Kriminalpsyc
und
psychopatho
Studien
3P
ir
Albert
Schrenck-Notzing
Xibrari?
- of tbe
irinivcreitip of Mteconein
Kriminalpsychologische und Psychopathologische Studien.
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Kriluinalpsychologische
und
Fsychopathologische Studien.
tieMmmelte AnMtce anB den Oebteten
der P8ychüpaUiia st^xiiulis, der is^iM'iclitlieheu Psjchiairie uud
der SuggebtioitBlelire
von
Dr. Freiliei-rii v<mi ScIinMick-Notziii^,
prakt. Arzt iu MlUicbeu.
Leipzig.
V'erlug von Jolianu Ambrosius Barth.
1802.
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Vovwurt.
Die in vorliogentU'iu Baude gesauunoltei) Aiit!)äl/.e behaadoln haupt«
sächlich die gerichtliche B^utacktting und pitychopathologische Genese
solcher zweifelhaften Geisteszustände, durch welche gewisse Mängel und
Liickcii cUt deutsclion StrafrwIitHpÜege (/.. Ii. die Ivriortuljedürlii^^keit
von 51 mnl ITfi des R. Sli .-(i - li.s) dctitlicli •rfkeunzeichnet worden.
Zu den schweheudeit Str^itirageu dieser Art gehören: die forensische
Beurteilung bestimmter Sittlichkeitsdelikte, die gerichtlich medizinische,
noch längst nicht hinreichend {,'owürdigte Bedeutuu;? der Suiiftfestion,
üuwie die überuus wichtige Frage nach der veruiiuderteu Zurechuuugs-
iahigkeit.
Die theoretischen Ausführungen hierüber sind durch zahlreiche
Fälle aus der Kechtspmxis des A'ert'assers gestützt und «lürften tür
das iSmUiuni jener Fruguu ein willkommenes Material darbiuteu.
Zwei ausführlich wiedergegebene Gutachten (»Der Fall Mainone*'
und j.Eine Freisprechung nach dem Tode**) betreffen die Rolle der
tSuggeHtiun, einmal ah Mittel zu einem Silllichkeitsvergeheu au einer
Hypnotisierten, und zweitens in einem Falle Ton Morphinismus.
Einige mehr anhangsweise hinzugefügte kürzere Abhandlungen
steilen /Ji doni JV-rensischen Teil des nuclits in keiner Beziehung; sie
wurden vielmulir iu diese Sammlung autgenuiimien, weil die Ueraui»-
j . -Li by Google
x
VI Vorwort.
gäbe der „Studien" eine passende Oek gotilieit darbot, sie ihrer Ver-
gessenheit aus den betreffenden Faclizeii Schriften m eutreiBeu. Bisher
nicht veröffentlicht ist der Aufsatz über sexuelU Abatineuz.
Mögen die in diesem Buche verölFentlicbten Arbeiten eine freund-
liche, wohlwollende Aufnabtne finden und zu einer befriedigenden
Lösung der heiretVeudeu lorensischen und psjxhülogiacheu Fragen das
Ihrige beitragen!
München, Juli 1902.
Der VerfaKser.
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Inhalt.
Seite
V)>r\v<irt ■ . . . ■ V
I. Hcitriigt' zur fon ii^isflifn Itcurtfiliin^' von Siltlirhkoilsvrrpohoii niil
lifMUuiriN T Hciiicksiohl iuiiiijif »Icr 1*ii|Iio;joik'S(' psyrhoscxucllcr .\iii>-
maliiMt ^ 1
1. Kinlciti tiilo Itt'iix'rkiiii^cii iil>cr lluiiios^xiinlitiil . 1
2. Das Sliaftoclit [.t i scxin'llon l'svchopittliirii 7
H. Zur i'atlto^oiK'si' iirrv rsrr i{ii'lit iiiigoii ilos (ioselih'ehtstiicl)t's 17
4. Kasuistik m
Fall I. Koiit rillt' ScMialeiiipliiHlutijf, Vi-rurtiilniifj eti
Fall If. ()ff<'iillirln' iiiutuollo Onauit- Vcrurt«-il»nt; «u-, 41
K:tll III. Konträre Scxualompfiiidniig. Froi.-<|irfchung . 4(;
Fall ]\'. Exhibition. Sistic-ruiig th'r Auklatfc M
Füll V. Fortgcsptztc Exhibition. Freisprechung' .')7
F'all VI. liarviorle paasivo Algulatfiiit'. t)it'n8tf'ii(la-Hsunt;,
Ufilunp (»})
II. Die Frap<' nach «Icr verinituhrteii Zuncliinititrsfähi^koil, ihre Knt -
wickliinp, ihr g<'gonwiirtiL" I' Si;m.l[nii[ki üihI i ij. ii. I lool>achtunt.'en 76
I. Die Verhandlungen <les Vereins «leutachcr Irrenärzte über
verniiiitlerte Zurechiiungslähigkeit 76
Weitere Meinungsäutjerung<Mi hervorrngentirr i'svciuuter inul
i;> fhislihrer , , , , , , , , , , , , , M
j{. Die l'iir lijc vennindcrle Xurecinniiig^läliigkeil tiauptsiichhcli
in Helradit kouiineinlen Funneu psvchisciier Aiioinalien IMJ
4. Heobachtungen aus der (i<'richlspraxis <l<'8 Wrfassfrs . . . iVA
1 < 'lirotiifieher Alkoholisiuus
LI t.' li I n iii x- ln r A l ku l m li.iiuLi.' 113
III. K|)ileptiache Degeneration t>4
IV. F^pile|ttisch>' Degeneration . . *.>4
V. (iravidität und Hysterie '.>4
VI. Kliinnkterimn mid Hysterie . ^ - i>5
VII. Migraine ophtalnii»pi«- unil Zwangsantriebe \Ky
VIII I..Mi-tili'r Si-lm-!H'hsiiiii , ,
VlJl luhult.
Seit«
IX. Ant.'o])orcncr Selm iK-lisinii %
X. KxhibitioniHimis . 96
Xt, Kxhiliitionisinus . . t>7
XII. 1 ':iiiln[.hilia «Totiea . . 97
Xill. I'iiidophilia crotira . , . 97
XIV. Koiitriir<' Sexualoniplitidtiiitr . . , 98
XV. Koiitriirc Scxiialciiipliiuluri^t 98
5. SehlulUx'iix'rkmipt'ii . . - 99
III l>io K^crichÜiob niotli/inist-ho Hftloutuiit; <i» t- .Sutrg''sti<>ii . . 102
1. Eiüli-iluntf 102
2. Straftiaro Haiulltmt>eii an llv|)ii(>tisi»'i (en KU
'S. V»T>)rfchtii mit Hilf'' 1 1 vpiiol isiottor . 1 10
4. Die Si)t;t^''''>ti«'ii im wucin ii Zn.slaml«^ 114
5. Znsaiiiiiuiifasaiiii^' 124
KrstiT Naflitra;,^ : Kiiiigc W('il«'rc HoimTkiiii^i'ii ühor «iio niiH -
liräiu-liliclii' Anw riuluii^^ iK-m ll>|im>tisriiiis . 1 2<i
Xwt'iltT N'at-hl r,->^^ : I)as aii^'^rlilirlic Siltrn-Iikfilsvcr;;> n <l. > l>i K.
an t iiirm ii\ |iiii>li>i' I tL-ii Kimir 13:"»
1. Sacliilar.sIrlluiiL: ih-s any« srliiilili^'h n Ary.tos l.t.")
2. t iiitaciili'ii des \"<'i-fa.ss> rs . ., 137
|)iill(r Naihliair: ( uilaelitoii iibtr tifii Fall Saiitii 142
IjiUratni- Vcr/iifhiiis , 1 .'M I
IV. n. r Fall M aiiiniu'. Vrrl)rcfli<'r> ^p^cn dif Sit tliohkoit. an i'iiipr
liyiiiiotisicrtcii, vprlunuk-lt vin- dem Srl>\v(ir<>oi icht in K<"iln am
7. lind 8. Mai UX)! , . . \h?t
lat bestand , , lüä
<Mitat-h><Mi des \'rrfass<'is 1;')7
.Sf hl»ililH-m«TkiinL'«'n . 1<>2
V. Kim- Fr^ isprechun); nach dmi 'l'ixlr. (iiitatdit' ii iihor iIpk <iois(fs -
giistand dts am 17. .Mai VfislorboniMi l'i).s<( xpi-ilitoi-s W.
;Su;;''< ricrtin'^^ ( Iihs Mor|ihim>tnan<>ii 1 <'>!'>
VI. I'Ikt sexuell«' Ahstinen/ 174
licol>a( liinny I : l'syelnsche lnipt>l('nx in der Kli< 17(>
Heidiaclitun;; 2: Se.xnelle Hyperäatliesje mit IM-iapisnuKs ainatorins 17<>
\'\\. Hin ( xp( rimenl'lliT und kril iselii r Heit r zur Fia^e d'i- mi^j^;' i von
n< I vornifiiiij.' ciiriiin.skripler- \ iisoinxti'tisi lier \'eriinderiini;t n ai.f
<ler änÜeii n Haut , , , , , LiÜ
Vin. l'l.ei den Voua-Sildal , . 198
IX. Kine (lelmit in der H\[hh>--, . 205
I.
Beiträjs^c zur foreiisisclieiiBeurtoiliiiij^youSittlichkeitfih
yergehen mit besonderer Berücksicbtigiuig der Patlio-
genese psyehosexneller Anomalien.
1.
Einifiitonde Bemerkungen Qlier Homosexualitti
Die lebhafte ErörteruDjEf des sexuellen Prnbloins während des
letzten Jahrzehnts in wissenschaftlichen Arbeiten uiui in den Erzeug-
nisseu der schöueu Literatur erklärt sich durch die zuuehmende Er-
kenntniB des gewaliigeD Einflusses, den die geschlechtlichen Faktoren
Ruf das SedenlebeD ausüben, dessen praktische Bedeutung namentlich
in medizinischer, strafrechtlicher und sozialer Beziehung bereits all-
gemein anerkannt ist
Die durch das Studium der Psychopathologie des
menschlichen Sexuallebens aufgeworfenen Fragen berühren sich
aufs engste mit den Aufgaben der Erziehung und der VererbungslehrCy
mit der Frnnonbewegung und mit gewissen Punkten der Gesetzgebung.
In medizinischer Beziehung kommt neben genauer Diagnose die T^e-
handliiuf? und Heilung sexuell ationual empfindender Personen (mit
HillV- von Psychotherapie, Suggestion) in Betracht. Neuere wissen-
schnt'tlichc Arbeiten haben uns die Ursache, Entwickliin^^.slMiliuguDgen
der sexuellen Psychopathien, sowie die liedeutuug de» Eiullusses, den
die erbliche Anlage einerseits, die Erziehung und die Wahruehmungeo
des Lebens (das milieu) andererseits, auf die Entstehung der sexuellen
Anomalien ausüben^ kennen gelehrt. Von ihrer Würdigung hängt für
den Kranken die Voraussage des Arztes, ein Teil seines zuktinftigen
Schicksals ab. Wie oft wird ron Ärzten und Richtern heute noch als
v.Sckrenek'Notciüf, stadial. 1
. kj .i^Lo uy Google
9 I. Beitrüge zur forenaiacliea Benrieilaog ron SitUichkeitsrergeheD etc.
Lasterhaftigkeit erklärt, was nur auf Entwicklungsmängel zurückzufiitireD
ist! Ganz bpsondcrs oft findet diese betrübende Tatsache ihre Be-
stätigung vor Gericht, wenn dir Verirrnngfn des sexuellen Trieblebens
XVL t'iiiem Kontlikt mit den gesetzlichen Bestimmungen geführt haben.
Neben der rinfachen Onanie (Selbstbefieckung) kommt dir TonWest-
phal sogeniunite ,.kontr;irf Srxualempfindung" (gesclilechtliche
Liebe eines ilanues zum !iJiuiu, eines Weibes zum Weibe « Homo-
sexualität, sexuelle Inversion, Unuiismus etc.) am liäufigsten Tor. Dw
GeschlechtsverlaDgen solcher Penonen erstreckt sich auf Angehdrige
desselben Geschlechts, wird dabei auch nicht als «idematttrlich em-
pfondenj während der Trieb sum anderen Geschlechte herabgesetzt
oder übeKhanikt nicht vorhanden ist In den meisten Ffillen besteht
Unfähigkeit, den uonnalen Sexual v*<r kehr anssufttbren; es kommt nicht
selten vor, daß konträr sexuelle Männer, ohne vorher geheilt zu sein,
heiraten. In solchen Ehen bleibt, wenn zur Hebung des Leidens nichts
geschieht, mitunter die Frau virgo intacta; Verfasser konnte mehrere
solcher Ehen, die sogar teilweise länger als ein Dezeimium be-
standen, beobachten. Ihrem inneren Wesen nach sind die Homo-
sexuellen ihrem ( lesclilechte je nach der Gradstufe ihrer Erkrankung
entfremdet, ihr Charakter, ihre ganze Lel>ensweise kann weiblich
werden, so daß man von einer weiblichen Seele im männlichen Körper
gesprochen hat. Bei den leichteren Graden ist der Patient in aktiver
Rolle, kann sich tum Sexaalverkehr mit dem Weibe swingea und em-
pfindet den Drang zum eigenen Geschlechte als Verirnmg, oder aber
der homosexuelle Drang tritt überhaupt nar periodisch oiier bei be-
sonderen Veranlassungen (Alkoholgenuß) hervor. Eine weitere Grad-
stufe stellt nach den grundlegenden Forschungen v. K r a f f t - E b i n g ' s *)
auf diesem Gebiet die fiviratio oder Defeminatio dar. Der
Charakter des Kranken, seine Gefühle, seine Neigungen, sind im Sinne
einer weiblich fühlenden Pt-rsiinlielikeit vcrfinflert. Schließlich tuiilt
sich in den scliweren Formen der l'atit nt aueh köri)erlich als AN'eib,
trotz männlicher Geschlecbtsattrilnite. Den Höhepunkt bildet der
Wahn, ein Wi ib zu sein, oder in ein solches verwandelt zu sein.
Einige Beobachter wollen auch in selteneren Fällen eine An-
näherung der Körperform an den weiblichen Typus festgestellt haben
(breite Hüften, runde Formen, reichliche Fettentwickinng, fehlende
oder spKrliche Bartentwicklung, weibliche Gesichtszüge, feiner Teint,
Fistelstimme); es soll sogar beim Manne weibliche Bmstbildung mit
Uilchentwicklung vorgekommen sein. Von sonstigen krankhaften Sym-
1) T. Krafft-Ebincr: Psychopathia »exuilis. 10. Aufl. 1899.
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I. Beiträg« sur forensbeliea Bearteifaing tob SittlichkeitiTergeh«n ete. 3
toroen sind boi diesen Patieuten beinprkeTi5?wert: A'orzeitigea (zu frühes)
Riwaclu-n dt-s Gesuhleclitstriehps. aiionnai«' Stärke de«? Triebes lOnauie).
schwärmerische Exaltatiou, irest lilechiliche Uhcrerregbarkcit, Entartungs-
zeichen. Zeichen nervöser Eikraiikun?( Neurasthenie. H vsterie. Hiiilepsie),
psychische Auoiaalien, Schwachsiuu, moiHÜsches Irresein, Zeichen erb-
licher Belutung.
Diese TJnglücklicben sind oft bestrebt^ das Weib nachzuabmen,
zeigen sieb lanoiscb, feige, Ueinlich, und Tereioigen in sieb alle Mängel
des Weibes, ebne dessen Vorzüge, und obne irgend welcbe sympathischen
Eigenschaften des männlichen Charakters. Aber neben dem Defekt
der ethischen Leistungen stellt oft eine «^läu/ende ^seifige Begabang
in vdssenschafüicher oder kttnslienscher Beziehung; so finden wir
homosexuell empfindende Personen in den hervorragendsten, verant-
wnrtliclisten Stolltnig:^?), — als regierende Häupter. Staaismünner. als
Zierden der Ivuiist und Wissrnschatl : wir treffen Spuren der konträren
Sexualemptiiidung last iu allen Zeitaltern der Geschichte, sowie in allen
grüiiereu Zweigen des Meuscheugeschleehi«. sowohl bei den Indianern
Amerikas, wie bei den Eskimos in Alaska, bei den alten Helleneu, wie
im modernen Europa au. Wir begegnen den bomosencUen Praktiken
aber auch in der Tierwelt, und es seheint, als ob dieser tief im MeDSchen
liegende Hang zur Variation im sexuellen Verkehr ähnlich verbreitet
und ebenso unzertrennbar von den perversen Äußerungen lebhaften
geschlechtlichen Fühlens sei, wie die Prostitation.
Die Schule Krafft-Ebing's geht mit diesem hervorragenden
Forscher in der Betonung des erblichen Faktors für das Zu-
standekommen der fraglichen Anomalie bis zur Annahme piner bereits
im Embrvo vorgebildeten weiblichen Geschlechtsaulage im Manne, und
einer männlichen Aidaf,'e im Wi ilie liei der Mehrzahl solcher Patienten.
(M'iren die Hichti|.'krit dieser Aut'stelhing spricht dii- .MJitjjlichkeit, dali
mit Hille von Suggesiion ') «-ulclio Kr.inken dauernd geheilt resp. er-
heblieh gebessert werden können ; sie sind also heute nicht mehr vor
die Altcruative des Gefäugoisses oder der Irrenanstalt gestellt und
brauchen nicht mehr lebenslänglich als „Enterbte des Ltebesglückes**
Opfer ihrer Zwangsempfindungen zu bleiben, sondern können als nütz-
liche Mitglieder der menschlichen Geeellsehaft Familien begründen und
in zunehmendem Alter auf eine Schar fröhlicher Kinder zurückblicken,
anstatt auf ein verfehltes Dasein, welches ihnen bevorstand, so lange
sie sich für unheilbar hielten. Es ist eine bedaaerliche Tatsache,
1} Vgl. ▼. Schrenrk-Xotziog: Die .Siigpestionsth^tÄpie bei krankhaften
Bncheinangcn des üeschlechtsainoei. Stuttgart iHSfi.
V
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4 L Beiträge sur foreasischeu fieurteUuag^ von Sittlichkcitsrergehen eto.
diiß der durch die Sachlage keineswegs berechtigte Kultus der Homo-
sexualität, welcher beute in ein» Unzahl von literarischen Erzeug-
nissen und Flugschrifben betrieben wird, sich darin gefallt, eine be-
sonders geartete Klasse von Menschen so konstruieren, die mit dem
Recht der Gebart (des angeblichen Angeborenseins ilirer Anomalie)
auch dasjenige homosexueller Befriedigung des Geschlechtstriebes ver-
langt, Ton einer Korrektur dieser Anomalie nichts wissen will und die-
selbe auf Grand jener Erblichkeilstheorie a priori verwirft. Hiergegen
sprechen nun jene vom Verfasser beobachteten Fälle völliger Effemi-
nation. in denen trotz Rn^f-Micbcr schwerer erblicher Belastung d» nn-
noch die Anomalie sn völlig zuriick^edrängf werd<ii koiiute, daß Ehe-
schließung mit Kindersegen und in dcii inzwischen vertiossenen lOJahren
kein Kiicktall in die frühere hoiiiost^xiu lle Lt hensweise erfoljjte. ')
^ach der von LJinet uml Meynert angebahnten und vom Ver-
fasser dieses veiter ausgeführten Theorie kommen homosexuelle Hand-
lungen und Gewohnheiten auch mitunter bei normalen Personen vor
als Ausdruck eines nach ErfUUnug ringenden oder noch nicht genügend
differenzierten Geschlechtstriebes (letzteres bei Kindern Tor und zur
Zeit der Pubertät, Unkenntnis der sexuellen Verbältnisse, Beizhungery
faute de mieux bei Weibermangel, in Internateni auf Kriegszflgen, auf
Schiifen etc.). Sobald aber solchen in ihrem NerTensystem normal an-
gelegten Personen Gelegenheit zu heterosexuellem \ » rkebr geboten
wird, findet die Korrektur statt und da.s fiormnle (lepchlechtsfjofüfil
trägt den Sieg davuii. Anders liegt der Kall, wenn < - Nieh um « rh-
lich prädisponierte Individuen bandelt oder um allmähliche lie\v(iiiiiuiig
des psychüsexuellen Mechanisiuub un inadä<)uate Keize (pewolniheits-
maliige Onanie mit verkehrtem VorstellnngsinhaltJ. Wenn aul dem
Boden angeborener psycho- oder neuropathischer Disposition &ußere
Schädlichkeiten (z. B, Verführung zur Onanie durch Mitschüler, Lehrer,
oder überhaupt Beziehuog der undifferenzierten Organempfitidnngen auf
männliche Personen in irgend welcher Weise) zu einer Assoziation der
äuBeren Wahrnehmung mit dem (durch Zufall) gleichzeitigen körper-
lichen Rilelmis (erste Erektioa. Erregung der Sexualsphärc überhaupt,
erste Ejakulation, Traumpollution) Veraidassung bieten, so k<mnen diese
falschen Ideenverkniipfungen für das spätere ganze Geschlechtsleben
den berrseliendin Kinfltdi «'iner Zwangsempfindung bekommen, dRs
(leachlechtslebeu und damit den ganzen PlinrnktiT pMtlioloL'isrii ver-
ändern und so zur dauernden konträren 8exualemptiuduug führen.
I i V. S c h r (mu- k - X o l z i u j{ : Zur Aotiologte der koutrarca Sexualemptmduog,
Wien, Uül.lor. 18üj.
L Beitragre zur forensiseh«!! Beurteilung tod Sitt]ichkeitsTeiigek«D etc. 5
(Assoziation zweier gleichzeitig gegebenen und in der Folge an einander
gebundenen Bewnßtseinszustilnde oder Wahrnchraungsinlialte.) Daher
ist zur Analyse solcher Fälle iiiüglichst j,'enatier Anfschlul] über alles
notwendig, was solche Patimteu zur Zeit de.-< crsicii Auttretfiis der
sexuellen Errejuinj;^ psyrliisch Ix scliäffisft hat. weküo Sinneseindriicke
von ihnen .t;lf'i»'h/.t.iiif,' aiifgcnonniien wurden. Weitere onaniatische
31anipulatiuiR'U ktmum /ur Bcftbiiguug des krajikhaltea Vorstelluugs-
inhaltes beitragen. So erklärt es sich, warum mitunter Vorstellungen,
welcbe scheinbar gar keine Beziehung xum Geschlechtsleben zeigen,
sexuelle Bedeutung und Betonung bekommen. Der mächtige be-*
stimmende Einfluß des die ersten sexuellen Erregungen begleitenden
Vorstelluogsinhaltes ffir die späteren vita sexualis, und das besonders
hol • rlK'l)1ich degenerativ veranlagten Personen ist in seiner vollen
Bedeutung heute noch nicht anerkannt worden. Somit stellen sich die
meisten jreschlechtliohm Verirruiigfn dar als Produkt ungiinstii^er
üuBrrt r Anbisse bei vorhandener erheblicher oeuropathischer Kon-
stitution üud Labilitiii des Triehlebens.
Die Gesctzc'ebuug über dif Sittlichkeitsdelikte hat im Laufe der
Geschichte ^jiu/. erhebliche Schwaukuhgen durchgemacht. ISie is»t im
wesentlichen jüdisch-christlichen Ursprungs. Das auf die Bibel ge-
sttttzte kanonische Recht *) erblickt in jedem Akte der Wollust, welcher
nicht der naturgemäßen fieischlafsvoUziehung (d. h. lediglich zum
Zwecke der Fortpflanzung) entspricht, ein Verbrechen. Es geht also
weiter wie die weltliche Gesefa^ebung, indem es den naturwidrigen
Beischlaf mit einer Person anderen Qeschlechts, sowie die Onanie l)e-
straft Die Bibel bestraft die Päderastie, die Sodomie, läßt aber
merkwürdigerweise die lesbische Liebe straffrei, genau wie das Reichs-
Strafgesetzbuch.
Die Einseitigkeit und Härtr dieses nr^prüngbcb i^erren ganz be-
stimmte heiilnisclie l^nsitten poriehleteu christlichen und mit den Re-
dürfnisse-n der heuligen Kultur nicht mehr ühereinstiinnienden Meuls
hat beigetragen zur Kückbilduug uud Verkümmerung der psychosexuellea
Funktionen bei einem groi3en Teile des weiblichen Gesehlecht?, zur
Förderung der Selbstbefleckung und Prostitution, sowie der zahlreichen
Verirrungen und Erkrankungen des Sexualtriebes, sowie zur Unter-
schätzung und Hemmung der mit den geschlechtlichen Bedürfnissen
innig verbundenen ethischen und ästhetischen Faktoren, endlich zur
Ausbreitung der Heuchelei und Läge im geschlechtlichen Leben.
Den größten Gegensatz zu der christlichen durch eine Abneigung
1) Weisbrod: Die SittJichkettsrerbrechen vor dem Q««et2e. Berlin 1881.
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Q L B«itiitg« zur foremUich«!! Beurteilung tod Sitfliebkeitavergeheu etc.
gegen das Irdische überhaupt gekennzeichneten Aiiffassunfr bildet das
griechische Ideal! Das Sittliche kleidet sich hier in die Form des
Schönen. In sexueller Bezieliang herrscht große Freiheit, die ge-
schlechtlichen Fragen werden ohne Scheu, wie etwas Wichtige!? und
Katürlichus hehaudelt, seihet die Prustitutiuu hekomoit durcli die hohe
geistige Bildimg der Hetären einen idealen Zug, die Elnabenliebe ist
erlaubt, insofern keine unlattteien oder gewerbemäBigeii Interasen
damit Terknfipft sind* Der Begriff des Wideinatttrliehen im hetero-
sexuellen Verkehr hat nichts Anstößiges. Kurzum, die Geschiehte der
GeachlechtsYerhältnisse im alten Griechenland lehrt, daß' hohe Kuhor
und Sittlichkeit sehr wohl vereinbar ist mit einer natürlichen, freieren,
mehr den Bedürfnissen des menschlichen Wesens entsprechenden Auf-
fiMSung des sexuellen Leliens.
Staat und Gesellscbait, welche große Summen opfern zur Ver-
besserung der Tierrassen, für private Gestüte. A'ichausstellungen, für
die sorgfältige Konservierung antisozialer Individuen, von Verbrechern,
Idiuten und Irren in entsprechenden gut eingerichteten Anstalten,
kümmern sich zwar um di»- unschädlichsten Ahweicliuugeu des Sexual-
triebes, — das wichtige Geschäft der P'oripilanzung, seihst aber, die
Erzeugung der nächsten Generadon, das einzige Ziel des ganzen Ge-
schlechtslebens überlassm sie ganz und gar der Willkür nnd dem Zu-
fall. Der Mensch ist, wie Möbius^) mit Recht betont, bereits im
wesentlichen fertig, wenn er das licht der Welt erblickt; die Er-
ziehung kann nur das Vorhandene fördern oder hemmen. Die staat>
liehen und gesellschaftlichen Einrichtungen erschweren gerade den In-
dividuen in der Blüte der Jugend die Heirat, deren Kinder die besten
Aussichten hätten und zeigen bis jetzt völlige Gleichgültigkeit geged-
über der FortpHanzung von schweren Verbrechern, unheilbar Tuber-
kulösen, von unverbesserlichen Trunkenbolden, von Syphüitischeo,
Geisteskranken etc.
Die durch Lheitragung erhliclu r Krankheiten auf die Nach-
kommenschaft, sowie durch nnheküninierle Erzeuguui: üV)erhnuj)t het vor-
gorufene Verschlechterung der liabäse und Einzelindividuen widerspricht
dem wichtigsten btuallichen Prinzip der Selhsterhaltung.
Demnach wäre es eine notwendige Aufgabe der Gesetzgebung, das
Wohl der kommenden Generation ins Auge zu fassen, anstatt mit der
Bevormundung der Einzelindividuen in sexueller Beziehung auch da»
1) 3J.öl>ius: Über die Veretlelung des ineoschlicheu Geschlecht«. 2seuro-
logiielie Beiträg« . Heft 5, lüm.
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L BeitrKg:« zur forensisehen Beortcilang Ton SittliehkeitsTerg«hen etc. 7
wo kein Schaden für einen Dritten oder dos Alljcremeiawohls daraus
en^■ächst. so weit ym Li lien, wie der luhalt des § 175.
Die Cxcsellschatt seihst müßte durch innere Reformen das Übel
anf ein Miiiiniuni cinznsrhriiidven suclieu. Da?;« crehört aber in erster
Linie Aufgeben des l'rui/.qis der Prüderie und Heuchelei in sexuellen
Dingen, Erleichterung der Eheschließung för normale geschlechtareife
Indinduen, Verhinderung der Verbrecher- und Krankenfortpflausttugy
sowie sweckmäßige Aufklärung und Erziehung Mindeijähriger und Un-
gebildeter, tfan schaffe also eine virkliche sexuelle Erziehnngy leite
den gereiften Geschlechtstrieb durch Gewährung vernünftiger Befriedi-
gnng in ungefährlidke Bahoen, man mache dem physiologischen Lebens-
bedürfnis, der Naturgewalt, die notwendigen Konzessionen, und die
öfFentliche Unzucht mit ihren Provokationen, die zahllosen ansteckenden
Krankheiten, die sich mehrende Zjihl der Sittlichkeitsverbrechen werden
sich in namhafter Weise vermindern , vor allem aber wird der Mastur-
bation und der Riitwirklung des Geschlechtstriebes in perverse Kich-
tttugen der Boden, so zu sagen unter den Füßen weggezogen!
Das Strafrecht bei sexuellen Psychopathien.^)
Der § 175 des Keichsstrafgesetsbuchcs, welcher die widernatürliche
Unzucht, welche zwischen Personen mänulicbon Geschlechts oder von
Menschen mit Tieren bedrängen wird, mit Gefängnis bestraft, ist, ob-
wohl er schon länger das Interesse der psychiatrischen Sachverstandif^en
beschäftigte, neuerdintrs Gegenstand lebhafter Kontroverse geworden
durch dir im Jahre lH*t7 an die ge se tz ge b r n d c u Körper-
sc haften des Deutscheu lieiches gerichtete Pelitiou auf
Abänderung des l?aragraphen. Die Eingabe ist unterzeichnet
▼on 136 Gelehrten, Schriftstellern, Ettnstlem und Ärzten. Sie erfuhr
aber das gleiche Schicksal, wie ihre denselben Zweck rerfolgenden Vor-
g&Dger, und wurde Terworfen. Verfasser hat nun durch seine Untere
schiift die Aufhebung, resp. AbSnderong dieses Paragraphen für
wünschenswert erachtet, ohne sich jedoch mit der Begründung der
Petition ein^eistandea au erklftren.
1) Kap. II, III u. IV wurden zuerst veniflentlicht io dem Archiv für Krimi nal-
aDtbropologie. Leipzig 18^, Bd. I, Heft 1 u. 2.
^ 0«genwSrtig wird eine neue, noch umfiiDgreiehere Petition an den Beiebs-
tag behofs Aufhebung resp. Abänderung dn § 175 vorbereitet: so wünschenswert
«ine aolehe Abänderung auch ericheioen mag, es hat wenig Wahrscheinlichkeit
8 !• Beiträge zur forenüacheD Beurteilang Ton SittUchkeitsTergelieii «te.
Es werden dariu uämlicli Anschauuügcn über das Aiigeboren-
sein der sexuellen Anomalien, über die Entwicklung der
bieexnellen Anlage bei Urniogen als wissenschsflilich nahezn erwiesen
behandelt; ee wird ferner dann behauptet, daß die wissenscbaftlidie
ForschiiDg auBDahmslos die Natürlichkeit der HomoBexnalität
im Sinne Schopenhauer*a bestätigt habe!
Beide Aufstellungen sind unrichtig, worauf Verfasser bei Bttck-
senduDg der Eingabe aufmerksam machte. Die Hypothese «ner patho-
logischen partiellen Entwicklung der dem zur Entwicklung gelangenden
Geschlecht entgegengesetzten Anlage von Centren im Embryo wurde
bereits 20 Jahre vor Chcviilier') und v, Krafft -Ebing*) durch
Ulrichs -^j zur Erklärung der geschleehtüchen Inversion aufgestellt.
Siemerling^) erblickt in der K ra ff t - E hi n g " s c h cn Theorie der
embryonalen B i 86 xu a 1 i t ä t dasselbe, was Magiien mit dem
weiblichen Hirn beim Manne ausgedrückt hat. Dir vom Verfasser*)
schon früher betonte Luverstäudlichkeit der auatomischeu Grundlage
dieser Deutung wird auch von Gramer*) bestätigt. Er findet innen
Widwspmch darin, daß sich ein Centram entwickeln soUe, wo das
Organ (nämlich die vorhandene weibliche Anlage im Manne) ver-
kümmere. Denn nach einem unbestreitbaren pathologisch-anatomischen
Gesetz stehen Organ und Gehirn doch in einem WechselTerh<nis,
Auch darin stimmt die Anschauung Grameres mit der in der ge-
nannten Schrift vom Verfasser geäußerten Auffassung übereiu, daß
der Geschlechtstrieb eine kompliziert zTisammengesetzte Fiiiiktion dar-
stellt — allerdings kein reines ,,Produkt der Vorstellungslätigkeit*' —
für neh, daO bei der großen BeformbedOrftigkeit auch anderer Paragr»pheii gerad*
jener 4} 175 zurrst ahgoänHf-rt werden sollte. Dagecpn ili'uTte bei einer all^M inr'inpn
BcTision (ies KeichsstrafgcscUbuches auch die hier behaudelte Frage ihrer Er-
ledigung entgegen gehen.
1) Gheyalier: rioversiott sezualle. Paris u. Lyon 1888.
2! V. K ralft-£bi ng: Zur Erklärung der konträren SexualempBndnng. Jahr^
bücher für Psychtatric un<l Nervenkrankheiten. XIV. Ifcft 1.
'6) Vergl. V. Sehrenck - 2v otziug: Liieraturzusamnienstellung über die
Paycbologie und Psychopathologie der vita sexnalis. Zeitschr. für Hypn. VII, 1, 8.
4) Si e ui e rl i u L' : K :>suistische Beiträge zur forensischen Psychiatrie. Fest-
schrift aiii;iniich des DOjähr. Bestehens der Prov.-Irren- Anstalt Nietleben. Leipzig,
Vogel, iöy7.
ö) Sehrenek - Notsing: Sin Beitrag zur Ätiologie der kontriven
Sexualempfindung. Wien, Holder, 1806. Elio. Zeit> u. Streitsdirift. Jahrg. 34
Nr. 43 u. 44.
6) Cranicr: Die kontriirr Rf'xnalf^nspfindnnc hi ihren Beziehungen zum § 17Ö
des Strafgesetzbuches. Berliuer kliu. Wücheuschr. iS'r. 43 u. 44, lüdl.
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L Beitrage sor forenutcbeo Beurteilongr von Sittlichkeitsrergehea ete. 9
und nach den bisherigeo Forschuogen nicht ao uiu besonders cerebrales
Centrnm gebunden sei.
Trotz ihrer großen Ausführlichkeit und ihres außerordtuilichen
Quellenreichtums können auch die neuesten Darlegungen MoU's'j in
dieMm Paakte nicht überzeugen. Nach ihm stellt der homoeexuelle
Trieb, wie der heteroseicueile einen sekundären Geschlechtscharakter
dar. Die Reaktionsfähigkeiten anf spezifische Sinnes-
wahrnehmungen B. mit bomosexuellem Inhalt) können nach
o 1 1 ererbt sein und die Richtung des Geschleebtstriebes bestimmen ;
dieselben werden gefördert durch einf J^rhwäche oder Funktionsun-
fähigkeit der heterosexuellen Reaktionsfälngkeit. Das kommt mit
anderen Worten auf das gleiche Ziel hinaus: In der Keim an läge
ist bereits die K n t s c h o i d u n jj; über die Qualität des Ob-
jektos (Männer. W'riljrr;. auf welche das Individuum später z. B. zur
Zeil der- Puberiät geschlechtlich reagieren soll, vorgebildet (luhak-
erfiillte angeborene Triebej. Mit dem gkiclien Rechte könnte auch
die geschlechtliche ^Neigung zu Kindern, Tieren oder leblosen Gegen-
standen präformiert im Embryo vorhanden sein. Jedeoialls ist es eine
offene anch durch Moll 's sorgfältige Studien nicht entschiedene Frage,
ob und inwieweit die Reaktionsfähigkeit der Triebe anf spezifische
äufiere Rene (Objekte) bereits in der Keimanlage präformiert ist Wir
kommen auf diesen Punkt noch im Verlauf der Darstellung zurück. ^
Diese Bemerkungen dürften genügeu, um zu erkeonen, daß die
Eingabe an den Reichstag Fragen als völlig entschieden behandelt hat,
die heute noch von einem großen Teile der Fachgelehrten im entgegen«
gesetzten Sinne aufgefaßt werden und jedenfalls noch offene sind.
Die Be7,iehiiii£r auf ..S c h op e n h a ii e r**, der die .."Nntiirlielikeit der
Homosexualität •• nach di-iii Tenor der Petition behauptrt halji'U soll,
ist /uiü mindesten uuvollsiaudig oder ungenau. Denn Schopenhauer
betrachtet gerade an der Stelle des Citates die Päderastie als einen
irregeleiteten Instinkt.") Sie stellt nach ihm „an sich betrachtet
sich dar als eine nicht bloß widernatürliche, sondern auch im höchsten
Grade widerwärtige und Abscheu erregende Monstrosität, eine Hand»
lung, auf welche allein eine TÖllig perverse, verschrobene und entartete
Mensdiennatur irgend einmal hatte geraten können?*^
In den. genannten Punkten ist also die Begründung der Eingabe
1) Moll: Untersuchungen über die libido lexualis. BerUn 1898.
