die Gemüter unſrer afghantjchen 
Bundesgenofjen entfremdete. Wir hörten, wie fie ausricfen, e8 fei die Pflicht 
Englands, ihnen Beiftand zu leiten, um dag dort angerichtete Gemegel rächen 
zu fönnen. Sollen wir eimwilligen, daß ihnen der Grund und Boden genommen 
wird, für den und auf dem jie ihr Blut vergofjen haben? Sollen wir die 
wertvollen Salzjümpfe von Nimakjau und die grünen, fruchtbaren Ebenen von 
Babdfis den Ruſſen überlafien? Es ijt faum zu glauben, aber noch jchwerer 
will uns der Gedanke in den Kopf, da nach allen Anjtrengungen Sir Beter 
Lumsdens, Oberjt Ridgeways und der andern Mitglieder dev Grenzkommiſſion 
den Ruſſen jchlieglich geftattet werden fol, eine Stellung zu behalten, die eine 


Die Rufen in Sentralafien. 489 





Itändig in der Flanfe umfaßt?“ 

Wir jagen dazu: gewiß wird das patriotifchen Briten ſchwer in den Kopf 
wollen. Äündern aber wird es fich nicht Laffen, auch wenn es den neuen Miniftern 
in London gelingen follte, den Ruſſen von ihrem letzten Gewinn in Mittelafien die 
eine und die andre Einzelheit abzuhandeln, und die Bedeutung jenes Gewinns 
wird ſich erjt recht ermefjen laffen, wenn in etwa vier Jahren die Eifenbahn 
vom Kaſpiſee bis an den Margab fertig fein wird. Inzwiſchen wird man 
ruffischerjeits wohl auch noch einige Lücken auszufüllen fuchen, welche das General- 
gouvernement Turfeftan am Amu Darja aufweift. Anzeichen davon find vor- 
handen, Vorbereitungen dazu getroffen. Trügt nicht alles, was von dort her 
berichtet wird, jo dürfen wir annehmen, daß das Werk der Vervollftändigung 
nicht lange auf ſich warten lafjen wird. 

Rußland will durch die Erwerbung der Daje Merw nicht bloß, wie ge- 
zeigt, Anfprüche auf Gebiete erlangt haben, die von England alg dem Emir 
von Afghaniftan gehörig betrachtet wurden, jondern auch folche auf gewifie 
Landftriche des Emirats Buchara, und wahrjcheinlich wird infolge defjen bald 
auch hier eine „Grenzregulirung“ in Gang gebracht werden und fich umſo 
rajcher vollziehen, al3 der Emir Mojafar jchon längſt von dem Willen des 
Seneralgouverneurs in Tajchfend abhängig ift und England hier feinerlei Necht 
hat, Einfpruch zu erheben. Der Beherricher der Bucharen befigt nämlich auf 
dem linken Ufer des Amu Darja eine Strede Landes, deren Ausdehnung etwa 
durch die Ortjchaften Kerfi und Chargui bezeichnet wird. Sein Eigentumsrecht 
in betreff derjelben iſt jedoch zweifelhafter, wenigitens proviforijcher Natur; 
denn die frühern Chane von Merw erhoben gleichfalls Anſpruch auf dieſes 
Territorium, es wurde zwifchen ihnen und den Bucharen mehrmals mit den 
Waffen darüber gejtritten, und zuleßt, vor etwa fünfundvierzig Jahren, einigten 
ji die Parteien dahin, die endgiltige Entſcheidung über den Beſitz zu vertagen 
und den Landftrich bis dahin bei Buchara zu belaffen; doc) jollten deſſen Be- 
wohner fortfahren, bejtimmte Abgaben nach) Merw zu entrichten. Jetzt hat 
Rußland, als Befiger von Merw zugleich Beliger von defjen Anfpruch, die da— 
mals vorbehaltene definitive Negelung der Sache angeregt, und es iſt nicht 
anzunehmen, daß Diejelbe zu gunſten des Emirs ausfallen wird. Ferner be— 
reijten ruffiihe Ingenieure im legten Jahre im Auftrage der buchariichen Ne: 
gierung den mittlern Lauf des Amu, um dort Punkte auszuwählen, die fich 
zur Anlage von Forts eignen. Diejelben jollen, wie fie verfichern, dazu dienen, 
afghanische Turkmenenſtämme von Einbrüchen in das Gebiet des Emirs Mojafar 
abzuhalten, in Afghaniſtan aber befürchtet man, daß fie Brücenföpfe für Übergänge 
ruffischer Truppen bilden jollen, da man fie für ſchwere Geſchütze einrichten will. 

Auch an Chiwa wird vermutlicd) bald die Neihe kommen, dem Zaren- 
reiche einverleibt zu werden. E3 iſt reif dazu und wird, da der Chan ein hab- 

Grenzboten III. 1885. 62 


490 Nordamerifanifhe Eifenbahnzuftände. 











füchtiger und graufamer Despot und infolge dejjen bei feinem Bolfe äußerſt 
unbeliebt ift, kaum Widerjtand gegen eine Aımerion leiften. Er thut nichts 
gegen die räuberiichen Tefinzen auf den Steppen feines Landes die von hier 
aus nad) wie vor gelegentlich) Razzias nach Gegenden jenjeitS der ruſſiſchen 
Grenze unternehmen und die Karawanenſtraße zwiſchen Krasnowodsk und Chiwa 
jehr unficher machen. Erſt vor zehn Monaten beraubten fie einen großen 
Transport ruſſiſcher Waaren bei Kungrad, ſodaß die Ruſſen dort für die Zu— 
kunft einen Koſakenpoſten aufitellten. Es fehlt alfo auch nicht an Anläffen, 
hier wieder eine Lücke zu jchliegen und einem unbequemen Nachbar das Lebens- 
licht auszublajen, das ohnedies jeit dem legten Striege mit Rußland nur noch 
fladerte, und da England auch hier rechtlich nichts dreinzureden hat, jo wird 
das feine große Mühe verurjachen. Rußland aber wird dann in Mittelafien 
in vecht befriedigender Weije abgerundet jein. 





Nordamerifanifche Eifenbahnzuftände. 


g ı einem vor etwa fünfundzwanzig Jahren veröffentlichten Lehr: 

I buche der Finanzwiſſenſchaft ftellte Umpfenbach die Behauptung 
auf, dab cin verfehrs- und fulturförderndes Element von jo 
2 großer Tragweite wie das Eifenbahnwejen nur dann in voller 
Ausdehnung Früchte tragen könne, wenn e3 als Staatgeinrichtung 
behandelt würde Er bezeichnete es einfach als Pflicht des Staates, ala 
Staatszwed jchlehthin, alle Eijenbahnen des Landes zu übernehmen. Lange 
genug hat es gedauert, bis diefer Gedanke allgemeine Anerkennung gefunden 
hat, umd ſelbſt heute, wo er in der Theorie mehr als je befürwortet wird, hat 
er noch verhältnismäßig jelten praktische Ausführung gefunden. Meiſt find es 
die territorial Heinern Länder gewejen, die dem guten Beijpiele, welches Belgien 
jchon jeit 1834 mit dem Ausbau eines Staatsbahnneges gab, gefolgt find, Baden, 
Hannover, Würtemberg, jpäter auch Baiern und Sachſen, während Preußen 
erſt in neuerer Zeit dazu gejchritten ift, die vorhandnen Brivatbahnen anzu— 
faufen. Außerhalb des deutjchen Neiches jcheint man noch geringere Neigung 
zu verjpüren, die Staatsverwaltung um diejes foloffale Verfehrsgebiet zu er— 
weitern, oder hält es da, wo vielleicht Luft dazu entjtanden ift, wegen des 
anjehnlichen Kapitals, das für den Ankauf erforderlich ift, zur Zeit nicht für 
möglich, derjelben Raum zu geben. 





Hordamerifanifche Eifenbahnzuftände. 491 





In Italien find allerdings etwa 64 Prozent aller Bahnen im Beige des 
Staates. Von den 5891 Kilometern aber, die ihm gehören, werden nur 4419 
auf eigne Rechnung betrieben. Ofterreich-Ungarn hat bei einem Nebe im Umfange 
von 19599 Stilometern nur 3920 Kilometer, Rußland von 23000 Kilometern 
nur 2294 Kilometer Staatsbahnen. In Frankreich, das ſich freilich das Heim: 
fallsrecht gegenüber den fonzejjionirten Privatbahnen gefichert hat, find von 
29489 Kilometern nur 4396 Kilometer ftaatliches Eigentum, und in Groß: 
britannien und Nordamerika herrjcht die Aftiengelellichaftsbagn unbedingt. 

Gerade in den leßtgenannten Ländern wird nun im neuerer Zeit außer: 
ordentlich viel über die Eijenbahnen geklagt. In mehr als einer Hinficht bieten 
fie Veranlaſſung zu den mannichfachjten Beſchwerden des fie benußenden Publi— 
fums, jeien dies Gejchäftsleute oder Privatperjonen, und in England und Ruf: 
land find durch amtliche Erhebungen, die in zahlreichen Bänden kürzlich an die 
Dffentlichkeit gebracht worden find, grobe Mifbräuche ermittelt worden. Kaum 
fann für die Kenntnis von „Eijenbahnzuftänden“ etwas lehrreicher fein als das 
Studium diefer Enqueten. Jedes Blatt derjelben beleuchtet die Syftemfrage 
„Staats oder Privatbahnen“ jo grell zu Ungunjten der leßtern, auf jeder 
Seite ift jo mafjenhafter Stoff, als erdrüdendes Berweismaterial für die Aus: 
beutung und Benachteiligung des Bublifums durch die Privatbahnen zuſammen— 
getragen, daß — wie ein neuerer Forſcher, dem man eine wertvolle Bearbeitung 
der englifchen Eifenbahnzuftände verdankt, fich treffend ausdrüdt*) — aus den 
verjchlungnen Einzelheiten heraus ſich nur eine einzige Löſung darbietet, daß 
wie mit taufend Fingern aus allen Wirrniffen und Klagen auf eine einzige 
Abhilfe gedeutet wird — auf den Staat ald den allein befähigten und be- 
rechtigten Ordner diejer Angelegenheit. 

Nicht beffer als in Rußland und Großbritannien gejtaltet ſich das Eifen- 
bahnmwejen in Nordamerifa, und es ift in hohem Grade lehrreich, von einem 
bewährten Sachfenner eine objektive Schilderung der dort eingeriffenen Mißſtände 
zu hören. Herr von der Leyen giebt in feinem Buche über diefen Gegenftand **) 
nicht nur den umfangreichen literarifchen Stoff kritiſch gefichtet wieder, jondern 
er fennt die amerikanischen Schienenwege auch aus cigner Anſchauung, und fo 
wird es Doppelt interefjant, von einem hochgeftellten preußischen Beamten, deſſen 
Blid für diefe Dinge durch die Praxis gejchärft it, ein Urteil über diefe 
Ent: und Verwicklung zu hören. Es ift die nmationalöfonomijche Seite der 
Eifenbahnen, die erörtert wird, während die techniiche, die faum über die Fach: 
freife hinaus Aufmerkſamkeit beanjpruchen fünnte, unberührt geblieben ift. Im 
übrigen handelt es fich nicht um eine jyftematische zufammenhängende Daritellung 
der Gejchichte und des heutigen Zuftandes der Eifenbahnen in den Vereinigten 

*) Guftav Eohn, Die engliſche Eifenbahnpolitit der letzten zehn Jahre. Leipzig, 1883. 

**) Die nordamerifaniihen Eijenbahnen in ihren wirtihaftliden und 
politifhen Beziehungen. Leipzig, Beit u. Comp, 1885. 


492 Nordamerifanifche Eif enbahn zuftände. 


Staaten von Nordamerika, jondern es ift eine freiere Form, bie der Berfaffer 
* hat. Jeder der loſe aneinandergereihten Aufſätze, aus denen das Buch 
beſteht, behandelt ein Thema für ſich, aber die Auswahl iſt jo glücklich und die 
Durchführung ſo geſchickt, daß jeder derſelben eine Seite der amerikaniſchen 
Mißwirtſchaft darſtellt. Jede Abhandlung erläutert dieſelbe in einer andern 
Richtung, und auf dieſe Weiſe erhält der Leſer ein farbenreicheres und bequemer 
aufzunehmendes Bild, als wenn er ſich durch langatmige trockne Auseinander— 
ſetzungen durchwinden müßte, die bei dem Erbauer der erſten Bahn etwa be— 
gönnen und bei der neueſten Phaſe, dem Siege des Eiſenbahnkönigs Jay 
Gould über unſern Landsmann Villard, aufhörten. 

So liefert die Geſchichte der Camden-Amboy- Frachtgeſellſchaft, d. h. der 
Eiſenbahn, die faſt vierzig Jahre lang die beiden Handelsſtädte Newyork und 
Philadelphia ausſchließlich verbunden hat, einen neuen Beitrag zu dem Kapitel 
der Ausbeutung des Publikums durch die Privatbahnen. In der alten Welt 
möchte ſich kanm ein derartiges charakteriſtiſches Beiſpiel dafür finden Tafjen, 
wie weit ein Eifenbahnmonopol ausarten kann, welches von Privatperſonen 
unter der Herrichaft einer jchwachen Staatsregierung ausgeübt wird. Das 
jchwierige Kapitel der Tarifpolitif erfährt in den Aufſätzen über die Lofaltarife 
der Eifenbahnen des amerifantichen Nordweitens und über „Eifenbahnfriege 
und Eifenbahnverbände* Beleuchtung. Es ift dabei namentlich die Kojtjpicligfeit 
der Benutzung auffallend. Der niedrigite Satz der amerikanischen Abonnements: 
billets, der jogenannten QTaufendmeilenbillets, ift beifpielsweie beinahe jo hoch 
wie der regelmäßige Preis der preußischen Perjonenbillets eriter Klaſſe. Wie 
weit ijt man jemfeits des großen Waſſers doch von der Verwirklichung des 
Gebührenprinzips, als der Richtſchnur für die Verwaltung der Staatsbahnen, 
entfernt! Ein grelles Schlaglicht auf die Gefährlichkeit und Gemeinſchädlichkeit 
einer engherzigen Tarifpolitit wirft die Erzählung von den vereinigten Mono: 
polen nordamerifanischer Privatbahnen und der Standard Oil Company, eines 
großen Petroleumgefchäftshaufes in den Staaten Newyork und Philadelphia, 
welches bis auf dem heutigen Tag das Petroleumgejchäft der ganzen Erde 
allein und ausschließlich beherrfcht und nach, feinem Gutdünfen leitet. v. d. Leyen 
jelbjt nennt fie eine grotesfe, für alle Zeiten merkwürdige Erfcheinung, ein 
lebendes Beijpiel der haarjträubenden Konſequenzen, welche eine verwerfliche 
Tarifpolitif nicht nur für das Publikum, fondern auch für die Leiter der Tarif- 
politif nach fich zieht. Wieder nach einer andern Richtung weist der Aufjat: 
„Die ftaatliche Aufficht über die Eifenbahnen,* ein weiterer Beleg für die Be- 
hauptung, daß mit einer bloßen Aufficht gegenüber den mächtigen Gefellichaften 
wie jie dieſe Aktienbahnen vepräfentiren, nichts gewonnen ift oder ausgerichtet 
werden kann. Kurz, jede der zehn Abhandlungen, für fich verjtändlich und in 
ſich abgefchloffen, betont einen Gefichtspunft befonders, und alle zufammen bieten 
eine erjchöpfende Darftellung von der ganzen Ausdehnung des Unweſens. 


, Nordamerifanifche Eifenbahnzuftände. 493 
Dan kann dem Buche, obgleich es die Syitemfrage gamicht im Hinblid 
auf die ſpezifiſch amerifanischen Zuftände berührt, nachrühmen, daß es zu dem 
Beten gehört, was je für die Staatsbahninterefjen gejchrieben worden iſt. So 
wirft allein die Schilderung der erjchredenden Folgen der vollkommnen Freiheit, 
welche die Privatbahnen geniehen. Vermutlich hat dem Verfaſſer diefe Tendenz 
ferngelegen, und er hat nur im Auge gehabt, die hochintereffanten amerikanischen 
Buftände bei uns befannt zu machen. Dennoch drängt auch fein Buch die 
Trage auf, die Schon Profeffor Cohn in feinem ebengenannten Werfe aufwirft: 
„Warum iſt im Heinen öffentlichen Verbande die Straße eine öffentliche Anſtalt, 
dagegen im großen Verbande nicht?” Welcher andre Grund kann dazu verans 
lafjen, wenn nicht die Mangelhaftigfeit des großen Verbandes? 

Soviel ijt allerdings ſicher, daß ohne die Privatinduftrie das Eijenbahn: 
ne der Vereinigten Staaten von Amerika heute jchwerlich die Ausdehnung 
gewonnen hätte, die es aufweift. Die Länge der Eifenbahnen der ganzen Welt 
beträgt gegen 450000 Stilometer, die der amerifanifche. enva 200000 Kilo: 
meter. Alſo befiten die Vereinigten Staaten beinahe ebenjoviele Eijenbahnen 
als die gejamte übrige bewohnte Erde. Das war kaum anders möglich als 
durch die Mitwirkung der etwa 1500 Erwerbögefellichaften, welche das er: 
forderliche Kapital auf ihre Gefahr aus eigner Tajche oder den Taſchen von 
Privatperjonen aufzubringen gewußt haben. Die Bedachtiamkeit einer Staats: 
regierung hätte es niemals geftattet, innerhalb eines fo kurzen Zeitraumes der— 
artig jchwerwiegende, die Zukunft belaftende Ausgaben zu unternehmen. Dafür 
jind aber auch infolge des jchnellen Wachstumes allerlei bedenkliche Verhältniſſe 
entjtanden. Mit der Befürchtung, daß eine Bevölkerung von etwa 50 Millionen 
Einwohnern, d. h. nur 5 Millionen mehr als das deutjche Reich hat, für ein 
jo großartiges Netz garnicht den gemügenden Verkehr beichaffen könnte, ge: 
winnt die Eijenbahnfrage eine völlig andre Phyſiognomie. Im der alten Welt 
denft man, wenn von einer jolchen die Rede ift, an das Publifum, an die Be- 
nutzer der Bahnen, die Kaufleute und Induftriellen. In Amerifa dagegen be— 
jteht daS railroad problem auch für die Eifenbahngejellfchaften ſelbſt, für 
ihre Leiter und Aktionäre. Die Freiheit des Bahnbaues hat eben einfach zu 
einer maßlojen Überproduktion geführt, die auf diefem Gebiete einen ähnlichen 
Kampf ums Dajein erzeugt wie auf andern. 

Wenn man Staat: und Privatbahnen mit einander vergleicht, jo iſt eines 
der am meiſten auffallenden Unterjcheidungsmomente die Art der Kapitalbeichaf: 
fung. Die Regierung weiß jich mit einer ungleich wirdigern Manier, als cs 
oft bei Aftienemijfionen der Fall ift, die erforderlichen Summen zu bejorgen. 
Gerade für die Wege, die eine ſich volljtändig jelbjt überlaffene Privatgejell- 
ſchaft einjchlägt, um zu ihrem Ziele — Einftreihung eines möglichit hohen Ge- 
winnes — zu gelangen, bietet Amerika außerordentlich charakteriftiiche Beiſpiele. 
Die Altiengeſellſchaft, die fich in Amerika zum Bau einer Bahn bildet, ijt durch 


494 Uordamerifanifhe Eifenbahnzuftände. 











nichts in ihrem Treiben gehemmt. Während die europäiiche Eifenbahngeje- 
gebung eine ganze Neihe von Beitimmungen enthält über die Höhe des erforder: 
lichen Kapitals, die Art der Aufbringung desjelben u. ſ. w, und von den zu 
konzeſſionirenden Geſellſchaften in diefer Hinficht beſtimmte Vorjchläge erwartet, 
fümmert fich die Staatsgewalt in der Mehrzahl der Vereinigten Staaten darum 
nicht. Nur injoweit find Vorjchriften erlafjen, als eine gewiſſe, freilich ziemlich 
niedrig bemefjene Zahl von Aktionären wirklich vorhanden, ein Teil des Aftien- 
fapital3 gezeichnet und ein Teil — der wiederum jehr niedrig gegriffen iſt — 
des gezeichneten Kapitals wirflich eingezahlt fein muß. 

Die Regierung verlangt feine Koftenanjchläge; es ift ihr gleichgiltig, wie 
die Gelder zum Bau aufgebracht werden, welche Richtung die Bahn einichlägt, 
wie viel Aftien und zu welchem Kurſe fie ausgegeben werden, ob das urjprüng- 
liche Aktienkapital erhöht wird. Diejes Vertrauen aber, das ihnen entgegen- 
gebracht wurde, haben die Gejellichaften nicht zu rechtfertigen gewußt. Vielmehr 
haben fie die Freiheit dazu benutzt, fich Dinge zufchulden fommen zu laſſen, 
die als eine entichiedne Schädigung der Gejamtheit angejehen werden müfjen. 
Da haben u. a., um dieje Behauptung mit einer Thatfache zu belegen, die Re— 
gierungen einiger Staaten die vorfichtige Anordnung getroffen, daß, wenn die 
Erträge der Bahnen fi auf mehr als zehn Prozent des jeweiligen Anlage: 
fapitals belaufen follten, eine Ermäßigung der Tariffäge eintreten müßte. Als 
num einige Bahnen fich in dieſer Yage befanden, verjpürten fie gar feine Neigung, 
ſich dieſe Schmälerung ihres Gewinns gefallen zu laffen, und erjannen cinen 
jehr einfachen Ausweg, ſich aus der Verlegenheit zu ziehen. Sie vermehrten 
unter irgendeinem VBorwande das Aktienkapital und ftellten die neuen Aktien 
den bisherigen Aktionären entweder unentgeltlich oder zu jehr niedrigem Kurje 
zur Verfügung. Damit war dann die Einnahme von mehr als zehn Prozent 
angeblich hinfällig geworden. Als Gründe zur Erweiterung des Anlagelapitals 
wurden angeführt etwa die Notwendigkeit eines Baues von Ergänzungsitreden 
oder eines zweiten Geleifes, die Behauptung, daß das uriprüngliche Aktienkapital 
zu gering bemefjen geweſen jei, u. a. m. Jedoch war die Fadenjcheinigfeit diejer 
Vorwände jo flar, daß man für diefen Vorgang eine eigne Bezeichnung erfand, 
indem man ihn watering the stock — Verwäſſerung des Aktienfapital® — nannte. 

Bei allen Vorteilen, die diefer Ausweg bot, war er immerhin ein etwas 
umftändliches Mittel. Schließlich) konnte die Negierung es ſich doch ernitlich 
verbitten, daß ihre Gejege in diefer Weije umgangen würden, und unbequeme 
Kollifionen waren möglich. Daher wandte man ein neues Verfahren an. Man 
bemaß das Baufapital möglichjt hoch, lic aber dasjelbe von den Aftionären 
garnicht oder nur zu einem geringen Bruchteile einzahlen und baute mit Hilfe 
von Prioritäten, jogenannten Bonds. Für eine Bahn von hundert Meilen Länge 
wurde bei Annahme der Koften von 25000 Dollars pro Meile ein Aktienkapital 
von 2500000 Dollars in Augficht genommen. Davon wurde ein Prozent wirk- 


Nordamerifanifhe Eifenbahnzuftände, 495 





lich eingezahlt, d. h. 25000 Dollars, und gleichzeitig wurde eine Anleihe in der 
Höhe des Baufapital® gemacht. Jeder Zeichner einer Obligation befam die 
gleiche Summe in Aktien umjonft, und das geſamte Aktienkapital oder we: 
nigjten ein großer Teil desjelben hatte auf diefe Weife nur filtiven Wert. 
Auch Geſchenke in Aktien vonfeiten der Gründer an Gemeinden, Korporationen 
und Behörden, welche ihmen mütlich geweſen waren oder e8 vorausfichtlich jein 
fonnten, famen vor. Unter jolchen Umſtänden vechnete natürlich niemand auf 
eine Dividende der Stammaltien, und die Verwaltung der Bahn war froh, wenn 
der Ertrag ſoviel abwarf, daß die Zinjen der Obligationen — ſechs bis fieben 
Prozent — bejtritten werden konnten. Die Aktien aber, die den erjten Aftio- 
nären jo gut wie nichts gefoftet hatten, wurden auf den Markt gebracht und 
fanden bei gehöriger Anwendung der Reklametrommel auch Abſatz. Das ging, 
fofern die Bahn ſich einigermaßen rentirte, ganz gut. Wurden dagegen die 
Zeiten jchlecht, janfen die Erträge, fing die Zinszahlung für die Obligationen 
an, Schwierigkeiten zu bereiten, jo krachte das ganze Kartenhaus zujammen, und 
die Aktien verjchwanden für immer oder mußten wenigſtens für einige Zeit vom 
Schauplage abtreten. v. d. Leyen giebt an, daß von 2093 Millionen Dollars, 
um welche in den Jahren 1881 bis 1883 das Anlagefapital dem Nennwerte 
nach vermehrt worden ift, nicht weniger ald 1200 Dillionen Dollars derartig 
fingirte Werte darjtellten. 

Diefer Gründungsfchwindel, zufammengehalten mit dem unheilvollen Ein- 
flufje, den ein Kleiner Teil der Aktionäre oft auf die Verwaltung zu gewinnen 
weiß, bat das abfolute jelbjtherrliche Eijenbahnkönigtum geichaffen, das den 
Vereinigten Staaten eigentümlich it. Bei den Generalderfjammlungen gewährt 
eine Aktie auch eine Stimme. Es giebt ferner völlige Freiheit in der Stell- 
vertretung, und diejenige Partei oder Perſon, welche eine Aktie mehr als Die 
Hälfte aller vorhandnen befitt, hat meift die gejamte Verwaltung in ihrer 
Hand. Ohne jedes Bedenken wird dies dann ausgenußt, die Partei wählt ihre 
Mitglieder in den Verwaltungsrat, ſtellt die ihr ergebnen Perjonen als Be: 
amte an und leitet das Unternehmen jo, wie es ihr gerade paßt. So ift es zu 
erklären, daß einzelne veich begüterte und mächtige Berjönlichfeiten immer Höher 
und höher geitiegen find, daß jchließlich ihrem Szepter ſich alles beugt. Zwei 
der mächtigiten ſolcher Eifenbahnkönige find im Oſten William VBanderbilt, der 
Befiper der New: Norf Central: und Hudjon- River-Eifenbahn, und im Wejten 
Jay Gould, der Haupteigentümer des Syſtems der ältern pazifiichen Bahnen, 
gleichzeitig aud) der Beherrfcher der größten Telegraphengejellichaft. Man jtelle 
ji) vor, daß der leßtgenannte mit einigen Genofjen Gebieter über ſieben ver- 
ſchiedne Eiſenbahnunternehmungen mit zufammen 32800 Kilometern ift, daß er 
auch an den Eijenbahnen in Mexiko ftarf beteiligt ift und viele der in den öft- 
lichen Staaten gelegnen Eiſenbahnen, beiipielsweije die Newyorker Hochbahnen, 
mit verwaltet! 





A096 Uordamerifanifche Eifenbahnzuftände. 





Nicht minder gefährlich find die VBerjchmelzungen ftärferer und fchwächerer 
Bahnugeſellſchaften. Wenn ſchon einzelne Privatperjonen eine jo mächtige Stellung 
erringen fünnen, um wie viel mehr müfjen die Befürchtungen fich fteigern im 
Hinblid auf die Möglichkeit einer Verbindung der einzelnen Aktiengejellichaften 
unter einander. Es entjtehen dann leicht Staaten im Staate, wie man gejagt 
hat, und gewiß ift ein Teil der vorhandnen Unzuträglichfeiten im englijchen 
Eifenbahmwejen gerade auf den Umftand zurüdzuführen, daß es vier große 
Kompagnien find, welche die Fäden des Verkehrs in den Händen halten. In 
Frankreich find es jechs große Gejellichaften, von denen alles abhängt, und 
wenn, wie erwähnt, in den Vereinigten Staaten allerdings die Zahl der Aftien- 
gejellichaften, welche Eifenbahnen gebaut haben und noch bewirtichaften, eine 
anfehnliche it, jo gehören gleichwohl Fufionen dort nicht zu den Seltenheiten, 
und man weiß durch Berbände und Verträge ſich manche Vorteile zu fichern, 
die nicht immer für das Publifum zu folchen werden. So iſt die mächtige 
New York Central and Hudson River Railroad, eine der wichtigiten Bahnen für 
den Verkehr von Newyork nach den großen Seen hin, durch Vereinigung einer 
ganzen Anzahl feiner Bahnen entjtanden, und das mächtige Syitem der Ver- 
einigten Bahnen von Pennfylvanien hat den gleichen Urjprung. Eine andre, 
weniger auffällige, vielleicht aber Deshalb umſo bedauerlichere Form der Ver: 
einigung iſt der Erwerb eines jogenannten controlling interest bei einer 
andern Geſellſchaft. Darunter verſteht man „den Erwerb foviel ftimmberechtigter 
Aftien eines andern Unternehmens, daß der erwerbende Unternehmer über die 
Mehrheit der Stimmen in der Generalverjammlung des «fontrolirten» Unter: 
nehmens verfügt, jomit die Verwaltung desjelben nach feinem Belieben leiten 
und dabei eine Perſonalunion in der Leitung der verfchiednen Unternehmungen 
herbeiführen kann.“ Much Pachtungen einer Bahn durch die andre fommen 
vor, die fogenannten leases; nicht jelten auf die Dauer von 99 Jahren, was 
jelbjtverftändlich alsdanı nur eine verjchleierte Eigentumsübertragung ift. 

Weniger gefährlich follen die Eifenbahnkartelle fein, die unter dem Namen 
pools befannt find. Diejelben beabfichtigen die Transporte einer beftimmten 
Gegend unter alle die Bahnlinien, die für diejelbe in Betracht kommen können, 
gleichmäßig oder in einem gewifjen bejtimmten Berhältniffe zu verteilen. Im 
Publikum herricht ein Vorurteil gegen die pools, die Anficht, daß diefe es mit 
den Benugern der Bahnen nicht gut meinen. Jedoch wird von jehr verjtändiger 
amerikanischer Seite behauptet, daß die Organijation der pools jo wenig ehren: 
rührig fei, wie die deutjchen oder europäischen Eijenbahnverbände und Verträge, 
die für den internationalen Verfehr von größtem Nuten und unentbehrlich find, 
Die Schilderung, die v. d. Leyen in dem Auffage „Eijenbahnfriege und Eijen- 
bahnverbände“ von der Thätigfeit des unter dem Präſidium eines Deutjchen, 
Colonel Albert Fink aus Darmjtadt, bejtehenden Joint Executive Committee 
entwirft, ijt denn auch dazu angethan, diefe letztere VBorftellung zu unterjtügen. 


Xordamerifanijhe Eifenbahnzujtände. 4097 
Diefe, aus dem im Volksmunde als Trunk Line Pool befannten großen Ber: 
bände der fünf oftweitlichen Hauptbahnen (Trunk Lines*) jchlichlich nach) mehr: 
jährigen Vereinigungsverjuchen im Jahre 1878 bervorgegangne Organijation 
umfaßte anfangs zwanzig, jpäter vierzig Eifenbahngejellichaften und hat un- 
zweifelhaft jegensreich gewirkt, wie ausführlid, bei v. d. Leyen nachzulejen ift. 
Dennocd tritt auch bei ihr das VBerhängnisvolle des Brivatbahneniyftems wieder 
jehr deutlich hervor, denn auf die Dauer hat fie fich nicht halten fünnen. Nach- 
dem fie 1878 bis 1883 ruhmreich gewirft hatte, brachen im Jahre 1884 aufs neue 
Zariffriege aus, die vermutlich zur Auflöfung des Joint Executive Committee 
führen werden. Wenigſtens hat Colonel Fink den Vorſitz niedergelegt. Wie 
verwüjtend und vernichtend dieſe Kämpfe um die Beforgung der Transporte, ſei 
es von Perſonen oder von Gütern, fich zeigen, beweift die Thatjache, daß man 
im Sabre 1884 Wochen lang für einen Dollar von Newyork nad) Chicago, 
eine Entfernung von 1400 Stilometern, fahren konnte, und daß auch die Frachten 
nicht entfernt zur Dedung der Selbitkoften ausreichten. 

Diefe und andre Schattenfeiten eines durch Privatgejellichaften geleiteten 
Eiſenbahmweſens haben auch in den Vereinigten Staaten auf den Ausweg ge 
führt, welchen die Anhänger des Privatbahniyftems in der alten Welt gleich- 
fall® befürwortet haben. Man unterwarf nämlich die Privatbahnen einer an: 
geblich jtrengern Oberaufficht des Staates und einer Gejeßgebung, welche die 
Mipftände zu verhindern jucht. ES wurde oben erwähnt, wie wenig die Gejeß- 
gebung im gegebnen Falle rejpeftirt werde, und um garnichts beffer verhält es 
ji) mit den Auffichtsbehörden, welche einzelne Staaten ins Leben gerufen 
haben, in der Hoffnung, diefelbe von einer bundesftaatlichen Oberauffichtsbehörde 
gekrönt zu jehen. Während die erjtern die innerhalb der Einzeljtaaten gelegen 
Bahnen überwachen follten, war der letztern die Aufgabe zugedacht, fich mit 
der Regelung des zwifchenftaatlichen Verkehrs zu befaffen. 

Ähnliche Beſtrebungen verfolgt man feit Jahren in England. Seit dem 
Sahre 1873 giebt es dort ein Eijenbahnauffichtsamt — die fogenannten Railway 
Commissioners. Aber es ijt Thatjache, daß dieje Behörde jogut wie garnichts 
geleiftet hat. Jeder Gejchäftsmann hütet fich, vor derjelben eine Klage gegen 
die Eifenbahngejellichaften anzuftrengen, weil er dann für immer ein „Gezeich— 
neter” — a marked man — tft, und felbft das Striegsdepartement Ihrer britischen 
Majeität hat, laut feiner eignen Erklärung vor der Enquetekommiſſion, die 
Scheu nicht überwinden können, gegen die Bahngejellichaften zu klagen — „weil 
es fo viel mit denfelben zu tun habe.“ Die Übermacht der Eifenbahnen, die 
jeden mit Strafe bedrohen, der ſich wider ihre Verfügungen auflehnt, ift eben zu 
groß, als daß die Auffichtsbehörde eine erjprießliche Wirkſamkeit entfalten könnte. 


*) Es find gemeint die New York Central and Hudson River Railroad, die Pennsylvania 
Railroad, die New York Lace Erie and Western Railroad, die Baltimore and Ohio Railroad 
und die Grand Trunk Railroad of Canada, 

Grenzboten III. 1885. 63 





498 Mordamerifanifche Eifenbahnzuftände. 

Diejelben Erfahrungen macht man in den Vereinigten Staaten, wo übrigens 
die Auffichtsämter noch nicht jehr verbreitet find — erjt in zweiundzwanzig von 
den achtumddreifig Unionsftaaten beitehen fie — und wo von dieſen jelbjt die Ein- 
jegung einer bumdesftaatlichen Aufjichtsbehörde als ein „heroifches, beinahe ver- 
zweifeltes Mittel“ gelegentlich befämpft wird. Ihre Befugniſſe find insbeſondre 
in den öftlichen Staaten nicht weitreichend; fie jollen mehr durch fanfte Über: 
redung und Vermittlung als durch Zwang und Strenge Übelftände zu bejeitigen 
fi) bemühen, und da, wo wie z. B. im Staate Maſſachuſetts wirkliche Erfolge 
erzielt worden find, werden dieje als „eine vereinzelte, auf bejondern Verhält— 
niffen beruhende Erjcheinung“ hingeſtellt. Aber jelbit in Mafjachufetts, das 
im ganzen von den verderblichen Auswüchjen der reinen Privatbahnpolitif 
verjchont geblieben ift, werfen die Berichte der Behörde, wie v. d. Leyen im 
einzelnen zeigt, gerade feine günftige Beleuchtung auf die Eifenbahnen, laſſen 
u. a. die Betriebsficherheit als nicht über alle Zweifel erhaben ericheinen. Und 
in Neivyorf, wo allerdings das Auffichtsamt erjt eine zweijährige Exiſtenz auf: 
weist, troßdem aber fich jehr anerfennend über das Gejeh, dem es feine Be- 
gründung verdankt, und dejjen Folgen äußert, möchte nach den von v. d. Leyen 
mitgeteilten Proben der Schluß, daß es mit den Eifenbahnzuftänden wejentlich 
beſſer geworden jei, ein voreiliger jein. Der Wille der Aufjichtsbehörden ift 
gut, aber der Widerftand der Bahnen, bald aktiv, bald paffiv, läßt nur geringe 
Erfolge reifen. So bringt denn die amerikanische Erfahrung einen neuen Beleg 
für die Unhaltbarfeit des Vorjchlages, mit Auffichtsbehörden mächtige Aftien- 
gejellichaften zu einem das Publikum mit gehöriger Rückſicht behandelnden Ver— 
fahren anzuhalten. „Bei einfachen, normalen Berhältniffen, jagt v. d. Leyen 
(S. 175), fann ein ftaatliches Auffichtsamt in Kleinen Dingen nüßlich wirken. 
In dem Weſen der Sache, der großen Aufgabe, die Eifenbahnen zu Dienerinnen 
des allgemeinen Verkehrs zu machen, fie anzuhalten zu einer dauernden, wahr- 
haft gemeinnüßigen Wirfjamfeit, können Aufjichtsbehörden den mächtigen Eiſen— 
bahıgejellichaften gegenüber fo gut wie nichts ausrichten, nicht in England, noch 
viel weniger in den Vereinigten Staaten von Amerika.“ 

Nur an einige Punkte in dem reichen Inhalte des intereffanten Buches 
fonnte hier angefnüpft werden. Wer noch nicht überzeugt ift von den Seg— 
nungen des Staatsbahnwejens, der leſe bei v. d. Leyen nach, was für Zuftände 
fich bei der Freiheit des Eijenbahnwejens ausbilden. Da England, Rußland, 
Amerifa auf diefem Gebiete übereinftimmende Erjcheinungen zeigen, möchte man 
faft Hinzufügen: zu welchen Zuftänden naturgemäß die jchranfenlofe Freiheit 
Beranlaffung bieten muß. 








Strafen und Strafabmefjung. 


ag ie von dem Kaiſerlichen Statijtiichen Amte herausgegebene „Kris 
FA minaljtatiftit für das Jahr 1883* ijt Fürzlich erjchienen. Ihr 
leingehendes Studium bietet nicht bloß für den Kriminaliſten eine 
N Fülle intereffanter Daten, jeder Gebildete, dem die Sittlichkeits- 
| Nzuſtände in unjerm Volke der Beachtung wert erjcheinen, wird 
aus den mitgeteilten Zahlen jo manches Ergebnis herausfinden, das überraſcht 
und ihm neue Gefichtspunfte eröffnet. Beſonders bemerfenswert erfcheint die 
diesjährige Kriminalftatiftit deshalb, weil zum erjten male für das ganze Reich 
ein Vergleich mit den entjprechenden Zahlen des Vorjahres möglich ift. Hier: 
durch wird es erjt möglich, eine fichere Grundlage für die aus den Ergebnifjen 
der Statiftif zu ziehenden Schlüfje zu finden, denn, wenn es gewagt ift, aus 
den für ein Jahr ermittelten Zahlen jofort auf die Eriminellen Zuftände eines 
Landes zu schließen, jo wird es doch jchon erlaubt fein, dann, wenn diejelben 
Erjcheinungen in zwei aufeinander folgenden Jahren wiederfehren, zu folgern. 
daß den gleichen Erjcheinungen gleiche oder ähnliche Urſachen zu grunde liegen, 

Die erjchienene Statiftit Hat nicht alle ftrafbaren Handlungen zum Gegen: 
Itande, bezüglich deren im Jahre 1883 ein Strafverfahren ftattgefunden hat. 
Es find von ihr ausgejchloffen geblieben alle jtrafbaren Handlungen, über 
welche nicht von dem ordentlichen Gerichten entfchieden worden ift (u. a. die von 
den Militärbehörden abgeurteilten, die durch Strafbeicheide der Polizei-, Ver— 
waltungs- und Steuerbehörden erledigten Handlungen). Bon den zur Zuftändig- 
feit der ordentlichen Gerichte gehörenden Strafjachen find nicht zum Gegenjtande 
der ftatiftifchen Erhebungen gemacht worden: a) alle Übertretungen, d. h. die 
nur mit Haft oder mit Gelditrafe bis 150 Marf bedrohten Handlungen — 
weil bei der großen Zahl folcher Vergehen das am den weitaus größten Teil 
diefer geringfügigen Strafthaten ſich knüpfende friminalftatiftiiche Intereffe zu der 
durch ihre ftatiftiiche Bearbeitung verurjachten Mühewaltung in feinem Ver: 
hältnis ftchen würde; b) Verbrechen gegen Landesgejege — weil bei dem ver: 
Ihiednen Umfange des in den einzelnen Bundesstaaten neben dem Strafgeſetz— 
buche bejtchenden LandesstrafrechtS und bei der Verjchiedenartigfeit, mit welcher 
die einzelnen Landesgeſetze gewiſſe jtrafbare Handlungen desjelben oder ähn- 
lichen Charakters (z. B. Forftdiebftahl) bald ala Vergehen, bald als Übertretung 
qualifiziven, durch die Berüdfichtigung der nach Landesrecht jtrafbaren Hand: 
(ungen die Einheitlichfeit der Statiftif beeinträchtigt worden wäre; c) Zumider: 
handlungen gegen die VBorjchriften über die Erhebung öffentlicher Abgaben und 
Gefälle — weil diejelben bereits den Gegenjtand einer befondern Statiſtik bilden. 





uU Strafen und Strafabmefjung. 





Bei A beutfchen Amtsgerichten und Sanbgerichten waren im Jahre 1883 
1851245 Strafjadhen anhängig. Von dieſer Gefamtzahl find nicht Gegenitand 
der Statiftif, weil unter die oben aufgeführten Ausnahmen fallend: 1432480, 
d. h. 77,38 Proz. aller gerichtlich entſchiednen Strafjadhen. Setzt man von 
dem hiernach für die Statijtif verbleibenden Teile von 22,62 Proz. noch den 
auf Vergehen gegen die Gejege, betreffend die Erhebung der Reichsjleuern 
und Zölle, fowie auf Verbrechen und Bergehen gegen Landesgejege fallenden 
Bruchteil ab, jo ergiebt ſich als Reſt für die Kriminalftatiftif 20,5 Proz. gegen 
19,01 Proz. im Jahre 1882. Aus diejer nur unbedeutenden Erhöhung des 
Bruchteils wird der Schluß gezogen, daß 1883 wie 1882 ungefähr ein Fünf- 
teil aller durch die ordentlichen Gerichte entjchiednen Straffälle in der vorlie- 
genden Kriminalftatijtit Berücdjichtigung gefunden hat. 

Im ganzen Reiche hat fich die Zahl der rechtskräftig abgeurteilten Ver: 
brechen und Vergehen gegen Reichsgeſetze um ein kleines (3 Proz.) vermehrt. 
Am ftärkiten beteiligt an diefer Vermehrung find die Oberlandesgerichtsbezirfe 
Köln (+ 12,8 Proz), Zweibrüden (-+ 11,3 Proz.) und Kolmar (+ 10,9 Broz.), 
aljo der äußerste Weſten Deutichlands. Eine befonders große Verminderung 
fällt — abgejchen von den beiden kleinſten Bezirken, Braunjchweig (— 13,6 Proz.) 
und Oldenburg (— 17,6 Proz.) — auf Königsberg (— 9,2 Proz.). 

Greift man aus den einzelnen gezählten Handlungen diejenigen heraus, von 
welchen in jedem der beiden Jahre 1882 und 1883 mehr ald 30000 ben 
Gegenſtand einer rechtskräftig gewordenen Entjcheidung bildeten, jo fielen 


> 
auf Handlungen: 1883 Bro;.: 1882 Proz.: 
1. Diebftabl (einfachen und fhiweren) . . . 141729 30,1 30,8 
2. Beleidigung - > 2 > 2 20. 2.579853 12,3 12,3 
8. Unkerkhlegum : -  » 2 2 2 ne. 37368 8,0 6,9 
4. Sefährlihe Körperverlepung » » . . .» 35180 7,5 7,3 
DS ERTEE: 23 re ee a a 9 .. 30721 6,5 6,7 
zufammen: 302081 GA 64,0, 


auf alle übrigen Berbrechen und Bergehen gegen Reichsgeſetze hingegen nur 
167 235 Handlungen, d. h. 35,6 Proz. im Jahre 1883 gegen 36 Proz. im 
Jahre 1882. 

Der Prozentjag der Verurteilungen — gegenüber den- auf Freiſprechung 
oder Einftellung des Verfahrens lautenden Entjcheidungen der Gerichte — be- 
trug, gezählt nach 


Handlungen: Perjonen: 
1882 1883 1882 1883 
Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgeſetze — 81,8 81,7 35,83 88,1 
Diebftahl und N a a 84 88,3 85,6 85,8 
Beleidigung . . . ee m SUB VO 76,0 75,8 


Körperverleßung . De era ca .... 85,0 8854 807 812. 


Strafen und  Strafabmefjung. 501 


Der —— be BVerurteilungen betrug 1883: 1882: 
bei den ftrafbaren Handlungen gegen Staat, Religion und 
öffentlihe Ordnung . -» . . . 00 .00.. 88,48 87,98 
bei den jtrafbaren Handlungen gegen bie Berfon 202 31,82 82,08 
bei den jtrafbaren Handlungen gegen dad Bermögen . . . 85,93 86,27 
bei den Berbrehen und Bergehen im Amt . 2 2.2... 85,26 89,00. 


Intereſſant ift weiter die durch Zahlen belegte Feititellung, daß ſowohl 
1883 wie 1882 überhaupt etwa ein Vierteil, bei Vermögensvergehen nicht ganz 
ein Dritteil aller Verurteilten mit Freiheitsitrafe fchon vorher beitraft war. 

Zur gerichtlichen Enticheidung wurden im ganzen Reiche gebracht: 

Handlungen: Berjonen: 
1882 1888 1882 1883 
Berbrechen und Vergehen gegen NEE — 
a) Entſcheidungen überhaupt . .  .. 456240 469718 408284 403657 
b) auf Berurteilung lautende . . - » 2... 389289 388611 3209688 329750. 


Hierzu wird bemerkt: Bezüglich der Verbrechen und Bergehen überhaupt 
zeigen jowohl die Handlungen als die Berjonen im Jahre 1883 gegen das 
Vorjahr eine Vermehrung in den abjoluten Zahlen. Diejelbe ift aber bei den 
Perjonen jo gering, daß im Verhältnis zu der gejtiegenen Bevölferungszahl ſich 
für 1883 eine fleine Verminderung, aljo eine um ein geringes günftigere Zahl 
ergiebt. Dagegen zieht die jtärfere Steigerung der Zahl der Handlungen aud) 
höhere relative Zahlen nach fich. Es berechnen fich mehr Verbrechen und Ver: 
gehen auf die Einwohnerſchaft; die Gefährdung derjelben ſcheint aljo in ber 
Art zugenommen zu haben, daß von einer Fleinern Anzahl von Perſonen mehr 
jolher Handlungen verübt wurden. Man braucht jedoch diefe verhältnismäßig 
ftärfere Zunahme der Handlungen nicht in innern, in der Bevölkerung, bezichent: 
lich dem Verbrechertnm Tiegenden Gründen zu juchen, jondern faun fie darin 
jehen, daß zufolge der bei der Bearbeitung gemachten Erfahrungen die Angaben 
über die Handlungen fich verbefiert haben. Dieje VBerbefjerung bezieht jich auf 
die Gemeinfchaftlichkeit der Strafthaten und läuft darauf hinaus, daß im 
Sahre 1883 mehr Handlungen gezählt worden find, die Zunahme derjelben aljo 
eine nur jcheinbare iſt. 

Die ungünſtigſten Stellen, ihren Kriminalitätzziffern nach, nehmen die öſt— 
lichen Landesteile längs der ruffiichen Grenze ein. Die günftigsten Ziffern haben 
Bezirke des Weitend — Trier und Hachen —, des Nordweftens — Herzogtum 
Dfdenburg, DOsnabrüd, Münfter, Minden, beide Lippe, Walde — und des 
Nordens — Schleswig und beide Medlenburg. Eigentümlich ift, ebenjo wie 
im Borjahre, die ungünftige Stellung der Nheinpfalz und der beiden ſchwarz— 
burgiichen Fürftentümer inmitten von Bezirken mit weit günftigeren Zahlen, 
und anderjeitS treten mit auffallend günftigen Ziffern auch 1883 wieder Die 
Pezirke Sigmaringen, Baden und Mosbach aus ihrer Umgebung heraus. Bon 


502 Strafen und Strafabmeffung. 





den Veränderungen gegen das Vorjahr ift die bedeutend ungünjtiger gewordene 
Stellung des Eljaß, ſowie die bedeutend verbefjerte des Herzogtums Oldenburg, 
Anhalts und des Staates Lübeck hervorzuheben. Hierbei fällt der auferordent- 
lic weite Abjtand auf, der die ungünftigiten von den günjtigiten Verhältnis: 
zahlen trennt. Während 3. B. im Bezirfe Königsberg auf 100000 über zwölf 
Jahre alte Einwohner 1432 Verurteilte famen, waren e8 im Bezirke Minden 
nur 436, aljo etwa ein Dritteil, auf 100000. 
Bei den Berbrechen und Vergehen gegen Neichgejege überhaupt kamen 


auf 1000 jtrafmündige auf 100 
männliche Ginwohner weibliche Einwohner männlidye Berurteilte 
im Jahre: männliche Berurteilte: weibliche Berurteilte: weibliche : 
1882 17,14 3,80 23,4 
1383 17,03 3,81 237. 


Es ift aljo eine jo gut wie vollfommene Übereinftimmung in den Verhältnis- 
zahlen beider Jahre vorhanden. Indeſſen ift die Fleine Abnahme, die in der 
Striminalitätsziffer im allgemeinen jtattgefunden Hat — im Jahre 1882: 10,28, 
im Jahre 1883: 10,23 Verurteilte auf 1000 Einwohner —, lediglich beim 
männlichen Gejchlechte bemerkbar. Ber den einzelnen Vergehensarten zeigt Die 
Kuppelei ein großes Überwiegen der weiblichen Verurteilten, bei den andern 
wird die größte Annäherung erreicht bezüglich der Hehlerei, an diejer zeigt das 
weibliche Gejchlecht einen mehr als dreimal jo ftarfen Anteil wie an den Ver— 
brechen und Vergehen überhaupt. Während die Zahl der weiblichen Berurteilten 
nur den vierten Teil der jämtlichen Berurteilten überhaupt beträgt, iſt die Zahl 
der wegen Hehlerei verurteilten weiblichen Perſonen nahezu drei Bierteile 
(73,3 Proz.) der wegen desjelben Vergehens verurteilten männlichen Perjonen. 

Bon 100 der in den Jahren 1882 und 1883 wegen Verbrechens und Ver: 
gehens verurteilten gehörten ihrem Berufe nach an: 1. der Land: und Forſt— 
wirtichaft, Jagd und Fiſcherei: a) als Selbjtändige und Gejchäftsleiter: 5,70 
und 5,57, b) als Gehilfen, Arbeiter, Tagelöhner: 15,66 und 21,62, c) Ange- 
hörige: 2,61 und 3,45; 2. Induftrie, Bergbau und Bauweſen: a) Sclbjtändige 
und Gejchäftsleiter: 7,14 und 7,24, b) Gehilfen, Arbeiter und Tagelöhner: 
23,66 und 24,87, c) Angehörige: 4,05 und 4,20; 3. Handel und Verkehr: 
a) Selbftändige und Gejchäftsleiter: 5,17 und 4,97, b) Gehilfen, Arbeiter, 
Tagelöhner: 3,27 und 4,12, ce) Angehörige: 1,11 und 1,07; 4. Urbeiter, Tage- 
löhner ohne Angabe eines bejtimmten Erwerbszweiges: a) Erwerbsthätige: 16,88 
und 11,49, b) Angehörige: 3,45 und 2,22; 5. Dienftboten für Häusliche Zwecke: 
a) Erwerbsthätige: 3,16 und 2,46, b) Angehörige: 0,07 und 0,07; 6. öffent- 
liche und Hofdienfte, jogenannte freie Berufsarten: a) Erwerbsthätige: 1,53 
und 1,39, b) Ungehörige: 0,23 und 0,21; 7. ohne Berufe und Berufsangabe: 
a) Selbjtändige: 5,23 und 5,67, b) Angehörige: 0,59 und 0,38. 





Strafen und Strafabmeffung. 503 








und 1883 zeigt ferner, daß auf 100000 Einwohner derjelben Religion oder 
Konfeſſion Verurteilte famen: 


bei den Ehriften bei den 

im Jahre: evangelijchen : tatholiichen : zuſammen: Juden: 
1882 675 773 710 617 
1883 663 787 708 641. 


Die Erläuterungen jagen hierüber: Dies würde eine zwar geringe, aber doc) 
bemerkenswerte Verjchtebung zu Ungunften der Katholiken erfennen laffen. In— 
dejjen muß, auch abgejehen davon, daß aus dem Vergleich zweier Jahre über- 
haupt feine Schlüfje auf einen Einfluß der Religion, der fich doch nur in einer 
längeren Reihe von Jahren erkennbar machen fünnte, gezogen werden dürfen, 
betont werden, daß man fich fehr zu hüten hat, den Einfluß der Religion oder 
Konfeſſion Wirkungen zuzujchreiben, die von ganz andern Faktoren abgeleitet 
werden müſſen. Sowohl für die Religionen wie für die Konfejfionen fommen 
bekanntlich die Stammesverfchiedenheiten in Betracht, und dieje hängen ihrerjeits 
mit denjenigen der Wohnfige zufammen. Wenn man nun Veränderungen in 
den Striminalitätsziffern der verjchiednen Konfeffionen wahrninmt, jo mögen ſich 
in denjelben Veränderungen in der Werbrechensbeteiligung der gejamten Ein- 
wohnerjchaft einzelner, vorwiegend katholischer oder vorwiegend evangelifcher, 
Landesteile ausſprechen. Dieſe Veränderungen aber mögen ihrerjeits wieder 
auf Urfachen zurüdzuführen fein, die weder mit der Religion noch mit der 
Stammeseigentümlichfeit der Einwohner etwas zu thun haben, jondern in nur 
durch äußere Urjachen herbeigeführten wirtichaftlichen Veränderungen begründet 
Jind. Die jüdische Bevölkerung weiſt bei den meiften Vergehen eine geringere, 
eine ftärfere Beteiligung jedoch an folgenden auf: Verbrechen und Vergehen 
im Amte, Zuwiderhandlungen gegen $ 147 der Gewerbeordnung, Meineid, Bes 
leidigung, Hehlerei, Betrug, Urkundenfälfchung und Banferott. Beiſpielsweiſe 
jet erwähnt, daß, während bei den Chriften auf 100000 Einwohner 1,9 wegen 
Meineids VBerurteilte famen, bei den Juden auf 100000 4,4 gezählt wurden. 

Die Häufigkeit der wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgeſetze 
verhängten Strafarten ftuft fich in folgender Reihenfolge ab: Gefängnis 68 Proz., 
Gelditrafe 26,70 Proz, Zuchthaus 3,74 Proz, Verweis 1,04 Proz, Haft 
0,44 Broz., Feltungshaft 0,05 Proz., Todesitrafe 0,03 Proz. 

Und bier fommen wir nun auf einen Punkt, der zwar in der Statiftif 
nicht bejonders hervorgehoben wird, der aber aus den betreffenden Tabellen 
überall Mar hervorleuchtet. Das ift die allzugroße Milde der Richter 
in der Anwendung der Strafgefege. Bereits im Jahre 1874 war die Hierin 
liegende Gefahr durch den preußischen Suftizminifter Dr. Leonhardt erfannt 
und es War in einem Schreiben an die Beamten der GStaatsanwaltichaft 
darauf Hingewiefen worden, daß nicht ohne Grund eine ungerechtfertigte Milde 


504 Strafen und Strafabmefjung. 





in der Beftrafung. Schuldiger als eine der ganzen bürgerlichen Geſellſchaft 
drohende Gefahr empfunden werde. Faßt man nun die Praxis der Gerichte, wie 
fie in der Kriminalſtatiſtik für 1883 zuſammengeſtellt iſt, ins Auge, jo ergiebt 
jih jofort, dak die Milde überall noch Plag greift. Es wurde beifpielameije 
im Jahre 1883 in dem verjchiednen Oberlandesgerichtsbezirken erfannt: bei eins 
fachem Diebjtahl auf Gefängnisitrafe von 3 Monaten und darunter in 95,6 Proz. 
(Karlsruhe), in 93,7 Proz. (Königsberg), in 94,3 Proz. (Darmitadt) aller Fälle. 
Gefängnisftrafen von über 3 Monaten bis zu einem Jahre erhielten in Karlsruhe 
von 2226 wegen einfachen Diebſtahls Berurteilten nur 52, in Königsberg von 
5778 Berurteilten nur 182, in Darmftadt von 886 Berurteilten nur 21. Nur 
gegen 3 wegen einfachen Diebjtahl3 Verurteilte wurde in Darmftadt eine Gefängnis- 
jtrafe von mehr als 1 Jahr ausgeiprochen; eine höhere Strafe wurde überhaupt 
nicht erkannt. Und doch droht der $ 242 des Strafgejegbuchs für den einfachen 
Diebſtahl Gefängnis bis zu 5 Jahren an. Ähnlich wie in den heraußgehobenen, 
oft noch jchlimmer, ift e8 in allen andern Oberlandesgerichtsbezirfen. Überall 
läßt ji) aus den gegebnen Zahlen das Bejtreben der Gerichte herauslejen, von 
dem zuläffigen Strafminimum nicht allzuweit fich zu entfernen und nur gering- 
fügige Strafen auszujprechen. Es wird dabei ganz vergeffen, daß eine derartige 
Anwendung des Strafgejeßes fat ebenſo willkürlich it, ald wenn etwa ein 
Gericht fih garnicht mehr um den gejeßlichen Strafrahmen kümmern wollte. 
Denn wenn der Gejeßgeber ein Vergehen — nchmen wir der Slürze halber wieder 
den Diebjtahl — mit einer Gefängnisjtrafe von einem Tage bis zu 5 Jahren 
bedroht, jo iſt er doch der Anficht, daß der Nichter nur in ganz bejonders 
leichten Fällen auf die geringste Strafe erkennen foll, daß dagegen in allen 
gewöhnlichen Fällen eine Gefängnisftrafe, die ſich etwa in der Mitte des Straf- 
rahmens bewegt, eintreten joll. Wird nicht diefer Abficht des Gefeggebers beinahe 
Hohn gefprochen, wenn kürzlich ein Gericht, wie in der Zeitſchrift des Königlich 
Preußischen Statiftiichen Büreaus, Heft I bis II, Jahrgang 1885, mitgeteilt 
wird, gegen eine Mutter, die ihre zchnjährige Stieftochter in fünf Fällen zum 
Diebftahl angeftiftet Hatte, eine Gefängnisſtrafe von drei Wochen erkannt hat? 
Formell mag dieje Strafe innerhalb des gejeglichen Strafrahmens geblieben fein, 
materiell aber ift die Entjcheidung ebenjo nnrichtig, al® wenn das Gericht etwa 
auf einen Verweis erfaunt hätte. 

Ic glaube diefe Betrachtung nicht befjer Ichliegen zu fünnen als mit den 
Worten, die am Schlufje einer längern Abhandlung des Geh. Oberregierungs- 
rates I ling, abgedrudt in der vorhin erwähnten Zeitichrift des Königlich 
Preußiſchen Statiftischen Büreaus, zu lefen find. Dort heit e8: Dem Ber: 
langen nach ftrengern Beitrafungen wird gemeinhin mit dem Hinweis darauf 
begegnet, daß die barbarischen Strafen der Vorzeit nicht. zur Verminderung der 
Verbrechen, jondern zur Verrohung des Volkes geführt hätten. Mit diefem 
Einwande, der Häufig die Form von Deflamationen über die Anforderungen der 





Zwei fürftliche Frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 505 


Humanität und der fortjchreitenden Bivilifation annimmt, ift ober die Sache 
nicht abgethan. Es fällt niemandem ein, die Schredenzftrafen der Carolina 
oder nur des Landrechts wiederherjtellen zu wollen. Gegenüber der milden 
Praris aber, wie fie ſich aus der Statiftif ergiebt, ift die Frage geftattet, was 
eigentlich mit ſolchen Strafen erzielt werden joll. Sie fünnen weder zur Ab- 
Ichredung noch zur Befjerung dienen und haben jchlieglich nur den einen Erfolg, 
daß die Anfänger auf der Laufbahn des Verbrechens durch die Gemeinſchaftshaft 
in den Keinen Gefängnifjen für das Verbrechertum reif gemacht werden und ſich 
nach und nach an die Gefängnishaft gewöhnen, während die fertigen Verbrecher, 
die Diebe von Profejfion, nach Verbüßung der gegen fie erfannten kurzen Strafen 
den Krieg gegen das Eigentum ihrer Mitbürger mit ungejchwächtem Mute fort: 
jegen, bis fie, wieder und wicder rüdjällig, jchlieglich das Zuchthaus als eine 
Art von Verforgungsanftalt anjehen. Der gemeine Mann jchägt die Schwere 
der Verbrechen nach der Strafe, und wenn dieſe allzu gelinde wird, dann lernt 
er auch die Mifjethat gering anfchlagen. So lange die gegenwärtige Strafpraris 
fortbejtcht, kann unſre Strafrechtspflege als ein Mittel der Repreifion gegen 
das Verbrechertum nicht zur vollen Geltung fommen. 


Darmftadt. Karl Meifel. 