2) V. Schr<'nok-Notzin|:^: Suf^fgostiotiiitlionipie bei kraakliAften £rBcliei-
nuQgcit (los Cicsohiot'htssiiines. Stiittjjart. Enkc,
3) Schopeu Lauer: 31c'taphvsik di-r ücschlfchtblii-bc. Anhang 18&9.
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10 L Beitrüg« rar foreDBisclien Beurteilung tod Sittlichkeitivergehen etc.
nicht mit den Tatsuclieu in Einklang zu bringen, und bierin lit^gt wohl
aneli der Hauptgrund, warum eine Aiizaid uamhafter Facligenossen,
wir B i 11 s w a n gfir (Jeuai, Forel (Zürich), Siemens (Lauenburg)
die Eiügiiite uicht uuterschrieben haben. ')
Fttr die Reformbedarftigkeit des § 176 dürften andera
Grfl&de schwerer ins Grewicht fallen, als gerade die medinnisclieD.
Zwar l&ßt sich gegen den Nachweis Gramer 's*) und Höchens*),
daß beiscb1afsähDli<die päderastische Akte mitunter auch von gesunden,
weder an erworbener noch angeborener konträrer Sexualempiindung
leidenden i^Iännern ausgeübt werden flntemate, Getangnisse. Weiber-
maugei), nichts einwenden, aber die forensische Praxis zeigt, daß solche
Fälle nur selten zur gerichtlichen ^ • i handlung führen. In der Regel
betriflft dieseüu- erblich belastete, m«'lir oder minder psvchisch defekte
Persniiliflikeiten mit konträrer Sexualeniptindun^ . mit Impuit iiz im
heteroscMU'llcii \"rflcriir. oIhih dali es ficii liif r stets um wirkliche
Gei^^teskraukiieit liaiitleltt.', und ohne daß ihre freie \\ illriisbeatimmung
nach § 51 d. R.-Str.-G.-B.8 in der Hegel deswegen ausgeschlossen
werden müßte. Wie Sommer^) mit Recht bemerkt, kann die mensch-
liche Gesellschaft die ßeherrschung eines endogen perTcrsen
Triebes ebenso verlangen, wie sie die Beherrschung des endogen
allosexuellen Triebes rerUngt, wenn er gegen ein Kind gerichtet ist,
ebenso wie sie fordert, daß die Tielen Antriebe^ fremde Gegeustäude
zu besitzen, unterdrückt werden. Also der Umstand allein,
daß jemand sexuell pervers ist, mächt ihn noch nicht
straffrei. Die Entscheidung über das. was nach den Sittlichkeits-
beuriffen verpönt ist oder nicht, lifgt in dfr (ifVeiit heben Meinung, in
der von itir abhängigen gesetzgebenden Kiirpi ix haft.
So gilt heute in England der rr»itus per an um mit einem
Weibe ebensowohl wie mit einem J^launo als felony und wird mit
10 Jahren Freiheitsstrafe als 3Iiuimum, mit lebeut^langlicher Straf-
arbeit als Maximum bestraft. ^) In Frankreich, Italien, Holland, Bel-
gien und anderen Ländern ist der homosexuelle Verkehr straffrei, in
1) llii scLft'lfi: }5 17.1 diL's R.-St.-U.-B. Die hoinuscxucllo Frugc iuk Urteilo
der Zeitgenosseu. Leipzig 1886.
2) r ra luer: loc. cit.
:i< Hocho: Zur Fni<;e «ior forcustschcii Beurteiluug sexueller VcTgckea.
licurol. C'cDtralbl. J8%. Nr. 2.
4) Sommer: Kriminalpaychologie und Kriminalgosetzgebung. Deutsche Heci.
Ztg. Xr. 79 u. 8D. 1894.
H u V « 1 <> < k • EUis: Das konträre Qeüchlcchtsgcfühl, äbersotzt vonKurella.
Leipzig lim, Ü. 2ö9.
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I. Beiträfre >ar forensischeD BeuHeOung; von SittliehkeiteTergehen ete. H
Deutschland der amor lesbicus, während der let/^toro in Österreich
unter Strafe gestellt ist. Wenn nun auch, wie Hoc he*) mit Recht
hervorhpbt . das Bestehen von Strnt"be?«timmiinireii fiir schwankende
Kiituren flu Moment darsLelli. Avelcher die Krweckuii^' von (lepenvor-
steUungeo im Sinne einer Beherrschung ihrer Impulse eileit htiTt. so läßt
sich doch dagegen einwenden, dali man in jen^n Liiuderu. wu solche
Strafbeiitimmungen nicht existieren, eigentlich von uiuei ,.besoDdersi
gearteten" Klasse voq Menschen, deren soziale Berechtigung sogar
dnreh einen spesiellen Literatnnsweig '-) Terteidtgt wird, ne\ weniger
hört oder merkt. ■ Durch den Makel der Bestrafung, durch schmntzige
Untersuchungen dieser Art wird erst recht die Aufmerksamkeit auf
diese ünglücklichen hingeleitet, ganz abgesehen davon, daß das Un>
glttck, welches durch solche Skandalprozesse Uber manche Familien
gebracht wird, gamicht im Verhältnis steht zn der Bedeutung der be-
treffenden antisozialen Handlungen. Denn eine wirklich endogen sexuell
per\'erse Persönlichkeit ist auch durch Strafe nicht zu bessern. Und
wenn zwei erwachsene niünnliche Individuen an homosexuellen Prak-
tiken ihre Befriedigung finden, so ist das doch eine Privatsache, durch
welche in den meisten FiiUcu kaum fremde Interessen geschädigt
werden, so lange eben die Öffentlichkeit und die Jugend damit ver-
schont bleiben. Daß auch dem Erpressertam und der männlichen
1) II 0 che: lue. cit.
S) Diesen Zweck verfolgt daa zum cntenmal 1899 ersehieoene und heute in
vi< r .ralir^iing«*n rcsp. Binden VOrli^end«' von Dr. Jlirscbfold horiuisgoj{flM.'iie
Jahrl.uch für m xtieü ' Zwischmi^Tuf. n. TM 1 /ühlt 280, B^i TT 48:^, H<1 III 616
Ufld BtL IV 980 Seiten. Alles was irgendwie eine liezi*.'buug /uin sexuellen Problem
bietetf findet man hier mit Quellenangaben gesammelt. Uochiuteressante wissen-
MihaftHclie Abhandlungen *ua der Feder geiatreiefacr Gelehrter, hiatoriache, anthro*
pologisclie, uiedi/inisebc literarische HeitnLf,'e, uusfiihrliche Bo.s[irechungen der
Xiiteratur und bibliographische Xrtti^rri hnb»^n difsfs I "ntcrnohuieri bereits zn einem
WcrtTollen und für den FachniuDii unentbebriichen Hdfsmitlel der Forschung ge-
maeht. Man mag die Lehre do« Angoborenaeina der HomoaejcoAlitit (im Sinne
Krafft-Kbing's) verwerfen, wie sie in den Juhrbächern beinahe dngmatiseh
vertreten wird und mit immer neuen Beweismitf f|n ausgestattet erseheint; mau
mag es als ein Cbaraktcriittikum unserer dekadenten Zeit betrachten, daO eiuv
psychopathologische Spestes Ton Uenadicn bestehend aus wirklichen Degenerierten,
aus Herniaphi riilitrn und pajrdliachen Zwittern eine besondere soziale Anerk<-nnaBg
und Da.*-' iiistn rtH-hti<,'uiip anstrebt, ^nwie frrir r>rt:iiiL.'ian^: ihres mit dem Xatur-
SWeck im Widerspruch stehenden geschlechtlichen irieblebens, »ier riesi)K'en uuer
Bildlkhen Arbeitskraft, der zähen Ausdauer, der geschickten Urgauisation, wie sie
in diesem Unternehmen betätigt sind, wird man die volle Anerkennung nicht
versagen können, um so weniger, als ja auch die Abünderuogsbedttrftigkeit dea
§ 75 von den (iegnern der Vererbungstbeorie zugegeben wird.
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12 i> Beiträge zur forcuviscbeu beurteiluag tod i!>ittliclikeit«verg«h«D etc.
Proatitiition durch den § 176 Vorschub geleistet wird, darüber herrsdit
meines Wissens keine MeinungsTerschiedenheit.
Ebenso wie die Ausführung des pSdenstischen Aktea^ so gehören
auch Sittlicbkeit^Tergeben an Knaben von Seiten wirklicher kontrftr
Sexualer zu den Selteuhdten.*)
Große Schwierigkeiten bietet aber auch die Handhabung
jener Paragraphen in foro sowohl für d< ii Trichter wie für den
Sachverständigen. Denn die beischlalsähnlicheu oder beischlafsartigen
Hatidlnn»efi wiirdon durch reichsjrerichtlieho EntschoiditriEj ym A(]ni-
vaientt'ii ilcr P;i(k'i;(stie. Hier/ii gehört nun die iiiutuclle (Juauie (die
maun«;tii])iHtio inler ?iiu-i nicht, wohl aber die Einlilhrijug des männ-
lichüii Ijliedes in irgend eine Küipcjhühle des rurtiiers oder ein
Reiben des Gliedes am Körper des anderen. -j Schon die auf diese
Weise mögliche Erregung des Geschlechtstriebes ohne Ejakulation
stellt eine strafbare Handlung dar. Der in den meisten Fällen einzige
Zeuge für solche Delikte ist jener PartDer, ohne Rücksicht darauf,
welche Motive ihn bei seiner Tat geleitet haben (Brpressertnm).
Gerade für die Schwierigkeit uud juristische Meinungsverschieden-
heit bei Auslegung des § 175 sind Fall 1 und 3 dit srr Arbeit*) lehl^
reich. Während die Verwerfung der K< vi^ion in Fall 1 von dem
Reichsgericht damit begründet wird, daß schon das beischlafs-
ähnliche Verlan i^iii hei Berührung di"^ miinnlirhpn (-rlicdes mit
einem anderen mäuulichi'ii Körper den Täter strafbar machte, kommt
in Fall 3 das ljf\ndj?«'nfht Miin<*ho)i 1 infolge ganz anderer Anscliuuuug
zur Frrispret Illing' (Icä AugtkiaL'ti n. Denn die Beweisaufnahme ergab,
tlaß der Angeklagte B. sich zwar niil dem entkleideten Dienstknecht
in ein Bett gelegt und mit seinem erigierten Gliede Stöße gegen den
entblößten Bauch des Dienstknechts ausgeführt habe. Das Gericht
erblickte aber hierin weder eine beischlafsähnliche, noch eine beischlafa»
artige Handlung im Sinne des Reich^richts, sondern lediglieh ein
zufälliges Stoßen des erigierten Gliedes auf den Körper des anderen,
und zwar in deutlichen Intervallen, wir sie beim Geschlecht-alct nicht
▼orkommen. Diese zwei Urteile enthalten einen direkten Widerspruch.
Denn welches Motiv veranlaßte den si<-h selbst für konträr sexual und
impotent im heterosexuellen Verkehr erklün lulrn B., den entkleideten
Dienstknecht zu sich ins Bett zu nehmen, da für die Ausübung mutu-
1» T. Krafft'Ebing:: Der kontrXr Sexuale Tor dem Straf richter. 3. Aufl.
Wien und Lv\\m\i 1895.
2 Moll: Kuntriirr Scxiiulcniplindung. 2. Autl. Berlin 18^3. 8, 2ÖÖ. (Zu-
saiumeuütclluug der reichügericbll. £trkeautüii$t'.)
3) Man vergleiche die Kaaniatik weiter unten.
. j . . y Google
I. Beitrüge lur forenshelieD Beurteilung von Sittlichkeitsrcrfehen etc. 13
eller Onanie die Töllige Entkleidung nicht notwendig erschien? Es
kann also weder das beischlafsähnliche Verlangen des B. (Erektion
eines Homosexuellen), noch dio stoHnrtip^p Berührtin;? soines erigierten
Gliedes mit dem entldoiiten KiirjxT d' niidiTtMi be/weitVlt werden.
Damit ist der Tatbestand der reichsgenclitlichen Entscheidung ge-
geben und dennoch erfolgte Freisprechung.
Dieses Beispiel lehrt deutlich, zu welchen üuklarheiteü und
Inkouscqueozeu der § 176 in seiner jetzigen Fassung führen muß.
Y. Krafft- Ebings) findet diese Kechtsflbung auch vom psycho-
logischen Staadpunkt ans ganz unbegreiflich. Denn das strafbare
Homeot könnte doch nur der Dolus, die erreichte und gesuchte Be-
friedigung am Körper der gleichgeschlechtlichen Persönlichkeit dar-
stellen, wobei die Mittel, wie dieser Zweck erreicht wird, erst in zweiter
Linie zu berücksichtigen wärt n.
Während die Beurteilung der Delikte, die unter § 175 fallen, so-
wie die Begriffsbe«;ti!iimi!i!? der als bcisclil:ifsä!inlich oder heiscblafs-
artig aufzufassenden Handluügeu stet-* Saclie der ric h t e r 1 i c lie n
Eittscheiduiifi; sein wird, erscheint für die sachverständige Beurteilung
des ( Jeistts/.Mstandes § 51 des R.-Str.-G.-B. wichtifrer. als 175,
Uersi-lbe lautet: „Kine strafbare Handlung ist nicht vorhanden,
wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in eiuenoL
Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankkafter Störung der
Geistestatigkeit befand,, durch welchen seine freie
Willensbestimmung ausgeschlossen war."
Dabei ist der Ausschluß d«r freien Willensbestimmung nicht im
nll^'emeinen oder für sunstige Handlungen, sondern zu der speziellen
Tat Liemeint. Der Nachweis krankhafter Störung der Geistes tätii^keit
ist beim Vorhandensein echter Psychosen (Paranoia. Paralyse, Epi-
lepsie. Alknhn]i<;mus, Dementia senilis etc.) oder schwerer Formen
j?*Mstiger Schwächezustände unschwer zu führen. Zu Meinunfjsver-
achiedenheiten zwischen den Sacliverstäiuli^^en unter sich und mit dem
Richter geben sehr leicht solche sexuellen Dehkte. div in Zustünden
zweifelhafter Zurech nungsfähigkeit von scheinbar normalen
Personen begangen werden, Veranlassung. Und in der Tat bietet die
Fassung des § 61 in foro größere Schwierigkeit, als diejenige des
§ 176.
Zunächst ist zu betonen, daß es bei Beurteilung der fraglichen
Handlung, sobald diese das Produkt einer sexuetten Triebanoroalie
darstellt) gar nicht darauf ankommt, in welcher Weise die sexuelle
1) Erafft-Ebing-: Der Kontraraexuale. ioe. cit.
uiyui^ed by Google
14 X. Beitrage siir foreuisdien fiearteilung vod Sittlichkeitsvergehea etc.
Psychopatliie entstanden ist, z. B. ob die kouträre Sexualempfinduug
angeboren, ob sie auf erblich neuropathischem Boden entstanden oder
lediglich erworben ist. Sondern er tragt os lediglich, ob im Augen-
blicke der Handlung eine Störung der Qeistestätigkeit be«
stand, durch welche die freie Willensbestimmung ausge«
schlössen war. Und wie schon erwähnt wurde, der Nachweis des
endogenen Gharakters der Triebanomalie bietet noch durchaus nicht
das nach § 51 erforderliche Kriterium der Geisteskrankheit; also
sichert Ausführung eines perversen Sexualaktes, wenn dieser auch
durch eine krankhafte Richtung der vita sexualis herbeigeführt würde,
keineswegs die Straflosigkeit. Vielmehr ist zu ermitteln, ob das Indi-
vidnum auf Grund seiner psychischen Or«?anisation üluTliiiupt in der
Lagr war, reclitliclu! und sittliche ( 1 e ;^ e ii v o r s t e 1 1 u u gen
zu Inlden. u(]< r ol» dieselben durcli psycliisc'lic Erkrankung in Ver-
fall kamen oder unwirksam wurden. Auf der audtreu Seite
ist die St&rke der Antriebci die Bestimmbarkeit des
Trieblebens durch äußere Reise, efentuell ein impulsives
Auftreten der Triebe zu berücksichtigen neben der psycho- oder
neuropathischen Grundlage und dem Bestehen sonstiger Zwangssmstände
oder Abweichungen vom geistig normalen.
So dürfte in manchen Fällen der Nachwois der Unwider-
stehlich k e i t des Triebes bei einer psychopathischen Grundlage nach
§ 51 zur Freisprechung führen.
MolP) kommt in seiner erschöpfenden Darlegung dieses Punktes
zu dem ScldnB, daß auf Grund di-s !? 51 wohl nur in selten» ii Füllen
bei sexuellen Akten ein vollkomnu iier Strafanssrhlnl? InTechtif^t sei,
während das Bestehen einer Perversiuu stiafmilderml ins Gewicht falle.
Meist handelt es sich um eine allerdmgs durch die krankhafte
sezuelie Triebrichtung beeinträchtigte Willensfreiheit, und
es ist die Aufgabe des Sachverständigen, den Grad dieser Beein-
trächtigung genau festzustellen. Da das Gesetz nur den vollen
Ausschluß der Willensfreiheit anerkennt, nicht aber eine
Torminderte Zurechnungsfähigkeit, so tut der vor die
Alternative gestellte Sachverstandige gut, den Grad der Willensbe-
schräukung schätzungsweise in Prozenten auszudrücken. Sprechen
B, mehr Argumente für die Willensfreiheit, und lassen sich dennoch
Momente aufweisen, die zeigen, daß der Täter nirlit völlig impulsiv
handelte, sn künute das etwa z. B. durch das Veili.iltnis von 70
ausgedrückt werden. Bei einer solchen Ausdrucksweise bleibt es ganz
1) Holl: LibiUu sexualis. Berlin 1898. S. aiö.
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I. Beitriig« «ir fersttriMheD B«irteiliittff von 8ittlidikni«veygaili«ii «tc. 15
dem Ermessen des Biditers überlassen, ob er die hochgradige Willens-
eiuscbränkung der völligen Willenlosigkoit gleichstellen will. Der be-
griff des Krankhaften kann übrigens z. £. durch das Bestehen der
„konträren Sexualempfindung" alhn'n ^epreben sein, ohne daß andere
Symptome eines krankhaften XtTvpii- oder GeisteHznstnndes iiaclizu-
weisen siiul. Kin soleh^r Fall dürite allerdings zu den grüßten Aus-
nahmen gehören, wurde aber von Moll u. a. beobachtet.
Andererseits muß der Kausalzusammenhang zwischen der
strafbaren Tat und dem durch krankhafte Störung der
Geistestfttigkeit ausgescbloss^nen Willen beeonden naeli-
gewiesen werden. Ein Konti&seznaler kann ferner dnreli die abnorme
Stärke seines perversen Oescblecbtstriebes — einem psycbisch krank-
haften Vorgang in Bexug auf Inhalt uod Stärke des Triebes — ge-
drängt werden zur homos«cuelIen Befriedigung. ESs bleibt ihm nun
die Wahl, entweder die gesetzlich nicht beanstandete mntuelle Onanie
oder iigend eine strafbare beischlafsähnliche Handlung zu diesem
Zweck vorzunehmen. Wenn nun die inkriminierte Tat auch zweifel-
los ihr Dasein einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit verdankt,
SU beriiitriichtigt sie doch so lange die Willensfreiheit des Angeklagten
nicht, als dieser die freie Entscheidung treffen kanu und triftt über
die Form der ihm adäquaten gesclilechtlichen Befriedigung, Dabei
kann ihm, wie den meisleu konUär Sexualen, die Einsicht in die
eTentnelle Strafbarkeit seines Tuns als Regulativ für seine Handlungs-
weise fordernd zur Seite stehen. Dieser Fall zeigt deutlich, daß die
anormale Stärke eines perversen Antriebes noch nicht straffrei macht,
auch der normale Mensch ist durch abnorme Stärke seines Triebes
allein nicht genötigt» auf illegalem Wege -Befriedigung zu suchen.
Wenn der Richter auch bei den sexuellen Psychopathen leichteren
(Grades dem Gesetze fn len Lauf laßt, so muß ausdrücklich betont
werden, daß in der Regel auch leichtere psychische Störungen, sofern
sie zu jenen Handlungen Veranlassung boten, durch die Strafe
keine Veränderung erleiden.
J^'ür solche Zwischenstufen geistiger Gesundheit und geistiger
Krankheit wäre die Einführung des BegrittVs der verminderten Zu-
rechnuugsfähigkeit sehr zu empfehlen, v. Liszt'j schlügt vor, bei ge-
gebener Geraeingefahrlichkeit des Gegners die Gesellschaft zu sichern
durch Verwahrung des Täters in ärztlich geleiteten An-
atalten. Bfit der Verurteilung zu einer milderen Strafe wäre die
1) r. Li ist: Die strafreehtliehe ZureehnungsßUUgkeit. Bericht für den III.
lateriML Ptychologeakongrelt. Htinehen 1867. 9. 48.
16 L BeitrBge zar fbrensiaehen Beurt«Uttttg von Sittlielikeitiv«rg<di6n
TlhprweisMTif^ an eine Anstalt zu verbinden. Die Vorwahning in der
Anstalt hat voraufzugfhcn ; sie wird auf die Dauer der erkauuten
Strafe aufgerechnet, und zum Strafvollzuge konnnt es nur dann, wenn
vor Ablauf der urteilfmäliitreii Strafdauer Kntlassmig aus der Anstalt
wegen eingetretener Heilung »iatttiudeu sollte.
£in Jahr nacb der ersten VeröfFentUcbung dieser Abhandlung er-
schien das Werk von Professor Dr. F. Waobenfeld, „Homosexnalitilt
imd Strafgesets", ein Beitrag zur üntersuchung der Jleformbedttrftig-
keit des § 175 (Leipzig, Dieterich 1901). Verfasser erörtert, wenn
auch mehr Tom juristischen Standpunkte} eingehend die psjchologiseben
Grundlagen der Kontrasexualität und hSlt die<Theorie der Wiener
Schule durch Cramer, Hoche» Näcke und den Verfasser für widerlegt.
Obwohl aber gerade von den genannten Autoren die Krankhaftigkeit
der Urheber in der erdrückenden Mehrzahl der Vergehen gegen 175
besonders betont werde, so wünscht VV^achrnfold dt nnoeh die Bestrafung
der Täter als Förderung der Sittlichkeit und im Interesse des allge-
meinen Wohls (bei homosexuellen Handlungen beider Geschlechter).
Seine Vorschläge lauten, wie folgt:
„Die widernatürliche Lu/.ucht zwischen l'ersonen gleichen Ge-
sohlechts ist mit Geföngnis zu bestrafen ; auch kann auf Verlust der
bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.
Liegen mildernde Umst&nde vor, kann auf Geldstrafe bis auf 1000
Mark erkannt werden.
Dieselben Strafen treffen denjenigen, weleher andere zur wider-
natürlichen Unzucht verführt hat.**
Gewiß würde die Einführung der Geldstrafe für Fälle mit mildern^
den Umständen einen großen Fortschritt biHlculeu. Indessen wird die
Schwierigkeit in praxi iitn so wetnger beseitigt, uU Wachenfeld mit
dem BegrilV di-r „verminderten Zureclinungsfaln'f^keit" im Stral'r»^("li!
nicht operieren will. Er geht in seiner Auslassung nämlich von der
Voranssi tzuug aus, (hiß die konträre Sexualemptindnng, sobald sie
durch sachverständige Gutachten als Ausfluß eines kraukhafit n Triebes
dargestellt wird, in Gemäßheit des § 51 straflos bleibt. Diese Vor-
aussetzung trifft jedoch nur (Ur sehr wenige und lediglich sehr schwere
Fälle zu; bei der großen Mehrzahl sokher Personen ist zwar eine
mehr oder minder entwickelte krankhafte Anlage nachweisbar, — nicht
aber die ebenfalls von §61 geförderte föllige Aufhebung der freien
Willensbestim m u ng.
Hiernaeh blieben wir auf dem alten Standpunkt, nämlich bei der
zwecklosen Bestrafung psychopathischer Individuen, welche nach einer
kurzen Freiheitsentziehung oder Erlegung der Geldstrafe in kürzester
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I. Beitrage zur förenaisclien Beurteilung toh SittliehkeitsTergehen etc. 17
Frist ihren krankhaften Antrieben von neuem nachgehen ! So ver-
dienstlich die gründliche und utufassende Arbeit WachenfeUrs sein mag,
90 haben dennoch die darin entwickelten Rei'urmvorschläge es nicht
Termocht, die vorhandene und ?od mir aosfübrlich nachgewiesene
Schwierigkeit zu beseitigen.
3.
Zur Pathogenese perverser Richtungen des Geschlechtstriebes.
Besooderes Gewicht für die Beurteilung des § 175 legen einige
Autoren Crrainer'), Hoche') ru*' das Vorkommen homo-
sexueller Handlungen l»ei nt> Finalen Personen, namentlich
im Anschluß au Onanie, au Liöbesverhäitnissc vou Kuabeu zur Puber-
tätszeit, in Internaten etc. Die Tatsache solcher mitunter epidemisch
ansteckender Betätigungen des Geschlechtstriebes ist nirgends in Ab-
rede gestellt und zeigt, daß der perrerse Akt nicht ohne weiteres auf
ein per? erses Empfind«i zorückzuführen ist. Verfiuser hat adion früher
die Wichtigkeit dieses Ponktes besondeiB hetont').
Als Beweis dafilr bezieht Gramer^) sich aaf das klassiiche Alter-
tum. Wenn er aber weiter behauptet» pathologische Verhältnisse hätten
hierbei keine Rolle gespielt, sondern lediglich die Variation in der
Geschlechtsbefriedigung, so findet er sich im Widerspruch mit den
historischen Tatsachen. Wie in dem Kapitel: ^Zur geschlechtlichen
Entwicklung der konträren Sexnal^Mupfindimg im Altertum" des oben
citierten Werkes*) vom Verfasser nachgewiesen wurde, entwickelte sieh
aus der ursprünglich idealen Knabenliebe eben durch se\ucUen Abusus
schließlich vollständige Homosexualität. Die „Patbici*' des Altertums
entsprechen den heutigen Konträrsexuaicu. Die künstlich aufgenötigte
RoUe des Weibes führte zur Untergrabung lainnlichsr Tugenden.
„Später traten erwachsene Männer als Pathioi auf, und es zeigten sieh
nerröse und psychische Afifektionen (Impotenz, Blödsinn). Die „Andro-
gynen" und „Kinaeden'* waren wohlbelcaent und eine beliebte Ziel-
soheibe des Spottes. P a r m e n i d e s ^ i hat geradezu die Absiebt aus-
gesprochen, daß die Fatbici mit der Anlage zu dem Laster geboren
1) Cramer: !*»<•. cit. 2) Hucbe: loc. rit.
3) V. Schre II i-k - N o tzi ug : „Suggcslioustherupie", loc. cit. S. 156.
4) Cramer: loc cit.
5) V. Schreack-Notzin^: Stiß(roätionstb«>rai>io bei krankhaften Erscbei«
nuDgoii d»s Gescbleclitssiiines. Stuttgart, Knkc. 1892.
6) Cael i u s - A u r e I iaii us; de uiorb. acut. c*l chruu. bb. YIL
V. Scbreuck-NotztBg. Stadien. 8
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IB !• Beitrüge zur forensiachen Bourteilang: Toa SittlidikeitiTergehen etc.
werden könnten. Aristoteles') unterscheidet sogar die geborenen
Pathici (neqiVTidrfc) von den durch Gewohnlieit Verführten (i^ €&ovg).
Nach den sehr grüudlir-lien Aiisführungen von Äo se n 1> n u m be-
deutet die %ovüog d-r'Uia niciits anderes als die ..zum Weib machende
Krankheit", d. h. Efifemiuation oder kouträre Sexualenijihndung. Die
geschichtliche Kntwicklung zeigt also, daß diese Krankheit als Folge-
erscheinung homosexueller G ewo lui Ii eiten auftrat uud
schließlidk 2or oharakterologiscben Umwandlung und DegenenitioD ein-
selner Individuen führte.
Was nnn das beatige Vorkommen homosexueller Handlungen bei
normalen Personen betrifft, so lassen sich dieselben Tielfach als Aus-
drack eines nach Erfüllung ringenden noch nicht genügend differen*
zierten oder in der Entwicklung begriffenen Geschlechtstriebes be-
obachte (bei Unkenntnis der sexuellen Verhältnisse oder auch aus
ßeizhunger. faute de mieiix bei Weiberman^el etc.). In; n1]*;emeinpn
ist zwar /u/.iigeben, daß späterer ht'tcrosrxuoller Veri<eiir solche
erotischen Abweichungen korrigiert, aber es kann sehr wohl auch ohne
erbliche Bela.stuiig ciu derartiger homosexueller Verkehr der Ausgangs-
punkt zu konträrer Sexualempfiudung und zur Effemination werden.
Das bestätigen geschichtliche uud klinische Beobachtungen. Je nach
Häufigkeit und Art des sexuellen Verkehrs kennen sich auch als
Folgeerscheinung neoropathische Symptome einstellen.
Nicht nur die homosexuelle Empfiodangswmse, sondern auch alle
möglichen anderen Anomalien des Gesdilechtslebens treten auch ohne
erbliche F^isposition als Produkt der Erwerbung auf. Die Intensität
der äußeren Schädlichkeiten und die vielleicht in auBoren Verhältnissen
liegende Unmöglichkeit rechtzeitiger Korrektur, eventuell
auch die allmähliche Gewöhnung des psychosexuellen Mechanismus an
inadäquate Heize fOnauie) sind im st'ui de, schließlich sogar den Wider-
stand einer normal enii)tindeii(lLn l'ci »nnlichkeit dauernd zu besiegen.
Eine \\- e i te r e Ca r ad stufe p s y c h (j s f x u e 1 1 e r Erkrankungen
umiußt jene Fälle, iu deueu auf dem Boden angeborener psycho-
und neuropatbischer Disposition pathogeue, okkasionelle
Einflösse zur Entwicklung einer krankhaften sexuellen Triebricfatung
Veranlassung geben. Die Entstehungsart dieser Klasse geschlechtlicher
Anomalien ist im wesentlichen die glmche, wie bei den erworbenen
Formen, nur mit dem UnterschiedCi daß bei den letsteren die Intensi-
tät der schädlichen Brziehungseinflüsse das vorherige Bestehen einer
nenropathischen Anlage ersetzt EiodrucksvoUe sinnliche Wahmeh*
1) Aristoteles: Problem IV, m.
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p
1. Beitrüge zur lorenaischen Beurteilung voo SittliilikeitsvergeUeu etc. 19
mungeo oder KörperempfiodangeD sind, wie Friedmaon') gezeigt
hat, liäufig bei viideu Völkern die Ursache fatscli gebildeter Urteile,
aber^ubischer Denkgevohnheiten, ja mituDter ganzer Wahnsystenie.
Solclie lebhaften Eindrücke wirken insofern suggestiv, als sie ohne
Kritik, ohne regelrechten Urteilsprozeß, ohne die Spur einer logischen
Begründung impulsiv mit einer zweiten Vorstellung zu einem maß-
gebenden rrteil verknüpft werden. Diese Suj,"/ es tivassociutioneu
nehmen hücht die Richtnog der persönlichen i^^igenheziehunf,' : Fried-
maitn bezeichnet sie als Primärurteile iui Gtgensat/ /.u den
Reflex in n surteilen. So ist z. B. die Assoziation eines Unglücks-
falles mit eiuer aui'läliigen Wahrnehmung und die daraus sich hildeude
Überzeugung oft nur ein Primärurteil, dessen Entatehmig sieb andi
bei gebildeten cinllsierten Personen mitunter beobachten lißt. Der
innere Zwang zn solchen Beziehnogen ist bei einem nnentwickelten
Geistesleben, z. B. bei Kindern und wilden Völkein etwas ganz ge-
wöhnliches, kann daher bei erUieh disponierten Persönlichkeiten krank-
haft gesteigert sein und zu bleibenden Snggestiveffekten führen. Nicht
die logische Richtigkeit, sondern die eropiri«;che Einübung spielt bei
dieser Art der Vorstellungsverknüpfung die Hauptrolle.
Alti k:p, e t e i gort c Vo rst e 1 1 u n <?st ät i g k ei t . lebhafte
U rga n e in p 1 1 M (i u II g e n , minderwertige Donk kraft be-
günstigen die Tendenz zu solclien I d ee u v e rk u ii p t u n ge n ,
die schließlich ohne Absicht des Subjekts auch gegen den Willen des-
selben sich als Überzeugung uukiräugen können. Die Korrektur
dorcb Beispiel, Autorität, Schule, Erziehung, durch Aufklärung fehlt
noch; und je stärker die Energie ist, mit welcher die Vorstellung auf-
tritt^ um so unmittelbarer gewinnt sie subjektiTO Überzeugung, und um
80 leichter löst sie motorische Impulse aus.
Für den tiefgreifenden Einfluß, den eine einmal geknüpfte Yor-
stellungsrerbindang auf das ganze Verhalten, auf die Zukunft, auf das
geistige und korperlicbe Wohl von Individuen ausüben kann, liefern
die psychische Infektion (z.B. in Kriegen, Panik), die klinische
Beobachtung an Hysterischen, Hypochondern, Neura-
sthenischen, Epileptikern, die Sn cpe s t i on s 1 eli re n. h w.
zahlreiche Beispiele. Wenn z. B. ein Epileptiker Orte meidet, w » er
einmal von Anfällen befallen wurde, auf Grund der Erfahrung, daß
dieselben sich bei Erneuerung desselben Siuneseindruckes wiederholen,
so handelt es Ü6k auch um ein SuggestiTurteO, um die körperliche
1) Fricduiann: Weiteres zur Eutstehuog der WAhoideen und über die
Gtvndlag« de« Urteils. Konatnehir. ffir PeydiiAtrie und Neurologie. 1887,
8»
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20 !• Beiträge zur foreiwiachen Beurteilung von SittUchkeitsreiYehen ete.
ItÜekwirkuDg eines lebhaft reprodaziertea YorstellungsiDhaltes, einer
zwan;2;smäßig sich äußernden, in einem Augenblicke hoher psychischer
Erregung gebildeten Association. Diese assoziativen Verkuüpfunpe?T
als Reaktion auf äußere lelilintte Eindrücke sind also nicht nur,
wie Binet glaubt, bei prädispomerteü Individuen möglich, sondem
ganz besonders charakteristisch für das kindliche Greisteslebeu zur Zeit
des Gebirnwachstumä, sowie für die minder eotwickelte Deuklvrait der
NatnrrSlker; sie sind abw aueh, irie die Qeschichte des Aber-
glaubens die psychologische Analyse von Sympathien und
Antipathien, von Geschmacksrichtungen (x. B. in kflnst-
leriscber Beziehung) und diejenige mancher einseitigen Denk-
gewohnheiten Idirti nicht selten bei gaos normal entwickelten Ge-
hirnen.
Jene Krafft-Ebing ids „psychologische Kräfte^ bezeichneten
Faktoren ersehenen sehr wohl anareichend zur Erkläruuf^ mancher
Erscheinung, die als reines Produkt der Degeneration ungesj)rochen
wird. In diesem Siune la.sspii sich auch die sexuellen Anomalien
großenteils auf primäre Assoziationeu zurlickführen und dadurch zwang-
los erklären. Daher ist hei der Analyse solcher Fälle möglichst ge-
nauer Aufschluß über alles das notwendig, was solche Patienten
zur Zeit des ersten Auftretens der sexuellen Erregungen
psychisch beschäftigt bat, welche Sinneseindrücke Yon
ihnen gleichzeitig aufgenommen wurden. Dem Verfasser
gelang es in der fiberwi^enden Mehrzahl seiner Beobachtung«!, in der
wahllosen maßgebenden Verknüpfung Ton Vorstellungen, die durch za-
fiUlige äußere Umstände entstanden waren, mit den aus dem er^
wachenden (jeschlechtsleben hervorgehenden Bewußtseinsinhalten den
Ausgangspunkt für den von da an herrschenden Inhalt der späteren
Zwangsvorstellun? zu tiudeu. (Assoziation zweier gleichzeitig gegelieneu
und in der Fnl^e aneinander gebundenen Bewußtseioszustäude oder
Wahrnehmun^sinhalte. 1
Schon die Tutiacho der bcxuellen iSpanuüugögetuhle und Stre-
bungen, wie sie durch das Schwellen der Genitalien herrorgerufen
werden, könnte eine psychische Erregung mit sich bringen, sei es, daß
diese nur in einer Steigerung der Vorstellungstatigkeit hostet, sei es,
daß sie eine Stimmuogs&nderung bis zum Affekt (Ejakulation, Pollution,
VVoIluBtgefUhl) erzeugen würde ; in beiden Fällen ist die Neigung zur
Deutung, zur inneren Vcrarheitung dieses Erlebnisses eine besonders
starke. Daher erhält sich die Erinnerung an alle äußeren begleitenden
Umstände in der Regel lebhaft: wenn aber ein zufälliger äußerer Reiz
(körperliche BerühruDg mit lebenden oder leblosen Objekten), also ein
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1. B«itrig« tw foremiMlien B«art«i1uiig von 8itt1ielikeit§T«rg«h0n etc. Sl
rein accideiitielles Momtiiit zur Auslösuug der iiatüilicben Reaktion
beitriifj;t, so ist di«' Beziphuug auf das Objekt für das dem mächtigon
Eindruck kritil 1»- [neisgcgebene kuidliche ^Seelenleben fertig, und es er-
folgt impulsiv diircli innere Is^ötigung die assoziative Verknüpfung der
Objektvorstelliing mit dem sexuellen Bewußtseinsinhalt in der Kichtung
der persönJieli^ Eiganbesleliung. Das falsch gebildeto Urteil der in
Bezug anf den widematttrlicben Infaalt pathologischen AiaoiiatioQ er-
fahrt nun in der Regel aueh naehtrfiglich jahrelaDg keine Eonektnr,
da die Bedentuag des Geschleehtslebens noch unbekannt ist; dagegen
treten die sexuellen Dränge immer wieder auf, korrespondierend mit
der Entwicklung' der Genitalien; sie rufen die Erinnerung an die mit
den Organemptindungen assoziierten Olijektvorstellungen immer wieder
hervor; die eindrucksvolle, von lebhaften Lustgefühlen l)eg]t'itete erst-
malige ^V';1!lnlella^ung drängt zur Wiederholung: dieselbe tindet dann
in der Kegel statt unter Begleitung deraelbcn einmal geknüpften \'or-
stellungsverbinduogen; diese werden willküriicii reproduziert und er-
zeugen schließlich, wenn die Assoziation enger geworden is^ ihrerseits
sexuelle Dränge.
So begleitet der pathologische YoistellungsiDhalt alle sexuellen
Körper?org&nge» sei es die onanistische Manipulationen^ die Traum*
Pollutionen oder die sexuellen Erregungen ohne Befriedigung des
Dranges. Schließlich baut die Phantasie infolge ihrer Neigung xur
Übertreibung und Verallgemeinernng jene Verknü])fungen weiter aus;
durch verstärkende Kebenassoziationen und allmähliche Gewöhnung
kommt endlich eine völlig perverse (Teschmacksrichtnng zU' stände.
Die auch für da'« T\n*'llp rUbiet beschränkte psychische Kraft ist
ganz in Ans])ruch genommeu durch die einseitig determinierte Äußerung
des Geschlechtslebens; deswegen besteht für das an inadäquate Reize
gewöhnte Individuum kein BedUrluis, andere Objekte, z. B. weibliche
Personen f aar Geschlechtsbefriedigung heranzuziehen. Wenn also
schließlich auch die Reaktion auf heterosexuelle Reise, die ja aiemals
Gelegenheit snr fiotwicklnng hatte, auf diese Weise Terschwindet^ so
ist das an sich noch kein Zeichen eines durch Erblichkeit bedingten
Defektes, sondern lediglich die natflrliehe negatire Folgeerscheinung
des vollständig durch die besondere Yorstellungsrichtung in Anspruch
genommenen Geschlechtstriebes.
Auch für die Erwerbung sexueller Anomalien ohne be-
sondere erbliche neuropathische Prädisposition ist, wie überhaupt
auf sexuellem (iebiet. die ganze Anlage und Entwicklung dt-s
Charakters von hoher Bedeutung; G emüt, Ehrgefühl, Scham-
güiuhl, intellektuelle Begabung, Phantasie tätigkeit, die
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22 Beitrige sur forenaiidien BeorteUang von SiUlichkeitsTeigehen etc.
individuelle Wid rs t a udsfä ii ig k eit gcfirniilier äußeren Eia-
drückeu treifu in enge Beziehuug 7Mm Ttieblehtu in Form von
förderüder oder hemmeuder Aktiou. So birgt leb Ii al te, iiber-
wuehernde Phaotatietfttigk«it in Verbinduug mit leichter
Beatimmbarkeit eines tod Natur starken Oescbleokts-
triebes bei mangelhafter erzieherischer Ausbildung regu-
lierender sittlicher Vorstellungen Gefahren für eine normale
Entwicklung der vita sexualis in sich, ohne daß man berechtigt m9sn,
für in solcher Weise entstehende perrerse Kichtungen des geschlech^
liehen Geschmack* s die erbliche fielastung verantwortlicii zu machen.
Und ferner darf die Frage aufgeworfen werden, ob überall da,
wo sich irgend rinc Form der Vererbnng von als dej^enorativ ange-
sprnclieiicn Merkniak'ii tindet, wirklich oitir kausale Beziohunaf der
erblicheu Auhigo zur aiiormaleu Kntwickluiig der vita sexualis Dach-
wei8f»n läßt (post hoc i>t nicht immer propter hoc). ScLließlich sind
wir ja überhaupt das Prüdukt unserer Ascendeuz, an welchem An-
passung und £rdehuDg nur einen bestimmten Teil ändern können.
Die psychopathologische Analyse kann aber diesen Standpunkt
nur insofern anerkennen, als es ihre Aufgabe ist, die EntwicklungS'
tendenzen fOr die einzelnen Funktionen des Gehirnes kennen zu lernen
in ihrem Verhältnis zur äuOeren Anpassung.
Die Reaktion auf die mit den ersten sexuellen Erfahrungen
gleichzeitig oder im scheinbar kausalen Zusammenhange
gemachteu Wahrnehmungen ist nnn erfahrungsgemäß bei erblich
belasteten N e u rop a t h o n eine viel 1 e bh a f t e r e als bei nnrmalen
Individuen. Von den iiathoguomischeu Zeichen der Heredität kdunnen
für perverse Kichtungen di s Sexuallebens besonders in Betracht : eine
gewisse Schwäche im l'rteilen, Assoziieren (erkliirbar
durch mangelhafte Entwicklung der Assoziatiousbahnen) g e r i n e i u -
tellektuelle Begabung, Stimmungsauomalien, Neigung
zu lebhaften Geftthlsbetonungen und Affekten, zu im-
pulsiven Bandlungen, leicht erregbare Vorstellungs-
tätigkeit (wie sie zur Zeit des Gehirn Wachstums erkl&rlich ist),
außerdem ein Hißverhältnis zwischen der GeringfOgig*
keit ton Beizen, welche die Psyche treffen und ihrer
Wirkung auf dieselbe, psychische Ermüdbarkeit, Ab-
lenkbarkeit (Neigung zur Dissoziation) Einseitigkeit und un-
g 1 e i c h m ä H i g e Entwicklung der p: e i s t i pr e n A n 1 a e n . In-
toleranz gegen Alkohol, Unfähigkeit adäquater An-
passung an die Außenwelt nach dieser oder jener iiich-
tung (Vorliebe für das Ungewöhnliche), zügelloses
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L Beitriig« zur forensischen Beurteilung von SittUchkeiUrcrgeliea etc. 23
Ph an ta 8 i e le ho n . Disposition zum zwangsarti n Pest-
halten von V or 8 1 e 1 1 u u g s V e r k u ü ]) l"u Ti e D , zu starke Be-
tonung der Eigenbezit'huugeii M\güisiiius). Von seiteu des
T ri e bl e be HS kommen einerseits ii Im u r iii frühes (vordem 10. Lehens-
jahrj und starkes Aultreten desselben (bis zur rücksichtslosuu l^nt-
änßeruug) und anderersetto letohte Bestimmbarkeit, Beei^«
flnfibarkeit der Triebe in Betracht. Das Nervensystem zeigt
bei erblicher Belastung erhöhte Beflexbarkeit und Symptome
reizbarer Schwäche.
Das Torz^itige Erwadien sexueller Diftoge (die Pr&cocität der-
selben) wird von Krafft-Ebing und Moll besonders betont, nnd
Clrevalier^) meint, die Assoziationstheorie könne dieses den sexuell
perversen Personen eigentümliche Stigma nicht erklären. Darauf ist
zu erwidern, daß diese rein quantitative Störung zunächst nichts
mit dem qnalii ;iti ve ii Inhalt des sexuellen Triehleheris /.u tun h;it,
denn dieselbe kommt, niclit selten auch hei sonst normal hetero.sexueli
entwickelten Personen vf)r, wtiin auch vielleicht häufiger hei neuro-
pathisch beaulagten Individuen. Sie ist aber von der liichtuug und
dem Inhalt des Triebes absolut unabhängig.
Diese pathognomischen Zeichen eines angeborenen fonktionellen
Schwächezustandes des Centralnervensystems zeigen sich natürlich in
unendlich versdiiedener Variation und bieten den oben erwähnten, aus
snl&Uigeo äußeren Umständen sich ergebenden scbädliohen Anregungen
des Geschlechtslebens einen gUnstigen Boden zur Ansiedelung und
Entwicklung perverser Triebrichtungen. Die Bildung normaler
Gegenvorstellungen und Triebhemmungen, welche übrigens
in der Regel mehrere Jahre später, als das erste Auftreten sexueller
Dränge durch erzieherische Maßnalimon angestrebt wird, ist bei neuro-
pnthisch veiaulagten Personen durch die psychische Disharmonie viel-
fach beeinträchtigt und erschwert.
Andererseits können Begleiterscheinungen der psychi-
schen vita sexualis, sowie alle möglichen Variationen der
individuellen Gharakteranlage in Beziehung zu der per-
Tersen Triebricbthng treten, dieselbe verstärken oder gelegentlich
in andere Formen fiberführen; so findet man in zahlreichen Fällen
neben einer Neigung zu sonstigen nicht sexuellen Zwangsznständen bei
pervers empfindenden liidividuen mehrere Formen der Parae-
sthesia sexualis zusammen vertreten; so sind die ..Sadisten** mit-
unter auch nMasochisten'* und diese beiden Formen der ^Algohignie*'
1) Chevalier: L'inversioa aexaelle. 1888.
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94 L Brätriige siir foreaiiieli«!! Benrtdlutif von 8ittliebkeii8V«rg«lieii et«.
kommen häufig in Verbindung mit Fetischismus vor ; ferner sind aigo-
lagnistische und fetischistische Neigungen garnicht selten mit konträrer
SexualenipKndunp verliunden; Verfasser hatte Gelegenheit, ein Indivi-
duum zu beobachten, daß die wichtigsten Erscheinungsformen der vita
säexualis in sich vereinigte, eine wandelnde ^Ps ychopatbia
sctfnalis*'. Während Kraffi-Ebing die physiologisch
vorkommenden psychischen II itbewegungen, z. B. mäch-
tige Erregung der gesamten psychomotorischen Sphäre
als Ausgangspunkt fiir die Algolagnie heseichnet, kSnnten die-
seihen auch aU accessoriseh förderndes Moment erst sekundär tat
pathologischen Assoziation geschl(Hht1ich betonter Vorstellungen mit
grausamem Inhalt hinzutreten und dieselbe verstärken. Denn in der
Tat bekommen alle möglichen, in ihrem Inhalt keinerlei Be-
ziehung zum Geschlechtsleben bietende Vorstellungen
mitunter sexuelle e d e u t u u g tm d 13 e t o ii u ii g. So hatte einer
meiner Patieuleu regelmäßig Erektionen, wenn er sich anschickte zum
Spazierengehen, ein anderer, wenn er gedrängt wurde, rasch irgend
eine Handlung vorzunehmen, ein dritter durch die Vorstellung, geprüft
8tt werden etc. Und fenier bleiben Kebenumstände, Details
aus den mit der ersten sexuellen Erregung verbundenen Situationen
und Bildern in der Erinnerung so lebendig, daß sie sogar conditio
sine qua non für die Erektion und damit ein lästiger Zwang
für das Individuum werden können (so aucli im Fetischismus), insofern
dasselbe nicht im stände ist, bei späterer WiederholuDg der sexuellen
Akte diese Nebenumstäude durch die äußere Situation zu reproduzieren.
Eine weitere Ausführung dieses wichtigen Punktes muß mit Rücksicht
auf den Kähmen dieser Arbeit unterbleiben.
Diese Tatsache zeigt aber den mächtigen, bestimmenden
Einfluß des die ersten sexuellen Erregungen begleitenden Vor-
st eÜ ungs i u h al te s für die spätere vita sexualis und da^ besonders
bei degenerativ veranlagten Personen.^)
Zu den wichtigsten okkasionellen Momenten ftir die
Pathogenese perverser sexueller Triebrichtung gehören: Spiele, Be-
schäftigung und Lektüre der Kinder, sowie besonders leb-
1) Einen vermittelnden Standpunkt nimmt Gel 11 ein. Er gibt >li' T'x'deutung
schädlich^ r «.eMicllpr Momente bei neiir()j):ifliisi-li''ü Individuen während des Wachs-
tums in vollem Umfange zu. Jedoch haben nach ihm solche Momente keioe Be-
deutung bei aogeboreuer konträrer Sezualempfiaduug. Derartige Individuen «sigen
eine angeborene Schwäche des Gescblechtdebens fiberhaupt, ja häufig des ganzen
Gefühlslebens. Geill: Die Lehro von der P.sychopathia sexualis und ihro gerieht»»
ärztliche Bedeutung. Ugcskrift for Läger. i B. XXVII. Kr. 27—33.
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I. Beitrüge zur fonnugchm Beurteilung ron Sittlichkeitsvergehen etc. 26
hafte Anregung ihrer Phantasietätigkeit und die solitäre,
resp. mutuollp Onanie, und zwar hauptsächlich zur Zeit der
Pulifrtfit. Die seclis Fälle dieser Arheit hieten uebeii ihrer foren-
sischen iiedeutiinp: auch iieispit'h:> dar für die Eutstehuug Kcxueller Ano-
malien aus iiiiHeren Schädlichkeiten bei erblicher Belastung (vgl. die
folgende Kasuistik).
In Fall 1 wird ein zarter neuropathiscber Knabe vor der Pubertät
bereits zur Onanie rerffthrt und su anderen sexaellen Praktiicen von
seinen HitschOlem benutzt Mntaelle und solitiire Onanie mit bomo*
sexuellem Vorstellungsinhalt wenigstens 7 Jahre hindurch. Schließlich
zwangsweises Auftreten homosexueller Neigung und Impotenz
gegenüber dem Weibe.
Für die Analyse dieses Falles außerdem noch eine originäre im
Embryo präformierte Anlage zum I^ranismus zu [KMtulieren, erscheint
als unnötige Erweiterung der Erkliiningsprinzipien.
nassclhf gilt von Fall 2. i^htiliche Belastung. Verführung durch
Mitschüler zur Onanie. 6jährige eifrige Ausübung derselben in regel-
mäßiger Begleitung homosexueller Vorstoll un gen. Dann erst
Aufklärung über die Bedeutung der Gesclilecliter. 2^achden) er 9
Jahre seine psycbosexuellen Funktionen an jene perverse Qeschmacks-
richtung gewöhnt hatte, erster Versuch zum Beischlaf. Fiasko.
Li Fall 3 handelt es sich um einen konstitutionellen Psychopathen
mit Zwanpzustättden. Schon im 10. Lebensjahre mntuelle Spielerei
an den Genitalien und Verführung zur Onanie. 6 jährige Gewöhnung
an Onanie mit ho mosexuellem Vorstellungsinhalt. Schon
im 15. Lebensjahre Coitusversuch mit Fiasko. Weitere Betätigung des
Xrieblebens in der Richtung f1er perversen Angewöhnung.
Bei dem Patienten von Fall 4 entwickeln sich auf dem Hoden
geringer erblicher Belastung im AnschlnB an ganz bestimmte, auf An-
blick und Betasten von Genitalien abzielende, die Vorstellungstätigkeit
lebhaft anregende Jugeiidspiele , nachdem durch Onanie die Vor-
stelluugsrichtung in diesem Sinne fast 10 Jahre lang determiniert
worden war, exhibitionistische Neigungen, die zum Stimulans
lUr die vita sexualis wurden und schließlich conditio nbie qua non fOr
seine Potenz.
In Fall 6 nur mäßige erbliche Belastung, gesteigerte Phantasie«
tittigkeit und starkes Triebleben. Excessive IS Jahre betriebene
Onanie mit Bevorzugung der BegleitTorstellung männlicher und wdb*
lieber Geschlechtsattribute und des visuellen Teiles der vita sexualis.
Zufälliges Erlebnis im 24. Lebensjahre bietet die äußere Veranlassung
zur völligen Eutwickluog und iiealisieruug exhibitionistischer
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S6 Beitrüge war forentiMlien Beurteilung von SitdieUceitarergeheii etc.
Gelüste. Durch mehr als 10 jährige Gewohunuc^ der Phantasietätig-
keit in diese eiuseiiige Kichtuug wird die Exhibitiou sciiiießUch zu
einem lästigen Zwange.
Bei Fall 6 handelt es sich um sehwere erbliche Belastnng nnd
um Yerknapfang des die Phantasie lebhaft beschäftigenden Inhalts der
Lektüre mit sexuellen Drängen zur Zeit der Pubertät. Dieser Vor>
stellongnuhalt betrifft Indianerkämpfe und Sklavengeschiohten » also
SehmerzzufUguDg. Unterwerfung, Mißhandlung. So! die Vorstellungen
wurden von dem in sexuelieu Dingen unwissenden Kinde auf die
Sfxualsphärc bezogen und die Ursache zur larvierteii passiven
Algolagn ie.
Für die u n ü ristige Wirkuiicj des Alkohols auf IndiTidaen
mit sexuellen Anomalien sind Fall 2, 3 und 6 lehrreich.
Nach dem im Vorstelu-ndeu erörterten Entstehuugsmodus von
psychosexuellen Erkrankungen (^Erwerbuug olme erbliciie Belastung und
pathologische Assoziation auf der fiasis hereditärer neuropsychischer
Widerstandsunfähigkeit) läßt sich die Mehrzahl der Anomalien ge-
schlechtlichen Fahlens erklären.
V* Krafft-Ebing und seine Schule halten aber dieses Ep-
kläTUDgsprlntip nicht fiir ausreichend, sondern nehmen besonders ittr
die 8ch^vereren Formen tou Sadismus, Masochismus und Homosexu-
alitäty wie schon oben unter 1. erwähm wurde, eine originäre An-
lage an, welche mit dem sich entwickelnden Geschlechtsleben spon-
tan, ohne äußere Anlässe zu Tage treten, als angeborene
Erscheinungen der vi ta sexual is. Empfänglichkeit
für sadistische oder g 1 e i c Ii g e s c h 1 c e h 1 1 i e Ii e j{ e i z e ist nach
dieser Anschauung angeboren, wird durch die znt'äliige äußere Ver-
anlassung nur aus ihrer Laieiiic geweckt. Diestir angeborenen lieak-
tionsfähigkeit ist also die Tendenz auf eine bestimmte Klasse von Ob-
jekten eigeotttmlicht In dieser Aufstellung liegt aber auch die psy-
chologische Schwierigkeit; man hat dabei allerdings zu berUck<>
sichtigen^ daß für die in dem Triebleben geäußerten Geschmacksrich-
tungen auch die sonstige {Mychische Individualität maßgebend ist; und
an sich spricht, wie Verfasser schon in seiner oben erwähnten Schrift
bemerkt bat, nichts gegen die Möglichkeit einer gleichartigen Wieder-
holung desselben Krankheitsbildes, desselben Symptomenkomplexes in
direkter oder atavistischer ^Übertragung auf die Nachkommen. Wenn
aber solche Fälle angeborener Determination des sexu-
ellen Empfindens auf bestimmte 01)jekte vorkommeD,
so bilden sie sicherlich die Ausnahmt'. Denn in der Regel
zieht die pathologische liereditäi nicht diese eugeu Greu/eu, sondern
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L Beitrige anr forenanchen Beurteilung von SitilichkeitsTergehen ele. 27
läßt den Gelegenheitsursachen eiuen größeren Spielraum,
so daß (lip^t'ilx'ii nicht nur für den Inhalt, soodem Tiellach auch für
Uie Form (icr Erkrankung bestimmend werden.
Übrigens wird der Brennpunkt der Frage, ob eine originäre An-
lage für eine bestimmte Form perverser Äußerung des Geschlechts-
triebes ererbt wtrdta kann, von v. K rafft- Ebing und Moll nur
zurückgeschoben. Denn als bestimmte Disposition oder als Reaktion»-
föbigkeit aof eineii speaafisch äußeren Reis kdonten nur, wenn man
die Möglichkeit solcher YererbuDg zugibt« solcbe Eigenschaften bei den
Nachkommen sich äußern, welche die Vorfahren der betreffenden In-
dividuen bereits als automatisierte Gewohnheit besaßen t also doch
jedenfalls auch irgendwo einmal erworben haben niüHton. Demnach
wäre nachzuweisen, daß in eiuem speziellen Fall die Vorfahren des
Individuums jene perverse Gewohnheit besaf?"!! und zweitens, wie die-
sellte vf>n den \'nrra!ireu erworben werden konnte. Man wird bei Be-
:iiit\\iiitung dieser Frage die Assoziationstheorie nicht um.izehen können.
Die stillschweigende Voranssetzuni^. daH die Aseendenten solchr* Ge-
wohnlieiten besaßen und rrwarlien. bedarf alsu selbst eines /ureichenden
Beweises und wird auch durch hibtorische Mitteilungen über Urniug-
tum nicht erledigt. Außerdem müssen zwingende Gründe dafür bei-
gebracht werden, warum eine angeborene oeuropathische Diatiiese (be-
sondere Bestimmbarkeit des geschlechtlichen Trieblebens in Verbindung
mit äußeren Schädlichkeiten Theorie der pathologischen Assoziation)
nicht hinreichen sollte zur Erklänmg der perversen Sichtungen des
Sexuallebens. Aber angenommen, die inneren Ursachen wären für das
Zustandekommen derselben maßgehender, als die äußeren, so darf auch
in diesem Fall bei der großen Neigung des Centralnervensjrstems zu
Variationen in der erblichen Fbertragunj? die Grenze nicht m eng
gezogen werden. ÜesweL't'Ti steht auch KohdeM mit vitdeii anderen
Autoren auf dem Standininkti'. als Hauptmerkmal der erbhchen l her-
traguug die Widerstandsu nfähit,'keit, die Schwäche des Nervensystems,
die Disposition zur Eikiankung anzunehmen (psychopathische Priidis-
position). Dieselbe kann direkt oder atavistisch vererbt sein, kann
aber auch durch Verändernngeji in der Keimanlage während des em-
bryonalen Lebens entstehen. Im ertteren Fall wäre die XHsposition
ererbt, im zweiten angeboren. In letzterem Fall würden die sexuellen
Perversiooen eine bestimmte oft vorkommende Gruppe von Mißbildungen
(Fehler in der Himorganisation) mit Rttckwirkung auf das peychosexu-
1) Rohdc: Über doni ^rogcnwärtigen Stainl iiurh Entstcbttng «nd Vererbung
individuetler £igen»chAft«n und Krankheiten. Jena
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38 !• Brntrif« lur fwendichen B«arteilung tod SittIielikeit»T«:geheii etc,
eile Verhalten darstellen, verdankteu also rein zufälligen Entwicklungs-
hemmungen vvähreüd dos iutiiiuteiinen Lebens ihr Dasein. Ibr häufiges
Auftreten wäre aber danu sehr rätselhaft.
AoBerdem ist für jene Ausnahmefälle der zuletzt erwähnten Form
der Nachweis einer Batwicklung jener krankhaften Neigungen im
Widerspruch zum äußeren Milieu notwendig. Denn fttr den
Begriff der Vererbung wird ron Bollinger ^) der Ausschluß
äußerer Verhältnisse verlangt, und auch nach Graßmann*)
lehrt die wissOMchaftUche Kritik der als für vorhandene Vererbung
pathognomisch angesehenen Zeichen in immer eindringlicherer Weise,
daß für die Feststrllurig der Erblichkeit die Methode der Ex-
klusion heute noeh doniiniert. li»'crt daher — im Gegensatz zu
den diesbezüglichen übrigens auf eiuem Mißverständnis der Anschau-
ungen des Verfassers benihenden Ausführungen Molls") — kein
Grund vor, die Erkläruügsprinz ipien um den Faktor
angeborener, im Embryo präformierter sexueller Ge-
sebmacksricbtungen auch bei jenen Fällen zn rermebren,
dra sich als reines Produkt ungünstiger äußerer Anläne bei Tor*
bandener erblicher neuropathiscber Konstitution nnd Labilität des
ITrieblebens darstellen.
Übrigens zeigt der Nahrungstrieb eine ähnliche leichte Bestimm-
barkeit wie der Geschlechtstrieb. So ist auch das Verlangen nach
einem bestimmten Oenußmittel niemals angeboren. Wie Karl
Neiße r*) richtig bemerkt, kann man durch erzieherische 3Iittel das
Eßverlangen und das Hungergefühl beeintlasseu, ja ganz alr?»Mvöhnei),
und dieser Trieb variiert ebenfalls in Bezug auf das Oljjekt. Die
Versuche mit den Hungerkünstlern und Tieren sprechen dafür. Man
hat Wölfe mit KartoÖeln aufgezogen; dieselben ließen Fleisch unbe-
rührt und fraßen mit Gier wieder Kartoffeln.
Bei einem TÖllig entwickelten Triebe ist sehr scbwer zu unter-
sdieiden, wie groß der Einfluß der Vererbung und wie groß deijouge
der Anpassung war. Man darf aber die Anpassungsfähigkeit des
menschlichen Trieblebens nicht unterschätzen, ihm keine zu engen
Grei : n ziehen; denn die ßeobachtaogen der Geschichte und des täg-
lichen Lebens lehren, daß die Geschlecbtsliebe, so sehr sie von Ter-
1) Bollittger: Die Vererbnnif. Stutt^t t888.
2) G raCm ;i II II : Krilischer ri-* rhliik über dio gegenwärtige J.>A\rf von der
Erblichkeit der IVyrhnsen. AUgeui. Z. itsvlir. f. rsyilii;itrir. Heft 5.
3) Moll: Libido sexualis. Berlin l8iW. 8. 316—317.
4) Karl Xeifier: Die Ent»tehuag der Liebe. Wien 1897.
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I. Beitrage sar foremiteheD Benrtetlan^ Ton SittlicfalceiisTei^gdken etc. 29
erbten Gewohnheiten abhängig ist, dennoch bei Monachen und Tieren
wenig beständig und fest sich erweist, vielmehr zur Variation, Ab-
wechselung, zur Bf'stimmliarkeit dnrcli äiiRerc Einflüsse liiTineigt.
Zum Schluß noch einige Bemerkungen über die i?rage der AI*
golagnie.
Für die von Kniff t- E b in sr unter dem Namen „Sadismus" und
„Masocbismus" zusammengefaßten perversen Erscheinungen des Ge-
scblecbtslebeos hat Eulenburg') nach dem Vorschlage des Ver-
fassers *) den NameQ „ A 1 g o 1 a g ni e** angeDommeD. Zur Begründung
dafür führt B. mit Becht ans, daß die aktive Betätigung achmers-
hafter Handlnngen zum Zwecke der GeachleditsbefriedignDg (aktive
Algolagnie) durchaus nicht charakteiietiseh sei für die Dan^nngen
des Marquis do Sade, ebenso wenig die passive Rolle (passive
Algolagnie) für die Helden und Heldinnen der IjoveUen von
Sachr r-Masoch. Zudem ist, worin ich Eulen bürg ganz bei-
stimme, das Gebiet der sexuellen Grausamkeitsaktc durchaus nicht
mit der aktiven und passiven Rolle erschöpft. Gegen die Krafft-
Ebing' sehen Bezeichnungen möchte Verfasser auch bemerken, daß
diese Art sexueller Befriedigung viel älter ist, als die Werke von
Sade und Masoch und in der Geschichte (z. B. der Kirche) be-
sonders auch im Altertum eine hervorragende KoUe gespielt hat.
Ferner gibt ee eine onanistische Algolagnie, die ich neuerdings
beobachten konnte, wosu auch manche Fälle von Autoflagellantismns
zu rechnen sind, femer eine visuelle Algolagnie, d. h. sexuelle
Biregung beim Anbklick von PrOgelszeneu und eine zoo philo oder
bestiale Algolagnie, sobald die Gelüste der Grausamkeit sidi
auf Tiere bezichen. Handelt es sich aber nur um Markierung einer
ersehnten Situation dieser Art. so könnte man diesen Vorgang sym-
bolische Algolagnie benennen. Die Leichenschändung wäre in
diesem Sinn, sobald Mißhandlungen der Leiche damit verknüpft sind,
die nekrophiie Algolagnie und wiiro von der einfachen Nekro-
philie dadurch unterschieden, daß mit letzterer, wie auch die Ab-
stammung der Wörter sagt, nur Liebkosungen der Leiche gemeint
sind. Eindlich konnte ich f^Ue beobachten, in denen der Schmerz
an sich die Hauptrolle spielte, ohne Bücksteht auf aktive oder passive
Betätigung; solche Pattenten sind Algolagnisten schlechthin.
Übrigens ist das lyranniscbe Gefühl der schrankenlosen Beherrschung
oder das der völligen Unterwerfung, wie es von v. Kr äfft- Ebing
1) Euleoburg: Sexuale Xearopathie. Leipzig 1895.
2y V» Sehren ek-Notsiüg: Siigge$tioii«tberapiej loc. eit. S. 12&
. y Google
30 ^- Beitrage inr foreniMchea Beurteilung tod SittUehkeitwergehen etc.
als charaktpristisch für den Sadismus und Masoclusmus liozeichnet
^vi^(l. durclmus nicht immer mit der Algolagnie verbuodeo, darf also
nicht zur Begriffsbestimmung herangezogen werden.
Auf die psychologische Erklärung dieser eigeutümlichen Form der
Paraesthesia sexualiSi welche Krafft-Ebing sehr anafUhrlieh be-
handelt bat» kann hier nicbt nfther eingegangen werden.
4.
Kasuistik.
Falii. Konträre Sexualenipfiuduug. Anklage wegen
beiscblaf sähnlicher Handlungen mit zwei K&nnern.
Spexialftrstliche Kur. Eigene Beobachtung des Yer-
fassera* Krankengeschichte nnd Pathogenese der
sexuellen Anomalie. Anwendung der hypn. Suggestion.
Verurteilung durch die erste Instanz in einem, Frei-
sprechung im anderen Falle. Berufung beim Reichs-
gericht, (iutachteo der Sachverständigen. Verneinung,
resp. Beeinträchtignnp: der Willensfreiheit. Verwerfung
der Kevision. Begnadigung des Angeklagten.
Vorgeschichte.
N. N., eine gebildete niitiiiiliche Pcrsimlichkeit in höherer TieV)cns-
stellung, war augeklagt, mit einem Diener X. und einem dienstlich Unter-
gebenen Y. durch mindestens /.wei selbständige Handlungen widernatürliche
Unzucht begangen zu haben (Vergehen gegen J? 175 des K.-8tr.-G.-B.8).
Die Vernehmung vou Sachverständigen in der Hauptverhandluog
wurde abgelehnt
Zur Saobdarstellung bemerkt die Anklageschrift, daß
der Beichuldigte mit Terschtedenen mSnnlichen Personen seiner Um«
gebung seit Jahren Unzucht in erheblichem Umfange gelrieben habe.
Dteaelbe bestand in Umarmongeo, Küssen, Ergreifen der Gescbleehts-
teile jener, Rdben an denselben bis zum Samenerguß. Gleichzeitig
ließ er sich auch von jenen an seinem Geschlechtsteil spielen und
reiben. Der Beschuldigte ist nach Feststellung der Anklage teilweise
geständig und sncht sein Treiben mit seiner in geschlechtlicher Be-
ziehung perversen Veranlagunt» zu entschuldigen. Dies Treiben mag
sittlich in h<)clisteni Grade verwert lieh sein, ist aber (vergl. die kon-
stante Praxis des Koichsgerichts, so z. Ii. 2."i, 4, iööu, Entscheidung I,
395; 24. April ibtiü, Hecht&spruch 1, Üb2; 20. September 1880, fint-
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L Beitrige sur foreastaclieii B«nrteUuik|f tod SittlichkeiteTergeheit «te. 31
Scheidung TL 237; 25. April 1882, Kntsrliuidung 211 n. n.) nur
strafbar, insofern lioischln ff ähnliche Handlungen vorgekoiurneu ^ind.
Solche sind i\\w\\ wenn man das Treiben de«? Angeklap^ten pe^t'u
die t'inzi'hipn Personen schon zu seinen Gunsten nur hU eine forti^e-
sptzte Handhint,' ansieht, in mindestens zwei B'älleu konstatiert. Sü be-
zeugte der Diener X. eidlich, dali ihn wiederholt abends, wenn
er demselben beim Auskleiden behilflich «ein miißte, ttber das Bett
gelegt, sieh auf ihn hinanf gelegt und dann sein Qlied an seinem
Körper gerieben habe nnter beischJafsftbnUchen Bewegungen.
Der Zeuge T. wurde, als er dem N. N. eine Meldung za über-
bringen batto, gegen die Stubentür gedrückt, umarmt Darauf knöpfte
ihm N. N. die Hosen auf, holte den Geschlechtsteil herans und rieb
denselben. Dabei drückte der Beschuldigte seinen Körper fest an
di n Tnierleib des Y. und führte dessen Geschlechtsteil an den sei«
uigen heran.
N. N. begab sich ins Ausland, wohl ans Anlaß der bevorstehen-
den Verhandlung, und trat in die ärztliche Hehandlung eines
Spezialarztes für hypnotische Kuren. Wie dieser in einem Briefe
an den Autor erwähnt, betrachtete N. N. eine Behandlung seines Zu-
Standes nur aus VemnnflsgrQuden, nicht aus innerem Antriebe als er-
wünscht Meines Erachtens war N. N. wohl lediglich von dem Be-
streben geleitet) die Enuikhaftigkeit seines Zustandes durdi lingere
Beobachtung seitens mehrerer Spezialisten konstatieren m lassen, um
dieselbe dann in Form Tun Gutachten zu seinen eigenen Gunsten zu
▼erwerten.
Der erste Teil der hypnotischen BehandUing bestand in 70
Sitzungen. Teilweise H^-potaxie, zoitweih'ir tiefer Schlaf mit Amnesie.
Neurasthenische Syinptnüie gebessert, aber der Kintlnli auf die kon-
träre Sexualempfinduu^j; erscheint trotz einer gewissen Besserung in
mehrfacher Richtung nicht befriedigend. N. N. tritt nunmehr in die
Behandiuag des Verfassers.
Eigene Beobachtung.
Patient ist 89 Jahre alt Vater starb an einem Hersleiden, war
männlich, streng und einfach, zeigte nichts PerTerses. Mutter lebend,
kränklich, nervös. Ein Bruder des Patienten geisteskrank, ein zweiter
endete durch Selbstmord, ein dritter Onauist mit homosexuellen
Neifrnnpjen, eine Schwester starb bald nach der Geburt, die übrigen
zwei Geschwister normal, GroReltern normal: ebenso wird über die
Geschwister der Eltern nichts Abnormes berichtet
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33 Beiträge war forennachen Beurteiloog von SittUchkeit«y«rgehen etc.
N. N. war als Kiud sckwäcbiicL und weichlich, machte im zehuteu
Lebensjahi^. eine Ftaeonumie durch, blieb aber sp&ter von Mbwerfiren
ErkiankuQgen Tencbont Dagegen hatte er Tielfach mit Ifageobe*
. sehwerden, Mandelanschwellungen und Bachenkatarrhen su kämpfen
nnd zeigte große Neigung zu Erkältungen.
Patient will schon zwisdien dem füufteu und achten Lebensjahr
Interesse für männliche Personen gehabt haben. Er erinnert sich genau,
damals häufig mit besonderer Freude den Anus seines gleichalterigen
Vetters, gleichsam mit ihm spielend, abgetastet zu liaben und in der-
selben Weise von seinem Vetter behandelt zu sein. Hierbei hatte
N. N. Lustgefühle ; dazu trat bald ein luteresso für die Geschlechts-
teile älterer Kameraden. In der Schule empfand er an einem etwas
älteren Freunde Zuneiguog, die aber niemals geschlechtlichen Charakter
annahm. Er sagt hierüber: „es genügte mir, wenn wir gegenseitig
unsere Hände auf die Sehenkel legten^. Im 18. Jahre VerfiUining
zur Onanie durch einen älteren Mitschüler, der dem N* N. die Vor-
haut mit Gewalt surttckz«^, so dafi eine leichte Blutung eintrat Von
jetzt an solitäre und mntuelle Onanie mit regehnüßiger YorsteUnng
männlicher Personen, ^eziell des Freundes. Einmal wurde am Patienten
Coittts in OS voltzogen. N. N. masturbierte als Schüler häufig, zeit»
weise täglich, bis zum 18. Jahr. Bei der Wechselonanie hatte er
größeres Vergnügen in der passiven Rolle. Beim Militär und in seiner
beruflichen Stelluuf,' pflog N. vielfach homosexuellen Verkehr mit
Leuten niederer LebeusstelluDg', Arbeitern, Soldaten, Bedienten. Schließ-
lich trat bei ihm schon Ejakulation ein, sobald er das (ilied seines
Partners berührte. Außerdem Coitus inter femora bevur/.ugi. Beim
Akte selbst pflegte er die Augen zu schließen, wie beim Onanieren. Da-
neben onanierte er mit homossKnellen PhantasieTorstellungen, in der
Begel einmal wöchentUcb. Traumpollutionen mit männlichen Bildern.
Ansätze zu heterosexueller Empfindungsweise nicht zu bemerken. Zwei-
malige Coitusversuche endigten mit völligem Fiasko. Ausgesprochener
Horror feminae. Patient hält seine Empfindungsweise für vollkommen
berechtigt, nicht für lasterhaft oder UDnatürlich; er fühlt sich dagegen
niemals seelisch befriedigt, vermutlich, weil er eine auf tieferer Zu-
neiguni; Im i ahende Gegenliebe trotz großen Liebesbedürfiiisses nicht
finden knniite.