—— 


ae) 





Hwei fürftliche Srauen des achtzehnten Jahrhunderts. 
2. fürftin Eleonore £iechtenftein. 


| 5) " der Gejchichte der Staaten find es nicht bloß allbefannte, vor 
Zr jedermanns Augen ich vollzichende Thatjachen, die auf den Gang 
TER In T. der Politik beftimmenden Einfluß üben; vielleicht vorzugsweife 
‘ | ziehen fich die eigentlichen tonangebenden Motive in ein geheimnis- 

FEN yolles Dunkel zurüd, aus dem fie nur der dem innerften Kern 
der Dinge nachipürende Fleiß und Scharflinn fpäterer Gejchlechter wieder hervor- 
zuziehen vermag. Wir wiffen nicht, ob dies überall gelungen iſt und überhaupt 
gelingen kann; bei manchen wichtigen Ereignifjen der Weltgejchichte find wir 
wohl öfters in Verlegenheit, wie wir ung den Zujammenhang von Urſache umd 
Wirkung zu denken haben. Wir fühlen deutlich, daß dieſes und jenes über: 
lieferte Faktum nicht der legte Grund einer Handlungsweije gewejen fein kann, 
daß das Verhältnis zwifchen Urſache und Wirkung ein zu ungleiches ijt, als 
daß wir den von der naiven Anjchauungsweije der alten a st angege- 
Grenzboten III. 1885. 








506 Zwei fürftliche frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 


benen Außerlichkeiten ein unbedingtes Zutrauen fchenten dürften. Daß wir über 
viele Punkte in der Gejchichte der Völker ältern und neuern Datums noch 
heutzutage, wo doc die Gejchichtsforichung ihren eminenten Aufichivung und 
ihr unterjcheidendes Merkmal gerade der Verſetzung hiſtoriſcher Motive in Die 
Innerlichkeit des Gemüts verdankt, in tiefem Dunkel jchweben, rührt einerjeitz 
von der völligen Unmöglichkeit her, aus den dürren Notizen früherer Chronijten 
ein objektiv richtiges Bild zu erhalten, anderjeit® wohl auch von der jogar 
jegt noch bei vielen herrichenden Art und Weife, fich Weltgefchichte zu kon— 
ftruriren. Denn wenn auch bei dem oben bemerften Mangel der ältern Ge- 
ſchichtſchreibung Gefahr vorhanden ift, daß für die Bhantafie geiftvoller Foricher 
ein allzuweites Feld ſubjeltiver Darjtellung offen fteht, jo hat doch die andre 
Anſchauungsweiſe, die mit dem Geiſte der Geſchichte fertig zu fein glaubt, wenn 
fie Cäfar nach Gallien wie auf den Ererzierplag gehen läßt, außer der unrich- 
tigen auch noch eine langweilige Seite. 

Unter denjenigen Einflüffen, die jich mehr oder minder dem Auge des ober- 
flächlichen Beobachters entziehen und die namentlich in neuerer und neuejter Zeit 
die Geſchicke der Völker beftimmt haben, nimmt der Einfluß, den die Frau auf den 
Mann ausübt, nicht den legten Plaß ein. Dieſer Einfluß war nicht immer derjelbe. 
Daß dieje VBerfchiedenheit mit der öffentlichen Stellung der frauen in den verjchie- 
denen Beitaltern zuſammenhängt, braucht wohl kaum erwiejen zu werden. Ich zweifle 
nicht im geringften, daß die Frauen aller Zeiten Energie und Willen genug bejejjen 
haben, um ihren ganzen Einfluß, den ihnen ihre natürliche Stellung dem Manne 
gegenüber giebt, zur Geltung zu bringen; aber erjt der neuern Zeit mit ihrer 
verfeinerten Lebensweiſe blieb es vorbehalten, dad Weib aus dem Innern des 
Haufes Heraus auf den Markt des öffentlichen Lebens zu treiben. Und da 
ift e3 denn wieder das Mutterland aller feinen Lebensart, Frankreich, das nicht 
nur die Vorbilder, jondern auch das größte Kontingent zu der Reihe öffent» 
licher Frauencharaktere geliefert hat. Welcher reiche Wechjel bunter Gejtalten ! 
Was jchön und liebenswürdig, geiftvoll und wißig, verſchwenderiſch und zügellos 
ift — in der Gejchichte der drei letten Jahrhunderte Frankreichs haben wir es 
anjchaulich vor ung. Von der ftrengen, jchlauverjtändigen Tochter der Medici 
und der janften Gabriele d’Ejtröes, von der fühnen, leidenjchaftlichen Monte- 
ſpan und der fühlen, leidenschaftslofen Maintenon bis herab zu der raffinirt- 
verjchwenderischen Bompadour und der im Pfuhl der gemeinjten Sinnlichkeit 
verjunfenen Dubarry — welch ein Kreis wechlelnder Geftalten, bedeutend genug, 
um daraus den Kern der neueiten franzöfiichen Geichichte zu beſtimmen! Nicht 
nur der Charakter der einzelnen Negenten, auch der Geift der ganzen Zeit 
ipiegelt fich in dieſen Frauenbildern wieder. Die falte, ränkevolle Mediceerin — 
ift fie nicht der lebhafte Wiederjchein ihrer unruhigen, kabaleſüchtigen und friegs- 
wilden Zeit? Verkündet nicht die liebliche Gabriele d'Eſtrees den anbrechenden 
Morgen eines geordneten Beitalters unter Heinrich IV., dem angebeteten Volks— 


ı+T 


Zwei fürftlihe Frauen des adhtzehnten Jahrhunderts, 507 





fönige, unter dem, charafteriftiich genug, jeder Bauer fein Sonntagshuhn auf 
dem Tische haben jollte? Erinnert ung die phantafievolle, nicht unedel Er- 
Iheinung der Montefpan nicht an die beffern Jahre Ludwigs XIV., der mit 
dem Auftreten der Maintenon die dunkeln Seiten feines Charakters, unbezähm— 
bare Ruhmjucht, Frömmelei und bigotte Verfolgungswut hervorfehrte? Wie 
jehr endlich die PBompadour und die legte in der langen Neihe königlicher Ge- 
lichten, die Gräfin Dubarry, den Eigenschaften und Fähigkeiten Ludwigs XV. 
entjprechen, it allbefannt. 

Auch die deutſche Geichichte zählt unter ihren berühmten Frauenmamen 
wicht wenige politische Charaktere; Doch zeigt fid) auch Hier jofort der tiefe 
Gegenjag, der überall und zu allen Zeiten deutjches und wäljches Weſen ge: 
trennt hat. Weniger der Grad des Einflujjes, den die einzelnen Frauen der 
beiden Nationen auf ihre Zeit gewonnen haben, als die Art und Weife, wie 
derjelbe zur Geltung gebracht wurde, ift das unterjcheidende Merkmal zwiſchen 
den politischen Frauencharaktern Frankreichs und Deutſchlands. Keine der be- 
rühmten Frauen unjers Vaterlandes ift in gleichem Maße wie ihre franzöfiichen 
Nuhmesgenoffinnen über die natürlichen Schranfen ihres Gejchlechts hinaus: 
gegangen. Unſre Gejchichte Hat Feine Jeanne d'Are aufzumweifen, wenn auch 
deshalb niemand behaupten wird, daß es den deutjchen Frauen jemals an 
patriotifchem Opfermut gemangelt habe. Die geſchichtlichen Frauen Deutſch— 
lands bieten deshalb ein im ruhigere und Harmonijchere Farben getauchtes Bild 
dar: fajt ausnahmslos finden wir bei ihnen, neben den heroifchen Eigenjchaften, 
welche fie über ihre nächite Berufsiphäre hinaushoben, auch) die zarteren Seiten 
vertreten, die das Glück eines engern und engjten Kreiſes ausmachten. Sit 
dies auch fein Ruhm in dem gewöhnlichen Wortfinne, jo ift es Doch eine Zierde, 
und wir dürfen uns glüclich preifen, daß häusliche Tugenden und echt weib- 
liches Empfinden recht wohl neben den glanzvollen, nach außen wirkenden Eigen- 
ſchaften Pla finden fünnen. 

Bon folcher Art iſt die Frau, welcher die nachfolgenden Seiten gewidmet 
find. Eleonore Liechtenftein gleicht einer der fürjtlichen rauen, wie fie Die 
römische Kaiferzeit in Marmor gebildet oder wie fie Tizian und Holbein gern 
gemalt haben. Sie war fein Jdeal, aber ein typiicher Charakter ihrer Ge— 
jellichaft, eine Frau des achtzehnten Jahrhunderts, mit allen Vorzügen und 
Schwächen ihres Gefchlechts und ihrer Zeit: voll von Kontraſten, voll Geiſt 
und Spott, Anmut und Kraft, herzlich und derb, ſtark im Wollen, unabhängig 
im Urteil, ihrer Überzeugung getreu, ftreng, fittlich, aufopfernd, ſtolz, keuſch und 
barmherzig. Obwohl aus der Aufflärungszeit erwachſen, behielt fie doch eine 
Abneigung gegen die philvjophiichen und humanifirenden Bejtrebungen ihrer 
Beit; ihre Sympathie wandte fich mehr den herrjchenden Ständen und Perjonen 
als dem Volke zu; ihr politischer Enthufiagmus war mehr loyal als patriotiſch; 
aber fie hatte eine lebendige Teilnahme für das öffentliche Leben und fühlte 


508 Hwei fürftlihe Frauen des adhtjehnten Jahrhunderts. 








das Unglüd der Zeit, den Gegenfat der herrjchenden Ideen bis ins tieffte Herz. 
Sie war eine Zeitgenoffin der Frau von Stein, der Angelica Kaufmann, der 
Landgräfin Karoline von Heffen, der unglüdlichen Marie Antoinette von Frank— 
rei) und der Königin Luife von Preußen. Sie gehörte der vornehmen Ge— 
ſellſchaft Ofterreichs an, war eine Ariftofratin von Geburt und Gefinnung, eine 
der erjten Frauen am Hofe Maria Therefias und Joſephs des Zweiten. Sie er- 
lebte die franzöfiiche Revolution und wurde die Stammmutter eines Geſchlechts, 
defjen Enkel umd Urenfel ihrer mit Stolz und Verehrung gedenfen. 

Eleonore Liechtenftein war eine gebome Fürjtin von Ottingen- Spielberg, 
eine Tochter des Fürften Johann Aloys des Erften, jenes wunderlichen und 
gutmütigen Duodezjouveräns, von dem der boshafte Ritter von Lang in feinen 
befannten Memoiren erzählt, daß er, nachdem feine tiefverfchuldeten Güter unter 
fatjerliche Sequeftration gefommen waren, weil er nicht mehr zu regieren hatte, 
tagelang im Fenfterflügel feines Schlofjes, oberhalb des Thores gelegen, Die 
aus: und eingehenden Leute beobachtet und mit ihnen con amore geplaudert 
habe. Auch die jonftigen Zuftände am Öttingenfchen Hofe waren nicht dazu 
angethan, einen bildjamen Einfluß auf begabte jugendliche Gemüter auszuüben. 
Zur Vollendung ihrer Erziehung wurde Eleonore mit ihrer Schweiter in ein 
franzöftsches Klofter nach Stragburg gebracht. Die Mädchen vergaßen dort 
ihre Mutterfprache faſt gänzlich, lernten Franzöfiich, etwas Gefchichte und 
Geographie, Neliquien einfaffen, Altarpoliter ſticken und ähnliche Künite. 
Im Jahre 1760 ftarb ihrer Mutter Schweiter, die Herzogin von Guaftalla, 
und vermachte ihnen ihr ganzes bedeutendes Vermögen. Elconore wurde da- 
durch mit einem Schlage aus einer mittellofen, faft armen Prinzeffin zu einer 
der reichjten Erbinnen. Die nächte Folge diejes Glückswechſels bejtand darin, 
daß die beiden jungen Mädchen noch im Sommer desjelben Jahres an den 
Wiener Hof kamen, mit dem, wie die meilten jüddeutjchen Adelsfamilien, auch 
die Öttingen feit Alters intime Beziehungen unterhielten. Es dauerte auch 
nicht lange, fo hatten die Schweitern Freier aus den höchjten Kreifen der öfter: 
reichiichen Gejellichaft gefunden. Leopoldine verlobte ſich mit dem jungen Grafen 
Ernit Kaunitz, dem Sohne des Staatsfanzlers; zwei Monate jpäter Elconore 
mit dem Fürften Karl Liechtenjtein, der fich bereits im ficbenjährigen Kriege 
aufs vorteilhaftefte ausgezeichnet Hatte und in der Stufenleiter militärischer 
Ehren big zum Generalmajor emporgeftiegen war. Die erften Jahre ihrer 
glüdlichen Ehe verlebte Eleonore meilt auf ihren Gütern in Mähren und 
auf denen ihres Mannes in Niederöfterreih. Die Wintermonate wurden in 
Wien zugebracht. Die erjte Gelegenheit, nach außen hin bedeutfamer herbor- 
zutreten, fand fich für die junge Frau, als fie im Jahre 1764 mit ihrem Gemahl 
der Krönung Joſephs des Zweiten in Frankfurt als Ehrendame aſſiſtiren mußte. 
Auf dem Wege dahin wurde in München, wo die Mißwirtſchaft des bairiſchen 
Hofes Eleonore fcharfe und treffende Worte entlocte, und in Ottingen Halt 


Zwei fürftlihe Frauen des adtjehnten Jahrhunderts. 509 


gemacht. Ergöglich iſt die Schilderung, welche die Reiſende von einem Beſuche 
an dem benachbarten Ansbachſchen Hofe macht. Eleonore fuhr in einem alten 
vierfigigen Wagen, den jchon ihre Mutter verwünjcht hatte und der unterwegs 
aud zweimal brach; dabei war fie hofmäßig gekleidet und jtich mit ihrer hohen 
Frifur immer an die Dede des Wagens. Der Markgraf Friedrich) Karl 
Alexander — derjelbe, der jpäter jein Land an Preußen abtrat — empfing 
die Liechtenftein inmitten feines fleinen Hofſtaates fühl und feierlich wie ein 
großer Souverän. Die Hofherren waren nicht unterhaltend, die Damen häßlich, 
abjcheufich angezogen und in einer Weiſe defolletirt, wie Eleonore es noch nie 
gejchen hatte. Bei dem Diner brachten alle Toafte aus. Nach demfelben zeigte 
der Markgraf dem Gajte feine Pferde und Hunde, die er für feine Parforce— 
jagden aus England Hatte fommen laſſen. Elconore blieb indejjen bei den 
Damen. Abends war Spiel und Souper, und fie fuhren dann müde und ge: 
fangweilt nach Haufe. Am 19. März trafen fie in Frankfurt ein. Wer fennt 
nicht die anjchauliche Schilderung, die Goethe von der Krönung Joſephs des 
Zweiten in „Dichtung und Wahrheit“ gegeben Hat? Eine große Anzahl Herren 
und Damen aus den vornehmjten Streifen ganz Deutjchlands Hatte fich in 
Frankfurt zufammengefunden. Schon damals ging Joſeph feine eignen Wege, 
die weitab von der überlieferten Bahn führten. Durch den frühzeitigen Tod 
jeiner erjten Frau, der jchönen, melancholiichen Jlabella von Parma, war er 
in den Jahren, wo andern der frohe Lebensgenuß erjt recht aufzugehen pflegt, 
zu stiller Burücgezogenheit und träumerifcher Griübelei veranlagt worden. 
„Mein Herz ift von Schmerz erfüllt — jchreibt er unmittelbar vor der Krönung 
an jeine Mutter —, wie fann ich von einer Würde erfreut fein, von der ich nur 
die Laſt und feine Annehmlichkeit fenne; ich, der ich die Einjamfeit liebe und 
nur Schwer mit unbekannten Leuten verfehre, ſoll immer in der Welt fein und 
Geſpräche mit fremden Perſonen führen; ich, der ich nur wenige Worte habe, 
joll den ganzen Tag ſchwätzen und auf angenehme Weiſe nichts jagen.“ Doppelt 
bedeutjam flingt aus einem jolchen Munde das Lob, das der junge König über 
die in Frankfurt anweſenden deutjchen Frauen äußert: „Die deutjchen Frauen 
gefallen mir in ihrer äußern Erjcheinung viel befjer al3 die Frauen in Wien; 
fie find fröhlicher und Haben mehr Geiſt.“ 

Seit dem Krönungsfeſte war Eleonore Liechtenstein in nähere Beziehungen 
zum Hofe gefommen. Es iſt ein wahrhaft erquicdendes, fat idylliiches Bild, 
eine Daſe inmitten der Wüſteneien der zahlreichen Höfe des achtzehnten Jahr: 
hunderts, Ddiefer Hof Maria Therefiad. Von ihren Töchtern war im Jahre 
1760 die ältejte, Maria Anna, 22 Jahre alt, Maria Ehriftine 18, Elifabeth 17, 
Amalie 15, die jüngeren, Johanna, Joſephine, Karoline und Antonie, waren 
Kinder von 10 bis 5 Jahren. Außer Jojeph waren noch vier jüngere Söhne, 
Karl, Leopold, Ferdinand und Mar, da. Einen jähen Riß in das jchöne Fa— 
milienleben machte der plößliche Tod des Kaifers im Auguft 1765. Einige 


510 Hwei fürftlihe Frauen des achtzehnten Jahrhunderts, 


Zeit glaubte man, die Kaiſerin werde in der Heftigfeit ihres Schmerzes die 
Regierung an den Sohn abtreten; erjt nach und nach gewann die mutige rau 
wieder die Luft am Leben. 

Die nächſten Jahre nach dem Tode Kaiſer Franz’ waren für Eleonore von 
dem buntejten Wechjel des Hoflebens in Anſpruch genommen. Nicht ohne ihre 
Mitwirkung war die zweite Heirat Joſephs mit der bairischen Prinzeſſin Joſepha, 
der Schweiter des Nurfürften Mar Joſeph, zuftande gefommen. Bekanntlich 
war dieje Ehe eine der unglüdlichjten, die je gejchloffen wurden, und fonnte Die 
BVBerdüfterung in Joſephs Gemüt, anstatt fie — wie man gehofft hatte — zu 
heben, vielmehr nur noch fteigern. Dagegen glüdte die Verbindung der zweiten 
Tochter Maria Therejias, Maria Ehrijtine, mit dem Herzog Albert von Sachſen— 
Zeichen, dem jpätern Reichsgeneral-Feldmarſchall, in einer umjo erfreulicheren 
Weife. Die Memoiren des lettgenannten Fürjten geben ein genaues Bild des 
gleichzeitigen gejellichaftlichen Hof: und Adelslebens. Wie verjchieden war doc) 
dasjelbe von jenem des fiebzchnten Jahrhunderts und von dem unjrer Tage! 
Man hörte nichts von den wüjten Gelagen, von den wilden nächtlichen Kitten, 
von welchen uns die Chroniken nad) der Zeit des dreigigjährigen Krieges erzählen; 
man hörte auch nichts von der Frivolität und Naffinirtheit de franzöfiichen 
Adels am Hofe Ludwigs XV. Wohl war nod) die Rofofozeit mit ihrem fofetten 
Treiben und ihren ſüßmatten Spielen in der Blüte, aber alles hatte eine feine, 
glatte Form angenommen. Die Herzen pulfirten gewiß noch in heißer Leiden 
Ichaft, die Strenge der Alten und die Ausgelajjenheit der Jungen famen oft im 
Streit, aber in der häuslichen Zucht und in dem fühlen, fteifen Ton der Ge- 
jellichaft erlojchen die Flammen. Eine große Verjchiedenheit war zwijchen dem 
Adel in Inneröfterreich und jenem in Böhmen und Mähren. In Steiermarf, 
Kärnten und Krain hatte ſich der Landadel mit Heinen Gütern erhalten. Im 
den jlawijchen Ländern war nach der großen Revolution unter Ferdinand LI. 
der Grundbefig in großen Latifundien am wenige, zunächjt deutjche Familien 
gefommen, welche fich nach der Sitte der Zeit franzöfirten und die franzöftiche 
Kultur, wie früher die italienische, vermittelten. Man darf nur die Schlöjfer 
in Steiermark mit denen in Böhmen und Mähren vergleichen; die erjtern find 
faft alle burgartig und im Renaifjancejtil, die letztern im Rokokoſtil gebaut. 
Wenn man durch die Säle diefer Schlöfjer geht, tritt einem überall das vorige 
Jahrhundert mit feiner fteifen Grandezza, mit feiner gepuderten faljchen Antike 
und feiner hausbadnen Gelehrjamfeit entgegen. Aus dieſen Schlöffern ijt eine 
Neihe von Männern hervorgegangen, ausgezeichnet Durch ihre praftiiche Tüchtig- 
feit im Krieg und im Frieden, aber in der Teilnahme für die geiltige Bildung 
der Zeit wurden fie von ihren Frauen überragt. „Die Erziehung, die wir 
unfern Frauen geben — fchreibt einmal Leopoldine Kaunig an ihre Schweiter —, 
iſt gut, die unfrer Söhne jchleht. Man lehrt fie größtenteil3 unnüge Dinge; 
was am allernotwendigjten ift und das Glüd des Lebens bildet, nämlich fich 


Zwei fürftlihe Frauen des adhtzehnten Jahrhunderts. 511 


jelbft befchäftigen, daran denkt man nicht. Dur findeit bet ung viele Frauen, 
welche die Lektüre Lieben und trachten, fich zu unterrichten; aber es giebt nur 
wenige Männer bei uns, welche fich darum kümmern; die meiften jpötteln, wenn 
man ein gutes Buch lieft oder von interejjanten Geichichten jpricht, ohne zu 
wijfen warum. Das fommt daher, weil fie in ihrer Jugend nur lateinijche 
Bücher in die Hand befommen und ihre Beit mit einem abjtoßenden lang- 
weiligen Studium ausgefüllt ift.“ 

Der djterreichiiche Adel hatte jeine Freiheiten längſt zu den Füßen der 
Habsburger niedergelegt, und feit Ferdinand IL. gab e3 in den Landſtuben der 
Provinzen feinen Widerftand mehr. Die vornehmften Gejchlechter hatten ſelbſt 
an dem Aufbau des abfoluten Dfterreich® mitgearbeitet und blieben die Haupt: 
jtügen desſelben bis in die Neuzeit. Bei aller Schärfe des abjoluten Regimes 
unter Zeopold I. und Karl VI. war Dfterreich ein föderativer Staat und wurde 
ariitofratifch regiert, denn die eriten Stellen in der Armee, die Minifter-, Ge- 
fandten- und Statthalterpoften, die Biichofsfige und Domherrnpfründen, waren 
faft durchaus von den Söhnen der adlichen Gejchlechter beſetzt. Der Adel 
umgab den Hof, leitete die Regierung und beherrichte das Voll. Auch als 
Maria Therefia den einheitlichen Staat gegründet hatte, fügte ſich der Adel 
in allen Provinzen, ſogar in Ungarn. Erft als in der Neformperiode von 1765 
an das FFeudalverhältnis angebrochen wurde und über den Trümmern der alten 
Drdnung ein neuer Staat mit gleichartiger Prägung und vornehmlich büreau— 
fratijchen Formen erwuchs, trat der Adel allmählich in einen Gegenjag zur 
Krone. Diejer Gegenjag wurde in den ftändischen Ausichüffen und im Miniſter— 
rate nur jelten und leife ausgejprochen, auch nicht gehört, aber er zog troß 
der mannichfaltigen Neigungen zur Aufklärung immer weitere Kreiſe und öff- 
nete eine Kluft, in welcher ein großer Teil der jojephiniichen Reformen be- 
graben ward. 

So lange Maria Therefia lebte, Hat die politifche Strömung das gejell- 
ichaftliche Leben des Adels nicht geſtört. Wer vermöchte diejes heitere, innerlich 
bewegte Leben mit feinen Reizen und Genüffen zu fchildern! Wir erkennen es 
nur aus den Briefen und Bildern jener Zeit. Im Frühjahr, wenn der Hof 
nach Larenburg ging, zeritreute jich die ganze vornehme Gejellichaft in die 
Bäder und Schlöſſer. In fröhlichen Zügen jtreiften Herren und Frauen durch 
Park und Wald, über Feld und Wiejen, bald zu Fuß, bald zu Pferd, bald 
zum Vergnügen, bald um einen Beſuch zu machen. Die Korridore und Säle 
hallten wieder von Muſik und Gejang, von nedifchen Scherzen und fröhlichen 
Gelächter, von Tanz und Spiel. An einfamen Tagen, wo auch die beiten Wege 
nicht fahrbar waren, rücte alles zujammen und brachte joviel Unterhaltung, 
daß Die Zeit rajch verging. Gewiß war im diefem Leben viel kindiſche Luft und 
Ausgelafjenheit, aber e3 jpielten auch heftige Kämpfe und Leidenjchaften, Neigung 
und Abneigung, Leid und Entjagung aller Art hinein. 





512 Zwei fürftlihe Frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 





Eine größere Nolle jpielt in den Briefen Eleonorens die Verbindung der 
jüngjten Klaifertochter Maria Antonie mit dem Dauphin von Franfreih. Wir 
erfahren da, was das jpätere unglüdliche Schickſal dieſer Fürstin in natürlicher 
Weiſe vergefien machen mußte, daß ihr Charakter jchon in jener frühen Jugend 
die bedenflichiten Blößen aufwies, die jeden Weiterfchauenden mit ſchweren 
Sorgen für ihre Zukunft erfüllen mußten. Die Erziehung Maria Antoniens, 
die ausjchlieglich mit Rückſicht auf ihre Fünftige hohe Stellung eingerichtet 
wurde, hätte bei ihrem Hang zum Leichtfinn gerade nach entgegengefegten Normen 
geleitet werden müſſen; jo aber befchränfte man fich darauf, ihr die geläufige 
franzöfiiche Aussprache und einige® wenige aus der Geſchichte und Literatur 
beizubringen. Am 21. April 1770 nahm fie Abjchied von ihrer Mutter und 
ihrer Baterftadt, um fie niemals wiederzujchen. Eleonore Liechtenjtein war von 
der Kaijerin eingeladen worden, die Prinzeffin zu begleiten, hatte aber die Ein- 
ladung abgelehnt. In den Wiener Kreiſen berührte es unangenehm, daß die 
Danphine in Straßburg ihre deutiche Begleitung entlich, ohne ein Wort mit deu 
rauen zu jprechen, mit denen fie als Kind gefpielt hatte und die ihr in Treue und 
Anhänglichkeit gefolgt waren. „Die kleine Perfon, ſchrieb damals Eleonore, ift 
bier vollftändig verdorben worden, indem man ihr immer nur von dem Glanz; und 
den Feſten, welche fie in Frankreich erivarten, erzählt hat.“ Die chriftliche An- 
tweilung, welche Maria Therefia ihrer Tochter mitgab, berührte zunächft nur die 
religiöjen Pflichten: wenn fie ihr Gebet jprechen, wie oft fie die Mefjce hören und 
wie fie ihre geiftliche Leltüre einrichten ſolle. Aber die Kaiſerin fügte nod) einige 
Negeln Über ihr perfönliches Verhalten bei, und noch während der Neije jchrieb 
fie: „Laß dich in fein Gejpräch über die Jeſuiten ein, weder für noch gegen fie, 
dur kannſt dich auf mich berufen und jagen, daß ich fie hochjchäge, daß fie im 
meinen Ländern viel gutes geleistet haben, daß ich fie nicht verderben will; wenn 
aber der Papſt den Orden aufheben will, werde ich fein Hindernis entgegen- 
fegen. Über den Dauphin fage ich nichts, du feunft meine Zartheit in dieſer 
Beziehung; das Weib ift in allem dem Manne unterworfen und joll nichts 
denfen als ihm zu gefallen und feinen Willen zu thun. Das einzig wahre 
Glück auf diefer Welt iſt eine glüdliche Ehe, ich fann davon fprechen. Alles 
hängt von der Frau ab, wenn fie gefällig, janft und unterhaltend iſt.“ Be— 
fanntlich unterhielt Maria Therefia bis an ihr Ende cine geheime Korreipon- 
denz mit Graf Mercy, dem öfterreichiichen Gefandten in Berjailles, deren Gegen— 
Itand das Leben und Treiben der Tochter war. Als die leßtere einjt in einem 
Briefe ihren Gemahl als le pauvre homme bezeichnete, jchrieb die Kaiſerin 
in prophetiichem Geijte an Merch: „Was für ein Stil, weld; eine Denfart! 
Das beftätigt meine Befürchtungen nur zu fehr; fie eilt mit Rieſenſchritten 
ihrem Berderben entgegen; ein Glück, wenn fie nur noch die Tugenden ihres 
Nanges bewahrt, indes fie ſich zu grunde richtet.” 

Am befannteften ift Eleonore von Liechtenftein durch ihr Verhältnis zu 


Swei fürftlihe Frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 513 


Joſeph II. geworden. Joſeph liebte die Fürjtin Jahre hindurch offen und innig; 
ob fie ihn wieder liebte, ift eine Frage, die wohl niemald genügend gelöjt 
werden wird. Hat fie ihn geliebt, jo hat fie es meijterhaft verjtanden, ihre 
Gefühle zu verbergen und ihnen den Schein einer uneigennügigen Freundichaft 
zu geben. Belkanntlich hat Joſeph nach dem Tode feiner zweiten Frau, der 
bairischen Joſepha, troß der eifrigen Gegenbemühungen des Hofes, nicht wieder 
geheiratet. Mit deito größerer Empfänglichkeit gab er fich dem Verkehr mit der 
Wiener Gejellichaft Hin. Ganz bejonder® war es der jogenannte Kreis der fünf 
Damen, der ihn bis in feine legten Tage mächtig fefjelte. Die Perle diefes 
Damenfranzes aber war Eleonore Liechtenftein; außer ihr nahm daran Teil ihre 
Schweiter Leopoldine Kaunitz, ferner ein zweites Schweiternpaar, die Fürftinnen 
Clary und Kinsky, und eine Fürftin Leopoldine Liechtenjtein. Alle wohnten in 
dem von der Schenfengaffe und Freiung gebildeten ariitofratiichen Viertel nahe 
bei einander und famen jede Woche wenigſtens einmal, jpäter drei- bis viermal, 
gewöhnlich in den Abenditunden von acht bis zehn Uhr zujammen. Außer 
Joſeph waren in diefem Kreife nur feine beiden treueften Freunde, der Feld— 
marjchall Lascy und der Oberjtfämmerer Rojenberg, zugelafjfen. Alles Spiel 
war jcharf verpönt; mur anregende Unterhaltung wurde getrieben, wobei die 
Damen in einfacher Haustoilette jich mit weiblichen Arbeiten beichäftigten. Hier 
verlebte Joſeph feine glüdlichjten Stunden. Durch den Tod feines Vaters war 
er deutſcher Kaijer geworden, während die Regierung der öſterreichiſchen Lande 
in den Händen der Mutter blieb, und Joſeph zu einer ähnlichen Rolle wie fein 
Bater verdammt war. Unangenehme Konflikte konnten bei diefem Doppel: 
verhältnis nicht ausbleiben. Aber auch fonjt zeigte fich ſchon in den erjten 
Sahren der Mutter gegenüber eine weitgehende Meinungsdifferenz des Sohnes. 
Namentlich in einem Punkte, in den Anfchauungen über das Verhältnis zwifchen 
Staat und Kirche, war eine Verſtändigung zwifchen beiden unmöglich, Maria 
Therefia war bigott und von unduldjamer Härte gegen afatholische Konfefjionen. 
„Zoleranz und Indifferentismus, jchreibt fie einmal an Fofeph, find die wahren 
Mittel, alles zu untergraben; nichts iſt jo notwendig und heilſam wie die Re— 
ligion. Willft du, daß jeder fich eine Religion nach feiner Phantafie bilden 
ſoll? Kein bejtimmter Kultus, feine Unterwerfung, wohin fommen wir? Ruhe 
und Zufriedenheit würden aufhören, das Fauftrecht und andre jchredliche Zeiten 
wiederfehren. Sch will feinen Verfolgungsgeilt, aber noch weniger Indifferen- 
tismus und Toleranz; darnach will ich handeln. Ich wünjche zu meinen Ahnen 
hinabzufteigen mit dem Troſte, daß mein Sohn ebenſo religiös denfe wie jeine 
Vorfahren, daß er zurüdfomme von feinen faljchen Räjonnements, von den 
ichlechten Büchern, daß er nicht jenen gleiche, die ihren Geijt glänzen laffen auf 
Kosten alles deſſen, was heilig, ehrwürdig ift, und die eine imaginäre Frei— 
heit einführen wollen, welche in Bügellofigfeit und Umſturz übergehen kann.“ 
Als im Jahre 1770 gegen mährifche Konvertiten mit der Strenge des alten 
Grenzboten III. 1885. 65 














514 Zwei fürftliche Frauen des adhtzehnten Jahrhunderts. 


Strafgejeßes eingejchritten werden jollte, jchrieb Joſeph jeiner Mutter: „Sch 
erfläre pofitiv: wer diejes gejchrieben, ijt unmiürdig zu dienen, ein Mann, der 
meine Verachtung verdient.“ Welche Heftigkeit der Auffafjung und des Aus— 
drucks liegt nicht in diefen Worten! Und rajd) wie jein Urteil, war jein ganzes 
Wefen. Raſch war fein Gang, raſch feine Geberde, raſch fein Thun. Auf 
jeinen Reifen ging es mit Windeseile vorwärts, durch Nacht und Nebel, über 
reißende Ströme und wilde Gebirgspäfie. Mehrmals war er in Lebensgefahr. 
Summer war er bereit zu lernen, er ging dabei ins Einzelne, ins Kleinſte. Viel 
zu wenig hat er den Rat befolgt, den ihm der große Friedrich in Neifje ge— 
geben hatte: er möge fich nicht von Bagatellen erdrüden Laffen, das ermüde den 
Geiſt und verhindere, an große Sachen zu denfen. Sein Haushalt, feine Tages- 
ordnung waren gleich einfach. Gern nahm er den Schein au, als wenn er nie— 
manden bedürfe. Er war gewohnt zu befehlen, jtreng, rüdjichtslos, oftmals 
gewaltjam, zerjchmetternd und doc) wieder gütig und mild, barmherzig, voll 
Berjtändnis für jedes Leid, zumeift für die Seufzer der Armen und Bedrängten. 
Er war feit Jahrhunderten der erite Fürſt feines Stammes, welcher wieder in 
die offnen Kreiſe des Lebens hinaustrat, der erjte Fürft, welcher cin erträgliches 
Deutich ſprach und ſchrieb. Wohin er fam, bezauberte er alle, hoch und niedrig, 
mit feinem offnen, freundlichen Wejen. In Deutjchland war er in jenen Jahren 
der populärjte Fürſt, die Freude und die Hoffnung der Jugend. 

Am 29. November 1780 jtarb Maria Therefia. Ihre letzten Lebensjahre 
waren für fie eine Quelle unausgefegter Verftimmungen und Kränfungen. „Bir 
nicht mehr en vigeur — jchreibt fie in jener Zeit einmal an Joſeph —, bin 
allein, verlafjen, der Tod meiner Freunde, die Irreligion, die Verjchlechterung 
der Sitten, die Sprache, die man jett führt, alles das drückt mich nieder.“ 
Jetzt erſt fam Joſeph dazu, auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens jeine 
tiefeingreifenden Reformgedanfen zur Ausführung zu bringen. Faſſen wir den 
Geſamtinhalt und Charakter feiner Reformen in kurzen Worten zujammen, jo 
werden wir jagen müfjen, daß fein Staatsideal die abjolute einheitliche Mo— 
narchie unter der Herrichaft des Geſetzes geweſen ift. 

Es ift oben hervorgehoben worden, daf Ofterreich bis auf Joſephs I. 
Zeiten herab mehr ein Föderativſtaat, gelenkt von ben Ständen und Korpo- 
rationen des einzelnen Landes, als ein einheitlicher Staat mit jtrammer 
zentralifirter Verwaltung gewejen war. Hier mußte zuerjt Hand ans Werk 
gelegt werden. Bor allem wurde den Ständen, den Grundherren und den 
Städten jede Ausübung einer obrigfeitlichen Thätigkeit entzogen, jodann all» 
gemach ein ſtändiſches Recht nach dem andern aufgehoben, bis endlich 1788 
mit der Auflöfung der Landtage die letzten Überbleibjel der alten Rechte zer- 
trümmert waren. In den Städten hörte die alte Zunftgliederung auf, alle 
Bürger jollten in gleiche Pflichten und Rechte eintreten, auf dem Lande wurde 
die Leibeigenfchaft aufgehoben, die Zinfen und Frohnden wurden gejeglich be- 


Zwei fürftlihe frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 515 





jtimmt, das perjönliche und Eigentumsrecht des Bauers gefchügt. Ein neues 
Zivil: und Strafgejeßbuch ward erlafjen, das Unterrichtswejen nach neuen Grund: 
ſätzen geregelt, die deutjche Sprache als allgemeine Geichäftsiprache eingeführt. 
Am tiefgreifenditen waren jedoch die firchlichen Reformen, unter denen das 
placetum regium, das Toleranzedift, die Beſchränkung der bijchöflichen Gewalt 
und die Aufhebung der Klöſter obenan ftehen. Schade nur, daß dieje dringend 
notwendigen Maßregeln zu rafch umd gewaltthätig durchgeführt wurden, als 
daß fie in einem Lande wie Ofterreich, in dem infolge der jahrhundertelangen 
Mißwirtſchaft fait alle gefunden Keime abgejtorben waren, einen Anfpruch auf 
längern Bejtand hätten haben fönnen. Dennoch blieben ihre jegensreichen 
Wirkungen nicht aus: wurden auc) viele derjelben von dem Thronnachfolger 
wieder aufgehoben, ja mußte ſich Joſeph felbjt zur Zurüdnahme mancher der: 
jelben entichliegen, jo blieben andre doch auch jpäterhin noch bejtchen, wie es 
überhaupt gerade für das alte träge Öfterreich ſchon von unermeßlichem Werte 
war, daß einmal von oben herab die Ausrottung der überfommenen Mikjtände 
energijch in die Hand genommen wurde. Die Wirkung der jojephiniichen Re: 
formen auf die tiefer Gebildeten feiner Zeit jchildert uns Herder in den „Briefen 
über die Humanität“ im folgenden Worten: „Joſeph hat viel, jehr viel und 
weniges müßig gejehen und das Innere feiner Länder bis zum feinsten Detail 
fennen gelernt. Er wollte nur billiges, nüßliches, gutes. Dft war, was er 
wollte, nur die erjte Pflicht der Vernunft und Humanität, der gejellichaftlichen 
Nechte. Golden find feine Grundfäge, die er in mehreren Befehlen äußert, er 
fannte den Duell des Verderbens und nahm jich feiner bis auf den Grund an. 
Jede Saite des menjchlichen Elends hat er berührt. Er unterlag nicht der 
Schwachheit der menjchlichen Natur, jondern der von Kindheit auf genährten 
Allgewalt des Selbſtherrſchens. Nicht das Schidfal, die Natur der Dinge, der 
Wille jeiner Untertanen hat ihn gebeugt. Seine Fehler hat cr mit ins Grab 
genommen; das Gute, das er gewollt, wird, obwohl einesteild in zerfallenden 
Reiten, bleiben und dereinit glüdlicher an den Tag treten, denn es iſt dem 
größten Teile nad) reines Gute zum Ertrage der Menjchheit.” 

Weniger anerfennend war die Stimmung im eignen Lande. Den An- 
hängern der Aufllärungstheorien, die gerade damals fajt in ganz Europa in 
den Kreiſen der Negierenden wie der Regierten tonangebend waren, erjchienen 
die jofephinischen Reformen als eine Halbheit; der Katholizismus blieb nach 
wie vor die Staatsreligion, der Protejtantismus war nur geduldet, der Adel 
noch immer zu jehr begünftigt, die Verwaltung zu fcharf und willkürlich. Die 
Anhänger der alten Ordnung wieder erblidten in den Reformen einen Eingriff 
in das göttliche und menjchliche Recht, die Vernichtung des Adels, die jchranfen- 
loſe Freiheit und den Beginn der fozialen Revolution. Die Beamten empfanden 
die gejteigerte Arbeit, die größere Verantwortlichkeit und die ftrengere Zucht 
als eine Laſt; der Adel, die Geiftlichkeit, die Städte murrten über den Verluft 


516 Zwei fürftlihe Frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 
ihrer Sonderprivilegien, nur der Kleinbürger und der Bauer nahmen die Re: 
formen wie eine Befreiung von alten, drüdenden Feſſeln auf. Auch in Der 
Sefellichaft der fünf Damen machte fich offene Oppofition gegen das neue 
Negime geltend. In den Abendunterhaltungen trug der Kaiſer nicht jelten feine 
Aeformgedanfen vor und verbreitete fich in lebhafter Selbjtverteidigung über 
die neuerlajfenen Gejege. Aber niemals hat Eleonore Xiechtenjtein an dem 
Charakter ihres faiferlichen Freundes gezweifelt; fie erfanıte und achtete die 
offene Ehrlichkeit ſeines Weſens, jeinen guten Willen, fein warmes Herz für 
alles, was das Wohl feines Volkes betraf. Daß fie durch diefes revolutionäre 
Borgehen gegen die alten firchlichen Einrichtungen beängjtigt und verjtimmt 
wurde, wer möchte dies ihrem Frauengemüt verargen? 

Es iſt befannt, daß Joſeph in den legten Jahren feiner Regierung jelbjt 
Hand an die Zerftörung jeines mit jo unfäglichen Schwierigkeiten aufgebauten 
Werkes zu legen genötigt war. Anjtatt daß mit den Jahren die neuen Ein: 
richtungen gefräftigt worden wären, wurden fie vielmehr von der immer fühner 
auftretenden Oppofition erfolgreich unterwühlt. Selbjt der Bruder und Thron: 
folger, Großherzog Leopold von Toskana, einer der wenigen, denen Jojeph jein 
ganzes Vertrauen jchenkte und der zu Anfang zu den begeijterten Anhängern 
feiner Reformen zählte, z0g fi) allmählich in das andre Lager hinüber. Dazu 
fam das Fehlſchlagen der jojephinifchen Politik in den Niederlanden, in Ungarn, 
in den Beziehungen zu Preußen, Rußland und der Pforte. Joſeph ift auch 
in feiner äußern Politif eine tragische Erjcheinung dadurch geweſen, daß er ſtets 
nicht nur das Beſte — denn welcher gewijjenhafte Fürſt wollte das nicht! — 
jondern auch das Richtige wollte, daß ihm aber dieſes jein Wollen regelmäßig 
bei der Ausführung ins Gegenteil umgejchlagen ift. Zuerſt ſchlug in Ungarn 
die Empörung in hellen Flammen auf, fpäter folgten die Fatholischen Nieder: 
lande, Hand in Hand mit der gleichzeitigen franzöfiichen Revolution, bis zum 
völligen Abfall von Öfterreich. Den Schluß in diefer Kette von Unglüdsfällen 
bildete der jchlimme Ausgang des Türfenfrieges, in defjen Strapazen fich der 
Kaifer den Keim zu unheilbarem Siechtum holte. „Berjunfen in mein eignes 
Mißgeſchick — jchrieb er im Dezember 1789 an feinen Bruder Leopold — 
und in das des Staates, mit einer Gejundheit, welche mich jeder Erleichterung 
beraubt und nur die Arbeit noch peinlicher macht, bin ich gegenwärtig der Un: 
glüdlichjte unter den Lebenden; Geduld und Ergebung find meine einzige Devife. 
Du fennjt meinen Fanatismus, darf ich jagen, für das Wohl des Staates, 
dem ich alles geopfert habe; das bischen guten Ruf, das ich bejaß, das politiſche 
Anjehen, welches die Monarchie fich erworben, alles ift dahin; beflage mich, 
mein teurer Bruder, und möge Gott did) vor einer Ähnlichen Lage bewahren!“ 
Faſt Schon auf feinem Totenbette unterzeichnete Joſeph den berühmten Widerruf 
feiner Gejege in Ungarn und vernichtete damit für Jahrzehnte den Kultur: 
fortjchritt in diefem Lande. Einfam und verlaffen brachte er die letzten Lebens— 


Zwei fürftlihe Frauen des adytzehnten Jahrhunderts. 517 


tage hin, feine Tiebende Hand legte fich über feine Mugen, die Gejchwifter hielten 
fich herzlos abſeits, nur fein Liebling, feine Nichte Elifabeth von Würtemberg, 
ließ fich, obgleich fie ihrer Entbindung entgegenjah, in einer Sänfte an das 
Sterbelager tragen, wurde aber jchon nach den eriten Worten des Kaiſers jo 
ohnmädhtig, daß man fie wegbringen mußte Am nächjten Tage that fie eine 
Fehlgeburt, und am andern Morgen war fie eine Leiche. „Und ich lebe noch,“ 
rief Joſeph bei diefer Kunde aus. Der letzte Gruß galt den fünf Damen; am 
Vorabend des Todestages brachte Lascy ihnen ein Abjchiedsbillet des Kaiſers. 
In der Frühe des 20. Februar hauchte Iofeph nach kurzem Todesfampfe feine 
große und edle Seele aus. „Die Gejchichte — fügte die »Wiener Zeitung« der 
Todesnachricht bei —, wird ihm die Gerechtigkeit leijten, daß er mächtige Vor— 
urteile zum Teil glüdlich befiegt und daß er großen Wahrheiten nicht nur den 
Weg zum Thron eröffnet, jondern aud einen ausgebreiteten Einfluß verjchafft 
hat. Er hat auch in der furzen Zeit feiner Regierung jo viele wichtige An- 
jtalten gemacht und jo viele jegensvolle Denkmäler der Weisheit und Güte 
hinterfaffen, daß der Dank der Nachkommenſchaft feinen Namen verewigen wird.” 

Mit dem Tode ihres Faiferlichen Freundes erlojch auch Eleonorens Glücks— 
jtern. 1789 war ihr Gemahl an einem Faulficber, das er ſich im türkiſchen 
Feldzuge geholt Hatte, geſtorben; 1795 fiel ihr ältefter Sohn, auf den fie große 
Stüde gehalten hatte, im Duell von der Hand des Barons von Weichs, eines 
jungen Domherrn aus Osnabrüd. Gegenstand des Streites joll die ſchöne und 
geiftreihe Fanny Arnftein, eine geborne Itzig aus Berlin, die Gattin des Bankiers 
und ſchwediſchen Generalfonjuls Nathan Adam Arnjtein, gewejen fein, in deren 
Salons jich alles zufammenfand, was Wien an Intelligenz aufzuweiſen hatte. 
Sie hat eine gewiffe Bedeutung für die Gejchichte Wiens, denn fie vertrat hier 
zuerst jene Bewegung im Sudentume, welche in Berlin mit Mendelsjohn begonnen 
hatte und in der Rahel ihren Gipfelpunft gewann. Der zweite Sohn, Wenzel, 
der für den geiftlichen Stand bejtimmt war, machte der Mutter durch feinen 
leichtfinnigen Lebenswandel vielen Kummer; erjt als er das Pfaffenkleid ab- 
gelegt hatte und Eoldat geworden war, befjerte fich feine Aufführung. 1795 
ſtarb Leopoldine Kaunig, die teure Schweiter und Beraterin. Sie hinterließ 
nur eine Tochter, welche noch in demjelben Jahre den Grafen Clemens Metternich, 
den ſpätern öfterreichiichen Staatskanzler, heiratete. 

Nachdem Eleonore Liechtenftein in ihrer Jugend den höchſten Glanz; der 
öfterreichifchen Monarchie unter Maria Therefia gefehen und jpäterhin Joſeph II. 
näher als irgend eine andre Frau gejtanden hatte, mußte fie am Ende ihres 
Lebens den Zufammenfturz des alten Staat3gebäudes mit erleben. Sie ftarb 
an demjelben Tage, an welchem die Reſte der großen Armee die Berefina zu 
überjchreiten begannen. 

Eleonore war eine Frau, deren Wert erft dann erkannt werden kann, wenn 
jie mit eignem Maße gemefjen wird. Ihr Leben fiel in die zweite Hälfte des 





ns ee Me. a 


518 Zwei fürftlihe frauen des achtzehnten Jahrhunderts. 





achtzehnten Jahrhunderts, aber ihre Bildung wurzelte in der Kultur der erften 
Hälfte diejes Jahrhunderts umd war deswegen ganz franzöfiih. Sie verjtand 
wenig von der bildenden Kunſt, wenig von der Mufif und noch weniger von 
den Naturwiſſenſchaften; nur in der Geſchichte und Literatur befaß fie gründliche 
und umfalfende Kenntniſſe, die fie aber nicht im Kloſter zu Straßburg, jondern 
durch jpätere fleißige Lektüre erworben hatte. Sie fing mit den franzöfiichen 
Klaſſikern an und endete mit den deutſchen. Nur Roufjeau iſt ihr zeitlebens 
fremd geblieben. „Ich danke Gott, jagte fie 1806, daß ich niemals die Werte 
diefes verführerijchen Autors gelejen habe; mein Abbe Hielt mich immer davon 
zurüd, er hätte mir cher Voltaire erlaubt.“ Im Wiener Verkehr lernte jie 
zwar Deutjch, aber jie vermochte jich darin nur unvdollfommen und ſchwer aus: 
zudrüden, und wenn fie auch jpäter die beiten Werke der deutichen Literatur 
fennen gelernt hat, den tiefern Gehalt derjelben hat fie nicht erfaßt, jo wenig 
wie den Wohllaut, die Kraft und Innigfeit der deutjchen Sprache. Sie erfannte 
dies umd drang bei ihren Kindern frühzeitig darauf, daß fie deutjch denken, 
Iprechen und jchreiben lernten. Sie munterte ihre Tochter auf, deutjche Briefe 
zu jchreiben; „wenn du auch nicht jo gut jchreibit als die Frau Herder, welche 
ji durch ihr ganzes Leben geübt hat und unter einem jolchen Meiſter, wie ihr 
Mann tft.“ Dagegen blieb fie den Aufklärungstheorien zeitleben® abgeneigt, 
indem fie in ihnen nur die Negation aller pofitiven Religion und der altüber: 
fommenen fozialen Verhältniſſe erblidte. Ein wahres Entjegen mußte ihr daher 
die franzöfiiche Revolution einjagen. In der Politik war fie eine Freundin 
der alten feudal=füderaliftiihen Zujtände, wenn fie auch wohl erfannte, dag 
diejelben nicht für jede Zeit paßten. Als 1802 eine Rejtauration der therefianifchen 
Staatsordnung angejtrebt wurde, jagte fie: „Die Zeit der Kaiferin Maria 
Therefia war vielleicht die glüclichjte für die Monarchie, aber ich wünfche fie 
nicht zurück; ift auch nicht möglich, die politifchen Verhältniffe find anders 
geworden.“ Mit ganzer Seele hing fie an der alten Ordnung des Reiches, 
und als diejelbe zufammenbrach und das Kaiſertum ſang- und flanglos zu Grabe 
getragen wurde, war jie tief erjchüttert. Sie war ein durch und durch geſunder 
und offner Charafter, alles Myſtiſche und Phantaftiiche war ihr zuwider. Es 
erregte nur ihre Heiterkeit, als im den fiebziger Jahren Wesmer mit dem 
tieriſchen Magnetismus jeinen Schwindel trieb, als Gall über die Schädellehre 
Borlefungen hielt und der Abenteurer Cafanova jo viele wunderfüchtige Frauen 
begeilterte. Ebenjo hate fie alle Geheimthuerei und Geheimbündlerei und wollte 
weder von den Freimaurern und Slluminaten, noch von den Roſenkreuzern 
etwas wiſſen. 
Breslan. Ehriftian Meyer. 





Englifche Muſik. 


— ie Meinung über die engliſche Muſik ſteht auf dem Feſtlande ſeit 
EN 3 | langer Zeit feſt; fie ift, in Deutjchland zumal, eine kurzhin abfällige. 
) Wir mefjen die mufifaliiche Bedeutung eines fremden Landes 

—— in erſter Linie am ſeinen Kompoſitionen, und bei dieſem Maßſtabe 

N bleibt England unter dem Nullpunfte. E3 hat Komponiſten, e3 hat 
— aber dieſe werden ſogut wie nicht exportirt, ſie ſind größtenteils 
nicht exportfähig. Das war nicht immer ſo. Vor zwei und drei Jahrhunderten 
hatte England ſeine ſchaffenden Tonkünſtler, welche neben den beſten des Feſt— 
landes genannt werden durften. Da lebte Henry Purcell (1658 bis 1695), 
den ſie heute noch den britiſchen Orpheus nennen und noch heute praktiſch ver— 
ehren, d. h. durch ſchöne Geſamtausgaben ſeiner Werke und durch Aufführung 
derſelben. Er war einer der erſten Engländer, welche Opern ſchrieben, Opern, 
die dramatiſches Leben haben und ſich namentlich durch reizende Chöre aus— 
zeichnen. Noch bedeutender ſind ſeine Kirchenkompoſitionen; in erſter Linie das 
große, noch heute vielfach zu Gehör gebrachte Tedeum. Man traut dem auf— 
fallend ſinnlichen Geſichte des Künſtlers die tiefen Züge kaum zu, welche in 
dieſen Werken leben. 

Eine noch höhere Stellung als die Werke Purcells nehmen auf dem Ge— 
biete der mittelalterlichen Vokalkompoſition die engliſchen Madrigale ein. 
W. Byrd, John Dowland, Thomas Morley, John Wilbye ſind die Haupt— 
vertreter dieſer Gattung. Es waren ſehr kunſtreiche Männer. In der Manu— 
ſtriptenſammlung bedeutender Komponiſten (ſie iſt ſo reichhaltig, daß auch manche 
unbedeutende ein Plätzchen fanden), welche gegenwärtig in Verbindung mit 
der großartigen Ausſtellung von Erfindungen in Kenſington (Albert-Hall) 
zur Schau ſteht, lockt kein Stück die Beſucher ſo an wie ein Blatt in Rieſen— 
folio von der Hand jenes Wilbye beſchrieben. Es iſt das Fragment eines 
Pſalmes, den er für vierzigſtimmigen Chor a cappella fomponirt hat: ein 
Beweis, daß die englifchen Komponijten jener Zeit ſich auf die Technik und 
den Prachtbau der venetianischen Tonjchule gleichjall3 veritanden. Was wir 
aber an den englischen Madrigalen jener Periode befonders jchäßen, das iſt 
ihr menjchlich anheimelnder Ton: das warme Gemüt, die einfache, echte Herzlich: 
feit und die zuweilen draftiiche Zuftigfeit, welche ihren Inhalt bilden. Die 
ſchönſte Seite des engliichen Nationalcharafters fommt in ihnen zum Ausdrud, 
wie fie auch noch heute im Familienleben von merry Old England lebt. Seit 
mehreren Jahren find dieſe hübjchen Kunftwerfe aus dem hiſtoriſchen Käfig 
wieder erlöjt worden. Eine Anzahl ift auch in Deutjchland durch die Ausgabe 
des Münchner Kuſtos I. I. Maier bekannt und beliebt geworden. 





320 Engliſche Muſik. 


Nach jener Madrigalenperiode hat ſich die engliſche Muſik nie wieder 
über die Höhe anſtändiger Mittelmäßigkeit emporgeſchwungen. Die Arnold, 
Arne, Dibdin, Storace, Biſhop — ſie alle haben ſehr hübſche Sachen in ihren 
Opern, und namentlich ſind es volkstümliche Elemente, die ihre Muſik zuweilen 
traulich machen. Aber keiner von ihnen hat es zu einer imponirenden Origi— 
nalität gebracht. Man ſieht die Begabung, aber es ſcheint der künſtleriſchen 
Atmoſphäre diejenige Kraft zu fehlen, welche das Talent in die Höhe fördert 
und zu ſeiner vollen Entfaltung bringt. Größer noch als auf dem vofalen Ge— 
biete ijt die Differenz zwiſchen fontinentaler und englischer Mufif auf dem in- 
ftrumentalen. Eine einzige halbe Säule: Sterndale Bennett, vertritt die Ehre 
des Landes im ganzen neunzehnten Jahrhundert! Neuerdings jcheint e8 beſſer 
zu werden. Die „ſtandinaviſche Symphonie“ von 75. Comwen, die in mehreren 
deutjchen Konzertjälen während der Ichten Winter aufgeführt worden ift, darf 
fi) wohl hören laffen. Sie ift nicht ganz reif, aber fie hat Fräftige Phantaſie. 
Und Cowen fteht nicht mehr allein, namentlich einige junge Schotten haben 
lebensfähige und talentvolle Inftrumentalfompofitionen über den Kanal gefchidt. 

Sp wenige Komponiften — und doch jo lohnend, in England zu fompo- 
niren! Die Honorare, welche in London von den Mufikverlegern für gangbare 
Sachen bezahlt werden, machen einem deutjchen Tonfünftler das Waſſer im 
Munde zufammenlaufen. Da ift Herr A. Sullivan, der gegenwärtige Matador 
der englischen Tondichter, ein Talent in der Sphäre und von der Größe unjers 
verftorbnen Abt etwa und ein praftiicher Kopf, der feine augenblidtichen Chancen 
durch unermüdliche Lieferung von neuen Operetten und Liedern auszunugen 
weiß. Er erzählt jelbjt durch den Mund eines Interviewer, daß cr für eins 
feiner frühern Lieder, welches jehr cinjchlug, 700 Pfd. Honorar (= 14000 Marf) 
erhalten habe und für eimen der legten jeiner Favorit songs (das hübjche 
Last Chord, das ihm wohl nicht mehr als zwei Stunden Arbeit gefojtet haben 
fann) bezieht er eine jährliche Rente von 300 Pfund. 

Bekannt ift es, daß auch die Unterrichtshonvorare in England jehr Hoch find. 
Eine Stunde bei Gejangs- und Klavierlehrern, die fich zu den befjern rechnen, ift 
nicht unter 20 Mark zu haben, und die Spiten der muſikaliſchen Pädagogik, 
Männer, die größtenteil® auf dem Kontinent nicht einmal dem Namen nad) 
befannt find, find für diejen Preis nicht einmal zugänglid. Der Unterricht 
liegt zum großen Teile in den Händen von Ausländern, Deutjchen für das 
Inftrumentale, Italiener für den Gejang; die Eingebornen genießen nicht das— 
jelbe Vertrauen. Und doch find die Engländer feine jchlechten Mufiklehrer. 
Bis zu einem gewilfen Grade fommt ihmen für diejes Fach ihr praftijcher Sinn 
zu gute. Auch im Theoretiichen bewährt fi) dad. Die Harmontelehre von 
Macfarren 3. B. gehört zu den inftruftivften Werfen ihrer Gattung — die 
Gabe, ja jelbit die Einficht von der Notwendigkeit, die Lehrjäge durch gute 
Paradigmen anſchaulich zu machen, zeigt fi) in wenigen deutichen Lehrbüchern 


— — —— ie - — — — — — 


Englifhe Muſik. 521 


jo trefflich wie in diefem englijchen. In neuerer Zeit fcheinen ſich die Engländer 
ihrer pädagogiüchen Befähigung bewußt zu werden: das neue, vielbejprochene 
Royal College of Musie hat in feinem Lehrperjonal die Ausländer jo gut 
wie ausgejchlojjen. Diejes Injtitut ift wohl das reichjt dotirte Konjervatorium, 
welches zur Zeit exiftirt: Paris, Neapel, Mailand find gegen jeine Fonds 
Bettelfinder. Ob es aber den jungen englischen Deufifern einen Aufenthalt in 
Berlin, Leipzig, München oder einer andern mufifaliichen Hauptſtadt Deutjch- 
lands wird erjegen fönnen, bezweifeln wir. Ja, es jcheint uns etwas bornirt, 
daß man dag überhaupt will. Darin liegt wohl derjelbe verbiendete National- 
dünfel, der die englischen Mufifer ab und zu plößlich ergreift und zu einer 
Itarfen Blamage treibt. S. Bennett, der doc) ohne Mendelsjohn und Schu- 
mann nichts geweſen wäre, erklärte einmal als Direktor der jegt in die zweite 
Linie degradirten Royal Academy of Music, daß die englische Muſik der 
deutjchen, franzöfiichen, italienischen ebenbürtig, daß fie groß, jelbitändig, genial 
jei. Sein Nachfolger im Amte, der obengenannte Macfarren, hat diejen Aus- 
ſpruch Häufig wiederholt und fic zu demjelben Glauben bekannt. Der praktiſche 
Beweis it immer ausgeblieben, die wiederkehrenden Verſuche, ihn zu führen, 
3 B. duch eine englische Nationaloper, fielen bei den eignen Landsleuten durd). 

Es ijt nicht zu verfennen, jener praftiiche Sinn, dejjen wir oben erwähnten, 
hat jeine Schattenfeiten. Er macht die Menjchen zu mancher höhern Erkenntnis 
einfach unfähig, wenn er zu jehr in den Vordergrund gejtellt wird. Wer Eng- 
land kennt, wird für diefe Behauptung eine große Anzahl Beifpiele beibringen 
können. Wie leer und ſchwach das geiftige Leben in den englischen Mittel- 
flafjfen! Wäre nicht Religion, Menjchenfreundlichkeit und Wohlthätigfeit durch 
die alte Sitte geheiligt und gefeftigt, wo bliebe das Ideal in jenem Lande! 
Die Hingabe, mit welcher der deutjche Gelehrte, der deutjche Künstler über das 
zum Leben Erforderliche hinaus fich feinem Berufe widmet — wie wenige üben 
fie da drüben, und noch viel weniger find es, die fie zu ſchätzen wiſſen und 
nicht für eine Untugend halten! Ja, es ijl dort auf der jchönen, veichen Infel, 
welche von unjern Vettern bewohnt wird, des praktischen Sinnes etwas zu viel. 
Er hat die Phantafie dieſes Volkes gelähmt, feinen Geift verarmt, die großen 
Geſichtspunkte jelten gemacht. Es wird vielleicht ein Tag kommen, two dieſer 
Mangel ſich auch an der politischen Stellung dieſes Landes, an feinem gemeinen 
und praftischen Leben ſelbſt rächt! 