Patient ist k ö r p e r l ic h eine männlich eui wickelte, wohl-
genährte Persöulichkeit von mittkrer Grttße. Von Seiten des
Cirkulations», Respirationsapparates, der Motilität und Sensibilität, der
Befleace keine Störungen zu bemerken. Haarfarbe blond, langer Schnurr-
bart. Genitalien klein, Ventisberg gut behaart. Fettpolster gut eni-
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I. Beiträge zur forensischen Beurteilung von Sittlichkeitsvergehen etc. 33
wickelt, besonders au den Hüften und an der Brust, l^'oruieii luud
und weich. Skelettbildung lOMsiv, Becken m&nnUcb. BeckeDinaße:
Eiitf. d. Spinae sap. snt.: 25, d. Oristae ilei: 27, d. tubera iachii: 8,
d. Rollhiigel: 31 cm. Oonjagat. ext.; 19 cm.
Stellang der Oberschenkd gerade. Haat sart Schädel von nor-
maler Gestalt. Keine D^enerationszeicben. Papillen gleich , mittel-
weit. Es besteht bei N. N. eine mittelaehwere Nearasthenie, deren
einzelne Symptome in den nachfolgenden Gntachten näher erörtert sind.
Patient ist psychisch deprimiert, zeigt Neigung zum Grübeln, zu
Schwärmerei, raucht und trinkt wie andere Männer und liebt aacb
körperliche Übungen, soweit sie seine Gesundheit nicht angreifen.
N. N. unterzieht sich nun einer weiteren hypnotischen Be-
handlung, welche 55 Sit/inigen umfaRto. nnfanj^s wurde er nur
somnolent, kam dann später in tiefen Schlaf. Während der -ianzeu
Behandhingsperiode stand er unter dem seelischen Druck der Ujvor-
steheiiilen (lerichtSN crhandlung und w.ir vielfach trübe, mißjs:estimmt,
also in ciuur für seelisch-therapeutische EiiigriiVe sehr ungünstigen
Verfassung. Denn tou dem Resultat des Prozesses hängt sein Schick-
sal ab; die Folge einer Venuteilang war nicht nur eine moralische
Bloßstellungf sondern brachte die Notwendigkeit mit» den bisherigen
Beraf aufzageben, die Heimat and Familie zu Terlassen, nachdem die
gesellscbaftUche Stellung untergraben war.
Nach den ersten sieben Sitzungen erster Coitus Versuch cnm
puella — ohne Erfolg. Rückfall in homosexuelle Wechselonanie.
Kann sich an den folgenden Tagen nicht entschließen, den Coitus*
versuch zu wiederholen. Starker Horror feminae. Nach einij^en Tagen
jedocii ist Patient dureh erneute Suggestion wieder im stände, die
HeninuinjisvorstellunEren /u unti-rdrürken und einen neuen Versuch zu
wagen. Diesesmal blid» er die ganze 2sacht hei der pueihi, die üKi iKcns
liebenswürdig und zartfülileud mit N. X. umging. Si hlielilieli trat
spontan eine zunächst ungenügende EiL'kliüu ein, dieselbe wurde arti-
fiziell verstärkt, und der Coitus gelang, indem Patient sich passiv
dabei verhielt! Kein Ekelgefühl, kein Horror post Coitumt Zwei
Tage später berichtet N. N. mir, er habe zwar mit Hilfe männlicher
Vorstellungen Erektionen bekommen, aber dreimal in jener Nacht
coitiert! Acht Tage später Wiederholung de» Versuches bei unsym-
pathischer Prostituierten. Trotz dieser ungünstigen Bedingung gelang
der Akt. Beim folgenden Versuch völliges Fiasko. Patient ist ganz
mit der ProzeBanj^elegenheit beschäftigt und tief verstimmt. Einige
Tage später Kückfall in Unanie. in den folgenden Wochen mililiogt
T. Schrenck-Notsiug. Studien. 3
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34 !• Beitrige zur foreniischen Bearteilang von Sittlichkeitsrergehen etc.
ein weiterer CoitnsTersuch, wiederum Rückfall in Onanie, und schließ-
lieh plötzliche Abieiee wegen der beronteheeden Yerhandlnng.
Die Behendlnng wurde später nicht wieder aufgenommen , be-
rechtigt aber in Anbetracht der anfierordentlich ungUnetigen inßeren
YerhSltnime an Hoffnungen filr Beseitigung der homosexaelleu Nei-
gungen. Die psychische Disposition des N. N. war die denkbar un-
günstigste, begreiflicherweise, da das ganze Interesse durch die auf
dem Spiele stehende Existenzfrage absorbiert wurde. Der Z^eitpunkt
für vlue solche Kur war schlecht gewählt, und die Zeiträume waren
zu kurz für einen dauemdeu Erlolg.
HanptTerhandlung und Verurteilung.
Das Urteil in der Hauptverhandlung gegen K. N. lautete in dem
einen Fall (Diener X.) auf vier Woeben GeCbigois, sowie die Kosten
des Yer&brens, in dem zweiten FtXL auf Freisprechung.
Die Beweiserhebung ergab die Richtigkeit der Anklage in Bezug
auf N.'s Verhalten gegenüber dem Diener X. insbesondere die Tat-
sache, daß K. in häufig wiederholten Fällen während der Dienstzeit
des X. Stöße gegen den entblößten Körper desselben in der Absicht
geschlechtlicher Befriedigung; rorgeuommeii hatte.
Durch den Zeugen Y. wurde festgestellt, daß X. bei verschiede-
ner Gelegenheit sexuelle MauipulatioDeo an ihm vorznnehniru suchte.
Einmal trsclneu N. nachts um drei Uhr vor dem Bett des Y., griff
mit seiner Haud unter das Deckbett nach dessen GeschlechtHSteil. nach
weiteren fruchtlosen Versuchen gelang es ihm eiumul, dun Y. zu ma-
sturbieren, als w bei ihm im Zimmer war. Solche Manipulationen nahm
der Angeldagte mit Y. in der fraglichen Zeit ca. 60 mal TOr. Zum
Begriff der widernatürlichen Unzucht gehört aber nach den Entschei-
düngen des Reichsgerichtes, daß der Geschleobtsteil des Handelnden
iu r-inr Berührung mit dem Körper des männlichen Partners kommt,
wobei eine Einfühning dos Gliedes in den Körper desselben nicht not-
wendig erscheint. Deswegen sind die an dem Zeugen ,Y.* Torge-
norameneii Haudhingen nicht als widornatiiriiche Luzucht anzusehen
(daher Freisprechung). Indessen war bei alh'u einzehjcn Handhingf^n
der Angeklagte von dem einmal geialiteu Entschlüsse gi leitut, seinen
Geschlechtstrieb fortdauernd au den betreliendi n Personen zu l»cfi iedigen.
Die gegen jede der beiden Personen versuchttii Akte sind desliaib als
eine fortgesetzte selbständige Handlung zu erachten. Uegeuüber dem
Einwurf des Angeklagten, er sei konträrsexuell Teranlagt, macht das
Urteil folgendes geltend : „ Außergewöhnliche Neigungen, die der Täter
Digitized by Güchi Ic
I. Beitrige mr loreiisifeiieii fiearkeilong von Sitttichkeitsrerfehen etc. 35
zu bekämpfen aus moralischer Schwäche und mangeloder Euergie
unterläßt, sind unter derartige Zustände (wie sie § 51 des R.-Str.-G.-B.s
in sich scblioRt) nicht m rechnen. Bei die^'^n Neigungen ist der Wille
des Täters gerade auf die Vornahme solcher Handlungen gerichtet.
Dieselben entspringen lediglicli seinem Willen, nicht etwa einer Krank-
heit, die ihn willenlos gemacht hat. Deshalb kann, wenn er seinen
Neigungen frönt, nicht von einer Ausschließung seiner freien Willeus'
bestimmang die Bede ada. AndereofaUs müßte jeder rückfällige
Täter wegen der bewiesenen starken Neigung zn der speziellen
Straftat straflos bleiben. Die Zumessung des Strafmaßes nahm noch
darauf Bttcksicbti daß der Angeklagte den höheren Schichten der Be*
Tölkerung angehört und wegen seines Bildungsgrades befähigt sein
mußte, derartige verwerfliche, jeder Sitte und Anständigkeit Hohn
sprechende Neigungen zu bekfimpfen, denselben aber «jennoch in hohem
Maße gefrönt hatte.
Bevision und Gutachten.
Gegen dieses Urteil legte N. N. BeYision beim fieicbsgericht ein
unter der Annahme, daß der § 176 des B.-Str.-G.*B.8 Terletit sm.
Diesem Urteile wurden mehrere Gutachten Sachverstiindiger zu Grunde
gelegt
Das erste Gutachten von Prof. Dr. v. Krafft-Ebing weist
auf die durch erbliche Anlage begründete abnorme sexuelle Ent*
Wicklung des N. N. hin, betont den Horror feminae, seine Impotenz
und erwähnt als De^enerationsahzeichen : abnorm kleine Genitalien,
neuropathisches Au^e. partielle Farhenhliudiieit. Ferner hezieht '•ich
(hisselbe auf die schwere Neurasthenie des Patienten, auf zeitweise An-
fälle vüu Zwangsrurstellungen (folie du doute), von Trübsinn (Dysthymie)
auf seine Selbstmordideen und die Unfähigkeit, den mit kraukhatter
Stärke auftretenden Geschlechtstrieb zu beherrschen. Derselbe mache
sich zeitweise mit organischer Nötigung, also impnlsir geltend. Infolge
seiner krankhafteo Anlage mangeln ihm höchst wichtige, den normal
gesrteten Menschen bestimmende sittliche Motive zur Begehung oder
Unterlassung einer derartigen vom Gesetz verpönten Handlung. Seine
perversen sexuellen Akte tragen daher nach t. Krafft>£bing dfiä
Gepräge der Unfreiheit und erscheinen durch unwiderstehliche
Gewalt provoziert.
In einem Nachtrage zu diesem Gutacliten bezweifelt v. K rafft -
El) um ili« Freiheit der Willensbestimmung des Patieuteu in den frag-
lichen Situationen.
3*
36 ^ -Beitrige war lorenfvcben Beurtdlang tod 8UtUcIikeit8vergtth«D etc.
Es folgt miiiiiiehr das Gutachten des Dirr-ktors einer
bekannten Heilanstalt, in welcher N. N. sich halte beohachteu
lassen.
Dasselbe spricht sich wosentlicb in demselben Sinne aus, wie das
Torttehende, und endigt mit der Znsammeofasstuig, daß K. N. lich
in einem Zustande krankhafter St5mog der Geistestätigkeit befunden
habe, welche seine freie Willensbestimmnng aufbebe.
Hieran schließt ein weiteres Gutachten des Kollegen, der den
Patienten l&Dgere Zeit hypnotisiert hatte, bevor er in die Behandlung
des Verfassers eintrat.
Dasselbe bespricht ausführlich die neurastheoischen Beschwerden
des N. N. und bn^rliroibt folgende an ihm boabachtete Symptome:
Leiclite psychischu Knnüdbarkpit, l'nfahiijkcit, die Aufmerksamkeit zu
konzeütriereu, j>t^>uliche Ideentiuclit. eine powissc Willensabschwächung,
Zwang zum Anschaueumüssen vou bestiuimten Gegenständen. Zäblen-
miissons der Tapeteumuster des Zimmers, von Bäumen beim Spazieren-
geheu, zwangsartiges Sichaufdrängen von peinlichen Gedankni mitten
in der Konyersatioii, unstäte Stimmung, labiles psychisches Gleich-
gewicht, Gereistheit, gestörter Schlaf, abnorme Empfindlichkeit gegen
KUte, Appetitmangel, StuhltrSgheit, leichte Erregbarkeit des Herz-
muskeb, Schmerzen in der Herzgegend, kalte Hände und Füße etc.
In Bezug auf die konträre Sexualempfindung wird die Meinung der
erwähnten Gutachten geteilt. K. N. war nach diesem Gutachten
außer stände, infolge der reizbaren Schwficlie seines
Nervensystems erfulgreicheu Widerstand seinem er-
krankten G f s c b ! e (• Ii t s 1 e b e u e u t g e g e n 7 \i s e t z e n. Eine durch
die \'t'rtpidiguuf; des N. N. auch von diesem einj^eholte Krgiinzung
zu dem GuLachttu betont noch einmal die erwUhutt n Umstünde und
vertritt den Standpunkt, daß der Geschlechtstrieb als instinktmäliiger
Antrieb nur bis zu einem gewissen Grade der frdenWilleDsbestimmuug
unterliege. Bei krankhafter Entwicklung höre der Wille leicht auf,
dagegen anzukämpfen. Das Bewußtsein des Homosexuellen, der seinen
Trieb subjektir als etwas Normales empfinde, ist nach dieser Äußerung
getrübt in Bezug auf die Auswahl des Objektes der Befriedigung.
Der Autor dieses Gutachtens nimmt krankhaft gestörte Geistestätig-
keit zur Zeit der sexuellen Impulse bei N. N. an.
Das erste von dem Yerffisser dieses Aufsatzes nbcrepjebene
Gutarhten wnrdo /n oirtov Zeit verfaßt, in der dem N. i^. der uormale
Soxualverkehr noch nicht gelungen war.
Dasselbe lautet :
Herr N. N. leidet an Neurasthenie, Xeben Zwangsideen, 8chlai-
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I. Beitrage tat lorettSttchcD Beurt«üaiig tod' Slttliebkeitirergdhen etc. 37
störuü^,'en. KoDgestiouen. Apprtitlosifjkeit beatoht eine linch^rndige ;,'e-
mütliclie N'erstimmung, eiu ausf^esprocliciier Mangel au Energie, sowie
eine tiiivcrkennbare Schwäche des ( iediiihtiiisses.
Zu dieseü Ersclieiiiuugen allgemeiuer reizbarer Sek wäche des Nerven-
systems gehört die im Mittelpunkte des Knnkheitsbildes stehende aus-
gesprochene Anomalie des geschlechtlichen Fuhlens» die sieh nach den
Arbeiten von Westphal, t. Krafft* Ebing etc. als konträre Sexual-
empfindoDg heschrieben findet. Für die Krankhaftigkeit des Geschlechts-
triebes spricht auch die neuerdings wiederum von mir bestätigte Be-
obachtuDg, daß Patient in seinem ganzcu Denken und Fuhlen dem
weiblichen Geschlecht gegenüber entfremdet ist und sich bis jetzt trotz
einer Reilie von in bester Absicht uuternommonen Verfuchf n , den
i3eisclilat" auszuführen, als friiiizlich impotent erwirst'u hat. Ferner
spricht dafür das ahunrni frühzeitige Hervortreten <les Geschlechts-
triebes (vor ileni 10. Lebeusjahre), die Stärke desselben und die Be-
zichuiig desät^lheti auf das männliche Geschlecht schon beim ersten
Moment des Auftretens im 10. oder 12. Lebensjahre.
Daß durch ooanistische Manipnlattonen, welche Ton Mitschülern
an dem Patienten vorgenommen worden oder von diesem selbst die
Intensität dieser abnormen Empfindung gesteigert wurde, bis sie den
Patienten völlig beherrschte, unterliegt keinem Zweifel. Aus der ein-
seitigen Richtung des Triebes auf das münnlicho Geschlecht entspringen
auch die flaudlnogen. welche zur Befriedigung von Patienten unter*
nommen werden. Dieselben bezwecken lediglich die Befriedigung des
als Gesetz empfundenen Triohes zum nif^pnen Geschlecht, wobei
die Aft und Weis»', wie eine solche Hefricdi^ung iier beige führt wird,
ob durch eine wechst l(»nanislische und beischlalsähnliche oder durch
autoonanistische Handlungen, für das krankhafte Empfinden des Pa-
tieiiiLii ganz nebensächlich wird. Patient folgt also in der Betätigung
seines Sexualtriebes einem durch seine Anlage, sowie durch unglück-
liche Süßere ümstftnde herrorgerufenen Zwange, der ihm schon die
qualvollsten Seelenxustände erseugte. Da sein eigener Wille nicht
ausreichte zur Beherrschung der Triebanomalie, so begab Patient sich
in richtiger Erkenntnis des SachTcrhaltes in ärstliche Behandlung.
Ol) die Stärke des Zwangstriebes ausreicht, den Patienten als un-
surechnungsfähig im Sinne des Gesetzes erscheinen zu lassen, für die
Beurteilung dieser wichtigen Frage wäre eine genaue Kenntnis des
Sachverhaltes nötig und der damaligen Gemütsverfassung. Siclierlich
aber sind die dem Pntientou zur Last gelegten Handlungen nidit aus
einer Neigung zur Unzucht entstanden, sondern infolge krankhafter
Beschaffenheit seines geschlechtlichen Trieblebens.
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88 !• Beitrig« aar forensiidien Beurteilung tod 8itt)idüceittrergelkeii ete.
Zu dt m verstehenden Gutachten wurde vou der Verteidigung
ein ergänzender Nachtrag verlangt. Derselbe lautet wie fol^t:
In dem Bericht vom wurde X. N. als erblich be-
lasteter Neurflstheuiker liezeichnet. Dafür sprechtn folgende Daten
aus seiner Faniilifiipeschiclite. Der Vater des Patienten starb an einem
Herzleiden und hatte von jeher besoiideresWohlgeialliU an stattlichen
großen Männern gehabt, ohne daB aber diese Vorliebe irgendwie sexuell
zu deuten geweten w&re. Die noch lebende Mutter des Patienten ist
krfinklich und nervös. Ein Bruder ähnelt dem Patienteni insofern auch
er Tou Jugend auf onaniert, niemals den Beischlaf ausübte und Gefallen
an schönen Soldaten fand. Der Zustand dieses Bruders Terschlimmerte
sich derarty daß er geisteskrank wurde und seit 4 Jahren in einer
Irrenanstalt untergebracht ist, £iD zuteiter Bruder zeigte ebenfalls die
Spuren der erblichen Belastung in heftigen nervösen Angstan fallen.
Er litt an Asthma pectori?« und endete im 21. Lebensjahre durch
Selbstmord. Ein dritter noch lebender Bruder ist mi verheiratet, nervös,
Onanist. mit hnnm sexuellen Neigungen. Ein vierter Bruder und eine
Schwester sind normal.
Für die erhiiche Behistunj; des Patienten kommt außerdem noch
die 'Patsaehe in Betracht, daß er als Kind (vor seinem 1<). Lebensjahr)
schon schwächlich und kränklich war. Er litt damals jahrelang haupt-
sächlich an I^iagenbeschwerden, unaufbörlicbeu HalsentzUodungen etc.
Die sidi sp&ter erst völlig entwickelnde ^Neurasthenie und Anomalie
des Geschlechtslebens ist somit, worin alle Gutachten übereinstimmen}
auf dem Boden einer erblichen neuxopathischen Diathese entstandoi.
Patient gibt an, schon im 5. Lebeni|jahre geschlechtliches Inter-
esse ftlr Männer gezeigt zu haben; mit 8 Jahren will er bereits Wollust-
empfindnngen gehabt haben (?). Auch das Interesse fttr die Geschleoht»-
teile älterer Kameraden war schon nach seiner Versicherung um diese
2eit vorhanden (?). Mit dem 12. Lebensjahr begannen die ersten
onanistischen Manipulationen, eine Leidenschaft, die heute noch fort-
besteht. Schoji als Knabe fand er ein p:rößere3 Vcrp:DÜgen an Wecbsel-
onanie mit Kameraden, und nur in Ermangelung eines Partners griff
er zur Selbstbefriedigung. Das undifferenzierte ( t e s e h 1 e c h t s -
gefiihl eines s e h \\ ä ch I i e h en erblich belustetcn Knaben
wurde also schon zu einer Zeit falsch bezogen, d. lt. iu
unrichtige Bahnen gelenkt, in welcher er über die Ge-
schlechtsunterschiede und den Zweck des Geschlechts-
Verkehrs noch nicht aufgeklärt war. Seit dieser Zeit ist
Patient diesem Zwange vollständig verfaUen. Sowohl in seinem Piivat-
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I. Beitrige sur foreottsehen B«artdlungr von SittHdikeitiTergeh«ii etc. 39
leben, ah anch während der Militardienstzoit suchte und fand er immer
wieder Partner iiiännlicheu (ieschlecbts /.iir Befriedigung seines Triebes.
Damit korrespondiert audi die völlige ( ileichgiiltigiceit und Abneigung
gegen wtMblicht' Geschlecht, welche sich l)is zu Ekelgefühlen und
zum HuiTor teminae steigerte. Patient iuit sich uitmüls zum Weibe
hinge/ugeu gefühlt, die einzigen zwei Versuche, den Boiachlaf am-
xuflihren, die er vor der Zeit der ihm znr Last gelegten Sittliehkeits-
▼erbreclien Tomahnt, endigten mit ▼Olligem Fiasko. ' Somit ist Patient
anßerdem impotent nnd infolge dieser unglücklichen Entwicklang
w&hrend seiner Jugendseit überhaupt nicht dazu ge-
kommen, die zur Korrektur einer solchen Anomalie er>
forderlichen Gegenvorstellungen su bilden, retp. die-
selben AUS den Sinneswnhrnebmungen des normalen
GeBchlechtsverkehrs a)) zu leiten.
Sein ganzes Wesen, sein Charakter ist so selir von dieser Tricb-
auumalie durchdrungen, daß auch seine PolhitionNträuiDe von männ-
lichen -Bililern begleitet sind. Neben der Atjiiuruiitiit des Triebes be-
steht aber auch eine kraukhalte Steigerung desselbün, eine sexuelle
Hyperfistbesie. Wenn dieselbe schon aus dem physiologisch anormalen
frühzeitigen Hervortreten sexueller Drftoge ersichUicb ist, gibt sie
sich auch zu erkennen in dem Eintritt von £|jakolationett, sobald das
Glied des Partners von ihm nur mit der Hand berfthrt wird und in
Form von peinlich empfundenen Erektionen beim Anblick männlicher
wohlgebauter Personen. Ferner genügt eine eiufaclie Vorstellaog und
Sinoeswahrnebmung. um auch ohne Friktion des Gliedes Samenerguß
beim Patienten iu'rbeiznführen. Der sexuelle Schwächezustand des
Patienten produzierte «nf^nr zeitweise Kjakulationen bei scldail'em und
balbschiaffem Glieiie. W'i im im ganzen cb-r Ciiarakter des i'atx'uten
auch als niiinnlich nnpunurt. so finden sich deimoch bei ihm
einige ans Weibliche erinuernde Züge, So besteht eine Abneigung
gegen jedwede Art männlicher Kraftproben , dagegen Vorliebe für
Hans- und Handarbetlen (Kochen, Äufr&umen etc.). Eine große
Weichheit des Gemüts, Liebe sur Musik und Kunst , Freude an
Üppigen Festen, Sinn fUr Theater, Belletristik (und Hftuserbauen).
Em gewisser Grad von Schamhaftigkeit wird sogar in den mann-
männlichen Rapporten gezeigt, wobei Patient in der Regel, wie ein
schüchternes Weib, die Augen schließt
Auch das geistige Leben N. N.*s weist Abweichungen vom nor-
malen Verb;dten auf. Neben einer ausgesprochenen Schwäche des
Willens (Energielosigkeit und EntschluHunfähigkeit i besteht auch eine
solche des Gedächtiusses, wie mau sie so häufig bei Ouanisten anthtit.
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40 !• Beiträge zur foreuMiciieo Beurteilung Ton SittlichlceitsreiigeheD etc.
Patient ist uufuiiig, seiue Getiaukeu zu kuuzentiiereu ; sie schweifen
ab und führen ihm entweder geschlechtliche Bilder oder Sitnationeii
anangeDebin«r Art Tor das geistige Auge. Die zwsDgsweiie rieh aaf'
drängenden Yorstetlimgen, auf welche schon ein anderes Gutachten
hinweist, ködnen so lebhaft sein, daß Patient laut spridit oder Schreie
auastöfit. Die Stimmung ist ?ielfach deprimiert ; seine Gedankenrichtung
mit pessimistischer Färbung. £r fiihlt sich außer stände, Irgend welche
Art ernster geistiger Arbeit zu verrichten.
Die körperliche Untersuchung ergibt bis auf die erwähnten
Symptome des Nervensystems und einen loicht t-rregbaren Herzmuskel
ein iicgntives Resultat. Das Becken zeigt in seinen (gemessenen)
Durchmessern mäniilit lie Form.
Patient leidet somit, wie schon in dem ersiou Gutachten gesagt
wurde, au konstitutioneller Neurasthenie mit Zwangs-
zustäuden.
Daß die abnorme Intensität des Triebes dem Angeklagten bis
zum Grade der Unwiderstehiichkeit beherrschen und sich impulsiv
Befriedigung erzwingen hann, insbesondere bei Berücksichtigaug der
als unzureichend aus der ganz^en Entwicklung des Inkulpaten nach-
gewiesenen ethischen und intellektuellen Gegenvorstellungen, erscheint
zweifellos. Demnach muß die freie Willensbestimmung des Herrn
K. N. bei Begehung der ihm zur Last gelegten Vergehen in Frage
gestellt werden.
Entscheidung des Reichsgerichts.
Unter Beifügung der ?orsiiheuden üutachttii wurde die Revisiou
des ersten Urteils beim Reichsgericht beantragt. Das Reichsgericht
jedoch verwarf die Rerisioo, erkannte das Urteil der ersten Instanz
an und bürdete dem Verurteilten die Kosten des Rechtsmittels auf.
In den Gründen werden nun folgende für die Beurteilung ihn*
lieber Fälle wichtigen Punkte ausgeführt: Der Tatbestand des § 175
setzt nicht die Einbringung des männlichen ( ilit-des in eine natürliche
Öffnung des Körpers einer anderen männlichen Feison YOraus, sondern
es genügt die körperliche Berührung dieses Gliedes mit
de m K ü r p e r des anderen unter b e i s r Ii 1 n f s Ii h n 1 i <• h o m Ver-
langen. Gegfiiüber den Gutacliteu der medizi'ii^'-h'M! Autoritäten
nimmt das Kciclist^ericht dir ^'orinstaIlZ in Schutz. i>eun ..sie hat
vielmehr in konkreter A\ ürdiguiii^ der Sachlage ftir erwiesen erachtet,
daß der Angeklagte uicht nur von dem Eutschlussc. seinen Ucschlechts-
> trieb fortdauernd an derselben Person zu befriedigen, geleitet gewesen
I. BeitrSge zur forenaiichen BenrteilaDg von SittUehkeitsretgehea etc. 41
ist, sondern daii er auch in voller Willensfreiheit und bewußt gfhandelt
hat." Dil der Angeklagte selbst in seinen Erklärungen den ausdrück-
lichen Einwand der Willensunfreiheit niihi erhobt"« hat, und da auch
die Aussagen der Zeugen gegen einen Zustand vüu Bewußtlosigkeit
oder Willensuulieiiieit sprechen, so mußte das Gericht die Uberzeugung
gewinneoy daß der Angeklagte im ZustMide der Willemfreiheit ge*
handelt habe, nach eiuer freien Prüfung der Frage, ob die konträre
Sexualempfindung den Angeklagten bis sa dem Grade der Unwider-
stehlichkeit nnd Willensunfreiheit heherrBcht habe. Es war hierbei an
die Zuziehung der Gutachten der Sachrerständigen nicht gebunden.
Demnach ist das Gericht Uber die Grenzen seiner gesetzlich bestimmte
Befugnisse nicht hinausgegangen.
N. hatte das Glück, seine Strafe nicht verbüßen za müssen. Er
wurtlt; begnadigt infolge eines allgemeinen AmDestteerlasses des JLandes*
lüiätea für Strafen geringen (Jmfanges.
Fall II. Anklage e i u e s K ou trü rs exuale u wegen Ver-
f ü h r u n g 8 V e r 8 u c h e s zu ni u t u e 1 1 e r O n a n i e an einem r» t f e n t -
liehen Orte. Gutachten des Verfassers. Kranken-
geschichte. Keine Beeinträchtigung der freien Willens-
bestimmung. Verurteilung.
A. , Beamter in höherer Stellung, angeklagt wegen Vergehens
wider die Sittlichkeit (§ 175), ist gegenwärtig 83 Jahre alt, unver-
heiratet. Sein Vater lebt, ist 64 Jahre alt, normal. Mutter starb an
Tabes dorsaliä. Mutter<<r*^^ch\vister herzleidend. Eine Schwester der-
selben ist infolge von Sclilagautaü gelähmt, eine weitere Mutterschwester
hat ein liarmäckiL'rs Haulieiden. Vatersbruder und Vatcrsschwcstrr
starben au Iler/.leulen. Vater litt au Wassersucht. Ein andrrer
Vatersbruder starb an Tuberkulose. Eine Schwester des ratienteu ist
hysterisch. Sexuelle Anomalien nicht nachweisbar bei den Angehörigen.
Vater jähzornig, zu Gewalttätigkeiten geneigt . Altere Schwester des
Patienten männerschea.
Hieraus geht herrorp daß Patient in schwerer Weise erblich
belastet ist Außer Kinderkrankheiten hat er keine schwereren
Erkrankungen überstanden.
Der Anbück des Gesichts zeigt Schiefstellung der Nase. Die
Formation des Schädels ergibt in Bezug auf Umfang, Durchmesser,
und sonst keine Al>weichnngen.
Ebenso ist die Korm des Hrckens eine müuuliche, wie ?ämt- »
liehe von mir angestellten Messungen ergeben haben. Die Stellung
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4S ^ BeitrSg» lur foraunsehen Beorteflnng von Sittliehk«iUTeig«lieD etc.
der ()l>ersch«-iikel pferade. Tm ganzen haben wir also einen inätHilichen
Habitus, mit uuiuij liehen, normal entwickelten Gesclilechtsattributen vor
uns, von mittlerer Ernährung.
Stirn hochy Haara, Schnurrbart braun. Stimme : mSnnUcher fiaiiton.
Zur Entwicklung seiner Bezuellen Anomalie iBt fol-
gendee »i bemerken: Patient war von frOher Jagend au ein lelir
schw&chliches, xartes Kind, wie das bei der Schwere seiner erblichen
Belastung nicht anders su erwarten ist. Man zweifelte nach seiner
Geburt, ob rr Uberhaupt am lieben bleiben würde. In der Schule
war Patient scheu, schüchtern, nahm an den Spielen seiner Genossen
wenig teil. Dappgeii will er eine gewisse Vorliebe für weibliche
Hiuid:ubeiten und da/u eine großi- Geschicklichkeit gezeigt haben.
Dieses Symptom dürfte sich wohl weniger durch die konträre Sexual-
empHuduiig erklären, als durch die zarten Gesundheitsverhältnisse,
welche ihn zu einer gewissen Zurückhaltung und leichteren Hand-
arbeiten Teranlaßten. Bis zum 12. Lebensjahr war er hauptsächlich
auf die Gesellschaft seiner jüngeren Schwester und deren Spielge-
nossinnen angewiesen. Im 12. Lebeosjahr machte ihn ein älterer
Hitschüler auf die Erektion des männlichen Gliedes aufmerksem.
Neugierig ergriff A. das Glied des betreffenden Spielgenossen und
empfand dabei znm erstenmal als ahnungsloses Kind dunkel eine ge-
schlechtliche Erregung. Er versuchte nuD an seinem eigenen Glied
durch Betasten desselben ähnliches herrorzubringen. Auf diese Weise
trat nach und nach Erektion und Samenerguß ein. So kam es zu
einer Zeit, wo ihm dir Kenntnis der G e s c h 1 e c h t s v e rli äl t-
nisse noch viWlig 1 e ii 1 1 e . wo ihm auch die Bedeutung seiner
eigenen Handluniren unklar wai. zur <)nanie, der er sich in der
Folge eitrig hingab. Die einzigen Erfahrungen, die er als Knabe
machte, bezogen sich auf seine Altersgenossen. Infolgedesseu
traten die ErinnerungsTorstellungen an männliche Per-
sonen (Uitschfiler) bei den gescblecbtliohen Erregungen
immer wieder auf. £$ bildete sich also eine enge Assoziation
zwischen dem Geschlechtsgefühl und den Vorstellungen
der Geschlechtsattribute männlicher Personen. Diese
Verbindung muffte um so enger und fester werden, ji' (ifter die all-
mählich auch durch Phantasietätigkeit variierten Bilder den körper-
lichen Prozpn des Onanierens l)egleiteten. Jene mit Hinblick auf ihre
verkehrte liichlii:g als krankhaft zu bezeichnenden Asso-
ziationen werden schlieRlich durch Angewöhnung automa-
tisch und begleiten am Ende jede gr sc h 1 echtliche Er-
regung des Patienten; ob er wollte oder nicht. Sie bekamen also
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1. Beitrig« tnr foremuelMn Beurteilung Ton SittUehkeiteTeigeben ete. 43
einen zwangsartigen Charakter niul das tim so loicliter. einer-
seits weil das Gehirn starke Eindrücke in der Zeit des
Wachstums am tiefsten sich einprägt und die Spuren
davon auch für das spätere Leben lel) endig erhiilt,
andererseits, weil es sich hier uni um schwächliches, weniger wider-
standsfähiges Individaum bandelt, welches viel intensirer anf solche
ßrlebnisse bei seiner NerTenbescbaffeebeit zu reagieren pflegt, als der
normale Mensch. Die männlichen Bilder traten in eroti-
schen Träumen anf, bei^eiteten nacfatliche Pollutionen und '▼er-
ließen, nachdem sie durch jahrelange Angewöbnnng zwangsartig ge-
worden waren, den Patienten nicht mehr. Erst gegen sein 18. Lebens-
jahr wurde A. über die Beziehung der Geschlechter aufge-
klärt Während nun ein normaler Mensch mit entsprechend starkem
Willen solche pathologische Erfahrungen schließlich noch korri-
gieren im Stande ist durch die späteren Wahrnehmungen des normalen
Geschlechtslebens, war es für unseren Patienten zu spät. Er ver-
suchte zuerst im 21. Lebensjahr den Beischlaf im Bordell,
bekam aber nicht einmal eine Erektion. Völliges Kiasko und Gefühl
des Ekels. Schließlich mastarhierte ihn die Prostituierte; aber auch
dieser Prozeß widerte A. so an, daß er mehrere Tage sieh unwohl
fiiblte. Seitdem bat er überhaupt nur noch drei derartige
Versuche gemacht, ohne jeden Erfolg, ohne Erektion und ohne
Samenergaß. ESs bestellt demnach bei A. bis jetst Impotenz gegen-
über dem Weibe.
Die L hertragung seines Gkischlechtsgefühles auf männliche Per-
sonen drückte sich, wie das ja unter solchen Umständen natürlich ist,
bei ihm als Knaben zunächst &m in Schwärmerei und inniger Freund-
schalt (mit erotischen Zügen) für bestimmte Kameraden. Mit 15
Jahren trat Leidenschaft für einen Husaren ein, dessen Bild
nunmehr in seine onanistischen Träume überging. Mit 18 .Jahren ent-
brannte er in heftiger Liebe zu einem Trambahnkondukteur,
fuhr stundenlang mit ihm auf der Pferdebahn herum und erlitt alle
Qualen der Eifersucht, wenn jener mit anderen Menschen oder weib-
lichen Personen frenndliob war. Er getraute sich jedoch nichts seine
Liebe zu gestehen, sondern begnügte sich damit, die lebhafte Erinne-
rung an jenen Kcmdokteur in seine onaaistischen Phantasien aufzu-
nehmen. Mit der Wechselouaoie wurde 8. erst in seinem 26. Lebens-
jahre du rch räien Burggendarmen in Wien bekannt. Er beschreibt
diese Erfahrung wie folgt: „Ein Wonneschauer ging durch meinen
Körper, als er mich in seine Arme schloß, und ich zitterte am ganzen
Xieibe als der ErguU eintrat Körperlich bisher durch Selbstbefriedi-
44 Beitrag« lur forenikrhen Beurteilung von SittlieUceitirergehen etc.
gunj,' und l'oüutiotieu heruntergekommen, gequält durch Öeibstmord-
gedaiikeu, erwachte jetzt erst recht in mir die Lust zum Leben und
nach wechselseitiger oder passiver Onanie, für die ich meistens Sol-
daten: anwarb, aihlte ich mich erleichtert und gekrfifiigt« Pftde-
rastie wurde vom Patienten von jeher Terabscheot. £r ?ennied anch
den Umgang mit GesinnuDgBgenosaen nnd sog den Verkehr mit wirk-
lichen M&nnern vor.
So ist Patient auch hellte noch konträrsexual, d. h. sein Ge-
schlechtsgefühl ist infolge erblicher Beanlagung nnd
durch äußere Limstände umgekehrt, dem männlichen
Geschlecht zugewendet: für Frauen hatte A. niemals Interesse.
Es tinden sich auch seelisch bei ihtii gar keine -Ansätze für die
hetern sexuelle Kmpfiuduugsweise. Er verkehrt mit Damen
gesillschaftlicli. fühlt sich aber direkt abgestoßen, wenn er irgend
welche Haudiuugeu oder Ausdrucksbewegungen wahrnimmt, die eine
Tendenz aufs Männliche zeigen.
' Keben die^ Impotenz bestehen Symptome einer lachten Neu-
rasthenie, Intoleranz gegen alkoholische Getifioke, Spinalirritation,
Müdigkeit nach dem Erwachen morgens, leichte psychische Erregbar-
keit, Angstgef&hle, abnorme Sensationen, Druck im Hinterkopf, ge-
mütliche Labilität, aufgeregtes Wesen etc.
Zeichen einer ausgebildeten Effemination nicht vnrliandcn. Patient
ist mit Ausnahme seiner geschlechtlichen Sphäre durchaus männlich
entwickelt, psychisch und körperlich, muß aber angesehen werden
vom gesundlieitlichen Standpunkte als ein zartes,
wenig w i d e I s t a n d s t" ii h i 1,' e s Individuum, mit den Spuren
schwerer erbliehcr Heiastun», leichter Neurasthenie
und konträrem Geschlechtsgelühl.
In dem Grade, in welchem Patient Gelegenheit m teil wurde,
mit anderen männlichen Personen zusammen das W^oIlnstgefUhl zu
produzieren, in demselben Grade ist die ei|ifacbe Onanie während der
letzten Jahre zurückgegangen. Im ganzen aber pflegt das Geschlechts-
▼eriangen solcher krankha^n Penonen ein abnorm starkes zu sein.
Oas ist auch bei A. der Fall. So kann der bloße Anblick
schöner kraftvoller männlicher Gestalten Erektion und
Libido hervorrufen, und zwar noch leichter nach dem Genuß alkoho-
lischer Getränke. In dieser Lage befand sich der Angeklagte am
10. OkU)i)er IBiJH, als er gt ijen 11 Uhr abeuds vom Kolosseum
(Varietetheater) den Heimweg anirat.
A. war vorher mdiicre Monate in 8e.\ueller Beziehung abstinent
gewesen und halte sich au diesem Abend während der V^orsteUung
y Google
L Beitrage zar forenBiseheti BelirteiltiDg ron SittliebkeitsTergehen etc. 46
durch doTi Anblick der Produktionen eines Athleten gesclilechtlici»
au%pro^:t. Er marhte also unterwegs die Bekanntschaft eines Sol-
dateu, der akh in (h'V Bayerstraße nach ihm nmsnh und den Ange-
klagten achließlich begrüßt haben soll. Der gemeinsame Spaziergang,
der sich an die Begegnimg anschloß, führte über den Maximiliansplatz,
Salvfttorplats nnd wieder snrttck ttber den llaximiliaDspUtz» flb^ die
Ottostraße in die Karlstiaße. Hier bogen sie in einen finsteren Hof
eines Hauses ein, nnd der Soldat ging bis in die Ecke des Hofes mit.
Patient öffnete nnn unter dem Vorwand des Urtnierens seine Kleider
in der Absicht, sich ron seinem Begleiter masturbieren zu lassen.
Der Soldat zog dann, un/u frieden mit der gebotenen Bezahlung, sein
Seitengewehr, erklärte den Patienten für verhaftet und veranlaßte dann
die Anzeige dessflbcn.
Die niilieren Umstände Tatliestandes sind anweseiitliVh. Es
fragt sich zunächst, ob Patient während der ihm zur Last yelegten
Handlung in einem Zustande der (ieistesstörunfj; sich be-
fand, resp. willensunfrei , d. ii. durch ktankhaite V'orgänge
in seinem Seelenleben gestört war. Diese Frage ist unbe-
dingt mit „Kein** an beantworten. Patient war zwar gescblecht-
lieh erregt,, aber doch nicht in einem solchen Grade,
daß ihm die Besinnung abhanden gekommen wäre. Denn sein gan?«8
Verhalten zeigt das Vorhandensein TÖlh'ger Seibetbestimmung. Die
Bekanntschaft, der Spaziergang bis zum Salvatorplatz, das Umwenden
d:L ( ll)st, damit die belebtere Briennerstraße vermieden werde,
endlich das Aufsnclion eines dunklen, uubesuchten Ortes, sein Verhalten
während der Handlung seihst, alle diese Momente zeif^en. daii A. mit
voller UberlegUTiir gehandelt liat und sicli der ganzen Situation völlig
bewußt war. ebenso wie er sich nachträglich aller Einzelheiten der-
selben erinnern konnte. Offenbar aber hat das Verhalten seiner Part-
ners, welche Absicht derselbe auch gehabt haben mag, bei der nächt-
lichen Anknüpfung einer Bekanntschaft, bei dem Spaziergange um
Hittemacht> sowie bei dem Mitgehen bis in die Ecke des
finsteren Hofes, auf seine ohnehin krankhaft veränderte nnd
gesteigerte Qeschlechtssphäre prorozierend gewirkt nnd
konnte vom Patienten nur in diesem Sinne eben w e g e n seiner krank-
haften Anlage ausgelegt und verstanden werden. Jedenfalls war er
sich nicht bewußt, mit seinem Verhalten ein öffentliches Ärgernis zu
bieten. IMit Hiid)lick also auf die tie furchende seelische Ano-
malie in dem Sexualleben, welche A. als einen erblich
schwer belasteten Psychopathen k e n n ze i c h n e t nnd allein
zu jener ihm zur Last gelegten Handlung Veranlassung wurde, welche
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46 Beitriige rar förensiBeheii Bearteilnn^ toh SitUidikeitiTergelien ete.
aber außerdem seine wenn auch irrtümliche Auffassung der
Absicht des Soldaten psychologisch völlig verständlich
macht; darf auch Tom Standpunkte des Gutachtens der Angeklagte
einer mildwen Beniteilung empfohlen werden,
A. wurde za 100 Ihrk Geldstrafe und in die Kotten des Yer^
f ahiens TeriuteUt
Patient begab sich in ärztliche Behandlung nnd ist bereite
auf dem Wege der Bessening. Mit Hilfe hypnotischer Suggestion
gelang die Bekampfang der homosexuellen Neigungen und Uber-
windung des Horror feminae. Anfängliche Schwierigkeit bei Aus>
führung des normalen Geschlcchtsaktps wich bei wiederholten Ver-
suchen. Darauf geregelter heterosexueller Verkehr mit voller Wollust-
empfindung und spontaner Libido. Zur föUigeu Beseitigung der
hum( »sexuellen zwar noch rorbandenen, aber nicht mehr als lästiger
Zwang empfundenen ^ieigung wäre seelische Zuneigung einer geeigneten
weiblichen Persönlichkeit notwendig. Dazu bot sich noch keine Gelegen»
heit. Patient ist erheblich gebessert, wird aber noch weiter behsndelL
Fall III. Konträre Sexualempfindung. Anklag»
wegen beisehlafsfthnlicher Handlung mit einem Dienst-
kneeht. Gutachten des Verfassers nnd des Oberarzte»
Dr. Pocke. Freie Willensbestimmung nicht ausge-
schlossen. Freisprechung ans juristischen Grttnden.
B. , Gelehrter in anpresehener Stellung, ist angeklagt wegen Ver-
gehens gegen § 175 des li.-St.-ü.-B.
Er wird bezichtigt, in zwei Nächten einen Dienstkueclit L. zu
sich ins Bett genommen und mit seinem entblößten Geschlechtsteil
zum Zwecke der Wollnsterregung Stoßbewegungen gegen den nackten
Bauch desselben ausgeführt su haben.
Zur Begutachtung der sexuellen penrersen Beanlagung des Be-
schuldigtoi wird ein Gutachten von dem Verfasser eingeholt Das-
selbe fuhrt im wesentlichen folgende Punkte aus:
Der Angeklagte ist 28 Jahre alt. Vater starb im Alter von 68
Jahren an Lebercirrhose, Mutter lebt, hochbetagt. Vatorsvaier starb
am Mn^jeukrebs, Aluttersvater an Leberleideo , Großmnttor an dor
Cholera. Mnttersbruder war Epileptiker und starb frühzeitig. Zwei
Brüder des Vaters sind verschollen. B. ist einziges Kind, machte eine
schwere Geburt durch, als die Mutter schon 40 Jahre alt war.
B. war als Kind zart, litt an Rhachitis und Skrophuluse. Seit
der Pubertät bind aber die Spuren dieser Erkrankung verschwunden,
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1. Beitrig« sar foreosisolieii Bearteilung Ton ffitUidikeitsrergehen etc 47
und es blieb oar eine allgemoino neuropnthische Disposi-
tion bestehen. Körperlich präsentiert sich Patient als wohlgenährte
kräftige Persünliclikeit mit Starkem Haar- xmd Bartwuchs, männlicher
Stimme ohue nachwrishare krankhafte Sviuntoine objektiver Art. Seit
mehrL'ren Jahren bestehen heftige Magenkiampfe, die aucli zur Veran-
lassung wurden, liuÜ Patient vor Beendigung stiiier Dieustjahre vom
Militär entlassen wurde. Zeitweise wurde B. förmlicher Morphiopbage,
um die Sehmenen zu betäuben.
In neuerer Zeit heftige AogstaniUle, namentlicb zur Nacbtseity
Schla&tOrungen, Ohnmachtsanwandlungeo, hochgradige p^chische Reiz-
barkeit, zunehmende Intoleranz gegen Alkohol (zeitwdae
:i — 10 Liter Bier pro Tag konsumiert), Vomitus matutinus, Gesichta-
haUozinationen (Alkoholismus incipieus). Auffallende Gedächtnis-
schwäche, Hang zu unklarer Phantasterei (Spiritismus), Neigung zu.
heftigen rfffektiv^^n Entäußerungen ^ nach Alkoholfjenuß (Gendarmeu-
beleidigung durcii die Verhandlung erwiesen). Uberliaupt seheinen
impulsive Handhingen mit momentaner Bewußtseinstrübung bei B.
vorzukommen. kann er sich verschiedener Handlungen , deren
Realität durch Zeugen erwiesen wurde, nicht mehr eriunern, so z. B.
Einkauf von Cigarren, die er verschenkt haben soll, aufMeudes Be«
nehmen währeud einer Eisenbahnfahrt etc. Er wird also zeitweise zum
Spielball augenblicklicher Antriebe mit rUekachtsloser Entäußerung
derselben. Für die psychiscshe defektive Veranlagung sprechen auch
sonstige Symptome, so der Zwang zu zählen, das Greftthl der körper-
licheu Schrumpfung u. a.
Die Vita sexualis beginnt beim Angeschuldigten schon vor
dem 10. Lebensjahr. Aus mutucUer Spielerei an den Geni-
talien entsteht allmählich Wechsclonanie mit Alters-
genossen, bei g 1 e i c h z e i t i g c r U m a r m u n g n tul K ü s s e n d e r -
^;elben. Daneben entwickelt sich in ErmangeluDg jeweils anwesender
Partner solitäre Onanie mit begleitendem Vorsteilungsinhalt männ-
licher Personen. 2 Coitusversuche im 15. Lebensjahr endigten mit
negativem Resultat und riefen nur eine Steigerung der abnormen Trieb-
richtung hervor. Seit jener Zeit Horror feminae, Ekel vor hetero-
sexueller Berührung. Als älterer Gymnasiast wurde er durch Literatur-
studien über das Wesen seines Zustande« aufgeklärt und suchte nun
im Bewußtsein seines angeblichen Rechtes männliche Bekanntschaften
anzuknüpfen. Seit dieser Zeit vielfacher homosexueller ^'erkehr mit
allen möglichen Personen in der Regel durch Wcchselonanie. B. fühlt
sich in der Betätigung seiner abnormen Triebrichtung glücklich, bevor-
zugt aber im sexuellen Rapport mänulich angelegte Personen, während
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48 Bettriige cor for«nsi«eben Beurteilung tod SittlichkeittTergehen etc.
ihn effpminierte Urninge abstoßen. Faule ilc uütux wird auch gegeu-
wiii ti^' noch die solitäre Mu&iurbation getrieben, welcher er sich ohne
Maß und Ziel hingibt. Die Libido sexualis wird bei ihm
durch stärkeren AlkoholgennB beeiDtrftehtigt, wogegen
hochgradige Streit- und Sanflust sich bemerkbar macht.
Der Tatbestand des ihm sur Last gelegten Vergehens ist
folgender: B. machte in einer Branerei Hünchens vor einiger Zeit die
BekaoDtscbaft des Dienstknechtes L., traktierte denselben mit Bier
nnd begleitete ihn einmal auf den Abort. Hier griff B., wie durch
Zcn^< n eidlich orhirtet wnrde, nach dem entblößten Geschlechtsteil
des h., bestritt aber sowohl in der Voruntersuchung wie in der Haupt*
Verhandlung vor dem Landgerichte diese Tatsache nnf das Bestimmteste,
wiirdr zu einrr (irldstrafe verurteilt und kann aich aucli heute nicht
mehr eririncni. eiue derartige Handlung vorgenommen zu haben. Aller-
dings stand B. an dem frasrüchen Abend unter dem Einfluß des in
bcträchtlicheu (^uaiitiliiteu genossenen Alkohols, war also zitmlich an-
getrunken.
Er nahm nun weiterhin den L. sich in die Wohnung, unter*
stutzte denselben durch Geldgeschenke und Lebensmittel und befrie-
digte mit ihm mehrere Wochen hindurch seinen Geschlechtstrieb.
Das ganse Verhalten und die Besprechnogen mit L. brachten den B.
in den Verdacht, er habe auf den Dienstknecht einwirken wollen, und
fidirtou schließlich zur Anklage der Verleitung zum Meioeidei sowie
des Vergehens gegen § 175 des R.-St.-G.-B.s.
Die A'erhandlung er^ab ahor ztir Hegründung dt ^< ersten Teiles
der Anklage keine genügenden Anhaltspunkte. erfol^ne also Frei-
sprechung. In Bezug auf das Sittlichkeitsdelikt wünschte lias Gericht
gutachtliche Außerunnen über dir behauptete Amnesie des Augeklagten
für den Vorfall auf dem Abort, sowie über seine konträre sexuelle
Veranlagung zu hören.
Zu Punkt 1 bemerkte Verfasser: Es ist ^hr wohl denkbar, daß
durch den Anblick des fremden männlichen Gliedes auf dem Abort
ein heftiger sexueller Antrieb in dem Angeklagten entstand, der ihn
impulflir Toraniaßte, das Glied des L. zu ergreifen. Die defektive
durch die erbliche Belastung, seioe ganz anormale sexuelle Entwick-
lung, durch eine An/ahl wichtiger neuropatfaischer Symptome gekenn*
zeichoete, sowie durch chronischen und momentanen Alkoholgenuß
gesteigerte Anlage des Patienten bediiif^t auch eine Abschwächung,
resp. Anfheb^infT ethischer Kdirektivr. \'oriiberc:ehende geistige
Dämrner/.ustiiii'le oder transiiori^clie ( «eistrsstiirungen werden bei Psycho-
pathen, namentlich bei Epileptikern beobachtet. Sich mit ab&oluter
I. Beiträge zur forensischen Beurteilung von Sit tUcLkeitsv ergehen etc. 49
Sicherheit fiber die dem Vorfall folgende Amneiie zu änßon ist un-
mS^cfa; dagegen sprtdit das ganze Verhalten des B. in Verbindung
mit seiner psych osexuellen Erkraiikong und den Tatumständen fiir
das wirkliche Vorhandensein der nachträglichen Amnesie, also für eine
transitorische. (birrh AlkohoJgennß hcrbeif^eführtc BewnRtsfiiistrübung.
Die T^mkehruDjT der Geschlochtscniptinclmsg, wie sie bei B. durch
vorstellende Darstellung geschildert ist, erscheint als krankhaft und
darf nicht verwechselt werden mit monströsen Vcrirningen ^oistig ge-
sunder Personen. Sie stellt eineTeilerscheiuuugdes ganzen
degenerativen psy cliopathischen Zustandes dar, der den
Patienten beherrscht. Die sittlichen und rechUicben GegenTomtellnngen
gingen durch die Art seiner Geschlecbtsentwicklung verloren, resp.
sie wurden überhaupt niebt gebildet. Überdies beherrscht die Icrank-
hafte Vorstellnngsricbtnng das ganze Denken des Pa-
tienten. Bei Bemessung der Zarechnnngsf&higkeit ist die abnorme
Stärke des Triebes zu berücksichtigen; andererseits aber fällt der Bil-
dungsgrad des Patienten ins Gewicht, die bei ihm vorhandene Er-
kenntnis und wohlmotiviorte T'ntersclieidung flcr strafrechtlich ver-
folgten und nicht verfol^^ten homoscxuollou Haudlungeo. In diesem
8innp kann also von einer wirklichrii Ausschließung der Willeus-
freihtit, resp. der absoluten Unmüglicukeit , die homosexuellen bei-
schlafsähnlicheu Akte zu vermeiden, nicht die Kede sein. Ob nun die
Ton ihm an dem L. ausgeführte Betätigung seiner sezaellen Antriebe
zu der Kategorie der beischlafsfthnlichen Handlnng gehören oder nicht»
das ist Sache juristischer Entscheidung. Das Gutachten kann also
nur betonen, daß die sexuellen nicht als widernatürlich empfundenen
und zum Teil im angetrunkenen Zustande ansgefilhrten ' Handlungen
nicht einer sittliclien Verirrung, sondern einer krankhaften Beschaffen-
heit seines Geschlechtslebens ihr Dasein verdanken. Diese pathologiselio
Triebrichtung beherrscht den Patienten aber nicht so stark, daß
die freie W i 11 e n s Ii e s t i nimii ti fr als ausgeschlossen t: ti er-
achten wäre. I)aRt'f,'eu darf B. mit Hinblick auf seine konstitutio-
nelle Psychopathie einer milden Beurteilung im weitgehenden
Sinne emptohlen worden.
Auch der andere (i u t a c h t e r , 0 b e r a r z t D r. u c k e , spricht
sich in seiuem Gutachten ähnlich aus, auch er tiudet keine förmliche
Geistentörnng, welche die freie Willensbestimmung ausscliließe, und
empfiehlt den Angeklagten einer milden Anwendung des GesetzeSi
Die Verteidigung madite geltend, daß B. seinen Geschlechts-
trieb durch Manustupration des L. zu befriedigen pflegte, so auch bei
Gelegenheit des vorliegenden Vergehens. Das erigierte Glied des fi.
T. Schranok-KoUing, StodieD. ^
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60 !• Beitrage zur forenciiehen BeiurteUung tob SittliehkeiUrergehen ete.
soll hit^ iHid da zufällig tlcii Körper dos mit ihm Erust an Brust im
Bett liogcudcu L. borülirt haben. Auch die Zeugenaussage des L.
spriclit ge^en ein fortgesetztes Stollen des Gliedes auf den Kiirper
des Dieustknechtes. Vielmehr wird in dieser Aussage beinrrkt. dali
die Berührungen in größeren Zwischenräumen erfolgten. Nach der
Verteidigung liegt also weder eine beitefalaftartige, noch
eine beisohlafsähnliohe Handlung im Sinne der reicbsgericbt-
lichen Entsoheidang vor, sondern nur das znfölUge in Zwischenr&umen,
wie sie beim Qeecblecbtsakt nicbt Torkommen, erfolgende AufstolSen
des eiigierton Gliedes auf den Körper des L. Demuach sei die An-
klage unbegründet. Der Gerichtshof schloß sich dieser Anschauung
der Verteidigung an und sprach den Angeklagten frei.
Fall IV. Wiederholte Exhibition an öffentlichen
Orten. Z weim al i ire B r s t rafu n g. Im dritten Falle Sistie-
rung d e r A n k 1 a g e i d f n ! " <> ;i r /. 1 1 i c h e n (x u t a c h t e u s. Kranken-
geschickte. P a t h o n e s e der s e x u e 11 e u A u u m a 1 ie. K r t'o 1 g-
reiche Suggestionsbehandlung durch den Verfasser.
K., Gescb&ftsreisender, 47 Jahre alt, Eltern beide lebend. Mntter
▼OB jeher sehr aufregt. Vateissohwester endete in einem An&Ue
▼on Melancbolie durch Selbstmord. Eine andere gut sitnierte Vaters*
Schwester soll einen Diebstahl begangen haben. Muttersvater war
Sonderling. Eine Schwester des Patienten leidet an hysterischen An*
(allen, ein Bruder starb an Tuberkulose.
K. machte im 4. Lelieiis'i^lire den Tvphns durch. l)esnchte die
Schule mit Auszeichnung, ueiiuinerte mit Ib Jahren t'in IjUTigenloiden,
welches mehrere Monate andauerte, dann aber versciiwand. Im
24. Lebensjahre Svphilis mit sekundären und tertiären Rrscheinungen,
die bis zu seinem .30. Lebensjahre aiKlaüert<;n und wiederholt behandelt
wurden. Mit 29 Jahren heiratete Patient; ein Kind starb mit fönf
Jahren an Diphtherie, und zwei weitere Kinder entwickelten sich normal.
Patient ist eine mittelmäßig ernährte schwächliche ErscheiDung.
Pupillen eng. Träge Reaktion. Sehkraft rechts erheblich herabgesetzt.
Sprache und Gehör gut Erblindung des rechten Auges infolge ron
Syjiliilis. Klonische librilläre Zuckungen im Facialisf^elu^ t der linken
Gesichtsh&lfte und Blinzeln der Augenmuskeln beiderseits; diese Er-
scheinung verstärkt sich bei psychischen F'.rregungen. Der reclitc
Mundwinkel steht tiefer als der linke. Rechte Nasolabiall'alte ver-
strichen, (i'uitalieu normal. Links an der Corona glandis hartes
Marbengewebe.
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I. Beitriige aur foremiachen Beurteilung von Sittlidtkeitarerg elien etc. 51
Im übrigen klagt Patient über Ohrensausen, Mouches volantes,
Schwiudül, ObstipatioueD. Gedächtnis und iutyllektuello Bei.uuguug
gut K. ist ein in seinem Berufe tüchtiger, verlässiger Mann. Die
deprimierten StimmimgeD hängen mit der noeh za erörternden sexu-
ellen Anomalie des Exbibitiimierens zusammen. Seine ethischen
and intellektnellen Vorstellungen sind wohl entwickelt,
er hat streng moralische Grundsätze und ein satreffeades
ürteil. Wie dem Verfasser die Frau des K. mündlich und schrift-
lich bestätigt bat, ist K. ein zärtlich besorgter Gatte und
Familienvater, der die Seinigen über alles liebt und seine Familien-
pHichten nach jeder Richtung hin erfüllt. Um so stärker kontrastiert
mit diesem Xfr Kalten die Tatsache, daß K. wiederholt au ötTentlichen
Orten seine Geiiit ilM u cnliululUo uud ouauierte (zweimalige Bestrafung).
Interessant s^iiid m dieser Beziehung die eigenen Mitteilungen des
Patieiiteu über seinen Zustand. So sagt er in einem Briefe :
„Zu meinem Übel habe ich selbst noch zu bemerken, daß ich nie-
mals glaubte, je so weit kommen zu können, wie ich tatsSchlich ge-
kommen bin! Ich bin seit 18 Jahren glücklich verheiratet, babo
jetzt, nachdem mir metn Erstgeborener schon im Jahre 1886 durch
den Tod entrisaen wurde, was mich heute noch tief schmerzt, wieder
ein Tochterchen von sechs Jahren und ein Söhnchen von 2^j^ Jahren,
an welchen ich mit ganzer Seele hänge 1! Es ist mir ein Eätsel,
wie ich mich von Zeit zu Zeit so vergessen konnte, ich. der ich nichts
mehr auf der Welt liebe, als meine Frau uud meine Kinderchen.
Aber der Dämon tritt an mich heran, ohne dali ich es merke ! Werde
ich dabei ertapj)!. so wird es mir erst in diesem Augenblick kiar, daß
ich wieder etwas getan habe, was ich nicht hätte tun sollen; es fallt
mir dann wie Schuppen von deu Augen, und es erfalii mich eine
furchtbare Qual und Sorge um meine lieben Angehörigen, denen ich
schon so fiel Kammer in dieser Hinsicht bereitet habe! Dies ist
sicher: ich will nichts Derartiges tun, nehme es mir jeden Morgen
fest vor und bitte den lieben Gott, mich davor zu schlitzen, und denn*
noch kommt es hin und wieder vor, daß ich ganz anders handle, als
es selbst mein aufrichtigster Wunsch wäre! Ich bin mir bewußt,
welche Strafe, oder, wenn nicht mehr Strafe, daß mir die Ein-
schließung in ein Irrenhaus bevorsteht, wenn ich wieder vor Gericht
kommen sollte, und trotzdem mich dieser Gedanke tägüeh mit Angst
und Schrecken ert'üllt und mir schon im voraus daln i fast das Herz
brechen will, wenn ich daran denke, welches Herzeleid ich den Liehsten,
die ich auf der Welt habe, welchen ich nur Freude bereitea möchte,
veruiäuche, uud welche schauerliche Zeit mir selbst bevorstünde, mache
4»
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52 !• Beiirige rar forenibdiea BeurteSong toh SUtliehkMteTwgelieD ete.
ich hio und wieder solche Sachen, nicht nns Frivohiät, sondern in
einer geheimnisvoUeu Anwandlunf^, die zu erkliireü ich mich vergeblich
bemühe, der zu widerstehen ich aber nicht im stunde bin!
Zu bemerken habe ich noch, daU ich seit Jahren ungemein nervüg
bin; es reizt mich jede Kleinigkeit foxclitbar, so daß ich mich schon
mit vielen Memichen verfeindete, und meine lieben Angehörigen tauk
viel daranter zu leiden haben! Es tat mir dies nachher immer fnroht-
bar leid, aber beherfschen kann ieh mich auch hierin nicht mehr«
Dos BewoBtsein einer Krankheit, wie sie sieh durah die geschlecht-
lichen Verirmngea m erkennen gibt, beugt mich schwer darnieder,
und oft^ wenn ich monatelang geschäftlich von den lieben Heinen ge-
trennt sein muR, erfaßt mich tiefe Schwermut darüber, warum gerade
an mich, der ich von jeher nur am Guten und Fullen Freude halte,
eine solche Sache kommen mußte! r3ie Aug8t, ich konnte wieder,
gegen meinen Willen, einen solchen Streich machen und meine arme
Familie dadurch ins Unglück stürzen, läßt mich nie mehr recht froh
werden! Die Erinnerung an das Überstandene ist so furchtbar für
mich, daß man schon deshalb meinen sollte, ich könnte nicht mehr in
den alten Fehler Texfallen, und dennoch! Bs rinnen mir bei dem Ge-
danken an meine Vergangenheit imd bei dem an meine und mdner
lieben Frau nnd lieben Kiedeidi«! Ztikonft, wenn dies nicht aufhört,
die Tränen über die Wangen! Ich hin nie leichtsinnig gewesen, war
höchst ideal angelegt, habe bis ins Mannesalter fleißig gelernt, nm es
zu etwas zu bringen, und ich hätte es zu etwas gebracht, wenn mich
dieser fürchterliche Dran^ nicht erfaßt, und ich dadurch nicht immer
wieder in den Abgrund gestürzt worden wäre!"
Zur Pathogenese der ex hilitionis tischen Neigungen
K.*s geben folgende Punkte Aufschluß: Schon vor dorn 10. Lebens-
jahre war Patient Zeuge, als ein Knabe mit einem 12 jährigen Mädcheu
einen Ooitusrersnch ausführte. Dasselbe HSdehen sachte anoh ihn in
reriUbren. K. wurde geschlechtlieh erregt, widerstand aber der Wer*
bung. Hierbei hatten aber beide Teile ihre Geschlechtsteile enthlöfit
Von nun an interessierten den Jungen K. Spiele mit sezueUen Be*
tastungen. So machte es ihm Freude, seine entblöfiten Ni^s gegen
diejenigen von Mädchen zu drücken. Ein anderes von diesen in ihren
sexuellen Erlebnissen schon Torgescbrittenen Kindern beliebtes Spiel
bestand darin, daß die Mädchen in auffjehobenen Kleidern, die Knaben
mit entblüBteu (ienitulieu abwechrieliul an einander vorbeizo;:en. Diese
Vorgänge übten einen mächtigen Einfluß auf des Patienten X^hautasio
und er/eugicu frühzeitig sexuelle Dränge. Ein anderes Spiel bestand
darin, das Bespringen von Stuten durch Bewegungen nachzuahmen.
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I. BeitrHge snr foreamchett Beorteilubg tod Sittli«likeitaTei|^1ieii «ie. 53
*
Derartige Spiele wurden oft wiederholt, uud K. freute und errate,
tieh an dem Anblick der GeDitalien und Situationen mit Bexaellem
Charakter.
Die Erinnerung an diese sexuellen Erlebnisse des frühen Kindos-
alters blieb so fest in der ErinnpninL'' des Patienten haften, daß er
heute tri)tz der inzwischen vertlossenen 38 Jahre sich aller Einzel-
heiten ilerselben bewulit ist. Schon vor dem 14. Ijebensjahre versuchte
er, einem Dienstmädchen unter die Röcke zu greifen ; diese ßetastimgs«
veisache worden fortgesetst bei dem weiblichen Ladenpereonal, mit
dem er zwischen dem 14. und 17. Lebensjahre bemflich in Berfthrung
kam* Gleichzeitig begann er zu onanieren, und der Anblick sowie
das Betasten Ton weibliehen Genitalien, spielten in den be-
gleitendoi sexuellen YorBtellnngen die Hauptrulle. Der Ursprung
dieser im späteren Leben so verhängnisvoll werdenden Vorstellungen
ist also in dem mächtigen und nachhaltigen Eindrucke zu suchen, den
die eigentümlichen Jugendspiele auf das ohnehin durch erbliche Be-
lastunL»; flisj)i)Dierle Gehirn des K. ausübten. Der wirkliche Zusammen-
hang ler (leschlechtsvrrhältüisse war dem Patienten damals noch un-
bekannt, und die AufkÜlnin;» erfolgte orst mit 21 .Jahn-n.
Als es ihm zum ersten Male gelang, weibliche Lüenitalien einer
erwachsenen Person zu berühren, indem er unter den Eiickeu die be-
haarten Teile ergriff, erschrak er und wußte sich diese Erfahrung
nicht zu erklären. Im 19. Lebeosjahre folgte eine neue Bernhmngs-
form. Er rieb an den Nates eines liUdchens sein Glied, bis Ijjakulatton
erfolgte. Das war seine erste GesehleehtsbefriedigODg im Beisein einer,
weiblichen Person. Erst als Elojährig-Freiwilliger kam er zur Aus-
fUhrung des Coitus. Aber auch schon bei diesen normalen Erfahrungen
des Sexuallebens erwies sich ihm das Betasten und Betracht! u d.T
weiblichen Genitalien als eine Bedingung für die sexuelle Hrregung,
woraus später sich eine Conditio sine <ina non für dir Ptitenz ent-
wiLkelte. Ebenso — stellte er sich dauiaU vor — müsse das Weib
erregt werden durch den Anblick seiner Genitalien. Berühniiig und
Anblick von Genitalien begleiteten auch die Traumpolluiionen, und ia
einer ganzen Anzshl ▼onElllen kam es unter Orgasmus zur Ejakulation
schon bei dem Anblick von weiblichen Genitalien ohne onanistische
Nachhilfe und ohne Biofuhruog des Gliedes in die Scheide. Ebenso
trat mehrfach spontan Samenerguß ein, sobald Patient einem Weibe
die Röcke aufhob oder ihn Genitalien betaste Diese in der Jugend
angeknüpften Assoziationen mit pathologischem Inhalt, welche sich
natürlich nur auf einem durch erbliche Belastung vorbereiteteo Boden
entwickeln konnten, bekamen somit den Charakter von Zwangs-
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54 Beitrüge zur forensischen BearteUung vou SittlichkeitsvergchcD etc.
TorBtellnng« u und waren bereits unzertrennliche Begleiter seioer
eexnellen Erlebnisse geworden. Auch Einzelheiteo der ursprünglichen
Bilder beherrschten das sexuelle Vorstellungslebeo späterhin in einem
beniprkpnswrrtfn (5rade. So führte Patient spinr Spezialität auch im
ehelichen Sexualverkehr ein. Wenn et (iu seltenen Fällen) den Cnitiis
im Bett entkleidet ausluhrte, erregt« es ihn geschlechtlich viel nn hr,
seiner Frau unter die Röcke zu greifen, die Genitalien zu betasten,
darauf die Frau hinzulegen uud sich die Genitalien anzusehen, als
der natürliche Akt. Die Entblößung der Genitalien bei
sonst bekleidetem Körper nnbm seine gansie Einbildao^cnft
gefangen; schließlich interessierte ihn das Weib ak solches nicht mehr,
nur ihre Genitalien. Damit kam ein fetischistischer Zug in seine Vita
sezaalis. Die sexuelle Erregbarkeit, die ErektioiMf&bigkeit standen
ganz im Banne des Anblickes von Genitalien. Im ehelichen Verkehr
zeigte sich bald eine geschwächte Potens, wie aus den Briefen der
Frau hervorgeht. Die Abnahme seiner sexuellen Leistungsfähigkeit
schol) Paüent seinen .Tahren zu, in merkwürdi^rer V^rkennung der ihn
immer mehr heherrscliendrn scxiiellm Zwan<^s/ustände. Auch darin
war er den ErinniTniirrshildern aus seiner Jugendzeit treu, claU ihn
Mädchen im Altt r von 10—17 Jahren besonders erregten. Die Idee
der völligen rnkeuninis derselben iu sexueller Beziehung fachte seine
Libido mächtig an. Und wenn er schließlich eine Art seelischer
Defloration an nichts ahnenden Kindern durch Demonstration seiner
Genitalien Tornehmen wollte, so ging er Ton der Annahme aus, daß
andere Personen sexuell ähnlich reagieren würden, wie er selbst. Mach
seiner Meinung mußte der Anblick seiner eigenen Gmitalien auf nn-
schuldige, im Pubertätaalter befindliche Mädchen shokartig verblüffend
und geschlechtlich ebenso erregend wirken, als auf ihn die Betrachtung
weiblicher Genitalien, während ältere weihliche Personen mit sexueller
Erfahrung dadnroh viel weniger oder garnieht aus dem Gleichgewicht
ge!)racht worden könnten, Kine wpitore Stcijjcrunfj dieser Vorstellnngs-
richtung faud durcli die i^eine sexuellen Träumereien beherrschende
Einhilduncj Rtatt, dal) ein anständiges, sexuell unbenutztes, an den An-
blick mänulicher Genitalien nicht gewöhntes Mädchen mitchtig erregt
werden mUsse bdm Anseh«ii seines nackten Körpers. Daher die Be-
fürchtung seiner F^an, ihr Maon werde sich eines Tages noch nackt
auf der Straße zeigen.
Der Kern dieses sexuellen Wahnsystems war und blieb
immer der, sich seihst geschlechtliche Erregung und Befriedigung zu
Terschaffen durch Erzeugung geschlechtlicher Gedanken
und Dränge in unwissenden und unschuldigen Mädchen. Solche
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1 Beitrige zur foretttiMfaeo Beurteilnng Ton SittlichkeitaTerge1i«B etc. 56
Phantasieschwelgereieu eudigten zeitweise mit Masturbation. Die Lektüre
der Enthüllungen der Fall Mall Gazette gab den letzten AnstoU zur
praktischen Ausführung seiner sexuellen IMäue. Er exiubicrte also
8 — 10 mal in der fi^gel an öffentlichen Orten Tor Kindeni. Drei
dkaet F&Ue worden angezeigt und flihrten sn gerichtlichen Nach-
spielen. Sein geschlechtliches Verhalten hierbei war ein ganz ver-
schiedenes; der Akt der Eixbibition allein genügte in einigen Fällen,
Samenerguß herronnrnfen, in anderen Fftlien trat Ejakulation sogleich
bei (1er Berfihruiig mit dem kindlichen Körper ein.
Der erste Fall . welcher Gegenstand einer Anklage wurde,
q»ielte sich in folgender Weise ab:
Ah Piitifüt eines Tngos in den örtVntlichen Anlagen einer größeren
Stadt vier kleine, im .V'er von 12- — 15 .Jahren stehende Mädchen er-
blickte, suchte er ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Unter
dem Anschein des Urinierens entblößte er seine Genitalien in einer
solchen Weise, dali die Kinder dieselben ansehen mußten. Dann
lockte er durch Geberden die Mädchen zu sich heran und Tersprach
ihnen ein Geldgeschenk, wenn eine von ihnen sein Glied bortthieu
würde. Zur weiteren Ausführung der Handlung kam es nicht Denn
auf Asamgß eines Spaxierg&Dgers wurde er fiberrascht und Ter-
haftet. Das Resultat der Gerieb tST erb and Inng war % Jahr
Gefängnis.
Es verging nach Abbößung der Strafe kein Jahr, ohne daß Patient
sieh von nenem zu verantworten hatte: Die^e^mal handelte es sich
um PI!» .Mädchen im Alter von 13 Juhreii. welciies in dem Park einer
grolicrcn Stadt Deutschlands Holz sunuuelte und auf diese Weise
der Bank näher kam, auf der K. Platz genommen liatte. Wieder
demonstrierte er dem Kinde zuerst sein entblößtem Ulied. Sobald das
Kind sich seinen Wünscheu willig zeigte, hob er ihr die Kleider von
hinten anf und bertthrte mit seinem erigierten Penis die Nates des-
selben. Diese fierUhrung genügte, um Ejakulation eintreten zu lassen.
Wiederum Anzeige, Verhaftung. Urteil: 1 Jahr GefSngnis.