Daß diejes übermäßige Vorwalten des praftifchen Sinnes mit dazu bei- 
getragen hat, die Entwidlung der engliſchen Muſik Hintanzuhalten — wer wollte 
dies leugnen? Die Stagnation begann genau in dem Moment, in welchem in 
Deutjchland die Inftrumentalmufif in den Vordergrund trat, jener Zweig der 
Tonkunſt alfo, welcher an die Phantafie der Schaffenden wie an die der Hörer 
die größten Anforderungen jtellt. Der Abſtand zwilchen England und Deutſch— 
land hätte aber nie jo groß, wie er ift, werden fönnen, wenn England mehr 

Grenzboten III. 1885. 66 


522 Englifhe Muſik. 


Orcheſter bejeifen hätte. Daran ift e8 aber bis auf den heutigen Tag noch 
in einem Grade arm, welcher einem Deutjchen — Dank fei es unfrer Klein— 
ftaaterei mit ihren Höfen und deren vortrefflichen Kapellen — geradezu un- 
glaublich erjcheinen muß. In ganz England zählte man bis vor „zwanzig Jahren 
zwei Konzertorchefter: das der Philharmoniſchen Gejellihaft in London und das 
des Deutichen Charles Halle in Manchefter, eine Art Reifefapelle, welche in der 
Beit ihres Wirkens im Lande die müglichiten Pionier: und Miffionärdienite ge- 
feiftet hat. Jetzt wird es etwas befjer, aber es giebt noch jo viele Städte von 
zwei⸗ bis breihunderttaufend Einwohnern in England, wo ohne Hilfe von London 
her fein Symphoniefonzert und keine Dratorienaufführung zuftande kommen fann. 
In London, der großen Viermillionenftadt, haben fich inzwifchen neben ber 
alten berühmten „Philharmoniſchen Geſellſchaft“ noch mehrere Vereine für In— 
jtrumentalmufif gebildet, aber es giebt nur ein zweites Orchefter, welches deutſchen 
Anſprüchen genügt: das des Ktryitallpalaftes. Unter Direktion eines Deutjchen, 
namens Manns, hat fich dasjelbe der neuern Muſik jehr angenommen und wird 
dafür von jungen Schwärmern in einer Weile gelobt, welche feinen Leitungen 
und der Kapazität des Herrn Manns nicht ganz entjpricht. Diefer ift eine Art 
Bilfe — nicht mehr und nicht weniger. Daß man ihm die Direktion der großen 
Händelfefte übertragen hat, ift für uns Deutjche verwunderlich, aber für die 
englischen Berhältniffe bezeichnend. England Hat zu allen Zeiten Sänger ge- 
habt, die mit Seele zu fingen wußten und die auch auf dem Feitlande Ehre 
einlegten. Erinnern wir ung an O'Kelly, an Miß Storace aus Mozarts, an 
Miß Shaw und Novello aus Mendelsjohns Zeit. Spärlicher war es mit guten 
Sntrumentalvirtuojen verjehen. Das Allerjeltenite aber find gute englifche 
Dirigenten. Das Techniſche und Mechanifche beherrichen fie meiſt: es geht rein 
und präzis zu, aber auch äußerſt langweilig. Wir vermiffen fo ziemlich alles, 
was die Muſik erft zur Mufit macht: die Feinheit, das Feuer und das Leben 
im Bortrage. Dieſe Dirigenten find der böfe Genius der Aufführungen, fie 
fungiren wie Automaten und könnten ebenfo gut, vielleicht noch bejfer, weg— 
bleiben. Wir wiſſen nicht, woran es liegt, daß unter den Engländern fo wenig 
Mufifer gedeihen, die fähig find, den Geift der Kunftwerke auf die Maffen zu 
übertragen. Einige juchen die Urjache in der Money: Macherei, welche den Herren 
feine Beit läßt, fi in große Kompofitionen zu vertiefen; andre jagen wieder, 
die Urſache liege im Temperament der Nation, in feiner fchwerfälligen und im 
Grumde antimufikalischen Organifation. Zu bedauern ift diefer Mangel an fähigen 
Dirigenten namentlich in Bezug auf die Chöre. Denn im allgemeinen find Die 
natürlichen Bedingungen für den Chorgeſang in England günftiger als bei uns. 
Das Material ift durchjchnittlich beſſer. So paradox dies angefichts der Schwachen 
Leiftungen der Engländer auf dem Gebiete der höheren Muſik klingt, die That- 
jache ift doch unverkennbar: die Liebe zur Muſik in England ift größer als bei 
uns in Deutjchland. Man trifft infolgedefjen dort einen viel größern Prozent- 


Eugliſche Muſik. 523 





ſatz junger Leute, die vom Blatte und die rein ſingen, als bei uns. Man kann 
das ſchon merken, wenn man in die Kirchen geht: in Stadt und Land iſt es 
dort in der Regel eine große Freude zuzuhören, wie die ganze Verſammlung 
friſch und ſicher die zum Teile nicht leichten Hymnen und Pſalmen ausführt. 
Dem engliſchen Gemeindegeſang fehlt der Ernſt und die Feierlichkeit unſrer 
Choräle, in einzelnen Sekten hört man muntere Weiſen, die wir unter dem 
Begriff der Kirchenmuſik faum unterbringen können. Aber das Wohlgefallen 
an der Ausführung, an dem allgemeinen und fichern Mitthun Hilft dem 
Fremden über diefe Bedenken hinweg. Auch ift in England die Zahl der ge 
ſchulten Kirchenchöre eine viel größere. Ein Blid in die Zeitungen zeigt ſchon, 
daß dort der Stand eines Kirchenfängers jehr annehmbare Chancen bietet. E83 
giebt Mufikfefte, welche nur von Kirchenchören in den Gejangspartien beſetzt 
werden. Das alles find Verhältniffe, welche dem Gedeihen des Chorgejanges 
und der Chorvereine in England ſehr zu ftatten fommen. So oft ich Dratorien- 
aufführungen von englischen Chorvereinen gehört habe, war ich über die Fülle 
und Reinheit des langes und über die Sicherheit und Friſche, mit welcher 
gelungen wurde, erfreut. Garcia und andre Gejanglehrer haben zwar erflärt, 
eine engliiche Kehle und ein guter Gejangton jeien Größen, die einander aus— 
ichlöffen. Das mag richtig fein, jo lange die Engländer Italienijc oder Deutjch 
fingen jollen — in diefen Sprachen ift ihnen die Bejtimmtheit der Vofale un: 
erreichbar. Wenn fie aber in ihrer Mutterfprache zu fingen haben, jo kommt das 
vorzügliche Stimmenmaterial zur Geltung. Es klingt gut, nur etwas anders, 
als wir es gewöhnt find, nämlich etwas flacher und heller. Diejelbe Nitance be: 
merfen wir aber auch im Ton der englischen Klaviere und ſchließlich auch auf 
den engliichen Bildern. Sie ift dem Engländer die normale — er hört und fieht 
etwas anders als wir —, eine Heine Neigung zum Grellen fann man in allem 
verfolgen, was englifch ift: in der Tracht der Kleider, in den Romanen u. |. w. 

Einen ziemlich guten Beweis für die günftige Dispofition zum Chorgefang 
fann man in der Menge der Aufführungen erbliden, welche die Chorvereine 
veranstalten. Wer namentlich um die Weihnachtszeit nach London kommt, wird 
überrajcht fein über die Menge von Gelegenheiten, Oratorien zu hören — oft 
zwei vder drei an einem Tage! Und in was für Befegungen! Die Chorichaaren 
von fünf-, ſechs- achthundert Damen und Herren, welche wir bei unjern Muſik— 
feſten anftaunen, find dem Londoner eine alltägliche Erjcheinung. Die Rieſen— 
ſäle des Keryitallpalaftes und von Albert-Hall verlangen auch Maſſen, wenn 
die Muſik noch phyſiſch wirken jol. Man denfe jich einen Kuppelbau, in welchen 
8000 Zuhörer Platz Haben, das ift Albert-Hal! Bon der oberiten Galerie 
fann man die einzelnen Mufifer auf dem Podium nur mit dem Opernglafe 
unterfcheiden, und an grauen, feuchten Tagen liegt der Nebel im Raume und 
bedecft das ganze Parterre. Und doch Hört man in dieſem Koloß ganz gut, 
jelbft die Soliften. Dünn Eingen die Stimmen allerdings, ſelbſt die ftärkften, 


524 Englifhe Muſik. 


wie die der beliebten Altiftin Patey, aber man kann ganz gut jede Regung des 
Vortrags verfolgen, wenn die Künftler nur über Vortrag verfügen. Strauß 
aus Wien jpielte kürzlich dort mit fünfundvierzig Mann, und mit ganz 
gutem Effeft. Am beiten wirkten die langſamen Stüde mit Sordinen im Streich: 
orchefter. Man kann fich die Summe denfen, welche ein fo gefülltes Haus 
einbringt, und es ijt nicht zu verwundern, daß der geichäftliche Unternehmung: 
geift die Chorinftitute in Megie genommen hat. Im der großartigiten Weije 
it dies bei den jogenannten Händelfeften der Fall, welche die Aftiengejellichaft, der 
der Kryſtallpalaſt gehört, aller drei Jahre in ihrem Händeljaale veranftaltet. Man 
giebt das durchjchnittliche Gejchäftsergebnis diefer Händelfefte auf 10 000 Pfund 
Ausgabe und 30000 Pfund Einnahme an. Das ergiebt einen Reingewinn von 
20000 Pfund für die Kompagnic. Wer einen Begriff von der Bejegung bei 
diefen Händelfeiten haben will, der gehe in den Saal. Gerade gegenüber von 
der großen, jchönen Orgel jteht ein Pavillon von den Dimenfionen eines Heinen 
Sartenhäuschens. Dieſer Pavillon enthält ein Modell von dem Chor- und 
Orcheſterkörper, wie er bei den Händelfeften zujfammentritt: die Hauptfiguren 
find Handgroß und porträtgetreu. Wir konnten Coſta, den frühern Dirigenten, 
und einige Soliſten erfennen, und fingen dam an, im Orcheſter die einzelnen 
Inftrumente zu zählen. Es waren fünfundfiebzig Kontrabäffe! Das genügt. 
Wir rechnen in Deutjchland ein Konzertorchefter unter die großen, das über: 
haupt mit fünfundfiebzig Inftrumenten befegt it. Das Gewandhausordeiter 
im alten Saale war nicht ftärfer. Verſchweigen läßt fich allerdings nicht, daß 
dieje Riejenfäle auch etwas demoralifirend gewirkt haben und der jo wie jo ſchon 
landesüblichen Rohheit im Muſiziren noch) mehr Vorſchub leiſten. Ich bin 
einmal aus einer Meffiasaufführung in Albert-Hall Hinausgegangen, weil ich 
(außer der ledernen Direktion des Herrn Barnby) die den Chören zugejchriebene 
Baßpoſaune nicht mehr vertragen fonnte. E3 war, wie wenn man der Rafaelſchen 
Sirtina die Baden mit Fiegelrot überjtreihen wollte, um ſie für die Ferner: 
jtehenden befjer erfenntlich zu machen! Gegen jene Baßpojaunen, Ophifleiden 
und ähnliche Gemeinheiten, die dem Händel und Beethoven verjeßt werden, jagt 
aber fein Menſch etwas. Die engliiche Stritif, die bis auf wenige Ausnahmen 
unter aller Kritik ift, jagt garnicht® davon, weiß vielleicht garnicht, dab das 
nicht in Ordnung ift. Und ſolche Barbareien find vollftändig überflüffig, denn 
man bat zur Verſtärkung die beiten, gewaltigiten Orgeln zur Hand. In Eng- 
land ift — anders als bei uns — die Orgel als Begleitungs- und Füllinjtru- 
ment bei Choraufführungen nie außer Dienjt gefommen, und für die in Deutjch- 
land jo viel ventilirte Begleitungsfrage ift die Tradition nie unterbrochen worden. 

Die Orgel erjegt dem englijchen Mufiffreunde in den Provinzjtädten einen 
Teil der Genüffe, die der Deutjche in den Orchefterfongerten findet. Organ-reeitals 
finden überall und regelmäßig Statt; während der mufifalischen Jahreszeit wöchent- 
ih. Sie find jchr gut von einem jehr dankbaren Publikum bejucht. Die eng: 


Englifche Muſik. 525 


fischen Kirchenorganiften haben mir wenig gefallen: fie machen Vor: und Nach: 
ipiele, Die gar zu profan find. Die Konzertorganiſten find viel bejjer. Sie 
find durchjchnittlich gute Techniker, im Pedal und Manual fertig und Birtuofen 
im Regiſtriren. Sie jpielen fleißig Bach, aber auch jehr viel franzöfiiche 
Orgelmuſik — ein Genre von Tondichtung, das wie ein klingender „Froſch— 
und Mäuſekrieg“ wirkt. Es war mir betrübend und bedenklich, daß fich das 
Publikum gerade über diefes mufifaliiche Katzenſilber jo erfreut zeigte. 

Bei dem Mangel an Sonzertinftituten für die Pflege höherer Orcheſter— 
mufif, wie wir fie in Dentjchland zahlreich befigen, ift in England das Terrain 
für die Virtuofenkonzerte jehr groß. Aber es ift weder leicht, auf diefem Terrain 
Fuß zu faffen, noch auch ſich auf demjelben zu behaupten. Es iſt ganz auf: 
fällig, wie wenig fich der Engländer hier blenden läßt. Der Ruhm auf dem 
Seltlande veranlagt wohl eine Einladung, aber er wird in England erjt einer 
nenen jcharfen Prüfung unterworfen, und manche Größe fällt an der Themfe, 
die an der Pleiße und der Spree ficher fteht. In der Abichägung von Vir— 
tuojenfünften befigt der Engländer eine viel größere Sicherheit, als wir fie ihm 
in Deutjchland zutrauen. Er ift auf diefem Felde von Alters Her geübt: er 
hat urteilen gelernt, da er immer die Beiten vergleichen konnte. Seit Jahr: 
hunderten haben alle die Spiten der Sing: und Spielfunit London und die 
goldreiche Inſel aufgefuht. Der Engländer verlangt von dem Virtuoſen eine 
Spezialität, etwas Pofitives, an dem er ihn von einem andern unterjcheiden 
fan. Und er findet diejes Pofitive fchnell Heraus. Daher fommt es, daß 
manche junge Talente, die in Deutjchland lange unbemerkt in Reih und Glied 
mitliefen, ihre Stellung vor der Front erjt von London aus erhielten. Es 
giebt Konzertinftitute in London (die frühere Ella’jche Musical Union und die 
Popular Monday Concerts), welche für die Entdeckung neuer Sterne bejonders 
eingerichtet find und jahraus jahrein eine Unmafje von Novizen probiren und 
verbrauchen. Wie aber gegen junge Talente von wirklicher Eigentümlichkeit 
ungemein entgegenfommend und fürdernd, fo ift der Engländer gegen feine alten 
befreundeten Birtuofen ungewöhnlich pietätvoll und begrüßt und honorirt fie 
weiter, wenn fie auch nur noch den Schatten ihrer ehemaligen Leiftungen zu 
bieten Haben. Sir Julius DBenedict, für ung Deutjche eine Halbmythifche Er: 
inmerung aus der Weberfchen Zeit — die guten Londoner haben ihn gefeiert 
bis zu feinem vor wenig Monaten erfolgten Tode! An dem Birtuojenfegen 
der City nehmen übrigens die Provinzen ihren reichlichen Teil. Es iſt ein 
jtehender Gebrauch, daß die Unternehmer mit ihren erjten Kräften an den 
freien Tagen der Londoner Saifon oder nach deren Beendigung die Hauptjtädte 
der einzelnen Grafichaften bejuchen. 

Biel jpricht man von dem Reflamewejen, das in England mit den Konzert: 
unternehmungen und dem Auftreten der Birtuojen verbunden fein ſoll. Es ijt 
wahr: wer in England die öffentliche Aufmerkfamkeit auf fich lenken will, braucht 





ET En... —— 


926 Engliſche Muſik. 


jtärfere Mittel als auf dem Kontinent. Wir finden, daß in den großen Zei— 
tungen ein einzelnes Konzert fünf» bis achtmal hinter einander auf derjelben 
Spalte in Kleinen Variationen annoneirt wird, ja die Namen der großen Bir: 
tuojen werden von Dienftmännern auf Tafeln durch die Straßen getragen — 
man nennt diefe Annoncenmänner Sandwiches. Aber an Zartgefühl und Taft 
in diefem Reflamewejen find wir den Engländern feit der Einführung der Konzert: 
agenturen in Deutjchland ficher nicht mehr voraus. 

Zu den Zeiten der Queen Bess galt England für das muſikluſtigſte Yand 
der Erde, Mit Neid ſprach man auswärts von der großen Zahl der dort 
befindlichen Virginals (Klaviere), Auch heute noch wird in den englifchen 
Häuſern jehr viel gefpielt und gefungen — nur das Wie und das Was find 
etwas zweifelhafter Natur. Über letzteres orientirt man fich ſchnell, aber wenig 
befriedigend, durch einen Blid in die Verlagsverzeichniffe und in die Schau: 
fenfter der Mufifladen — Leihinftitute für Muſik giebt es in England nicht. 
Am deutlichiten aber zeigt fich die außerordentliche, große Liebe des engliſchen 
Volkes zur Muſik in der Rolle, welche die Straßenmufif in England jpielt. 
Es giebt Zeiten und Orte, wo man, joweit Häufer ftchen, faum ein ruhiges 
Bläschen findet. Da löft eine Bande die andre ab, eine größere eine fleinere, 
eine beffere eine fchlechtere. Da, wo eben ein Sänger ftand, zieht jet ein 
Klavierdreher auf — gewöhnlich find es jene entjeglichen, jegt auch jchon in 
Deutjchland auftauchenden Leierklaviere; daß eins mit den Händen und noch 
dazu mit geübten mufikalifchen Händen gefpielt wird, ift in der Straßenmufif 
höchſt ſelten. Wunderliche Emfembles begegnen uns: hier ijt ein Quintett 
von vier Trompeten und einem Bombardon, ein Vater mit feinen vier Knaben 
bejegt es, ein feines dreijähriges Töchterchen jchlägt den Triangel dazu; bald 
darauf treffen wir ein Triv von Trompete, Violine und Harmonium in Thätig- 
feit. Badeorte find am meiften heimgefucht. Da hört man ab und zu zwei 
Orcheſter zu gleicher Zeit jpielen, womöglich das eine in E-, das andre in 
Es-dur, und beide in der Regel mit vielen falfchen Tönen, Man trifft unter 
diejen Herumziehenden Banden gute, die Mehrzahl ift aber Herzlich ſchlecht. 
Bläſer von Mittelftimmen, die ein ganzes Stüd hindurch bequemlichjt auf ein 
und demjelben Tune bleiben, find eine häufige Erjcheimung. Sie jcheinen weder 
die Sicherheit ihrer Mitjpieler noch die Geduld des zuhöreuden Bublitums er— 
Ichüttern zu können. Die Mehrzahl diefer Banden kommt aus Deutichland 
oder behauptet dies wenigſtens. Als ich einmal den Führer einer jolchen 
Kapelle — ſie nannte fi) Rhine-Band — wegen des jchlechten Spiels inter: 
pellirte, erhielt ich als Antwort: „Ja, wir haben jo viele Engländer bei uns!“ 
Das Allerunerträglichite bei diefer Bandenmuſik ift die Frechheit, mit welcher 
fie die Originalinftrumentirung befannter Werke ändern. Ob Hochzeitsmarſch 
aus dem Sommernachtstraum, ob ein Haydnjches Andante — was es aud) 
jei, ohne die Piccoloflöte thun fie es nicht. Diejes vandalifche Verhalten gegen 





Englifche Mufif, 827 


die Driginalinftrumentirung der Meifter ift jedoch in England alt, und aud) 
in den Streifen der gebildeten Mufifer zu finden. Wir gaben oben hierfür ein 
Beijpiel bezüglich des „Meſſias“ — wenn alles veröffentlicht würde, wie man 
mit Händelfchen Werken in England bei praftiichen Aufführungen und auch bei 
Neudruden derjelben umgelprungen iſt — das Staunen würde groß jein! 

Rührend ift die Nachficht und die Mildthätigkeit, mit welcher der Eng- 
länder ſich dieſer Straßenmuſik gegenüber verhält. Bor das Haus, in welchem 
ich wohnte, fam mittags ein Bettler, der auf einer Trompete radebrechte, und 
gleich nach ihm ein fogenannter Krystall Ministrel: ein Menſch mit fchwarz- 
gefärbtem Geficht und mit bunten Lappen behäugt, jeinen Kleinen ebenſo ver- 
pußten und verunftalteten Jungen an der Hand. Erft blies er auf einem 
hohlen Hausjchlüffel — nein, es war eine Flöte von einer Sorte, die in 
Deutichland längst ausgeftorben ift. Dann frächzte er mit dem armen Kinde 
zujammen eine Parodie eines italienischen Opernduetts. Einmal läßt man fich 
jolhe Sachen der Kuriofität halber gefallen; aber dieſe Virtuoſen erjchienen 
jeden Tag zu der nämlichen Zeit wieder, und jeden Tag gaben ihnen die mit- 
leidigen Engländer willig und reichlich! 

Diefe ganze Straßenmufif gehört mit zu dem Stüd Mittelalter, das fich 
im englischen Bolfsleben erhalten hat. Im einzelnen Zügen tritt dieſer mittel- 
alterliche Charakter bejonders ftarf hervor: die Poftillone in Devonſhire blajen 
Clarin, den echten, langen Clarin mit dem eigentünlich vollen und reinen Tone, 
den wir in Deutjchland für unfre Bahaufführung jo gern wieder eingeführt 
haben möchten! Mittelalterlich it e8 auch, daß die Muſik zu Propaganda- 
und Agitationszwecken benugt wird. Dies gejchieht 3. B. von der vielbefprochnen 
Salvation-Army, welche die erjten Brejchen im dic Herzen der belagerten Ort— 
jchaften mit der großen Trommel legt. Die Salvation-Army wird in Deutjch- 
fand und auf dem Feſtlande jchr unterfchägt und verkannt, das ift gewiß; aber 
ihre Mufit kann man faum zu jchlecht machen! 

In dem Bilde, welches wir Hier flüchtig von der englifchen Mufit und 
vom englifchen Mufikleben entworfen haben, finden fich mehr freundliche Züge, 
als man in Deutjchland im allgemeinen amimmt. Die Anlage zur Muſik 
fann man den Engländern nicht abjprechen, in ihrer Neigung zu dieſer Kunſt 
jtehen fie hinter feinem Wolfe des Feſtlandes zurüd. Wenn fie in dem höhern 
Teile derjelben zurücdgeblieben find, jo lag das zur Hälfte wenigftens an einer 
ichlechten Leitung ihres Talents und an Fehlern, die noch wieder gut gemacht 
werden fünnen. Zu den ſchon genannten Anzeichen, welche den ernftlichen 
Beginn einer Befjerung zu verfünden fcheinen, wollen wir noch die Neuorgani: 
jation des Geſangunterrichtes in den Volksſchulen Hinzufügen. Es ſcheint uns 
darnach nicht unmöglich, dag England in der Muſikgeſchichte der Zukunft wieder 
eine bedeutendere Stelle einnehmen wird. 





Notiz. 


Agrarifche Bewegungen in Oberitalien. Faſt ganz undorbereitet lajen 
die Meiften kürzlich von ziemlich graufigen Empörungen der Bauern in Oberitalien 
gegen die großen Grundbefiger. Die Mitteilungen erinnerten in der That an die 
deutschen Bauerntriege. Wenn die italienische Negierung bald wieder eine Leidliche 
Ordnung hergeftellt hat, fo ift e8 doc von Intereſſe, auf die Uebelftände zurüd- 
zutommen, die fi in fo argen Symptomen Fundgaben. 

Unter den vielen Uebelftänden, Die aus alter Zeit die gegenwärtig neu belebte 
und fo begabte italienische Nation hemmen, ift aud) das Proletariat der Heinen 
Bauern. E3 herricht in Stalien überall, von Sizilien bis Piemont, aber feine be- 
trübendften Wirkungen zeigen fi in Oberitalien, wo das Klima nicht fo fehr die 
Bedürfnislofigkeit ermöglicht wie im Süden. Die Bauern find kaum nod Pächter, 
fie find eigentlih nur Tagelöhner. Die Verträge lauten 3. B. auf Sclafftelle und 
fechzig Gentefimi den Tag oder auf die gleiche Teilung der Produkte, wobei aber 
nody Abzüge gemadjt werden, oder fie lauten auf Wblieferung eines beftimmten 
Maßes von Produkten, wobei der Bauer den Schaden einer Mifernte zu tragen 
hat. Es kommt auch vielfach Geldvertrag vor zu Wucherfäßen, denn der Grund: 
befiter hat die Macht. Trotz der jtarfen Auswanderung der Staliener finden jich 
mehr Arbeitfuchende, als gut ift. Die Folge ift das elendeite Leben diefer Männer 
und Familien in Löchern, in denen das Wafler an den Wänden berunterläuft, 
eine Ernährung, die feit Generationen in zunehmender Weife die furchtbare Krank: 
heit erzeugt, die man Pellagra (Teufelsflehte, Alpenjforbut) nennt. Es ift ein 
Hautausſchlag, der ſich auf die Muskeln und zulegt auf dad Gehirn wirft und mit 
Melancholie nnd Geiftesfrankheit endet. Man rechnet faft hunderttaufend folcher 
Kranken auf eine Landbevölferung von etwa 64/, Millionen, alfo fünfzehn pro 
Mille. In Frankreich, wo diefe Krankheit auch nicht unbekannt ift, hat man heraus— 
gefunden, daß, wenn man an die Stelle des ſchlechten ungefalzenen Hirfebreis 
ordentlich gebadenes Brot jeßte, die Pellagra nicht mehr die Heranwachſenden be— 
fiel. Jedenfalls ift die Krankheit eine Elendskrankheit. 

Wenn die jo gequälten Bauern, die man jet zwangsweife lefen und jchreiben 
(ehren will, fid) mit brutaler Gewalt gegen ihre reichen Grundherren wenden, jo 
ift daS nur allzu begreiflihd. Ohne etwas von den Srländern zu willen, geben 
fie ähnliche Wege. Die füdlihern Landsleute werden zu Briganten au Mangel 
an Subfiftenzmittelu, im Norden wird auf andre direkte Art dem Gutsbeſitzer zu 
Leibe gegangen. Die eigentliche Urſache des Uebels erkennen fie nicht. Die Volks— 
bertreter und Staatsmänner fehen wohl, wie tief der Schade fit, auf dem Papier 
hat man auch Heilmittel dagegen entworfen, aber gefchehen ift nichts von Erheb— 
(ichteit, und bei der Natur des italienischen Parlaments verfteht ſich das ziemlich 
bon felbft, wenn man bedenkt, daß zu wirklichen Verbefferungen, wie Dr. Bernarbdi 
in ©. Schmollerd Jahrbüchern gezeigt hat, eine nicht unbedeutende Geldfumme ge 
hört, mit der das ohnehin vielbefteuerte Volk zu belaften kein Parlament gern auf 
fi) nimmt. 


—— — — — ——— — — — — — —— — — —— — — — — 


Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunomw in Leipzig. 
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig. 





Die Ruffen in Sentralafien. 


4. (Schluß.) 





@ 


DENK he wir die meuejte Gejtaltung der Dinge im nordweftlichen Af- 
— N S ahanijtan betrachten, wie fie der Sommer diejes Jahres auf: 
| Z a“ a2 weit, prüfen wir ausführlicher verjchiedne früher nur kurz berührte 
KON Sl Fragen in bezug auf die mittelafiatiihe Politik der Ruſſen. 
En Wie in der englischen Bolitif in überſeeiſchen Ländern pathetiiche 
Phraſen von der Berpflichtung Großbritanniens, auf Erden Gefittung, Huma— 
nität, Gejeglichfeit, Chrijtentum und wahre Wohlfahrt auszubreiten, eine große 
Rolle jpielen und namentlich in der Preſſe häufig wiederfehren, während in 
Wirklichkeit der reine Egoismus die Augen und Hände diejer Politik in Be- 
wegung feßt, jo wird uns auch von ruffiichen Schriftitellern nicht jelten ver: 
fihert, daß die Regierung des Zaren bei ihren Eroberungen in Bentralafien 
eine zivilifatorische Miffion verfolge, der fie fich nicht entziehen fünne. Die- 
jelbe joll wie ein Naturtrieb wirken und jo mächtig drängen, daß fie auch mit 
Opfern fortgejeßt werden müffe. Wäre das richtig, wäre der erjte und letzte 
Zweck der ruffiichen Bolitif in Mittelafien, den dortigen Staaten und Bölfer- 
Ichaften in Geftalt bejjerer Sitten und Einrichtungen Wohlthaten geiftiger und 
materieller Art zu erweijen, ihnen Licht und Freiheit zu bringen, ihre Lebens» 
bedingungen edler, jchöner und menjchenmwürdiger zu machen, jo wiirde das wie 
ein Sprung in der natürlichen Entwidlung der Dinge, wie eine Anomalie, wie 
eine ſeltſame Laune der Vorjehung ausjehen, die das in den Willen des ruſ— 
fiichen Volkes gelegt hätte. Allerdings it Rußland bei feinem Vordringen 
nach dem Oxus und Jarartes und weiterhin nad) Süden cin Kulturträger und 
Grenzboten III. 1885. 67 


- 
w 


530 Die Rufen in Sentralafien. 





bringen müſſen. Bewußter Zwed aber war fein Zivilifiren nicht. Es hätte 
dann zu Haufe bleiben und hier mit der Kultur anfangen oder, wo jchon an- 
gefangen und einiger Erfolg erzielt worden ift, fortfahren müſſen. Es hätte 
da noch reichlich Gelegenheit gefunden, zu reformiren und zu beglüden, ſchon 
im europätichen Zeile des ungeheuern Reiches und noch) mehr in den uner- 
meßlichen Gebieten Sibiriens. 

Richtiger, aber auch einzuichränfen und zu ergänzen ift e8, wenn man von 
einem Verhängniſſe geiprochen hat, welches die Ruſſen im Zentrum Afiens von 
Eroberung zu Eroberung nötige, nachdem fie einmal damit begonnen. Der 
erjte Schritt in diefer Nichtung war die Aufnahme zweier Kirgifenhorden im 
den ruffiichen Staatsverband. Sie wurden dadurch vorerit nur dem Namen 
nach Unterthanen der Zaren. Bald jtellte fic) die Notwendigfeit heraus, ie 
wirklich) zu ſolchen zu machen, ihnen einerjeit8 Ordnung und Gejeg aufzuzwingen 
und jie amdrerfeitsS gegen die Intriguen und Räubereien der Nachbarn zu 
Ihügen. Man verjuchte dies zunächjt damit, daß man bei ihnen eine Linie 
von Forts anlegte. Ein Aufitand unter ihnen erforderte, wie wir zeigten, zu— 
erit Expeditionen gegen fie, welche dieje Linie überjchritten, dann den Feldzug 
Perowskis gegen Chiwa, welches die Inſurrektion angejtiftet und unterjtüßt 
hatte. Perowsfis Unternehmen fcheiterte, und man verjuchte, fich in der nächiten 
Zeit mit der Anlegung von Steppenbefejtigungen an der Grenze Schuß zu 
ſchaffen. Eine feſte politiiche Grenze gab es nicht, und die natürliche, zu der 
man griff, war auch nicht leicht zu beftimmen. General Obrutjchew wollte fie 
am nördlichen Rande der „Hungerſteppe“ hinlaufen laffen, die ſich vom Kaſpiſee 
über den Uſt Urt nad) dem Aralſee und von da nach dem Tichufluß und dem 
Nordufer des Balfajchjecs Hinzieht, und ſchlug vor, hier, nicht weiter jüdlich, 
die beabfichtigten Forts zu erbauen, indem er glaubte, die werde genügen, um 
den Einbruch von Räuberbanden aus den füdlichen Nomadenjtämmen in das 
ruffiiche Gebiet zu verhindern umd die eignen Unterthanen im Zaume zu halten. 
Der Kaifer Nikolaus aber befahl ein weiteres Vorgehen nach Süden und An— 
legung eines Militärpoftens an der Mündung des Syr Darja. Dieſe Maß— 
regel erfüllte ihren Zwed nicht, das neue Fort war zu weit von Orenburg 
entfernt, es ficherte die Ruhe nicht, vielmehr wurden dicht dabei Karawanen 
beraubt, und fein Bau war der zweite verhängnisvolle Schritt der ruſſiſchen 
Politif nad; Mittelafien Hin, da er die Ruſſen, welche es bis dahin nur mit 
den dortigen Nomaden zu thun gehabt hatten, zugleich mit der jeßhaften Be— 
völferung jener Gegenden in feindliche Berührung brachte. Aus dem einen 
Meilitärpoften entwickelte jich eine Linie jolcher Befeftigungen am Syr Darja, 
und mit der Einnahme von Akmedſched befand man fich in offnem Kampfe mit 
dem Chanat von Kofand. Hatte man eine Pofition gewonnen, jo durfte man 
fie nicht aufgeben, da man damit an Anfehen eingebüßt hätte, und um fie nicht 


Die Ruffen in Zentralaften. 951 





aufgeben, nicht zurüchweichen zu müffen, mußte man weiter erobern, die Ver: 
teidigungslinie weiter ausdehnen. Ein diplomatifches Rundſchreiben des ruffischen 
Neichstanzlers Fürsten Gortichafow ſprach diefe Notwendigkeit damals in fol- 
genden Süßen aus: 

„Die Stellung Rußlands in Zentralafien gleicht der aller zivilifirten 
Staaten, die fi) mit halbwilden Nomadenvölfern ohne fejte Gefellichaftsordnung 
berühren. In jolchen Fällen ift es im Intereſſe der Sicherheit der Grenzen 
und der Handelsbeziehungen notwendig, daß der zivilifirte Staat ein gewiſſes 
Übergewicht über die Nachbarn übe, deren unruhiges Wejen fie höchit un- 
bequem macht. Man ist genötigt, Einfälle und Plünderungen abzınvehren, und 
zu dem Zwede muß man die Bevölkerung an der Grenze zu mehr oder weniger 
direfter Botmäßigfeit zwingen.“ Dies fei, jo wird dann ausgeführt, für Die 
fatjerliche Negierung Beranlaffung geweſen, zuerit am Syr Darja und dann 
am Iſſik Kul eine feite Stellung einzunehmen und dieſe Linie Durch vorge: 
ichobne Forts zu verjtärfen, die nach und nad) bis ins Herz jener fernen Lande 
gedrungen feien, ohne daß man dahin gefommen wäre, jenfeits diejer Boten 
die Ruhe herzuftellen, welche für die Grenzen Rußlands notwendig jei. Die 
Urjache diejes Mangels an Erfolg habe in erjter Reihe darin gelegen, daß 
zwilchen den Ausgangspunften jener beiden Linien ein unermeßlicher wüjter 
Raum unbejegt geblieben jei, wo die Einbrüche der Räuberftämme jediwede An- 
jiedlung und jeden Karawanenhandel zur Unmöglichkeit gemacht hätten. „Diefe 
Gründe waren, fo bemerkt der ruffiiche Reichskanzler dann, trotz unſrer Ab- 
neigung vor weiterer Ausdehnung unfrer Grenzen jo mächtig, daß fie die kaiſer— 
liche Regierung bewogen, den Zuſammenhang diejer Linien zwijchen dem Syr 
Darja und dem Iſſik Kul durch Befejtigung der vor furzem von ung bejeßten 
Stadt Tichimfend herzuftellen. Indem wir diefe Linie annahmen, erhielten wir 
einen zweifachen Gewinn. Einesteils iſt der Landjtrich, den jie einjchliegt, 
fruchtbar, reich an Wald und mancherlei Gewäfjern, und teilweife von Kirgijen- 
horden bewohnt, die ſich unfrer Herrichaft gefügt haben, und fo bietet er gute 
Bedingungen für Anfiedlungen und für die Verproviantirung unſrer Garni— 
jonen. Andrerſeits macht er die aderbauende und handeltreibende Einwohner: 
ſchaft Kolands zu unjern unmittelbaren Nachbarn. Wir jtehen damit jeßt einer 
jolideren, Ddichteren, weniger beweglichen und beſſer organifirten Bevölkerung 
gegenüber als früher, und diefe Erwägung bezeichnet mit geographiicher Ge: 
nauigfeit die Grenzlinie, bis zu welcher Intereffe und Vernunft vorzufchreiten 
heigen. Wir müfjen hier Halt machen; denn jede weitere Ausdehnung würde 
nicht auf unftäte Nomadenjtämme, jondern auf regelmäßiger eingerichtete 
Staaten jtoßen, erhebliche Anjtrengungen erheiichen und uns von Annexion zu 
Annexion und zu unabjehbaren VBerwidlungen fortreißen.“ 

Vieles hiervon war umbejtreitbar. Aber die Erwartungen, die hier von 
den neuen Nachbarn Rußlands gehegt wurden, und nach denen behauptet wurde, 


532 Die Ruffen in Sentralaften. 





dieſes müſſe und dürfe nun fich nicht weiter ausdehnen, erfüllten fich nicht. 
Dieje folidern Staaten erwieſen fich faſt ebenfo unzuverläffig und gefährlich 
wie die Nomadenftämme. Der Emir von Buchara wollte Kofand erobern, und 
hätte man ihm das geitattet, jo würde er eine Macht erlangt haben, mit der 
er Rußlands bisherige Erwerbungen in Mittelaften ernftlich zu bedrohen imftande 
gewejen wäre. So nahmen die Ruſſen Tafchfend und fpäter auch Samarkand. 
Im Welten ließ Chiwa jene Erwerbungen nicht zur Ruhe fommen, indem es 
das Zentrum aller Verſchwörungen der Turfmenen gegen diejelben war, umd 
jo mußte es mit den Waffen niedergewworfen und für immer am Wiebererftarten 
gehindert werden, was durch Annexion eines Stüdes feines Gebietes und An- 
legung einer Feſtung vor dem Eingange in die Daje bewirkt wurde. Den auf- 
ftändifchen Slofanzen gegenüber war Rußland zuerit auf die Defenfive Hin- 
gewiejen: es hatte die Einfälle derfelben in fein Gebiet abzuwehren. Dann 
aber durfte in dem Chanat feine Anarchie herrichen, die ſich nach ruffischen 
Befitungen verbreiten fonnte, zumal da die mächtigiten Häupter der dort fich 
befämpfenden Parteien entichiedire Ruffenfeinde waren. So nahm man das 
Land notgedrungen in eigne Verwaltung. Äühnlich war es fpäter mit den 
Achaltekinzen, ähnlich mit den Turfmenen in der Daje Merw. 

Überall war Rußland in diefen zentrafafiatiichen Angelegenheiten mehr 
getrieben als treibend, wenigftens konnte jeine Diplomatie dies behaupten und 
mit Gründen belegen, die fich hören lichen. Indes hatte e8 bei feinem Umſich— 
greifen in den letzten Jahren keineswegs bloß die Intereffen der Verteidigung 
jeines bis dahin erworben Befigitandes vor Augen. Es dachte dabei auch an 
Gewinnung von Märkten für die Erzeugniffe jeiner Gewerbthätigfeit. Die 
letztere hat ſich feit etwa dreißig Jahren jo gehoben, daß fie weit mehr pro- 
duzirt, als was das Neich felbft bedarf und verbraucht. Sie muß ihren Überfluf 
erportiren können, nach Weiten Hin ift dies unmöglich, und jo mußte man fich 
nach Käufern im Often umfehen. Auch hier ſtieß man auf Schwierigfeiten; die 
Wüften und Steppen, durch welche die Handelswege führten, wurden durch 
räuberijche Nomaden unficher gemacht, die unftäte Bevölferung der meisten 
Landftriche hatte nur ein geringes Bedürfnis nach ruffischen Waaren und wenig 
Geld, fie zu Faufen, wenig andern Befit, gegen den fie einzutaufchen waren, 
die Zuftände in den Staaten mit jerhafter Bevölkerung waren von der Art, 
daß fie nicht viel befjere Abnehmer liefern konnten. E83 mußte Ordnung ge- 
Ichaffen werden und mit der Ordnung größerer Reichtum der Landesbevölferung, 
mehr Bedürfnis und mehr Fähigkeit, e8 zu befriedigen. Dies wurde von Rußland 
direkt und indireft angeftrebt. Die Beraubung der Handelsfarawanen durch Turk— 
menen und Kirgiſen hörte auf, Handelsverträge mit den Chanaten förderten Ausfuhr 
und Einfuhr, und in den annektirten Provinzen entwicelte ich allmählich mehr 
Nachfrage nach den Fabrifaten der ruffiichen Industrie. Diefe Nachfrage wird 
aber jteigen, wenn die Waaren wohlfeiler werben, und das letztere wird gefchehen’ 


Die Ruffen in Zentralaflen. 533 


wenn die vom Innern Rußlands nach Mittelafien projeftirten Eifenbahnen ich 
weiter als bisher eritreden, fich ihrer Vollendung nach den dortigen Haupt: 
märften nähern und neben ſich Dampferlinien auf den Flüſſen und Seen haben, 
die fi) dazu eignen. Alles das wird fich aber nur langſam und faum ſehr 
befriedigend entwideln. 

Über den letzten Grund der Eroberungen Rußlands in Zentralafien, feine 
Abfichten auf Indien und zumächit auf deſſen Vorland, Afghaniftan, haben wir 
in diefen Blättern jchon fo oft und fo erichöpfend gefprochen, daß ung darüber 
nicht viel zu jagen übrig bleibt. Es möge hier nur an einen Punkt erinnert 
werden, der bei dem jüngiten Streite um die Abgrenzung Afghaniitans nicht 
oder nur beiläufig erwähnt wurde, der aber in Zufunft vermutlich auf die 
Tagesordnung gebracht werden wird. Bor dem Sriege gegen Chiwa wurde 
zwilchen Rußland und England die Frage erörtert, wie weit der Beſitz des 
Emirs in Kabul reiche, und dabei handelte es fich nicht, wie jegt, bloß um 
den Nordweiten von Afghaniftan, jondern um bedeutende Landjtriche in Dften. 
England bezeichnete hier die Provinz Badakjchan mit dem Bezirke Wachan als 
rechtmäßigen Beſitz Schir Alis, des damaligen Beherrichers der Afghanen, 
Rußland aber widerſprach und erklärte Dichehangir Chan als ſouveränen Herrn 
diefer Landichaften. Die Engländer verjuchten dem gegenüber zu beweilen, daß 
diefelben Fraft des Eroberungsrechtes dem Emir von Afghaniftan gehörten, dem 
jich die Häuptlinge der dortigen Bevölkerung in aller Form unterworfen hätten. 
Fürſt Gortſchakow z0g darauf feinen Widerjpruch „aus Artigkeit“ zurüd, aber 
es können Umftände eintreten, wo man in Petersburg nicht geneigt fein kann, 
ſich wieder zu einem folchen acte de courtoisie zu verjtehen, und wo der Streit 
auch über dieſes Grenzgebiet Afghaniſtans entbrennt und in den Gang der 
Dinge eingreift. 

Wir fommen zum Schluß unjrer Betrachtungen. Wie vor furzem aus 
Simla, der Nefidenz des Bizefönigs von Imdien, berichtet und jpäter von 
Churchill im Parlamente ausführlich) dargelegt wurde, hat das legte Vorrücken 
der Ruſſen in Hentralafien der indiichen Regierung einen Koftenaufivand von 
mindeftens vier Millionen Pfund Sterling verurjacht, und dabei handelte es 
fih nur um einige Vorbereitungen zum eigentlichen Handeln. Selbjtverjtändfich 
iſt man damit erjt beim Anfang angelangt, die Ausgaben für genügende Rüftung 
zur Verteidigung Indiens, zunächſt Afghaniſtans, werden fortdauernd wachjen 
und noc ganz andre Summen al3 die obengenannte verichlingen; denn der 
Marſch Komarows gegen Merw und Pendichdeh hat die Lage der Dinge an 
der afghanischen Grenze ganz bedeutend verichlimmert. Schon als die Truppen 
des Zaren fich noch in den Uferlandichaften des Kaſpiſees und in der alten 
Hauptitadt Timurs befanden, waren fie eine Gefahr für die englische Herrichaft 
am Indus und den Einfluß der britischen Politif im Lande des Emirs Ab- 
durrachman. Jetzt, wu jie ſich am Herirud und Margab, an den Grenzen 





534 Die Ruſſen in Sentralafien. 





Chorafjans, wenige Tagemärjche von Herat und auf der Flanke der großen 
Heeritraße feitgejegt haben, die von jener Stadt nad) Balch und Kabul führt, 
hat ihr Einfluß auf das oftafiatische Reich der Briten eine ganz außerordentliche 
Ausbreitung erfahren. Vor kurzer Zeit noch durften die letern dieſes Neich 
politiich und militärisch faſt wie eine Inſel betrachten; denn es lich jich von 
einem Nebenbuhler und Gegner nur zur See erreichen. Damals waren, wie 
es jchien, die mächtigen Gebirgsfetten und die weiten Wüſten und Steppen, die 
es im Norden umgeben, und die unabhängigen halbbarbarijchen Chanate Mittel: 
afiens eine Schugmauer, welche jeine Landſeite faſt jo unzugänglich machten 
wie der Ozean den Süden. Während des legten BVierteljahrhundert® war es 
das Beitreben Rußlands, die wichtigiten diefer Hindernifje eines Angriffs auf 
Indien nach) Möglichkeit zu bejeitigen. Die Chanate wurden eins nad) dem 
andern bis auf geringfügige Nefte aufgezehrt, die turfomanischen Stämme in 
den Dajen ſüdlich vom Oxus dazwijchen überwältigt und in leichte Truppen für 
die Vorhut der zarischen Armee verwandelt, man jchuf eine Flotte auf dem 
Kaſpiſee, man begann eine Eijenbahn von feinen Gejtaden durch die Daje Der 
Achaltefinzen zu bauen, um rajch die in den faufafischen und transfaufaftichen 
Provinzen fortwährend bereitgehaltnen ftarfen Reſerven heranzichen zu fünnen, 
wenn ſich in Mittelafien und Afghaniftan Gelegenheit finden jollte, in jeiner 
Eroberungspolitif einen weitern Vorſtoß zu thun. Und damit endigen Die 
Pläne, die man ruſſiſcherſeits offenbar auszuführen gedenkt, noch keineswegs. 
Die Landitrihe im Süden des Amu Darja follen mit den im Norden diejes 
Stromes gelegnen Gegenden verbunden werden, und Rußland hofft auf beiden 
Ufern Verbindungslinien herzustellen, ſodaß die Hilfsquellen aller feiner neuen 
Erwerbungen, jobald die Zeit und Gelegenheit gefommen tft, zu augenblidlicher 
Benugung bereit find. Indem fie Chorafjan in die Flanfe nehmen, find Die 
Ruſſen in der Lage, auf dieſe perjifche Provinz einen fräftigen Drud auszu— 
üben, und bei einer Bejegung oder indirekten Beherrichung ſolcher Teile derjelben, 
welche (wie 3.3. das Land, durch welches die Straße von Astabad über Mejched 
nach Herat führt) für die Förderung ihrer weitreichenden Abfichten von Nutzen 
fein können, find zu gleicher Zeit Perfien, Afghaniſtan und das nordwejtliche 
Indien bedroht. Keins dieſer Länder kann bei dem rajchen Weitervordringen 
einer Macht, die in den legten Jahrzehnten joviel verjchlungen und joviel weitere 
Einverleibungen vorbereitet hat, gleichgiltig bleiben. Der Schah wird leicht 
erfennen, daß der Nordoſten feines Neiches der Annerion an die Befigungen 
Rußlands in Bentralafien entgegenrüdt. Der Emir in Kabul weiß ohne 
Zweifel noch bejtimmter, daß die Ruſſen das afghaniſche Turkeſtan als ihr 
künftiges Eigentum ins Auge gefaßt haben und damit die Hoffnung auf den 
baldigen Befig Herats verbinden. Kein indischer Staatsmann endlich kann jich 
jegt noch gegen die Thatjache verblenden, daß die während der legten Jahrzehnte 
in Bentralafien vollzognen und noch geplanten ruffiichen Eroberungen, wie jehr 


Die Ruffen in Zentralafien. 5935 
auch andre Motive dazu drängten, in der Hauptjache zu dem Zwecke unter: 
nommen wurden, das Neich der Kaiſar i Hind einzuengen, zu gefährden umd 
jchließlich ganz oder teilweije wegzunehmen. 

Mit diefen unaufhörlichen, immer wiederholten Verjuchen, die Grenz- und 
Nachbarlande Indiens, deſſen Vorwerfe gegen Norden, in ruifische Dände oder 
unter ruſſiſchen Einfluß zu bringen, um daraus cine Dperationsbafis zu end- 
lichem Angriff auf das Hauptobjekt zu bilden, hat die rufjische Politik den Eng- 
(ändern in Indien auch indirekt großen Schaden zugefügt, indem ſie diejelben 
nötigte, einen erheblichen Teil der Einnahmen des Landes auf Mittel und Maß— 
regeln der Abwehr zu vertvenden, ihm aljo der Berwendung zur Berbefjerung 
innerer Zuftände zu entziehen, die dringend Neformen erheifchen. Schon die in 
Petersburg zugeitandne und von uns mehrfach hervorgehobne Thatſache, daß 
die mittelafiatischen Erwerbungen Rußlands dem kaiſerlichen Schate nicht nur 
nichts einbringen, jondern jehr erhebliche Ausgaben verurjachen, welche ſich auch 
in der nächiten Zufunft aus diejen Ländern faum verzinjen, gejchweige denn 
amortifiren laſſen werden, ift ein Beweis für den rein politischen Zwed, der mit 
diefer Eroberumgspolitif verfolgt wird. Nicht eine einzige der neuen zentral- 
aliatiichen Provinzen dedte bisher auch nur die Koſten der bürgerlichen und 
militärischen Verwaltung, und dies gilt jelbjt von den ältern Erwerbungen, den 
transtaufafischen Befigungen. Die Feldzüge, welche die Ruſſen nach Georgien 
und Armenien führten, waren gegen die Türkei gerichtet, die ungeheuern Er: 
oberungen am Amu Darja und jenjeit3 dieſes Stromes zielten auf die Herr: 
ſchaft Großbritanniens in Südoſtaſien und bis auf die neuejte Zeit, d. h. bis 
auf die Entjtehung des deutfchen Reiches und dejjen Defenſivbündnis mit Dfter- 
reich- Ungarn, zugleic) auf Konjtantinopel. Dieſes war bis dahin das nächjte 
Hauptziel, und die gegen die Borlande Indiens ins Feld geführten ruffiichen 
Streitkräfte, die in diefen Vorlanden verjuchten und teilweije geglüdten diplo- 
matijchen Schachzüge waren in erjter Linie nur Mittel, in denen der Zweck 
verfolgt wurde, Englands Aufmerfjamfeit und Kraft abzulenfen, es hier zu be- 
ichäftigen und cs zu nötigen, feinen Widerjtand gegen die Offnung des Bos— 
porus und der Dardanellen für Rußland und gegen die Bejignahme der Groß— 
jtadt am Goldnen Horn aufzugeben. Seit Deutjchland und Djterreich-Ungarn 
dieſer Abficht in den Weg getreten find, it fie, wie wir glauben, aufgegeben, 
wie andre meinen, vertagt worden. Die Flut der ruſſiſchen Eroberung jirömt 
fortan nicht mehr nach Südwejten, aber umſo kräftiger geht ihr öftlicher Arın, 
bisher nur ein Nebenitrom, nad) Süden. Er juchte feinen Weg durch die 
Steppenländer und Dajen am Orus und jenfeits desjelben, er füllte zulegt die 
Gegenden am Margab, Merw und die Steppe am Nordflufje des Paropamijus; 
nicht lange mehr, und er wird dicht vor den Mauern Herats jtehen und nad) 
dejjen Fall in der Richtung von Kandahar ablenken, wenn die Engländer ihm 
nicht bei Zeiten Dämme von genügender Stärke vorbauen. Lafjen fie den 


536 Die Ruffen in Zentralaflen. 


Ruffen Ausfichten auf Erfolg, jo wird das Verhängnis ſich fortan noch raſcher 
vollziehen als in den legten zehn Jahren. 

Schon vor faſt drei Dezennien wurde auf die Gefahr hingewiefen und 

empfohlen, ihr in geeigneter Weije vorzubauen. Die dazu erforderlichen Mittel 
waren verhältnismäßig nicht bedeutend. Es gejchah nichts, und jegt find größere 
Rüftungen und Ausgaben nötig. Gejchähe wieder nichts genügendes, jo würden 
jpäter noch beträchtlichere Mittel faum eine erfolgreiche Verteidigung ermöglichen. 
Das englüche Volk muß endlich erkennen, was unter dem Negimente der Libe— 
ralen verjchleiert wurde, daß es mit Rußland in Afien feinerlet Interejfe gemein 
hat, und daß es dort niemals zu einer Verftändigung zwiſchen den beiden Mächten 
fommen fann, wie in Europa zwilchen Rußland und den Mächten in der Mitte 
des Feſtlandes. Die Engländer haben zu begreifen, da die Ruſſen ihnen in 
Indien wirklich und allen Ernſtes ans Leben wollen, und fid) zu überlegen, ob 
fie ich die dahin gerichteten Schritte weiter geduldig gefallen laffen dürfen oder 
einen männlichen Entſchluß faſſen müſſen, fie zu vereiteln, was beiläufig jet 
ſchon jehr jchwer, aber noch nicht unmöglich jein würde. 
Die Koften, welche Indien den Engläudern verurjacht, müffen infolgedejjen 
auc) in Zeiten des Friedens wachjen, und das bedeutet entweder Stillitand des 
materiellen Fortjchrittes oder Steuererhöhung, und die Folge der legtern, Miß— 
ſtimmung und Klage über Drud, gehört natürlich ebenfalls in den Plan der 
Ruffen: ein unzufriednes Indien kann als ihr Berbündeter, wenigjtens nicht 
als ein eifriger Gegner betrachtet werden. Der Kredit Indiens ftcht jegt 
hoch, und noch immer wächjt die Nachfrage nach feinen Papieren. Aber wenn 
jchon jeit geraumer Zeit die allgemeine Sicherheit des indischen Reiches gefährdet 
ıft, wenn am nördlichen Horizonte desjelben fortwährend neue Wolfen aufjteigen 
und die Gemüter mit Befürchtungen erfüllen, wird der Kredit der Regierung 
Indiens bald heruntergehen und die Nachfrage der privaten Spekulation nach- 
laſſen und zulegt ganz aufhören. 

Militärs und Staatsmänner müſſen gemeinjchaftlich die Frage enticheiden, 
auf welche Weiſe Englands Interefjen im jüdöftlichen Aſien am  geeignetjten 
gegen die vom Zentrum des Weltteild herandringenden Gegner zu jchügen find. 
Wenn jene feinen rechten Rat wiffen, jo wird niemand helfen fünnen, und eine 
Zeit lang jah es in der That fo aus. Im Sommer diejes Jahres gelangte 
man zu einem Ablommen mit dem Emir von Afghanijtan, von dem das Pu— 
blifum nichts bejtimmtes erfuhr, das aber im ganzen befriedigend für beide 
Teile ausgefallen zu fein jcheint. Dasjelbe ſchließt Subfidien für Abdurrachman, 
deren Betrag unbefannt blieb, und ruhiges Verhalten gegenüber dem Fühnen 
Marjche der Ruffen von Merw nach dem Herirud und dem obern Margab ein, 
welcher die Bataillone und Schwadronen Komarows fajt bis vor die Außen— 
werfe Herats brachte und ihnen zu einer Stellung verhalf, von der aus fie 
binnen Wochenfrift die nach Maimene und Bald) führenden Straßen jchliegen 





Die Ruſſen in Sentralafien. 937 


fönnen. Desgleichen ift * Heerweg am Herirud aufwärts n mit an ohne BZal- 
fifar jegt vollftändig in der Gewalt der Nufjen. Auf englifcher Seite befitt 
man, abgejehen von dem, was in Afghanijtan verjprochen jein mag, Duettah 
und Pilchin, und ift eifrig darüber her, eine proviorische Eifenbahn zur Be— 
förderung von Truppen nach Norden zu bauen, welche den Bolanpaf, durch 
den der nächte Weg führt, wo aber eine Eijenbahn Teicht zu verftopfen wäre, 
umgehen joll. Jene Bahn jollte längſt fertig umd im Betriebe fein. Quettah 
hat den Mangel, daß es nicht alle Päſſe des Gebirgäzuges von Beludſchiſtan 
det. Keine Stellung entjpricht dieſem Zwede als die von Kandahar, und jo 
war jchon mehrfad) davon die Rede, es jollte hier ein britijches Standlager von 
10000 Mann errichtet werden. Wir halten dies für mindeitens verfrüht; denn 
Salisbury würde dann die Abficht haben, den Krieg mit Rußland zu bejchleunigen, 
und dies kann er wenigftens nicht vor dem Ausgange der englischen Wahlen wagen. 
Es ſcheint ſich von felbjt zu verfichen, daß Rußland fich zum Einrüden eines 
britiichen Heeres in die zweite Hauptitadt der Afghanen nicht gleichgiltig ver- 
halten könnte. Selbjt wenn dieſes Ereignis nach frieblicher Beendigung der 
jegt jchwebenden Verhandlungen über die Nordweitgrenze Afghaniſtans ſtatt— 
fände, wiirde die umansbleibliche Folge fein, daß die Aufjen unverweilt nad) 
Herat marjchirten und es als Äquivalent für Kandahar in Beſitz mähmen. 
Stehren wir nad Quettah zurüd, jo bietet es troß jenes Mangels als vorge- 
ichobner Posten auf der zum Indus führenden Linie große Vorteile. Man 
beabfichtigt die VBerbindungsjtraßen auf beiden Ufern des Indus weiter aus- 
zubauen und den Strom zu überbrüden; die Wege zwiſchen Multan und Lahore 
jollen vermehrt und verbefjert werden, auch die Dampferflotte des Fluffes wird 
eine wejentliche Vermehrung erfahren. Alle diefe Mafregeln werden den in: 
dischen Finanzen ſchweres Geld koſten, aber fie find bei weitem noch nicht alles, 
was die Annäherung der Nufjen dringend verlangt. Man wird die eingeborne 
Armee Indiens wejentlich verjtärfen müſſen, und da diefelbe allein nicht genügt 
und unzuverläſſig werden kann, auch die Negimenter, die aus Europäern zu- 
jammengefegt find. Die indifche Negierung wird hinfort, wenn fie wohlgerüftet 
jein will, eine beträchtliche, Leicht bewegliche Streitkraft zwiſchen Karradſchi am 
Ausfluſſe des Indus, Delhi und Peichawer auf den Beinen halten müſſen, die 
einen ftarfen Vorpoſten auf den Bergen von Chelat an der nad) Norden ge- 
richteten Spite hat. Die Arjenale und Magazine müſſen gefüllt werden und 
gefüllt bleiben, man muß Pferde, Elephanten und Badochjen in hinreichender 
Menge bereit halten, wenn man einem Angriffe, der jehr bald und der über 
Nacht erfolgen fan, wenn die VBerhältniffe Jich noch mehr gejpannt haben, mit 
Aussicht auf Erfolg zu begegnen imftande fein will. 

Wie verichieden von dem einſt nach augen hin friedlichen Zuftande Ins 
dien find die Berhältnifie, welche jest die Verwaltung des aſiatiſchen Reiches 
der Königin Viktoria umgeben! In der That, die Herren find nicht auf Roſen 

Grenzboten III. 1885. 68 


538 Der Notftand des Privatfapitals. 








gebettet.. Man hat lange nicht gejehen und geglaubt oder nicht jehen und 
glauben wollen, was das Bordringen der Ruſſen in Zentralafien feinem letzten 
Zwecke nach bedeutete. Seht ift der Kern des Pudels, der zum Elephanten 
geichwollen war, far und deutlich aus der Dunſtgeſtalt herausgetreten, ſodaß 
niemand mehr über ihn im Zweifel fein kann. Man darf nicht mehr wie 
Gladſtone und jeine Partei auf einen Kompromiß hoffen, man muß Entjchlüjje 
faffen, und es ift jchwer, genau zu jagen, welche. Walliativmittel helfen nicht. 
Das lehrt die Vergangenheit, predigt die Gegenwart, und von der nächiten 
Zukunft ruhigere Tage eriwarten, heit träumen. In Rußland erwartet man 
den baldigen Tod oder Sturz Abdurrachmans und hält Ejub Chan bereit, 
damit man ihn als Karte ausfpielen, fein Recht als Vorwand, feinen Namen 
als Sammelruf benußen kann, wenn jene Erwartung fich erfüllt. Die legten 
Gerüchte von Wirren jenjeit® der Berge haben fich nicht bewahrheitet. Sie 
waren aber Anzeichen deffen, was man in jenem Lager hofft, wünjcht und vieles 
leicht vorbereitet, und es iſt michtS weniger als unmöglich, daß jolche Gerüchte 
binnen furzem Thatjachen werden, die den ruffiichen Eroberern wieder um ein 
Stadium weiter nad) Süden hin verhelfen. Wir werden dann jehen, was 
Salisbury oder jein Nachfolger dagegen vermag. 





Der Notſtand des Privatfapitals. 


Oz) ch verhehle mir feineswegs, daß es beinahe vermejjen ift, in unfern 
30 — Tagen zu Gunſten des Kapitals zu ſchreiben, welches als der Feind 
177 B5fe der Arbeit, als jchuld an vielem Übel bezeichnet wird; welches 
N A | die Ertremen ganz abjchaffen, Gemäßigtere durch den Staat fon- 
BEN 7) fisziren lafjen wollen, und welches jelbjt die Bejonnenen wenig- 
ſtens durch Steuern und andre Maßregelungen in gewiſſe Schranfen verweijen 
zu müſſen glauben, um feinen verderblichen Wirkungen einigermaßen entgegen zu 
treten. 