In dem 3. Fall ging Patient offenbar unter dem Einfluß starker
geschlechtlicher Dränge in den Anlagen einer kleinen Stadt spazieren,
hatte sein Glied bereits entblößt, aber den Überzieher derart darüber
geschlagen , daß auf den ersten Anblick nichts Auffälliges an ihm
wahrzunehmen war. Sobald ihm nun • itfige von derSchnlG heimkehreode
Mädchen f Alter 1.^ — 16 Jahre) itcgegueteu . Hchlug er den Mantel
zurück und demonstrierte ihnen seine Geschlechtsteile!
Dieser zweite iiückfall gab erst den Behiirden \'eraiila.ssung, den
Geisteszustand des K. durch ein gerichtsam Ilicheä Guiaehieu fest-
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56 ^* Beitrlige rar foreniucheii Bearteilnng toa 8ittlielikeilsrei]g«hen etc.
stellen zu lassen. Das Gutachten gibt einen kursorischen überhlick
über die üeauDdheitsverhiiltuisse des Angeklagten, betuat das Impul-
aive der dreimaligeQ Vergebungen, die Wiederholung derselb«! Hand-
lang troti swdmaliger BestraüiDg und kommt zu dem SchlnB, daB
K., eine degenertttire neuroapychopathische Natur, im Zustande des im-
pulsiven Irreseins gehandelt habe. Demnach seien die Handlungen
aufzufassen als das Resultat einer krankhaften Störung der
Geiatestätigkeit, durch welche die freie Willensbe-
stimmung aufgeboboti ei.
Dieses Gutachten liattc die Einstellung des Verfahrens zur Folge.
Die e X Iii 1) i t i o n i s t i s c h e n A ii f iil ! »■ traten beim Patienten episo-
disch auf, ltp«on(l<'rs nach Zeiten längerer sexueller Abstinenz oder
bei besonders lebhafter Anregung seines Geschlechtstriebes. Seine
Potenz war in den letzten .fahren geschwäcbt, er verkehrte selten
mit seiner i'rau, mitunter iiasko ioi ehelichen Verkehr infolge von
mangelnder Brektion oder Zuhilfenabme exhibitionistischer Vorstellungen
für firseugung von Brektionen. Indessen iÜblt er sich durch den
ehelichen Sexoalrerkehr nicht befriedigt. Andererseits triigt er als
Verheirateter moralische Bedenken Tor dem außerehelichen Gesohlechts-
verkehr* Dazu kommt, daß sein Beruf ihn nötigt, oft monatelang auf
Reisen za sein. Masturbation wird verabscheut
Somit stehen die geschlechtlichen , zur Betätigung drängen-
den, tief in seinem geistigen Leben wurzelnden Ideenverbiudungen
den ethischen Vorstellungen der Familienpüicbteu gegenüber und
fübreu zu heftigen seelischen Konflikten. Je mehr die K^^xtu'lleii Phan-
tasieeu bei Tage unterdrückt werden, um so lebhafter kommen »io in
den Träumen des Patienten, die allerdings nur selten von Pollu-
tionen begleitet sind, zur Geltung. Trotz der oben erwähnten Be»
denken suchte K. einige Male, um sidi Ruhe au verschaffen, Puellae
publicae auf. In der Regel resultierte aber, wenn der Akt nach Über-
windung des £kels mit Mühe gelungen war, eine um so stärkere An-
regung der Libido, ein lebhafteres Aufbreten der eichibitioniBtUehen
Phantasieen. Schließlich erfüllten die immer mächtiger sich auf-
drängenden Bilder sein Bewußtsein derart, daß die Rücksicht auf
die familiären und sozialen Pflichten, auf die augenblickllehe Um-
gebung gänzlich unterdrückt wurde und während der .Anfälle ihren
hemmenden Eintiuß viillig verlor. Die sexuellen Zwangsvorstellungen
bekamen den (^harakter des Suggestiven und realisierttm sich durch
die oben genannten Handlungen. Erst nachdem die Ejakulation einge-
treten war, folgte die Erkenntnis der Tatumstäude und der augenblick-
lichen Situation.
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I. Beitrilge nir lorenaiselL«!! Beurteilung Ton Sittlichkeitsrergehen etc. 57
In den Anfallen selbst bestoht weder Schwindel, iiorh Angst, und
di' EritineruDg an die Einzelheiten der Tat ist nach Auslührung der
sexutiieü Impulse im vollen ümfaiip;e vorbanden.
Patient begab sich auf Veranliissuuj,' st'ints Hnusarztes in die
Behandlung des \"ert'asst;rs und machte eiue zweimonatliche
SaggesÜTkur darcfa. Die Suggestionen beasweokten eine Abeebwäcbuug
der krankhaften VorBteltangsriehtung, sowie Stärkung des normalen
Geechlechtelebens. Während der Daner der Behandlung keine ex-
hibitionistische Anwandlung mehr, Rückkehr der Potenz im ehelidien
Yerk^r. Patient konnte aus äußeren Gründen nicht länger als zwei
Monate bleiben und wurde als erheblich gebessert eutlasseu mit dem
Auftrage, für regelmäßige 13efriedigung seines Geschlechtstriebes zu
sorgen und bei etwaigem Wiederauftreten der alten Zwaogsvorstellunp^en
behufs suggestiver Be^f itigung derselben sich unTerzUglich von neuem
in ärztliche Behandlung z« bej^ehen,
Patient ist seit 9 Monaten eutls^sen und ließ nichts weiteres von
sich hören.
•
Fall V. Fortgesetzte Exhibition an öffentlichen
Orten. Anklage. P> eobachtunf» und Gutachten des Ver-
fasscrii. A u s f ü h r I i e Ii I! Pathogenese der Störung des
Sexuallebens. Onanie. Neurasthenie, in ii H i f»e r S c h wa eh -
sinn. Freie W i II e u s bes tim m u u g nahezu ausgeschlossen.
Auf Antrag des Verfassers Beobachtung durch einen
Irrenarzt Gleichlautendes Gutachten des Oberarztes
Dr. Focke. Freisprechung.
Vorgeschichte und geschlechtliche Entwicklung des
Angeklagten.
Der Angeklagte Porträtmaler L., ist 31 Jahre alt, hat zwei ge-
sunde» sexuell normale Geschwister. Vaters?ater starb an Schlag-
anfidli Vatersbmder an einem Lungenleiden. Mutter lebend, leidet an
Schwindelanföllen. Vater lebend, gesund. Zwei Sdiwestem des Ange*
klagten sind magenleidend. £in Bruder nahm sich als Knabe das
Leben, wie es scheint, aus krankhaftem Ehrgeiz.
Im 7. Lebensjahre machte L. die Cholera durch und war sehr
schwer krank, kam aber mit dem Leben davou. Sonst sind schwerere
Erkrankungen in der Vorgeschichte des Pattenten nicht zu verzeichnen.
Bis zum PI. Jahre besuchte L. die W erktagsschule, vom l'-i. bis
17. Lebensjahre war er im Geschälte des Vaters tätig. £r liihltc
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58 BeitrSf^e rar foreaiiscIieD Bcurteilaog ron SittliohkeitsvergeheD etc.
sich aber wedt r auf der Schtilo. noch in der gewerblichen Tätigkeit
befriedigt, sein Khrgeiz, .stiu \\ issi nsdursi, seine rege Phantasie drängten
ihn in die künstlerische Laufbahn. Kr wurde Schauspieler und
zog 2 Jahre lang mit einer wanderutieu Truppe von Ort zu Ort. Aber
auch hier fand er nicht sein ideal erfüllt und kehrte von neuem in
das Geschäft seines Täters zurück, um darin tätig zu sein, aber nur
filr ein Jahr. Dann wurde L. Maler und übte nach Beendigung der
Studien seine Kunst mit innerem und äußerem Erfolge nun etwa ein
Jahrzehnt aus. In dieser Zeit seiner Tätigkeit ist es ihm gelangen,
sich einen geacliteten Namen unter seinen Kollegen zu machen und
sich auch in materieller Beziehung so weit sicher zu stellen, daü er
vor 2 Jahren nn die ßej?riindiing eine?: Familienlehens denken konntet
Seitdem lebt er in glücklicher, l»is jetzt kinderloser Ehe.
Die Phantasie und Sinnlichkeit des Patienten scheinen in-
folge erblicher Anlage vnn frühester Kindheit an abnorm er-
regbar gewesei» zu bein. Ob schon vor dem 9. Lehensjahre bemerkens-
werte Erlebnisse nach dieser Richtung vorgekommen sind, läßt sich
nicht feststellen/ da Patient keine Erinnerung daran hat. Dagegen sah
er im 9. oder 10. Lebensjahre einmal zu, als Mitschüler onanierten.
Als unwissendes, unaufgeklärtes, neugieriges Kind machte er nadi, was
die anderen ihm zeigten. Er erinnert sich, schon vor dieser Zeit ein-
mal im Abort ans Neugier den Geschlechtsteil eines Spielgenossen sn-
gegriffen und dadurch sexuelle .Erre;]:u hl: gehabt zu haben.
In dieser Weise wurde er als ahnungsloses Kind auf die
Onanie aufmerksam pcmacht und gab sich derselben mit allmählich
immer mehr wachsender Leiib npchaft hin und ist auch heute noch — .ilso
nunmehr seit etwa 20 Jahren — dies» m verbäii^rnisvollen Tri'be
ergeben. Während dieser Zeit onanierte L. imnu r ni e h r ni a 1 s wöchent-
lich, in der Regel aber täglich, und nutunier mebruialü läglieh.
In einigen Fällen wurde sogar anstatt des Samens B 1 u t ejaku-
liert. Der Blasenzwang, auf den ich später zu sprechen komme, sowie
die äußere Gestaltung des Gliedes (anormale Größe des Penis)
sind als Folgen der fortgesetzten starken genitalen Reizungen anzusehen.
Im Alter Ton 13 Jahren wurde er über den Zweck und die Be*
Ziehung der Geschlechter aufgeklärt. Seine ohnehin lebhafte, zur
Ausschweifung neigende Phantasie begleitete von da au die
Akte der Selbstbefriedigung mit allen möglichen Bildern sexueller Art.
Immer aber standen weiblirli.' Personen . üppicre weibliche Formen
und der Verkehr rnit Frauen im Mittelpunkt derselben. Auch im
Traume tauchten die f,'leiclien Vorstelhmgen auf. b-^sleiteteu frelt'r,'ent-
liche Pollutionen und führten schließlich zur krankhaften Uber«
Digitized by Google
L Beiträge zur forenrischen Beurteilung von SitttieIikeiiirerg«ikeD etc. 69
treibung. Sclion damals zeigte sicli in diesen Bildern eine Vor-
liebe für die Vorstellung:: männlicher nnd weiblicher
Genitalien. Bis zum 21. Lebensjahre ersetzten ihm diese sdilieR-
lich durch die jahrelange Gewöhnung automatisch auftretenden
Vorstellun<2:sTprbindun£rpn die Wirklichkeit ^vpim auch ErinnoninjE^s-
bilder bekannt er Persfinen mit verwendet wurdeu. Bei BfurteiluLf^
des sich hier alispieh'nden Prozesses ist 7.\\ berücksichtigen, daß ciue
solche psychische Betätigung hei den lü a s t ur hu tori sehen Akten
eine ungleich etärkere Anstrengung der Phantasie er-
fordert, als diejenige beim normalen Gescblechtsiapport nnd seinen be-
gleitenden SinnesempSndnngen sein kann, oder als diejenige ist, welche
notwendig erscheint bei Herrormfnng von Brinnernngsvorstellungen
wirklicher sexueller Erlebnisse. Also je weniger aus der wirklichen
Erfahrung geschöpft wird, um so größer ist der Spielraum, für die
Einbildungskraft, aber um so anstrengender und gef&hrlicher ist di^
Tätigkeit für das Individuum.
Die Phautasieen des Patienten nun bezogen sich etwa lO.Tabre
lang Icdiglicli auf die bildliche Vorstellung von weih lichen
Formen und Gesehl echt steilem denn die vvirkiiche Er«
fahrung des eigenen sexuellen Rapj)urts fehlte bis da hin.
Dieser 10jährige Mißbrauch seiner Einbildungskraft in
geschlechtlicher Beziehung ist dem Patienten fUr die Zukunft sehr
nachteilig geworden; denn er konnte sich nie mehr ganz von diesen
so SU sagen zwaagsartig infolge der Gewöhnung arbeitenden Aus-
schweifungen seiner regen Phantasie freimachen. Überhaupt ist ja das
im Wachstum begriffene Gehirn, und zwar besonders in der Zeit der
Pubertiity sehr geneigt, starke Eindrücke aus dieser Zeit in der Er-
innerung festzuhalten, so daß die Spuren davon im späteren Tjehetis-
gange der TTuHviduen sich immer wieder zeigen und nicht verwischt
werden können. der Bevorzugung des optischen, visuellen
Teiles in der sexuellen Betätigung stimmt ja auch überein das
malerische Talent des Tnkulpaten.
Hiemach kann es nicht Wunder nehmen, daß der erst im 21.
Lebensjahre unternommene Beischlaf des Angeklagten ihn sehr
enttäuschte. Die Wirklichkeit, wie sie ihm bei der Prostituierten
entgegentrat, konnte nicht in Eonkurrenz kommen mit seiner schön
färbenden -ttbertreibenden und unendlich Tariierenden Phantasie.
So waren fär ihn also die inneren Erlebnisse bei seinep onanisti-
Bchen Orgien viel reizvoller, als die wirkliche Erfahrung mit dem
weiblichen Geschlecht. Indessen machte er trotzdem mehrfach den
Yersncb, zur Natur zurückzukehren und coitierte zwischen dem
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60 X> Beitrüge sur foreosiichen BeurtoiloDg von SittlieUceitsvergdLen etc.
2t I. UD(129. Lebensjahre et\v:i zehnmal, fand aber niemals
j u ö Befriedigung, welche die ihm zur zweiten Natur
gewordene Onanie ihm darbot. A'ielUicht ma^; auch als änßeres
Moment der l'nistaud mitgewirkt haben, daß die masturbaturische
BefriediguDg durch die Haud sein Glied au eiueo kräftigeren Reiz
gewöhnte; wie er durch die Friktion an den weichen Sddeimhftnten
der weiblichen Vagina ttherhanpt nicht oder nur mit Mtthe zu erzielen iat.
Somit blieb Patient auch fernerhin infolge mangelnden Genuise« im
normalen Verkehr seiner alten Leidenschaft treu.
Im Alter von 24 Jahrea badete L. einmal in einem Badehaus
bei Starnberg; zufälligerweise hatte die Zelle neben ihm eine Dame
inne; er bemerkte nun, daß seine 2sachbarin durch ein Astloch sich
seinen nackten KTirper betrachtete, und geriet durch diese Wahrneh-
mung in einen solchen Grad gescbiechtücher Erregung, daß er sich
nur mit sofortiger Onanie zu helfen wußte.
Dieser \ i>rfall bietet zum erstenmal jene Momente, die für
die Folge so verhängnisvoll werden tsollteü, nämlich den Anblick der
eigenen Genitalien durch ein Weib, welches offenbar nach Ansicht des
Patienten sich selbst damit geschlechtlich erregen wollte. Bei seiner
Neigung, das Bildliche im Sexuellen zu bevorzugen, bot
ihm dieses Ereignis neuen Stoff fttr die «lanistischen Träumereien.
Er malte sich nunmehr lebhaft aus, daß der Anblick seiner Geni*
talien auf Mcibliche Personen aufregend wirke. Diese
Vorstellung rief Erektion herror und wurde zur Lieblingsidee beim
Onanieren.
Wie sehr er übrigens selVist sich für den Anblick der weiblichen
Genitalien interessierte, geht daraus hervor. daI5 er VergnÜL'en daran
fand, die (ieui talien Akt stehender Modelle genau zu be-
trachten, daß er außerdem diese Teile lür sich allein wiederholt malte.
Gelegentlich onanierte er auch iu Gegenwart von Modelleu oder ließ
sich durch dieselben masturbieren, während er den normalen Verkehr
möglichst vermied.
Ein Jahr Tor seiner Verheiratung wohnte Patient einem End-
lichen Tanz feste, bei und ging gelegentlich abseits zum XJrioieren.
Der Torangegangene reichliche Alkoholgenuß mag in diesem Fall den
Mut L.'s gesteigert haben; er benutzte diese Gelegenheit zum erstenmal,
drehte sich rasch um, präsentierte den in der Nähe befindlichen
Bauemmädchen seineGenitalien. Die Mädchen lachten und faßten
den Vorfall als Spaß auf, w:Lhr<nd der Angeklagte hierbei in eine
heftige geschlechtliche Krreguug (Onanie) kam.
Die Vorstellung des Exhibitionierens wich nach diesen
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L Beitrag« rar f<»renU9oh«n Beiirteilang Ton 8ittlidikeitsverg«lien «tc 61
beulen Krle])iiisspn nicht mehr von ihm , sie beßleitote ihn bei der
Oriai)ie, sie vt'rfol«te ihn in seine Triiunie. sie siaud im Mittelpunkt
seiucs geschlechtlichen Fiihlens und bekam einen zwangsartijSfen
Charakter. Die Onanie wurde schrankenloser und bäu6ger betrieben
.als buhor. Der Drang, diese seinen individttellen Wünschen adä-
quate Art geschlechtlidher Erregung, die ihm mehr Befriedigung bot,
als die einfädle Onanie und der SexnalTerkehr, Ton neuem au pro-
hieran, wurde immer lebhafter und mächtiger. SchUeßlich be*
herrschte ihn das krankhafte Verlangen derart^ daß er, unfähig den
• l^rieb su sttgelo, jede Bücksicht beiseite setzte; er exhi bitionierte
von neuem, und zwar in Müuchen in der Annastraße. Den ganzen
Vorfjnng ließ er — analog nach dem ersten Erlebnis — wieder wie
zufällig sich abspielen, indem er scheinbnr nrinierend die Heran-
kommenden beobachtete und sich plötzlich unidrehle. wenn das Opfer
nahte. Kr wurde damals der Polizei angezeigt: man schlug aber, wie
er angibt, die Sache nieder, und er entging der Strafe. Seitdem e.\-
hibierte L. wiederholt, und zwar in der Jäegel gegen Abend in einer
öffentlichen Anlage neben einer größeren Restanration, wohin Dienst-
mädchen zum Bierholen gingen. Diese Vorfälle flihrten schließlich
.zur Anklage des Patienten.
Vor 2—3 Jahren erfolgte dann die Verehelichoog des Angeklagten.
Aber auch der geregelte sexuelle Verkehr des Ehelebens
konnte seiner krankhaften sexuellen Emptindungsweise nicht genügen;
derselbe vermochte es nicht, der geschlechtlichen Zwangsvorstellung den
Boden zu entziehen. Sein Versuch, die eigene Gattin für seine Spe-
zialität (Masturbation ! zu gewinnen, mil^lang. l^nd so lebt L. heute in
einer scheinbar glücklichen Elie; er koniiut seiuen ehelichen Pflichten
regelmäßig nach. Währ<^nd also in dieser Weise seine Frau nichts
entbehrt, gibt er sich int geheimen seiner alten Leidenschaft, der
Onanie häufig bin und steht aadi während seioer Verheiratung noch
in dem Bann seiner exhibitionistischen Gelüste, deren Betätigung, wie
es scheint» allein im Stande ist, dem Patienten Tolle Befriedigung zu
gewähren.
Status praesens.
L. ist blond, groß, gut genährt, besitzt normale äuHere Genitalien;
sein Glied ist in erschlafl^tem Zustande ziemlich groß (infolge von
Onanie). Vena dorsalis penis stark vorspringend i Varikosität».
Störungen von selten der Respiration^- und Cirkulatiousapparate
nicht nachweisbar.
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()2 i. Beiträge zur forcusiscUen Beurteiluog voo Sittlichkcitsvergeheu otc
Uobilit&t und SeoalbilitSt ahne Abwetohnngen.
Degenerationtzeichen körperlicher Art fehlen. Sehldelbildnng
normal. Prompte Beaktion der Papilleo. Dieselben nigen mittleie
Weite. Konvergenz der Augenmnekdn normaL
In dem Gebiete des KerTonsystems sind Störnngw »i be-
merken, wie sie einerseits darch erbliche Anlage, andererseits io folge
jahrelanger unuiäßig betriebcnier Onanie entstehen können. L. leidet
an Stirn k o p fw eh, das anfallsweise wöchentlich etwa 1 — 2mal
auftritt, bi'sonders im Anschluß an onanistische Praktiken.
Ft^rner klagt er über P^rschcinungen von Schwindel, über
mangelndes (^et'iihl des körperlichen Gleichgewichts,
Ohnmachtsanwandlungon, Schwimmen vor den Augen,
Kongestionen zu Kopf, über Angst- uüd Beklemuiuugs-
zustände. Außerdem sind Symptome der Spinalirritation Xtt
konstatieren in Form Ton Rfickenschmerzen besonders nach waem
sexuellen Ezsessen. Patient zeigt eine leicht erregbare Herz*
tätig k ei t H e rz klo p f e n bei geringen Anlässen (Tr^penitdgen etc.),
Empfindung von Druck und Schmerzen in der Brust. Smu Schlaf
ist unruhig, unterbrochen durch Pollutionen von abnormer Häufig-
keit (mehrmals M<ichentlich neben den sexuellen Betätigungen). Hier-
nach darf man wohl eine reizbare Schwäche des Lendenmarkes
annehmen. Nach dem Erwachen des Morgens Gefühl der Ab-
geschlagen he i t. Bei Aufregungen sowie infolge angestrengter
Arbeit: Kopfdruck im Hinterkopf. Obwohl Patient täglich nicht
mehr als 3 Grlas Bier trinkt, bestaht große Keizbarkoit des
Blasenmuskels, vermutlich eine Folgeerscheinung der Onanie.
Die Sinnesorgane zeigen keine Störung.
Die bisher geschilderten Erscheinungen entsprechen dem Krank-
heitsbilde der N e u r a s t h e n i e.
Diese Annahme wird auch durch das psychische Verhalten des
Patienten bestätigt.
L. macht einen ängsthcben, aufgeregten und deprimierten
Eindruck, wie es ja als natürliche Folge seiner jetzigen Situation
zu erwarten ist.
Eiue förmliche Geistesstörung ist weder im Vorleben des
Patienten, noch im jetzigen Augenblick zu konstatieren. Ebensowenig
hat eine äußere Schädigung des Gehirnes stattgefunden (durch
Sturz oder dergl.). Bewußtseinstrübungen, welche keinen Zu-
sammenhang mit dem Geschlechtsleben zeigen, ausgesprochene
Symptome von Epilepsie, die ja infolge Ton exzessiTer Onanie
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L Bcitrige snr foreiisi«chea Beortcilung von SittlichkeitirergdkeD ete. 63
mitunter beobachtet wird, oder Zwangszustände anderen Charakters
sind nicht nachweisbar.
L. ist eine schwache, haltlose, leicht beeinflußbare
l^atnr. Die fortgesetzte Onanie und die gesteigerte einseitige Kichtung
de« Denkens auf sexuelle Dinge, sowie eine gewisse Widerstands-
unfähigkeit des Xervensy Sterns auf erblicher Grandlage haben
einerseits eine för den Fachmann nicht m Terkennende psychische
SchnriUshe^ «ndereiseits eine abnorme Steigerang des gesohlecht'
liehen Trieblebens zur Folge gehabt.
Diese Schwäche zeigt sich in einem Mangel an Selbstver-
trauen, in häufig auftretender Unfähigkeit zur beruflichen Arbeit,
in leichter psychischer E r m ü d Ii a r k o i t , in einer {gewissen
\' e r f 1 a c h u Ii g des Gedankenganges, in der Unfähigkeit ZU
intensiver eindringlicher geistiger Beschäftigung.
Femerbestehen deprimierte Stimmunge n (aiicli auOerhalb
der Zeit des Aiiklagezustaudes), Weinerlichkeit, tSelbstniord-
Ideen — aber Energielosigkeit, so daß es wohl kaum zur Aus-
fOhrung derselben kommen dürfte. Außerdem sind eine erhöhte
psychische Beixbarkeit wa konstatieren, sowie eine Ab-
schwSchung des Gedächtnisses, Schon die Art, wie Patient
selbst s^oe aenielle Empfindnngsweise beurteilt, seine Dniähigkeit^
mir das fär das Gutachten nötige Material selbständig an bieten, der
Mangel an Initiative in seinen ureigensten Interessen, die kind-
liche Form der für mich abgefaßten Autobiographie, ein
gewisser Mangel im logischen Denken etc. etc.. das aber
sind auch Zeichen, daß der Geisteszustand des Angeklnrrton nicht den-
jenigen niiitli ren Ansprüchen genügt, die mau an einen 3ijährigcn
Mann seintM- Stelhmg richten darf.
Dagegen M das geschlechtliche Triebleben auf Kosten
der sonstigen psychischen Funktionen durch erbliche Eeanlaguug und
änflere Erlebnisse, die ihren Ursprung in der Ktnderzeit haben, ab-
norm stark entwickelt, so stark, daß es fraglich erscheint,
oh Patient noch aus eigener InitiatiTe die beim nor-
malen Menschen vorhandenen Hemmnngsvorstellungen
moralischen Inhaltes nachhaltig und erfolgreich /u be-
tätigen im Stande ist. Aul^erdem aber erscheint seine sexuelle Em-
pfindungsweise als pervers. Sein psy chosexueller Mechanis-
mus ist im Laufe der Zeit mit Hüfe von äuRtTen T'mständen und
durch Onauie füi- ^'nrstt'lhlngen und Haadhiugen krankhafter oder
ganz läppischer Art, wie bie der E.vhibitionismus darstellt, an-
spruchsfähig geworden. Vorstellungen und Handlungen dieser
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ti4 Beitrag« war forennsehen BeurteiliiDg Ton 8ittUdik«tfrergehen etc.
Art nifen in dem Patieriten eine stärkere geschlechtliche Erregung
hervor, und befriedigi'ii ihn uiehi, als der uoruiate geschlechtliche Ver*
kelir. Selbst die Onanie bietet ihm ein wirkBameres l^fnedigungs-
mitt«l, ala der beteroseznelle Rapport. Und in der Art der Aus*
Übung dieser sexuellen Tätigkeit ist h» maßlos, er bat den
Maßstab fftr das im eigenen Interesse Zweckmäßige Töllig Tsrloren,
obwohl er sich der ungewöhnlichen Bicbtang seines Triebes nnd seiner
sexuellen Hyperästhesie wohl bewußt ist.
Die Rückwirkung auf sein Empfinden und Haodein, nuf sein
ganzes geistiges Leben, seinen Charakter, konnte niclit luishlriben und
führte srlilitBlich zur rücksichtslosen Entäußerung der ge-
s ch 1 • c Ii t i i (' Ii eu Dränge, zu einer Realisierung der Vorstellungen
seiner erhitzten Einhildungskraft, zu einer Verletzung des «Scham- und
Austands<?efühles und zum völligen Cynisnius.
In Züsauiuieutassuug der vorstehendeu Darlegungen erscheint der
Angeklagt« als eine erblich belastete Persönlichkeit mit
einer bis in die frühe Jugend snrOck au Terfolgenden abnorm
starken Erregbarkeit des geschlechtlichen Trieblebens.
Exzessive Masturbation seit fast SO Jahren schließlich
mit zwangsartig auftretenden Vorstellnngen der Ex-
hibition. Als Folge der erblichen Anlage und der Onanie Zeichen
geistiger Schwäche und allgemeine Neurasthenie.
Die Tatumstände.
Was nun die deui Angeklas^ten zur Last gelegten Haiifllungen
betriift, so kommen folgende Punkte in Betracht; J)ür wieilerholten
sexuellen EntüuOerung in Form des Exhihitionierens ging in der Kegel
eine lange anhaltende und mitunter Stunden dauernde geschlecht-
liche Erregung voraus. Der Gedanke der Exhibition be<
'scbäftigte als Zwangsvorstellung den Patienten so vollständig» daß er
Erektionen bekam, die Stunden lang angedauert haben sollen.
Versuche, dieselbeu zu unterdrQcken oder durch Ableitung der Auf-
merksamkeit oder durch kaltes Wasser sie XU beseitigen, kurzum die
Erregungen zu bekämpfen, mißlangen. Mit die^sen Erregungen
waren rrg* Imiißig Kongestionen zu Kopf, Kopfschmerzen und
besohleuii i '/t e M-zTzaktion verbunden. Dagegen bestand keine
Aura, kein kSchwiudel, wie bei epileptischer ExlübitioD. Einmal
ging auch mehrtägige sexuelle Abstinenz voraus.
Die ganze krankhafte Entwicklung des Geschlechtslebens hat all-
mählich auch einen tiefgreifenden Einfluß auf die Veränderung der
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I. Beiträge zur torensisciien Beurteilung von bittlichkeitsTcrgehen etc. (Jo
etbisehen und intellektnellen Funktionen gehabt in der
Weise, daß die hemmende Wirkung jener Faktoren in demselben
Grade abgeschwächt wurde, in welebem die anormale Steigerung des
exbibitionietischen Dranges immer mehr wuchs. Je öfter diese eigen-
artige geschlechtliche Befriedigung gelang, um so stärker wurde das
Streben, die Hnndhing zn wipderholen. Schließlich wurde das
Bewußtsein gäuzlich durch den Gedanken der Ent-
äußerung dieses Dranges erfüllt. Immer wieder suchte L.
unter dem Einfluß seines perversen geschlechtlichen Dranges jene
halbTerdunkelten Plätze auf, wo es ihiu einmal gelungen, sich zu be-
friedigen.
Für die erstmaligeAuswahl desPlatzes mag der Umstand
bestimmend gewesen sein, daß gerade in jenen Wirtschaften weibliche
Personen hftufig Yerkebren zum Zwecke des Bierbolens.
Der Vorgang spielte sich — schließlich wie automatisch — immer
in gleicher Weise ab, wie die erste. Eiihiintion vor den Bauffln-
mädchen. L. nahm die Stellung ein, wie beim Urinieren. Wenn
Männer passierten, blieb er ruhig stehen. Sobald aber
weibliche Personen sich nSherten, drehte er deh um, demonstrierte
sein erigiertes Glied und begann onanistische Manipulationen daran
TOrsnnehmen. Durch Zurufe „da schau her, wie ich's kann'' etc. soll
er ja er auch die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich ge-
lenkt haben. Dann Icam es in der Regel an Ort und Stelle zum
Samenerguß während oder nach der Prozedur der Exhibition. Un-
mittelbar aber nach diesen unter Herzklopfen. Kongestinn
und Beklemmung stattfindenden Entäußerungen des Ge-
schlechtst ri e 1) es tritt ein Gefühl der Befreiung, der
Erleichterung auf, wie das auch sonst beobachtet wird bei
Handlungen, d ie aus organischer Nötigung stattfinden.
Erst jetzt kommt Patient zu sich, wie ans einem Traum, erkennt das
ganze Unwürdige seines Tuns in klarem Lichte; die Folge davon ist
gemütliche Depression, moralischer Katzenjammer, der
sich auch in Tränenergttssen geäußert haben soll. Das Kopfweh steigert
sich in der Begeh dagegen beruhigt sich die vorher beschleu-
nigte Herztätigkeit, und mit dem Gefühl tiefer Be-
schämung begibt sich Patient heim.
Aber trotz der lebhaftesten inneren Vorwürfe, trotz aller Willens-
anstrengungen ist Patient nicht im stände, der nächsten Versuchung
zu widerstehen, und sn wurde er ein trauriges Opfer seiner blinden,
verhängnisvollen und krankhaften Leidenschaft; denn der Akt des
Schrenok-Notsinst Stadiui. ^
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66 !• Beiträge sar forensbehen Beartrilaag voo Sittli«hkei(sTergeh«a «tc.
Exfaibitionierens wurde ihm schließlich gleiclibedeutend mit sexuellem
Kappnrt. also ein perverses Äquivalent des Geschlechts'
geo usses.
Das Gedächtnis des Aiii^eklagteu ist zwar im pauzeu geschwächt,
aber derselbe eriDUtrt sich doch in der Kegel au die Einzelheiten
seiner Handlungen, dagegen dürfte noch die große motorische
Unruhe zu bemerken sein, die vor der Trieben täußernng den
Patienten beherrscht und veraolafit, sweeklos hemmzngeheii.
Die Tat selbst befreit ihn von dieser Unruhe und von dem
Geftthl der Beklemmung.
Die Z u r 0 c h Ii II u g a 1 it Iii g k c i t des Auge klagte u.
Für den Standpunkt der vorhandenen Zurechnungs-
fähigknit lassen sich foljjende Punkte geltend machen: Einmal das
Fehlen einer ausgebildeten (Jristoskrankhf^it. fernpr die Absicht, zu
exhibitionieren , die zur Auslührung nötige Auawahl geeigneter Orte,
die Zurückliahung sregennher iiiannliclien Passanten, ferner die Ein-
sicht iu das Unzulässige seines Tuns nach der Tat, sowie die nachträg-
liche Erinnerung an die Einzelheiten der Handlungen. Endlich fällt
noch sehr ins Gewicht die von jeher vernachlässigte Selbstdressnr in
sexueller Beziehung.
Größer aber erscheint die Zahl der Argumente, welche f&r
eine erhebliche Beeinträchtigung der freien Wülenshesümmung
sprechen. Dabei kommt folgendes in Betraclit:
Wenn weiter kein Material zur Beurteilung des Falles vorhanden
wäre, als die festgestellte T a t s a c h e d e r Ex h i b i t i o n . so müßte
schon dir» lappische Art und Weise dieser Geschlcchtsbefätigung
Zweifel erregen und die V^ermuttnig nahe legen, dali Imlividuen, welche
in sexueller Demonstration öftentlich Belrieiligung timlen. et hisch und
intellektuell geschädigt sind. d. h. an Schwachsinn lei-
den, resp. 11 u temporärer Unfähigkeit klaren Denkens
und freier Selbstbestimmung. Denn jeder einigermaßen ver*
nünftige Mensch wird sich doch selbst sagen milisen, daß diese in der
Öffentlichkeit vollzogenen Verletzungen der Sittlichkeit, namentlich bei
häufiger Wiederholung und wechselnden Zuschauern nicht geheim blei>
ben können, sondern unfehlbar vor den Bichter führen.
Auch wird nach meiner Beobnchtnug an solchen Individuen durch
Strafe nichts geändert. (Vergl. Fall IV.)
In unserem speziellen Fall nun haben wir ein Individuum mit
erblicher Belastung vor uns.
I
. kj .i^Lo uy Google
I. Beitrage sur loreMisehen Beurteilung^ Toa SittUehkeitsvergehea etc; 67
Dazu kommt ein zum Teil erworbener geistiger
SchwUcbezu stand (excessive Onanie), eine mittelschwere
Neurasthenie und «'ine anormMle Stärke dt-s Geschlechts-
triebes. (Sexuelle Hyperästhesie und malilose Onanie.) Weiterhin
erscheint bei Beurteilung der Zurechnungstähigkeit wichtig : Hie
regelmäßige AViederkehr tler perversen Zwangs Vor-
stellung des Ex hibitio liieren 3 (wiederholte Exhibitiou, Vor-
stellung derselben beim Onanieren), das zwangsweise Auftreten
•der perversen G-elUste trotz gleichzeitigen normalen ehe-
lichen SeamalTerkehrs; trotz des glücklichen Familenlebens; femer die
anormale Stärke des Dranges, welcher das Bewußtsein
ganz erfllUte und keine Gegenvorstellnng anfkommen
lies. Denn wenn L. cdch wohl noch über Ort und Zweck seiner Hand-
inog orientieren konnte und auch in der Ausführung ( wie z. B. ein Schlaf-
wandler) Rücksicht nahm auf äußere Umstünde, so hat er doch offen-
bar w ii h r e n d d e r T a te n selbst nicht d a s k 1 ar e B e w u R t s c i n
der s t r a f r e c h 1 1 i <• h e Ti und sittlichen Bedeutung d e r H. a n d -
1 u n g e n gehabt, ihm fehlte also in jenen Augenblicken die Einsicht in
die Strafbarkeit seines Tuns. Kr folgte den sexuellen Impulsen, und zwar
um so leichter und rascher, je enger die pathologische Asso/iaiion des
perversen Vorstellungskomplexes mit dem Geschlechtsgefühl durch die
Gewohnheit zusammengewachsen war, nnd je öfter ihm die Aasführung
dieser Demonstrationen gesehlechttiche Befriedigung gewährte.
Ob nun eine wirkliche organische Kötiguog zur Exhibition vorlag,
.das bestimmt zu beantworten, ist nicht moglieh. Daß aber körper-
liche Vorgänge eine mitbestimmende Rolle gespielt
haben, das zeigen folgende Umstände: Die andauernden körperliche
sexuellen Erregungszustände vor den Taten (Erektionen), die Konges-
tionen, der beglfitende Kopfschmerz, dif t riebart ipe motorische
Unruhe vor der Handlung, ferner die B k 1 e ui ni u ii ^' e n , diu be-
schleunigte Herzaktion, das Kopfweh, die Beklemmung wäh-
rend der Tat, — das Gefühl der Befreiung, der veränderten Gemüts-
stimmung (Reue) nach der Tat. Hiernach emplindut Patient selbst
das Auftreten der exhibitionistischeu Dränge als läs-
tigen Zwang. Daför spricht auch der Umstand, daß Patient seit
der Zeit der Anklage immer noch heftig geplagt wird von seinen
Zwangsantrieben, die er aber durch Onanie seitdem befriedigt hat.
Deswegen geht auch die Meinung des GntaohteDs dahin, daß wenn
Patient nicht durch eingreifende ärztliche Behandluniz ändert wird,
er über kurz oder lang sich wegen desselben Reates wird zu verant-
worten haben.