Es jei die Frage erlaubt: Verdient das Kapital der allgemeine Prügel- 
fnabe zu fein, ijt es wirklich der Feind der Arbeit, der Gejellichaft? Sehen 
wir uns nach Gründen um, warum das Kapital jo großer Mifgunft unter: 
liegt, jo ift e8 wohl vor allem die Vorftellung, welche man ſich von einem 


„Kapitaliften“ zu machen liebt al3 von einem Menfchen, der, jeder Arbeit ab- 






Der Notftand des Privatfapitals. 539 








geneigt, bis zum ſpäten Morgen im Bette liegt, dann nach üppigen Frühſtück 
einige Stunden in feinem eleganten Kabinet mit Coupongabichneiden bejchäftigt 
ist, danı in den Klub fährt, einige Zeitungen lieft, ein wenig jpielt, an die 
Börje geht und abends nach üppigem Mahle gähnend in feiner Iheaterloge 
figt. Wer wollte es Ieugnen, da es folche Menjchen giebt, und wer möchte 
ihnen jeine Sympathie entgegenbringen oder den Mut haben, jie als nüßliche 
Glieder der Geſellſchaft zu bezeichnen? Aber find fie denn das Charakterbild 
des Kapitaliſten, und nicht vielmehr Ausnahmen, Auswüchſe, wie fie fich in 
jeder Klaſſe der bürgerlichen Gejellichaft finden? Bilden fie nicht, jo groß 
auch der Neichtum eines Einzelnen fein mag, doch nur einen mäßigen Teil 
des nationalen Geſamtkapitals? Steht ihmen nicht eine unendliche Zahl höchſt 
achtbarer Perfonen gegenüber, die emſig arbeiten, die redlich mit des Lebens 
Notdurft kämpfen und gleichtvohl Stapitaliften find, und obendrein den größten 
Teil des Gejamtfapitals repräjentiren? 

Die Schwäche des menschlichen Begriffsvermögens bringt eg mit ich, daß 
wir eine Erſcheinung, welche wir der Beobachtung unterziehen, nicht immer 
jofort als Ganzes erfaffen können, jondern fie nad) und nach, erſt von der 
einen, dann von der andern Seite betrachten müjjen, wobei nicht nur die ge: 
dantenlofe Menge, jondern oft auch bedächtigere Leute jtehen bleiben und in 
dem Wuhne leben, fie hätten zwei Erjcheinungen vor fich, während es doch nur 
zwei Seiten ein und derjelben Erjcheinung find. So jtellt man die Produzenten 
als eine bejondre Klaſſe den Konſumenten gegenüber, während doch fait aus: 
nahmslos jeder jowohl Produzent als Konſument in einer Perſon tit, oder wie 
ein englijcher Schriftjteller jagt, der reine Konjument mit dem vierzehnten Jahre 
aufhört. Ebenjo iſt es mit Kapital und Arbeit. Wenn man zuerjt die Gejehe 
des Kapitals erforjcht hat und dann diejenigen der Arbeit, jo glaubt man zwei 
verſchiedne Dinge beobachtet zu haben und zwei bejondre Klaſſen von Menjchen 
vor jich zu fehen, während man doch nur zwei Seiten des jozialen Menjchen 
zum ®egenjtande der Forſchung gemacht hat; man vergißt, da diejer foziale 
Menſch fait immer, wie Produzent und Konſument, Jo auch Arbeiter und Kapi— 
talift in einer Perſon iſt. 

Das ift denn Kapital? 

Jeder Menſch, der arbeitet, jtrebt etwas mehr als nur feinen Lebensunter: 
halt und den Erſatz feiner Auslagen zu gewinnen, jeine Abjicht ift auf einen 
Überſchuß gerichter. Ein Korbflechter, wollen wir annehmen, müßte täglich zwei 
Körbe flechten, um feinen Unterhalt zu bejtreiten. Gelingt es ihm, drei Körbe 
im Tage anzufertigen, jo kann er immer den dritten Tag feiern, oder er fann 
eine andre Perjon ernähren, eine Frau oder einen Gehilfen; er kann damit 
jeine Wohnung verbefjern, feinen Hausrat mehren, Land Faufen, eine Vorſorge 
für arbeitslofe Tage der Zukunft treffen und andres mehr. Kurz, der Über- 
ſchuß feiner Arbeit über den Aufwand für diefelbe ift ein Kapital, Wie man 


540 Der Notſtand des Privatfapitals. 








ficht, bejteht dies Kapital zumächjt in Körben und erſt dann in Geld, wenn er 
die Körbe verfauft hat. Aber dies Geld ift nicht, es vepräjentirt nur das aus 
Körben betehende Kapital. Geld ift überhaupt an und für fich abfolut wertlos. 
Robinſon warf feinen Goldklumpen unbedenklich ins Wafler, und der Afrifa- 
reifende würde dem Hungertode nicht entgehen, auch wenn ſeine Träger unter 
der Lajt feines baaren Geldes zuſammenbrächen. Für alles Geld giebt ihm 
niemand auch nur eine Banane oder cine Hand voll Maniof; was ihn allein 
erhält, find die Waaren, die er mit fich führt, Kattun, Mefjingdraht, Glas: 
perlen, denn gegen dieſe Dinge iſt jeder Neger bereit, ihm Lebensunterhalt zu 
liefern. Erſt unter entwidelteren Kulturzuftänden, wo Geld das allgemeine Taujd)- 
mittel wird, erhält es einen Wert. Aber es ift fein Wert an jich, jondern ein 
abgeleiteter; Wert hat es nur als Repräfentant aller derjenigen Güter, die man 
dafür eintauchen kann. 

Wo immer du daher Geld fiehjt, vergegemvärtige dir, daß es in Wahr: 
heit nur Güter find, welche durd) die Arbeit erzeugt wurden. Es kann der 
Befiger jelbjt dev Erzeuger fein oder dejjen Erbe oder ein Dieb; Geld ſtellt 
immer mur erzeugte Güter dar und Hat an und fir fich weder Wert noch Be- 
deutung (von dem Metallwerte dev Münze abgejehen). 

Man denfe jich einen Ackerbauer auf herrenloſem Lande. Er bearbeitet 
zuerft ein Heines Feld. Aber der Überſchuß feines Ertrages über feinen Unter: 
halt befähigt ihn, einen Gehilfen anzuftellen, mit welchem er ein größeres Feld 
bewirtichaftet, und fo fort, bis er Beſitzer eines Gütchens ift. Sein Überſchuß, 
jein Kapital bejteht alſo in Land, feinen Weizen hat er gegen Fleiſch, Kleidung, 
Adergerät, Waffen und dergleichen umgetaufcht, Geld ift nicht in feine Hände 
gefommen, und doch ijt er ein wohlhabender Slapitalift. 

So iſt denn das Gefamtfapital eines Volkes, das Kapital der ganzen 
zwilifirten Welt der Überfchuß des Arbeitsertrages über den Aufwand, der Über: 
ſchuß aus der Vergangenheit bis rüchwärts auf Adam und Eva; es ijt Die 
materielle und geiftige Kultur, in der wir leben, in der wir fortzufchreiten be— 
müht find; es ift das Fundament, auf dem wir weiter bauen, es iſt der it, 
auf dem wir figen, umd derjenige it ein Narr oder ein Verbrecher, der die Art 
an dieſen Aſt legt. 

Wenn demnach das Gejamtfapital den Arbeitserfolg der Vergangenheit, 
unſre Zivilijation darjtellt, jo it es wahrjcheinlich, daß jeder zivilifirte Menjch 
mehr oder weniger Miteigentümer diejes Kapitals ſei; es ift undenkbar, daß 
nicht auch der Ärmfte zu einem Teile wenigstens einen Niegbrauc an diefem 
Kulturfapitale habe. Alles was aus den Kapitalien, aus der Arbeit der Ver— 
gangenheit entjtanden ijt an Wegen, Brüden, Eifenbahnen, an öffentlicher Be— 
leuchtung, an Zufluchtsjtätten fir Bedürftige, an Kanälen und Wafferleitungen 
und taujend andern Dingen, welche der allgemeinen Wohlfahrt gewidmet find, 
nicht am letzter Stelle auch die Organifation des Staates, kommen auch dem 


Der Notſtaud des Privatfapitals. >41 





Ärmſten zu gute, und überhaupt ift fein menschliches Weſen in unfrer Gejell- 
jchaft zu finden, welches als ohne Teilnahme an den Vorteilen des Kulturbaues 
gelten fünnte, der durch die Arbeit der Vergangenheit, das heutige Kapital, 
anfgerichtet worden tft. Da diefer Kulturbau fortwährend wächſt an Umfang 
und Bollfommenheit, jo iſt es auch einleuchtend und kann nicht bezweifelt werden, 
dag der Mitgenuß des Einzelnen, oder wie wir jagten, fein Nießbrauch am 
Stulturkapital im demjelben Mage an Inhalt gewinnt. Der ärmite Menjch von 
heute befindet ich ficher. in einem beffern Zuftande, als fich der Armfte vor 
hundert oder zweihundert Jahren befand, als noch Taufende unbemerkt ver: 
hungern fonnten, als wegen der Unvolllommenheit der Verkehrswege Überfluf 
und Mangel an Nahrungsmitteln in benachbarten Provinzen dicht neben ein- 
ander beitehen fonnten; als Kranke und Hilfloje unbeachtet verfamen und 
Taujende von Menjchen Borurteilen zum Opfer fielen, welche der Fortſchritt 
der Kultur ſeitdem befeitigt hat. Denn auch die Wiffenjchaften find Erfolge 
des Kapitals, deffen Vorhandenfein allein es möglich macht, daß Menfchen, ohne 
täglich für ihren feiblichen Unterhalt jorgen zu müffen, fich zur Erforſchung 
der Wahrheit, zur Wiſſenſchaft ausbilden und ihre Leben derjelben widmen 
können. Das goldne Zeitalter liegt nicht Hinter ums, ſondern vor uns; im der 
Zufunft leuchtet uns ein Zuftand entgegen, worin ein jeder glüclich fein kann, 
infofern wir fortfahren, Überfchüffe der Arbeit zu erzielen und ftatt fie zu ver: 
zehren, zur Weiterführung des Kulturbaues verwenden. 

Aber ſehen wir weiter! An die bloßen Nießbraucher des allgemeinen 
Kapitals ſchließen fich die Meiteigentiimer desjelben au. Wie groß iſt ihre 
Zahl? Wer find fie? 

Ehe wir diefe Frage beantworten, wird es nüßlic) fein, uns zuvor über 
den Begriff des Kapital noch näher zu verftändigen. Wir haben das Kapital 
vorläufig als Überjchuß des Arbeitserfolges über den Aufwand bezeichnet. Aber 
dieſe Definition bedarf noch einer Erläuterung. Denn nicht alles, was ich durch 
meine Arbeit erübrige, it Kapital, jondern nur dasjenige davon, was zu neuer 
Gütererzeugung verwendet wird. Was ic) zurücklege, um es jpäter für Nahrungs— 
mittel oder Kleider, zur Anjchaffung von Hausgerät, für Reifen, VBergnügungen 
und ähnliches zu verbrauchen (konſumiren), iſt nicht Kapital; es ift es nicht, 
auch wenn ich meine hierfür beftimmten Überſchüſſe in Geld verwandelt Habe, 
um dies Geld jpäter für Verbrauchsziwede zu verwenden. Man kann demnad) 
Eigentümer jein von reichlichem Hausrat, von Pferden, von baarem Gelde, von 
Kunſtgegenſtänden, von Parkanlagen u. dergl., ohne um dieſes Beliges willen 
den Namen eines Slapitalijten zu verdienen; denn alle dieſe Dinge werden durch 
den Gebrauch mehr oder weniger raſch aufgezehrt, fie dienen der Konfumtion. 
Subald ein jolcher Befizer aber feine Luguspferde an einen Rollwagen jpannt 
und damit Frachtlohn verdient oder die Erzeugniffe einer Fabrik zu den Ab- 
nehmern befördert, werden dieje Pferde Kapital. Ein Klavier in meinem Salon 








542 Der Notftand des Privatfapitals. 


it fein Kapital, jondern ein Gegenitand dev Konſumtion, wenn es aber öffent: 
lichen Konzerten dient, fo iſt es ein Teil des Kapitals des Konzertunternehmers, 
das er zum Betriebe feines Gejchäftes nötig bat. 

Es find dies bekannte, oft erörterte Dinge. Es ift aber gut, fich den 
Unterjchied gegemwärtig zu halten, welcher zwiſchen jolchem Vorrat beftcht, der 
zur Verzehrung (Konfumtion) beftimmet ift, und jenen andern Überjchüffen, die 
zu neuer Gütererzeugung in Verwendung fommen oder doc) dazu vorbehalten 
find. Das reichjte Land ist zum Stillftande, wenn nicht zum Nüdgang ver: 
urteilt, wem es feine Einkünfte völlig verzehrt, jei es in Wohlleben oder in 
nutzloſen Kriegen; ein armes Land wird rajc zu Neichtum gelangen, wenn jeine 
fleigigen Bewohner ihre Konſumtion zu gunften der Stapitalbildung möglichſt be: 
Schränfen. Das faiferlihe Nom verzehrte die Arbeitsüberſchüſſe einer ganzen 
Welt und ging bergab wie Heute die Türkei; die engliſchen Kolontjten in 
Nordamerifa wurden durch Arbeitserfolge, die zu ihrer Konſumtion in gar 
feinem VBerhältniffe jtanden, im Laufe eines Jahrhunderts cine mächtige und 
vielleicht die reichjte Nation. Das Gedeihen, der Fortjchritt eines Landes Hängt 
nicht jowohl von feinem gegemvärtigen Reichtum, von der Menge vorhandier 
Beligtümer ab, als von dem Maße, in welchem feine Arbeitserfolge, jeine Be: 
dürfniſſe feine Konſumtion überichreiten. Ich ſage abfichtlich Arbeitserfolge und 
nicht Produktion. Denn das bloße Produziren von Gütern kann nutzlos, ja 
ihädlich und das Gegenteil eines Erfolges fein, wenn der Erzeugung des Gutes 
fein entjprechender Bedarf gegenüberjteht. 

E3 würde irrig fein, nun zu folgern, daß cin Volk in Entbehrung Leben 
müſſe, um reich zu werden. Das Bedürfnis giebt die Anregung zur Produktion; 
je größer die Bedürfniffe werden, deſto lebhafter wird die Thätigfeit, um fie 
zu befriedigen; Bedürfnis und Produktion bedingen ſich gegenfeitig, jede Pro— 
duftion, welcher fein Bedürfuis gegenüberfteht, ift vom Übel und nur ganz 
vorübergehend möglich. Vom Gefichtspunkte der Weltwirtichaft aus betrachtet 
müſſen fich Produktion und Konfumtion mathematisch genau deden und für das 
Ganze könnte von Überichüffen nicht die Rede fein. Die Menjchheit kann ihren 
Bedarf bis ins Unendliche ſteigern, wenn ihr die Gütererzeugung nachfolgt, und 
umgefehrt, die Gütererzengung kann fich ins Ungemefjene vermehren, wenn Die 
Nachfrage gleichen Schritt Hält. Bon Überfchuß kann immer nur beim Austauſch 
von Individuum zu Individuum, von Volk zu Volk die Rede fein; Überſchuß 
tritt nur da cin, wo das urjprüngliche Verhältnis, daß jeder die Güter, die er 
nötig hat, jelbjt erzeugt, nicht mehr bejteht, two eine Verſchiebung im Verhältniſſe 
des Bedarf3 umd der Produktion ftattfindet, wo Arbeitsteilung eingetreten iſt 
und wo im Austaujc eine verfchiedne Wertichägung ftattfindet. Der Handel 
kann einen Nettogavinn, einen wirklichen Überſchuß nur abiverfen, wenn es einen 
Drt oder einen Zeitpunkt giebt, wo die Wanre mehr wert, wo das Bedürfnis 
nach derjelben ftärfer ift als an der Stelle oder zur Zeit ihrer Erzeugung. 


Der Hotftand des Privatfapitals. 543 
Für wenige Ellen Kallifo, für einige Schnüre Glasperlen oder etwas Meſſing— 
draht, wie fie in Europa für den Tagesbedarf vielleicht nur eines Menjchen 
hinreichen würden, taufcht man im Innern Afrikas Lebensmittel ein, die für 
Wochen genügen, oder einen Elefantenzahn, für den man in Europa die hundert- 
fache Menge von Kallifo, Perlen oder Meffingdraht kaufen kann. Denten wir 
uns aber einen künftigen Zuftand, wo die Verkehrsmittel fo vollfommen wären, 
daß die Fracht feinen nennenswerten Einfluß auf die Preife mehr übte, wo 
überdies die Güter eben an jenen Stellen erzeugt würden, wo die größte Nach: 
frage darırad) bejteht, jo würde Bedarf und Gitererzeugung, Produktion und 
Konjumtion überall im Gleichgewichte jtehen, jo würde von eigentlichem Handels: 
gewinn faum mehr die Rede fein, der mögliche Fortſchritt bejtünde nur noch in 
der Steigerung des Bedarfs, dem die Produktion folgen würde, alſo in einem 
gleichmäßigen Steigen aller Breije. In einem folchen Zuftande der Welt wiirde 
von Bildung neuer Kapitalien nicht mehr die Nede fein, man wiirde darauf 
beſchränkt fein, die vorhandnen Kapitalien zu erhalten, die einen Teil der Bro: 
duftiongmittel bilden, c8 würde ein Beharrungszuftand in der allgemeinen 
Wirtſchaft, ein Stillftand eingetreten fein, der freilich feine Dauer haben könnte, 
weil taufend Umftände, vor allem die bewegliche Natur der Menjchen ſelbſt, das 
Gleichgewicht ftören und dadurd) von neuem die Möglichkeit der Überfchüffe, 
der Kapitalbildung und des Fortichritts ſchaffen würden. 

Dieſe Betrachtungen gehören zwar nicht eigentlich zu unferm Thema, liegen 
aber jo nahe, daß man ihre Berührung entichuldigen wird. 

Wir fehren mm zu unfrer Frage zurück: Wer find im Gegenſatz zu den 
bloßen Niehbrauchern die Miteigentümer des Nationalfapitals, wer find die 
Kapitaliften? 

Der Tagelöhner, der aus dem Überjchuffe feines Lohnes eine Art anfchafft, 
der Schuhmacher, der feine Erjparniffe zum Anfauf von Leder oder zur Be— 
joldung eines Gejellen verwendet, der Fabrikant, welcher feinen Jahresgewinn 
zur Vermehrung jeines Betriebsfonds beftimmt, fie alle Haben aus Üüberſchuß 
Kapital gebildet, und es mag dieje Art der Kapitalbildung, die Verwendung der 
Eriparnifje im Betriebe des eignen Gejchäftes, weitaus die bedeutendite und 
umfangreichite fein, wenn fie auch kaum kontrolirbar ift. Kapital bildet aber 
auch derjenige, welcher jeine Erjparniffe einem andern zur Ausdehnung oder Be— 
gründung eines Gejchäftes leihweiſe überläßt, und diejen nennen wir im engern 
Sinne einen Kapitaliſten. 

Die erſterwähnte Art der Kapitalbildung hat zu allen Zeiten beitanden, 
auf ihr beruhen die Anfänge jeder Kultur und der natürliche Fortbau derfelben. 
Die zweite Art dagegen hat erft in der modernen Welt jene großartige Ent: 
wicklung erfahren, in welcher wir fie heute walten und fortichreiten jehen. Es 
ift zwar jede, auch die einfachite und uranfänglichite wirtichaftliche Arbeit ihrem 
Weſen oder dem Wefen des Menfchen nach auf Erzielung eines Üherfchuffes 





544 Der Notftand des Privatfapitals. 








gerichtet. Allein damit ein folcher Überfhuß, wenn er micht in der eignen 
Arbeit Verwendung findet, in der Geſtalt von Geld an andre überlaffen werde 
und daß dies in umfafjendem Maßſtabe gejchehe, dazu find ſchon hochentwidelte 
Geſellſchaftszuſtände erforderlich. Auch war die Sache nicht immer jo einfach, 
wie fie es heute ijt. Im Mittelalter und bis in die neuere Zeit hinein konnte 
derjenige, welcher Überjchüffe anlegen wollte, Grundeigentum faufen; dies war 
aber nicht immer an pafjender Stelle und bejonders für Eleinere Beträge nicht 
zu haben. Sein Geld auf Zinſen auszuleihen, war nur den Juden erlaubt, 
die das klanoniſche Necht nicht band. Der Rentenfauf war fein genügender 
Erjag für das Darlehen, weil das Kapital bei diefer Vertragsform niemals 
zurüdiehrte und weil auf den Inhaber lautende Urkunden noch nicht erfunden 
waren, durch welche die Übertragung der Nente auf einen andern ohne Schwierig- 
feit hätte gejchehen können. Die BVBerlegenheit wurde groß, nicht gerade in 
Deutjchland, wo ewige Fehden und Kriege dafür jorgten, dab der Wohlſtand 
nicht zunahm; wohl aber in England und den Niederlanden, two der Reichtum 
rasch und mächtig gewachjen war. Im katholischen Ländern half die Mutter 
Kirche den Befigern von Überfchüffen gern aus der Verlegenheit. Much die 
Bauluſt, wie fie in vielen Städten, zum Beifpiel Belgiens, in eritaunlichen 
Make herrichte, mag auf die Schwierigkeit anderweiter Geldanlage zurüdzuführen 
fein. Macaulay giebt eine anziehende Schilderung der Lage, in welcher jich 
reiche Leute in England am Ende des ſiebzehnten Jahrhunderts befanden, als 
es noch feine Staatsjchuld gab, die heute befanntlich nach ſtarlen Tilgungen 
etwa 800 Millionen Pfund Sterling oder 16000 Millionen Mark beträgt. 
Macanlay bemerkt, die Schwierigkeit, Geld anzulegen, ſei jo groß geweſen, daß 
die Sitte, bedeutende Baarvorräte anzuhänfen, ganz allgemein beitanden Habe. 
Der Vater des Dichters Pope, welcher fich um dieſe Zeit von Geſchäften zurückzog, 
habe eine Geldfifte mit ungefähr 20000 Pfund Sterling (400 000 Mark) mit 
auf feinen Landfit genommen, um derjelben von Zeit zu Zeit zu entnehmen, was 
für den Haushalt nötig war. Es ift, fährt Macanlay fort, in hohem Grade 
wahrjcheinlich, daß diefer Fall nicht vereinzelt war. Gegenwärtig, glaubt er, 
jei das von Privatperjonen angehäufte Baargeld jo gering, daß wenn es plöglid, 
in Umlauf gejeßt würde, die dadurch bewirkte Vermehrung der Umlaufsmittel 
faum bemerft werden wide. Aber in der eriten Zeit der Regierung Wilhelms 
des Dritten waren alle berufnen Schriftiteller einig, daß eine jehr erhebliche 
Menge baaren Geldes bei den Privaten Hinter Schloß und Riegel liege. 

Es iſt einleuchtend, wie jehr der Nationalwohlitand dabei gewinnen mußte, 
als jene Schwierigkeiten bejeitigt wurden und als mit der Möglichkeit auch die 
Sitte, überflüjfige Baarbeträge alsbald nußbringend anzulegen, allgemein wurde. 
Taufende von Bürgern wurden erſt jetzt wahrhafte Kapitalisten, d. d. Inhaber 
von Beträgen, welche ausgelichen wurden, um in der Nationahwirtichaft pro- 
duzirend mitzuarbeiten, und Milliarden wurden vom mühigen Liegen in der 


Der Notftand des Privatfapitals. 545 





Kafje zu — Verwendung hingeleitet. Erſt jetzt ei Wohlſiand 
allgemein werden, und erſt jetzt konnten zahlreiche großartige Unternehmungen 
ausgeführt werden und dadurch ſolche Maſſen von Arbeitern beſchäftigt werden, 
wie es heute der Fall iſt. 

Es verdient indeſſen hervorgehoben zu werden, daß die Perſonen, welche 
infolge der leichten Geldanlage Kapitaliſten geworden ſind oder werden können, 
nicht alle ſo behäbige Leute ſind wie der Vater des Dichters Pope mit ſeiner 
Kaſſe von 400 000 Mark, und daß leichte Gelegenheit zur Geldanlage nicht ledig— 
lich der Kontrahirung der Staatsſchulden beizumeſſen iſt. 

Vor der Zeit, welche wir, um uns nicht auf Zahlen einlaſſen zu müſſen, 
die moderne nennen wollen, ſpielte der Tauſchhandel auch im gewöhnlichen 
Leben eine größere Rolle; eine unendliche Menge der beſtehenden Verpflichtungen 
wurde durch Lieferung von Wirtſchaftsprodukten, durch perſönliche Dienſt- oder 
andre Naturalleiſtungen ausgeglichen. Erſt als die moderne Welt von der Na— 
tural= zur Geldwirtſchaft überging, gewann das Geld als Repräſentant aller 
Güter und Leiſtungen jene ſouveräne Bedeutung, die es heute hat. Geld iſt 
zum Betriebe jedes Geſchäftes erforderlich und daher allgemein begehrt; die An— 
lage iſt alſo ohne Schwierigkeit für den Kapitaliſten, inſofern nur ſein Vorrat 
groß genug iſt, um den Zwecken eines Entlehners zu entſprechen. Es iſt nicht 
möglich, ziffermäßig zu beſtimmen, welche Größe eine Summe haben muß, um 
als Kapital ausgeliehen zu werden. Es genügt zu ſagen, daß kleine Beträge 
ſo lange zuſammengelegt werden müſſen, bis ſie anlagefähig werden. Mit dieſem 
Geſchäfte des Zuſammenlegens befaſſen ſich die verſchiedenartigſten Perſonen 
und Anſtalten. Wir wollen hier aber nur die Sparkaſſen ins Auge faſſen, 
weil fie die kleinſten Überſchüſſe ſammeln und weil fie von bürgerlichen Kreiſen 
benußgt werden, in welchen man die Kapitaliften ſonſt nicht zu fuchen pflegt. 
Wir wählen diefe Anstalten auch deshalb, weil ihr Betrieb ganz offen zutage Liegt. 

Ganz Deutichland, mit Ausnahme Baterns, hatte 1871 (nad) der Statistique 
internationale, Rom, 1876) in feinen Sparfafjen ein Slapital von 1553111119 
Mark liegen. Aber bereitö 1884 betrug die Kapitalſchuld dev preußijchen Spar- 
kaſſen allein 1965 722 265 Mark und diejenige der kgl. jächjiichen im Jahre 1881 
rund 350 Millionen, beider Länder zujammen, Preußen und Sachjen, aljo 
2365 Millionen Mark. Angenommen, der Zuwachs in den übrigen deutichen 
Staaten habe in gleichem Maße ftattgefunden, jo würde das Sparkaſſenkapital 
Gejamtdeutichlands (außer Baiern) etwa 3300 Millionen Mark gegen rund 
1553 im Jahre 1871 betragen. Es würden demnach, wenn wir 200 Mark als 
durchichnittliche Einlage annehmen, die Sparfaffen von Deutichland, ohne Baiern, 
von 16?/, Millionen Einlegern benußt, auf eine Bevölkerung von 40 Millionen 
Seelen! 

Erwägt man nun, daß die höher im Wohlitande ftehenden Klaſſen fich 
nicht der Sparkafjen zur Verwaltung ihrer Eriparnifje bedienen, daß für 

(renzboten III. 1885. 


546 Der Notſtand des Privatfapitals. 





die weniger bemittclten noch unzählige andre Anſtalten, Kaſſen, Genojjen- 
Ichaften, Verbindungen bejtehen, welche Kleinere Beiträge zu den verjchieden- 
artigiten Zweden ſammeln und als Sapitalien ausleihen, und endlich da von 
den 40 Millionen Menschen, die das fragliche Gebiet bewohnen, ein Dritteil 
Kinder unter vierzchn Jahren find, von welchen man feine Erjparniffe zu er: 
warten bat, jo wird man zugeben müfjen, daß mehr oder weniger doch beinahe 
das ganze Volf oder doc defjen jehr große Mehrzahl bei der Kapitalbildung 
beteiligt ijt, aljo nicht bloß als Nutznießer, jondern auch als Miteigentümer des 
Nationalkapitals zu gelten hat. 

Mag nun dies Miteigentum noch jo ungleich verteilt jein, jo bleibt es 
doc unleugbar, daß alle mitleiden, wenn die Bedingungen, unter welchen Das 
Kapital jteht, ungünstig, und ebenjo, daß alle Vorteil haben, wenn dieſe Be 
dingungen günjtig find, und daß deshalb ein Imterefjenfampf, der gegen die 
Kapitaliften als Klaſſe gerichtet wird, durchaus ungerechtfertigt und wider: 
finnig ift, daß daher diejenigen, welche ſolchen Kampf führen, nur etiva den 
abjolut Beſitzloſen möglicherweije und jedenfalls nur vorübergehend nugen können, 
allen andern aber notwendig jchaden müfjen. Mag immerhin das Streben der 
kleinsten SKapitaliiten dahin gerichtet fein, durch irgendwelche Mittel auf Koſten 
der größern SKapitalijten einen erhöhten Anteil an dem Gejamtfapital zu er: 
langen, jo bleibt es doc gleichſam ein Streit innerhalb der Familie, welche 
alle Kapitalijten umfaßt und deren gemeinjames Intereſſe es iſt, daß Kapital 
unter günftigen Verhältniſſen beitche, d. h. daß es Sicherheit und angemejjenes 
Erträgnis genieße. Diejenigen, welche dagegen einen wahren Interefienfampf 
zwißchen Arbeit und Kapital für einen naturgemäßen Zuftand, ja auch nur 
grumdjäglich für berechtigt halten, find in dem Irrtume befangen, daß Arbeiter 
und Stapitaliften zwei getrennte, ſich einander ausjchliegende Klaſſen jeien; fie 
überjehen, daß faſt jeder Arbeiter ein SKapitalift, wenigften® an einem Kapital 
beteiligt und jeder Kapitaliſt zugleich ein Arbeiter it, und fie überjehen, wie 
wir ſchon bemerkten, daß die Unterjcheidungen und Trennungen, Die wir 
vermöge der beichränften Beſchaffenheit unſers Begriffsvermögens bei wiſſen— 
Ichaftlichen Unterfuchungen zu machen genötigt find, indem wir die Erjchei- 
nungen nach einander von ihren verjchtednen Seiten betrachten — daß dieſe 
Trennungen eben nur geiftige Operationen find und in Wirklichkeit nicht oder 
doch nicht immer bejtehen. In der That find ja Arbeit und Kapital nur zwei 
Seiten des wirtichaftlichen Lebens, von denen feine ohne die andre denkbar 
it. Das Kapital fann nicht ohne die Arbeit beitehen, welche allein es nugbar 
macht, die Arbeit nicht ohne das Kapital, welches ihr die Bedingungen ihrer 
Möglichkeit Liefert, Rohſtoff, Werkzeug, Unterhalt. Auch ift ja das Ka— 
pital nichts andres als Frucht der Arbeit von gejtern, und dieje Frucht er- 
ftrebt jede gegenwärtige Arbeit, nämlich überſchuß ihres Erfolges über den 
Aufwand. Das Kapital, der Arbeitserfolg der Vergangenheit, iſt das Funda— 


— — —— — | 


Der Notftand des Privatfapitals, 547 





ment, auf welchem die Wirtichaft mitteld der Arbeit fich aufbaut, und welcher 
Zwift auch zwijchen Arbeit und Kapital, zwiichen Vergangenheit und Gegen: 
wart bejtehen mag, es ift, wie gejagt, ein Zwiſt innerhalb der Familie, fie find 
und bleiben auf einander angewiejen, und wenn fie fich ermitlich einander be- 
friegen, jo wüten fie gegen ihr eignes Fleiſch und Blut. 

Man würde mic) indefjen aufs ärgſte mißverſtehen, wenn man glauben wollte, 
ich fände alles in ſchönſter Ordnung, ich meinte, die Verteilung des Broduftions- 
gewinnes zwilchen Arbeit und Kapital, oder genauer zwijchen Arbeit und Unter: 
nehmer, ſei feiner Anderung fähig, es gäbe feine Arbeiterfrage und dergleichen 
mehr. Im Gegenteil, ich bin von der Überzeugung durchdrungen, daß in jehr 
vielen Fällen der Anteil der eigentlichen Arbeit am Produftionsgewinne einer 
dem Arbeiter günftigeren Regelung bedürftig und auch fähig jei, daß der Begriff 
der Produftionskoften injofern einer Erweiterung bedürfe, als ebenjo wie Die 
Abnutzung der Werkzeuge auch die Abnugung der menschlichen Arbeitskraft ein: 
zubeziehen jei. Davon zu fprechen, behalte ich mir für einen ſpätern Aufſatz 
vor. Im vorliegenden Aufſatz will ich nichts weiter al8 auch einmal das Ka— 
pital zum Worte fommen lafjen, das, wenn auch allgemein und jtürmijch be— 
gehrt, gleichwohl in der öffentlichen Erörterung als Stieffind behandelt und 
mißgünjtig betrachtet wird, 


E 
* 


Wenn Kapital eine Frucht, ein Erzeugnis der Arbeit ift und wenn es 
durch Arbeit feine Nugung findet, jo iſt es jchon aus diefem Grunde jehr 
wahrſcheinlich, daß die Arbeit und das Kapital an und für fich feine feindlichen 
Intereffen haben. Auch jehen wir in der That, wenn wir jorgfältig und 
ohne Voreingenommenheit die Dinge unterjuchen, daß die Beſchwerde der Arbeiter, 
man verfürze ihren natürlichen Anteil an dem Werte der durch ihre Hände er- 
zeugten Güter, nicht gegen das Kapital gerichtet fein fan. Denn nicht das 
Kapital ift e8, welches auf Koften der Arbeiter gewönne, fonft wäre es nicht 
möglich, daß Stapital und Arbeit gleichzeitig unter niedrigem Preiſe litten, 
d.h. daß Zins und Lohn zur jelben Zeit gedrücdt wären oder daß beide gleich- 
zeitig jteigen fünnten. Und doch ift dies nicht jelten der Fall.*) Die gemeine 
Lehre lautet freilich anders. Inden fie von dem VBorderjage ausgeht, daß 
Kapital und Arbeit die alleinigen Elemente der Produftion ſeien, fann fie es 
nur dem Egoismus des „mächtigen“ Kapitals zufchreiben, wenn der Arbeiter 
Not leidet. Allein jener Borderjag iſt falſch! Kapital und Arbeit find zwar 
Elemente der Gütererzeugung, aber für ſich allein vermögen fie nichts, es muß 


*) Die Lohnftatijtit des Vereins deuticher Eiſen- und Stahlinduftriellen 5. B. kons 
itatirt, daß gegen 1879 die Zahl der Arbeiter in 206 Werfen um 40,5 Brozent, der durch— 
ichnittlihe Lohn um 56,5 Prozent zugenommen hat, während gleichzeitig die Dividende der 
unter den 206 Werten befindlichen 89 Altiengefellihaften von 2,57 Prozent auf 6,75 Prozent 
geftiegen iſt. 


548 Der Notſtand des Privatfapitals. 


ein Dritter binzufommen, der beide in jeinen Dienjt nimmt. Diefer Dritte iſt 
der Unternehmer, in ihm liegt der Ausgang und Schwerpunft aller Produftion. 
Wenn derjenige, welcher ein Gut erzeugen will, jo viel Kapital befigt und mit 
feinen alleinigen Kräften fo viel auszurichten vermag, als nötig ift, jo jteht er 
ganz auf eignen Füßen, und von einer Teilnahme andrer Berjonen an dem er- 
zeugten Werte ift feine Rede. In diefer Lage ift z. B. ein Tijchler, der mit 
eignem Werkzeug und mit Holz, das er aus eignen Mitteln erfauft hat, ohne 
Geſellen arbeitet. Er ift Unternehmer, Kapitaliit und Arbeiter in ciner Perſon. 
Wenn aber fein Gejchäft wählt und feine perjönliche Kraft nicht mehr ausreicht, 
jo muß er fich einen Arbeiter als Gehilfen zugejellen, und wenn fich das Ge: 
ſchäft ſo ausdehnt, daß er zur Anschaffung von Holz und Werkzeugen fremden 
Beiftandes bedarf, jo muß er den Kapitaliften ala andern Gehilfen herbeirufen. 
Arbeiter und Kapitalift find alſo die Gehilfen des Unternehmers, und jeder 
diejer beiden Gehilfen hat feinen Lohn für ſich mit dem Unternehmer zu ver: 
einbaren. 

Nun ift es ganz natürlich) und der menschlichen Natur, wie fie nun einmal 
it, ganz angemejjen, daß jich der Unternehmer, joweit er nicht unter der Herr: 
ichaft moralischer und humaner Rüdfichten fteht, nur von feinem Egoismus 
leiten läßt, und eben diefer Egoismus des Unternehmers it es, gegen den der 
Arbeiter anzufämpfen hat, nicht der Egoismus des Kapitaliften. Hieran ändert 
auch der Umſtand nichts, wenn der Unternehmer gleichzeitig Eigentümer des im 
Geſchäfte mitwirfenden Kapitals ift, wenn auch diefe Bereinigung feinen Egois- 
mus zu jtärfen vermag. 

Es ift nicht meine Abficht, dies hier weiter auszuführen, weil ſich diefer 
Aufjag nicht mit der Arbeit, jondern nur mit dem Kapital befaffen ſoll und 
weil ed mir deshalb nur darauf anfommen fann, feitzujtellen, daß Kapital und 
Arbeit direft nichts miteinander zu jchaffen haben. Es können hohe Löhne bei 
hohem wie bei niedrigem Zins bejtehen, die Unternehmer fünnen gute Gefchäfte 
machen, obwohl jie jowohl hohen Zins als hohe Löhne bezahlen müfjen, und 
wiederum kann die Induftrie Darniederliegen, obgleich jowohl Stapital als Arbeit 
für geringes Entgelt zu gebote jtehen. 

Wenn der Arbeiter mit dem Unternehmer über Höhe des Lohnes verhandelt, 
jo joll nad) der herrichenden Lehre das Verhältnis von Nachfrage und Angebot 
entjcheiden. Es ift dies infofern nicht zu bejtreiten, als die Löhne ganz gewiß 
höher fein werden, wenn fich weniger Hände anbieten, als die Unternehmer ver— 
langen, und als die Löhne niedriger fein werden, wenn das umgefehrte Ver— 
hältnis beiteht. Allein die nachteilige Lage der Arbeiter bejteht darin, daß das 
Überwiegen des Angebots von Arbeitern ducch zwei Umftände ftetig gefördert 
wird, welche ganz außerhalb des eigentlichen Prozeffes der Gütererzeugung 
liegen. Der eine ift die fortwährende Zunahme der Bevölkerungszahl, ins— 
bejondere der von ihrer Hände Arbeit Icbenden Klaſſen, der andre ift der 


Der Notftand des Privatfapitals. 549 





Fortſchritt der Wiffenjchaften, welcher es möglich macht, die menjchliche Arbeit 
mehr und mehr durch Majchinen zu erjegen. Dieje beiden gleich Naturgewalten 
wirkenden Urſachen geben dem Egoismus der Unternehmer dem Arbeitern gegen- 
über einen größern Spielraum, und ich fürchte, daß fein Lohn- und fein jonjtiges 
wirtfchaftliches Syitem erfonnen werden kann, welches diejem Übeljtande abhälfe, 
glauben aber, daß das Heilmittel auf dem moraliichen Gebiete gefunden werden 
wird, d. 5. im einem Fortichritte der allgemeinen Humanität, welche den 
Egoismus des Unternehmers läutern und fo weit beichränfen wird, daß er den 
Arbeiter nicht zu dem niedrigiten Kohnjage annimmt, der überhaupt zu erreichen 
ift, jondern — um in dem Sinne der Moral sentiments von Adam Smith 
zu reden — zu einem ſolchen Lohnjage, welcher die Billigung jeiner Neben: 
menfchen findet, d. 5. dem Arbeiter ein menjchemvirdiges Dafein geftattet.*) 

Wie fteht es nun aber mit dem Kapital? Auch diejes hat mit dem Unter: 
nehmer feinen Lohn zu vereinbaren, und das Kapital wird mit demjelben Necht 
nad) gutem Zins jtreben wie der Arbeiter nach hohem Lohn, Auch Hier wird 
das Verhältnis von Nachfrage und Angebot im wejentlichen entjcheiden. Aber 
wie die reine Wirkung dieſes Verhältnifjes bei der Verhandlung zwifchen Ar— 
beiter und Unternehmer durch die jchwächere Lage des Arbeiters geitört wird, 
die fic) aus dem Einfluß der Vollszunahme und der Vervollkommnung der 
Maſchinen ergiebt, jo bei der Verhandlung zwilchen Kapital und Unternehmer 
durch den Üübermächtigen Einfluß des Großkapitals. Der Unterjchied zwischen 
Kapital und Großfapital wird nicht genügend beachtet, ja das Kapital jelbjt 
ift fich feiner vom Großfapital unterjchiednen Stellung faum bewußt, und es 
ijt daher zumächjt meine Aufgabe, diefen Unterjchied darzulegen. Ich hoffe be— 
weijen zu können, daß während das Kapital aus Arbeit entiteht und in Arbeit 
nußbringende Verwendung gegen Zins anftrebt, dieſe beiden charakterijtifchen 
Eigenjchaften des Kapitals dem Großfapital abgehen, indem es erjtens nicht 
aus Arbeit, jondern durch Spekulation entjteht, und zweitens nicht mittels 
der Arbeit in der Gütererzeugung Verwendung jucht, nicht auf Zinsgenuß 
ausgeht, ſondern auf Verfchlingen, Aufſaugen andern Kapitals, daß within 
Großkapital und Kapital zwei wejentlich verjchiedne Dinge find, die nicht unter 
demjelben Namen zujammengefaßt werden jollten. Es jei mir gejtattet, etwas 
weiter auszuholen. 


* * 
* 


Ein Markt ift ſchon in jehr unentwidelten Hulturzuftänden ein unabweis- 
bares Bedürfnis. Der Nomade wandert von jeiner firgifiichen Steppe nad) 


+ Wie mächtig der moralijche Einfluß ift, Sehen wir an dem Beiipiel, welches König 
Humbert von Italien gab, als er die Cholerafranten in Neapel bejuchte, ein Beiipiel, 
welches auch den König von Spanien genötigt oder doch veranlaft hat, aus demielben 
Grunde troß des Widerſpruchs jeiner Minister nah Aranjuez zu gehen. Der Moraltoder 
der Könige wird vermutlich dieſes Gebot für die Zukunft feitgalten. 


550 Der Hotitand des Privatfapitals. 


Niichninowgorod, um feine Hammel und feine jelbitgefertigten Zeltfilze gegen 
Waffen, Pulver, Getreide und jonjtige Bedürfniffe auszutauſchen. Er ift ficher, 
dort Käufer jeiner Produkte und Verkäufer derjenigen Waaren zu finden, welche 
er einzutaujchen wünscht. Dieje Gewißheit überhebt ihn der Mühe, im weiten 
Lande umberzuziehen, um die gewünjchten Käufer und Verkäufer zu finden oder 
— vergeblich zu ſuchen. Stellen wir ung num aber den Markt nur als den 
Verjammlungsort aller derjenigen vor, die ihre Produkte gegen ihren Bedarf 
umjegen wollen, jo würde er jeinen wirtjchaftlichen Zwed nur in ungenügendein 
Maße erfüllen. Denn es würde vom Zufalle abhängen, ob — um bei unjerm 
Beilpiele zu bleiben — jo viele Liebhaber von Hammeln und Zeltfilgen in 
Niſchninowgrod erjchienen wären, um dem Angebote der Kirgiſen zu ent» 
iprechen, oder ob jo viele Kirgiien zum Marfte gefommen wären, um der Nach: 
frage nach Hammeln und Zeltfilzen zu genügen. Vom Zufall aljo wirde es 
abhängen, ob der Kirgiſe unverrichteter Sache wieder heimziehen müßte, weil 
er jeine Hammel und Filze nicht anbringen konnte oder nicht zu Spottpreijen 
hergeben wollte, oder ob der Ruſſe feinen Bedarf an Hammeln und Filzen 
garnicht oder doch nur zu übermäßigen Preiſen deden konnte, weil nur wenige 
Kirgiſen erfchienen wären. Um diejem Übelitande vorzubeugen, muß es auf 
einem richtigen Markte noch eine dritte Klaſſe von Perſonen geben, die weder 
eigne Produkte zu verkaufen Haben, noch ihren Bedarf an fremden Produkten 
decken wollen, die alfo weder Produzenten noch Konſumenten, wohl aber bereit 
find, ſolche Güter, die jonft feine Abnehmer finden, zu kaufen, oder ſolche Güter 
zu verfaufen, die verlangt, aber nicht in gemügender Menge von den Produ— 
zenten angeboten werden, jei es, daß jene dritte die fehlenden Waaren von 
ihrem Vorrate abgeben, den fie auf dem vorigen Markte, ald das Angebot 
überwog, vorjorglich angeichafft haben, oder daß fie die Lieferung in genügender 
Friſt und am gewünjchten Orte verfprechen. Dieje Klaſſe von Spekulations: 
fäufern und Berfäufern verhindert durch ihr Dazwiichentreten ein unbegrenztes 
Sinfen oder Steigen der Preije und eine zeitweilige Entblößung des Marktes 
von gewifjen Waaren; fie jind demnach, wenn fie faufen, läjtige Konkurrenten 
der übrigen für eignen Bedarf auftretenden Käufer, und wenn fie verfaufen, 
die läftigen Konkurrenten der ihre eignen Produfte ausbietenden Verfäufer. 
Sie bilden aber den NRegulator der Marftpreife und find deshalb nicht nur 
nüglich, jondern geradezu unentbehrlich. 

Nun ijt es leicht einzujehen, daß dieſe Spefulation jehr gefahrvoll ijt, weil 
fie auf Beurteilung gegemwärtiger und auf Berechnung künftiger Umftände be— 
ruht und von Dingen abhängig ist, auf welche der Spefulant in der Regel 
feinen Einfluß hat. Das Gejchäft wird daher nur von den geriebenften Leuten 
mit Erfolg betrieben werden fünnen, und es ijt zu vermuten, daß dieſelben 
leicht veranlagt werden, ftatt mur vorhandne Umftände zu benugen — was 
ihres Amtes ift —, ſolche Umstände durch allerlei Mittel künſtlich herbeizu- 


Der Notſtand des Privatfapitals, 551 


führen und ſo das natürliche Verhältnis zwiſchen Nachfrage und Angebot zu 
ihrem Vorteile zu ſtören. So kommt es, daß mit dem an ſich nützlichen Spe— 
kulationshandel eine Reihe verderblicher Auswüchſe verbunden iſt, welche manche 
verleiten, die Spekulation überhaupt zu verurteilen und auf deren Beſeitigung 
oder doch möglichſte Beſchränkung hinzuwirken. Die unbefangne Betrachtung 
jedoch wird die Nützlichkeit, ja Unentbehrlichkeit ſolcher Spefulationen für ein 
gedeihliches Wirken des Marktes wenigjtens jo lange nicht bejtreiten fünnen, 
al3 fich die Spekulation nur mit Kauf und Verkauf wirklich vorhandener Waaren 
befaßt, d. h. jolange ihre Abficht ernftlich nur auf wirklichen Bezug und auf 
wirkliche Lieferung von Waaren gerichtet ift, oder — anders ausgedrüdt — jo 
fange der Spefulationsfäufer nur mit einem wirklichen Verkäufer und der Spe- 
fulationsverfäufer nur mit einem wirklichen Käufer handelt. Solange wird die 
Spekulation dem Markte und allen feinen Bejuchern Dienjte leisten, und die 
Auswüchſe bei diejer Art der Spekulation werden zu ertragen fein. Erjt wenn 
die Spekulanten unter fich in Handel treten, wenn weder die Abjicht des 
Käufers auf Bezug, noc die Abficht des Verkäufers auf Lieferung der Waare 
zielt, erjt dann beginnt das Werderben, weil nun die Preisbildung ganz um: 
abhängig von der Summe der Gütererzeugung und dev Summe des Bedarfes 
wird, vielmehr durch ein fremdes und willfürliches Element, nämlich durch 
das Spiel bedingt wird. Man könnte es num freilich den Spekulanten ruhig 
überlajfen, durch Spiel und Wette ihr Vermögen zu verlieren oder reich zu 
werden, wenn fie es außerhalb des Marktes thäten und wenn ihr Spiel nicht 
die Wirkung hätte, den Preis auch für die ernftlichen Käufer und Verkäufer 
zu bejtimmen und diefe jomit in den Strudel ihres Spieles zu verwideln. In— 
jofern ift daher die Spekulation das Verderben des Marktes, der Feind ſowohl 
der Produzenten als der Konſumenten, der Arbeit wie des in der Produktion 
angelegten Kapitals. 

Dieje Erörterung über den Markt für Sachgüter jchide ich voraus, weil 
fie die Schilderung des Kapitalmarftes, der Börje, erleichtert. Denn beide be- 
ruhen auf dem gleichen wirtjchaftlichen Bedürfnis, bewegen fich parallel auf 
denjelben Bahnen, haben die gleichen Funktionen und leiden an gleichen 
Schäden, wenn auch an der Börje ein neues Phänomen, das Großfapital, zu« 
tage tritt. 

Der Geldmarkt, die Börje, wird erſt auf einer höheren Kulturſtufe Be- 
dürfnis, wenn ein Volk größere wirtichaftliche Erfolge Hinter fi) hat, wenn 
namhafte Überſchüſſe vorhanden find und das Bedürfnis erwacht ift, diefelben 
nußbringend in der Güterproduftion (als Kapitalien) anzulegen. Alsdann ent- 
jteht, wie bei den Produzenten und Konſumenten der Sachgüter, ein Verhält- 
nis des Aufjuchens zwilchen Angebot und Nachfrage und damit das Bedürfnis 
einer Stelle, wo diejenigen, welche Geld auszuleihen winjchen, mit denjenigen, 
welche jolches entlehnen wollen, zujfammentreffen; diefe Stelle ift die Geld- 





552 Der Notſtand des Privatfapitals. 


börje.*) Auch hier jedoch würde, wie auf dem Sachgütermarkte, Die Befriedigung 
der Nachfrage und des Angebotes vom Zufalle abhängen, auch bier würde der 
(Miet) Preis des Geldes, der Zins, wegen des zufälligen Überwiegens ber 
einen oder der andern Partei den größten und verderblichjten Schwankungen 
unterliegen und jeder Stetigfeit entbehren, wenn die Spekulation nicht dazwilchen- 
träte, d. h. wenn es nicht eine Klaſſe von Börjenbejuchern gäbe, die an um 
für ſich weder verleihen noch entlehnen wollen, aber zu beidem bereit find, wenn 
fi dazu eine günftige Gelegenheit bietet: zum Varleihen, wenn die Nachfrage 
nach Kapital, zum Entlehnen, wenn das Angebot überwiegt. Auch dieſe Spelu— 
lanten find demnach, wie auf dem Sachgütermarfte, ein nüßliches, notwendige, 
ja ımentbehrliches Element, jo lange fie mır das wirkliche Angebot und die 
wirkliche Nachfrage zum Gegenftande ihrer Operationen machen. Ein ſchädlicher, 
verwerflicher Auswuch® werden fie erſt dann, wenn fie unter fich umd ohne 
Rückſicht auf die wirklich an der Börſe Verwendung juchenden oder zur Ver— 
wendung geluchten SKapitalien handeln. Transaktionen der legtern Art ent 
behren der pofitiven Grundlage, find aljo nur Spiel, Wette, reine Differenz 
gejchäfte und als jolche ein Krebsſchaden der Kapitalbörfe. 

Man wird bemerken, daß bis hierher Sachgütermarft und Geldbörje cn 
vollfommen analoges Verhalten zeigen.**) 

Allein an der Geldbörje begegnen wir noch einer weiteren Klaſſe von Ve— 
juchern. Es find in der Regel vornehme Herren; mit Orden umd Titeln ge 
ſchmückt, fommen fie in eleganter Equipage angefahren, halten fich im Börlen- 
jaale in vornehmer Entfernung von dem Gewühle der Handelnden; jcheinbar 
teilnahmloje Zufchauer, find fie gleichwohl die eigentlichen Beherrſcher der Börſe. 
Diefe großen Herren, die wir als Geldfürften bezeichnen fünnen und die jid 
jelbjt die haute finance nennen, machen zwar auch aus eignem Bedarf oder im 
Auftrage ihrer Kunden gelegentlich wirkliche Kaufgeichäfte oder fpefuliren auf 
die natürlichen Schwankungen des Marktes; fie enthalten fich aber des Spiels 
und ber Differenzgejchäfte, obwohl viele unter ihnen eben hierdurch empor- 
gefommen find. Ihr Streben it vielmehr nur auf Beherrichung der Börſe ge 
richtet, auf Ausbeutung des gefamten Volkskapitals, das an die Börſe kommt, 
als deſſen Häupter und abjolute Herren fie fich betrachten. Es ift nötig, dab 
wir ihre Stellung, ihr Verhalten und Verfahren, das unfrer Zeit ihr eigent- 
liches wirtjchaftliches Gepräge giebt, einer näheren Betrachtung unterwerfen. 


*) Die Börje hat zwar auch noch andre Funktionen, 3. B. die Bermittlung von 
Zahlungen ; dieje können aber für unjre Zwede außer Betracht bleiben. 

**) Much bier könnte man den Unfug gewähren lajien, wenn er fich außerhalb der 
Börfe vollzöge und damit der Einfluß auf die allgemeine Preisbildung verhindert würd 
Vielleicht ift dies der eigentliche Grund, warum in Paris die reinen Spiel und Wett 
geihäfte (im Prinzip) in die fogenannte Couliffe und auf das Trottoir vor der Börſe ver- 
tiefen find, 


Der Hotftand des Privatfapitals. 553 








Das werbende Nationalfapital befteht aus einer unendlichen Anzahl großer, 
kleiner und kleinſter Beträge; fie alle juchen zinstragende Verwendung und 
bilden im ihrer Totalität das Gejamtangebot. Nun aber befteht, wie bereits 
oben bemerft wurde, ein jehr namhafter Teil der Kapitalien aus jo Heinen 
Beträgen, daß fie unterhalb der Grenze der Verwendbarkeit, der Ausleihe: 
fähigfeit bleiben. Dieſe Grenze fchiebt ſich höher und höher hinauf, wenn es 
ſich um den großen Kapitalbedarf der Induſtrie, der Gemeinden, der Staaten 
handelt, oder um jolche Riefenfummen, wie fie die Durchftechung der Zandengen 
von Suez ımd Panama oder die Zahlung der Kriegsentichädigung erforderte, 
welche Frankreich 1871 an Deutichland zu leiften hatte. Es ift einleuchtend, 
daß der allgemeine Trieb des Kapitals zur Anlage die Zufammenlegung der 
fleinen Beträge zur notwendigen Folge hat, oder daß — mie ich es ander- 
wärts ausgedrüdt habe — dem Stapital eine zentripetale Kraft innewohnt. 

Das Geichäft nun, welches dieſem Bedürfniffe des Zufammenlegens genügt, 
it an und für fich ein durchaus berechtigtes, ja in hohem Grade nüßliches 
und für die Nationalwirtichaft faum entbehrliches. Es wird von den ver- 
Ichiedenartigften Berfonen und Anftalten unter ſehr verjchiednen Namen und 
auf die mannichfachite Art betrieben. Sparkafjen ſammeln die kleinſten Beträge, 
Banken und Bankfürjten allein oder in mächtigen Konfortien vereinigen die 
mittleren Kapitalien, um die Millionen und Milliarden zu beichaffen, wie fie 
die Großinduftrie, die Gemeinden und Staaten nötig haben. In allen Fällen 
it dies Gefchäft jehr gewwinnreich, und der Sammler verdient nicht nur eine an- 
jehnliche Belohnung für jeine Mühewaltung, jondern er erwirbt auch den Einfluß, 
welcher mit der Verfügung über ein großes Kapital verbunden tft; er übt eine 
Macht aus, die ihm feine Kunden übertragen, die aber unendlich viel größer 
iſt als die ihrige, weil der Nubeffekt des angefammelten Großkapitals weit be- 
deutender ijt ald die Addition der Heinen Beträge. Der Nepräfentant einer 
Million ift allezeit viel mächtiger als zerftreute und zufammenhangslofe taufend 
Perjonen, deren jede nur über taufend verfügt. Aus diefen Gründen folgen 
die Anſammler jelbjt wieder dem zentripetalen Triebe, indem fie ſich zu Gejell- 
Ichaften, Gruppen, Konjortien verbinden, und fo entjtehen im Zentrum des 
ſtreiſes der Kapitaliſten jene allmächtigen Geldfürften, welche mit ihren großen 
und Heinen Bafallen durch die Börſe die Welt beherrschen. Mit der faft ab- 
joluten Gewalt der Hochfinanz ift der Natur der Sache nach Selbſtſucht und 
Rückſichtsloſigkeit verbunden. Ihre an fich berechtigte und gemeinnügige Funftion, 
die Gefchäfte und Intereffen der Kapitaliften zu vertreten, tritt hinter den eignen 
Vorteil zurüd, und der Mißbrauch der anvertrauten Gewalt ift hier ebenfo 
unvermeidlich, wie er es zu allen Zeiten bei abjoluter politischer Gewalt geweſen 
it. Die einzige Macht, die ihre Ausſchreitungen bejchränfen könnte, die Prefje, 
jteht leider in ihren gutbezahlten Dienften. 

E 


x 
* 


Grenzboten III. 1885. 70 


554 Der Notſtand des Privatfapitals. 





zu bilden, jene Beträge als Selbſtſchuldner übernehmen und den Einzahlern 
dafür mit eignem Vermögen haften, während fie jelbit, die Sparfafjen, als 
Darleiher der Kapitalien auftreten, jo it das Verfahren der Hochfinanz ein 
durchaus andres. Die Sparkaſſe vertritt ihre Einleger und handelt Tediglid) 
in deren Intereſſe, das fie zu wahren fucht, indem jie auf möglichjt Hohe Zinjen 
ausleiht; fie verjtärft alfo die Stellung der Einfeger gegenüber der Nachfrage 
nach Kapital. Der Bankier dagegen jchiebt ſich zwiſchen die Kapitaliſten umd 
die Nachfrage als ein dritter ein, er trennt Die beiden natürlichen Kontrahenten, 
um ihre iolirte Stellung zu jeinem Vorteil auszubeuten, um von beiden, wie 
der neapolitanische Cammorrift, eine Abgabe zu verlangen. Wenn die Börie, 
wie fie es fein follte in Wahrheit der Markt für alle diejenigen wäre, welche 
Kapital darleihen oder Kapital entlehnen wollen, jo würden die Regierungen 
und die jonftigen großen SKapitalfucher auf der Börje erjcheinen und fie würden 
im Verkehr mit den wirklichen Darleihern den Zins umd die fonftigen Be— 
dingungen nach den Nötigungen des Augenblids vereinbaren. Nun aber 
ſchieben fich zwifchen diefe natürlichen Parteien die Großfapitaliften, die Banfiers 
ein; fie verhandeln mit den Kapitalfuchern außerhalb der Börje und jegen Zins 
und Bedingungen ohne Mitwirkung der ernithaften Darleiher feit, auf deren 
Stapitalien es doc) allein abgejehen iſt. 

Während der Privatmann es nur auf ftetige und möglichit vorteilhafte Ber- 
zinfung feines Kapitals abfieht, geht der Bankier immer nur auf Kapitalgewinn 
aus; der Zins läuft num nebenher als Kaffenrehnung und it ihm feiner Höhe 
nach ziemlich gleichgiltig. Er leihe dem Staate oder der Gemeinde, er gründe 
eine Eifenbahn, eine Verficherungsanftalt oder eine Spinnerei, niemals ift es 
feine Abficht, Gläubiger des Staates vder der Gemeinde zu werden oder Aktionär 
jener Anftalten; er denkt nicht entfernt daran, jein Geld in diefer Weile an- und 
feftzulegen; was er allein beabfichtigt, ift, das Geld der unjelbjtändigen Kapita— 
liften, die jeine Klienten find oder die jeiner Lodung folgen, für jene Anlagen 
heranzuziehen, für fich aber außer dem laufenden Zins einen Slapitalgewinn zu 
machen. Banking is a kind of trade carried on for the purpose of getting 
money; it differs from other trades in as much it is carried on chiefly with 
the money of other people, heißt es treffend in Gilbarts History and principels 
of banking. 

Die höchſte Entwicklung hat diefem Handel mit fremdem Gelde erjt die 
Erfindung und allgemeine Einführung der auf den Inhaber lautenden PBartial- 
icheine und Aktien gegeben. Durch diefe auf Feine Beträge lautenden Scheine 
iſt der Bankier in den Stand geſetzt, ein Gejchäft jelbjt ganz ohne eigne Vorlage 
zu machen, wenn er, wie es häufig geichteht, den Entlehner nur nach der Maß— 
gabe befriedigt, wie er die Bartialicheine an der Börſe veräußern wird. Ja 
jelbjt in folchen Fällen ift dies möglich, wenn er die Partialfcheine oder Aktien 


Der Notſtand des Privatfapitals. 555 





nicht früher erhält, als er ihren Gegenwert eingezahlt hat; denn er kann die 
Papiere fchon vor ihrer Ausgabe an der Börje gegen Gutjcheine veräußern. 
Und wenn er auch wirflich eine Vorlage zu machen hat, jo iſt es doch nur 
auf kurze Zeit, während fich jein Gewinn auf die ganze in dem Unternehmen 
angelegte Summe beredynet. Angenommen 3. B., es handle fi) um zehn 
Millionen, und der Bankier wäre genötigt, ein Fünftel mit zwei Millionen vor: 
zulegen, der Gewinn des Gejchäftes aber wäre zwei Prozent — 200 000 Marf, 
jo verdient er, abgejchen von dem laufenden Zins, auf jeine Vorlage zehn 
Prozent. Nun aber widelt jich ein jolches Geichäft im regelmäßigen Verlaufe 
in jehr kurzer Zeit ab, nehmen wir an in zwei bis drei Monaten; er fann 
alfo mit dem nämlichen Kapital drei, vier, ja fünf jolcher Gejchäfte in einem 
Sahre machen und aljo dreißig bis fünfzig Prozent Nugen daraus erzielen. 
Man fieht, wie in jolchen Gefchäften der eigentliche Kapitalzins zur Nebenjache 
wird. Im der That ift dem Bankier der Zinsfuß der von ihm fontrahirten 
Anlehen ganz gleichgiltig, deun jein Gewinn iſt die Provifion, die ihm der 
Entlehner zahlt, und der höhere Kurs, zu welchem ihm die Börje die Bartialen 
abnimmt. Aber auch nad) volljtändiger Abwicklung des Gejchäftes bleiben nod) 
garnicht zu verachtende Vorteile für den Bankier übrig, bei Anlehen die Be: 
jorgung der Zins- und NRüdzahlungen, bei Aftiengründungen die einträglichen 
Stellen der Auffichtsräte und der Einfluß, den fie auf die Gejellichaften üben, 
welche ihre Klientel vermehren — von Orden und Titeln, die bei dem Gejchäfte 
abfallen, garnicht zu reden. 

Freilich verlaufen nicht alle Operationen glücdlich, und es fommt wohl vor, 
dag ein Bankier auf feinen Papieren fiten bleibt. Allein es find dies doch 
wohl im ganzen jeltene Fälle, die fich bei einiger Vorficht leicht vermeiden laſſen. 
Denn da der Bantier kraft jeines Lebensprinzips fich nur auf jolche Unternehmungen 
einläßt, die fich im kurzer Zeit für ihn abwideln, jo ift es jchon an und für 
ih nicht wahrscheinlich, dak ihn Werlufte treffen werden, denn in jo kurzer 
Zeit ändern fich die Umstände nicht leicht, unter denen er fich auf das 
Geſchäft eingelaſſen hat und die natürlich gewinnverheißend waren; zur Paraly— 
jirung leichter Schwankungen in der Konjunktur aber befigt er allerlei geräufch- 
loje Mittel, die das Vertrauen, die „Stimmung“ des Publifums wenigftens 
jo lange erhalten, bis er jelbjt nicht mehr wejentlich beteiligt ift, d. h. den Kopf 
aus der Schlinge gezogen hat. 

Dan fann zwar nicht bejtreiten, daß manche jener großen Anlehensgejchäfte 
ohne die Intervention der Banfters nicht zuftande fommen würden, und in 
jolchen Fällen wäre ihre Thätigfeit dann allerdings eine produftive, jo gut wie 
diejenige de8 Kaufmanns, der eine Waare von dem Orte, wo fie wenig gilt, 
an einen Ort bringt, wo fie mehr wert ift. Allein es würde dies doch voraus: 
jegen, daß dieſe der Geburtshilfe des Bankiers bedürftige Geſchäfte an fich nüß- 
liche und wirtjchaftliche wären. Und eben dies darf öfters jtark bezweifelt 


>56 Der Hotftand des Privatfapitals. 





werden. Wenn Peru oder Bolivia einige Millionen Dollars borgen wollen, oder 
wenn eine jenjeits der Felſengebirge Nordamerifas projeftirte Eifenbahn, deren 
Aktien noch nicht gezeichnet oder doc) nicht eingezahlt find, Bonds ausgeben will, 
um ihr gewagtes Unternehmen auszuführen, jo würden fie ſich allerdings vergeblich 
an die europäiichen Kapitaliften wenden, wenn fie nicht einen Vermittler fänden, 
der die jchwachen Seiten des Kapitaliften jo gut wie feinen eignen Vorteil fennt. 

E3 liegt mir ferne, Die Intervention der Bankiers an und für ſich ver- 
dammen zu wollen; denn es fann ja nicht geleugnet werden, daß bei ſehr großen 
Gejichäften der Abſchluß erleichtert werden fann, wenn eine das Wertrauen 
beider Teile genießende Perſon dazwijchen tritt. Man weiß, daß das Haus N. N. 
nur jolche Gejchäfte an die Börje bringt, die es als folide erfannt hat, und 
man it überzeugt, daß es die Fähigkeit und die Mittel bejigt, ſich ſolche 
Kenntnis in zuverläffiger Weije zu verichaffen. Ein ſolches Haus leijtet daher 
unzweifelhaft beiden Zeilen wirkliche Dienjte und verdient dafür eine faufmän- 
nische PBrovifion. Allein in den meilten Fällen it das Verhältnis durchaus 
anders. Der Bankier pflegt ſich weniger um das Intereſſe der Parteien 
zu kümmern als um fein eignes, er verbindet die Parteien nicht, fondern er 
trennt fie; er tritt dem Borger, den er von der Slapitalbörje fernhält, als 
Darleiher gegenüber und beutet dabei feine günftige Lage und feine Macht 
ohne Rüdjicht aus. Dann erjcheint er auf der Börje und bietet jeine Waare, 
die Partialfcheine, aus, um nun bei den Kapitaliſten zu verdienen. Dies ift 
nicht wirtjchaftliche Vermittlung, fondern Ausbeutung. Für das, was der Bankier 
verdiente, hat er feinen Gegenwert geliefert, er nimmt es von der Subjtanz 
des Kapitals, und um foviel er reicher geworden ift, um ebenfoviel find andre 
ärmer geworden. Aber die Welt ijt hieran gewöhnt. Das Großfapital hat 
das Publikum zuerſt mit großen Gejchäften befannt gemacht, und das Privat: 
fapital ahnt es kaum, im welcher Weiſe es auögebeutet wird. 

Der Jagd der Banfiers auf die unjelbftändigen Brivatfapitalien fommt die 
Bwangslage der lehtern auf halben Wege entgegen, weil fich infolge ununter- 
brochener Neubildung von Kapitalien, jowie durch die Rüdzahlung aus ange: 
legten Kapitalien fortwährend baares Geld an der Börſe häuft, welches Anlage 
jucht und auf das Kommandowort der Großen wartet. 

Die Bande, in welchen die allmächtigen Geldfürften den Kapitalmarkt, Nach- 
frage und Angebot gefeffelt halten, find jo feit, daß es nur jelten gelingt, ſich 
ihrer zu entledigen. Frankreich und England haben unter günjtigen Konjunk— 
turen gelungene Verſuche gemacht, Anlchen mit Umgehung der Bankier direlt 
an die Börje zu bringen, und während ich dieſes jchreibe, werden die deutjchen 
Börjen, wie es heißt, in der That aber nicht diefe, jondern die beifeite gelafjenen 
Bantiers überrajcht und höchlichſt verftimmt durch das Vorgehen der preußtichen 
Hegierung, welche neue 39, prozentige Obligationen durch ihre Agenten ohne 
jonjtige Vermittlung an der Börſe verfaufen läßt. 


Der Notftand des Privatfapitals. 557 


Eine Berechnung derjenigen Summen, welche die Hochfinang durch Emij- 
jionen verdient oder, genauer ausgedrüdt, welche fie von der Subſtanz des 
Privatfapitals erhebt, läßt fich natürlich nicht anftellen. Wohl aber kann man 
jich ein allgemeines Bild machen von der Riejenhaftigkeit dieſes Prozeijes der 
funjtgemäßen lberleitung eines Teils der Kapitalien des Publikums in die 
Hände weniger. Man erwäge nur die verhältnismäßige Menge von Welts 
bäufern, welche in den legten 40 bis 50 Jahren entjtanden find, und überblide 
anderjeit3 die Höhe der jährlichen Emiſſionen. Es fehlt darüber eine er- 
ihöpfende Statiftif, aber ich befige aus den Jahren 1869 bis 1874 Notizen 
über die Emiffionen an der Frankfurter Börje, die zwar nicht entjcheidend find, 
weil e8 ji) um eine Periode befonders lebhafter Emiffionsthätigkeit Handelt 
und weil viele dieſer Emiſſionen gleichzeitig an andern Börfen aufgelegt wurden. 
Sie geben aber doc ein jchr anjchauliches Bild und find in verjchiedner Rich— 
tung außerordentlich lehrreich, befonders auch für die Frage, inwieweit diefe Thätig- 
feit der Bankier etwa indireft den nationalen Intereffen Nuten bringen konnte. 

In der gedachten Periode 1869 bis 1874 wurden an der Frankfurter 
Börfe 20278 Millionen Darf emittirt. Darunter befanden fich a) deutjche 
Werte 2331 Millionen — 12 Prozent, b) außerdeutiche 17947 Millionen 
— 88 Prozent. Dieje Emijjionen dienten folgenden Zwecken: 

1. in Deutichland: 


a) Staatd- und Gemeindeanlcehen . 512 Millionen, 
b) een und Schiffiahrt . . 475 A 
c) Banlten . 987 . 


d) Imduftrie, Landwirtſchaft, Handel 357°, 2331 Mill. — 12 Proz 
2. in Europa: 


a) Staatd- und Gemeindeanlehen . 8894 Millionen, 








b) ee und Schifffahrt. . 1617 J 
c) Banken . . 883 z 
d) Induſtrie, Landwirtſchaft, Handel 88 u 6482 = 29 
3, in Amerika: u " 
a) Stantd- und WERNER GEN . 11094 Millionen, 
b) Eifenbahnen . . ; 371 E 11465 = 56 


” 


20278 Mil. 100 Proz. 

Das Welthaus Rothichild allein hat in diefer Periode zwölf Milliarden 

emittirt! Wieviel die Emiffionshäufer gewonnen und wieviel die Zeichner ver: 
loren haben, wäre jehr lehrreich zu wiffen.*) 


*) Das Haus Rothichild erhielt nah amtlicher nn. im engliihen Parlament für 
die Emiſſion des ägyptiſchen Anlehens von 9 Millionen Pfund neben dem Erjag aller Aus- 
lagen 'Y/, Promille, aljo 90000 Mark als Provijion, obwohl bei diejem) von! allen Groß— 
mächten garantirten und bon den Kapitaliften jehnfüchti erwarteten Anlehen die Mühe des 
Unterbringens gleih Null gewejen iſt. Der wirkliche Berdienft des Welthaufes bei diefem 
Geichäfte war nad Labouchere, deſſen Behauptung im Parlament (5. Auguſt 1885) ohne 
Widerſpruch des Miniſters blieb, 270000 Pd. St. = 5,4 Millionen Mark, aljo drei volle 
Prozent! Der Schaplanzler fagte, die vorige Regierung habe die Anleihe in Submijjion 
vergeben wollen, und es wäre dies jehr vorteilhaft für Aegypten gewejen. Allein Fürſt Bis- 
mard habe widerſprochen, weil ein folder Modus in Deutidyland nicht bekannt ſei. 


(Schluß folgt. ) 


Boethiana. 


I. Hu Goethes Derhältnis zu Larlyle. 


Don Ewald flügel. 


a" Frühjahr 1819 hatte Garlyle angefangen, fich mit dem Stu— 
| dium der deutjchen Literatur zu bejchäftigen, und zunächit war 
\ aA Jes Schiller, der ihm vollftändig „erfüllte,“ wie er damals jelbit 
Se = einmal jagte. Körperlich umd geiftig erjchöpft, hatte er im 

NT, — Winter des folgenden Jahres — mit Stundengeben friſtete er 
— ſein Leben — die erſte Bekanntſchaft mit Goethes Werken gemacht, die 
für ſeine ganze Entwicklung von größter Bedeutung werden ſollte. Er hatte 
bald geſehen, daß Goethe „vor ihm den Dornenweg gewandelt war,“ und mit 
Goethe, durch) Goethe wollte er feinen Geift zur Klarheit hindurchringen. Er 
plante, um zunächit Exiftenzmittel zu befommen, ein „Leben Schillers,“ aber da— 
mals fonnte er noch feinen Verleger unternehmend genug dazu finden, denn die 
ganze Stimmung Englands und noch mehr Schottlands der deutjchen Literatur 
gegenüber, die jo berüchtigten Ausdrud in Jeffreys Artikeln in der Edinburgh 
Review gefunden hatte, war noch die alte geblieben. 

Sehr bezeichnend drüdt fich Edward Irving, damals Carlyles nächjter 
Freund, in einem Briefe an ihn aus (24. Juli 1821): „AU unfre Literatur, 
die unter Deutjchlands Einfluſſe steht, hat eine höchſt gefährliche Wirkung auf 
alles gehabt, was wir hierzulande unter Sittlichfeit verjtchen, und noch jchlimmer 
auf die religiöjen Anjchauungen gewirkt.“ „Die Herren von Goethe und von 
Schiller und die übrigen Ariftofraten der deutjchen Literatur“ (wie e8 in dem— 
jelben Briefe heit) wurden damals im allgemeinen eben von diefem Stand: 
punfte aus betrachtet. Erſt ganz allmählich änderte ſich das Urteil des eng- 
lichen Volkes über die deutjche Literatur, und der Umſchwung wurde jedenfalls 
mit in erfter Linie durch Garlyles Bemühungen herbeigeführt. 

Während das „Leben Schillers“ zunächſt noch unveröffentlicht blieb, lie— 
ferte Carlyle verſchiedne Aufjäge über Gegenjtände der deutjchen Literatur in 
Zeitfchriften, bejchäftigte ſich fleißig bejonders mit Slant, und durch den Namen, 
welchen er als „Apostel des Deutjchtums“ allmählich erlangt Hatte, erreichte 
er wenigſtens foviel, daß fein „armer Schiller,“ wie er jelbjt jagt, ſchließlich 
in den Spalten de London Magazine (1823— 1824) fapitelweije veröffentlicht 
wurde. Für feine Überjegung des „Wilhelm Meifter“ hatte er merkwürdiger— 
weiſe bald einen Verleger gefunden, und 1824 lag das Werf dem englischen 


3 = | 





Goethiana. 959 








Publikum vor. Er hatte die Überfegung an Goethe nach Weimar geichiett, und 
ein berzlicher Brief Goethes, der im Dezember 1824 in Garlyles Hände fam 
(er ift ohne genaues Datum, zuerit von Froude abgedrudt im Life I, 265, 
Kap. 15; dann auch im Gocthe-Jahrbuch IV, 407), war der erite Schritt zu 
dem nähern Befanntwerden der beiden Großen. Das perjönliche freundjchaft- 
liche Verhältnis mit Goethe dauerte bis zu deſſen Tode, und ein ziemlich reger 
Briefwechjel war die Frucht davon. 

Wir brauchen hier auf die einzelnen bis jegt der Veröffentlichung über: 
gebenen oder für verloren gehaltenen Briefe nicht einzugehen, da wir aus eriter 
Hand wifjen, daß die Veröffentlichung der (wahricheinlich fait ohne Lücke er- 
haltenen) Korreipondenz demnächit zu erwarten iſt, von der berufnen Hand des 
Profeſſors Norton in Cambridge (Mafjachujetts), dem wir jchon die Ausgabe 
des Briefwechjel3 zwiichen Garlyle und Emerjon verdanfen. Wir begnügen uns, 
nur einiges anzuführen, was zur ummittelbaren Einleitung für die beiden fol- 
genden Briefe nötig ilt. 

Nach feiner Heirat (1826) mit Jane Welſh hatte ſich Carlyle in Edin- 
burgh niedergelaffen, und von größter Wichtigfeit wurde hier die Annäherung 
an Jeffrey, der — ein Verwandter von Garlyles Fran — num auch die Spalten 
jeiner Edinburgh Review dem „deutſchen Myſtizismus“ öffnete, jo bittere 
Kämpfe es auch Eojtete, denn Jeffrey hielt daran feit, daß e8 unbedingter Wahn- 
finn Sei, den engliſchen Geift zum „deutjchen Glaubensbefenntnis befchren“ zu 
wollen und die „abfurden Träume diejer Kehrichtfärrner (hierunter verjtand 
Jeffrey Schiller, Goethe, Jean Paul und jo viel er von den Romantifern dem 
Namen nach kannte!) für das engliche Publikum aufzuputzen.“ Das englijche 
Bublitum, jo prophezeite er — zum Glüd ganz falſch —, werde genug Ge— 
ſchmack bejigen, diefe Nahrung nicht anzunehmen, und Carlyle möchte fich doch 
die Mühe jparen, „die plumpen Ertravaganzen und langweiligen Anmaßungen 
diefer Leute geniegbar zu machen.“ Er jolle doch endlich dieje foeda super- 
stitio aufgeben. 

So jchrieb der „große Kritiker“ zu derjelben Zeit, als Goethe jeine — für 
die Engländer damals (und noch jetzt?) „myſtiſchen“ — Ideen über „allgemeine 
Länder: und Völferannäherung“ der Welt offenbarte! 

Garlyle ließ ſich natürlich nicht von jeinen Bahnen ablenken und arbeitete 
raſtlos auf jein großes Ziel los, das ihm damals allerdings nur dunkel vor- 
jchwebte. Um fich feinen Plänen mehr widmen zu fünnen und feine Gejund- 
heit zu fräftigen, fiedelte er 1828 nach Graigenputtoch über, jenem einjfamen, 
öden Landhaufe in Dumfriesihire, von dem Goethe 1830 für die deutjche Über- 
jegung des „Lebens Schillers” eine Abbildung fertigen ließ, „um dem jeßigen 
gefühlvollen Lejer, vielleicht noch mehr dem fünftigen einen freundlichen Ge— 
fallen zu erweiſen.“ Dort verlebte Garlyle, treulichjt von jeiner Frau gepflegt, 
die Jahre bis 1834, wohl die bedeutungsvollite Zeit feines Lebens, 


560 Goethiana. 








In voller Ruhe verarbeitete er bier zunächit, was er von „jeinem“ Goethe 
gelernt hatte, jchrieb mehrere ziemlich bedeutende Aufjäße über „den großen 
Meiſter,“ über deutjche Literatur, und beichäftigte fich ernftlich mit deutſcher 
Geſchichte, bejonders mit Ulrich von Hutten und Franz von Sidingen. Sogar 
die Pläne, ein großes Leben Luthers zu jchreiben und eine zufammenhängende 
deutſche Literaturgejchichte zu verfaffen, gingen ihm durch den Kopf. 

Bor allem aber wurde ihm flar, daß jeine „Lehrzeit“ vorüber jei, dag 
er jegt auf eigne Bahuen fommen müfje, „die eigne, arme Sendung zu er- 
füllen,“ wie er fein Lebenswerk ſelbſt bejcheiden nannte. Mit feinem Herz— 
blut wollte er endlich jchreiben, wie es einmal in einem Briefe an jeinen 
Bruder heißt, und allerdings, mit feinem Serzblute jchrieb er den „Sartor 
Reſartus,“ die große Frucht feines langen Aufenthaltes in jenem „jchottiichen 
Sibirien.“ 

In diejelbe Zeit, in der wir in Carlyles Tagebüchern die erjten Andeu- 
tungen des „wilden“ Werkes finden, fällt die Bücherjendung, welche von dem 
unten abgedructen Briefe Goethes begleitet war, der aus Carlyles Nachlaß in 
den Beſitz des Profeſſors Tyndall überging Dem letztern verdanken wir Die 
Erlaubnis des Abdrucks. 

Die Verbindung zwiſchen dem einſamen Gehöfte in der jchottiichen Einöde 
und Weimar blieb eine jehr lebhafte und dauerte bis zu Goethes Tode, durch 
welchen Earlyle eines Lehrer und Freundes zugleich beraubt wurde. Der 
ichöne Nachruf „Goethe Tod” zeigt und, was Garlyle in dem Gejchiedenen 
verloren hatte. 

Eine größere Arbeit über Goethes Stellung in der europätichen Literatur 
wurde geplant, aber jeine deutjchen Studien waren jet thatjächlich abgeſchloſſen, 
und außer dem Aufſatze über „Goethes Werke“ und den Überjegungen des 
„Märchens“ und der „Novelle“ jchrieb er zumächit nichts mehr, was auf 
Deutjchland Bezug hatte. 

Nach Vollendung des „Sartor“ — der freilich noch lange des Verleger 
harrend im Kajten liegen mußte — drängte es Garlyle, an der Löſung der po- 
fittfchen Fragen feiner Zeit Anteil zu nehmen, die St. Simoniens einmal zu 
behandeln und die Geichichte der franzöſiſchen Revolution zu jchreiben. Emer- 
ſons Beſuch (1833) brachte ihn jogar vorübergehend auf die Idee, nach Ame- 
rifa überzufiedeln oder wenigſtens längere Zeit dort zuzubringen, bis er fich 
endlich kurzweg entjchloß, nad) London zu gehen und dort jein Quartier auf- 
zufchlagen, im Zentrum des geiftigen Lebens, deſſen hervorragendite Perſönlich— 
feit er werden jollte. 

Bor jeiner Abreife nach London, mitten unter dem Einfluß von all diejen 
Plänen und Hoffnungen jchrieb er einen Brief an Edermann, defjen Original 
wohl verloren it, der uns aber in einer von Edermanns eigner Hand gefer- 
tigten Überfegung vorliegt. Diejelbe befindet fi in Weimar im Privatbejig; 


Goethiana. 561 


der gütigen Vermittlung des Herrn Archivrats Dr. Burckhardt verdanfen wir 
die Erlaubnis zu ihrer Veröffentlichung. 


1. 


Sendung an Herrn Carlyle. 


1.) Goethes Farbenlehre, zwey Bde. in 8. u. ein Heft Tafeln, in 4° in letzterem 
finden fi) 

2.) Zwey Kupferftihe beygelegt: a) von Goethes Garten im Ilmthale und 
b) deſſen Haus in der Stadt. Beym erjteren wird man ji) der Bemerkung nicht 
enthalten daß ſolches gleichfalls drey Feniter, wie da3 zu Craigenputtoch hat, und 
mir mehrere Jahre zur Sommer: und Winterwohnung diente. Nur ungern ver- 
ließ ich e8, um mander Sorge und Mühe des Städtiſchen Aufenthaltes entgegen 
zu gehen. 

3.) Hrn. Dr. Wachlers Vorleſungen über die Geſchichte der deutichen National 
Literatur. Zwey Bände 8. 1818—19. 

4.) Ueber Werden und Wirken der Literatur zunächſt in Beziehung auf Deutſch— 
lands Literatur unferer Zeit dv. Dr. Wachler. Breslau 1819. 

5.) Schilleriſch-Goetheſcher Briefwechſel 3—6. Bd. incl. und das ganze alfo 
abgejchlofjen. 

6.) Das Chaos, Wochenblatt, Manufeript für Freunde. Geſellige Scherze 
einer geijtreihen Weimariſchen Gejellichaft, wie aus dem Inhalt des mehreren zu 
erjehen ift. Es darf eigentlih Niemanden mitgetheilt werden al3 wer dazu Bey: 
träge liefert, da nun aber wie zu erjehen ift, auch Mitarbeiter von Edinburg 
datiren, fo ift e& billig daß auch ein Exemplar nad) Schottland wandere. Man 
bittet die Freunde in der Grafſchaft Dumfries ihre bisherige Gunft fortzufegen. 
Leider kann man fein vollftändiges Eremplar ſchicken, die Geſellſchaft war im An— 
fang jehr Hein und werden nur wenig Eremplare gedrudt um das Abfchreiben zu 
vermeiden; nad) und nad) wuchs der Untheil, die Auflage ward ftärfer aber die 
erften Blätter ftufenweife nicht mehr zu haben. Mögen dieje fibyllinifchen [Blätter *)] 
Productionen, entjtanden auf den jpäteften Kalkflözen des Continents, den über: 
meerifchen Freunden auf ihrem Urgranit einige anmuthige Stunden verleihen. Bon 
Dttilien habe ich die Herzlichiten Grüße beyzufügen, fie ift ganz eigentlid) der Re— 
dacteur dieſes Blatted und dirigirt mit einigen treuen verjtändigen Freunden die 
ganze mitunter bedenkliche Angelegenheit. 

7.) Der Abſchluß der Ueberjegung Ihrer Schilleriſchen Biographie. Mit der 
nächſten Sendung hoffe das audgejtattete Werklein zu überſchicken. Schon einiges 
deshalb habe in meinem legten Briefe vom 7. Juni bermeldet. 

8.) Auch liegt eine gar löbliche Trauerrede auf unſre jüngft verftorbene, höchſt 
geihäßte und geliebte Frau Großherzogin bey. 

Soviel treulichſt u. eiligft 


Weimar damit fein Aufenthalt fey, 
den 14. Juni um baldige Nachricht der Ankunft bittend 
1830. &ovethe*) 


*) Vom Schreiber durchſtrichen. D. Verf. 
*) Ein Bogen in Quart, drei Seiten beſchrieben. Die Schlußworte: Soviel treulichſt ꝛc. 
ſind von Goethes eigner Hand. 


Grenzboten III. 1885. 71 


502 Soethiana. 





2. 


Eraigenputtoh, Dumfried, 6. May 34. 
Mein theurer Edermann, 

Endlich, nad dem langen jtürmifchen Winter, erreicht mid) vor einigen Tagen 
Shre liebe Bothſchaft vom 10. Nov. 1833, ein langjamer, aber höchſt willlommner 
Empfang. Es ift jchmerzlich zu denfen wie unfre Eorrefpondenz in der lebten Zeit 
verunglüdt ift: Ihr Brief vom vorigen Sommer gelangte nie bieher, während von 
mir wenigſtens zwey verloren gegangen zu fein fcheinen! Mein legter von Ihnen 
war das Padet vom Winter des vorigen Jahres, welches, wie ih mich ſehr wohl 
erinnere, mir begegnete (in den Händen eines Landmannes auf feinem Wege zu 
uns) an einem ftürmifhen Tage im Thale von Glenet3land (!!), zwijchen den Ge— 
birgen. Ich erbrach e3 eilig, und unterjuchte es troß dem Winde mit haftigen 
Bliden. Ich fand darin die Gegenitände die Sie erwähnen: einen Brief von 
Ahnen, das legte Heft von Runft und Altertum, Herren v. Müllers intereſſante 
Brohüre, beydes mit einer höchſt freundlichen Anfchrift von feiner eignen Hand, 
endlich Hr. Schwerdtgeburts Kupferjtih, und die Medaille von Frau dv. Goethe. 
Eine danfbare, weitläuftige Antiwort verfehlte nicht mit nächſtem Pofttage von mir 
abzugeben, und diejes, fcheint e8, war eine Antwort in die Winde geſprochen. In 
Wahrheit, Ihr habt der Treue nöthig Ahr meine Freunde in Weimar, woran auch, 
wie ich zu ſehen höchſt glüdlicdy bin, es Euch in der That nicht fehlt. Wollen Sie 
nun, mein theurer Edermann, nach fo langer Zeit ſich felber und den Uebrigen 
alle den Dank fagen den, wie Sie denken fünnen, ich ausdrüdte: jagen Sie an 
Frau v. Goethe, daß ihre Medaille auf unferem Kaminſimſe liegt, noch immer in 
dem Umfchlage Ihrer Handichrift, in einem Heinen Käftchen von römiſchem Porphyr 
(das einjt dem Kaifer Nero gehörte) und uns täglich an fie erinnert. Much ift ihr 
Verſprechen eines Briefe von und nicht vergefjen worden, und wie wir boffen 
auc nicht von ihr. Sagen Sie dem Geheimenrath [von Müller] daß ich leſe und 
wieder lefe in mehr Sprachen als in einer, feine jchäßbare Schrift, und mit wahrem 
Bergnügen, und daß id) mich reicher durch feine Achtung fühle. Und nun lafjen 
Sie uns hoffen daß nicht wicder eine ſolche Stodung und Zögerung in unferem 
Verkehr eintrete, da bloß irdifche Entfernung uns trennt. Ja ich fomme in diefem 
Augenblid Ihnen fogar näher, wenn auch nicht jehr viel in phyfiihen Meilen, 
doch jehr viel in gejelliger Bequemlichkeit. 

Denn dieſes, mein Freund, ift wahrſcheinlich der leßte Brief den Sie aus 
Craigenputtoch erhalten. Wir gehen mit nächſtem Pfingſten nad) London und in 
zwey Tagen, um unfere Vorbereitungen an Ort und Stelle zu machen. Und Dort 
haben wir fünftig unfern Wohnſitz. Daß dieß cine große äußere Veränderung ift 
werden Sie fühlen, aber faum werden Sie ſich fagen können wie groß fie ift. 
Aus der ftillften tiefiten Einſamkeit diefer Welt zu dem geräuſchvollſten nie ſchla— 
fenden, unermeßlichjten Babel worauf je die Sonne herabjah! Der Gedanfe daran 
erfüllt mic mit einem dunfeln ungeheuren Vorgefühl, aber der Schritt ift unver- 
meidlich, ja offenbar nothwendig. Auch tröfte ich mich oft mit dem auf weijer 
Einficht gegründeten und immer aufs neue wieder anwendbaren Spruch unjers 
Goethe: „Wir betrachten unjere Schüler ſämmtlich als Schwimmer, die von Dem 
Elemente das fie zu verjchlingen drohte, ji unerwartet gehoben und getragen 
fühlen.” Wahr, wie wahr! So laßt uns denn jchwimmen, fo lange das Leben 
dauert, in dieſem oder jenem Wajjer, mit mehr Naum oder weniger, und wenn 
nur die Richtung gut ift, unfer Geſchick ſegnen. Ich pflegte die Londoner Waſſers 


Goethiana. 563 





Bahn Phlegethon-Fleetditch zu nennen; aber ich finde, daß fo toll aud der 
Zuftand der Litteratur wird und geworden ift, fie von einem Engländer an feinem 
andern Orte als London getrieben werden kann. Durch Phlegethon-Fleetditch alfo 
geht unſre Bahn, und wir wollen fie mit Gottes Hülfe mit jo wenig Tadel ver: 
folgen als möglih. Und fo fteht denn das alte Stein-Schloß Craigenputtoch hin- 
fort vereinfamt, oder bloß bewohnt von doppelflintigen Moor: Hüner ſchießenden 
Männern, die nichts von Weimar wiljen. Sie müfjen fi) und aljo füuftig in 
einer ganz andern Umgebung voritellen. 

Wenn Sie nun zu aller diefer äußeren Verwidelung noch hinzunehmen daß 
ich mid) jeit lange in einer Urt von geiftiger ErifiS befunden habe, von welchem 
Buftande Sie ohne Zweifel aus eigner Erfahrung wiſſen werden, wie jchredlich es 
ift eher zu reden als jein Ausgang ſich entwidelt hat, jo werden Sie es natürlic) 
finden, daß ich im dieſem Jahre weniger gefchrieben habe als in einem der lebten 
zehn, und daß ich von dem Gefchriebenen durchaus nicht3 habe publiciven mögen. 
Indefjen wenn der Himmel mir günftig ift, fo werde id nod) eins und das andre 
zu jagen haben. Mit der deutfchen Literatur insbejondere habe ich fogut wie gar 
feine Berührung gehabt, die wenigen Bücher die bis zu mir gelangt find, find 
nichts weiter als Heyne und Börne und dergleidhen, von feinem Werth, oder we: 
niger als einem. Mein Goethe dagegen und alles was zu ihm gehört, wird immer 
größer, je wahrer ich mich jelber entwidele; doc; jteht er da, wie ich fagen möchte, 
al3 ein beendigter Gegenftand, ald etwas wozu feine Fortfegung wird gemacht 
werden, ähnlid einem granitnen Worgebirge, body und heiter, ſich ausſtreckend 
weit in dad wüſte Chaos hinein, aber nicht hindurch. Hindurch fcheint ſich 
die Welt einen anderen Weg zu ſuchen, oder Alles Ziel nad) irgend einem zu ver: 
lieren. Mir höchſt bedeutungsvol! Mit ihm und den Seinigen inbefjen, fcheint 
ed, daß mein Arbeiten auf dem Felde der deutichen Literatur vortheilhafter Weife 
ſchließen oder wenigftens eine Pauſe machen fünne. Und was wiederum mein eignes 
England betrifft, jo mag mein Beruf in jener Richtung in fo weit es mein Beruf 
war, als volltommen erfüllt betrachtet werden. Diene bloß dieſes zum Zeugniß, 
daß innerhalb der legten zwölf Monate wir nicht weniger als drey neue Ueber: 
jepungen des Fauſt gehabt Haben, von denen zu Edinburg zwey an einem und 
demfelbigen Tage publicirt wurden. In der That, das Feuer ift angezündet und 
es ift Rauch genug und mehr ald genug. Hie und da aud eine Heine Flamme, 
wie in Madame Auſtin's Characteristies of Goethe, welche Sie ohne Zweifel gejehen 
haben. Alles ift im Gange der Natur gemäß; es wird einjt alles Flamme fein 
und heiteres Licht weswegen wir für jetzt den Rauch heiter begrüßen wollen. „Und 
du nimm deinen Blafebalg und geh’ weiter!" Dieß ift die eine Seite der geiftigen 
Erifis von der ich ſprach: wie fie endigen wird und jchon endigt, davon hoffe ic) 
Ahnen einige Merkmale zu geben, wenn es mir gelingen wird in London einige 
Bliden meiner legten Verſuche Eſſays oder wie im Original? oder bezieht ſichs auf 
Sartor?] zu ſammlen, welche leßtere Art für eine lange Beit wahrſcheinlich unfre 
einzige Urt der Herausgabe jeyn wird; wenigftens meine, jo jehr ich fie haße. 

In folder Stellung gegen meine alten Lieblinge urtheilen Sie nun felbft ob 
die in Ihrem legten Schreiben angekündigte Correfpondenz von Goethe und Zelter 
mir wird willtommen ſeyn. Zelter jelbft, der tüchtige Mann und Maurer ift eine 
Figur, auf die ich, nach dem was id) von ihm weiß, mit beinahe Eindlicher Liebe 
blide. Daß Goethe ihn jo geliebt hat ift mir ein abermaliger Schöner Beweis von 
feiner allumfafjenden Tüchtigkeit. Das Bud, denke ich, wird ſchon in England an- 
gekommen feyn, aber id) werde dies nicht eher erfahren, als bis ich London ge- 


>64 Goethiana. 


jehen. Bon den nahgelafjnen Werken befibe ich keins und habe bloß die erfte 
Lieferung gejehen, wo ich die Fortjegung des Fauft mit mehr Gedanken las als 
ich bis jet habe aussprechen können. Viel Dank fir Ihr gütiges Anerbieten fie 
mir zu jenden. ch werde mit Freuden dad Padet empfangen, was auch feine 
Herjendung often mag. Alle die Werke die ich hier habe, find ein Geſchenk von 
ihm, und ich möchte dad Ganze von einer Art haben. Doch auf jeden Fall, denke 
ih, wird die Überfendung wenig koſten. Was unfre Addreſſe in London feyn 
wird ift noch unbeftimmt; indeffen wird die von Messrs. Black, Young and Young, 
Foreign Booksellers, Tavistock Street, Covent Garden, London, mich immer finden 
und für alles, ausgenommen Boftbriefe, wahrjcheinlic) daS Befte jeyn. Sie haben 
einen Agenten in Leipzig (einen gewiffen Herbig, — denke ich, waährſcheinlich Ihren 
Weimariihen Buchhändlern befannt); einmal in feinen Händen wird jedes Padet 
mich in wenig Wochen erreichen. 

Wenn wir in London Anfer geworfen haben, jollen Sie von mir wieder 
hören. Möge num diefer Brief nicht auch verloren gehen! [!] 

Wenn Sie bald an mich zu jchreiben gedenken, welches ich hoffe daß Sie thun 
werden jo wird die obige Adreſſe zu braudyen fein, oder diefe von Mrs. Austin, 5, 
Orme Square Bagswater London noch befjer. Sagen Sie mir, id) bitte Sie, einzeln 
und ausführlid worin Sie begriffen find und welde Ausſichten fih Ahnen dar- 
bieten. Sollen wir in dem modernen Babel Sie nie von Angefiht zu Angeficht 
jehen? Es wird dort ein Schlafzimmer und ein herzliches Willtommen für Sie 
bereit jeyn. Durch Ihre Briefe Schon glaube id Sie zu ſehen. — Sie ſagten 
mir auch don Geſprächen mit Goethe, die Sie im Begriffe wären zu Papier zu 
bringen. Falk dächte ich, wäre ein Fehler, beynahe ein Aergerniß; aber das Ihrige 
wird gewiß eins der intereffanteften Bücher die je gefchrieben worden. Iſt Ihnen 
nnjered Engländerd Boswelld Leben von Johnſon befannt? Wenn nicht, fo 
lefen Sie es; nicht zehn Bücher des achtzehnten Jahrhunderts find ſo ſchätzbar. 
Leben Sie wohl mein Freumd! Die Dame erwiedert Ihre gütigen Grüße. Denken 
Sie an mid) al3 den treueſten Zhrigen. T. Earlyle. 

Nahfchrift: London 14. May. Bin glüdlidy hier angelommen; erivarte 
unter anderen Dingen Mrd. Damiefon [eine Freundin von Frau dv. Goethe] bier 
zu treffen und von ihr viel über Weimar zu hören. Noch kein Haus erhalten. 
Ora pro nobis. T. €. 





2. Goethes Kogengedichte der Jahre 1815 und 1816. 
Don Beinrih Dünger. 


Die Beitimmung mehrerer der fünf Gedichte, welche die Ausgabe legter 
Hand 1827 in der Abteilung „Loge“ brachte, iſt bisher unbekannt geweſen, 
wodurcd das richtige Verſtändnis erjchwert, ja, da man von einer irrigen An— 
nahme ausging, wunderlich verjchoben worden ijt. Der in mancher Beziehung 
verdiente neuejte Herausgeber der Gedichte, G. v. Loeper, der jonjt die vor: 
handnen Zeugnifje über die Entjtehung meiſt volljtändig giebt, ja oft bisher 
unbekannte hinzufügt, hat hier nicht allein eine weitere Nachforſchung unterlaffen, 
jondern auch die Aufnahme von Goethes Sohn in die Loge ein Jahr zu fpät 
gejegt, ja mehrere Stellen des ihm fo wohl befannten Goethe Zelterjchen Brief: 


— — — — 


Goethiana. 565 











wechjels zufällig überjehen, wodurd feine Behandlung der betreffenden Logen- 
gedichte recht unglücklich geworden: ift. 

Das Archiv der Loge Amalia zu Weimar bietet, wenn es auch für die 
bier in Betracht fommende Zeit nicht jo vollitändig ift, als man wünſchte, doch 
manche für Goethes und feines Sohnes Anteil an ihr und für die Beitimmung 
der Gedichte entjcheidende Anhaltepunfte. Förmliche Protokolle find von jeher 
nur über die Bejprechungen der Beamten und die regelmäßigen Monatszuſammen— 
fünfte, die jogenannten Arbeitslogen, nicht aber über die Tafellogen und die Feſt— 
verjammlungen geführt worden. Die Protokolle find nicht vollftändig erhalten, 
und bei manchen fehlt die Bräjenzlifte. Nur über einzelne Feitlichfeiten finden 
ſich Berichte oder Andeutungen. Diefe Mitteilungen verdanfe ich der liebens— 
würdigen Zuvorfommenheit des Herrn Realfchuldireftor Dr. H. Wernede in 
Weimar, der aud) die Gite hatte, alle einzelnen an ihn gerichteten Fragen zu 
beantworten. Hieraus ergiebt jich folgendes Thatjächliche für die beiden hier 
in Rede jtehenden Jahre. Die Aufnahme von Goethes Sohn fand nicht, wie 
v. Loeper (©. 549) annimmt, Ende 1816 jtatt, ſondern am 5. Dezember 1815. 
Auch der Vater war dabei zugegen, während fein Name fonft in den Präſenz— 
liften des Jahres nicht erjcheint. Neun Tage jpäter war die monatliche Arbeits: 
loge nebſt Tafel. In der Präſenzliſte derjelben wird „von Goethe” genannt, 
worunter, obgleich der Zuſatz „II” fehlt, der Sohn zu verjtehen ift, da der 
Vater faum ohne den Sohn gekommen fein würde. Freilich war der Dichter 
an diefem Tage in Weimar (er hatte Jena am 24. November verlaffen), aber 
fein Beſuch der Loge erfolgte eben nur in Ausnahmefällen. In den Präjenz- 
Iijten des Jahres 1816 findet fich „Bruder von Goethe II* am 16. Januar, 
6. Februar, 30. März, 20. und 24. Juni, 2, Juli, 6. September, 1. Oftober 
(die Lijten der beiden folgenden Monate fehlen) und 8. Dezember. Auch der 
einfache Eintrag ohne den Zujat II vom 5. März, vom 11. und 20. Jumi ift 
auf diefen zu beziehen; an den beiden leßten Tagen war der Dichter noch in 
tiefite Trauer um den am 6. Juni erlittenen Verluſt feiner Gattin verfunfen, 
aber dennoch duldete er nicht, daß der Sohn am 11. bei der „Feier der An: 
funft des Durchl. Bruders Herzog Bernard Protektors der Loge] mit feiner 
Frau Gemahlin” (nach der am 30. Mai in Meiningen erfolgten VBermählung) 
fehle. An diefer Feier nahmen ausnahmsweife die Schweitern teil, wozu ein 
bejondres Ritual entworfen ward. Nach Einführung derjelben erjchienen die 
höchiten Herrichaften, nebit fünf Hofdamen. Der Meifter vom Stuhl, Ridel, 
gedachte dankend des Glüdes der Anweſenheit des Hofes und drüdte die Achtung 
gegen die den heutigen Abend verjchönernden Schweitern aus. Der Kanzler 
v. Müller Sprach über Wert und Pflicht der Teilnahme der Schweftern an den 
Beitrebungen des Maurers, Staatsminifter von Fritſch über die Gefchichte der 
geheimen Verbindungen. Bei der Tafelloge wurde „der Dank der Schweitern 
durch die geliebte Schwejter Eberwein [Kammerfängerin, in Goethes Haufe ſehr 


566 Goethiana. 





beliebt] in jchönen Worten dargebradht.“ Zu diefem Tage war ein Nachtrag 
der Weimarischen „Geſänge für Freimaurer“ ausgegeben worden, welcher mehrere 
auf die Befreiungsjahre 1814 und 1815 bezügliche Gedichte, Goethes „Sym- 
bolum“ und ein Feſtlied für den Tag enthielt. August Goethe erfcheint auch jonft 
mehrfach in den erhaltenen Papieren. Am bedeutendften ijt für ung der Ein- 
trag vom 16. Februar 1816: „Bei der Umfrage bat Bruder Goethe II um 
das Wort, um den Danf feines verehrten Vaters abzujtatten für die ihn in 
der leiten Yoge widerfahrene ausgezeichnete brüderliche Aufnahme.“ Drei Tage 
jpäter jprach er beim Stiftungsfejte der Loge zu Erfurt im Namen des Vaters. 
Am 8. Dezember erfolgte jeine Aufnahme in den Gejellengrad. Wenn wir 
weiter hören, er habe am 24. Oftober 1820 den „Gegentoaſt der Schweitern“ 
vorgetragen und mit der Hußerung eingeleitet: „Es fei mir vergönnt, einige 
Worte im Namen der Schweftern freundlich zu erwiedern. Die Worte jelbjt 
jendet mein Vater, indem er fich Ihrer brüderlichen Liebe empfiehlt," jo fällt 
dadurch auf die Schon in die Ausgabe der legten Hand aufgenommenen Berje 
erit das rechte Licht und es ſchwinden alle Zweifel, die man gegen die Datirung 
hegen könnte. Goethe ſchickte die Verje von Jena aus, wo er feit der Rüdfehr 
von Karlsbad verweilte; noch am 26. jchrieb er von dort aus an Zelter. 

Das Datum der Aufnahme Augufts giebt ung einen ziemlich fihern An- 
haltepunft für das Gedicht „Symbolum,“ von dem wir ſonſt nur willen, dat 
es ohne Überjchrift, aber unter dem Namen des Dichters in dem vor dem 
11. Juni 1816 gedrudten Nachtrage der Weimarifchen „Gelänge für Freimaurer“ 
nach den vom Jubel über Deutjchlands Befreiung erfüllten Liedern gedruckt ift. 
Nach der ganzen Stellung, die Goethe gegen die Loge einnahm, fanı er es 
nur auf eine bejondre Beranlaffung hin gedichtet haben, und faſt ebenjo ſicher 
fönnen wir behaupten, für ihm babe es nur eine in jener Zeit gegeben, die 
Aufnahme feines Sohnes. Diefer weihte er das jchöne Maurerbefenntnis in 
ähnlicher Weije wie (es wird dies unten erhellen) der Aufnahme in den Gejellen- 
grad das Lied „Verſchwiegenheit.“ Es muß demnach furz vor dem 8. Dezember 
1815 entitanden fein. Es ward wirflich nad) einer befannten Melodie gefungen 
und ijt noch jet mit Recht eines der anerfanntejten Freimaurerlieder. 

Wie aber verhält es fich mit dem „Dank des Sängers"? Die von der 
Quartausgabe überlieferte Datirung „Weimar, den 29. Dezember 1815“ tjt nicht 
zu bezweifeln. Nun hörten wir, daß Auguft Goethe in der Verſammlung vom 
16. Januar 1816 im Namen jeines Vaters Danf abjtattete für die ihm in der 
letten Loge widerfahrene ausgezeichnete brüderliche Aufnahme. Sollte zwiſchen 
diejem doppelten Dane feine innere Verbindung fein? Der „Dank des Sängers“ 
it fein Qogenlied, da ein Fremder ſich an die Brüder wendet, ift auch weder 
aus Goethes noch aus ſeines Sohnes Auguft Perjon heraus gedacht, ſondern 
eine durchaus freie Dichtung. Die Vers- und Neimform ftimmt mit der feiner 
allbefannten Ballade „Der Sänger“ überein. Der Dichter läßt durch dieſe 


Goethiana. 567 


dichterifche Perfon den Dank an die Brüder, der zugleich ein Preis ift, aus- 
iprechen, wobei der Schluß: „Wenn überall, allüberall im Stillen wir uns 
vermehren“ auf -die fortdauernde Aufnahme neuer Brüder zielt. „Der Schall, 
den wir jo gerne hören,” it eben das Lob. Wir jtellen diefer einfachen 
Deutung die des neuelten Herausgebers zur Seite, wonad der Schluß bejagen 
joll, daß „das Lied nicht jchnell verklinge, vielmehr eine bleibende Wirkung 
äußere, indem es weiter Elinge, auf neue Brüder ſich übertrage.“ Dieſer Dichte- 
rifche Ausdruck des Danfes in der jehr realen Logenfigung dürfte Goethes 
Sohn doch gar zu auffallend geweſen fein und er deshalb feinen Water be- 
jtimmt haben, ihn von dem Auftrage des öffentlichen Bortrages desjelben zu 
befreien. Höchſt unmwahrjcheinlich dürfte e8 fein, wollte man die Worte des 
Protofolleintrages auf diefen poetischen Dank bezichen. Eine leichtere Löfung 
des umleugbaren Rätſels würde ich willfommen beißen. 

Wenden wir uns zu dem Liede „Verſchwiegenheit,“ das erjt in die dritte 
Ausgabe des Weimarischen Gefangbuches (nach dv. Loeper 1851) aus Goethes 
Werfen aufgenommen worden ift. Der neueſte Herausgeber macht die unbe: 
fannte Mitteilung: „Im Belter® Nachlaß hat es das Datum des 1. De: 
zember 1816.” Aber das freilic) willfommene Datum geht auf die Zeit der 
Kompofition. Durch einen unglüdlichen Zufall hat dv. Loeper die darauf be- 
züglichen Stellen im Goethe: Zelterjchen Briefwechjel überjehen. Schon am 
10. November 1816 jchreibt Zelter: „Das Bundes- oder Logenlied für den 
Kammerrat [Auguft war in diefem Frühjahr Kammerrat geworden] ift wohl 
fertig, jchon längſt, aber es tjt doch noch in der Gare. Bis ich mir ein folches 
Stüd gehörig angemefjen habe, dazu brauche ich meine Zeit, und was vielen 
gefallen will, jol mir auch gefallen. Nehmt daher nicht übel, wenn ich ein 
oſlches Lied in einer BViertelftunde auf Noten bringe, die ich nach einem Biertel- 
jahre wieder ausſtreiche“ Die Worte find die Erwiederung auf eine Mahnung, 
die, wie jo vieles andre, bei der Redaktion des Briefwechjels nicht hätte aus— 
fallen dürfen. Das Lied wird zu den „Eleinen Gedichten“ gehören, um deren 
Rüdjendung Goethe am 25. Dftober bittet. Zelter hatte einen Teil derjelben 
bei feiner Abreife von Weimar anfangs Dftober aus Verſehen mitgenommen. 
Es muß das „Bundes- oder Logenlied“ demnach ſpäteſtens im Oktober gedichtet 
fein. Zelter hatte Auguſt und dem Vater verfprochen, eine Kompofition bald 
einzujenden, damit es im Dezember, in welchem die Beförderung zum Gejellen 
ftattfinden jollte (Goethe ſelbſt war auch nach einem Jahre Gejell geworden), 
in der Loge vorgetragen werden könne. Das Liedehen fandte Zelter erit am 
2. Dezember, was dazu jtimmt, daß es ihm am vorhergebenden Tage nach 
Wunjc gelungen war. „Ich jende das Gedicht auch wieder mit zurüd, meldet 
Zelter, weil ich e& mit Andeutungen über den Bortrag der Melodie in den 
verjchiednen Strophen verjehen habe. Es iſt dreiftimmig, für zwei Tenore und 
Baß; die Mittelftimme kann auch von einem Baſſiſten gefungen werden, im Fall 





568 Boethiana. 


nicht zwei — * Kind. Die ganze Geſellſchoft — die zwei letzten Zeilen 
jeder Strophe wiederholen, damit die drei Vorſänger verſchnaufen. Dieſe 
Äußerung zeigt deutlich, daß man unter diejem Liede nicht etwa „Symbolum“ 

fi) denfen kann, worauf fie garnicht paſſen würde] Freilich hätte ich wiſſen 
jollen, was für Sänger ihr habt. [Natürlich wurden die Lieder vom ganzen 
Chor gejungen, nur bei befondern Feſtlichkeiten von mufifalifchen Sängern]... 
Der Ton des Liedes ift micht leicht getroffen llies: „zu treffen“?], und die 
Sänger werden dazu das Beſte thun müfjen, um einer gänglichen Melodie 
die Gegenfäge des Offenbaren und Stillvertrauten [die eben das Lied beherrichen] 
anzueignen.“ Goethe erwiederte am 10., zwei Tage nach Augufts Beförderung 
zum Gejellengrad: „Das Liedchen ift angefommen. Wir danken zum jchönjten 
für das trefflich geratene. Wenn die Melodie nach dem Inhalt, wie du an- 
gezeigt haft, variirt wird, jo muß es dem jchönften Eindrud machen.“ Es war 
alfo nicht, wenigſtens nicht nad) Zelters Melodie, gefungen worden. Wahr- 
icheinlich hatte e8 Augujt in feiner ergreifenden Weile geiprochen. Der Vater 
war nicht zugegen. 

Iſt nun das Lied „Verjchwiegenheit“ jpätejtens im Oftober 1816 gedichtet, 
jo fann es ſchon der Chronologie nach feine Andeutung auf Augufts Verlobung 
enthalten, die erit am 1. Januar 1817 ich erklärte. Diejelbe Unmöglichkeit be- 
jtünde auch bei der fäljchlich angenommenen Datirung vom 1. Dezember. Aber 
überhaupt kann die ganze Deutung v. Loepers vor einer bejonnenen Auffaffung 
des Wortlautes des Gedichte nicht beftehen. Wenn 3. B. in der zweiten 
Strophe der Ruhm des weltzerjtörenden Krieges der herzerfreuenden Dankbarkeit 
wegen heimlichen Wohlthuns entgegengeftellt und diejer weit nachgelegt wird, jo 
jieht der neuejte Herausgeber darin eine Beziehung auf Auguſts Thätigkeit im 
legten Sriege (doch wohl in den beiden legten). Aber davon, daß die aus dem 
Kriege zurücgebliebenen Männer jpäter die von diefem geichlagnen Wunden 
heilen, kann bier nicht die Rede fein, und Goethe würde fich gehütet haben, auf 
einen August ſchwer drüdenden Vorwurf, den die meisten ihm machten, hinzu- 
deuten. Aber was die Hauptjache bleibt, das Gedicht ift jo durchfichtig Mar, daß 
man eine folche feinen Nerv zeritörende Mißdeutung nicht begreifen würde, 
ruhte fie nicht auf der thatjächlich falichen Annahme, es jet durch Augufts Auf- 
nahme in die Loge veranlaßt. 

Was endlich das Gedicht „Trauerloge,“ in der Oftavausgabe leiter Hand 
mit der nähern Bezeichnung: „Der Unvergeßlichen | Prinzeifin Caroline | von 
Weimar Eifenach | vermählten | Erbprinzeifin | von Medlenburg Schwerin | ge- 
widmet. | 1816“ betrifft, jo ergiebt fich leider aus dem Archiv über diefe Trauer- 
loge nichts näheres, da die Präjenzliften vom 1. Dftober biß zum 3. De- 
zember diejes Jahres fehlen. Der Großherzog dankte in einem „November 1816* 
datirten, an einem Freitage gejchriebnen Briefe für das Andenken an feine „un- 
glückliche Tochter“, die bereit® am 20. Januar geitorben war. Der erjte 


Unpolitifche Briefe aus Wien. 569 








Donnerstag fiel im November 1816 auf den 6. Auch für Gocthe, der am 
22. März gejtorben, fand die Trauerloge erſt am 9. November jtatt. Eine 
genauere Beitimmung wird fich vielleicht zufällig ergeben. Ich finde nichts 
darüber berichtet. 





Unpolitifche Briefe aus Wien. 


4%. Die Malerei. 


o wie das alte Ofterreich jeine ganz beftimmte charakteriſtiſche 
ſchöne Literatur beſaß, jo konnte es fich auch einer eignen Maler- 
ichule rühmen. Aber was wir früher einmal in Bezug auf unjre 

vaterländiiche Poeſie jagen mußten, das gilt aud) hier: die Tradi- 
a EN) tionen diejer alten Schule find jchier dahin, unjre Maler von 
heute fnüpfen faſt niemals auch nur loje an diejelben an, fie find in die fremde 
gegangen, haben dort eine fremde Bildung, eine fremde Technik, fremde Ideale 
aufgenommen, und wenn fie auch wieder heimgefehrt find, in ihren Schöpfungen 
finden wir nur felten einen Zug, der an ihre erjten Lehrer und Mujter er- 
innert, an die Kunftwelt mahnt, in der fie doch aufgewachjen find und von der 
ihre Jugendzeit umgeben war. 

Wir fonnten darauf verweilen, daß in der Literaturperiode, die ungefähr 
mit 1780 anhebt und mit dem Sturmjahre 1848 ihr Ende fand, vor allem 
eine Richtung auf das Politifch-Patriotifche bedeutend hervortritt: wir nannten 
den ältern Collin und Grillparzer, von denen der eine am Beginn, der andre 
am Ausgang der Periode fteht. In der ältern öfterreichiichen Malerei ijt eine 
jolche Tendenz nicht jo jtarf ausgeprägt; indes find doch Danhaufers Szenen aus 
Pyrkers „Rudolfias,“ 1826 in Wien ausgejtellt, und die Kraftichen Landwehr: 
bilder — Reflexe von Anno Neun und den Befreiungsfriegen —, endlich auch) 
Wurzingers Ferdinand der Zweite künstlerisch hervorragende Produfte einer jolchen 
Tendenz. Religiöfe Motive finden wir während der erjten Jahrzehnte des Jahr: 
hunderts in der Malerei ebenjo jelten in bedeutender Weije verwendet wie in 
der Poeſie, wohl eine Folge und Nachwirkung der jofephiniichen Zeit. Aber 
dann erhob fich ein jtarfes Talent, das ſich ganz in den Dienjt der Religion, 
ja des jtrenggläubigen Kirchentums ftellte: Joſef von Führich. Im idealer Dar- 
jtellung von Sage und Geichichte glänzte damals Karl Rahl, der er 1865 ge- 

Grenzboten III. 1885. 





570 Unpolitifhe Briefe aus jlDien. 


ſtorben ift und viele von der heute blühenden Sünftlergeneration zu jeinen 
Schülern gezählt hat. Aber jo wenig wie Führich, der eine Zeit lang eine fajt 
herrichende Stellung auf der Wiener Akademie einnahm, iſt es Rahl gelungen, 
eigentlich) Schule zu bilden, weder was die Auffafjung, nod) was die Sache 
betrifft. Deun streng in der Zeichnung, jauber und elegant bis zur Peinlich: 
feit jelbjt in den kleinſten Details, fühl, zurüdhaltend, mitunter nüchtern in der 
‚sarbengebung, bewahrten dieje älteren Maler auch in der Darjtellung der Leiden- 
ichaft eine gewilje Ruhe, bewegten fid) immer nur auf einer bejchränkten Ton- 
leiter von Empfindungen, ftiegen niemals in die legten Tiefen menſchlichen 
Weſens hinab. Es war eine Kunſt, die feine nervöjen Anmwandlungen Tannte, 
der das Dämorijche fremd war. 

In der äußeren Darjtellung folgte die Genremalerei der Zeit denjelben 
Prinzipien, Als Vorwürfe wählte jie befonders gern gemütliche Auftritte und 
vermied es, einen ironiſchen oder bittern Zug hineinzubringen, auch wenn dies 
jehr nahe lag; jo hat Danhaufer, der im Genre fein eigentliches Gebiet fand, 
in jeinem „Praſſer“ den Gegenjag zwilchen dem jchwelgenden Dickwanſt und 
dem Bettler, der Almofen heiſchend an der Schwelle erjcheint, durchaus nicht 
jo energiich betont, wie dies ein moderner Maler unzweifelhaft thun würde. 
Und jelbjt dort, wo der Gegenjtand zu einer düjtern, pejlimiftiichen Behand- 
lung direft auffordert, wird ihm eine freundliche Seite abgewwonnen, jo in 
Ferdinand Waldmüllers „Klofterjuppe“: die Armen, die fi) da um die Pforte 
des Klofters drängen, um die färgliche Nahrung in Empfang zu nehmen, machen 
durchaus feinen unerquidlichen Eindrud, es find lauter freundliche, zufriedne 
Gefichter, Greiſe, alte Mütterchen, rauen mit bausbädigen Kindern, die bald 
in freudiger Erwartung, bald in behaglichem Genuß, bisweilen auch in einem 
Heinen harmlojen Streit um das Gebotene dargejtellt find; nirgends aber ein 
wüſtes Drängen, ein gieriges Hetichen, feine Spur von der Not und dem Elend, 
die ſich bei folcher Gelegenheit gewöhnlich offenbart. Es ift ein Bild, von dem 
man heiteren Gemütes jcheidet. Auch in der Ausführung ift es typilch für das 
Genre der Zeit. 

In der älteren Landichaftsmalerei, von der ung ein Gang durd) die Samm- 
[ung der hiejigen Akademie eine gebrängte Überficht giebt, finden wir mehr 
Nachdruck auf jhwungvolle Linien als auf folorijtifchen Reiz gelegt, die Lichter 
find nie grell, Luft und Waſſer meift nur leiſe bewegt, die Ferne klar und 
duftig, das anmutige Laubwerk aufs eingehendfte behandelt. Dabei find dieſe 
Landichaften, namentlich wenn der Vorwurf ein heimatlicher ift, nur jelten von 
afademifcher Nüchternheit, meiſt find fie von warmem Gefühl belebt. Frohe 
Naturempfindung gehört ja zum Erbteil unjer® Stammes. 

Unjtreitig das Bedeutendſte hat aber die ältere öfterreichiihe Schule auf 
den Gebiet der Porträtmalerei geliefert. Und hier hat die Gegenwart noch 
am meilten von der Vergangenheit übernommen, hier jind die alten Traditionen 


Unpolitifche Briefe aus Wien. 571 





Friedrich Amerling, noch in unſre Tage herein, ja er führt zweiundachtzigjährig 
noch immer Pinſel und Palette. Von ihm darf man auch noch am eheſten 
ſagen, daß er Schule gemacht habe: in der Porträtmalerei gewiß. 

Amerling knüpft an keine heimiſchen Vorgänger an. Mit ihm beginnt 
eigentlich erſt die öſterreichiſche Porträtkunſt. Vor ihm herrſchte noch ganz jene 
ängſtliche, ſteife Manier, die uns auf den Bildniſſen unſrer Ureltern jo be— 
fremdet. Sonnenfels konnte noch in einer eignen Schrift „Von dem Verdienſte 
des Porträtmalers“ die Frage aufwerfen, ob Porträtiren überhaupt eine Kunſt 
zu nennen ſei. Allerdings bejaht er dieſe Frage zuletzt, indem er Shaftesburys 
Anſicht, der. Porträtmaler habe mit einem Künſtler nichts gemein, er ſei nur 
ein knechtiſcher Kopiſt der Natur zurückweiſt. Im den erjten zwei Jahr: 
zehnten unſers Jahrhunderts lieh fi) dann die vornehme Wiener Gejellichaft 
vorzugsweife von Ausländern malen: Iſabey und Lawrence find die Maler des 
Wiener Kongreſſes, von ihnen haben wir die beiten Bilder eines Metternich, 
eines Gent. An diefen num bildete jich der junge Amerling, ja er ging felbit 
nad) London, um unter den Augen Lawrences zu arbeiten. Und ihm verdanft 
er auch gewiß ſehr viel über die rein Außerliche Anregung hinaus. Aus Eng: 
land brachte Amerling überdies den fogenannten englischen Malerfirnig mit, 
der fo durch ihm in die Öfterreichifche Porträttechnif eingeführt worden iſt. 