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I. Beiträge zur furcnsischcn Beurteilung vod Sittiichiceitsvergehen etc.
Zeichen wirkliclier eexueller Abstinenz sind in dem Vorlebeii des
Patienten mcht oaebweislkar ; im übrigen kann ja aueb die Onanie
als Symptom angeborener Geistesscbväche Torkommen (in Irren-
anstalten bänfig).
Zusammenfassendes Gntacbten.
Sicher steht aber, daß der Angeklagte L. nicht mit Her Ab-
sicht, eiu ütientiiches Arf^emis zu geben, sondern unter dem
zwiugeuden Eiufluli eines pervers entwickelten Ge-
schlecbtstriebes Ton abnormer Sürke die Ihm snr Last ge-
legten Handinngen vorgenommen hat. Dieselben sind also lediglieh
der Ansflnß seines krankhaften Oe'seblechtslebens.
Außerdem war er durch die anormale Starke seines Triebes^ also
durch einen krankhaften Vorgang, für dessen Krankhaftigkeit seine ge-
schlechtliche Entwickhing I die Wiederholung derselben Handlungen
spricht, während der Taten so gestört, daß ihm die volle klare
(z. B. uacli der Tat vorhandene) Einsicht iu die sittliche Be-
deutung seiner Handlungen abhamleii gekommen war.
Die Triebrichtung des Patienten als solche muß als krank-
haft erachtet werden, ebenso wie der zwaugsartige Charakter seiner
Handlungen.
Da nun das Gesetz nur eine völlige Ausschließung des freien
Wülens, keine BeeintrI&cbtiguDg anerkennt, so ist bei Bemessung
der Zureebnungsfähigkeit des Angeklagten der Grad der
WUleoseinschränkoog, der psychischen Unfreiheit auf ca. 70 Pros,
zu sch&tKen.
Der ganxe Charakter derHandlungen und die Neben-
nm stände sprechen mehr gegen die erforderliche Zurechnungsfähig*
keit des Angeklagten, als dafür, und zwar etwa in dem Verhältnis von
% zu "3. Sollten dagegen die hier geäußerten Zwei fp] an der Zu-
rechniiugsiiihigkeit des Angeklagten nicht hinreichen zur Bildung eines
definitiven Urteils . so sind dieselben doch lebhaft und stark genug,
um die Beobaclituug des Angeklagten in einer Irreuaustalt unter Bei-
fügung dieses Gutachtens zu beantragen.
Auf Grund dieses Antrages wurde L. schon vor der Hauptver-
handlung zur Beobachtung und üntersuchung in die Kreisirrenanstalt
geschickt Der Oberarzt Dr. Focke schloß sich in der HauptTor^
handlung den Ausfahrungen des Ver&ssers in vollem Umfange an.
L. wurde freigesprochen, Yom Richter angefordert, sich in ärzt-
liche Behaudlung zu begeben, da im Wiederholungsfalle die Internierung
in eine Irrenanstalt erfolgen werde.
^ j . -Li by Google
L Baitrig« zur forenauchen Beurteilang von SittUchkeittrergehen etc. 69 •
Fall VI. LarviertepassiveAl^olagnie. Auffälliger
intimer Verkehr mit dienstlich Uniergebeue n ohne un-
sittlich« Handlangen. Auf Veranlaeanng der Tor-
gesetzten Behörde: Beobachtung und Behandlung durch
den VerfasBer. Gutachten desselben mit ansfflhrlicher
DarsteUnng der sexuellen Störung. Hangelnde Selbst-
erkenntnis. Beeinträchtigung der freien Willensbestim-
mung. Günstige Prognose. Längere SuggestiTbehand-
lung durch den Verfasser. Völlige Heilung,
R., junger Beamter in verantwortlicher Stelhiug. wurde dem \'er-
fasser zur Beobachtuog und Behandlung zugesendet, da auffälliges
Benehmen desselben Zweifel an seinem geistigeu Zustande erregt hatte.
Es wurde nämlich seitens der Vorgesetzten bemerkt, daß R. einen
ganz ungebräuchlichen Verkehr mit einzelnen Untergeben en
niederen Standes hatte; die auf Grund der Verdaehtsniomente euge-
leitete Untenuehung ergab, daß irgend welche unsittliche Beaehaogen
nicht TOrhanden gewesen waren, daß man aber eine ärztliche Unter-
suchung itir notwendig erachtete. Die Amtsärzte , denen er zur Be-
obachtung zugewiesen wurde, kouuten zu keiner klaren Erkenntnis
seiDes Zustandes kommen. Das Wenige, was Patient selbst angab,
war folgendes: Er fühle, zeitweilig einen unwiderstehlichen
Drang, sich in die ganze Lebens- und Anschaunngs weise
abhängiger Personen niederen Standes zu versetzen; er
hatte einzelne der unter ihm stehenden Beamten tiefster Rangstufe
zu sich auf sein Zimmer geladen, sie nach ihren Familien- und Tjebcns-
verhältnissen ausgefragt, sie ersucht, nicht den Vorgesetzten in ihm zu
erblicken ; schließlich ging er so weit, sich ihren schlechtesten Dienst*
anzug bringen zu lassen, denselben anzuziehen und zu verlangen, daß
jene ihn als Ihresgleichen behandeln sollten.
Diese Vorfälle wiederholten sich mehrere Haie und waren unTer-
einbar mit dem Torgeschriebenen BienstTorhältnia. Somit wurde B.
auf unbestimmte Zeit behufs eingehender spezialär/.tlic her Unter-
suchung und Behandlung beurlaubt; an den Verfasser erging
gleichzeitig das Ansuchen um Abgabe eines Gutachtens über den Zu-
stand des R. an die ihm vorgesetzte Behörde.
Dasselbe lautet wie folgt •
R.. 20 Jahr alt, stammt von gesundem Vater. Mutter leidet au einer
chromachen iTeisteskrankheit. Ebenso war Muttersvater geisteskrank. Drei
Kinder der Mutter starben an unbekannten Krankheiten, ein Vaters-
bruder an Krebs. Ein Vetter des Patienten ist an Delirium tremens erkrankt.
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. 70 ^ Beitrage zur forensisdieD Beurteilung too SittUehkeitsrergehen etc.
Patieiii macht körperlich im gauzeu eiueu gesunden aber
zarten Eindruck. Die Benchtiguug der OenHalien ergibt eine
leichte Phimosis, die bei erigiertem Gliede das ZurUcksiehen der Vor-
baut nicbt ebne Schmerz ermöglicht und ioBofero als Hindernis flir
den GescblechtsTerkebr anzusehen ist Die Möglichkeit einer Korrek-
tur bei mehrfachen sexaellen Rapporten ]ä8t einen operativen Eingriff
Torerst nicht erfordwlich erscheinen.
Störungen von seilen der Bespirations-, Zirknlatious- und Ter-
dauuDgsapparate , sowie des Nervensystems nicht vorhanden. Puls
regelmäßig, von guter Spannung,
Motilität, .St nsibilitiit. Reflexe normal.
Die Erziehung de?; Knaben lag zum Teil in den Händen der
Mutter: und wenn Ii. auch von Natur nicht mit hervorragenden Geisles-
gaheu ausgestattet ist, so besitzt er doch alle EigenschafteUi um seinen
Beruf ganz anszvflUlen. Allerdings tritt in seinem ganzen Auftreten
undOebahren ein Streben auf das Äußerliche hervor; sein Denke« verrät
einen oberftächlicben, flachen Zug. Außerdem macht B. einen nnselb-
stSndigen Eindruck, was wohl auf die verziirtelnde Erziehung der Mutter
zurückzuführen sein dürfte. Die erwähnten Eigenschaften liegen in nor«
malen Grenzen, verdienen aber Erwähnung, weil sie einer gründlichen
Selbsterkenntnis und richtigen Beurteilung seines Zustandes imWege stehen.
Die ersten sexuellen Erregungen des Pntienten fallen in sein 10.
oder 11. Lebensjahr zu derselben Zeit, in welcher R. die ersten
Erektionen hei sich beobachtete, beschäftigte sich die Phantasie des
Kiiiiheu lebhaft mit Indianer- und ^klavenge schichten.
Das zeitliche Zusammenfallen der erwachenden, aber noch nicht ver-
standenen sexuellen von lebhafter Lustbetonung begleiteten Dränge, die
von den schwellenden Genitalien ausgingen, mit jenen das kindliche
Geistesleben m&cbtig in Anspruch nehmenden Vorstellnngsznsammen-
bSagen ist wohl als Ursache fttr die assoziative zunächst von einem ein-
fachen Irrtum atisgehende Verknüpfung anzusehen, welche durch häufige
He])rnduktion und infolge der starken QefÜhlsbetoimng eine solche
ITestigkeit bekam, daß der eine Teil dieser Verbindung den anderen
regelmäßig mit erzeugte. Als wesentliches Förderungsmittel für die
Art dieser Oenese ist die erbliche Belastung dos Patienten anzusehen.
Sie brachte eine gewisse Assoziatiousschwäche. eine intolge der ange-
bon'neu Widerstaudsuufähigkeit abnorm starke Eeaktion des Nerveu-
sjstems, eine mangelnde Kritik mit sich. Gerade bei erblich Belasteten
spielt die Übertragung von aus korperlicheu Sexualvorgängen resul-
tierenden lostbetonten Organemphndungen auf besonders lebhafte gleich-
zeitige Siiineseindrücke als Ursprung fttr spätere Verirrungen des Ge^
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X. Beitrage zur foreasischen Beurteilaugr ron SittUchkeitsvergehen otc« 71
schlechtstriebea die größte Rolle. Gleichzeitige Objekt- und Körper-
euiphnduDg werden in Beziehuug geset2t und führeD zu einer iobalt-
lieben Störung der Urteilsassomadon. Dabei ist es Tielleicbt sogar
möglich^ daß die Assosdationssohwäcbe sich nur auf besümmte T^e
des psychischen Lebens bezieht in Abb&igigkeit von den snr Aus-
lösung dieser Funktionen dienenden cerebralen Leitnngsbahnen und
Centreo. Wenn solche einmal im Zusammenhang erlebte faJsdie Be-
ziehungen nach Erfüllung ringender sexueller Impulse mit starker positiver
Gefdhlsbetonung häufig, ohne daß eine Korrektur durch die richtigen
WalirDphmnngon wie sie den tatsächlichen Objfktbezichungen in der
Außenwelt eiits])rechen (d. h. inanfiels berichtigender Crteilsassoziationen)
oder durch l^olehrun;; erfolf^t. reproduziert und auch durch gleiche
Sinneseindrückf* derselbeu Art gefordert \fi'erden. so kann durch all-
mähliche oi't Jahre andauernde Gewöhnung diese pathologische Assoziation
zu einem Zwang werden, von welchem sich viele Neuropathen ans
eigener ImtiaÜ?e nicht mehr frei zu machen vermögen, venu endlich
die Aufklärung über die Beziehung der (Tcscblechter erfolgt. Es ist
dann häufig zu spät, und in dem! nun entstehenden seelischen Kampfe
behauptet sich jene krankhafte nunmehr der Korrektur durch fir-
iabniDg widerstrebende Vorstellungsrichtung ; der normale Mensch ver-
mag sich dann vielleicht noch herauszuarbeiten, da seine Reaktion
auch in diesem Punkte keine gesteigerte, seine Fähigkeit zur Selbst-
beherrschung und Hemmung einp ]>essere ist.
In diesem Sinne ist es erklärlich, daß die Vorstellungen der
Sklaverei, dt;r Abhängigkeit, welche aus der Lektüre ent-
standen, bei R. eine sexuelle Bedeutung bekamen, und zwar
ohne sein Wissen und Zutun. Auch seine Traumbilder betrafen solche
Situationen der Sklaverei mit sexueller Tendenz und endigten schließ-
lich mit Pollutionen. Er konnte sich schließlich das Beberrschtsein
eines Hensdien durch einen anderen nicht mehr vorstellen^ ohne ge>
sehlechtlieh erregt zu vrerden. Die wirklichen Sexual verhält*
nisse waren ihm unbekannt, ebenso die Oname, der Patient sich
niemals hingegeben hat.
Erst mehrere Jahre später erfuhr er NiUieres Uber die Geschlechts*
funktion. Inzwischen aber hatte sich seine rege Phantasie damit be-
schäftigt, Variation in jene Bilder zu bringen. So kam er dazu, sich
die Lage eines abhängigen Menschen seelisch auszumalen und sich
vorzustellen. dalJ derselbe von einem anderen körperlich niilihandelt
uüd gequält werde. Das Moment der Wchrlosigkeit gegen die zuge-
fügten Akte körperlicher Züchtigung uud Schmerzerrogung stand
immer wieder im Mittelpunkte seines sexuellen Fühl««. Dagegen
72 L Beiträge zur foreusücheo Beurteilung von äittlicbkeitsvergelteQ etc.
mUsseo sich die grauBamen Handlungen selbst in gewissen Orenxen
halten; sie dflr&n nicht den Charakter loher Brutalität oder blut-
dürstif^nr Grausamkeit annrlimcn und sind nur auf Scenen leichter
ZüchtiguDg (Fußtritte» Ohrfeigen u. dergl.) beschränkt. Der Gegen*
stand der Untorwerfung muß das Töllige Bewußtsein seiner Wehrlosig-
keit und Abhängigkeit bekommen. Der Gedanke, es könnte der Ge-
schliiJTene etwa vnrsnrlp'n, sich zur Wehr zu set/^n. ruft mächtige gc-
sciileciitüclie Erregung hervor; immer aber muü eiae solche Sceue mit
der völligen Niederlage des Gcschhigenen endigen. Für das geschlecht-
liche Emptlüden des Patienteo ist es gleichgültig, ob Männer oder
Frauen in aktiver oder passiver Holle an diesen Scenen beteiligt sind.
Lediglich die Sache, die Situation der Schmerzerduldnng er>
regt ihn; das Persönliche spielt dabei eine Nebenrolle.
Bie abnorme Phantasierichtong bestiounto auch den Inhalt seiner
Lektüre. Er bevorzagte daher Sohfldemngen Tdn körperliehen Strafen
auf Scbi£fen, in Gefängnissen, Soldatenmißhaadlungen etc. und suchte
schon als Knabe Gespräche von solchen Personen in niederer, ab-
hängiger Stellung, wie von Pferdewärtern, Soldaten anzuhören; be-
sonderen Reiz übte auf ihn das Dienslvprlifiltnis beim Militär. Trotz
seiner Neigung zu diesem Berufe wurde er als untauglich zurückgewiesen.
Obwohl Patient sich mit Vorliebe in die passive KuUe des
G e m i Ii h a n d el te n hineinversetzte, wirkte doch die r>i8zi])liü des
Internats, iu dem er erzogen wurde, da^s Verhältma /u M inen Lehrern,
älteren Schülern etc. keineswegs anregend auf ^ine sexuelle Anomalie.
Das Spiel der Phantasie unterscheidet sich also auch hier von der
Wirklichkeit Ebenso haben' dramatische Sitoationen seelischer Quälerei,
wie sie auf der Bühne su beobachten sind, irie überhaupt das nur
seeHsche Atdiiogigkeitsferhältnis oder das Bewußtsein der Demütigung
keinen geschlechtlichen Heiz. Immer ist der Gedanke der
körperlichen Mißhandlung der Ausgangspunkt. Es bandelt
sich also hier nicht etwa um symbolische Akte des Unterworfen-
seins, der Demütigung, wie sie v. Krafft-Ebing nach dem
Inhalt der NüvH'mi Sac h e r - Mas o <• h ' s und eigenen Beobachtungen
als Masochismus beschrieben iiat, sondern um jene Anomalie des Ge-
schlechtslebens, die vom Verfasser in seiaeni Werke: „Suggestions-
therapie bei kraukhalten Erscheinungen des Geschlechtssinues" als
„passive Algolagiiie" (von &Xyos ~ Schmerz und Acyyot; = geschlecht-
lich erregt) bezeichnet ist
Wenn schließlich auch die allgemeine Lage der Abhängigkdt
von Personen und der bloße Gedanke der Wehrlosigkeit den Patienten
beschäftigte, so ist und bleibt doch die Idee der Erduldvng körper-
%
y Google
I. Beitrige sur forensisdien Beurteilung von Sittlidüteitorergekon etc. 73
lieber Schmerzen der Ausgangspunkt; und wo bei Unterwerfungsakten
der Hinweis auf die Erdulduug körperlicher Schmerzen lehlt, du bleibt
anch die geschlechtliehe Erregung aus.
Dieee eigenartige VorsteUungsricbtiing in sexueller Be-
ciehung (d. h. inhaltliche Störung der UrteUsastoiiation) bebe rr Bebte
bereits das GeseblecbtalebenR/s vollständig als erim 16.Leben8-
zabre zweimal den Careacblecbtsakt anszufübren sncbte. Völliges
Fiasko. £s kam nicht zur Erektion, und R. hielt sich seitdem f&r
impotent Dagegen sind Ansätze zu einer heterosc^xuellen Betätigung
bei ihm vorhanden. So liebte R. scbou als Knabe Mädchen mit dem
Wunsch, sie zu küssen, und din Vorstellung, durch ein gebildetes,
herrschsüchtiges, grausames, launeübattes Weih mit Anwendung physischer
Gewalt unterworfen zu werden, wirkt auf iim gescblecbtlicb erregend.
Nach dieser Darlegung werden die Handlungeu verständlich, die
K. mit seinen Untergebenen vorgenommen hatte. Sie iiutten keinen
anderen Zweck, als ein Stimulans für seine sexuelle Vorstel-
luDgstätigkeit zu bilden. Sie sind regelmaBig TOn starken Erek-
tionen begleitet gewesen. Zur Ejjaknlation kam es außer in Tr&umen
mit gleicbem Voratellungsinbait bierbei nicht
Ein unzweckmäßiges Leben (Nacbtscbwärmen), Intoleranz
gegen Alkohol, trugen dazu bei, daß R. schließlich die Riidc-
sichten auf seine Stellung vergaß und sich der Realierung seines sexuellen
Wahnsystems ohne moralischen Widerstand hingab. So kam er dazu,
sich ganz auf die nietlere Stufe seiner Untergebenen zu stellen, die-
selben mit Du anzusprechen, ihre Dienstanzüi^e anzuziehen, und ihnen
einen Rollenwecbsf»! vorzuschlagen, bei welchem R. den Untergebenen
darstellen wollte. Diese Akte sind als pathologisrhes Äquivalent
der normalen Geschlechiseneguug bei K. aulzufassen; sie
sind rein sexueller Natur, wenn auch bis dato direkt unzüchtige Hand-
lungen nicht Torkamen. Demnacb kann bei der Vergangenbeit B.'s
und der ausfUbrlicb besobriebenen Patbogenese des Zustandes kein
Zweifel obwalten, daß lediglicb die krankhafte Bicbtung des Gescblechts-
lebens Vemnbissung wurde zur Vomabme der aufföUigen Handlungen,
die für ihn dasselbe bedeuteten, vas der sexuelle Verkehr för einen
normal fühlenden Jungen Manne darstellt.
Durch die krankhafte Störung der Geistestätigkeit
auf sexuellem Gebiete i^t die freie Willens bestimmung des
Patienten nach der genannten Richtung hin beeinträchtigt. Denn
die Zwangsvorstellungen der passiven ..Algolagnie" können bei
ihm triebartige, impulsive Handlungen auslösen. Die erbliche Be-
lastung uod seine gauze Entwickiung waren der Ausbildung von
74 1* Beiträge cur forensischeD Beurteilung tob Stttlichkeitsrergehen etc.
ethischen Hemmungs« und Gegenvorstellungen nicht
förderlich. Denn seinen Lehrern und Erziehern, ebenso wie seinen
VoTgcsetzten fehlte die erforderliche Einrieht in das Krankhafte seines
Sexuallebens, ebenso wie Patient selbst über das Wesen seines Za-
standes bis vor kurzem im Unklaren war. Eine Korrektur durch
Belehrung oder Selbstkritik war also bis dato ausgeschlossen.
Was nun die Prognose des in Frage stehenden psychosexuellen
Leidens betrifft, so ist im allgemeioen zn bemerken: Wenn es gelingt,
einerseits das geschlechtliche Vorstellungsleben des Patienten auf dem
Wege psychischer und sufTpcstiTer Behandlung in die normalen Bahnen
zu leiten und die KinwirkuDg (Innervationskrat't) jener pathologischen
As.soziationnn auf die Sexualsphäre abzuschwiiciien oder zu vernichten,
andererseits aber nach l.'berwindung der Irnputtnz dureli ein regel-
mäßig betätigtes normales Geschlechtsleben die für das Alter li.'s
SO bedeutungsvolle Gefahr der psychischen Beizung eines unbefriedigten
Gleschlecbtstriebes zu beseitigen, so besteht keine Veranlassung, an der
If^lichkeit TÖlUger Heilung zn zweifeln. In ähnlieben Fällen dieser
Art ist die dauernde Befreiung von solchen zwangsartigen Antrieben
mit perversem Vorstellungsinhalt häufig genug gelungen, so daß die
Behandelten ohne weitere Störung ihre beruflichen Obliegenheiten
wieder aufnehmen konnten und auch weiterhin von KttckiaUen Ter-
schont blieben.
Es spricht also nichts gegen die Möglichkeit einer Heilung
des Herrn ii. Denn angeboren i^t ihm nur eine gewisse Schwäche
und Widerstandfinnfähigkeit seines Nervensystems: dagegen ist der per-
verse Inhalt seiner geschlechtlichen Gedanken durch eine unglückliche
Verkettung äußerer Umstände erworben, also korrigibel !
Zudem kommen das jugendliche Alter des Patienten und seine
sonstige Gesundheit als günstige Momente in Betracht. Nach der
Meinung des Verfassers ist R. jedenfalls so weit wieder herzustellen,
daß er seinen Bemfspflichten nachgehen kann, ohne von neuem Kon-
flikte befürchten zu müssen wie die beschriebenen.
Was die Zeitdauer der Behandlung betrifft, so wird R. frühestens
in einem halben, spätestens in einem ganzen Jahr seinen Beruf wieder
aufnehmen können.
Die H' h andlung des Patienten nmfnRte zunächst 65 hypno-
tische Sitzungen in vier Mon-it^ti. hierauf nach einer fünfmonatlichen
Pause noch weitere 47 Sit^unf^eu m zwt i Monaten. R. wurde somno-
lent, erwies sich anfangs ziemlich refraktär gtgen Suggestionen rich-
tiger Selbsterkenntnis, kam aber aUmählich auf den Weg normaler
ScxualbetätiguDg. Erst nach 23 hypnotischen Sitzuogen und mehr-
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I. Beitrüge cur forenrisclieii Beurteilang tod 8ittlichkeit«Terge1ien etc. 7&
maligem Fiasko gelang der Coitii8 zum erstenmal völlig und wurde
dann regf^hnalJig wiederholt. Trotz ausführlicher und gründh'cher Be-
lehrung über die Präventivraaßregeln gegenüber der Iiifektiousgefahr
befolgte B, diese VonchriffceD nicht und zog sidi eine GonoTrhoe zu,
die nach einer aechswöchenilichen Behandlung zur H^lung kam. Er
setzte dann den Sexnalverkehr fort» knftpfte schließlich aus wirklicher
Neigung mit einer bertthmteu Soubrette ein YerhSltnis an und erwies
sich bei dieser Gelegenheit^ wie audh bei vielen anderen, als TÖllig
potent. "Wie er selbst sagt, hatte er im sexuellen Verkehr mit j«ier
Dame einen Genuß, der unvergleiclilich und größer war. ah alles, was
er bisher mit Hülfe meiner krankhaften Phantasietätigkeit euijjfunden
hatte. Er verkehrte sogar in einer Nacht mehrmals mit jener, ohne
irgendwie einen Nachteil davon zu spiirpn. Größere Reisen nach
London und Paris Ijoteii ihm reichliche Gelegenheit, seiue Potenz V04
neuem zu erproben. Er blieb jetzt immer Herr der Situation (stets
spontane Erektion und inteDsives Wollustgefühl bei der Ejakulation)
und wurde seitdem nicht mehr dureh die frfihere Zwangs-
vorstellung bel&stigt, weder beim Akte selbst, noch sonst.
Dieselben scheinen Tiebnehr ihren sch&dlichen Einfluß auf das
Sexualleben des Patienten verloren zu haben und nur noch der Er-
innerung an eine vergangene Leben^eriode anzugehören.
Seit Entlassung ist ein Jahr veigangen. Patient blieb, wie er mir
brieflich mitteilt, völlig geheilt und dürfte auch in Zukunft vor
Bfickfallen gesichert sein.
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n.
Sie Frage nach der yemiiiiderteii Zureclimmga-
ffihigkeit, ihre EntwieUung, ihr ^e^enwfirtiger
Staii<U>uukt iiud eigene Bcobachtuiigeu. ')
1.
Die Verhandlungen des Vereine deutscher Irrenärzte über
„verminderte ZurecbnungsfUilgkiif *.
N.nch der in den Kulturländern herrschenden Rechtsanschauung,
welche als eine Folge der be;^sereu Erkennmis geistiijer Störnnq^en und
der dadurch Hedinf^ten gewaltigen Keforni in der Irrenbeiiandluug
eintTsrits, einer humaneren Auftassung des Verbrechens und der Strafe
andererseits anzusehen ist, bleiben Rechtsverlctzungm. welche unter
dem KinfloB von Geisteskrankheiten begangen werden, sirafloä. Der
fttr solche Fälle psjchialrischer Begutachtung in foro maßgebrade
§51 das Denttchen Beichsstrafgesetzbiuslies lautet:
„Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn
der Täter sur Zeit der Begehung der Handlung sich in
einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter
Störung der G*istestätigkeit befand, durch welchen
seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war."
Das Gesetz berücksichtigt also bei Beurteilung einer strafbaren
Handlung nur zwi i Möglichkeiten: die ..Zurechnungsfähigkeit" und
die ..Unznrecuiiuugsrahigkeit". ..Diese G egenüberstell uiij^ putspricht
aber keineswegs den tatsächlichen Verhältnissen, da es /:,wischen der
Breite der Gesundheit und ausgesprochener Geisteskrankheit eine
1) Pabliziert im ArduT fär Kriioinalaiithropologie. Bd. VUI Heft 1.
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IL Die Frage uach der Tenniaderten Zareehnungsfähigkeit etc.
77
große Reihe von Ubergaogszuständen gibt, so daß eine scharfe Grenze
iwiacben geistiger Gesandheit und Bjrankheit oft schwer zu ziehen ist**
(Gramer.)
Theoretisfli muß sich also die Zureclinuugslahigkeit, d. h. der
Ornrl der Schuld in dem Verhältnis mindern, in welchem die Geistes-
krauklieit wächst.
Jenen Zwischenstufen geistiger Gesundheit und Krankheit, für
welche eine „verminderte Zurechnuugsfähigkeit" angenommen werden
müßte» ist DUO sowohl in den früheren deutschen Landesgesetzgebungen
wie auch in den Strafgesetsbfichem anderer Länder (8ehweiZ| Öster-
reich, Frankreich, Italien) Rechnung getragen, dagegen wurde schon
in dem Entwurf zum Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund
(1868) ein diesbezüglicher Antrag Ton dem Bundesrat verworfen;
daher fehlen auch solche Bestimnrangen in dem an den Deutschen
Reichstag gelangten Entwurf.
Nachdem nun während der letzten Jahrzehnte infolge der großen
Fortschritte auf dem Gehiote der Kriminalj)sychohicfie der Eintiuß
ärztlicher Sachverständiger auf die Rechtsprechung in irnn/ erheblicher
Weise zugenommen hat, ist es immer deutlicher geworden, daß es
eine absolute Grenze der strafrechtlichen Znrechnungsfahigkeit, wie sie
§ 61 yerlangt, nicht geben kann, daß also das praktische Bedürfnis
Bestimmungen Uber geminderte strafrechtliche ZurechnungtfiUugkeit
Terlangt.
Das Verdienst, diese wichtige Frage von neuem angeregt und
damit eine mfichtige Bewegung ins Leben gerufen zn habeui welche
seitdem nur gewachsen ist, hat sich Prof. JoUy (damals in Straßburg)
erworben durch seinen am 10. September 1887 vor dem Verein
Deutsclier Irrenärzte in Frankfurt gehaltenen Vortrag „Über ver-
minderte Zurechnuugsfähigkeit".
Nach der Auffassung Jolly's bedeutet die Ersetzung des Aus-
drucks „Zurcclmungsfahif^keit"* durch ..freie WilU'Mshcstimmung* in
vi 51 einen entschiedenen Rückschritt, da hierdurch die Anualime einer
Zwischenstufe der Zurechnungsiabigkeit ausgeschlossen erscheint.
Allerdings soll der SachYerstandige sich gegebenenfalU nicht nur über
das Vorhandensein yon Gesundheit oder Krankheit, sondern auch Uber
das Vorhandensein freier Willensbestimmung auslassen, wenn auch von
gerichtlicher Seite zu einer so weitgehenden Begutachtung ein Zwang
auf den Sachverständigen nicht ausgeübt werden kann. Besonders ist
aber der Umstand hervorzuheben, daß nicht die einfache Feststellung
irgend eines beliebigen Grades geistiger Störung für die Anwendung
des § 51 genügt» sondern daß eine gewisse Erheblichkeit, ein
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78 H. Di« Frmg« naeh der verniindertoii ZuredwungifiLhiKkett etc.
gewisser L!r;ul vüd K ran k h p i t e r f o r d e r 1 i cli ist. Im Gegen-
satz hierzu bestimmt das frauzösische Stralgesetz den Ausschlul} der
Strafbiirkeit auf Grund nachgewiesener Störung der Geistestätigkeit
ohne weitere Bezeichnung des Grades.
Als wichtigen Einwand gegen Bestimmungen Über Terminderte
Zureehniingsfähigkeit hat man die Möglichkeit hervorgehoben, daß sie
als bequemes Anskunftsmittel io F&Uen sweifelhafter Diagnose benutit
werden könnte. Indessen wird noh, wie Jolly mit Recht sagt, weder
die ärztliche Diagnostik noch die Rechtspflege jemals von menschlichen
Unvollkommenheiten ganz frei machen können. Nach der Erfahrung
derjenigen Staaten, in welchen früher Bestimmungen über yerminderte
ZurcchnungsPähigkeit bestanden, wird die durch g 51 hervorgebrachte
Änderung des Gesetzes als Rückschritt empfunden.
Nun findet allerdings die geminderte Zurechnmip^sfäliigkeit nach
der gegf^nwärtigec. Rechtspraxis insofern eine Berucl.-^n hi i<?ung, als
durch Annahme mildernder Umstände eine entsprechende ötralinilderung
stattfinden kann. Aber auch dieser Ausweg erscheint unzureichend.
Denn das Deutsche Strafgesetxbuch enthält .eine ganze Beihe strafbarer
Handlungen, bei denen die Annahme mildetiider Umstände fehlte also
unzulässig ist Unter S39 Verbrechen und Vergehen gibt es €2 mit
der Zulassigkeit mildernder Umstände, bd 177, also drei Viertel der
Fälle, ist deren Annahme ausgeschlossen. Im allgemeinen handelt es
sich bei der letzten Kategorie um Vergehuogeo, für deren BfBstrafung
dem Richter ein großer Spielraum gegeben ist in der Strafzumessung
(von 1 Tag Gefängnis anj. Allerdings fehlen nun auch mildernde
Umstünde bei einer Anzahl schwerster Verbrechen, Mord, Totschlag,
Brandstiftung und gewissen Sittlichkeits verbrechen. Entgegen anderen
Anschauungen kann Jolly in der Annahme mihlernder Umstände
keinen hiureicheudtn Ersatz erblicken Im die Bestimmungen über ver-
minderte Zurechuungsfähigkeit. Nach seiner Auffassung (entgegen
z. B. derjenigen Mendors) sollen die mildernden Umstände über-
haupt nidit die Bedeutung haben, eine bestimmte 6eistesbescha£Fenheit
des Täters allgemein als Strafmildeningsgrnnd zur Geltung zu bringen,
.sondern sich nur bemessen nach den bei den einzelnen strafbaren
Handlungen in Betracht kommenden Umständen.
Aus diesen hier kurz wiedergegebenen Darlegungen zieht Jolly
den Schluß, daß die Bestimmungen über mildernde Umstände, welche
das Deutsche Strafgesetzbuch enthält , nicht ausreichend sind . dem
praktischen Bedürfnis zu entsprechen, und daß das letztere Be-
stimnuiugeu über geminderte Zurechuungsluhigkeit verlange.
Die Versammlung stimmte den Ausführungen Jolly 's in der
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IL Die Frage nach der Tenninderten ZoredmuDgiKbigkeit etc.
79
Hauptsache zu und set2to 7mt Weitrirrrfolixung dieser Augelegenheit
eine Kommission ein, deren Kderonten die Professoreo Mendel (Berlin)
und (jrashev i München i waren.
Im foigeoden .lahre 1888 erstaltete Mendel bei der JüUressitzuug
des Vereins deutscher Irrenärzte in Bonn seinen Bericht , dessen
wesentlicher Inhalt folgende Punkte umfaßt:
Referent steht, wie er in seiner Bespreobnng der ,,Ziirechnnnga*
fölugkeit" in „Eulenbnrg's Realencyclopädie" (1890. Bd. XXI,
8* 539) dargetan bat auf dem prinzipiellen Standpunkt, daß ^Zn*
rechnangsfähigkeit" ein jniistiseher, speziell kriminalrechtlicher Begriff
ist. Deswegen gehört es überhaupt gar nicht in die Kompetenz des
gerichtlichen Arztes, über Zurechnungsfähigkeit oder Unzurechnungs-
fähigkeit zu entscheiden. Sache des Arztes ist es lediglich, das Vor-
liRndensein oder Nichtvorhandensein derjenigen Requisite fest/ustellea,
welche die (lesetzgebung al'^ RHordernis des § 51 betrachtet. Hier-
nach wäre es lediglich die Aulf^abe des Sachverständigen, die Frage
zu b»*autworten, ob der Angeschuldigte zur Zeit der Begehung der
Handlung gaistesgesund oder geisteskrank war. Aus den verschiedenen
Auffassungen der Experten über den § Sl schließt Mendel, daß
eben niemand recht wisse, was er mit der ^freien Willensbestimmung**
anfangen solle, daß also jeder sie nach Gutdünken inteipretiere.
Das Mittelding der verminderte Zurechnungsföhigkeit könnte nur
dazu dienen, die Verantwortlichkeit des Arztes zu mindern oder aber
auch seine Unkenntnis zu Terbergen. Mendel zieht es vor, in zweifel-
haften Fällen „non liquet" zu erklären, und das Weitere dem Bichter
zu überlassen.
Im (JeL'eiisat/e zur Behauptung Jolly's stellt Mendel an der
Hand des i^ueiieDmaterials fest, daß dii niihienulen rmstände be-
stimmt seien, die geminderte Zurechnungstähigkeit zu ersetzen. Ferner
weist Kefereut auf den Iböl vorgelegten Gesetzentwurf über die Be-
strafung der Trunkenheit hin, aus dessen Beratung die Abneigung der
Majorität des Reichstages berrorgehe, eine Änderung des Strafgesetzes
im Sinne dieser Darlegung anzunehmen. In den Motiven zu jenem
Gesetzentwurf heißt es: „Vielfach sind nun Klagen darüber laut ge*
worden, daß einzelne Arzte sich nur zu geneigt zeigen, Zweifel anzu-
regen und zu begründen. Teilweise beruhen solche Gutachten auf
übertriebenen Vorstellungen Uber die in Humanität und Gesittung er- .
zielten Fortschritte."
^fendel verlaugt auf Ontnd dieser Bedenken, daß die Antrag-
steller konkrete Fälle auiühren sollten, in denen das Gesetz schädlich
gewirkt habe. Seiner Auffassung nach hätten in Fällen verminderter
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80
IL Die Frage nach der Tenninderten Zurcdmongsfilhigkeit et«.
Zurochnuiij^'^fähigkeit mildernde Umstände eine viel {rriiliere Bedeutung
durch eine mildere SlratVollstreckuog, als durch eine größere oder
geringere Alikürzung der Strafzeit Mendel faßt sein Referat in
folgenden Sätzen zusammeu :
„Scharfe Grenzen zwischen geistiger Gesandheit und Geistes-
krankheit bestehen nicht. Das Strafgesetz hat auf diejenigen Täter
einer strafbaren Handlung, vekshe sich anf diesem Grenxgebtet be-
finden, billige Blicksicht su nehmen. Tatsächlich ist dies in dem jetzt
bestshenden Bechte nicht geschehen. Der augenblickliche 2«eit|rankt
scheint nicht geeignet, an die zuständigen Behörden mit der Forderung:
anf eine Abänderung des Strafgesetzbuches nach dieser Bichtang hin
Torzn^^ehen ; vor allem sollten erst weitere Tatsachen gesammelt werden,
welche die Lücke der Gesetzgebung beweisen.'^
Der Korreferent Grashey kam in seineu Auslührungpn m
einem wesentlich anderen Kesultate. Nach seiner Meinung hat JoUy
zwei Kategorien krankhafter Störung der Geistestäf igkeit aufgestellt,
solche erheblichen Grades und solche nicht erheblichen Grades. Nun
Termeidet aber § 61 des Deutschen Glesetses aus guten OrQnden den
Ausdruck „erheblicher Grad krankbafler Störung'*, sondern verlangt
vielmehr eine bestimmte Wirkung der krankhaften Störung auf die
freie Willensbestimmung, nämlich den Ausschluß der letateren. Es
muß also nach Grashej der Nachdruck auf das Wort krankhaft"
gelegt werden, und di Aufgabe des Sachverständigen besteht in dem
Nachweise, daß eine bet>timmte Handlung durch eine krankhafte
Störung der Geistestätigkeit herbeigefülirt war. In einem solchen
Fall ist dann eo ipso für den Arzt und Richter die Annahme freier
Willensbestimmung ausgeschlossen. So liegt z. B. der Fall, wenn
nachgewiesen werden kann, dal{ ein Angeschuldigter an Zwangsvor-
stellungen Htt. daß die Zwaugsvorstellimg von ZwanE^sirapulseu gefolgt
war und daß infolge eines solchen Zwangsimpulses eine bestimmte
Handlung erfolgte, welche die Kollision mit dem Strafgesetze herbei-
fttbrte.