Nach Wien zurüdgefehrt, gelangte Amerling raſch zu bedeutendem Ruf, 
er durfte noch Kaijer Franz für den großen Saal des Laxenburger Schlojjes 
malen. Dann wurde er der Lieblingsmaler der öſterreichiſchen Ariftofratie und 
des jterreichiichen Hofes. Der Höhepunkt feines Schaffens fällt in die vier- 
ziger Jahre, da malte er den Fürſten Friedrich Schwarzenberg, den Grafen 
Nugent, die Fürftin Khevenhüller geb. Lichnowsky, den Grafen Edmund Zichy 
u. d. a. Aus früherer Zeit noch jtammt wohl Thorwaldſens Bildnis, jet in 
der Liedhtenfteingalerie, das Oehlenſchläger bis zu Thränen rührte und ihn zu 
dem Ausruf hinriß: „Mein Freund, mein teurer, unfterblicher Freund!“ 

Was Plinius von einem Zeitgenofjen des Phidias, Krefilas, jagt: „Das 
Wunderbare an jeiner Kunft ift, daß fie edle Menjchen noch. edler macht,“ das 
gilt auch von Amerling. Es ift nicht das Dämonifche, das etwa in einem 
Menjchen liegt, was ihm veizt: nicht dieſes jucht cr. heraus, aber jeine Köpfe 
haben doch auch nichts von der behaglichen, philiftröfen Ruhe, die etwa Tinto: 
vetto oder Holbein dem ihrigen verliehen. Amerling glaubt die geiftige und 
gemütliche Eigenart des Menschen am beften zu faffen, wer dieſer in mäßiger, 
angenehmer Erregung ift, wie fie etwa ein lebhafte Geipräch mit fich bringt. 
„Sch rede zu viel,” jagte Dehlenjchläger, als er Amerling ſaß. „Nur zu! er: 
wiederte der Maler, in der Unruhe liegt das Temperament, der Charakter, den 
brauche ich juft.* Freilich gelingen Amerling darum auch verjchloffene, komplizirte 
Naturen, die fich in der Stonverjation, wie lebhaft fie auch fein mag, niemals 


572 Unpolitifche Briefe aus Wien. 





ganz mitteilen, am wenigjten. Sein Bild des Erminifters Schmerling 3. B. 
enthüllt doch nichts von dem eigentlichen geiltigen Kern dieſes Mannes, wie er 
in den bedeutenditen Momenten feiner öffentlichen Thätigfeit zutage getreten iſt; 
das iſt nicht der fühle Politiker, der — wie Laube jich einmal ausdrüdte — 
„von Eonjervativer Schärfe ſtarrte,“ der der DOppofition das berühmte „Wir 
fönnen warten“ entgegenwarf, es ift der liebenswürdige Gejellichafter, Die 
Zierde des Salons: auf feinem Antlitz Tiegt fein milder, fein energiicher Zug, 
der Mlick ift faft weich, um die Lippen jpielt ein leijes verbindliches Lächeln. 
Wir wollen damit nicht jagen, daß das Bild jchlecht getroffen ſei, die Ahnlich- 
feit ift außerordentlich, die Ausführung von großer Tyeinheit, aber das innerjte 
Weſen des Mannes jpricht aus diefen Zügen nicht. Ganz beſonders gelingen 
Amerling eben harmloje, offenherzige, gemütsfrohe Menjchen, die leicht und leb— 
haft empfinden und ihre Empfindung auch gleich ausdrüden; porträtirt er einen 
joldhen, fo kann man mit dem Dichter jagen: „Dein Bild hat keine Seele mehr 
zu fordern.“ Lieblingsvorwürfe find ihm denn auch jchöne junge Frauen und 
Mädchen, die er faſt immer in jener zarten, holden Bewegung daritellt, die jeiner 
berühmten „Lautenjchlägerin“ einen jo unausjprechlichen Reiz verleiht. 

Amerling hat ſich aber niemals auf das enge Gebiet beichränft, auf dem er jo 
große Triumphe feierte, auch im Genre (Fiſchender Sinabe, Italienisches Mädchen, 
Schlafende Kinder), ja jogar im religiöfen Bild (Apoſtel Paulus) hat er jich 
mit Erfolg bethätigt, und wenn er auch niemals Landjchaften ausgejtellt hat, 
jo bat er es doch auch im dieſer Richtung nicht an Bemühungen fehlen laſſen; 
wir fanden ihn vor zwei Jahren in feinem Atelier gerade an einer Waldijenerie 
malend. Während aber im Porträt alle unjre heutigen Berühmtheiten, Canon 
vielleicht ausgenommen, von ihm vielfach angeregt worden find umd viel von 
ihm gelernt haben, auch jeine Bildnifje uns heute durchaus nicht veraltet, ſondern 
ganz friich und modern anmuten, jo fteht er doch mit feinen übrigen Schöpfungen 
den neuen Richtungen fremd gegenüber. Nicht als ob er dieſe nicht gelten ließe, 
aber in feiner Anerfennung liegt die Bitterfeit des Greijes, der fich überholt 
fieht. „Ich bin ein alter Mann — jagte er ung, als wir das Gejpräch auf einige 
fünftlerifche Berühmtheiten des Tages lenkten — und veritehe diefe jungen Leute 
nicht mehr. Sie machen jehr jchöne Sachen, zu meiner Zeit hatte man feine 
Ahnung von einer ſolchen Malerei, aber ich kann jeßt nichts mehr lernen. 
Drum iſts mir auch am liebjien, wenn ich garnichtS davon höre, wenn fie mich 
ganz in Ruhe lafjen.“ 

Neben Amerling ſtand L'Allemand, der namentlich in der Darſtellung 
marfiger militärischer Gejtalten feine Stärke fand. Wenn man jeine Bilder 
betrachtet, leben einem die Offiziere der alten öjterreichifchen Armee wieder auf. 
Aber auch im ältere Zeiten wußte er zurüdzugreifen, die Heldengejtalten, Die ſich 
um den Thron Maria Therefias und Franz des Eriten jchaarten, treu nad) der 
Überlieferung, kraftvoll und glänzend den Enfeln vorzuführen, 


Unpolitifche Briefe aus Wien. 573 








& wie bie ältere öfterreichijche Literatur troß der Abgeſchloſſenheit gegen 
das Ausland an den Bewegungen der auswärtigen, namentlich der deutſchen 
Literatur einen wenn auch beſcheidnen Anteil nahm und ſie in ihren Hervor— 
bringungen ſpiegelte, jo auch die Malerei: man wird in den Werfen der ältern 
Münchener oder Düffeldorfer Schule gewiß auch die Richtungen, die wir eben 
zu jchildern verfucht haben, vorfinden. Aber ein eigentümlicher Lokalton ift den 
öfterreichiichen Künftlern doch immer eigen gewejen, im hiſtoriſchen und religiöfen 
Bild tritt er weniger, bedeutender aber im Genre und in der Landichaft hervor. 
Bon Amerlings Kunft aber könnte man jagen, daß fie die alte, vornehme Ge— 
jellichaft der Kaiferjtadt in ihrer ganzen Liebenswürdigfeit ganz bejonders zu 
charafterifiren verſtand. 

Wenden wir uns num zur Malerei der Gegenwart. Da müfjen wir zuerjt 
fonitatiren, daß eine große öſterreichiſche Hiftorienmalerei, die von patriotijchen 
Tendenzen erfüllt wäre und ftaatspädagogisch wirfen könnte, jo gut wie nicht 
vorhanden ift. Während in andern Staaten die Kunft jchon Jahrzehnte 
hindurch zur Propaganda für die Staatsidee, zur Stärkung des Nationalgefühls 
und Volksruhmes verwendet wird, hat Dfterreich diefe Bundesgenoffin von jeher 
ziemlich gering geſchätzt. Schon vor zwanzig Jahren hat der veritorbne Eitel- 
berger darauf hingewieſen und betont, wie wichtig gerade für Öfterreich eine 
patriotijche Malerjchule jein würde, denn gerade in einem Staate, der noch in 
einem Bildungsprozek begriffen tt, in dem wationale und politische Parteien 
ſich jchroff gegenüberitehen, jet die Kunst ala ein einigendes, verföhnendes, völfer- 
verbindendes Element von der größten Bedeutung. Heute liegen die Verhältniffe 
nicht befjer, nur daß man es an mahgebender Stelle weiß und wenigitens den 
guten Willen zeigt, eine Befjerung herbeizuführen. Vor drei Jahren ungefähr 
war in den Zeitungen ein Nejkript des Unterrichtsminijter® Baron Conrad an 
die Vorjtände der KHunftafademien zu lejen, in welchem jene Wunde berührt 
und der Wunjch ausgedrüdt wurde, man möge auf deren Heilung bedacht fein. 
Wenn e3 aber auch jchr anerfennenswert iſt, daß man fich in den Büreaus auf 
dem Minoritenplag mit folchen Fragen beichäftigt, jo it doch jehr daran zu 
zweifeln, ob auf dem Wege der Verordnung dem Übel abzuhelfen fei. Denn 
die Wurzel desjelben liegt eben fehr tief. Sonderbar aber ift es, daß die 
Anſätze zu einer — wenn wir jo jagen dürfen — öjterreichifchen Staatsmalerei, 
die fich allerdings jelten genug, aber doch bisweilen zeigen, doc) verhältnismäßig 
wenig beachtet und noch weniger ermuntert werden. Dies hat z.B. E. Rudolf 
Huber, ein Maler, der ſich vor Jahren durch Tierjtüde einen guten Ruf gemacht, 
jüngft, als er auf das hiſtoriſche Gebiet übertrat, erfahren müfjen. Angeregt 
durch die patriotijche Bewegung, welche die Türfenfeier vor zwei Jahren hervor: 
gerufen hatte, malte er zwei große Bilder: das eine ftellte den Grafen Starhemberg 
dar, wie er auf der Baſtei die Arbeiten der Belagerten leitet; das andre den 
Herzog von Lothringen, wie er das Entjagheer die Kahlenbergitraße herab der 


574 Unpolitiiche Briefe aus Wien. 








bedrängten Hauptitadt zuführt. Die Ausführung war recht tüchtig, über den 
patriotifchen Inhalt konnte feine Frage fein; dennoc haben bis heute weder 
Staat noch Stadt Miene gemacht, die beiden Gemälde an fich zu bringen. 

Giebt es aber feine öfterreichiiche Staatämalerei im Sinne von Karl 
Wurzinger umd Peter Kraft mehr, jo befigen dafür einzelne öfterreichiiche 
Nationalitäten bedeutende Künjtler, die ihre beite Kraft der Darftellung von 
Momenten ihrer Stammesgejchichte widmen. Des gewaltigjten diejer nationalen 
Maler können ſich ohne Zweifel die Polen rühmen, es it Jan Matejfo, von 
dejien Werfen wir bloß zwei — die „Schladht bei Grünwald," in der Die 
deutschen Ordensritter im Zufammenftoß mit der polnischen Republik unterlagen, 
und die „Huldigung des brandenburgifchen Kurfürsten vor dem polnischen König 
Sigmund“ (1525) — zu nennen brauchen, um den Lefer an die Tendenz feiner 
Malerei zu erinnern. Hinter ihm Steht eine ganze Schule von talentvollen 
jungen Künſtlern, die alle das Hiftorisch-patriotiiche Genre ganz bejonders pflegen; 
wir ſahen hier im Künſtlerhauſe Jan Stykas Mater Benedicta, Ladislaus 
Rofiowstis „Einzug der Königin Hedwig in Krakau,“ Joſef Krzesz' „Schlacht 
bei Orsza“ (1507). Neben den Polen haben jegt auch die Tichechen ihren 
nationalen Maler: Vaelav Brozif, der in jeinem „Hub vor dem Konzil zu 
Konftanz“ ein Thema behandelt hat, das der großen Mehrzahl feiner Stammes: 
genofjen immer noch für heilig gilt. Aber weder die Schule Matejfos noch 
Brozif, der noch zu jung ift, als daß er bereits hätte Schule machen fünnen, 
haben in Auffaffung und Darjtellung irgendetwas mit der ältern öfterreichiichen 
Schule gemein, fie haben fi) durchaus an fremden Mujftern, namentlich den 
modernen Franzoſen gebildet, wie denn auch Munkacſy, der bedeutendjte unter 
den ungarischen Malern der Gegenwart, wenn er auch eine Zeit lang zu Raähl 
in die Schule gegangen it, eigentlich nur in Düffeldorf und Paris wirklich 
etwas gelernt hat. Wir haben aber hier feinen Anlaß, von dieſen Künſtlern 
weiter zu berichten — umfo weniger, da fie alle nicht in Wien leben, ja nicht 
einmal immer hier zuerjt ausjtellen. 

Auch auf dem Gebiete der objektiven Hiftorienmalerei — die, ohne eine 
politische Tendenz zu verfolgen, in der Geichichte nur tragifche oder genrehafte 
Motive ſucht — hat Deutchöfterreich feinen nennenswerten Nachwuchs. Dieje 
traurige Wahrheit lehrte ung vor allem die internationale Ausstellung von 1882, 
und alljährlich) wird fie uns von den regelmäßigen Ausjtellungen des Künftler- 
haufes wiederholt. Sind einmal wirklich Vorwürfe aus der Gejchichte genommen, 
jo iit es dem Maler dabei immer nur um das Schlagwort zu thun, das be— 
queme Epigramm, den Prunf der Staatsaftionen, die prächtigen Koſtüme ver- 
gangener Zeiten — er treibt gleichjam nur ein loſes Maskenſpiel mit hiſtoriſchen 
Namen und Ereigniffen. In diefem Sinne war dann freilich auch Mafart ein 
Hiftorienmaler, weil er den „Einzug Karla V. in Antwerpen,“ weil er „Catarina 
Cornaro“ gemalt hat. Bon den Profefjoren der Akademie, die das hiſtoriſche 


Unpolitifche Briefe aus Wien. 575 





Fach pflegen und darin ımterrichten, ift in den legten Jahren auch nichts in die 
Dffentlichfeit gelangt, das als Hiftorifches Bild in großem Stil bezeichnet werden 
fönnte. Gricpenterl, den wir weiter unten noch als Porträtiſten zu nennen 
haben werden, hat eben jeßt im Künſtlerhauſe ein großes Gemälde ausgeitellt, 
das zwar nicht eigentlich einen Hiftorischen, aber einen dem Hiſtoriſchen nabe 
verwandten mythologiichen Borwurf behandelt: die „Aufnahme des Prometheus 
in den Olymp.“ Hier wird der aufmerfjame Beobachter jo manches finden, 
was der ältern Schule angehört: die Zeichnung iſt forreft, die Auffafjung 
nicht leidenschaftlich, Sondern heiter und gemäßigt, die Farben find nicht allzu 
lebhaft, die Detaild mit großem Fleiß ausgeführt. Aber wenn man das 
Bild auch gewiß mit großem Intereſſe betrachten wird, einen bedeutenden 
oder gar einen erjchütternden und erhebenden Eindrud, wie ihn zu erregen 
der Stoff wohl angethan ift, wird man nicht davontragen. Bor allem 
deswegen, weil der Prometheus Griepenferl3 nicht der titanische Mensch ift, 
als welcher er in der Bruſt eines jeden lebt, der die Tragödie des 
Hichylos oder auch nur Goethes Dichtung gelefen hat, man erfennt ihn auf 
den erjten Blick nicht einmal. Freilich war der Künftler auf die Überlieferung 
von dem gefeijelten Prometheus angewiejen, der, an den Feljen gejchmiedet und 
von den jchredlichiten Qualen gepeinigt, dem Götterboten die ſtolzen Worte 
zuruft: „Und doc) nicht fann Er mich töten.” Die Tragödie von dem „bes 
freiten Prometheus“ iſt uns verloren und von den vielen Vermutungen, die 
aufgejtellt worden find, wie denn eine Verjöhnung zwiſchen Prometheus und 
dem Welttyrannen zu denken ſei, hat feine bejondre Wahrjcheinlichkeit für ſich. 
Was aber den gelehrten Interpreten oft unlöslich ericheint, kann der Künſtler 
mit einem Pinſelſtrich enträtjeln. Griepenferl hat das nicht gethan. Aber nicht 
nur die Gejtalt des Prometheus iſt zu wenig charakterijtiich, die ganze Götter: 
verfammlung jcheint von der ungeheuern Bedeutung des Moments jehr wenig 
durchdrungen, manche, wie Aphrodite und Ares, find völlig gleichgiltig, andre 
zeigen eine rein Äußerliche Teilnahme oder aud) nur gewöhnliche Neugier. Das 
vielgebrauchte Schlagwort von der „akademischen Nüchternheit“ drängt fich beim 
Anblid diejer olympijchen Verſammlung dem Beſchauer doc wieder auf die 
Lippen. Wie anders ſteht diefe Verſammlung vor unfrer Seele, wenn wir der 
herrlichen Verſe gedenken: 

Jupiter ſenket die göttliche Stirn, und Juno erhebt ſie, 

Phöbus ſchreitet hervor, ſchüttelt das lockige Haupt; 

Trocken ſchaut Minerva herab, und Hermes, der Leichte, 

Wendet zur Seite den Blich, ſchalkiſch und zärtlich zugleich, 

Aber nad) Bachus, dem Weichen, dem Träumenden, hebet Eythere 

Blide jüher Begier, felbit in dem Marmor nod) feudt. 


Gleichſam den Übergang von der ältern zur neuern Hiftorischen Schule 
bilden Eifenmenger, 2. Müller und Carl von Blaas. Die beiden erjtern find 


576 Unyolitiſche Briefe aus Wien. 





während der — Jahre nur mit Borträtftücten in bie Offentlichteit — 
ihr Lehramt an der Akademie nimmt eben den beſten Teil ihrer Zeit und Kraft 
in Anſpruch. Bon Blaas hängt ein ſehr ſchönes Bild — allerdings ſchon 
ältern Datums — im Belvedere. Es jtellt Karl den Großen dar, wie er eine 
Schule beſucht. Der Gegenjtand ift ernjt behandelt, jein ethiicher Gehalt tritt 
bedeutend hervor, jodak in dem Beichauer der Wunjch entſteht, es möge jedes 
Gymnafium eine gute Kopie des Gemäldes in jeinem Feſtſaale haben. Die 
Geſtalt des Kaifers it wahrhaft majeftätifch: unter feinem ftrafenden Blicke 
erglühen die Wangen des leichtfinnigen Edellindes, und jeine Augen juchen 
den Boden — wie mögen erjt Karls Feinde erzittern, wenn er ihnen zornig 
entgegentritt, wie der Frevler, der feinem Richterftuhle naht! Die eine Hand 
hat der Kaifer auf das geichorene Blondhaupt eines unfreien Knaben gelegt, 
der mit reizend ernjter Miene unerichroden aufblidt; nicht? von Altklug— 
heit liegt auf feinem unſchuldigen Geficht, wenn auch der Kaiſer feinen Fleiß 
vor allen andern rühmt. Die übrigen Schüler und die bejcheiden im Hinter- 
grunde jtehenden Lehrer find mit gleicher Liebenswürdigfeit ausgeführt, nirgends 
drückt jich ein unedles Gefühl aus. Überaus anzichend ift namentlich ein rechts 
hinter dem Gejcholtenen über die Schulbank gebeugter Knabe, offenbar des 
eritern Freund, in feinem Antlig iſt Mitgefühl mit diefem zu lejen, aber aud) 
das Eingeftändnis, daß der Kaiſer jo unrecht nicht habe. Im der Zeichnung it 
Karl von Blaas noch ganz jo forreft wie die ältere Schule, auch in den De- 
tails fo genau, aber die Farbe verwendet er jchon mit mehr Freiheit, und feine 
Charafteriftif ift Iebhafter. In der legten Jahresausftellung des Künftlerhaufes 
erregte namentlich ein liebliches Madonnenbild von ihm allgemeine Bewunderung. 
Noch leuchtender in der Farbe, noch leichter und graziöjer iſt aber der jüngere 
Eugen von Blaas. Bon feinem „Beſuch“ (im Belvedere), von jeinen „Beiden 
Nonnen” (in der Akademiegalerie) wird fich niemand jo leicht trennen. Nach 
dem Ruhme eines öfterreichiichen Meiffoniers ringen Eduard Charlemont und 
von Pettenkofer mit Erfolg, beide holen ihre Vorwürfe aus dem häuslichen 
Leben von Gegenwart und Bergangenhert, von der Straße herauf, aus dem 
Kriegslager, Charlemont wohl auch aus der Tracht des Orients; beide find 
gute Zeichner und treffliche Koloriften, ihre feine Charakterijtif ijt aber von 
der breiten Manier Danhaujers himmelweit verjchieden. Bei ihnen fieht man 
recht deutlich, wie viel die Ofterreicher in der Fremde und von Fremden ge- 
lernt haben. (Schluß folgt.) 








Für die Medaltion verantwortlid: Johannes — in Leipzig. 
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Drud von Carl Marguart in Leipzig. 





Neuere Siteratur über ITordamerifa. 


Ya Era ührend der leiten drei Jahre ijt eine größere Anzahl von Schriften 

(z über Nordamerifa erjchienen als in irgendeinem Zeitraume von 
DENT Ag jolcher Dauer zuvor. Mehr zufällige Urjachen, wie die Eröffnung 
R , der Northern Bacifichahn, welche auf einmal eine ganze Gejell- 
LO V | ichaft hochgebildeter deutjcher Männer nad) Amerika geführt und 
einige davon veranlaßt hat, ihre Reijebejchreibungen zu veröffentlichen, find an 
jener Erjcheinung ebenjo jehr Schuld, wie die tiefer liegende Urjache, daß Die 
Vereinigten Staaten al3 größter Aderbaujtaat und mächtig aufjtrebender In: 
duftrieftaat ich immer mehr in der Bervegung des Weltmarktes fühlbar gemacht 
und dadurch die Aufmerfjamfeit noch mehr als früher auf ich gezogen haben. 
Außer den eben angedeuteten Reifebejchreibungen mehrerer Gäſte der Northern 
Pacifiebahn (zu welchen auch des früheren Staatsjefretär® Herzog Schilderungen 
„Aus Amerika“ zu zählen find), jowie mehreren illuftrirten Unternehmungen 
verzeichnet der Buchhandel einige umfafjende neue Werke über Amerika, welche 
auf wiljenjchaftlichen Wert Anfpruch machen. Die Titel diefer Werfe lauten: 
1. Urſachen der amerifanijchen Konkurrenz. Ergebnifje einer Studien: 
reife durch die Vereinigten Staaten von Dr. R. Meyer (Berlin, 1883); 
2. Amerifa, der heutige Standpunkt der Kultur in den Vereinigten 
Staaten, herausgegeben von Armin Tenner (Berlin und Newyorf, 1884); 
3. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika nad) eiguen Beobach— 
tungen von Neelmeyer-Bufajiowitjch (Leipzig, 1884). 

Die Meyerſche Studienreife hat im der deutjchen Preſſe fait gar feine 
Beachtung gefunden, und doc hat es der Verfafjer an einer Herausforderung 
der Kritik nicht fehlen lajjen. R. Meyer, der wegen —— nicht 

Grenzboten III. 1885. 






— 


57 8 Neuere Literatur über Üordamerifa. 


verurteilte und flüchtig gewordne konſervative Birtfhaftöreformer, bat fich im 
der Fremde nach und nad) in eine jo trübfinnige Auffaffung deuticher Wirtjchafts- 
zuftände und eine ſolche Feindjeligfeit gegen den deutjchen Reichskanzler und 
dejjen Regierungsſyſtem Hineingearbeitet, daß dadurch für viele feine Schriften 
ungenießbar geworden find. Sein Werk wimmelt voll grober und thörichter 
Ausfälle auf Bismard. Wenn er fid) wenigitens darauf beichränkte, eine Kritik 
an defjen Wirtjchaftsiyitem zu üben, er vergreift fich aber auch an defjen an- 
erfanntejten Leiftungen in der auswärtigen Politif. Er jpricht in der leicht- 
fertigiten Weije von Bismards „Unfähigkeit, Europa den Frieden zu fichern“ 
u. dergl. mehr. Überaus komiſch nimmt fich neben der Herabfegung Bismards und 
andrer europäticher Staatdmänner die eigne Erhöhung des Verfafjers aus, der 
irgendwo von ich fagt, daß er mit dem Selbitbewußtjein eines Mannes jchreibe, 
welcher über die reife Frucht planmäßiger Arbeit verfüge, und daß in Deutjch- 
land fein Mann jei, der auch nur imftande wäre, zu fontroliren, was er ge- 
jchrieben Habe, alles nämlich, nicht das oder jenes Detail. Dieje Sprade ijt 
die eines von Größenwahn befallenen, fie ſoll uns aber nicht abhalten, das viele 
Lesbare des Neifeberichts anzuerkennen. Meyers Reife — er begleitete einige 
gräfliche Gönner aus Ungarn — ging durch einen großen Teil der Vereinigten 
Staaten. Die Reifenden jahen ſich zuerjt in den großen Hafenjtädten der 
Ditfüfte um; die Einrichtungen derjelben für Getreide: und Kohlentransport, 
Magazinirung, Sortirung und VBerladung werden eingehend bejchrieben. Sie 
fuhren dann durch das gemüjebauende und waldreiche Florida nach Neworleans. 
Dort wird dem Aufichwung der Iuduftrie im Süden Aufmerkfjamfeit gewidmet 
und die Ausfichten auf neue Frachtivege für das Getreide von den Pacific: 
jtaaten her werden erörtert; dann folgt die Bereifung der für die Anfiedlung jo 
einladenden Staaten Texas und Kanjas, worauf die Reifenden auf der damals 
eben erjt eröffneten Bahn von Kanjas über Santa Fe nah San Francisco 
gelangen. Die letztere Fahrt und die Abſtecher davon geben Gelegenheit zur 
Beobachtung der riefigen Großgrundbefigungen, welche noch aus den Zeiten der 
frühern mexikanischen Herrichaft herrühren. Dann geht es wieder oftwärte. 
Das Land Utah mit feiner durch fünjtliche Bewäflerung erzeugten mufterhaften 
Bebauung flößt Meyer Hochachtung vor dem Fleiß und der Wirtjchaftlichfeit der 
Miormonen ein. In Chicago widmet er fi) dem Beſuche der Schlächtereien 
und jucht tiefer in die Geheimnifje der Abdedereien einzudringen. In weiteren 
Abjchnitten wird die Landwirtichaft in Manitoba, Oſtkanada, Michigan, Illinois 
der Gegenjtand der Befichtigung. Im den Reiſebericht eingeitreut find bejondre 
AbhandInngen Über das Verkehrsweſen, das Unterrichtswefen, die Organijation 
des landwirtichaftlichen Miniſteriums, die Staats- und Gemeindeverfafjung, das 
Molkereiweſen u. dergl. m. 

Meyer hat unterwegs ein großes Notizmaterial gejammelt, aus dem er 
mit vollen Händen jchöpft, leider oft mit zu wenig Sichtung. So wiederholen 


Neuere £iteratur über Nordamerika. 579 





fich 3.8. allentHalben die Berechnungen für die Herftellungs- und Transport- 
fojten des Getreides oder die landwirtichaftlichen Betriebsfoften in ermüdender 
Weife. Meyer kann das Gedeihen des amerikanischen Farmertums nicht genug 
rühmen. „Vier Millionen meiſt wohlhabende, freie, gebildete Bauern! dergleichen 
jah die Welt nie!“ ruft er begeiftert aus. Das ijt ein oberflächliches Prahlen. 
Troß der von Meyer jo viel gerühmten Eremptionsgefege iſt auch in den Ber- 
einigten Staaten die Verfhuldung des Bauerntums ſtark fortgejchritten, des— 
gleichen die Zunahme der Pacht: und Metayerswirtichaften. Von den angeb- 
lichen vier Millionen Bauernhöfen laſſen neuere amerifantjche Volfswirte und 
Statijtifer kaum die Hälfte übrig, Man begegnet eben überall bei Meyer einer 
tendenziöfen Voreingenommenheit. Er jchildert die gegemwärtige und zukünftige 
Macht amerikanischer landwirtichaftlicher Konfurrenz in jo lebhaften Farben, 
dag daneben für Europa nichts übrig bleibt ala der von ihm wiederholt ver: 
kündigte „Verarmungsprozeß“ und die „PBrofetarifirung des Grundbeſitzerſtandes.“ 

Das ziveitgenannte Werk enthält eine Sammlung von Einzeldarftellungen, 
Beiträge befannter deutjch-amerifanischer Schriftiteller. Daher iſt auch dem 
Deutjchtum in den Vereinigten Staaten eine befondre Aufmerkſamkeit gejchenft. 
Klein jchreibt über die deutfch-amerifanische Schule, Brachvogel über Die 
deutjche Prefje, Müller über das deutjch-amerifanische Theater, Rothe über 
das deutjche Element in Amerika überhaupt. Man erhält aljo eine vielfeitige 
Beleuchtung der deutjchen Kultur in den Vereinigten Staaten. Daß uns dieje 
Kultur Ehre macht, daß fie in bedeutendem Grade das Yankeetum beeinflußt hat 
und noch fortwährend beeinflußt, bejtätigen ung diefe Aufjäe von neuem. 
Die Lebenseinfeitigfeit der Vollblutamerifaner wird von der wärmeren, aus: 
giebigeren deutjchen Natur fortwährend durchdrungen. Eine Fülle harmlojen 
Frohſinns und gefunden Behagens ergießt ſich vom Deutſchtum in das ödere 
amerifanijche Volksleben. Unſre Verfaſſer weilen im einzelnen nach, welchen 
Einfluß das deutjche Schulweſen, das deutjche Theater, die deutjche muſikaliſche 
Anlage, die deutiche Gefelligfeit und Naturfreunde bereit? ausgeübt Haben. Rothe 
würdigt in folgenden Worten den Wert des Deutjchtums für die amerifanijche 
BZivilifation: „Wenn auch Amerika niemals deutjch werden kann, jo ijt es Doc) 
umfo ficherer, germaniſch zu werden, germanifch durch und durch im rein kultur— 
hiftorischen Sinne diefes Wortes. So wie die Deutjchen in ihrer übervölferten 
Heimat unter den Einflüffen im Laufe der Jahrhunderte entitandener enger 
und verwidelter Verhältniffe geworden find, fünnen und jollen fie in einem 
neuen Lande nicht bleiben. Vielmehr mögen fie in einem jolchen, wo ihnen 
ein unbegrenzter Spielraum offen ift, jene fürperlichen und geijtigen Eigen: 
ichaften ihrer Nation, durch welche jie aus jedem großen Kulturkampfe jchließlich 
doc) als Sieger hervorgeht, zur vollen Geltung bringen, In Amerika haben 
fie bereits bewiejen, daß fie es imjtande find, und die Angloamerifaner, in 
welchen heute das germanifche Element vorwiegt, find ihnen dabei entgegen- 


580 Uenere Literatur über Nordamerika. 





gefommen; fie werden mit der Zeit die nach und nach angenommenen feltiichen 
und romanischen Gewohnheiten fallen laffen, die Deutichamerifaner hingegen 
werden fich deſſen entäußern, was an ihnen ungermaniſch iſt, und die Zufunfts- 
nation Amerifad wird einft der würdigſte Repräjentant jenes gewaltigen 
Stammes fein, welchem die Hegemonie unter den Kulturnationen der Neuzeit 
mm einmal nicht mehr abzuringen tft.“ 

Als Nationalität fol und kann fich das Deutjchtum freilich in den Ver— 
einigten Staaten nicht behaupten. Die deutjche Sprache, das wird von unjern 
Berfaffern unverhohlen eingeitanden, bleibt meift nur in dem Stamme ber 
frischen Eimwvandrer erhalten, ſchon den Kindern pflegt fie verloren zu gehen, 
und verfiegt einmal die Zuwanderung aus Deutjchland, jo ift e8 um ihre Zu— 
funft gefchehen. Der deutjchen Sprache in Amerika fehlt eine engere deutich- 
amerikanische Literatur von Bedeutung. Wenn geiftig hervorragende Deutjche 
in Amerika etwas Ernſtes jchreiben, jo thun fie e8, wie z. B. Schurz und der 
verjtorbene Lieber, engliich. 

Ein wertvoller Bejtandteil des Werkes find dic Abhandlungen von Jüngft 
und Douai über die Lage der Landwirtichaft und der Indujtrie, woran jich 
die Auffäge Rümelins über Entwidlung und Stand des Eijenbahnmwejens, der 
Poſt und Telegraphie und über das Steuerwejen, endlid eine Abhandlung 
über die Sonntags: und Temperenzfrage anfchliegen. Die erjtgenannten Ab: 
handlungen von Jüngft und Douai überrafchen durch die Offenheit, mit der 
beide Verfaſſer fich über die Verfchlechterung der amerikanischen Verhältniſſe 
äußern. Sie machen der Borftellung von Amerifa als dem Lande, wo jeder, 
der nur arbeiten wolle, e8 zum gemachten Manne, ſei es als Farmer oder als 
Geſchäftsmann, bringe, gründlidy ein Ende. Es hat fi in den Verhälmiſſen 
drüben eine Annäherung an alle fozialen und wirtfchaftlichen Übel Europas 
vollzogen. Die joziale Frage erhebt fi) womöglich drüben noch drohender als 
hüben. Nirgends find die Gegenjäge von Armut und Reichtum jo groß ge: 
worden wie in den Vereinigten Staaten: auf der einen Seite ijt eine Klaſſe 
von Millionären, Monopoliiten des Landes, der Berfehrsmittel, der Regierung 
entitanden, auf der andern Seite eine lohnarbeitende Maſſe, deren Ausfichten 
auf Selbjtändigfeit und bejjeres Fortkommen fich jehr verringert hat, ſeitdem 
es ſchwierig geworden ift, gutes Kulturland umfonft oder billig zu erhalten. 

Die Schönfärberei Meyers erhält in dieſen Aufſätzen eine böje Kritif. Da 
ift nicht? von der Ruhmredigkeit mit der amerifanischen Homeſteadgeſetzgebung, 
wohl aber erfahren wir, wie rapid das kleine Farmerweſen vernichtet wird und 
dem Großgrundbefig und der PBachtwirtichaft verfällt. Während Meyer die 
Homefteadgejege als das Palladium für das amerikanische Bauerntum preiit 
und deren Nachahmung bei uns empfiehlt, Eagt Jüngſt, daß dem amerikanischen 
Farmer „die wohlthätigen und für die Erhaltung des Bauernftandes unentbehr- 
lichen Gejege und Einrichtungen Europas fehlen.” Jüngſt weift auf drohende 


euere Kiteratur über Hordamerifa. 581 


Konflitte —— Kapital und Arbeit hin: „Extreme Fälle raſch und oft ver— 
dienſtlos gewonnenen großen Reichtums Einzelner — ſchreibt er — gegenüber 
dem langſamen Vorwärtskommen und den verhältnismäßig dürftigeren Ver— 
mögensverhältniſſen der großen Maſſe des Volkes im allgemeinen haben Zu— 
ſtände geſchaffen, welche den ſozialen Erſcheinungen Europas nicht allein völlig 
gleich ſind, ſondern auch bei dem Mangel an Widerſtand im Lande dem Wohle, 
ſowie der ganzen jetzigen Geſellſchaftseinrichtung des amerikaniſchen Volkes weit 
gefährlicher zu werden drohen, als ſie dies je in den weſtlichen und mittleren 
Staaten Europas werden dürften.“ Sowohl Jüngſt wie Douai raten daher 
im allgemeinen dem Deutfchen von der Einwanderung in Amerifa ab. Dem 
Bauern deshalb, weil kulturfähiges Land in Amerika fo tener iſt wie in Europa, 
während es doch nicht ſo viel abwirft wie Land der gleichen Güte in Europa. 
Der Farmerftand Amerikas, einit der Stolz und der Kern der Nation, iſt dur) 
den Wucher, die Konkurrenz mit Riefemvirtichaften und die Eröffnung der Kon— 
kurrenz mit dem Getreide Indiens und Auftraliend in eine ſchwere Lage ver- 
jest. Nicht befjer jteht es in der Induftrie. „In einer langen Reihe der größten 
Industrien — Schreibt Dougai — erwirbt heutzutage eine ganze Familie nur jo 
viel, al$ vordem der Gatte und Vater allein verdiente, und das Familienleben geht 
dabei total zu grunde.“ Die amerikanische Induftrie hat gewaltige Fortichritte 
gemacht und fünnte, wenn ihr der Abja gefichert wäre, einen faſt unbegrenzten 
Aufſchwung nehmen; aber es fehlt nicht nur an fremden Abſatzmärkten, ſondern 
auch infolge der Abnahme der Kaufkraft in der Maſſe des eignen Volkes it Die 
Broduftion in beſtändiger Gefahr der Überprodultion. „Die amerikaniſche In— 
duſtrie erſtickt in ihrem eignen Reichtum“ lautet eine der Ausſagen Jüngſts; 
er beklagt, daß der Export in Induſtrieerzeugniſſen bloß etwa den achten Teil 
der engliſchen Exportwertſumme beträgt. Nach Donuagi iſt eine weitere Herab— 
drückung der geſunkenen Arbeitslöhne in den Vereinigten Staaten zu erwarten. 
Er ſchreibt: „Ein Land, welches 253840 induſtrielle Unternehmungen mit 
2738950 Arbeitern (darunter ein Viertel rauen und ein Elftel Kinder) zählt 
und einen Wert industrieller Produkte von 5369667766 Dollars im Jahre 
(1880) hervorbringt, nimmt nächit Großbritannien die erſte induftrielle Stellung 
in der Welt ein und Fönnte, wenn der Abſatz es erlaubte, Großbritannien 
binnen einem Jahre weit überholen. Da jedoch diejer Abjag fait nur im eignen 
Lande gefunden wird — die von Amerifa ausgeführten Induftrieprodufte machen 
nur den jiebenten oder achten Teil der Gefamtausfuhr und im ganzen nicht 
viel über 100 Millionen Dollars im Jahre aus — und da (aus Luxus oder 
der Wohlfeilheit wegen) mehr fremde Induftriewaaren eingeführt werden, als 
Amerika ausführt, fo ſchrumpft auch im Inlande der Abſatz eher zufammen, 
als daß er fich ausdehnte. Es find daher auch in den beiten Jahren, wie 1872, 
1880 und 1881, immer eine Anzahl Zohnarbeiter ganz unbefchäftigt, andre 
nur 2, big °/, des Jahres vollauf thätig; und an biefer Flauheit der Gefchäfte 














arbeitern aus Europa und Kanada iſt für die jchon vorhandenen eine große 
Laſt und muß die Löhne herabdrüden.* 

Das legtgenannte Werk ift von den drei hier zu beiprechenden in mancher 
Beziehung das beit. Es ift am angenehmſten zu lejen und am wenigiten 
lüdenhaft. Der Verfaſſer ift im vielen Richtungen in das Leben der Vereinigten 
Staaten eingedrungen. Er hat jein über 600 Seiten jtarfes Buch in zchn Ab— 
ichnitte eingeteilt. Im eriten behandelt er die Lage und die VBerhältniffe bei den 
Farmern, in Gewerbe, Induftrte und Handel, Die folgenden betreffen die Na: 
tional- und Staatenregierungen, Armee und Marine, Eijenbahnen und Schiff: 
fahrt, Städte und Städteleben. Die jpätern Abjchnitte enthalten kritiſch-reflek— 
tirende Rückblicke und Ausblicke, 3.B.: Was find die Ausfichten der Aırswanderung 
in die Vereinigten Staaten; was ift die Zufunftsperjpeftive der Vereinigten 
Staaten? Der Verfaſſer wollte „das Wichtigite aus dem vielfeitigen amerifa- 
nischen Leben herausnehmen und in großem Stile ſich darüber verbreiten.“ 
Das hat er wirflich gethan. So mafjenhaft das Detail ift und jo jehr er ſich 
zuweilen in fewilletoniftiicher Manier gehen läßt, jo wird er doch immer wieder 
Herr über die Mafje und erhebt fich von Zeit zu Zeit zu fühnen Höhen mit 
gedanfenreichen Ausfichten. Der Verfaſſer bejtätigt völlig, was die Deutjch- 
amerifaner des vorigen Buches über die amerikanischen öffentlichen Zujtände offen 
dargelegt haben, als unabhängiger Fremder erlaubt er fich noch weiter zu gehen 
und ſchonungslos die Blößen des amerifanischen Weltreiches, das feit dem Bürger: 
kriege immer mehr der Plutofratie und dem Gößenbilde der Anarchie entgegen- 
treibt, aufzudeden. Die Schilderung der wirtichaftlichen und gejellichaftlichen 
Typen gelingt dem Verfaffer vorzüglich; wir verweilen nur auf feine Schilde: 
rung des wucheriichen Landfrämers, des beichäftigungslojen Kopfarbeiters, des 
Spekulantentums in feinen verjchiednen Arten, vom Sobber bis zum Haufirer. 
Als Freund der produzirenden Stände beurteilt er den amerifanifchen Handels- 
ftand jehr jtreng. Der Handel in der Union erjcheint ihm zum größten Teile 
„nichts als eim geiftiger Kampf gegenfeitiger Übervorteilung." Die Ungefund: 
heit der Verhältniſſe erfennt er darin, daß der produzivende Teil im Volke der 
Vereinigten Staaten immer mehr zurüdgegangen iſt, der zehrende Teil, die 
Drohnen, immer mehr zugenommen hat. Für den Arbeiter, Handwerker und 
Landwirt dagegen hat der Berfaffer die regite Teilnahme; in dem befjern Hand— 
werferftande, in der gediegenen Mittelklaſſe des Befizes und in der weißen Land— 
bevölferung erblickt er den einzigen joliden Kern der Bewohner der amerikanischen 
Nation. Sie find es, von denen in den gegenwärtigen troftlojen Verhältniffen 
eine beffere Zukunft zu erwarten ift. Mit großer Achtung fpricht er von dem 
außerordentlichen Fortichritt in der Schulbildung auf dem Lande, ſodaß Die 
jüngere Generation daſelbſt Hinfichtlich der Bildung der Städtebevölferung nahezu 
ebenbürtig geworden ift. Der vielfach zu fehr nach dem Beiſpiel der „obern 


Neuere Literatur über Nordamerika. 583 


Frauen und Töchter der Handwerker jieht er „in mancher Beziehung Höher 
stehen als das im individueller Selbjtändigfeit unterdrüdte Weib Europas.“ 
Auch jonst fehlt es an anerfennenden Betrachtungen des amerifanijchen Vollks— 
tums nicht. 

Außer dem unlautern Handel iſt der Berfafjer namentlich dem heuchlerifchen 
Religionswejen abhold. Ex weiſt ausführlich nach, in wie inniger Durchdringuug 
mit den egoiftifchen und materiellen Interejjen das amerikaniſche Kirchentum 
fteht. Im diejer Hinficht ift er zu der Schlußfolgerung gelangt, „daß infolge 
des jo intenfiv gejtalteten harten Lebensfampfcs, des eigentümlichen Verwebt— 
ſeins der verjchiednen religiöjen Kulte mit dem politiichen, gejchäftlichen und 
gejellichaftlichen Leben, der Sitten, Charaftereigenichaften und des Nerven- 
zuftandes der Bevölferung der Union, die Erjcheinung des vielfach ver: 
mehrten Kirchenbejuches und der erhöhten Andachtsübungen hervorgerufen wird, 
bei dem aber die wirkliche, wahrhafte Religiöfität den kleinſten Prozentjag 
bildet.“ 

Eine Eigentümlichfeit dee Verfaſſers iſt es, von Zeit zu Zeit die ge 
wonnenen Ergebnifje in einigen verallgemeinernden Sägen zufammenzufaffen. Das 
hat er auch am Schluffe der hauptjächlichjten Abjchnitte gethan. Wir geben 
zugleich eine Probe feiner Schreibweile, indem wir nachſtehendes überfichtliche Ent- 
urteil des Verfafjers wiedergeben: „Die Vereinigten Staaten — jagt er — find in 
jeder Beziehung zwar ein rapid jchnell emporgejchofjenes, Europa jelbjt in manchem 
vorausgeeiltes, aber immer noch höchſt unfertiges Gebilde, mit den allergrelliten po- 
fitiichen und ſozialen Gegenſätzen, mit den größten Borzügen und tiefften Mängeln, 
welches fich erjt ausgähren, konſolidiren, Fryjtallifiren muß! Seine einftigen enor- 
men totliegenden Naturjchäße find, jorweit fie durch einfache Händearbeit, ohne 
Kapital und Majchinen zu erringen waren, größtenteils ausgebeutet, der Reſt, ob: 
wohl noch immer unermeßlich, bedarf zu feiner Hebung heutzutage jchon die(?) 
äußerfte Anwendung gewaltiger Kapitalfräfte und der vollendeten Technik. Diejer 
Thatjache gegenüber ijt gegemvärtig der einzelne Mann, welcher nichts befitt 
als jeinen gefunden Fräftigen Körper, beinahe ohnmächtig! Das einjtige Phantom 
des »Goldlandes« ijt geihwunden, und dem gegenüber jteht die nadte Wirklic)- 
feit, Die ich darin charakterifirt, daß ich das Kapital, in immer weniger Hände 
fonzentrirt, die Herrichaft im Lande nach jeder Richtung volllommen an fic 
geriffen hat, den Arbeitsmarkt auf das egoiftischjte und oft unreelljte ausbeutet, 
e3 dem Befiglojen, dem Heinen Manne fajt unmöglich macht, unter dieſem Hoc): 
drud bei normalen Verhältniſſen materiellen Wohljtand zu erringen, und daher 
eine immer größere Vermehrung des Pauperismus zur Folge hat, der vielfach 
im ſchrecklichſten Elend jchmachtet!” (!) 

In ftiliftiicher Hinficht zeichnet fich das Buch durch eine gewifje Beredt- 
jamfeit aus; doch iſt der Verfaffer ziemlich flüchtig zu Werke gegangen, er hat 


584 Der Aotftand des Privatfapitals. 








ſich wenig — in ber Benußung von — — und iſt bis— 
weilen im Aufbau der Sätze zu einer ſchwindelerregenden Höhe und Länge ge— 
langt, ganz abgeſehen von wirklichen Sprachſchuitzern! 





Der Notſtand des Privatfapitals. 
(Schluß) 


@ = 5 9 glaube genügend dargethan zu haben, daß dad Großfapital 
I 2 nicht wie das Privatfapital aus Arbeit entjteht, jondern durch 
2 Spekulation; auch wurde bereit gezeigt, daß es nicht auf An- 
2 ag lage und Zinsgenuß ausgeht, jondern daß es im Gegenteil jede 
SETR! N jefte Anlage vermeidet und nicht Zinſen, jondern Sapital- 
* — erſtrebt. In letzterer Beziehung ſollen noch einige Bemerkungen 
folgen. 

Wie es einem Viehhändler volllommen gleich iſt, ob er um einen Gaul 
oder um eine Kuh handle, ſo dem Bankier, ob das Papier, welches er emittirt, 
3 oder 6 Prozent trage. Sein Geſchäft kann flott gehen, ob der Zinsfuß hoch 
oder niedrig ſei, ſo gut wie der Viehhändler mit fetten wie mit magern Kühen 
verdienen kann. 

Wie flott das Geſchäft in den letzten Jahren bei fortwährend ſinkendem 
Zinsfuße gegangen iſt, zeigen die ausgedehnten Zinsreduktionen von 5 auf 4'/, 
Prozent und dann von 42, auf 4 Prozent. Solche Reduktion des Zinsfußes, 
techniſch Konverſion genannt, vollzieht fich in der Weile, daß der Schuldner 
(Staat, Gemeinde, Aftiengejellichaft) das Anlehen kündigt und den Obligations- 
inhabern, jedem einzeln, die Wahl jtellt, jich entweder die Herabjegung des 
Binjes einfach gefallen zu lafjen oder die Rüdzahlung des Kapitals anzunehmen. 
Diejes Vorgehen ift aber mit der Gefahr verbunden, daß ein anfehnlicher Teil 
der Obligationsinhaber aus irgendwelchen Gründen die Rüdzahlung vorzieht, 
in welchem Falle der Anlehensichuldner in Verlegenheit geraten würde, weil er 
die dafiir erforderlichen Baarmittel, deren Größe ſich überdies einer fichern 
Berechnung entzieht, nicht vorrätig hat. Dieje Gefahr übernimmt nun der 
Bankier gegen Provifion, indem er ſich verpflichtet, diejenigen Obligationg- 
inhaber, welche Rüdzahlung verlangen, aus eignen Mitteln zu befriedigen, deren 
Obligationen zu übernehmen und zur Konverſion einzuliefern. Nun ift es ein— 
leuchtend, daß fich die übernommene Gefahr für den Bankier in demjelben 





Der Notſtand des Privatfapitals. 585 








Maße mindert, als der Zinsfuß an der Börje gedrüdt ij. Er hat aljo das 
größte Intereffe, in diefer Richtung zu wirken, d. h. den Kurs der 4prozentigen 
Papiere hinaufzutreiben. Die Banfiers vertreten aljo mit aller ihrer Macht 
und ihrem direkten oder indirekten Einfluß das einfeitige Intereffe des konver— 
tirenden Anlehensſchuldners und ihr eignes gegen den Privatfapitaliften, der in 
feiner Unfelbjtändigfeit fi) einem Vorgehen willenlo8 ergeben muß, das allen 
jeinen berechtigten Intereffen entgegen ift. Das Privatfapital verliert, das Groß— 
fapital gewinnt bei dem finfenden Zinsfuß! 

Man wird nun eimvenden, daß der Rüdgang des Zinsfußes von allge- 
meinen wirtjchaftlichen Verhältniffen und nicht von der Willkür der Bantiers 
veranlaßt werde, daß aljo die Bankiers nur bejtehende thatjächliche Verhältniſſe 
geichäftlich ausbeuten, wozu ihnen die Berechtigung nicht abzujprechen wäre. 
Dies mag fein; immerhin aber läßt es jich nicht bezweifeln, daß fie den Rüd- 
gang des Zinfußes fördern, dab ſie das natürliche Verhältnis zwifchen der 
Nacjfrage und dem wirklichen ernjthaften Angebot durch ihre Dazwiſchenkunft 
zum Nachteil des Ichtern jtören, und es iſt unzweifelhaft, daß fich die Kon— 
verjionen in weit mäßigerem Tempo und mit geringerem Erfolg vollzogen 
haben würden, daß aljo der Zinsfuß nicht jo raſch und ftetig gejunfen wäre, 
wenn die Intervention des Großkapitals nicht ftattgefunden hätte, wenn Die 
fonverfiongluftigen Staaten, Gemeinden, Gejellichaften genötigt gewejen wären, 
für die eventuelle Rüdzahlung gefündigter Obligationen jelbjt zu forgen, kurz, 
wenn dem Privatfapital nicht jede Mit- und Einwirkung abgejchnitten gewejen 
wäre. Sedenfalls hätten folche Anlehensjchuldner, denen vertragsmäßig ein 
Net der Kündigung nicht zuftand, nicht fonvertiren können, wie es vielfach) 
unter Einfchüchterung der Obligationsinhaber gefchehen ift. 

In ſolchen Zeiten ift Sonnenschein an der Börſe, alle Papiere fteigen, und 
auch der Brivatfapitalift erfreut fich in feiner Verblendung an den hohen Kuren. 
Er jollte aber einjehen, daß hohe Kurſe niedrige Nente bedeuten, und daß er, 
joweit er von Rente leben muß, mit jeinem Kapital jegt weniger Rente kaufen 
fann als früher. Wenn ev jeine Bücher nachficht, wird ex finden, daß er heute 
ein Fünftel weniger Einfommen hat als noch vor einigen Jahren, als jein Ber: 
mögen noch jehr jolide in fünfprozentigen Werten angelegt war. VBielleicht wird 
er jich damit tröften wollen, daß die Welt rund fei, daß die Zeiten für ihn 
bejjer werden fünnen, daß der Zinsfuß wieder fteigen werde. Allein er irrt, 
nicht darin, daß die Welt rumd fei, aber darin, daß fie für ihm werde beſſer 
werden; denn wenn der Zinsfuß wieder auf 5 Prozent hinaufgeht, jo fallen 
jeine vierprozentigen Papiere bedeutend unter pari, er muß fie aljo behalten, 
ober wenn er fie verkauft, 3. B. weil er ein Kind ausjtatten muß oder ein 
Geſchäft gründen will, oder weil feine Renten zum Unterhalt der Familie nicht 
mehr genügen, bedeutenden Verluſt am Stapital erleiden. Er verliert aljo in 
allen Fällen, joweit er von der Börje abhängig ift, d. h. fein Kapital in Börfen- 

Grenzboten ILL. 1885. 74 





586 Der Notitand des Privatfapitals. 








werten angelegt hat, wen er nicht handelt und fpefulirt, d. h. nicht ſowohl 
auf ruhige Anlage und regelmäßigen Zinsgenuß ausgeht, jondern, wie der Groß— 
fapitaliit, auf Profit. Bei jolcher Spefulation aber werden die Kleinen von 
den Großen verichlungen, fie werden fajt immer zu teuer faufen und zu wohl» 
feil verkaufen, fie werden den richtigen Moment nicht finden, cin Zukunft ver- 
heißendes Papier anzuschaffen oder fich eincs gefährdeten zu entledigen; fie — die 
Uneingeweibhten — werden immer einige Schritte zurück ſein hinter den Hohen— 
prieftern der Börfe, die das Miyfterium der Kursbewegung verwalten. 

Diefe Bemerkungen mögen genügen, um den Unterjchied und ©egenjag 
zwiſchen Bankier und Kapitaliſt, zwiſchen Groffapital und unſelbſtändigem 
Privatkapital zu beleuchten. 

Die Herrichaft des Großfapitals bewirkt jedoch nicht motwendigerweije eine 
gedrücte Lage des Privatkapitals. Denn unter Umſtänden fällt auch für das 
letjtere etwas von der Beute ab. Es kann in den allgemeinen Berhältnifjen 
und tm bejondern Interejje der Banfiers liegen, daß der Zinsfuß fteige, und 
dann haben die Stapitaliften gute Tage. Gegenwärtig befinden wir uns in einer 
Beriode ſinkenden Zinsfußes und weil das Kapital mit demfelben Rechte auf 
guten Zins wie der Arbeiter auf hohen Lohn ausgeht, in einer Periode, in 
welcher das Kapital Not leidet. 

Dies bedarf jedoch einer nähern Unterjuchung, weil man im allgemeinen 
geneigt ijt, den YPrüfftein für den Reichtum und das Gedeihen eines Landes in 
einem niedrigen Zinsfuße zu erbliden. England und Holland mit ihrem niedrigen 
Zinsfuß galten immer und zwar mit Necht für die reichiten Yänder. Ob aber 
der niedrige Zinsfuß die Quelle oder die Folge ihres Neichtums ſei, oder ob 
nicht vielmehr die Höhe des Zinsfußes in feinem notwendigen Zujammenhange 
mit einem gedeihlichen Zuſtande der Wirtichaft ftehe, das eben iſt die Frage. 

Wäre die gewöhnliche Meinung richtig, jo müßte mit dem finfenden Zinsfuß 
die allgemeine Wohlfahrt jteigen. Nun jehen wir aber in unjern Tagen, daß, 
während der Zins überall unaufhaltiam zurücgeht, fich gleichwohl die tonau— 
gebenden Kulturländer, England, die Vereinigten Staaten, Frankreich, Deutjch- 
land, Ofterreich u. ſ. w., feinesiwegs in beneidenswerter Lage befinden. Überall 
wird Kapital in Maſſe angeboten, aber Handel und Induftrie find nicht imjtande, 
e3 zu bejchäftigen. Es ift gewiß, daß niedriger Zins einen verhältnismäßigen 
Reichtum an Kapital vorausjegt, d. h. bedentende wirtichaftliche Erfolge, Über- 
jchüffe der Vergangenheit. Wenn aber die Gegenwart nicht imjtande ijt, diefe 
Überjchüffe mugbringend zu verwenden, jo Liegt die Vergleichung nahe mit einem 
Fabrifanten, der unabläjlig Waaren produzirt, aber fie nicht zu lohnendem Preiſe 
zu veräußern vermag. Jedermann wird einem ſolchen Fabrifanten jagen, daß 
Dies auf die Dauer nicht angehe. Man wird aljo aud) einjehen, daß der Zinsfuß 
auf ein jolches Maß zurüdgehen kann, daß es nicht mehr jehr verlodend ift, 
Geld anzulegen, dat aljo der Antrieb zum Sparen abnehmen und die Luft, 


Der Motftand des Privatfapitals. 587 


feine Überjchüffe zu verzehren, zunehmen wird. Dann werden die Epigonen 
einer reichen Vergangenheit in Luft und Freude leben, das Land aber wird 
raſch verarmen. Es ift daher einleuchtend, daß das allgemeine Intereſſe eben- 
fojehr für das Kapital einen angemejjenen Zins verlangt, ala für den Arbeiter 
einen Lohn, mit welchem er ein menjchemvürdiges Dajein führen kann. 

Es find zwei ganz verjchiedne Dinge, das wirtichaftliche Gedeihen eines 
Landes und fein Überfluß an Kapitalien. Lebhafte wirtichaftliche Thätigkeit 
fann jo gut bei hohem wie bei niedrigem Zins beitehen. Die Vereinigten 
Staaten von Nordamerifa befanden ſich im blühenditen Zuftande, als der 
niedrigite Zins feiner Bonds 6 Prozent war. Gerade diejer hohe Zins machte 
Europa geneigt, ihm Slapital, jo viel es wollte, zu leihen. Jetzt, da die vier: 
prozentigen United States Bonds 120 ftehen, liegt feine Induſtrie darnieder, ja 
e3 werden Stimmen laut, welche die Rückwanderung wenigſtens der Irländer 
in ihre Heimat empfehlen. Der indujtrielle Aufichwung eines Yandes wird nicht 
leicht durch den Mangel an Kapitalien aufgehalten. Denn abgefehen davon, 
daß das fapitalreichere Ausland immer zur Hilfe bereit it, Schafft fich eine 
profperirende Produktion leicht jelbit die nötigen Geldmittel. Denn wenn eine 
raſche Aufnahme der erzeugten Güter durch die Konſumenten gelichert it, fo 
fehren die bei der Produftion vorgelegten Gelder raſch zurück und find alfo 
durch den Kredit leicht zu beichaffen. 

Als etwa mit dem Jahre 1830 Deutjchland wirtichaftlich erwachte, als 
der Zollverein begründet wurde und die Zmilchenzölle fielen, ald man begann, 
Maſchinen in die Landwirtichaft umd Imdujtrie einzuführen, die Flüſſe mit 
Dampfichiffen zu befahren und Eifenbahnen zu bauen, blieb der Zinsfuß 
gleichwohl niedrig, bis etwa 1845. Das Kapital nahm aljo in dieſer Periode 
feinen Anteil am der Beſſerung der mirtichaftlichen Rage. Erit in der zweiten 
Hälfte der vierziger Jahre begann der Jinsfuß zu ſteigen, und wievorher Der 
Wohlſtand bei miedrigem Ziusfuß wuchs, ſo gebt bei einer Höhe desſelhen, 
welche das Allgemeine Deutſche Handelsgeſetzbuch (anfangs der ſechziger Jahre 
veranlaßte, den nicht vereinbarten Zins auf 6 Prozent zu beitinmen. 

England hatte nach den Friedensichlüffen vom 1814 und 1815 einen 
niedrigen Zinefuß, obwohl feine Staatsjchuld auf mehr als 900 Millionen Pfund 
Sterling angewachjen war. Es vermochte die unerhörten Übeljtände feiner 
papiernen Baluta zu überwinden und über erſchreckende Notitände jeiner Arbeiter: 
bevölferung Herr zu werden und doc) ſchon 1818 eine Anleihe von 63 Millionen 
Pfund Sterling zu 3%/, Prozent zu fontrahiren. Der Aufſchwung von Handel 
und Induftrie in jener Zeit war ftaunenerregend, artete zwar um 1824 in die 
wildejte Spekulation aus mit dem unvermeidlichen Krach, übte aber feinen 
Einfluß auf den Zinsfuß. Dies fünnte zu dem Irrtum verleiten, daß chen der 
außerordentliche Kapitalreihtum Englands, aljo der niedrige Zinsfuß, Urſache 
jeines Gedeihens in jener Beit geweſen jei. Allein die Gegenwart belehrt ung, 


588 Der Notſtand des Privatfapitals. 
daß dies in Wahrheit nicht der Fall fein fann. Denn heute liegt die englische 
Volfswirtichaft darnieder, obwohl das Parlament fich zu einem Gejege veranlaft 
gejehen hat, mach welchem feine dreiprozentigen Konſols in einem Kapitalbetrage 
von nicht weniger als 712”, Millionen Pfund Sterling oder 14 Millionen 
Mark auf 2°, und 2°, Prozent herabgefegt werden follen. 

Dieje Bemerkungen mögen genügen, um nachzuweiſen, daß niedriger Zins 
und blühende Volkswirtichaft in feinem urfächlichen Zufammenhange jtehen. Es 
it nur zu verwundern, daß die entgegenstehende Anficht, die von der Erfahrung 
jo entjchieden widerlegt wird, eine jo weite Verbreitung finden fonnte. Der 
Grund davon ift indefjen nicht jchwer zu entdeden. Ein Irrtum erzeugt eben 
immer den andern. Wenn man Sapital und Arbeit als die Elemente der 
Hütererzeugung annimmt, und weiter, dak die Funktion des Kapitals darin 
beitehe, den Lohn für die Arbeit zu liefern, jo folgt allerdings ziemlich natürlich 
der Schluß, daß, weil es an Arbeitern niemals fehlt, die Produftion nur von 
der Menge der vorhandnen Kapitalien und in ihrem Gedeihen aljo von niedrigem 
Zinsfuße abhängig jei. Allein Kapital und Arbeit find, wie bereit oben erwähnt, 
zwar Elemente der Produftion, allein jie vermögen für fich allein nichts, wenn 
fie nicht vom Unternehmer gerufen werden. Der Unternehmer ift der Vater der 
Produktion. Hat er Geld und Kraft genug, jo bedarf er weder der Arbeiter noch 
der Kapitaliſten, und wenn dies nicht der Fall ift, jo hängt es eben von feiner 
Lage ab, vb und wie weit er Hilfe von Arbeitern oder Kapitaliften in Anſpruch 
nehmen und überhaupt etwas unternehmen wird. Immer wird das Streben 
der Unternehmer dahin gerichtet fein, fich von der Hilfe des Kapitaliften und 
des Arbeiter möglichit zu befreien, d. h. nur mit eignem Kapital zu wirtichaften 
und die Arbeit möglichſt durch Mafchinen und nicht durch Menjchen verrichten 
zu laſſen. 

Beide daher, Kapital ſowohl als Arbeit, leiden gelegentlich unter dem 
Stilljtande der Unternehmungsluft oder der Selbjtjucht des Unternehmers, find 
abhängig von feiner Thätigfeit oder Unthätigfeit, und wenn der Staat einmal 
die Pflicht anerkennt, in Notjtänden zu interveniven und fich nicht nur auf den 
jogenannten Nachtwächterdienit zu beichränfen, jo iſt fein Grund vorhanden, daß 
er nicht auch die Kapitaliften gelegentlich unter feine Obhut nehme, daß er zum 
wenigsten ſeinerſeits alles unterlafje, was die Lage des Kapitals mehr als es 
die allgemeinen Verhältniffe erfordern im feinem berechtigten Interefje nach an: 
gemeffenem Zins beeinträchtigen fann.*) 





*) Der Finanzminifter Scholz äußerte fih im Februar d. J. in der Kammer dahin, 
man müffe (bei Zinsreduftionen) Müdficht nehmen auf die zahlreichen Perfonen, welche ge- 
nötigt jeien, ihr Geld ficher anzulegen, und welche nichts von ihrer Heinen Einnahme entbehren 
tönnten. Auch liege es nicht im Staatsinterejje, die Kapitaliften durch Beſchränkung des Zins- 
fußes vielleicht zu unfiheren Anlagen in der fremde zu veranlaffen, die Inländer würden 
damit mehr und mehr an das Schidjal auswärtiger Staaten gelettet. 


Der Noiſtand des Privatfapitals. 589 


Diefe Forderung Tautet allerdings ungewöhnlich, vermeffen, antijozial, 
plutofratisch oder wie man jonft jagen will. Aber doch nur für diejenigen, welche 
Kapital nicht vom Großkapital zu unterjcheiden wiffen, welche in dem doftrinären 
Irrtum befangen find, daß Kapital und Arbeit die alleinigen Elemente der 
Produktion feien, welche in dem Wahne leben, die Kapitaliſten feien eine be— 
vorzugte Kaffe, welche vergeffen, daß die Arbeit von geitern das Slapital 
von heute it und daß, wie wir oben zeigten, wohl eine jtarfe Mehrheit der 
Erwachienen zur Klaſſe der Slapitaliften gehört. „Man überfieht — jagt Scholl 
in feiner Berechnung des Volfsvermögens in Wiürtemberg (in der Beichreibung 
des Königreichs Wiürtemberg, Bd. 2, Abt. 1) —, da die wahren Vertreter des 
Kapital3 nicht die Großfapitaliiten und die Kapital jammelnden und Kapital 
verwaltenden Kreditinftitute find, jo wenig wie die Großgrundbefiger und Schlot- 
junfer die ausschließlichen Vertreter der Landwirtfchaft und der Gewerbe find, 
oder die Viehhändler die Nepräjentanten des Viehfapitalds. Das Geldfapital 
ift vielmehr gerade die volks- und arbeiterfreundlichite Form de8 Vermögens» 
befiges, ſofern fich nicht jeder ein Gut oder Haus erwerben, wohl aber etliche 
Pfennige in die Sparfaffe legen und damit Kapitalift werden fann. Nicht die- 
jenigen, welche von ihren Renten leben können, fondern wer ausſchließlich von 
den Zinſen früherer Erjparniffe leben muß, die wegen hohen Alters oder 
förperlichen Gebrechen von der aktiven Berufsthätigfeit zurücgetretenen, Die 
Witwen umd Waiſen aller Berufsklaffen find die wahren Repräjentanten des 
Kapitals.“ Scholl hat aus den Steuerliften feines Landes ermittelt, daß in 
Würtemberg von 139844 fapitalrentenstenerpflichtigen Perſonen nur 3,17 Prozent 
Renten über 2550 Mark hatten, während 96,70 Prozent weniger als 2550 Mart 
bezogen und 76,4 Prozent nur 350 Mark und weniger. Das Kapital, jagt 
er, it feine Wucherpflanze, jondern das mühjame Ergebnis des Sammelfleiges 
des Volkes und des Heinen Mannes in allen Berufszweigen. 

Unjer heutiger Staat ijt weit entfernt, in Zeiten gedrüdter Kühne mit dem 
Beifpiel der Lohnabzüge voranzugehen; er denkt nicht daran, den Betrich eines 
Bergiverfes, in dem er Taufende oder auch nur Hunderte von Arbeitern be: 
Ichäftigt, einzuftellen, weil e8 nicht rentirt; oder er wird doch bei der Einjtellung, 
wenn fie unvermeidlich ift, mit der größten Vorficht und Rüdficht auf die Ar- 
beiter verfahren. Aus gleich gewichtigen Gründen jollte der Staat auc) nicht 
die Augen fchliegen, wenn das Kapital in gedrüdter Lage iſt. Es kann dem 
Staate nicht gleichgiltig jfein, daß die nahezu 4 Millionen Einleger preußi— 
cher und 1 Million ſächſiſcher Sparkaffen u. ſ. w. feit 1880 einen halben und 
teilweiſe über einen halben Prozent Zins weniger als vorher erhalten.*) Es 





9 Die preußiſchen Sparkaſſen zählten 1883 3650613 Einlagebücher, und wenn bie 
Zunahme derjelben feitdem derjenigen von 1881 auf 1882 mit 271934 gleichgeblieben ift, fo 
würden bie Bücher oder Einleger im Jahre 1885 4281000 betragen. Inter jenen 3363518 
Büchern des Jahres 1882 befanden ſich: 


590 Der Motftand des Privatlapitals. 





muß jein Bedenfen erregen, daß, wenn auch bejtehende Indujtrien mehr oder 
weniger fich in gebeihlichem Zuſtande befinden, doch die Unternehmungsluſt dar- 
niederliegt, daß die Industrie feinen nennenswerten Anſpruch an den Kapital- 
markt macht, dab das eingeichüchterte Kapital feinerjeit3 industriellen Unter- 
nehmungen abgeneigt ijt und nur noch in ſolchen Papieren Anlage jucht, die 
eine feite, wenn auch niedrige Rente gewähren, ein Wettlauf, bei welchem jich 
das Kapital felbjt eine verderbliche Konkurrenz macht. Der Staat fann nicht 
überjchen, daß Witwen und Waijen, daß bejahrte Männer, die einem Erwerbe 
nicht mehr nachgehen fünnen, daß Beamte, die mit ihrer PBenfion nur darım 
ausreichen fonnten, weil fie aus dem Zingertrage eignen Vermögens etwas zu= 
zujegen hatten, daß alle joldye Leute mit der reduzirten Nente nicht mehr aus: 
fommen fönnen und fich in wirklicher Not befinden oder derjelben Doc unver: 
meidlich entgegengehen, wenn der Zinsfuß, wie es allen Anſchein hat, noch weiter 
finft. Wenn der Staat ſolche Wirkungen des niedrigen Zinsfußes in Erwägung 
zieht, würde er überdies finden, daß die Nachteile nicht durch gegenüberjtehende 
Vorteile aufgewogen werden. Gewiß ſtehen den Gläubigern die Schuldner 
gegenüber, die jich des niedrigen Zinſes erfreuen. Allein gerade die Klaſſen, 
aus welchen fich die kleinen und fleinjten Kapitalijten, die Kunden der Spar: 
kaſſen, die Heinen und mittlern Rentenbefiger bilden, weijen nur jelten eigent- 
liche Kapitalichuldner auf. Die Induftrie hat feinen erheblichen Vorteil vom 
niedrigen Zins, denn das Kapital ift ihr abgeneigt, und überdies beruht ihr 
Gedeihen nicht auf einem halben Prozent, das ſie weniger an Zins zu zahlen 
hat. In den Städten erzeugt oder erhält der niedrige Öypothefenzins eine un— 
gejunde Bauthätigfeit, auf dem platten Lande befördert er die Verfchuldung und 
die wucherische Ausbeutung. Auch ist es ein Irrtum, wenn die „Kölniſche 
Zeitung“ in einem ſonſt bemerfenswerten Artifel behauptet, das Sinfen des 
Zinsfußes bedente eine natürliche Gegenbewegung aegen Die übermäßig große 
Kapitalanſammlung in wenigen Bänden, Die „Käölniſche Zeitung“ irrt, wenn 
ſie glaubt, das haare Kapital verliere am Macht und Bedentung in dem Maße, 
als es mwohlfeiler werde, als man ſich jeiner Dienfte leichter verjichern könne. 
Wir haben nachgewiejen, daß dem Großfapital der Zinsfuß faſt von gar feiner 
Bedeutung iſt und dab es von dem Sinfen desjelben in jeiner Ausbeutung des 
Brivatfapitals garnicht gehindert wird. 


1023 160 Bilder mit 60 Warf und darunter, 


65, „60 bis 150 Mart, 
575469 „150 „800 „ 
570214 , „ 3900 „600 „ 


795937 „ „ Aber 600 Mat. 
Die preußiſchen Sparkaſſen hatten augelegt: 
515447530 Mart in ftädtiihen Hypothelen, 
5270520855 „ „ ländlichen 
475404173  ,„  „ Snbhaberpapieren. 


Der Notſtand des Privatfapitals. | 591 





Solde Erwägungen würden die Staatslenker weiter zu der Bejorgnis 
führen, daß bei andauerndem Sinken des Zinsfußes der Antrieb zum Sparen 
namentlich unter den Heinen Leuten abnehmen könnte, daß fie, nicht mehr von 
einem angemejinen Zinje zur Anlage verführt, geneigt jein möchten, ihre Er— 
ſparniſſe zu verzehren, daß die Genußſucht wachjen und alle damit zuſammen— 
hängenden Übel jich einſtellen müßten. 

Aber um des Himmels willen, wird man fragen, was joll denn der Staat 
thun? 

Um eine Antivort hierauf zu geben, müſſen wir die Urjachen der Verän— 
derung des Zinsfußes näher ins Auge faffen. 

Wir haben bereits oben bemerkt, daß in der Periode unjers wirtjchaftlichen 
Erwachens (1830— 1845) der Zinsfuß niedrig blieb, obwohl erhöhte Anfprüche 
an das Kapital gemacht wurden. Dieje an fich auffällige Erſcheinung erflärt 
ſich durch die große Langſamkeit, mit welcher ſich das wirtichaftliche Fortſchreiten 
vollzog, und durch eine ftarfe Beteiligung fremden Kapitals, welches mehr als 
das deutjche gewohnt war, in der Induſtrie Anlage zu juchen. Mit der zweiten 
Hälfte der vierziger Jahre begaun nun eine etwa drei Jahrzehnte andauernde 
Beriode der lebhaftejten wirtjchaftlichen Thätigkeit fait aller Völker der zivili— 
jirten Welt. Dieſe Periode ift durd) den Eifenbahnbau charafterifirt. Europa 
und Amerika bededten ſich mit einem dichten Nee von Schienenmwegen und 
webten das ungeheure Majchenwert von Telegraphendrähten, in deſſen Befite 
wir uns heute erfreuen. Dieſe Riefenarbeiten belebten direft und indirekt fast 
alle andern Industrien und jteigerten den Unternehmungsgeift auf eine bis dahin 
ungeahnte Höhe. Dieje ganze Bewegung der Gegenwart bedurfte der Unter: 
ſtützung des in der Vergangenheit angejammelten Kapital® und mußte daher, 
zumal da der Aufjchwung alle Kulturländer gleichzeitig berührte, eine Steigerung 
des Zinsfußes zur Folge haben. Nebenbei gejagt, find in dieſer Periode auch 
die Arbeiterlöhne in jehr erheblichem Maße geitiegen. 

Dieje jo Hoch gejteigerte wirtichaftliche Thätigkeit erzeugte eine Menge 
neuer Kapitalien, welche mın Verwendung juchten, während der Gang der 
Induſtrie ein jehr bedächtiges Tempo annahm und fortan nur jehr geringe 
Anſprüche an das vermehrte Kapital ftellte Die natürliche Folge war ein 
raſches Sinken des Zinsfuhes. Einige Zahlen mögen den Umſchwung der Ver: 
hältniffe erläutern. 

In den 33 Jahren von 1847 bis 1879 wurden in Preußen 5098%/, Millionen 
Mark dem Kapitalmarkte für Eifenbahnbauten entnommen, aljo jährlich 154%], 
Millionen. Bon 1879 bis 1884 war der Bedarf für den gleichen Zwed nur 
2724, Millionen, aljo jährlich nur 541), Millionen gegen 154%, Millionen 
der vorhergegangenen Periode. Zieht man von dieſer zur Verwendung ge- 
fommenen Summe 166 Millionen ab, welche als bereit3 vorhandne Fonds mit 
den verftaatlichten Eijenbahnen in Belig des Staates gefommen waren, jo bleibt 


592 | Der Xotftand des Privatfapitals. 





ein Betrag von 22 Millionen Mark, für welche in Ddiefer neuen Periode 
der Kapitalmarkt in Anjpruch genommen wurde. Allein auch diefer Reit des 
Kapitalbedarfes verjchwindet und verwandelt ſich in eine Nüdgabe des Staates 
an den Kapitalmarkt von jährlich 11 Millionen, wenn man in Betracht zicht, 
daß nad) dem Budget von 1884—85 der preußiiche Staat 19 108113 Marf 
für Tilgung von Staatsjchulden und 13 bis 14 Millionen für Amortijation 
von Eijenbahnprioritäten, zuſammen 33 Millionen Mark an den Kapitalmarkt 
zurüdfließen ließ, während demjelben in der Periode von 1847 bis 1879 jähr- 
(ih 154), Millionen für Eifenbahnzivede entzogen wurden. 

Dem Drud auf den Zinsfuß, welcher durd) den Stilljtand im Eiſenbahnbau 
veranlagt worden ift — woraus natürlich dem Staate feinerlei Vorwurf zu 
machen ift —, ift eine pofitive Einwirkung des Staates zur Seite gegangen, 
weiche vielleicht mehr als mandes andre zum Sinfen des Binjes beigetragen hat. 
Wir meinen die Maßnahme der Regierung bei der Berfügung über die franzö- 
jiiche Striegsfontribution. Soetbeers Schrift „Die fünf Milliarden“ hat es über: 
zeugend machgewiejen, daß durch die große Eile, mit welcher man die Entſchä— 
digungsgelder durch Auszahlungen aller Art, durch Rüdzahlung von Reichs» und 
Staatsjchulden, durch die Anlage der dem Invalidenfonds überwiejenen 107 Mil: 
lionen Thaler u. |. w. verwendete, eine große und plögliche Überflutung des Ka— 
pital- und Geldmarktes hervorgerufen twurde, auf welche man nicht vorbereitet 
war und welche daher nicht anders als verderblich wirken konnte. Durch Die 
Heimzahlung der Staatsjchulden wurden die betreffenden Summen frei ud 
mußten neue Anlage juchen, der Imvalidenfonds trat Fonfurrirend auf, Die 
großen Güter, welche aus den Dotationen (12 Millionen Mark) gefauft wurden, 
brachten dieſe Summen in die Hände der Verkäufer, die fie irgendwie wieder 
anlegen mußten und aljo andre Anlagen, in welche fie ſich drängten, flüffig 
machten, welche num ihrerfeits wieder Anlage begehrten u. ſ. w., kurz, die ent- 
Itandene Bewegung glich wie ein Ei dem andern jener vergeblichen Bemühung, 
einen Haufen Erde in ein Loc) zu werfen, das man erjt graben mußte; das 
Loc) nahm den Haufen wohl auf, aber um das Loch Herzuitellen, hatte man 
einen neuen Haufen ausheben müfjen, der nun der Beleitigung harrte. Man 
kennt die Geichichte: joviel Löcher man auch grub, es blieb immer ein Haufen 
übrig. Soviel Geld man auch anlegte, es wurde immer andres Geld frei, 
welches aus feiner bißherigen Anlage verdrängt war, bis fich endlich ein Schlund 
aufthat, dev alles verichlang. Diefer Schlund war jene fieberhafte Spekulation, 
welche neue Anlagegelegenheiten erfand, welche das Kapital ins Ausland, vor- 
zugsweiſe nad) Dfterreich drängte, um dort für deutjche Rechnung ein Eldorado 
von Gewinnjten zu begründen, das fich jedoch bald als ein Feuerwerk erwies, 
welches in einem ungeheuern Krach jeinen Schlußeffett fand. Soviel Kapital 
auch in jener Zeit zerjtört wurde, es blieb mehr übrig, al8 der Unternehmungs- 
geift des Volkes, der durch den Krach für lange Zeit gelähmt wurde, zu bes 


Der Notitand des Privatfapitals. 593 


ichäftigen vermochte; zudem hatte die Nachfrage des Staates nad) Kapital faft 
gänzlich aufgehört, und es gab daher feine andre Möglichkeit als eim jchnelles 
und andauerndes Sinfen ded Zinsfußes. Es gilt heute ald ausgemacht, daß 
jener traurige Erfolg, jenes Zerrinnen fo vieler Millionen in unjern Händen 
hätte vermieden werden können, wenn man die Schleufen des großen Reichs— 
geldbehälter8 weniger raſch geöffnet hätte, wenn man auf fofortigen Zinsgenuß 
verzichtet oder vorläufig Anlagen im Auslande gejucht hätte, von wo dann das 
Geld nicht in verderblichem Strome, jondern in befruchtenden Kleinen Rinnjalen 
allmählih in das nationale Anlagevermögen hätte übergeleitet werden können. 
Thatjache ift es, daß der Staat gerade zu der Zeit, als der faft dreißig Jahre 
beftehende ungeheure Bedarf an Kapital für die Eifenbahnzwede aufhörte, als 
diefer Abzugsfanal für den Kapitalmakt verjtopft wurde, durch die Kriegsent— 
Ihädigung eine Fülle von Kapital einftrömen ließ, für welche das Land feine 
jolide Verwendung hatte. Die finfende Bewegung des Zinsfußes fand durch das 
geichilderte Verfahren des Staates bei Verwendung der Kriegsentichädigung na- 
türlich einen mächtigen Antrieb. 

Seitdem find unſre Regierungen nicht wieder in die Lage gekommen, er- 
hebliche Anjprüche an den Kapitalmarkt zu ftellen, d. h. Gelegenheit zu um— 
fangreichen Anlagen zu geben, wohl aber fahren jie fort, durch Heimzahlungen 
neue SKapitalien auf den überfüllten Markt zu bringen und damit einen fort: 
währenden empfindlichen Drud auf den Zinsfuß zu üben. 

Wenn man uns aljo fragt: was kann der Staat thun, um einem weitern 
Sinken des Zinsfußes entgegenzuwirfen? jo antworten wir, er fann erſtens durch 
Einstellen der Staatsjchuldentilgung die Kapitaliften der Notwendigkeit entheben, 
für bereit3 angelegte Gelder neue Anlagen zu fuchen, oder ander ausgedrückt: 
er fann den Markt vor dem Zurüditrömen von Kapitalien bewahren, deren er 
ſich bereit3 entledigt hatte, d. 5. er fanıı das Angebot befchräufen, und zweitens er 
fann dem Marfte umgekehrt vermehrte Gelegenheit zur Anlage bieten, d. h. 
die Nachfrage vermehren. Beides fteht im engiten Zufammenhang. Sprechen 
wir zuerft von der Amortijation. 

Die allmähliche Zurüdzahlung von Schulden vermittelft eines jährlichen 
Prozentjages entjpricht eigentlich nur einer Heinbürgerlichen Privatwirtichaft. 
Wenn ich als ein wohlhabender Mann meinem Nachbar ein Darlehen gebe, 
um ihn aus einer Verlegenheit zu ziehen, und wenn ich, da ich wohl weiß, daß 
er niemals imftande jein wird, die Schuld auf einem Brette zurüczuzahlen, 
auf das Recht der Kündigung verzichte, mir aber die jährliche Abtragung von 
einem Prozent des Kapitals ausbedinge, jo entjpricht dies den Verhältniffen 
und dem Standpunkte beider Parteien. Meine Abficht ift, wenn auch nur all- 
mählich, wieder zu meinem Gelde zu fommen, die Abſicht des Schuldners ift, 
fich nach und nach feiner Verbindlichkeit zu entledigen und wieder fchuldenfrei 
zu werden. Wenn ich ein teures Haus erbaut Habe, welches fich nur mühjfelig 

Grenzboten III. 1885. 75 


594 Der Notftand des Privatfapitals. 





verzinft, jo mag es ein fpefulativer Kapitalift mit 80 Prozent des Bauwertes 
belehnen. Er ftipulirt eine jährliche Amortifation von zwei Prozent, indem 
er erwägt, ich wirde es wohl zehn Jahre lang aushalten und dann würde Die 
Hypothek auf einen umlaufsfähigen Betrag zurüdgeführt, d. h. von der Per— 
jönlichkeit des Schuldners unabhängig geworden fein. Wuch für einen Staat 
kann das Syitem der Amortifation angemefjen fein, wenn es fich darum Handelt, 
eine jchwebende Schuld, welche durch Defizits im ordentlichen Budget entjtanden 
ift, durch eine Anleihe zu fonjolidiren, d. h. durch eine Anweiſung auf die 
Zukunft zu bezahlen. Weil e8 in ſolchem Falle nicht ganz ficher ift, ob im 
aller Zukunft diefe Anweifung honorirt werden fann oder will, jo erfordert es 
die Vorficht, daß der Gläubiger fich Jahr um Jahr melde, um einen der auf 
die Zukunft gezognen Wechjel zur Zahlung zu präfentiren. Auch dient in diefen 
Fällen das Amortifationsverjprechen dazu, den Kurs der Obligationen zu halten, 
wenn er ohne dies ſinken würde, 

Wenn ein Gutsbefiser, der aus feinem Gute jährlich 10000 Mark zieht, 
100000 Mark auf Ameliorationen verwenden will, jo bewilligt ihm jede Hypo- 
thefenbanf gern ein Darlehen in der verlangten Höhe und könnte wohl auf 
jede Rüdzahlung verzichten, wenn der Schuldner nicht eine individuelle fterbliche 
Berjon wäre, wenn das Gut nicht in andre Hände übergehen könnte, welche 
den durch das Darlehen gejchaffenen Mehrwert zeritören oder aufzehren und 
demnach die gejunde Grundlage des Gejchäftes aufheben würden. Wenn eine 
Gemeinde zur Anlage einer Wafferleitung, die fi) gut rentirt und überdies 
mannichfache indirefte Vorteile bringt, ein Anlehen von einer Million aufge- 
nommen hat, jo hat fie feine Veranlafjung zur Amortifation diefer Schuld; 
denn der Gegenwert der Schuld iſt voll in der Anlage vorhanden, und die zu 
zahlenden Zinjen find durch die Waffergelder gededt. Erſt wenn die Gemeinde 
ihre Wafferleitung an eine Privatgejellichaft veräußern wollte, würde Veran: 
lafjung zur Tilgung des fir ihre Herstellung aufgenommenen Darlehns entitchen. 
Dasselbe gilt für einen Staat bei Anlehen zu produftiven Zwecken, 3. B. bei 
Eijenbahnjchulden.*) Auf feiten des Schuldners kann unter folchen Voraus— 


*) Wenn Ad. Wagner (in Bluntſchlis Staatswörterbuch Bd. 10, ©. 20) gerade bei 
Schulden diefer Art die Tilgung gelten läßt, weil fie gewiffermaßen an der Anjtalt Hafteten 
und diefe ſich abnuge, fo überfieht er, daß, fofern nur die Abnutzung im laufenden Dienft 
erjeßt wird, der volle Gegenwert der Schuld immer vorhanden bleibt und eben deshalb 
Tilgung unnötig ift. Was die fogenannten unproduftiven Schulden, d. h. die für allgemeine 
Staat3zwede fontrahirten Anlehen betrifft, jo hält Wagner deren Tilgung noch weniger für 
gerechtfertigt, ja, wie er fagt, fir durchaus verwerflih. Der Staat ſei auf ewige Dauer be— 
rechnet: in der ewigen Rente erhalte ſich der Wert des Schuldfapitald. Die mit der Anleihe 
geihaffenen jtaatswirtichaftlihen Anlagen (Zwecke) nupten fih zwar ab. Aber ihrer Vor— 
ausfegung gemäß würden ſie möglichft in ihrer Nutzungsfähigkeit erhalten, und infofern hätten 
Staat und Volkswirtſchaft in den Leiftungen jener Kapitalanlagen für die Zinfen ober 
Steuern vollen Erſatz, z. B. bei Juftizreform, Herrichtung eines Gensdarmerielorps u. dergl. 


Der Xotjtand des Privatfapitals. 505 





jegungen die vorbehaltene Amortijation nur den einen Zwed haben, daß er fich 
die Gelegenheit offen halten will, etwaige Überjchüffe in eignen Unternehmungen 
anzulegen. Hat er aber feine Überfchüffe, jo muß er die Amortifationsbeträge 
auf das ordentliche Budget nehmen, d. 5. durch Steuern erheben, welche feine 
Bürger ohne Not bedrüden. Auch für den Gläubiger, d. h. für die Obli- 
gationginhaber, ift die Amortijation fein Vorteil. Sie erleichtert weder für 
einen jolventen Staat die Aufnahme eines Anlehens, noch erhält fie das Ver— 
trauen zu den Obligationen (dem Kur), im Gegenteil, e3 ijt dem Inhaber 
läftig, wenn er jein Geld, das zur feiten Anlage bejtimmt iſt, zurüderhält; 
und iſt es auch dem Einzelnen wirklich erwünjcht, jein Geld zurüdzuerhalten, fo 
Hilft ihm ja die Amortijation garnicht, wenn, wie es mehr als wahrjcheinlich 
ift, das 2003 feine Obligation nicht trifft. Wer fein in Obligationen angelegtes 
Geld zurücdhaben will, rechnet nicht auf den Anlehensichuldner und feine Amor: 
tilation, fondern er wendet ſich an jeine Nebenmenjchen an der Börſe, die ihm 
jeine Obligation jederzeit zu irgend einem Preiſe abnehmen. 

Es ift doch nicht zu verfennen, daß bei Staats-, Gemeinde- und andern 
Anlehen diefer Art das Verhältnis der beiden Parteien ein weſentlich andres 
ift al8 dasjenige von BPrivatleuten, die ſich als Gläubiger und Schuldner 
gegenüberjtehen. Das eigentliche Darlehensverhältnis, dad pactum de mutuo 
iſt wenigjtens für den Obligationginhaber nur noch eine Fiktion, feitdem es 
allgemeine Übung geworden ift, die große Schuldurfunde in fleine, auf jeden 
Inhaber lautende Bartialjcheine aufzulöjen. Wer eine Obligation erwirbt, dent 
nicht daran, dem Staate darleihen zu wollen, und dem Beſitzer liegt der Ge— 
danfe fern, Gläubiger des Staates für eine bejtimmte Slapitalfumme zu fein. 
Die verfprochene Rente allein ift e8, al® deren Schuldner ihm der Staat gilt; 
nicht die der Obligation aufgedrudte Kapitalfumme ift für den Inhaber map- 
gebend, fondern allein der Preis, den er für diejelbe von Dritten erhalten kann 
und der jelten mit dem Nominalwerte zujammenfällt. Der Sapitalift, der An— 
lehensobligationen kauft, hat eine feite Bermögensanlage im Sinne, cr betrachtet 
ſich weniger al8 Gläubiger denn als Eigentümer eines verfäuflichen Wertes; 
er will feine Rüdzahlung, denn fie ift ihm läftig, mitunter auch jo nachteilig, 
daß er ich gegen dag Herausfommen in der Anortifationsverloofung zu ver: 
fihern fucht. Der enticheidende Unterjchied zwiſchen Darlehen unter Privaten 
und Staats- oder Gemeindeanlehen bejteht darin, daß bei erjteren die Kon— 
trahenten jterbliche Menjchen find, bei leßteren aber der Schuldner ein ewig 


Aber aud) wenn die Abnugung eine vollſtändige fei, jei die Tilgung nicht gerechtfertigt. 
Denn die Sachgüter, welde der Staat durch die Anleihe heranzieht, würden definitiv in den 
Staat verarbeitet und in Güter verwandelt, welche von jenen erſten fpezififch verſchieden 
find. Es find immaterielle Leiſtungen aller Art. Der Staat produzirt nicht Güter, mit 
welchen er tilgen fan. Wuc jene Leijtungen laffen ſich nicht, wie in der Privatiwirtichaft, 
gegen Sachgüter, mit denen getilgt würde, austaujchen 2c. 


596 Der Hotftand des Privatfapitals. 





entkleidet ift, injofern die Scheine auf den Inhaber lauten, deſſen Perjönlichkeit 
für das Rechtsverhältnis volllommen gleichgiltig ift. Dem ewigen Charakter 
der Kontrahenten — wenn man fie jo nennen darf, da der Erwerber einer 
Obligation doch eigentlich nicht mit dem Staate fontrahirt, fondern nur ein 
einfeitig vom Staate gegebenes Berfprechen acceptirt — entipridht denn wohl 
auch am beten die ewige Dauer des Nechtöverhältniffes, d. h. die Form der 
ewigen Rente, und die Jurisprudenz der Zukunft wird deshalb vielleidht in 
jolchen Anlehen nicht mehr ein privatrechtliche® mutuum erbliden, fondern ein 
Verhältnis, das, ähnlich den deutjchen Realrechten, al® unabhängig von dem 
Willen der urfprünglichen Konftituenten feine Geltung behauptet. 

Die moderne Finanzwiffenjchaft ift denn auch der Anficht, daß für Staaten 
bei geordneten Finanzen das Syitem der Kapitalaufnahme mit Amortijation 
ein überwundner Standpunkt und nur die Form der ewigen Nente zu empfehlen 
fei; die Amortifation ift nur zur Erhaltung einer richtigen Bilanz injoweit ge— 
rechtfertigt, al3 die Subſtanz der vermittelft des Anlehens hergeitellten Werte 
verbraucht ift, und auch in diefem Falle wird es rationeller fein, wenn es an— 
geht, die verbrauchte Subjtanz zu Laften des ordentlichen Dienjtes wiederher— 
zuftellen, al8 die gegenüberftehende Schuld zu amortifiren. 

Als die großen Staaten begannen, ihren außerordentlichen Ausgaben durd) 
Anlehen Deckung zu verichaffen, geichah es in dem vollen Bewußtjein, daß fie 
Schulden machten, und mit der guten Abficht, diefe Schulden jo bald als möglich 
abzutragen, und ebenfo mochten die Darleiher ſich auf die Rüdzahlung ihres 
Guthaben verlajjen. Allein der Lauf der Weltgefchichte bewies ſehr bald, daß 
das Privatrechtsverhältnis de3 mutuum nicht auf die Anlehen paßte, welche 
der Staat zur Befriedigung zwar außergewöhnlicher, aber doch immer wieder: 
fehrender Bedürfniffe zu fontrahiren gezwungen war. E8 zeigte fich einerfeits, 
dat die Staatsjchuld als eine ftehende, bleibende Injtitution betrachtet werden 
müſſe, daß der Staat niemals wieder in die Lage fommen werde, ſchuldenfrei zu 
fein, oder auch nur feinen Schuldenftand wejentlic) zu vermindern, und anderjeit3 
daß jeine Gläubiger eine Rückzahlung der dargelichenen Beträge weder ver- 
langten noch aud) nur erwarteten, vielmehr immer aufs neue bereit waren, jo viel 
darzuleihen, als der Staat begehren wollte. Die Unmöglichkeit der Rüdzahlung 
der Staatsjchulden war augenfcheinlich, aber es war auch ebenjo zweifellos, 
daß — jeltene Ausnahmen abgerechnet — jede fpätere Periode eine größere 
Staatsfchuld mit geringerer Mühe verzinfe, ald die vorhergehende Periode die 
kleinere Schuld. 

AS unter dem erjten Pitt die engliiche Schuld auf 120 Millionen Pfund 
angewachjen war, jagte der größte Nationalöfonom jener Zeit, David Hume, 
England hätte den Wahnfinn der Kreuzfahrer übertroffen. Richard Löwenherz 
und der heilige Ludwig wären nicht geradezu gegen arithmetifche Beweiſe 


Der Notſtand des Privatfapitals. 597 


marjchirt, denn es jei unmöglich, durch Zahlen zu beweilen, daß der Weg nach 
dem Paradieſe nicht durch das heilige Land führe; aber e3 ſei möglich, durch 
Zahlen zu beweijen, daß der Weg zum nationalen Verderben durch die Staats: 
ſchuld führe; es wäre befjer für England gewejen, von Preußen oder Dfterreich 
befiegt, al3 mit einer Schuld von 120 Millionen Pfund belajtet zu werden. 
Adam Smith verbarg ſich zwar nicht, daß die Nation troß der Schuld reicher 
getvorden fei, aber er meinte Doch, das Erperiment fei gefährlich zu wieder: 
holen, das Maß jet voll und die geringjte Häufung fünnte verhängnisvoll 
werden. George Grenville war der Meinung, England vermöge eine Schuld 
von 120 Millionen nicht zu tragen, ohne einen Teil der Laft auf die amerifa- 
nischen Kolonien abzumwälzen. Der Verſuch mißlang, die Kolonien gingen ver: 
loren, und die Schuld jtieg auf 240 Millionen. Nach den Koalitiongkriegen 
von 1793 bis 1815 hatte die Schuld 800 Millionen überjtiegen; aber England 
war immer reicher getworden und konnte die Zinjenlaft mindeſtens ebenjo gut 
wie früher ertragen; Englands Wohljtand ift bis auf diefe Tage immer ge- 
wachjen, ohne daß es feine Schuld wejentlich vermindert hätte. Aber erſt 1827 
gab es den Grundſatz der Amortifation auf, als jeine Staat3männer endlich 
einſahen, daß e3 thöricht jei, Schulden zu machen, um Schulden zu tilgen, und 
al3 jie berechneten, daß diefe Thorheit der Staatsfaffe einen Verluſt von 
11 bis 14 Millionen Pfund eingetragen hatte. Man begreift jett, daß diejer 
Schuld eben doc ein Aktivum gegenüberjieht, welches der heutige Stand der 
Kultur in England iſt, daß ſelbſt die ungeheuern Kriegsausgaben, von denen 
die Schuld ja vorzugsweife herrührt, nicht als unproduftive bezeichnet werden 
fünnen, weil fie Englands Unabhängigfeit erhalten, feine Herrichaft auf allen 
Meeren begründet und überhaupt die Grundlagen feines unerhörten Reichtums 
gelegt haben. 

In Frankreich war es Cambon, der 1791 das erlöjende Wort ſprach, daß 
die Staatsjchuld feine Kapitalſchuld fei, jondern das Berjprechen einer ewigen 
Rente. Man ift zwar unter der Reftauration zur Amortifation zurückgekehrt, 
hat fie 1840 abgejchafft, 1858 erneuert, aber endlich doch 1859 im Prinzip 
definitiv befeitigt. Man hat berechnet, daß in den achtzehn Jahren der Juli— 
Monarchie 590 Millionen Franks auf den Rückkauf von Rente verwendet, aber 
900 Millionen neu aufgenommen worden find, und daß der Staat bei dem 
Geſchäfte 307 Millionen eingebüßt hat. Auch Ofterreich hat die Tilgung im 
Prinzip 1859 (?) abgeichafft. In Preußen hat das Herrenhaus jeit 1856 jeine 
Abneigung gegen das Prinzip der Amortifation zu wiederholten malen fund» 
gegeben, und im Abgeordnetenhaufe hat 1867 Tweſten diefe Frage zur Sprache 
gebracht. Aber Preußen fährt bis auf den heutigen Tag fort, Schulden zu 
tilgen. 

Es ijt wahr, die Finanz iſt nicht ausfchlieglich eine Wiſſenſchaft, fie ift 
auch eine Kunſt, d. h. ein Finanzminister muß im einzelnen Falle diejenigen 


598 Der Hotftand des Privatfapitals. 





Bedingungen gewähren, unter welchen ein notwendiges Anlehen allein zu haben 
it; und unter diefe Bedingungen kann unter Umständen auch ein Amortifations: 
veriprechen gehören. Uber zweifellos ift e8 doch jedenfalls, daß Preußen, daß 
die übrigen deutjchen Staaten und das Reich in einer viel zu ficheren Lage ſich 
befinden, als daß dergleichen Anforderungen an fie gejtellt würden und fie jolche 
Künfte üben müßten. Es erjcheint daher nicht gerechtfertigt, daß fie Steuern 
erheben, um Schulden zu tilgen, dab jie die Gejamtheit der Staatsbürger be 
jchweren, um einer großen Anzahl derjelben Stapitalien zurüdzuzahlen, deren 
Miederanlage ihnen zur Verlegenheit wird, daß fie in vielen Fällen die Ein- 
zelnen mit doppeltem Nachteil treffen, indem diejelben zugleich bejteuert und 
in ihren Einnahmen durch den jinfenden Zinsfuß geihädigt werden. 
Die engliichen Finanzminifter, ſowohl Childers vom Miniſterium Gladjtone als 
Hicks-Beach, der jegige Minister, haben zur Dedung des Defizit$ im Budget 
von 1885 und der ägyptiſchen Unkosten die Einftellung des Dienjtes der Til 
gungsfaffen vorgeichlagen und damit im Parlamente feinen Widerjpruch ge: 
funden. Wenn dies auch mur eine vorübergehende Maßregel ift, weil dieſe 
Fonds und ihre Verwendung auf Gejegen beruhen, jo iſt damit doch der Weg 
gezeigt, auf welchem die Staaten ihre Einfünfte erhöhen können, ohne die Steuer 
jchraube anzuziehen. Warum jollten die finanziell jo kräftigen deutichen Staaten 
diejem Beijpiele nicht folgen fünnen? Unſre gefamte Finanzpolitif geht auf Er— 
Ihliegung neuer Einnahmequellen aus; die wichtigjten Reformen find davon 
abhängig, wie die Entlajtung der Kommunen in Preußen, die Kanalbauten, die 
Bedürfniffe des Heeres und der Marine, die Stolonialpolitif, die Beſeitigung 
der Matrifularbeiträge an das Reich, die Sozialgejeggebung und vieles andre. 
Und doch werden alljährlich zur Verlegenheit der Gläubiger Summen getilgt, 
die für alle jene Bedürfniffe ausreichen würden. Würden dieſe Beträge dem 
laufenden Dienfte überwieſen, jo fünnte entweder ein bedeutender Steuererlaß 
eintreten oder der produftiven und reformatorifchen Thätigfeit des Staates ein 
wejentlicher Antrieb gegeben werden, was nicht verfehlen würde, eine belebende 
Rückwirkung auf die gefamte Volkswirtfchaft zu üben, während gleichzeitig dem 
Kapitalmarkte eine Erleichterung verſchafft würde. Es würde dies vorausfichtlid 
genügen, um einem weiteren Sinfen des Zinsfußes vorzubeugen. 

Wenn Preußen 1884/85 33 Millionen für Tilgungszwede verwendete, 
wenn das feine Königreich Sachjen 1882/83 16367601 Mark planmäßig und 
6710124 Mark außerordentlich, zufammen 23077725 Mark tilgte, wenn man 
in Betracht zieht, daß die Amortifation der meijten neuern Anlehen, z. B. in 
Würtemberg, Baden und Baiern, erſt in den nächſten Jahren beginnt, jo wird 
e3 feine übertriebene Annahme fein, wenn man die Gejamttilgung der deutjchen 
Staaten jährlich auf etwa 70 bis 80 Millionen berechnet. Es ift jchwer zu 
jagen, wie viel von den Gemeinden für Amortifation von Schulden aufgebradt 
wird, aber es ift wahrjcheinlich, daß der Betrag nicht viel verjchieden tft von 


Der Notftand des Privatfapitals. 599 


der Aufwendung der Staaten zu dieſem Zwede. Jedenfalls würden dieſe 
Summen genügen, um der Staatswirtichaft neue Bahnen zu erjchließen, viel- 
leicht eine Ara von Kanalbauten zu eröffnen, welche der Periode, der wir unſer 
Eijenbahnneß verdanken, an Größe und befruchtender Wirkung nicht nachjtehen 
würde. 

Man wird einwenden, daß die Tilgungspflicht weitaus zum größten Teil 
auf Geſetz oder Vertrag beruhe, aljo nicht ohne Gewaltaft und Treubruch 
bejeitigt werben fünne. Allein da die Gläubiger feinen Wert auf die Tilgung 
legen, diejelbe im Gegenteil al3 eine Unbequemlichfeit empfinden, jo würde fich 
ein Ausweg leicht finden lajjen. Man brauchte ja nur an die Wahl der Obli- 
gationsinhaber zu appelliven,; es würde fich ergeben, daß nur jehr wenige auf 
der Amortifation beftünden, und dieje wenigen fünnte man entweder durch Rück— 
zahlung oder durd) die Kreirung eines befondern amortifirbaren Anlehens zu— 
friebenftellen. Benefieia non obtruduntur. 

Wenn das deutjche Reich beſtrebt ift, der Induſtrie meue Abſatzwege zu 
eröffnen, jo mag es zwar zunächit eine Befruchtung der Arbeit im Auge haben, 
mittelbar aber forgt eine folche Politif ebenjo für das Kapital. Denn wenn 
die Produktion zunimmt, jo bejchäftigt fie nicht nur mehr Arbeiter, ſondern 
auch mehr Kapital; es müßte aljo jowohl der Arbeitslohn als der Zinsfuß 
jteigen oder doch vor einem weiteren Sinfen bewahrt bleiben. Um aber eine 
ſolche Wirkung zu üben, müßte unjer Export Verhältniffe annehmen, die wir 
vernünftigerweife nicht in jehr naher Zeit erwarten dürfen. *) 

Wenn aber Deutjchland aufhörte, jährlich 80 bis 100 Millionen auf den 
Kapitalmarkt zu werfen, und vermitteljt derjelben eine großartige Politik frucht- 
barer Kulturanlagen eröffnete, jo würde die Wirkung auf Arbeit und Kapital 
nicht ausbleiben. Das von der unnatürlichen Konkurrenz der Amortifationen 
befreite Kapital würde fich entwöhnen, nur noch in feſten Renten Anlage zu 
juchen, es würde den Mut wieder gewinnen, ſich im großen bei industriellen 
Unternehmungen zu beteiligen, und reges Leben fünnte einfchren, wo jet Ver— 
jumpfung herrſcht. Ein bemerfenswerter Aufſatz über das Sinken der Preife, 
welchen jüngſt die „Zeitichrift für Stahl und Eiſen“ brachte, hat ähnliche Ge- 
danfen ausgeiprochen und, freilich nur jehr jchüchtern, für eine Periode um: 


*) Der franzöfiihe Erminifter Jules Ferry Hat freilih andre Anſichten von einer Ko— 
lonialpolitit, Er fagte am 28. Juli d. $.: „Der Erwerb von Kolonien iſt ein Gewinn, aud) 
wenn diefelben nicht als eine Ableitung des Bevölferungsüberjchufjes dienen. Die Kapitalien, 
die man aus ihnen zieht, jtärfen das Mutterland; denn um die einheimifche Arbeit zu ver— 
werten, find große Kapitalien nötig.” Als ob Frankreich Mangel an Kapital hätte, und als 
ob Tonkin und Anam Kapitalien liefern könnten! Freilich find folche Reden nicht ernit zu 
nehmen, fie haben zunädft nur taltiſche Zwede, und e3 ift anzunehmen, daß Herr Ferry 
mehr von Nationalölonomie verjteht, als aus diejer Rede erfichtlich ift, obgleich diefelbe einen 
jenjationellen Erfolg Hatte. 


600 Der Notſtand des Privatfapitals. 


auch nicht jofort eine den Anlagekoften entiprechende Rente liefern würden, Doch 
dem fortwährenden Sinfen der Preije gefteuert werden fünnte. Und doch nahm 
der Verfaffer an, daß die erforderlichen Gelder erſt durch neue Anleihen auf: 
gebracht werden müßten. Um wieviel mehr könnte man auf ſolche Wirkungen 
bauen, wenn man die Mittel einfach durch Einjtellen der Schuldentilgung be- 
ſchaffte. 

Es bliebe noch eine Frage zu beantworten übrig: Iſt denn der niedrige 
Stand des Zinsfußes nicht eine vorübergehende Erſcheinung, wird dem Sinken 
nicht bald eine Periode des Steigens folgen, iſt es alſo nicht unnötig, daß ſich 
der Staat mit dieſem Phänomen beſchäftige? 

Wir antworten: Nein! Die alten Kulturländer ſind reich an Kapital, und 
ſie erzeugen alljährlich eine ſo ungeheure Menge neuer Kapitalien, daß an eine 
ausgiebige Beſchäftigung derſelben ſo lange nicht zu denken iſt, als uns nicht neue 
großartige Aufgaben geſtellt werden, als nicht unſre Hilfe angerufen und gewährt 
wird, etwa zur Überziehung Aſiens, Afrikas, Südamerikas mit Eiſenbahnen und 
Telegraphen, zur Überleitung der ſüdamerikaniſchen Staaten zu rationeller und mit 
Maſchinen betriebener Landwirtichaft, und ähnlichem mehr. Wenn das Kapital der 
alten Kulturländer jchaffensfroh zu jolchen Unternehmungen ausziehen wird, wie 
unjre fernen Ahnen einſt zum gelobten Lande zogen und nähere Ahnen zu dem neu- 
entdedten Amerika, dann allerdings wird abendländifches Kapital und abend- 
ländiiche Arbeit volle und lohnende Beichäftigung finden. Dieje Zeit wird 
fommen, aber nicht jo bald und nur allmählich; und dies it vielleicht fehr gut. 
Denn noc haben wir im eignen Haufe gar manches um- und neuzubauen, und 
e3 ift noch viel Raum übrig zur Kapitalanlage im heimischen Kulturbau. Aber 
e3 iſt nötig, daß wir aus der Selbitzufriedenheit, die ſich an den erreichten 
Sortjchritten genügen läßt, aufgerüttelt werden. Dies aber ift die Aufgabe des 
Staates, der der Inbegriff, der Repräfentant und der Bürge unjrer Kultur 
it, und nicht bloß der Nachtwächter, wozu ihn eine gewiſſe Schule erniedrigen 
möchte. So lange ſolche Aufrüttelung und Unfeuerung des wirtichaftlichen 
Geiſtes nicht eintritt, wird der Zinsfuß weiter finfen.*) 


*) Es jcheint dies aud) die Anficht der Finanzmänner zu fein. Darauf deutet 3. B. 
Belgien Hin, welches bei der im diefen Tagen erfolgenden Konverſion der Iugemburgifchen 
Eifenbahnjhuld in 3Y/,prozentige Rente fi nur für acht Jahre des Kündigungsrechtes be- 
geben hat, während noch vor kurzer Zeit Frankreich ſich in ähnlihem Halle für zehn Sabre 
gebunden hat. 





Unpolitiſche Briefe aus Wien. 
4. Die Malerei. 


Schluß.) 





wer Si dem Gebiete der Landichaftsmalerei hat fich ebenfalls ein 
MUnmſchwung vollzogen: man verwendet jegt nicht mehr jo viel 
Mühe auf die Durcharbeitung jedes einzelnen Blattes und jedes 
A Steruchens, dafür ift aber der Pinjel fühner geworden, Licht 
- Mund Farbe find nicht gejpart, und die leidenschaftliche Bewegung 
* ea, die Schauer einer Mondnacht im Walde, die Schredniffe 
des Hochgebirges, die grelle Lichtfülle des Orients reizt unſre Landjchafter 
mehr als harmonische Ruhe und idylliiche Schönheit. Namen find hier mehr 
zu nennen als auf irgend einem andern Gebiete: da iſt Robert Ruß, der in 
einer großen „Südtirolerlandichaft,“ die auch auf der fetten Jahresausjtellung 
zu jehen war, förmlich in dem Lichte und im Glanze eines jüdlichen Herbſt— 
tages jchwelgt, während er uns in der „Waldmühle bei Mals“ eine düftere 
Szenerie vorführt, in welche die erjten Windſtöße eines nahenden Gewitters 
Ichauerliche Bewegung bringen. Dann ift Ludwig Hans Filcher zu nennen, 
zum Orientmaler wie prädejtinirt, in den Straßen von Kairo, auf den Infeln 
und in den Buchten des ioniſchen Meeres gleich heimijch, wie unter den Ruinen 
von Bola und Ulpia Trajana; Hugo Darnant, dem wir u. a. eine herrliche 
Sommerlandichaft „Abenddämmerung,“ jowie die etwas ſchwermütig angehauchte 
„Kirche von Heiligenſtadt“ verdanken, endlich Hugo Charlemont, der mit der 
Poeſie des heimischen Waldes innig vertraut ift, Settel, Ribarz, v. Thoren u. vd. a. 
Die Porträtmalerei steht auch heute noch, wo Amerling faſt garnicht mehr 

in die Öffentlichkeit tritt, in ſchöner Blüte. Der Hauptvertreter diefer Genres 
ift jeßt Angeli, weit über Ofterreich hinaus berühmt und heute faſt jo in der 
Mode wie einjtens Amerling. Aber er jucht die Seele nicht im Lächeln und 
in der Heiterfeit gejelljchaftlichen Verkehrs wie jener, jondern mehr in einem 
gehaltenen Ernjt, wie man ihn bei bedeutenden Anläfjen anzunehmen pflegt. 
Harte Züge pflegt er jo wenig zu mildern wie Eifenmenger, von dem man bei 
jeinem Leo Thun gejagt hat, er charakterifire mit umerbittlicher Strenge. Vor 
Angeli's Anaftafius Grün wird man auch des Poeten weniger gedenken, mehr 
des edeln Patrioten, des pflichterfüllten Bürgers. Leopold Müller mit feinem 
Grafen Prokeſch-Oſten, Griepenferl mit den Bildnifjen des Admirals Urbair- 


Wöllerftorf und des frühern Abgeordneten von Kaijerfeld, Karl von Blaas mit 
Grengboten III. 1885. 76 


602 Unpolitifhe Briefe aus Wien. 





Frauen- und Slinderporträts müfjen heute alle rühmend genannt werden, wenn 
man ber Wiener Porträtmalerei jpricht. 

Auf dem Gebiete der Aquarellmalerei iſt wenig Nachwuchs. Im Der 
Familie Alt jcheint allerdings das väterliche Gut unverjehrt auf die Söhne 
überzugehen, denn Franz Alt iſt ganz auf dem Wege, die Meijterihaft Rudolfs 
zu erwerben. Sonst find nur noch Fendi, Schindler und Hlavacef zu nennen: 
die Motive ihrer Bilder jind teils landichaftliche, teils genrehafte, in der Technik 
wirken die guten Traditionen der früheren Generation kräftig nach. 

Eine originelle, ziemlich iſolirt ſtehende Erjcheinung unter unfern modernen 
Malern it Julius von Bayer, deffen „Bat des Todes,“ im vergangnen 
Winter im Künſtlerhauſe ausgejtellt, viel von fich reden gemacht hat. Bayer 
war Führer der legten öjterreichiichen Nordpolerpedition, als Maler hat er 
viel von den Franzoſen gelernt. In der „Bai des Todes“ will man jpeziell 
den Einfluß von Gericaults „Floh der Meduſa“ bemerfen. Der Vorwurf ift 
der Untergang der Franklin Expedition. Wir jehen einen Kahn, der in den 
Eismafjfen des Nordineeres feitgebannt liegt, angefüllt mit Toten: fie find alle 
erfroren. Nur einer lebt noch, hat die Flinte ergriffen, um jich und die Leich— 
name jeiner Gefährten gegen nahende Eisbären zu verteidigen. Das Schauer: 
liche der Szene wird durch die helle Nacht, den grauen Himmel, die wehenden 
Eisnadeln noch erhöht. Die Ausführung ijt gut, jcharf, ganz realijtifch, und 
doch ohne melodramatijche Übertreibung. Payer hat ſich mit diefem Bilde — und 
es joll bald cin zweites von ähnlichem Genre folgen — in die erjte Reihe 
unfrer Maler gejtellt. 

Aber wenn man von moderner Wiener Malerei jpricht, denkt man zunächft 
an feinen von den Namen, die wir bis jegt nannten. Die Künftler, in denen 
Deutichland, Europa, ja Die ganze gebildete Welt die heutige Wiener Kunſt 
gleichjam verkörpert fieht, die man für ihre berufenjten Vertreter hält, nach 
deren Schöpfungen man fie fajt einzig beurteilt, find Mafart und Canon.*) 

In dieſen beiden, namentlich aber in Makart, jcheint uns das Individuelle 
das Allgemeine bedeutender zu überwiegen als bei irgendeinem modernen Künjtler, 
die perjönliche Eigenart alles Typijche und Konventionelle auszulöſchen. Ob 
Mafart im diejem oder jemem Genre fich bethätigte: er war für uns immer 
Makart; daß auch er nur an jchon Borhandnes anknüpfen, nur Traditionelles 
weiterbilden Eonnte, jehen wir heute noch nicht. Dasſelbe gilt, wenn auch nicht 
ganz in gleichem Maße, von Canon. Ohne daß wir jie mit den großen Meiſtern 
der Vergangenheit vergleichen möchten — wir ziehen ihnen vielleicht ſogar 
Stünftler der Gegemvart vor —, jcheint es ung doch, als wenn fie etwas ganz 
Apartes, ganz Originelles in der Kunftgefchichte überhaupt zu bedeuten hätten. 





*) Huch Canon ift inzwiihen aus den Neihen der Xebenden geſchieden (F in Wien 
am 12. September). 


Unpolitifhe Briefe aus Wien. 603 
Makarts Eigenart lag nicht gleich beim Beginn feiner Kimjtlerlaufbahn 

Har am Tage. Seine erjten Bilder zeigen ihn als echten Schüler Pilotys. 
Er war jtreng in der Zeichnung, nüchtern in der Farbe. Das wurde fpäter 
umgefehrt. Seine jpätere VBorjtellungsart war eine ganz jpezifiiche: er dachte 
in farbigen Kompleren. Die begrenzenden Linien waren bis dicht vor den Schluß 
jeiner Arbeit etwas jehr Schtwanfendes und Bewegliches, während ein andrer 
Maler doch zunächjt mit diefen ins Neine zu fommen bejtrebt if. Auf einem” 
der „Fünf Sinne“ war zu fehen, wie offenbar ganz zuleßt die Grenzen des 
linfen Schenkels der weiblichen Gejtalt vielleicht um einen halben Zoll weiter 
herausgerücdt und der Knöchel des vechten Fußes höher angejegt wurde. Durch 
die jpäter aufgetragene Fleischfarbe leuchtete an diefen Stellen noch der Grund 
durch, an einer Stelle jah man ſogar ein Blatt von einer Mohnroſe durch- 
icheinen. Makarts künjtlerifche Art ift alfo der diametrale Gegenſatz von Cor— 
nelius oder Kaulbach, aber auch bei den ältern öfterreichifchen Malern wäre 
jo etwas unerhört. Die erjten Farbenſkizzen Mafarts find darum auch ſtets 
ganz unklar, die Farben leuchten jchon, aber der Beichaner weiß mit dem un— 
geitalten Fleifchklumpen nichts anzufangen, er fieht die einzelnen Körper nicht 
deutlich von einander abgegrenzt. Wo daher Mafart die Aufgabe wurde, ftreng 
in den Linien zu jein, fühlte er fich beengt und gefejfelt. Zum Porträtmaler 
war er aber jchon deshalb nicht geichaffen, die Behandlung der womöglich recht 
prächtigen Gewänder ift ihm viel interefjanter al8 der Kopf und die Geitalt. 
Dies trat bejonders auf dem berüchtigten Bildniffe der Sarah Bernhard hervor, 
an dem das Schönjte das Goldbrofatkleid war. Am jchwächiten iſt Mafart in 
jeinen großen Bildern gewefen — wenn man fie nämlich als das anſah, was 
ihre Aufichrift bezeichnete: als Hiftorienbilder. Bon einer Kompofition fann 
man da garnicht reden, beinahe niemals vermag man fich von dem Schauplaße 
der dargeftellten Handlung eine deutliche Vorjtellung zu machen; jeine Hiftorien- 
bilder find nur großartige Maskeraden. Auf allen jeinen großen Gemälden 
jtehen die Perſonen eben nur da, um fich dem Publitum recht günftig zu prä— 
jentiren. Sie wiffen von einander felten etwas, Handlung und Gefühl ift ihnen 
fremd, noch viel mehr Leidenschaft. Seine Gejtalten, namentlich die weiblichen, 
vegetiven jo unschuldig dahin wie die Blumen auf dem Felde. Bisweilen 
wandelt fie wohl auch cin bischen Melancholie an, aber nur, wenn es ihnen 
gut Steht. Was Schmerz ift, wiffen fie garnicht, aber auc, Freude empfinden 
fie nur im einem ſehr mäßigen Grade. Sie lächeln gern, um dabei ihre 
Perlenzähne zeigen zu fünnen. Zweck hat ihr Dafein faft nie. Im herrliche 
Gewänder gehüllt oder in bfumenhafter Naivität alle ihre Neize zur Schau 
ftellend, leben fie umd find ſchön, nur um zu leben und jchön zu fein. An 
einem bijtoriichen Ereignis teilzunehmen oder pathetifch zu werden, wird diejen 
Weſen jehr jauer; mitunter führen fie ihre Rolle mit leidlichem Anjtand durch, 
aber vom Herzen fommts ihnen nicht. Daß die native Schönheit der Makartſchen 





604 Unpolitiſche Briefe aus Wien. 





—— * heitere Sorgloſigkeit, ihre — an Schmuck und Pracht 
typiſche Eigentümlichkeiten der Frauen und Mädchen Wiens ſind, iſt oft geſagt 
worden. Aber die Wienerin iſt doch weit entfernt davon, ein ſolches Traum— 
leben zu führen, ſie liebt leidenſchaftlich und hat auch ſehr energiſche Töne auf 
ihrer Gefühlsſtala gegen das, was ſie nicht liebt, wenn ſie auch gewöhnlich zu 
gutmütig iſt, um wirklich zu haſſen. Das Charakteriſtiſche alſo der Makartſchen 
Figuren, ihre lebensfrohe Lebensloſigkeit iſt nichts Wieneriſches, ſondern aus 
des Künſtlers eigner Natur gefloſſen. 

In den Vorwurf, den die Moraliſten wider Makart erheben zu müſſen 
glaubten, können wir nicht einſtimmen. Frivol war er nicht, Lüſternheit hat 
er nicht gepredigt, und ſein Pinſel hat von der weiblichen Schönheit nicht mehr 
ausgeplaudert, als was die Kunſt des Malers dem Pinſel zu jagen erlaubt, 
ja gebietet. 

Makart hat von dem Zweige der bildenden Künſte, in dem feine Meiſter— 
ichaft lag, eine ganz eigentümliche, man möchte jagen bejcheidne Auffaffung 
gehabt. Seiner Meinung nach hatte die Malerei eigentlich fein Anrecht auf 
eine ganz jelbitändige Pflege, fie jollte der Architektur dienen, ſich mit cinem 
deforativen Effelt begnügen. Schon vor Jahren gab er diefer parador klingenden 
Anficht in einem vertraulichen Gejpräche mit einem jungen Archäologen Aus: 
drud. In feinen leßten Jahren wußte man auch in weitern reifen davon, 
und die Arbeit diefer Jahre galt auch zumeist der praftijchen Eremplififation 
feiner Theorie, die fi etwa mit Richard Wagners Lehre von der Einheit der 
Mufit und Poeſie vergleichen läßt. So wird es begreiflich, warum ſich Mafart 
zulegt jo leidenschaftlich mit Architektur ſelbſt befchäftigte. Was er davon in Die 
Öffentlichkeit gelangen ließ, war freilich befremdend, ja ungeheuerlich, aber es 
waren eben die erjten Verſuche, und befannt ijt ja, daß Kaulbach, als er zuerft 
ein Bild des jugendlichen Mafart jah, ausrief: „Wer dies gemacht hat, wird 
entweder cin Narr oder ein großer Maler.“ Bor den Architekturjkizzen Malarts 
mochte fich wohl manchem ein ähnliches Wort auf die Lippen drängen. Gerade 
zur Deforationskunjt aber — im weiteften Sinne — zeigte er immer bie 
ichönfte Begabung, feiner umter den modernen Künſtlern wußte wie er die 
Schöpfungen verichiedner Kunftgattungen jo harmonisch zu einem Ganzen zu 
vereinigen. Sein Lebenstraum ift eö denn auch gewejen, einmal einen Balaft, 
ein Schaufpielhaus oder ein andres öffentliches Gebäude ganz nad) feinen Ideen 
heritellen und jchmüden zu können. Der Traum ift nicht in Erfüllung ge 
gangen. Aber eine große Gelegenheit hatte er doc), unfern ſtaunenden Bliden 
das ganze Maß feines Könnens zu geben. Es war dies der hiſtoriſche Feſtzug 
im Jahre 1879, den die Stadt Wien zur Feier der filbernen Hochzeit des 
öjterreichiichen Kaiferpaares veranjtaltete. „Die Augenzeugen wußten nicht, 
ſchrieb damals Wilhelm Laufer, follten fie mehr ftaunen über den großartigen 
Entwurf des Ganzen oder über die Sorgfalt, womit jedes Einzelne ausgeftattet 


Unpolitiſche Briefe ı aus Wien. 605 





* bet Ganzen vaffenb eingefügt war; über den Geſchmac ber — 
oder die unendliche Fülle der Gebilde; über die fichere Auswahl des kunſt- und 
fulturgeschichtlich Paffenden und Richtigen oder über die fchöpferiiche Phantafie, 
der ungeſucht taufend Mittel der Allegoric und Symbolif zu gebote ftanden, 
um die gewöhnlichiten Vorrichtungen des handwerklichen Lebens zu adeln und 
Erfindungen unfrer Zeit, wie Eifenbahnen und Dampfichiffe, ftilgerecht in den 
Rahmen des Renaiffancebildes zu faffen; über die Denkkraft, die wie jpielend 
die jchwierigften Mufgaben löfte, oder über die friſche Laune, welche einen Heitern 
Schimmer auch über das Trodenfte und Nüchternite ausgoß; über die jachver- 
ſtändige Beherrfchung der verjchiedenartigen menſchlichen Thätigfeiten oder über 
den künſtleriſchen Blid, dem alle Farben und all der bunte Glanz zur herrlichiten 
Geſamtwirkung zujammenftimmten. . . Mehr al3 einmal haben wir aus dem 
Munde bei den Feitzugsarbeiten befchäftigter Handwerker, Techniker, Architekten 
und Bildhauer die Äußerung vernommen, es fei eigentlich jchade, dat Makart 
cin Maler geworden, einen jo richtigen Blick und eine jo fichere Hand befige 
er gerade für ihr eignes Fach. Der große Kleiderkünſtler Worth könnte Makart 
um die Sicherheit und den Geſchmack beneiden, womit er, wenn die Not an 
den Mann geht, ein hiftorisches Frauenkoſtüm zujchneidet oder aber auch ge= 
fegentlich cine moderne Toilette entwirft. Mit einem Drud der Hand verftcht 
er das Haargebäude einer Frau in jchöne Ordnung zu bringen. Er tritt in 
eine Wieſe und ftellt im Nu aus Feldblumen einen Strauß zufammen, wie 
ihm der geübtejte Kunftgärtner nicht Schöner winden könnte. Mit VBerwunderung 
jahen die, die ihm nicht fannten, wie er in den Ichten heißen Vorbereitungs— 
Itunden hier einen Bildhauer, der mit dem Modelliren nicht zurecht fam, in 
der Arbeit ablöfte, dort einem Architekten feine ſteifen Linien verbefferte, danıt 
einem Tapezierer, der bei der Ausſchmückung der TFeitwagen fich feinen Rat 
wußte, aus der Not half.“ 

Hans Canons Driginalität fällt dem Beichauer nicht gleich bei dem erjten 
Blick jo entjchieden ind Auge wie die Mafarts, fie fordert nicht fo laut zu Lob 
oder Tadel auf, fie ift auch jchiwieriger in Worten auszudrüden. In feiner 
Malerei find die verjchiedenartigften überlieferten Elemente eigentümlich ver: 
Ichmolzen. Er gehörte feiner von den großen Schulen an, die im Laufe diejes 
Sahrhunderts in Deutjchland oder Frankreich geblüht haben; verhältnismäßig 
jpät zur Kunft geführt, war er in gawiffen Sinne Autodidaft. Aber von den 
Meistern der Renaiffance, von Rubens und den holländijchen Genremalern hatte 
er mehr gelernt als irgendein Moderner. Aber eine fräftige, finnliche, leiden- 
Ihaftliche Natur, wie er war, hatte er das Gelernte durchaus jelbjtändig ver: 
arbeitet und es fällt auch dem Kenner jehr fchiwer, in feinen Bildern beftimmte 
fremde Einflüfje, die ja gewiß daſind, nachzuweien, man fann nun jagen: hier 
malt er im Stil der Niederländer, dort des Tizian, hier der deutjchen Re— 
naiſſance. Großartig ijt feine BVielfeitigfeit: vereinigte man alle feine Werfe 


006 Unpolitifche Briefe aus Wien. 








in einem Saale, jo würde man faum glauben, daß fie ein und demjelben Pinjel 
entftammen. Kaum daß ihn der eigentümliche Fleiſchton verrät, den die Hände 
fait aller feiner Figuren zeigen. Wenn er hier in der Darjtellung derben, 
üppigen Naturgenuffes, der Freuden des Mahles und der Jagd förmlich zu 
ichwelgen ſcheint, jo weiß er dort einen religiöſen Vorwurf mit der reinjten und 
frömmften Empfindung zu geitalten; während er ums bier durch feine feine 
Charafteriftif ald Porträtmaler zur Bewunderung hinreißt, fejjelt er ung dort 
wieder durch die grandiofe Behandlung eines philofophiichen Themas. So ſchuf 
er während der leiten Jahre die im Stil der alten Niederländer gehaltene 
„Wildprethändlerin,” die prächtige Kohlenſtizze „Ruhe nach der Jagd,“ dann 
aber auch mehr im Geifte deutjcher Nenaiffance eine Reihe von Altarbildern, 
die in dem Beſchauer die andächtigite Stimmung hervorzurufen geeignet find; 
er malte fir den Promotionsjaal der theologischen Fakultät vier Bilder, Väter 
der Kirche darjtellend, die in der Behandlung des Infarnats an Rubens’ 
Manier erinnern, in der Charafteriftif aber feinerlet fremden Einfluß verraten. 
Wunderbar prägte fich da auf dem Antlit Caffiodors hehre Ruhe aus, während 
recht im Gegenſatz dazu Benedictus voll leidenjchaftlicher Bewegung jchien: be- 
geiftert fieht er von feinem Buche auf, als ob er einer Stinnme von oben laujchen 
wollte. In Papſt Leo ergriff ung die Hoheit des Greijenalterd gepaart mit 
der erhabenften priefterlichen Würde, in Boetius der fromme Schwärmerfinn, 
dem das Irdiſche ein längft Überwundenes ift. Aber der gewaltigfte Teil feiner 
Arbeitskraft gehörte in den legten Jahren dem großen Dedengemälde, das für 
das neue naturhiftorische Mufeum beitimmt ift: dem „Sreisfauf des Lebens.“ 
Das Bild — es war im legten Frühjahre im Künftlerhaufe ausgejtellt — 
dürfte wohl das größte auf Leinwand gemalte Olbild fein. Die Form ift 
quadratiich. In der Mitte unten beginnt die Handlung: hier ſitzt Kronos mit 
der Sanduhr finnend am Weltenmeer. Nach rechts Hin aufwärts entwidelt fich 
das menschliche Treiben. Ein Mann eriticht da ein großes Seeungeheuer umd 
jtellt fo den Kampf des Menfchen mit den feindlichen Mitbewohnern der Erde 
dar. Weiter hinauf blidend jehen wir, wie Mann und Weib ſich zum Bunde 
finden, dann den Trieb nad) Erwerb perjonifizirt, indem ein Mann haſtig nad 
ansgejchüttetem Golde greift. Ganz oben fchliegen zwei fämpfende Reiter Die 
Darftellung ab. Auf der andern Seite iſt der Niedergang don Natur- und 
Menschenleben gejchildert. Der Blig ſchlägt in eine mächtige Eiche und jpaltet 
fie, der Mann mit dem Golde windet fich auf dem Boden; von da an jtürzt 
nun alles, Männer und Weiber, in wirrem Durcheinander in die Tiefe, wieder 
zu Kronos hinab. Diejes Spiel, das Aufwärtstreben und Abwärtsjtürzen, muß 
man fich endlos wiederholt denfen, die Freisförmige Anordnung der Gruppen 
drängt den Beichauer dazu. In der Mitte, zwiichen den einzelnen Gruppen, 
breitet fich das Meer aus; auf einer Inſel ruht die Sphing, ihre Yöwentage 
auf ein Buch mit fieben Siegeln legend. 


Unpolitifhe Briefe aus Wien. 607 


Das Bild verfehlt beim erjten Anblick nicht des imponirenden Eindrudes, 
die Ausführung ift im ganzen jehr glüdlich. Die markige Kronosfigur ift der 
würdige Ausgangspunkt der Handlung. Auch ſonſt fehlt es nicht an be— 
deutenden Geſtalten. Die Zeihnung it in Anbetracht der Eolojjalen Dimen— 
ſionen jehr forreft. Daß hie und da eine Verkürzung unwaährſcheinlich ausfieht, 
kann nicht Wunder nehmen. In der Behandlung der Muskulatur fühlt man 
Rubens’ Einfluß. Aber die Farbe iſt matt, asfetiich: wollte Canon vielleicht 
den Fresfenton imitiren? Verfehlt ſchien ung die Gejtalt der Sphinx: auf ihrem 
Antlig liegt ein Zug von Najeweisheit, als thue fie fich etwas darauf zu 
gute, allein im Befig der Antwort auf unſre legten Fragen an das Scidjal 
zu fein. 

Aber was nun die ideelle Geftaltung des Stoffes betrifft: ift Canon da 
nicht auf halbem Wege ftehen geblieben? Bon einen Kreislauf des Lebens fann 
man eigentlich doc) mir in Bezug auf das Individuum reden; Geburt, Wachs— 
tum, Verfall und Tod: das ijt der Slreislauf. Bei Menjchengemeinjchuften, bei 
Stämmen und Staaten kann man nur in übertragenem Sinne von einem Kreis— 
lauf reden, infofern als Staaten analoge Erjcheinungen zeigen wie Individuen, 
und man früher auch feinen Anſtoß nahm, von einem Jugend, Mannes- und 
Greijenalter ganzer Völker zu reden. Diejen Kreislauf jcheint Canon zu meinen, 
nicht den, der fich im Gejchiet des Individuums ausjpricht. Er hat aber auch 
auf feinem Gemälde unzulänglich ausgedrücdt, was überhaupt — ob nun bei 
dem Individuum oder bei ganzen Völkern — das Aufwärtsjteigen und was das 
Abwärtsjinfen bewirkt. Allerdings mag der Ehebund als Grundlage aller Ethik 
angejchen werden, dev Drang nach Erwerb ijt die notwendige materielle Grund» 
lage aller Kultur, aber zuletzt ift es doc) die Arbeit, die Individuum und Volk 
hinauf und vorwärts bringt. So Hätte dann auch die Arbeit in ihren ver- 
Ichiednen Repräfentanten auf der rechten Seite des Bildes klar und deutlich zur 
Anſchauung gebracht werden müſſen. Den Höhepunkt der Darjtellung bildet 
der Kampf der beiden gewwappneten Reiter. Ganz recht! Weil ja der Kampf 
des Menschen gegen jeinesgleichen, ob nun mit Schwert und Spieß oder mit 
geistigen Waffen geführt, und der Sieg über feinesgleichen des Menjchen 
höchiter Kampf und höchſter Sieg it, jo konnte er ganz gut dazu dienen, den 
Endpunkt des „Aufwärts“ zu bezeichnen; und weil der Kampf aus jehr unedeln 
Motiven entipringen fann, der Sieg, unedel und unweiſe ausgenüßt, dem Sieger 
jelbjt zum Verderben gereichen kann, jo fonnte er zugleich als der Beginn des 
Niederganges aufgefaßt werden. Aber diefer Niedergang ſelbſt ift von Canon 
ganz unflar dargejtellt: man ficht garnicht ein, warum denn plötzlich Verderben 
und Tod hereinbricht, warum denn auf einmal alles in die Tiefe jtürzt. Und 
doc wäre es Canon gewiß jehr leicht gewejen, hier klar und bedeutungsvoll 
zu jein, hätte er nur feine eignen Gedanken weitergeponnen. Wie das Aufwärts 
des Lebens durch Tüchtigkeit und Tugend bewirft wird, jo das Abwärts durch 





608 Der Streit über die Karolinen. 


Schwäche und Lajter. Canon hätte alfo dem heiligen Ehebunde auf der rechten 
Seite das Bild von Wolluft und Begier auf der linfen, hätte der Erwerbsluſt 
die Habjucht, der Arbeit Trägheit und Schwelgerei, der Wihbegier frevelnde 
Zweifelfucht und Unglauben entgegenftellen fönnen: dann erjt wäre der Kreis— 
lauf des Völferlebens erjchöpfend vorgeführt gewejen. So aber hat ſich Canon 
eine Fülle des herrlichiten Material® dadurch entgehen lafjen, daß er jeinen 
philoſophiſchen Hausgeiſt, den er jo wader heraufbeſchworen, zu früh wieder 
entlafjen hat, anjtatt ihn feitzuhalten und bis ans Ende feiner Arbeit in feinem 
Dienfte zu verwenden; daß er der Phantafie Thür und Thor geöffnet hat, 
bevor der Gedanke mit jeiner Arbeit fertig war. 











Der Streit über die Rarolinen. 


ir ergänzen heute zunächjt unjern neulichen Bericht über dieje Frage 
F Idurch einige geſchichtliche und geographiſche Zuſätze, welche die 
— ſpanuiſchen Anſprüche auf die Karolinen genauer zu beleuchten 
ER y4 geeignet find. Die Entjcheidung Papſt Aleranders des Sechſten 
| yon 1494, die der Krone Spanien alle etwa neu zu entdedenden 
Länder zuſprach, welche 370 Seemeilen wejtlih von den Azoren lägen, fonnte 
nur für die Mächte Geltung behalten, welche den Papſt als Oberhaupt der 
Chriftenheit auch in weltlichen Angelegenheiten anerkannten. Die andern haben 
jenen Ausspruch jtets als nicht vorhanden angejehen. 

Der Umſtand ferner, daß der Führer eines Schiffes ein neues Land ge- 
jehen hatte, begründete jchon in jehr alter Zeit für die Nation desjelben jo wenig 
ein Necht auf den Beſitz dieſes Landes, daß es für erforderlich galt, das Sehen 
durch ſymboliſche Handlungen, Landen, Einjchneiden des Wappens oder des 
Namens des betreffenden Souveräns in einen Baum, Errichtung eines Kreuzes 
oder eines Altar u. dergl. zu ergänzen. Noch jpäter hielt man eine fürmliche 
notarielle Urkunde für nötig zur Sicherung des Beligrechtes. Von dem allen 
it bei der Entdeckung der Karolinen durchaus nichts gejchehen. 

Allmählich genügten auch jolche ſymboliſche Befigergreifungen nicht mehr, 
und es bildete jich der Grundjaß aus, daß ein überjeeisches Land von Ange— 
hörigen einer europäischen Macht bejiedelt und irgendwie benußt jein müſſe, 
wenn es als ihr gehörig betrachtet werden jolle. Hiervon ijt aber, joweit es 
Spanien und die Sarolinen betrifft, erjt vecht feine Nede. Die Spanier haben 





Der Streit über die Karolinen. 609 








Jahrhunderte verjtreichen lafjen, ohne auch nur den Verfuch zu einer Benutzung 
jener Inſeln zu unternehmen, e8 hat dort niemals eine jpanifche Anfievlung ge: 
geben, wohl aber eine Anzahl andrer, die, vor vielen Jahren gegründet, noch 
jetzt beſtehen, und unter denen die deutichen die wichtigften find. Auf Jap haben 
die deutiche Plantagengejellicyaft, die auch auf Bonape eine Station errichtet hat, 
die deutiche Firma Hernsheim u. Komp., der Engläuder O'Keefe und der Ame— 
rifaner Holcombe Faktoreien, die auf den andern bewohnten Injeln der Gruppe 
ihre Vertreter haben, was namentlich von der Blantagengejelichaft gilt. Dieje 
Anfiedler bejchäftigen ſich vorzüglich mit dem Einfauf von „Kopra,“ d. h. Stofos- 
nußfernen zur Bereitung von Ol, und der Einfuhr von eifernen Werkzeugen, 
Tabak, Flinten, Kanonen (für die Häuptlinge, die ihre Burgen damit armiren), 
Blei, Bulver und Zündhütchen. Sie waren bis jetzt feiner Herrichaft unterworfen 
und wurden von den Eingebornen in feiner Weile behelligt, lebten aber unter 
einander in feinen freundlichen Verhältniffen, indem befonders O'Keefe in der 
Berfolgung feiner Intereffen ſehr rüdjichtslos gegen feine Konkurrenten verfuhr 
und eine Art Fauftrecht übte, infolgebeffen fich diefe nah Schu aus Europa 
jehnten. Derjelbe Wunſch erwachte auch unter den Häuptlingen der Eingebornen, 
die ſich von jeher vielfach befehdeten, und im vorigen Jahre baten einige der: 
jelben in Manila um Aufpflanzung der ſpaniſchen Flagge. Der dortige Gou- 
verneur der Philippinen fandte darauf ein fpanisches Kriegsichiff, den „Velasco,“ 
nad den SKarolinen ab, welches Mitte März d. 3. Jap und die Balao-Injeln 
anlief, fich aber auf eine bloße Rekognoſzirung bejchränfte. Unterhandlungen 
mit den Häuptlingen und ein Aufhiffen der jpanijchen Flagge fanden bei diejer 
Gelegenheit nicht jtatt. Später jollte von Manila der Dampfer „Carriedo“ 
nach ben Karolinen und den Palaos abgehen und ihnen in der Perfon des 
Schiffsleutnants Capriles einen Gouverneur bringen. Mit diefem jollten fich 
ein Infanterieleutnant ala Sekretär, 25 Soldaten mit 3 Unteroffizieren und 
25 Sträflinge, meift Bauhandwerfer, jowie 4 Mönche, letztere zu Miſſions— 
zweden, einſchiffen. Mittlerweile aber erjchien das deutjche Kanonenboot „Iltis“ 
an der Küſte von Jap und z0g hier die Flagge des deutjchen Reiches auf. 
Deutſchland hat aljo nach dem Vorhergehenden unzweifelhaft die Hauptbedingungen 
erfüllt, auf die das Befigrecht fi) gründet, e8 hat auf den Karolinen An- 
fiedlungen errichtet, und es hat dort ſymboliſch feitgeftellt, daß e8 von dem 
berrenlojen Lande Befit ergreift und ben Schuß jeiner dort lebenden Ange 
hörigen und zugleich der Eingebornen übernimmt. 

Die päpftliche Entjcheidung von 1497 ijt dem gegenüber null und nichtig. 
Und ebenjowenig Wert hat völferrechtlic die Behauptung der Spanier, bie 
Karolinen ſeien geographiſch und wirtichaftlich ein Zubehör der Philippinen, 
die ihnen freilich unzweifelhaft gehören, aber ebenjo unzweifelhaft zu Afien zu 
rechnen find, während die Karolinen immer zu Mifronejien, aljo zu Auftralien 
gezählt wurden, und zwar aus guten phyfiichen und öfonomijchen Gründen. 

Grenzboten III. 1885. 77 


610 Der Streit über die Karolinen. 

Daneben läßt fich die Frage aufiwerfen, ob es ein Vorteil zunächit für 
unsre in dieſen Meeren und Ländern handeltreibenden Kaufleute, dann für die 
eingeborne Bevölferung jein würde, wenn Spaniens angebliche Recht, dort 
zu berrichen, zur Geltung gelangte, und dieje Frage muß jehr entjchieden ver- 
neint werden; denn die unausbleibliche Folge jolcher Herrichaft würde Störung 
von Schifffahrt umd Handel und unerhörte Beorüdung und Ausbeutung der 
Eingebornen jein. ; 

Daß dies feine aus der Luft gegriffne Behauptung it, zeigt ein Blick auf 
die benachbarten Mariannen, wo das jpaniche Mißregiment thatjächlicy nichts 
als Ruin und Elend herbeigeführt hat, obwohl dieje Iufeln von der Natur reich 
gefegnet find und ihre Bewohner urjprünglich anjtellige und fleiige Menſchen 
waren. Das Klima iſt herrlich, der Boden jehr fruchtbar. Vor etwa zwei 
Sahrzehnten baute man Kopra und Zuder in Menge, und das Volk lebte in 
Glück und Wohlitand. Verſchiedne europäiſche Kaufleute hatten fich hier nicder: 
gelaffen und trieben einen ſchwunghaften Handel und Plantagenbau. Jetzt iſt 
das alles zu grunde gerichtet, und zwar einzig und allein durch das habjüchtige 
und willfürliche Verfahren der ſpaniſchen Beamten, die ihre Poſten nur als 
Gelegenheit auffaffen, fi den Beutel zu füllen. Land und Leute müſſen ihnen 
dabei dienen: fie erheben für ihre Kafje eine Stopfiteuer, zwingen das Volk, 
für ihre Felder und Pflanzungen unentgeltlich zu arbeiten, treiben ihr Vieh in 
die jungen Zuderrohrtriebe, verpachten den Fiſchfang als Monopol, nötigen die 
Eingebornen, ihnen die Kopra um geringen Breis zu überlaffen, und verfaufen 
fie dann wieder um das Dreifache. Auch der Handel mit Lebensmitteln, mit 
denen jich die Walfiichfänger der Südſee hier zu verforgen pflegen, geht nur 
durch die Hände der Gouverneure, die auch hier billig einkaufen und teuer vers 
faufen. Durch diejes Ausjaugungsigitem it das Volk völlig heruntergefommen, 
nur wenige arbeiten mehr, die Pflanzungen find verwildert, die europäiſchen 
Anſiedler haben fich zurücgezogen; denn man verbot ihnen den Handel eben— 
falls, und man ftellte ihnen, als fie mit Arbeitern von den Karolinen Kulturen 
anzulegen begonnen hatten, für den Weiterbetrieb derjelben unerfüllbare Be— 
dingungen, jodaß fie ihre Einrichtungen mit Berluft eingehen lafjen mußten. 
Eine Erhebung der Eingebornen, welche auf dev Hauptinfel Guam ftattfand und 
bei welcher der Gouverneuer getötet wurde, mißlang und wurde hart bejtraft. 
Seitdem hat fi) auch der energijcheren Naturen dumpfe Gleichgiltigfeit be- 
mächtigt, man läßt über fich ergehen, was nicht zu ändern ift, und lebt, jo gut 
oder jo übel ſichs machen läßt, in den Tag hinein. Diefelben Zuftände würden 
rajch eintreten, wenn die Ktarolinen unter ſpaniſche Herrichaft fommen jollten; 
fie würde nichts für ihr Gedeihen thun und alles zulaſſen was dasſelbe 
hindern und auch die vorzugsweile von deutjcher Betriebjamfeit gejchaffenen An- 
fänge dieſes Gedeihens vernichten muß. In wenigen Jahren würden dann bie 
europäischen Faktorcien auf Jap und Ponape eingegangen und die Häfen diejer 


Der Streit über die Karolinen. 611 


Injeln verödet fein. Wir hoffen daher, daß die Karolinen unter deutichen Schuß 
fommen, oder daß der Streit wenigitens mit einem Vertrage endigt, der alle 
ipanischen Meighräuche von diejen Inſeln ausschließt, den deutjchen Sciffern 
und Kaufleuten Sicherheit vor jpanischer Willkür verichafft und die Eingebornen 
vor dem Ruin bewahrt, der den Handel mit ihnen unmöglich machen würde, 
da fie im entgegengejeßten Falle bald nicht mehr erzeugen und zu verfaufen 
haben würden, 

Daran fnüpft ſich nach den neuejten Berichten aus der Südſee eine zweite 
Hoffnung, die nämlich, daß das deutjche Reich bald aud) die Marichallinjeln, 
wo Deutjche ebenfalls Faktoreien angelegt haben, unter jeinen Schuß Stellen 
wird oder jchon geitellt hat, Der Reijende Dr. Stübel jchlug vor etwa Jahres- 
frift vor, man möge ihn auf einem $triegsichiffe im Mat d. $. zunächſt nach 
Neubritannien und von da nach Jap gehen und hierauf über die Marſchall— 
und Gilbertinjeln nach Apıa zurücdfehren laſſen, und iſt dies gejchehen, jo dürfte 
fi das Gerücht einer Befigergreifung der erjteren durch Deutſchland, das vor 
etwa vierschn Tagen in der Prefje auftauchte, beitätigen und bald die Nachricht 
eintreffen, daß auch die Gilbertinjeln in unſern Befig übergegangen find. Beide 
Gruppen hatten bis jegt feinen europäischen Befiger. Das Regiment der Ein- 
gebornen aber war wie auf den Sarolinen ein feudales, d. h. die einzelnen 
Stämme wurden von Häuptlingen beherricht. Schon 1881 machte das deutjche 
Kriegsſchiff „Habicht“ eine längere Rundreiſe durch die Infelgruppe, und im 
vorigen Jahre refognojzirte die „Hyäne“ einige der Eilande. Diej:lben liefern 
für den Handel gleichfalls vorzüglich Kopra. Durch einen Bericht Dr. Stübels 
wiſſen wir, daß die Firma Hernsheim u. Komp. von den weftlichen Inſeln 
diefer Gruppe jeit 1876 folgende „bearbeitet“: Jaluit (die Hauptitation mit 
deutichem Konjulat und SKtohlenlager), Ebon, Namurif, Arna (je eine Faktorei), 
Madichura und Milli (je zwei Faktoreien). Von den öftlichen hat die Firma 
im vorigen Jahre Aur und Moloelap „in Arbeit genommen." Weiterhin 
fommt die deutjche Plantagengejellichaft mit ihren Erwerbungen und neben 
diefer nur noch die engliiche Firma Fenderſon und Mac Farlane in Betracht, 
die ihre Niederlaffung auf der Injel Madichura hat. Die Marjchallinfeln 
haben zujammen (es find dreiunddreißig an der Zahl) eine Bevölkerung von 
etwa 10000 Seelen und produziren jährlich) ungefähr 1400 Tonnen Kopra, 
von denen etwa 1100 auf die beiden deutjchen Häuſer und 300 auf die englüche 
Firma zu rechnen find. 

Der Streit, der fich zwilchen den Kabinetten von Berlin und Madrid über 
den Befig der Karolinen entjponnen bat, ift noch in der Schwebe und wird 
vermutlich, wie Fürſt Bismard für den Fall einer Nichtverftändigung zwiſchen 
den beiden Klabinetten vorgejchlagen hat, durch jchiedsrichterlichen Spruch einer 
dritten Macht beendigt werden, obwohl Spanien dies im voraus abgelehnt zu 
haben jcheint. Auf einen Krieg es anfommen zu laflen, kann nur jpanischer 





612 Der Streit über die Karolinen. 








die deutjche Kriegsmarine der ſpaniſchen überlegen ift, liegt für jeden Kenner 
der Verhältniffe auf der Hand. Der Krieg würde Geld und zwar viel Geld 
fojten, und Spanien ift jest jchon halb banferott. Wenn die deutjche Politik 
in der Sache bisher mit großer Rückſicht vorgegangen iſt, jo iſt fie dabei einzig 
und allein von ihren ſtets friedfertigen Grundfägen und Abfichten geleitet worden 
und nicht von etwaigen Befürchtungen wegen des Ausganges eines Konfliftes 
in Waffen. Ebenſo wenig aber auch aus einem andern Grunde, von welchem 
manche Blätter Kenntnis haben wollten und an welchen man auch in Madrider 
Regierungsfreifen gedacht zu haben jcheint. Wenn man hier auf ein jehr weites 
Entgegenfommen Deutjchlands, auf Erfüllung hochgejpannter Forderungen 
Spaniens hoffte, weil man meinte, Fürſt Bismard fürchte bei ciner andern 
Haltung einen Sieg der jpanifchen Republifaner über die königlichen Parteien 
und eine Verſchmelzung der dann wieder erjtehenden Republif Spanien mit der 
franzöfischen Nachbarrepublif, jo wird der hochoffiziöfe Artifel der „Kölnijchen 
Zeitung“, der eine jolche Fuſion als für uns gleichgiltig bezeichnete, die Herren 
eines andern belehrt haben. Die Redewendungen, nach denen Deutjchland gar 
fein Interefje an dem politischen Schidjale Spaniens hat, nach denen es dem 
deutichen Reiche ganz gleichgiltig fein fann, ob Spanien fich in ein Ubhängigfeits- 
verhältnis zu Frankreich begiebt und nad) denen vom Standpunkte des deutichen 
Interefjes jogar gegen eine vollftändige Fufion der beiden Staaten nichts ein- 
zuwenden fein würde — dieſe Sätze waren offenbar ebenjo für höhere Ne 
gionen bejtimmt wie vor einigen Monaten die parlamentarische Rede des Reichs- 
fanzlers, in der er erklärte, daß das Haus der preußiichen Könige und deutjchen 
Kaiſer in der auswärtigen Politik ſich niemals durch verwandtichaftliche Rück— 
ſichten beſtimmen laffe, jondern hier nur dem Gebote des Landesinterejjes folgen 
fönne. Dieſe Wahrheit wurde jegt dahin erweitert, daß auch freundichaftliche 
Beziehungen zwijchen den Dynaſtien die deutjche Politik nicht beeinflujfen und 
dazu veranlafjen dürften, Schritte zu thun, die nicht zugleich im Jntereſſe des 
preußiichen und deutichen Staates lägen, und wurde damals indireft nach 
London Hingejprochen, jo ging die Erklärung jegt nad; Madrid. Sie lautete 
jegt, wenn man zwilchen den Zeilen las, ungefähr folgendermaßen: Unjer faijer- 
liches Haus iſt mit dem Könige Alfonfo dem Zwölften befreundet und wünſcht 
jelbjtverjtändlich, daß er auf dem ſpaniſchen Throne verbleibe, und daß in 
Spanien die monarchiſche Staatsverfafjung fich erhulte, darf aber diefem Wunſche 
und jenen freundjchaftlichen Gefühlen das deutjche Intereffe nicht unterordnen, 
und wenn ihr glaubt, ihr dürfet darauf bauen, daß die deutjche Politik jener 
Freundſchaft wegen fi) von euch irgendwie mehr bieten laſſen werde, als Die 
Billigfeit verlangt, mehr als unſer Interefje erlaubt, jo gebt ihr euch einem 
Irrtum Hin, jo habt ihr falfch gerechnet. Die Warnung galt Miniftern, welche 
jo zu rechnen jchienen; fie fonnte aber auch an eine andre Adrefje gerichtet 


Der Streit über die Karolinen. 613 
fein, an fpanifche und andre Nepublifaner, die Neigung verrieten, von dem 
Treundfchaftsverhältniffe des Königs in Madrid zum Berliner Hofe Nuten zu 
ziehen, daraufhin gegen Deutjchland die Übermütigen zu fpielen und fo ſich ala 
Batrioten die Volksgunſt zu verjchaffen, jo zur Macht zu gelangen und fich 
damit gegen den „Ulanenoberft“ zu wenden und die Monarchie in Spanien zu 
untergraben, zulegt aber eine Fufion mit der jtammverwandten, auch lateiniſchen 
franzöfischen Nachbarrepublif herbeizuführen. Diejen wurde gejagt, daß Deutſch 
fand einer folchen Verjchmelzung mit fühler Ruhe zujehen würde. Und das 
wäre in der That erlaubt; denn zwei mit einander vereinigt würden in dieſem 
Falle nicht mehr bedeuten ala zwei getrennt neben einander. Eine ſpaniſche 
Republik verjchmolzen mit einer franzöfiichen würde eher eine Schwächung als 
eine Stärkung der leßteren fein, eine Einimpfung von Gebrechen, welche dieje 
nicht oder nur in ſchwachem Maße an fich hat, eine Verbindung von disparaten 
Elementen, welche mit der Phraſe von der Einheit der lateinischen Rafje nicht 
hinwegzuzaubern find. Gewiß ift, daß viele Spanier republifaniiche Tendenzen 
verfolgen, ebenjo gewiß aber auch), daß jehr wenige ſich mit Frankreich vereinigt 
jehen möchten, da fie dann das jchwächere Glied und jomit dem ftärferen 
untergeordnet fein würden. Wir fennen die Eiferjucht der lateinischen Nationen 
aufeinander, wir wiffen, welchem Widerfiande das Beſtreben Napoleons 
des Dritten begegnete, die „Schweiternationen * unter eine Art franzöfiicher 
Hegemonie zu bringen, und wir finden in der Gejchichte diejes und des vorigen 
Jahrhunderts, wie wenig Neigung gerade die Spanier haben, fich von Frankreich 
bevormunden und bemugen zu lafjen. 

Summa und Moral diefer Betrachtung: das deutſche Interefje wird in 
der frage wegen der Karolinen weder der Freundſchaft des Berliner Hofes mit 
dem Madrider, noch der Befürchtung, daß Spanien bei einem Beſtehen der 
Deutjchen auf ihrem Rechte und daraus Hervorgehenden Verluſten Spaniens zur 
Nepublif werden und fich mit Frankreich verjchmelzen werde, zum Opfer ge— 
bracht werden. Wir würden einer Eventualität der legtern Urt mit Ruhe zu: 
jehen können; denn fie würde erſtens Frankreichs Kräfte nicht vermehren und 
zweitens feinen langen Beſtand haben. 

Deutichland wird in der Sadıe fortfahren, Rüdficht zu üben und zu einer 
Berftändigung die Hand zu bieten, denn es ijt in erjter Linie cine friebliche 
Macht. Aber es wird ſich unbilligen Zumutungen nicht fügen. Spanien wird 
mit fich reden laſſen müſſen. Es geht in der Politik nicht mit dem Don Quixote 
und dem Eigenfinn Don Colibrados. Hier haben Recht, Verjtand und Billig: 
feit, nicht der Dünfel von Leuten das Wort, die große Herren geweſen find 
und da3 nicht vergefjen fünnen. Die gejamte öffentlihe Meinung außerhalb 
Spaniens jteht hier auf unjrer Seite, jelbit die franzöfiichen Blätter, joweit 
fie nicht von Gefühlen beherricht und von Phantafie verwirrt find. Dasjelbe 
gilt von der engliſchen Prefje, wie wir bei dem fcheelen Blicken, mit denen man 


614 Hotizen. 


bier die — Rofonialbeftrebungen längere Zeit ** nicht ohne — 
Erſtaunen gewahr wurden, aber gern in unſer Buch eintragen. Fürſt Bismarck 
führte einen diplomatischen Krieg mit dem uns mißgünitigen Miniſterium Glad— 
ftone. Er hat denjelben nicht nach allen jeinen Zielen gewonnen: wir haben 
am Benue und an der Luciabucht nicht erlangt, was wir wünſchten und er— 
jtrebten. Aber wir haben doc, gute Reſultate dabei zu verzeichnen gehabt: wir 
haben im Weiten von Afrifa und im Südojten dieſes Weltteils unjre Flagge 
aufgepflanzt, und wir haben fie in Neuguinea entfaltet, ohne daß England Ein— 
ipruch dagegen erhoben hätte oder uns ſonſt dabei dauernd in den Weg getreten 
wäre. Nun fommt der Streit über die Karolinen. Es wurde in Spanien, 
Frankreich und anderwärts anfangs viel über uns gejchrieen, gehegt und ſonſt 
gelärmt. In England dagegen war die öffentliche Meinung von Beginn an 
— wenige Organe derjelben, der freihändlerijche Manchester Guardian z. B. 
ausgenommen — für unfre Anſprüche, fand die jpantichen zweifelhaft und er— 
flärte das Madrider Säbelraffeln für lächerliche Thorheit. Sollte das nicht 
auch die Meinung der jegigen engliichen Regierung jein? Es iſt Aberglaube, 
wenn man meint, die engliiche Preſſe jet von der Regierung abjolut unbeein- 
flußt. Unter Gladſtone hätte fie ich ohne Zweifel anders verhalten. Wir 
meinen, dieſe Andeutung wird gemügen. 


Notizen. 


Die konfejfionelle Schule in neuer Beleuchtung. Vor jechzehn Jahren 
erſchien die befannte Schrift des Profeſſors Gneift, welche zu zeigen unternahm, 
daß die fogenannte Eonfeffionelle Schule — die katholiſche und die evangeliſche — 
in Preußen nicht zu Recht beftehe, fondern nur auf den Berwaltungsmaßregeln 
der Behörden beruhe; nur die Simultanſchule jei preußiſch. 

Diefe mit viel Geſchick durchgeführte juriftiiche Anficdyt murde von bedeu- 
tenden Männern fehr bald gebilligt, jo von Dove (Kirchenrecht), Hermann Schulze 
Preußiſches Staatsrecht), ©. Meyer (Bermwaltungsrecht), von Juſtizrat von Bar (Staat 
und katholische Kirche) u. a. Sie jhien auch durch den Minifter Falk praktiſch 
in Geltung zu kommen, wenn auch in ſtaatsmänniſch vorſichtiger Form. 

Erſt jetzt wird mit gleichartiger ſtaatsrechtlicher Beweisführung vom Profeſſor 
R. Bierling in Greifswalde den Anſichten Gneiſts entgegengetreten in ſeiner Schrift: 
Die konfeſſionelle Schule in Preußen und ihr Recht; zwei Abhandlungen 
(Gotha, Perthes, 1885). Bierling prüft in der erſten Abhandlung die rechtliche 
Seite, in der zweiten handelt er mehr von dem, was wünjchenswert jcheint, allo 
von der jchulpolitifchen Frage. In beiden Abhandlungen iſt mandes Wertvolle 
für einen größeren Lejerfreis enthalten. Der Berfaffer ift auf feinem Gebiet kon— 
jervativ in jeder Beziehung; den Heißſpornen thut er in feiner Kirchlichkeit noch 


Notizen. 615 











‚ lange fein Genüge, aber er kämpft mit Mai und Einfiht für die Berechtigung 
der gegenwärtigen Fonfeffionellen Staatsfchulen in Preußen und ift geneigt, auch 
auf die höhern Schulen dieſe Schußrede auszudehnen. 

Gneift wollte erweifen, daß die alten kirchlichen Schulen abgeändert jeien 
durh König Friedrih Wilhelm I, denn indem er Schulzwang, Parität der aner- 
fannten Kirchen, Anerkennung der Pflicht des Staates, für den Unterhalt der 
öffentlihen Schulen zu forgen, zur Geltung brachte, bahnte er das Stüd des All: 
gemeinen Landrechts an, das Gneijt für den geſetzlichen Boden der preußifchen 
Schulen hält und das er bis 1840 im allgemeinen aud in der Verwaltung 
wiederfindet, während jpäter wieder zur kirchlichen, Eonfejlionellen Form der Schule 
im Gegenjag zu jener Periode zurüdgegangen worden jei. Aus den Aktenſtücken 
zeigt num Bierling, daß dieje Meinungen Gneiſts nicht der Wirktichfeit entjprechen, 
daß Friedrich der Große und feine Zeit nur fonfejlionelle, d. h. je einer Ron: 
feſſion vom Staate angepaßte Schulen im Auge haben und daß Gneift nur aus ge: 
wiſſen Prinzipien feine eignen Konjequenzen gezogen bat, welde man in jener 
Haffiihen Zeit weit entfernt war, wirklich zu ziehen. Weil die Schulen damals 
fonfejfionell waren, waren fie noch lange nicht firdlich, d. 5. Eigentum und Anner 
der Kirchen wie früher, fondern der Stunt befaß und leitete die Schulen mit Zu— 
ziehung der Seelforger, aud lag darin keineswegs, daß der Religiongunterricht 
allen andern Unterricht abjorbiren ſollte. Auch daß die Schullaft cine gemeine 
Laſt jein joll, entjcheidet nicht®, denn die Kirchenbaulaft wird auch für eine all: 
gemeine Lajt erfiärt. Und was den Schulzwang betrifft, jo glaubte man genug 
gethan zu Haben, wenn man die Kinder der Minorität von dem Religionsunterrichte 
der Schule entband. Es ift unmöglich, wenn man das General-Schulreglement 
von 1763, die „Unweilung” von 1794 und die folgenden Aktenſtücke liejt, jener 
Beit die Simultanſchule unterzufchieben. Kurz, mit der juriftiichen Begründung 
der Simultanſchule in Preußen kann Gneift nicht durchdringen. 

Was Bierling in der zweiten Abhandlung für die ſachlichen Vorzüge der kon— 
feffionellen Boıfs-: und höhern Schule fagt, entfpricht im ganzen den Anfichten der 
freifonfervativen Partei. Er läßt Ausnahmen von dem Normalen zu, wie natürlid). 
Darin wäre er noch weiter gegangen, wenn er nicht Laie in der Pädagogik wäre, 
wenn er 3. DB. über das Weſen der ftarkbejuchten, einklaffigen Vollsſchulen unter: 
richtet wäre. Die andre Frage, aus welchen reifen die Anträge auf Simultani- 
firung von Schulen auszugehen haben, wenn die Behörde auf dieſe Unträge zu 
achten verpflichtet jein joll, läßt fi ohne Beiprehung der lofalen Schulaufſichts— 
förper nicht beantworten. Daß die Zivilgemeinde, auch wenn fie die Schuien be- 
zahlt, noch nicht die Simultanifirung erfordern kann, ift gewiß richtig; aber Die 
richtige Konftruftion des Schulvorſtandes iſt darum doch nicht leicht zu finden. 
Da liegen nocd Aufgaben des künftigen Unterrichtögefeßed. Auch mit dem Herein: 
reichen des Konfejlionellen in andre Gebiete wie in die Geſchichte find wir nicht 
mit dem Herrn Berfafler einverftanden, fondern mit Gneift, wenigftend in höhern 
Schulen. Selbſt wenn die Gejchichte keine Wiſſenſchaft wäre, würde der Staat 
verpflichtet fein, die neuere Gefhichte in einem beftimmten Sinne darftellen zu 
lafjen, wenn es auch beiden Konfeifionen nicht gefiel. Den ultramontanen Satz, 
daß die Staaten fein Gewiſſen haben dürfen, werden wir auch auf dem Schul: 
gebiete energifch befämpfen müjjen. 

Eine „phantaftiihe” Idee. In Weftermanns „Monatsheften" begegneten 
wir vor furzem einem Artikel: „Die Phantafie als joziale Macht,“ in welchem 


616 Notizen. 





der Einfluß beleuchtet wurde, den die Phantafie nit nur auf die Kunft, fondern 
auf unſer ganzes foziales und öffentliches Leben ausübe. Es will und fcheinen, 
als fei hierbei ein Geſichtspunkt vernachläſſigt geblieben, unter dem diefe ganze 
Betrachtung ſich noch bedeutend hätte vertiefen laſſen. 

Jedem unfrer Lejer find gewiß jene an und für ſich weder ungebildeten noch 
urteilsunfähigen, aber gleihwohl für alle etwas weiter reichenden öffentlihen An— 
gelegenheiten total unbrauchbaren Menſchen befannt, die nicht imftande find, das 
Wejentlide vom Unmefentlihen zu unterjcheiden und deshalb alled nad gleichem 
Maßſtabe ald gleich wichtig oder gleich unmwidtig behandeln. Sie wiſſen ganz 
gut, welchen Einfluß dies und jened ausübt, fie jagen fi in ganz verftändiger 
Weife, was zur Erreihung dieſes und was zur Erreichung jened Zweckes gejchehen 
müfje; aber es fommen ihnen immer fo viele untergeordnete und do von ihnen 
gleihmäßig gewürdigte und berüdfichtigte Gefichtspunfte dazwiſchen, daß fie nie 
imftande find, zu einem feften, abjchließenden Urteile, für welches fie nötigenfalls 
aud einmal bis aufs äußerfte einzuftehen willens fein würden, zu kommen. Dieje 
Leute find mir immer fo erjdhienen, als projizire fi) ihnen jeder der Betrachtung 
darbietende Gegenftand wie eine Fläche auf einem gegebenen Hintergrunde, ftatt 
ſich ihn körperlich darzuftellen und dadurch nun auch die Würdigung feiner Tiefe 
herauszufordern. Freilich — die Fläche, d. 5. das Weußerliche von der in Frage 
jtehenden Angelegenheit, bietet fich jedem leidlid) normalen Auge von felbft dar, 
die Tiefe, d. 5. die Beziehung, in der fie zu den großen allgemeinen Fragen fteht, 
muß erjt binzugedacht werden. Und melde Funktion des Geiftes ift es, durch 
weldye wir eine Nebenfrage oder einen untergeordneten Gegenftand über dasjenige 
hinaus, was wir im erjten Augenblide von ihm jehen, in eine der großen Haupt- 
fategorien unferd Denkens einreihen und in unfrer Idee die Bedeutung abmejjen, 
welche diefe Dinge unter dem Geſichtspunkte diefer Gejamtbetrahtung gewinnen? 
oder durch welche wir finden, da diefe oder jene fcheinbar wenig erhebliche Seite 
einer Sade eine gewaltige Tiefe erhält und ſich als ſehr weſentlich darftellt, oder 
umgefehrt, daß eine viel Gejchrei von fi) machende Sache eigentlich doc Feine 
Tiefe hat und in ihren Wirkungen an der Oberfläche haften bleibt? Es ift die 
Phantafie! Mit ihrer Hilfe verleihen wir den Flächenbildern, die in der Welt 
der politifchen, fozialen, wirtſchaftlichen ꝛc. Erſcheinungen unferm Auffaffungsver- 
mögen entgegentreten, einen Körper, wir ftatten fie aus unferm Innern heraus 
mit der dritten Dimenfion, mit der Tiefe, au, und nun erft wifjen wir, was wir 
vor und haben. Wer keine Phantafie befißt, der fieht immer nur das Flächenbild, 
und kommt nie zum Bewußtſein der dreidimenfionalen, d. h. körperlichen, jad- 
lichen Bedeutung, er weiß daher nie, um was es ſich eigentlidy Handelt, kann aljo 
aud) Feine gebührende Stellung dazu nehmen. 

Die Verfuhung liegt nahe, dies noch weiter auszuführen. Man könnte 
jagen, die politiſche Unfähigkeit oder Einfeitigfeit, die auf bloße Abftraftionen oder 
eingelernte Begriffsbeftimmungen hin feitgehaltene Partei-Verbohrtheit vieler Leute 
jei auch auf weiter nichts zurüdzuführen als auf ihre Unfähigkeit, fi) die ent- 
iheidenden Fragen Förperlic zu geftalten und dadurd je nad) ihrer größeren oder 
geringeren Tiefe zu unterfcheiden. Indeſſen für den befcheidenen, flüchtigen Ges 
danken, den Einfender diejed hiermit durch einige Beilen firirt haben möchte, 
würde diefe Erwägung zu ſchwer ausfallen. Denke darüber weiter nad), wer 
Luft Hat. 

Vielleicht ift e8 nur eine Gedankenfpielerei — aber immerhin ift ed ein nicht 
uninterefjanter Gedankengang, der zu dem Mejultat führt, daß ed zur richtigen 


Kiteratur. 617 








Würdigung unfrer größten und jchwierigften, dabei anjcheinend konkreteſten Tages— 
fragen feine wichtigere Geijtesfunktion giebt als — die Phantafie! 


Siteratur. 


Geſchichte des preußiihen Verwaltungsredhtes. Von Conrad Bornhak. Erſter 
Band. Bis zum Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. Berlin, Julius Springer, 1884. 


Es ift eine eigentümliche Erfcheinung, daß der Einfluß von Gneift fich bisher 
mehr auf die legilative Prarid als auf die Theorie erjtrecdtt hat. Keinem Zweifel 
fann es unterliegen, daß Gneiftd große Arbeiten über die englifche Verwaltung 
und feine hieraus gejchöpften Ideen für deren analoge Unwendung auf Grundlage 
de3 deutjchen Rechtes, ſowie feine anregenden Vorträge den erheblichiten Einfluß 
auf die preußifche Verwaltungsgeſetzgebung geübt haben. Jetzt liegt ein Buch vor, 
welches jchon auf den erjten Unblid den Schüler des großen Meifterd verrät. Es 
war eine glüdliche Jdee — und wie beim Ei des Kolumbus erjcheint fie bei ihrer 
Verwirklichung geradezu ſelbſtverſtändlich —, eine Geſchichte des preußiichen Ver— 
waltungsrechtes zu ſchreiben. Denn nicht einem Zufalle iſt es zuzuſchreiben, daß 
die beiden entlegenen Marken des Deutſchtums, die Oſtmark und die Nordmark, ſich 
zu den mächtigſten Staaten deutſcher Kultur (Oeſterreich und Preußen) erhoben 
haben und daß ſich aus der Nordmark durch die kraftvolle und hingebende Leitung 
des hohenzollernſchen Herrſchergeſchlechtes der führende deutſche Staat entwickelt hat. 
Dieſe Entwicklung wird am anſchaulichſten in der Durchforſchung der Rechtsſätze, 
welche den hohenzollernſchen Staat ſeit dem Beginn in allen Zweigen der Ver— 
waltung beherrſcht haben, denn — wie durch dad Verdienſt von Gneiſt jetzt als 
unbeſtritten gelten kann — iſt nicht die geſchriebene Verfaſſung, ſondern die lebendige 
Verwaltung der Schwerpunkt des öffentlichen Rechts.(2) Dieſes bildete ſich in der 
Mark Brandenburg auf den Grundlagen des gemeinen deutſchen Rechts; während 
aber in den reindeutichen Teilen die fürftlihe Gewalt an dem Befiße der Großen 
zerſchellte und ſich jelbft zerfplitterte, blieb das Herrichertum in der Mark vermöge 
der bedrohlichen Lage derjelben nad) außen und innen ein kraftvolles. Daher kommt 
e3 denn, daß Brandenburg und Preußen bis zu dem Großen Kurfürſten in feinem’ 
öffentlichen Recht durchaus von den übrigen deutfchen Territorien Hinfichtlich der 
Grundlagen nicht unterfchieden war, daß für alle Zeiten der grumdlegende Eharafter 
gelichert blieb, der Preußen feinem deutſchen Beruf nicht nur nicht entfremdete, 
jondern dereinft befähigte, die politifche Führerfhaft in dem ganzen Reiche zu über: 
nehmen. Als dann das eigentliche deutfche Reich nur ein Zerrbild feiner urſprüng— 
lien Verfafjung war, bildete fi) in dem preußifchen PBartikularftaate der Keim 
zu dem neuen deutjchen Reiche aus. Die Kämpfe, welche der Große Kurfurſt und 
Friedrich der Große zu beftehen Hatten, find nicht bloß für Preußen, fondern für 
Deutjchland gekämpft worden. Troß dieſer jegt ſicherlich unbeftrittenen Erſcheinung 
liegt die Vergangenheit des preußifchen öffentlichen Rechtes wie ein Buch mit fieben 
Siegeln gejdhloffen vor und. Was Rönne und Schulze in ihren Handbüchern des 
preußifchen Staatsrechtes geben, ift nur eine gedrängte Skizze der Geſchichte. Andre 
Autoren Haben nur einzelne Seiten berührt. Won dem verdienftvollen Werke Iſaak— 
johns über die Gefchichte des preußifchen Beamtentums ift in diefen Blättern ſchon 
die Rede geweſen. Bon der Geſchichte ded Berliner Kammergerichtd, welche — wie 
und befannt — ſchon feit Jahren im Manuffript von Baron, Schaper, Strempff u. a. 
vollendet vorliegt, hört man feit dem Tode des legten Präfidenten nichts mehr ver- 

Grenzboten IIL. 1885. 78 


618 £iteratur, 











lauten. Nur Kühns Arbeit der Gerichtäverfaffung in der Mark liegt ald Bor: 
läufer gedrudt vor. Wir begrüßen daher mit Freuden das Werk Bornhals. Der 
erfte Band unterfcheidet drei Perioden: bis zur Erwerbung der Mark dur die 
Hohenzollern, bis zur Errichtung de3 Geheimen Rats (1604), bis zum Regierungs— 
antritt Friedrih Wilhelms I. In jeder einzelnen Periode find aus den Quellen 
heraus die einzelnen Zweige der obrigfeitlichen Gewalt und die einzelnen Hoheits- 
rechte des Staates ebenfo gründlich wie Far dargeftellt, indem der Verfaſſer aud) 
in diefer Anordnung das von Gneift gegebene Mufter befolgt. Wir erhalten eine 
forgfältige Staatd- und Rechtsgeſchichte der Hohenzollernfhen Monarchie und da= 
durch die Entwidlung des fräftigiten deutſchen Gliedftaated. Die Grundlagen, aus 
denen fi unter Friedrich Wilhelm I. das eigne preußische und dod fo kerndeutſche 
Recht entwideln follte, find in diefem Bande gegeben, und wir wünfchen mit Leb— 
haftigfeit, daß der Verfaffer aud) die andern Bände dem erften baldigft nachfolgen 
(affen möge. 


Tagebucdblätter aus der Krim. Bon Fr. Graf Berg. Neval, Kluge, 1885. 


Der Berfaffer dieſes Buches, feinem Namen nad) ein livländifher Edelmann 
deutjcher Abkunft, ſchildert in ziwanglojen, anſpruchsloſen Tagebuchblättern eine Reife, 
welche er, jedenfalls nad) forgfältigjter literarifcher Vorbereitung, im April und den 
erften Tagen ded Mai 1883 von Dorpat über Moskau, Kursf und Charkow nad) 
der Krim gemadt hat. Sollte der Name und die Sprache des Verfaſſers noch 
einen Zweifel an feiner deutſchen Abkunft übrig laſſen, jo muß das lebhafte Inter: 
effe, mit welchem er und über dad materielle Wohlergehen der deutichen Koloniften 
im jüdweftlichen Rußland, über ihren Weizenbau ohne Düngung, ihre projperivende 
Schafzucht, ihre glüdlichen Bewaldungsverfuche auf dem ſchwarzen Steppenboden 
berichtet, die legten Spuren desſelben tilgen. Auch dürfte das große Plaidoyer 
auf den Schlußfeiten feines Buches für die Vorzüge des Privatbefiged der deutfchen 
Koloniften vor der Woloß, d. i. dem follektiven Grundbeſitz der ruffiihen Bauern, 
wohl nicht allein auf Rechnung feiner Zugehörigkeit zu den jogenannten Liberalen, 
fondern zum Zeil auch auf die Stimme des Blutes zu jeßen fein. 

Jedenfalls Hindert ihn das nicht, den Stolz des echten Ruſſen auf die wunder: 
baren Gegenfäße des Niefenreiched zu empfinden, als er in der Goubernements- 
Hauptitadt der Krim, in Simferopol, angelangt den ragenden Fabrikſchornſtein der 
Moskauer Konfitürenfabrit Uprifofow erblidt, als er von feinem Gaftfreunde mit 
vortrefflihem Krimweine, mit einer Nußtorte aus krimſchen Wallnüfjen, mit krimſchen 
Hepfeln und mit Papyros, die aus in der Krim gewachſenem türkiſchen Tabak ge: 
dreht find, bewirtet wird. Er kann ſich nicht befinnen, als er von Simferopol 
aud „dad arme Sewaftopol” befieht, „alles, was man mit dem Ausdruck italic- 
nifcher Himmel zufammenfaßt, am Mittelmeer jemals fchöner gejehen zu haben.” 
Nachdem er darauf in Baktichifarai, der alten Ehanenftadt der nogaifchen Tataren, 
an dem Hundertjährigen Gedenkfeft dev — doch wohl nit durch Münnich voll: 
zogenen! — Einverleibung der Krim teil genommen bat, hat er die Freude, bei 
Balaklawa, dem bekannten Anferplaß der engliſchen Kriegsschiffe im Krimkriege, 
nad) ber Leere der Steppe und all den Ruinen Sewaftopol3 eine Gegend zu finden, 
wo Land und Klima, Kultur und Arbeit fehr wohl lohnen können. Den Höhe: 
punkt erreicht aber fein patriotifches Entzücen, als er von den Kalkfelſen der Jaila 
auf den jähen Abjturz derjelben zu den unvergleichlich ſchönen Südufern der Krim 
hinblickt. Ihm ift „diefer Blick ungleich großartiger, als all die gewiß ſehr ſchönen 
Stellen bei Cannes und Nizza.“ Mit immer neuem Entzücken beſieht er dann die 


fiteratur. 619 





Hauptorte diefer ruffiihen Riviera, das vielgepriefene Alupla, Orianda, die Sommers 
vefidenz Aleranders des Zweiten, Livadia, Zalta, das frimfche Cannes, und Alutſcha, 
um endlich ſchweren Herzens über Zalta, Baſaraltſchai und Simferopofl in feine 
nordifche Heimat zurüczufehren. 

Wir bemerkten bereits, daß Graf Berg feine Reife ohne Zweifel nad) einer 
allfeitigen Vorbereitung angetreten hat. Aber aud; während derſelben bleibt er 
bei feiner deutfchen Gewifjenhaftigfeit. Ex reitet, wie er fi) felber einmal aus— 
drückt, „nicht mit der Reitpeitfche, fondern mit dem geologifchen Hammer.“ Er 
wird nicht müde, immer don neuem auf die geologischen Eigentümlichfeiten dev 
betreffenden Landftriche aufmerkffam zu machen. Die unſymmetriſche Schwanzflofie 
des Sterlet3, den fein dider Nachbar im Stawjanski-Bafar in Moskau, dem beften 
Hotel Rußlands, mit jo Fihtbarem Wohlgefallen verjpeift, erinnere ihn daran, daß 
die Sterlet3 nachgebliebene Repräfentanten der Urzeit feien. Die beiden Adler, 
die eined Tages in der Krim über feinem Haupte reifen, geben ihm das Stich— 
wort zu einem umfangreichen Vortrage über das Fliegen einiger großen Vögel 
ohne fichtbaren Flügelfchlag. Aber er ift weit entfernt davon, und etwa in ſchul— 
meilterlicher Weiſe die Früchte feines häuslichen Studiums zeigen zu wollen, Mit 
dem jcharfen Blicke des praftifchen LZandwirtes und des weitgereiften Mannes weiß 
er aus jeder Erjcheinung unmittelbar das Eharakteriftiiche herauszufinden. Bor 
allem dürfte in diefer Hinficht zu rühmen fein, was er und auf Grund feiner 
eignen Beobahtungen über den frimfchen Weinbau berichtet. Was dem Krimwein 
bei dem Publikum vor allem jchadet, it nach feiner Meinung der Umstand, daß 
in der Krim eine große Anzahl der verjchiedenften Weingattungen aus Ungarn, 
aus Spanien, dom Ahein und aus Frankreich neben den einheimilchen fultivirt 
und, obgleid) fie nicht gleichzeitig reifen, dennoch zufammen gefeltert werden. Es 
fehlt ferner in der Krim an zuderläffigen großen Weinhandlungen. Wenn diejen 
beiden Uebelftänden abgeholfen und wenn die fchon einmal durch Stedlinge aus 
Frankreich nach der Krim gebrachte Phyllorera dauernd ferngehalten wird, jo fann 
nad Graf Bergs Meinung dem krimfchen Weinbau eine große Zufunft nicht fehlen. 


Vermiſchte Aufjäge von Jvan Sferg. Turgenjew. Aus dem ae übertragen 
von E. S. Mit einer Einleitung von Eugen Zabel. Berlin, Deubner, 1885. 
Die Freunde Turgenjews — und wie zahlreicd find fie in Deutichland, in 

Europa! — haben alle Urfadhe für die Uebertragung diefer teil! Fritifchen, teils 

poetiſchen Aufjäße dankbar zu fein, welche dadurch erjt für und des Ruſſiſchen Un: 

fundige zugänglich geworden find. Die ganze liebenswürdige und geiftuolle Per: 
jünlichkeit tritt in allem entgegen, was fie fchreibt, welches Gebiet ed auch immer 
betreffen mag. Der ganze Turgenjew fpiegelt fi gleichſam in jeder Scherbe von 
ihm. So gleich im erften Auffage über Goethes „Fauſt,“ der noch aus dem Jahre 
1845 ſtammt und eine ruſſiſche Ueberjegung des deutfchen Gedichtes zur Veran— 
laffung hatte. Turgenjews Begeifterung für Goethe ift bekannt; er hat ihr aud) 
unter andern in feiner herrlichen und erjchütternden Novelle „Fauſt“ Ausdrud ge: 
geben. In diefen Eſſay jet er ji mit dem über alle Poeten der Welt hoch— 
geftellten deutfchen Dichter gewifjermaßen auseinander, und wer Turgenjew fennt, 
merkt, daß alle Grundzüge feines eignen Weſens bei diefer Kritik mitvibriren. 

Eharafteriftifch für ihn als ruffishen Künſtler ift feine überfchmwänglicde Huldigung 

vor dem jungen Goethe und dem erften Teile der Tragödie, der ihm „ald ein im 

höchſten Grade geniales Werk, von naiver Wahrheit, von unmittelbarer Einheit 

durchdrungen“ erjcheint, und dem gegenüber jein ungewöhnlich herbes Ablehnen des 


620 £iteratur. 








zweiten Teiles fowie des alten Goethe, des einfamen — und „Egoiſten,“ 
„dent das ganze menſchliche Leben zu einer Allegorie geworden iſt.“ Turgenjew 
ſucht den „Fauſt“ Hiftorifch zu begreifen: er giebt eine Entftchungsgefchichte des: 
jelben aus Goethe Perfon und feiner Epoche heraus; er ftellt beide als Egoiften 
hin, und nennt den „Fauſt“ ein „egoiftifches Werk,” welches der geniale Ausdruck 
feiner Beit und darum wahrhaft groß jei. Er weiſt hin auf die ironische Behand— 
lung des Volkes im „Fauſt“ (Spaziergang, Auerbachs Keller, Szene mit dem Schüler), 
und zeigt, wie weder für Fauſt noch für feine Zeit der moderne Begriff der Gefell- 
Ichaft beftand, von der fie beide im Denken und Thun abftrahirten. Hier liegt der unter: 
fcheidende Punkt, meint er, zwiſchen Mittelalter und Neuzeit. Mephiftopheles ift ihm 
die Verförperung des dverneinenden Elementes in jedem Menſchen: der Reflerion: 
„Te ift unfre Kraft und unfre Schwäde, unfer Berderben und unfre Rettung.“ 
Den Schluß, welchen Goethe mit dem Ende des zweiten Teiles feinem Werke gab, 
acceptirt Zurgenjew nicht: eine thatſächliche Verföhnung findet er jo wenig in 
diefem „Werke der Nomantif wie irgendivo bei Byron. „Die majeftätifche Ge- 
Laffenheit im zweiten Teile — fie ift die wahre endgiltige Verföhnung aller un: 
gelöften Fragen und Zweifel. Demjenigen Menfchen, welchem die Natur die 
Möglichkeit einer folhen Beruhigung a priori verfagt hat, giebt Goethe feinerlei 
Beſcheid.“ Alſo: die Thätigkeit für die Geſamtheit, in welcher Fauſt ſchließlich 
das erjtrebenswerte Biel des Lebens erkannt, die überjieht ev. Uebrigend fprüht 
der Efjay von geijtreichen Bemerkungen. — Aus dem weitern Inhalt des Buches 
ift hervorzuheben die Denfrede auf Puſchkin, zur Enthiillung jeined Denkmals in 
Petersburg am 13. März 1879 gefchrieben; die Vorrede zur ruſſiſchen Ueberſetzung 
von Auerbachs Roman „Das Wirtshaus (ſoll wohl heißen: Landhaus) am Rhein,“ 
die geiftuolle Kritik eines Schaufpiel von Oſtrowsky, in der Turgenjew gegen 
die Heinlich detaillivende, muſiviſche Piychologie in der Dichtung jehr fchlagend zu 
Felde zieht. „Die Ausgrabungen in Pergamon find einem Beſuche derjelben in 
Berlin entfprungen. „Die Feuersbrunft auf dem Meere“ fchildert ein Abenteuer 
aus des Dichter Jugend, das ihn bald ums Leben gebracht hätte. „Won den 
Nahtigallen“ und „Pegaſus“ geben zwei Nachträge zu dem berühmten „Zagebuche 
eined Jägers“: herrlihe Naturfchilderungen; „Pegaſus“ ift ein Denkmal für des 
Dichters fo genannten Hund, der ald wahres Genie feines Gejchlechtes von ihm 
gepriefen wird. 

Die Einleitung von Eugen Zabel hätte ebenfo gut mwegbleiben können; fie 
teilt mit, daß die Aufſätze ans dem erften Bande der ruffifhen Gejamtaußgabe 
genommen feien, jagt aber nicht, ob es alle Aufjäge kritiſcher Art find, welde T. 
binterlaffen hat. Und doc wie wertvoll find literariſche Aufſätze aus der Feder 
eines fo großen Künftler! Nicht bloß durd ihren objektiven Gchalt, ſondern 
auch weil ſie in ſeine eigne —— Theorie Einſicht verſchaffen 




















Mit dem nächften Pefte beginnt dieſe Seitſchrift F 4. Quartal ihres 44. Jahrganges, 
welches dur alle Buchhandlungen und Poftanftalten des In- und Auslandes zu beziehen ift. 

Preis für das Quartal 9 Markt. Wir bitten um fchleunige Aufgabe des neuen 
Abonnements. 

Leipzig, im September 1885. Die Derlagsbandlung. 





Für die Redaktion verantwortlih: Johannes Grunomw in Keipzig. 
Berlag von Fr. Wild. Grunow in Leipig — Drud von Earl Margquart in Leipzig. 


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