Litt nun aber ein Angeschuldigter zwar an Zwangsvorstellungen,
war jedoch frei von Zwangsimpulsen und beging die in Frage stehmde
Handlung unabhängig von seinen Zwangsvorstellungen, so ist zwar für den
Arzt das Vorhandensein . Iner krankhaften Störung der Qeistestätigkeit,
. nicht aber der Ausschluß freier Willeushestimmung nachgewiesen.
Ferner bezieht sich Grashey noch auf die dritte Möglichkeit, daß
nämlich ein an Zwangsvorstellungen leidender An^pschuldij^ter gewisse
Hrn.dl uiigt'ii iuldlge dieser krankhaften Stitiniig ausführte, die bestinitute
mit dem Strafgesetz kollidierende Handlung aber unabhängig von seinen
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II. Die Frage nach der vermiuderteu Zurochuuugsfähigkeit etc 81
ZwangsTorstellimgeD beging. Für die in Frage stehende HandluDg
wäro dann die freie Willeosbestimmniig nicht ausgeschlossen, wohl aber
für die aus der kraakhaften Störung der Geistestätigkeit eDtstatidenen
Zwanpshandlunpen. Grashey verlautet auf Grund dieser Argameutation,
daß man sich nicht mit dem Nachweis krankhafter Stcirnng der Geistes-
tätigkeit, durch welche im allgem *■ i ti f n die freie WiHensbestimmung
ausgeschlossen sei, begnügen solle, fondern außerdem im hfsondercn
nachweisen miisse, daß die freie WilleDsbestimmung iu Beziic auf eine
•gewisse Handlung ausgeschlossen sei. Nun ist allerdings uach d^r
Anndit des Befeienten überhaupt jede tereinzelte krankhafte Störung,
welche zu einer bestimniien Handlung gef&hrt hat, erbeblieh
genng, die freie Willensbeslininning in Bezug auf diese Handlung ana-
znichlieBen.
Somit haben p^chisch abnonne Menschen nicht eo ipso für un-
zurechnungsfähig zu gelten ; Personen mit angeborenen und erworbenen
Defekten sind in mancher Beziehung noch berufsfahig, in anderer
Richtung aber nicht. Hieraus eine geminderte Zurechnungsfähi^keit
ableiten zu wolleu . sei identisch mit dor unzulässigeo Bph;ui]itung,
daß Zurcchnungsfahigkoit in der einen Richtung und Uuzurechüunf?s-
föhigkeit in anderer Kichtuug geminderte Zurechnungsfähigkeit im
allgemeinen bedinge. Das Auskunftsmittel geminderter Zurechnungs-
fähigkeit schließt nach Grashey bei jeder Anwendung Fehler iu
-sich, indem es entweder den Znrechnnngsföbigen tu leicht bettraft
oder einen ünzurechnungsföbigen verurteilt. Auch die ans der An-
nahme Terrainderter Zurechnungsfähigkeit sich eröffnende praktische
Perspektive in Bezug auf die Unterbringung der wegen Geisteskrank-
heit Freigesprochenen ist allein nach Grashey hinreichend, den Stab
Uber die geminderte Zurechnungsfähigkeit zu brechen.
Aus den dargeh'gten Gründen bittet Grashey die Versammlung,
einen bezüglichen Antrag an die gesetzgebenden Behörden nicht zu
richten.
In 'ler sich an die Referate Ale d de l's und (4rashey'8 scliließen-
den i)ij<kus8ion weist Schafer die Unhaltbarkeit des Mendel 'sehen
Standpunktes in Bezug auf die Beurteilung der freien Willensbestimmuug
nach. Nach seiner JUeiuuug hat der Sachverständige ein besseres
Urteil ilber Znreehnnngsf&higkeit oder Unzureehnungsfähigkeit einee
Geisteskranken, als der Richter. Und wenn der Begriff „Zurechnungs-
ffthigkeit" auch ein strafrechtlicher sei, so hat er doch eine Yerbindung
▼on Natnrerecheinangen zum Lihalte. Im ttbrigen ist in der Bogel
entgegen der Mendel' scheu Auffassung dem Gerichte eine .Xußemag
ftber das Fehlen oder Vorbandensein der freien Willeasb^mmong
V. Sebren«k*KotslBS, Stadial* 6
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IL Di« Fr«g« aMh der Termindirten ZtirechiiiingiflUiigkeit eie.
willkommeo. Außerdem darf die Gesetzgebung; sich nicht durch die
Rücksicht auf schlechte S;ichvprstäudigo leiten lassen.
Schülc hält die Auüassung Graahey's geradezu für bedenk-
lich (betreffend den Zusammenhang zwischen inkulpierter Tat und einer
vorhaudeueu psychiscben Anomalie). Demi wer künute «ich uuter-
faogeu, bei den nnergründllchen ZoflarnnraihiBgMi In der ISefe des
bewvfiten und unbewußten Seelenlebens, den psychologisohen Erweis
im Sinne Grashey's pro und contra zu liefern. Die Darlegung
aber, daß ein Zusammenhang swischen den naebgewiesenen Zwangs-
ersebeinuDgen und der konkreten Tat sieb in spede nicbt erweisen
lasse, sei fUr den Richter wertlos und nütze dem Inkulpaten, den der
Sacbferstäudige zu schtttsen die Pdicht habe, wenn er ihn als anormal
erkannt habe, gar nichts. Man komme über die Tatsache minder-
wertiger geistiger Existenzen, die noch nicht schlechthin als geistes-
krank im Sinne des Gesetzbuches zu bez<»ichnen sind, nicht weg; daher
bleibe nur die Annahme einer geniiuderton Zurechnungstuhigkeit. Auf
Mendel'» Vorschlag stellte Schule den Antrag einer SHinmlung
einschlägigen Ueobachtungsmaterialä durch den Verein. Erst weua
genügendes Haterisl Torbanden sei, soUe fom Vermne ans in der t<hi
JoUy beantragten Richtung an die legislatorischen Instanzen forge*
gangen werden.
Der Verein Deutscher Irrenftnte beschäftigte sich erst elf Jahre
später in der Sitzung zu Halle am 21. und 22. April 189U wieder
▼on neuem mit dieser wichtigen Frage, obwohl die verminderte Zu*
rechnungsfähigkeit seitdem in fast allen Lehrbüdhern der forensen
Medizin Berücksichtigung fand und auch mehrfach in besonderen Auf-
sätzen bearbeitet wurde.
Tn seinem gelegentlich dieser .Jahresversammlung gehalteneu Vor-
trag: „Die Grenzen der strafrechtliclieu Zurechnungstahigkeit" inter-
pretierte Wollen borg die Aufgabe des Sachverstiindigen bei An-
wendung des § 51 dahiu, «lali es lediglich darauf ankomme, fest-
austellen, ob sich krankhafte Faktoren nadiweiseu lassen, welche die
Willensäußerungen des Angeschuldigten zu beeinflussen geeignet smen.
Diese Beeinflussung der Willensäußerungen kann nun der Art und
dem Grade nach außerordentlich variieren. Es gibt also eine absolute
Greoze der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit nicht; sondern es
ist ein Grenzgebiet vorhanden, innerhalb dessen die Znrechnungsföbig-
keit mehr oder minder beeinträchtigt ist.
Bei ausgesprochenen typischen Geistesstr.rungen ist die Stellung
der Diagno*ie leicht un l die Anwendung des ^ 51 ohne weiteres ge-
geben. Referent wendet sich gegeu Ziehen, der wie Urashey im
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11. Die Frage nach der veriiiiti(lertea Zurechuungsfübigkuii etc. g3
Jahre 1888 , ebenfallft den Xacliwcis des KaoBalzasaminenhanges
zwischen Psychose und Strafbandlung fordert, denn das Qesetx Ter-
lan^ nur einen zeitlichen, nicht aber einen kausalen Zusamm^-
hang zwischen krankhafter Störung der Geistestätigkeit und der straf-
baren Handlung. Außerdem kann man im konkreten Falle, z. B. bei
Paranoia oiemals nachweisen, daß bei der Tat die krankhaften Motive
nicht mitgewirkt haben.
Im Auschluß an diese Ausführungen betont AVollenberg, daß
in den vU Jahren seit der Verhaudlung des Vereins über die vrr-
minderte Zurechnungsfähigkeit nichts weiter behufs einer Sanuuiung
geeigneten Materials geschehen sei. 1 >a nach seiner Auffassung in
dem genannten Punkt eine Lücke der Gesetzgebung vorhanden ist, so
tritt W. fttr die Zolassung mUdernder Umstände bei alleo Verbieeben
ein, sowie f&r eine qualitatiT andere Behandlung des minderwertigen
Verbrechers.
In der sich an WoUenberg's Vortrag schließenden
Diskussion betrachtet Schäfer den gegenwärtig als maßgebend
dastehenden BegrifiF der Willensfreiheit als größtes Hindernis fttr die
Einfülirung von Bestimmungen über geminderte Zurechnungsfahigkeit.
Nach seiner Auffassung ist es widersinnig, ?on einer WiUenstätigkeit
zu reden, welche generaliter als frei anzusehen, in gewissen Fällen
aber beschränkt sei.
Mit der ausdrücklichen Anerkennung der geminderten Zurechnungs-
fähigkeit nWißte also der Ausdruck ,,frcie Willenshestimmung" in 51
fallen, i^ur den streitigen 1 begriff ..freie Willensbestimmung** niiiI5te
also der jjraktische und leicht zu handhabende Ausdruck „Zurechnuugs-
fähigkeit" gesetzt werden.
Hitzig warnt davor, so verschiedeiit" Fragen, wie ,.partielle Zu-
rechnuogslahigkeit" und .,verniindi rte Zurechiumgstuhigkeit" zu ver-
wechseln. Kr bestreitet, daß es überhaupt eine partielle Zurechuuugs-
fahigkeit gibt, da ea keine partiellen Geistesstörungen gibt. Des-
wegen ist der Kachweis eines psychologischen Zusammenhangs der
Wahnideen eines Geisteskranken und der strafbaren Tat nicht not-
wendig. Denn er hält es überhaupt für unmöglich, so tief in die
psychischen Vorige eines anderen einzudringen, um au erkennen,
wie weit eine Wahnidee die anderweitige Gedankenbildung zwingend
beeinflußt.
Weber hält es für zweckmäßig, daß die psychisch minderwer-
tigen resp. vermindert mrechnungälahigen Individuen ihre Str f in
besonderen, dem Zwecke angepaßten Anstalten verbüßen müßteu, da
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II. Die Frage nach der Terminderten ZuredmungsfiUügkieit etc.
sie durch die endlos sich wiederholenden Rückfälle die GeseUschaft
scbädigea.
Die Versammlung nimmt den Vorsrhlng ^ von Siemerling und
Biuawanger au, wonach eino Sammlung tkijtuigeu beweiskräftigen
Fälle yeraustaltet werde, welche für die Eiuiühruug der vtr minderten
ZnrechnangsfSUugkeit spredien.
Bas Qeaamtergebnis dleier Verhandlungen läßt sich nun in folgen-
den drei Punkten nuammen&ssen:
1. Es gibt Zwiscfaensustfnde swischen gelstiiger Oesondheit und
Eiankhetty fta welche der Ausdruck geminderte ZufechnuugsilUiigkeit
am Platze ist.
2. Das Reichsstrafgesetzbuch berücksichtigt diese Zustünde nicht
genügend. Das Auskuuftsmittel der milderen Umstände oder einer
milderen Hestriifung schützt die Ge8*'ll«rhaft rüclit fjt'nii^^end vor den
unausblciblicheu Riicktalh.'n solcher Individuen. Die einfaehe Bestrafung
im 8iune der gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen erfüllt also
ihren Zweck nicht.
3. Aus diesem Grunde ist eine qualitativ andere Behandlung
solcher Individuen notwendig. Als bestes Jlitkel empfiehlt ridi die Er-
richtung TOn ärztiieh geleiteten Detentionsanstalten.
2.
Weitere Meinungefittreeningen lienrorraflender Psychiater
und RecMsiehrer.
Es dürfte zweckmiiliig sein, nunmehr einen Bliek zu werfen auf
die Anschauungen namhafter Fachmänner, die in diesen Versamm-
lungen das Wort nicht ergriffen haben.
Scliüu in di'üi 1840 erschienenen Werke von Schnitzer, „Die
Lehre von der ZuTechnungsfähigkeit" (Berlin 1840, Hayn) macht Ver-
fasser aufmerksam auf die Schwierigkeiten! weldie die Aufoahme des
Begriffes der fVeiheit in das Preußische Allgemeine Landrecht mit
1) An anderer Stelle (Vierteljahmchrift für gerichtl. MeduiD, Juli 1900»
Artikel: Straf- und zivilrt-ohtlichc Begriff«? in SschsD von <t«'i.stoskrnnkon) führt
Schäfer srAnc oben rcferirrten Aiisiolilrii woitor um. Fr h:ilt ilic S.trniDltini,' be-
weiskräftiger Fälle, wie sie die N'ersanuuluug der deutschen Irrenärzte in Uallo
▼erlangte, ans ]traktiacheii Orfiadea für lehr sehwierig; Denn neeh FHUung der
Urteile erfahren die Sachverständigen iQ dor Regel nicht die ( tründe für . das
I'rt. it i]>'s Gi rii lit4iiifi s. imch. %vns aus dem Aniroklagten witd; ebeniowenig be«
kommen sie nachträglich diu Gcriciit»akten zur HauU.
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II. Di« Fng6 naefa der Termiiid«rten ZurechDungsfähif^keit ete. 85
sieb bringt, 14 des AllgemeiDen Landrechts, Th. I, Tit. 3 lautet:
..Der Grad der Zurechming bei den wnmittelbarpn, als bei den mittel-
barcü Fülgen eiuer H nidlung richtet sich nach dem Grade der Frei-
heit bei dem Handehiden." Nach Schnitzer aber gibt es nur eine
unteilbare psychische Freiheit und Unfreiheit, nicht aber ein Mittel-
diog oder verschiedene Grade der Freiheit. W ollLe der Ge-
setzgeber etwa für die höheren oder niederen Grade der abnormen
Itsycbischen Ztt&tftnde ebenfalls G-rade aDnehmen, so dfirfte dieeee
ninuDermehr darch eine Gradation der Freiheit geschehen, vielmehr
müßte er sich direkt auf die Krankheitszustände des Untersuchten
stutzen.
T/b(T die Existenzberechtigung des Begriffes der „yerminderten
Zurechnungsfähigkeit-* hat sich Bresler (Die partielle Zurechuuugs-
fahigkeit der Geisteskranken. Psychiatrische Wochenschrift 1899 Xr. 7)
ausgelassen. Er sagt so: „Wenn ein Geisteskranker als solcher eo
ipso in seiner 1'otalität als krank betrachtet wird, so kann man um-
gekehrt mit demselben Recht einen Geistcsgesnnden in seiner Totalität
als gesund betrachten. Entweder gibt es alsu keine partielle geistige
Gesundheit, dann gibt es auch keine partielle geistige Krankheit
Diejenigen, welche die verminderte Znrechnungafähigkeit eingeführt
haben wollen, müssen zugeben, daß jemand, der Termindert geistig
gesund ist, mit anderen Worten als nicht ganz geisteskrank au^üiBt
werden kann ; und jemand, der nicht ganz geisteskrank ist, auch nicht
ganz zurechnungsfiUiig zu sein braucht. Man läuft damit die große
Gefahr, im eigentUchen Sinn Geisteskranke als nicht ganz zurecbnungs-
unfdlii^ m betrachten". Eben diesen Standpuukt nehmen schon eng-
lische Psychiater wie Mercier ein, welcher sehr wenige Geisteskranke
als völlig iin/.urechnunssfähifT erachtet und für Vergelmngen solcher
Kranker gewisse Strafen in seiner Anstalt eingeführt hat (durcli dis-
ziplinarische und erzieherische MaBuahmen). Bei den großen Be-
denken, die ein solches Vorgehen erwecken muH, ist Bresler für die
Beibehaltung des empirischen BegriflFes „der freien Willensbestimmuug
wodurch annähernd sichere und bestimmte Verhältnisse geschafft
worden. In der stra&ecbtUcben Behandlung solcher FfiUe sei es
besser, durch Verringerung des Strafmaßes und Ausdehnung der mil-
dernden Umst&nde denselben Bechnung zu tragen, anstatt die betreffen-
den Personen in den Augen des Publikums sozial zu schädigen durch
das Odium ,.der Minderwertigkeit^^
Der prinzipielle Standpunkt des Determiniertseins
verbrecherischer Anlagen, wie er in neuerer Zeit von der italienischen
Schule unter Ji^ruog vonLombroso vertreten wird, ist am klarsten
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IL Die Frage nach der vermiaderten Zurechsangflfiihigkeit etc.
zum Ausdruck gebraclit worden Ton Sommer in seinem Vortrage
ttber Kriminalpsychologie auf der JahresTeraammlung der dentsclien
Irrenärxte in Dresden 1894. (Zeitscbr. für Psychiatrie 1894, Nr. 51,
Heft 4.) in der Grundfrage kommt es nach Sommer nicht darauf
an, ob es einen Verbrechertypns gibt» sondern ob es im aUgemeioen
aogeboreoe Geisteszustände gibt, welche zum Verbrechen fKhreu. Man
braucht die Neheühypothesen T. ombroso's nicht zu acceptieren,
wenn man doch den wesentlichen Punkt zugibt, daß nämlich bei ge-
wissen Mfnsc!ion ondowene Anlage zum Vcrhrerlien die äußeren
Momeute üherwicgt. Zu dieser z\nuahuie wird man geuutigt durch die
psychologischt' Analysp rücklulligcr Verbrecher, wenn sieh auch kein
Typus im groben Sinn der Anatomie dafür aufstellen h'iRt. Der
Grundgcdiiuke dieser Theorie liegt nicht iu di r öpbzielleu Anuaiime
des Angeborenaeins verbrecherischer Neigungen, sondern in der An-
nahme des Determiniertseins der Terbrecherbehen Handlangen.
Unter Determinismus Tersteht Sommer die Lehre, daß Naturror-
g&Dge, also auch alle menschlichen Handlungen durch gegebene Ver-
bältDisse notwendig bedingt seien, daß die Terbrecberischen Handlungen
als Resultat aus der endogenen Anlage and den exogenen, d. h. von
außen wirkenden Momenten zu erklären seien. Sittliche Geftthle und
Gewissen sind nur Kompoueateu in der Rechnung} aus welcher ein be-
stimmtes Resultat mit Notwendigkeit hervorgehen nniB. In jedem
Falle einer Gosetzesüliertretiing müßte also untersucht werden, oh die
Handiuiif^ mehr endniren oder ex'>c;en ist. Ist sie rein endogen, so
sind weitere kriminelle Handluugeu zu erwarten und der Mensch
mijtite, zum öelbstscliiit/ der Gesellschaft unschädlich gemacht werden.
Allerdings ist zuzugeben, daß der allgemeine Determinismus prak-
tisch unlösbare Aufgaben stellt und zu den staatswissenschaftlichen
Utopieeu zu zählen ist. Die Hypothese der AVillenslVeiheit und die
Festsetaung eines Strafmaßes sind im Strafgesetz notwendig verbunden,
sie sind nötig zum Schutze der Gesamtindividuen gegen Willkür von
Seiten Weniger. Indessen ist zu hofien, daß der deterministiscbe Ge-
danke bei gewissen Gruppen jugendlicher und räckfiUliger Verbrecher
Boden faßt. Das Unzureichende des 8tra%esetzbnches geht aus der
konstanten Zunahme der Krimioalitätsziffer im allgemeinen hervor. Es
ergibt sich also die Notwendigkeit eines größeren Schutzes der Uesell-
Schaft gegen endogene Verbrecher.
Kriminelle Handlungen haben durchweg die BigentQnüichkeit,
daß sie eine Befriedigung des Individuums gegen das Interesse und
den Willen der Gesamtheit bedeuten. Daher fehlt au sich das Kriterium
1
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II. Die Frage Mch der rermioderten ZurechnttogafiliigkeU «tc.
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der Krankheit voUstkiulif?, und es kanu nur unter bestimmieu psychischen
Yorausset/uiif^t'ii vou Krankheit dif» Rede sein.
Ein Defekt, wie z. B. das Fehlen ethischer Gefühle, welches den
geborenen Verbredier cliankteririert, ist nun nach Sommer noch
nicht als Icraiikhafl zu beseichnen. Der Defekt wird nar dann zur
Enokbetty wenn er das Individunm wirklich sch&digt
Nach Sommer k(tonen endogene Verbrechematnren In diesem
Sinne nicht als Geisteskranke bezeichnet werden, und sie gehören dem*
entsprechend nicht in Krankenanstalten, sondern in Detentionsanstalten.
Es gibt also nach dieser Anschauung eine Unfreiheit des Willens
ohne Geisteskrankheit. Die Art des Strafvollzuges (Bestrafung, Irren-
anstalt, Detention) muß aus der psycliischeu Besch affenlieit der Ver-
brecher Irreleitet werden; die Psychologie des Verbrechers gibt also
die Basis ab für einen ratioüölifii Strafvolhsug.
Der Auffassung Sommer 's kommt die Anschauung Forel's,
die er in seinem Vortrage über die Zurecimungsfähigkeit dargelegt hat
(München, 1901. Reinhardt) sehr nahe» Freiheit ist nach ihm ein
GefÜhlf jede psychische Tätigkeit ist durch komplizierte Ursachen und
Triebfedern bedingt. Seele und Gehini sind nach Forel eins. Das
durch die Empfindongsnerren mittelst der Sinne Eindrucke too der
Außenwelt empfangende Gehirn hat, wie die lebende Nervensnbstanz
überhaupt, die Fühigkeiti sich beständig neue Dinge anzueignen^ sich
denselben anzuschmiegen nnd sich durch dieselben beeinflussen zu lassen^
und auf solche \Vci?e neue Kombinationen aus den alten zu hilden.
Diese Tätigkeit des sich Anschniiegeusund ordnungsmäÜigen Komhinierens
neuut i?'orel phisti'^eli. im ( Ictreusatz zu der plastischen Öeeirntätig-
keit maclien die instinkliveu, automatischen Triebe den Eindrui k der
Gebundenheit, Unfreiheit, des MaschinenuiiUiigeu, obwohl es unzählige
Übergänge zwischen den reinsten Automatismen und den allerfeiusten,
höchsteni schmiegssmsten Seelentfttigkeiten gibt. So arbeitet das Gebim *
teilweise mehr instinktiv, teilweise mehr plastisch. Die Instinkte sind
angeborene resp. ererbte Automatismen (z. B. die Merkmale der Klasse,
der Ordnung, der Familie, der Gattung, der Art, der Varietät, Eitel'
keit, Eifersucht, (Geschlechtstrieb und Hungen, sind nur der Ausdruck
der alten Tererbten Eigenschaft der Variet&t und ebensD alte vererbte
Merkmale unserer Ahnen, wie unsere Nase, unsere Hautfarbe, das
Fehlen des Schwanzes u. s. w.
In diesem Sinne fällt nach Forel der Begriff' der Willensfreiheit
mit dem Begritl der plastischen Anpassungsfähigkeit zusammen. Was
wir unter Freiheit fülden und verstehen, ist nicht absolute F'reiheit
ohne Ursachen, tiuuderu eine rehitive Frciiicit, d. h. die Fähigkeit,
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II. Die Frag6 nach der Terminderteo Zui-echaungiühigkeit etc.
unser Denken, Fuhlen und Handeln an alle äoBeien nnd inneren Vei^
hfiltniese adSqnat, d. ,h. mögliehet entsprechend nnd geordnet anzn-
passen. Diese Anpaseang erscheint uns als frei in ihren unendlichen
feinsten, komplizierten und sablrelcheii Weobselhetiehangen, wenn wir
sie mit der unmittelbaren Gebundenheit der groben Instinkthandlungen
Tergleichen.
Dieser relative Freiheitsbegriff hat den Vorzug, auf Wahrheit zu
beruhen. So ist auch der Bpgriff der Zurocbniiugsrabigkeit nur ein
relativer. Der Mensch ist also um so zurcchuuncisfähiger, als er
feiner, plastischer und a<lüquater anpassungsfähig ist. Ein durch wenige
Gläser Wein leicht angeheiterter Mensch, ein zehnjähriges Kind sind
bereits minder zurechnungsnihig. In diesem 8iune ist vtrmiuderte
Zurechnungsfäbigkeit stufenfürmige ^''enuindenmg der plastischen
adäquaten Anpaseungsf&bigkeit. Es gibt also auch bei normalen
Menschen alle mdgliehen Stufen der Znrechanngsfähigkeit je nach der
Gebundenheit durch starke Triebe, geringe Intelligens , mangelhafte
Kenntnisse, schwachen Willen, vor allem aber durch angebonneit
Mangel an ethischen und sympathischen Gefühlen. Der BegrifT der
Zurechnungsßihigkeit setzt eine solidarische Gemeinschaft gleicher
Wesen mit gleichen Rechten und Pflichten voraus; mit der Entwick-
lung des sozialen Iiistinktos geht Hand in Hand eine rnterdrückung
der rein egoistischen Trieiie. Handelt also ein adäi[uat uiigepalUea
Glied einer solidarischen Geniemschaft antisozial, so ist es Pflicht der
anderen (ilieder der Gemeinschaft, dieses schädliche Glied nnschäcUich
zu machen, und zwar wegen Eriuiuuug der Gesellschaft. Die Zurecb-
nungsfäliigkeit des Meoscben ist also keine wirkliche oder absolute
Willensfreiheit, sondern eine möglichst feine, komplizierte Anpaßbar-
keit ganz besonders an die sozialen Notwendigkeiten. Wer durch viele
starke Ketten gebunden ist, nähert sich immer mehr dem Geistes-
' kranken^ oder dem geistig Abnormen, oder dem unreifen iÜnde.
Nachdem wir den Standpunkt der Psychiatrie in der Frage der
verminderten Zurecbnnngsfähigkeit kennen gelernt haben, erscheint es
zweckmäßig, noch einen Blick zu werfen auf die rechtliche Seite der-
selben. Sehr ausführlich hat Gretener. Professor der Rechte in
Bern, 1897, „die Zurecluiungsfähigkeit als Gesetzgebungsfrage" be-
arbeitet (Berlin, Puttkaninier iiiul M ii hl b recht); seine Schrift
war gewissermaßen eine Vorarbeit für den Euiwurf zu einem Schweize-
rischen Strafgesetzbuch. Die Schweiz ist bekanntlich in der Aulnaliuie
▼on Geeetsetbestimmun^n Uber die Termioderte Zurechnuugsfähigkeit
anderen Ländern vorausgegangen. .
Gretener hält an dem Fnndamentalsatz jeder rationellen Zu-
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IL Die Frage nach der ▼erinifi«]ertea Zureelmongsflbigkeit etc. 89
rechnuDgslehre fest, daß die Verurteilung; auch zur iiiildesteu bnafe
ein zurechnungsfähiges Subjekt voraussetzt. Nach seiner Meinung ist
die verminderte Zurechuungslähigkeit kein Mittelding zwischen „Zu-
rechnuugsfähigkeit*' oder „Zurechüimgsunfähigkeit", denn die Schuld-
flUiigkflit kann nur Yerneint oder bejaht werden. Demnach gibt es
zwar Grade der Zarechnang, aber keine Grade der ZurechnnogB-
fahigkeit Gegenfiber der Beräcksichtignng solcher abnormer Getstes-
sustände, wie sie hier in EVage kommen, hat die deatsche Bechts-
praxis infolge des Schweigens des Deutschen Strafgesetzbuches zu
einer ganz willkürlichen Handhabung der Strafjustiz geführt, l'brigeus
trag das letzte Deutsche Partikularstrafgesetzbuch, nämlich das
Bayrische vom J;ihro 1841 dem Standpunkte dadurch Kcchnung, daß
es zur Annalime geminderter Zureclmungsfähigkeit eine tM'hebliche
Mintlcrung der Urteilskraft oder der Freiheit der Willensbcstimmung
fuiderte. Der iScliwei/crische Entwurf in seiner revidierten Fassung
kommt diesen Ei^utgungen insofern entgegen, als er einerseits für solche
Minderwertige unbeschränkte Strafmilderung zuläßt, andererseits aber
eine Anrechnung des Aufenthaltes in einer Heil- oder Pflegeanstalt
aof die vom Biohter bestimmte Strafzeit vorsieht, wobei freilich nicht
ausgeschlossen ist, daß die bloße Versorgung an Stelle der Strafe
treten kann. Natürlich darf die Frage nach der Schuld und Straf-
ffthigkeit nicht mit derjenigen der Heilungs- oder Veraorgongsbedürftig-
keit verquickt werden ; denn für die medizinische Behandlung ist es gleich-
giltig, ob jemand überhaupt ein Verbrechen begangen hat oder nicht
Zu denselben Resultaten kommt der deutsche Strafrochtslehrer
Prof. V. Liszt (Berlin) in seinem gclegenflirh des 3. iiiternationalou
Psychologenkougresses in München (Kongreß-B» i icht München. Leh-
mann 1897). Auch er findet die Gleichstelluiii; der „Zureclmungs-
fähigkeit** mit der „freien Willensbestiujmung', wie sie § 51 des
Deutschen Beichsstrafgesetzbuches zeigt, bedenklich. Nach sdner Auf-
fassung muß das Strafrecht dem unaustragbaren Streite Aber die
Willensfreiheit entrttckt bleiben. Deswegen müßte d«r Ausdruck
„freie Willensbestimmung'* unbedingt fallen. ZnrechnaDgflhigkeit nach
Liszt ist „normale Bestimmbarkeit durch Motive", und er
schlägt vor, diese Fassung an Stelle der „freien Willensbestimmung"
in das Gesetz aufzunehmen. Die bisherige Definition versagt überall,
wo unausrottbarer Hang zum Verbrechen (unverbesserliche ("Jewcdin-
heitsverbrecher) eine Siclierurigsstrafo ertordert. Mangelt aber dem
Gewohnheitsverbrecher di»' Zurechnungsfähigkeit, so kann er nicht ge-
straft werden; es ist also nur Unschädlichmachung als Yerwaltungs-
luaiiregel gegen ihn möglich.
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IL Die Frage a«ch der reminderten Zurechnungsfähigkeit etc.
Liszt schlägt Abiiaclcrunis: des § 51 Tor wie folgt;
„Eine strafbare Haudlung ist uicbt vorhanden, wenn der
Täter zur Zeit der Begehung der Handlung io einem die 2a-
rechuungsfilhigkeit aotscbließenden Zustande Ton Bewnßtlotig-
keit oder Ton krankhafter Hemmung oder Störung der Geistes-
tätigkeit sich befand."
In Bezug auf Fälle verminderter Zurechnungsf&higkeit ist Lisst
fUr Sicherung der Gesellschaft durch Verwahrung des Täters in
Anstalten und Asylen. Der Schweizer Gesetzesentwurf trifft hier nach
Liszt das Richtige und darf zur Nachahmung empfohlen werden.
Der vorstehende Uherbliek faSt die wesentlichsten theoretischen
GesichtspuDkte zusammen, welche von gericbtsärzUicber und juristischer
Seite für die Aufstellung einer verminderten Zurechnungsiähigkeit
geltend gemacht werden können.
3.
Die fir vennindsrte Zurechnungsfähigkoit bauptBichlicb In Betracht
kommenden Formen iisychischer Anomalien.
Es erübrigt nun noch, einen Blick zu werfeu ani die rein medi-
zini'j' lie Seite dieser Fra£?e. d. Ii. auf die psychischen Abweichungen
und Störntifjon. welclic in toro vorwiegend für die verminderte Zu-
rechiiungsiläliigkeit in Betracht koninien.
Wollenberg rcchutt in der obm erwähnten Arbeit zu den
(iruppeti, welche in das bezeichnete Greu/gebiel lallen, alle Individuen,
die man im weitesten Sinn als Degenerierte und Uindenrartige be-
zeichnen kann, die Epileptischen, Hysterischen, erworbene Degenerationen
und Scbwächezustände, die psychischen Störungen des Alkoholismos,
Morphinismus, femer intervallare Zustände periodisch Geistesgestörter,
Frühstadien der Dementia senilis, sowie Verftnderaogen der Peycbe
bei organischen Erkrankungen des Centralnervensystems.
In Bezug auf die erbliche Belastm^ unterscheidet Wollenberg
die latente Veranlagung, die nur fius einer bestehenden erblichen Be-
lastung zu entnehmen ist, und die manifeste, die sich in dem Indi-
viduum objektiv nacliweisen liilit. Eine groBe Menge erblich belasteter
Individuen ist nnludingt als zurechnungsfähig zu betrachten. Die
krankhafte Veranlagung kaon aber die Zuiechnungsfähigkeit beein-
trächtigen und in der Strafabschätzung als Milderuugsgrund geltend
gemacht werden. Bei Individuen der oben genannten Gruppe finden
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IL Di« Frage nMh der verminderten Zoreelwungsfelugkeit etc. 91
sich nun büuli^ Versehrohfnlieiten. Einseitigkeiten. Absonderlichkeiten
neben körperlichen Anoinalieü, Eotwickluügsmäufjelii ; dahin sind zu
rechnen selbstquälerisclie, hypochondrische Individuen, niaiiclu" Prahler,
Geizhälse, Verschwendor . Fanatiker, Schwärmer. Sonderlinge und
Exceutriscbe. Bei Individucu dieser Art können Ail'ekte zeitweilig
eine wlehe Inteniitat erlangen, daß cladurdi die Zmechnungöfühigkeit
fUr einen bestimmten Zeitraum auageschloeaen ist.
Ferner gdiören in jenes Grenzgebiet die sexuell Perfersen, KontrSr-
sexnalen nnd Exhibitionisten. Die letzteren gehören nach Wolleu-
berg in der Mehrzahl zu den Geisteskranken im engeren Sinne. Die
echte Homosexualität ist nach Wollenberg immer ein Zeichen einer
degeneratiTen krankhaften Veranlagung. Sie ist also ein die Zurech-
uungsfahigkeit Terminderades Moment.
Große Schwierigkeit bietet die Beurteilung^ der leichten Schwach-
sinnsfornien. Ihre Insufiicieuz zeigt sich überwiegend auf praktischem
Gebiet. Vielfach ist es schwer zu entscheiden, was auf Rechnung der
endogenen VeraDlaf?iinp. was auf dipjenif?e der Verwahrlosnni» zu setzen
ist, und (las hesondeis bei den mäßig Schwachsinnigen der untersten
Schicht« !), die sich viellach in den Gefängnissen als usdissiplinierte
Gewoliiiheits Verbrecher finden.
Bei tler Rpilej^i^if erheischen rielieu den I )ämmerzustiiuden die
psychischen Aquivuleiitc das f^rüHtc lnrcnsisehe Interesse. Ma» kann
bei solchen Kranken nnuuiter wohlgeordnete, anscheinend besonnene
Handlungen beobachten. Auch besteht durchaus nicht immer Eriu-
nerungslosigkeit, sondern ea kommen alle Abstufungen des Erinnerungs-
▼erm^ns Tor.
Bei Epilepsie ist unter allen Umstanden «ne mildere Beurteilung
angezeigt
Auch bei der Hysterie liegt die Schwierigkeit auf dem Gebiet
der Diagnose. Bei den Bewußtseinsstörungen der Hysterischen han-
delt es sieb Tielfaeh nur um eine krankhafte Verftuderung des Be-
wußtseins.
Die ans den krankhaften Zuständen ins normale Wa^hbewuß^
sein mitunter hiuttbergenommwen Vorstellungen können wie eine post-
bypnotische Suggestion das gesunde Verhalten beeinträchtigen und zu
strafbaren Handlungen führen. Wichtig in diesem Sinne bei der
Hysterie sind die charakteristische T^herregbarkeit des ganzen Nerven-
svstonis. das Vorherrschen des Phantasie- und Gefühlslebeos über den
ruhig ai)wä^ien(leu Verstand, die abnorm leiclito Auslösung von Gefühls-
reaktiouen, die xseigung zu KrinnerungstäuschungeUf Träumereien, im-
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IL Die Fnge nach der Terminderien ZuredmimgsfiUdgkeit ete.
pulsiven Handlunpon. Das liysterischt» Tompcraineot kann in höheren
Graden die Zuiechuuugäfahigkeit aut'heheu.
Die freie WiUensbetätigung bei atrafbaren Handltmgeik kaon aoeh
durch suggestive Mittel (im Wachzustande) und hypnotiBche wie post-
hypnotische Eingebungen abgesdiwächt resp. aufgehoben werden. In-
desaeQ gehört die auggeatlTe krtminelle Zwangshandlung eines Geisten
gesunden zu den Seltenheiten, und meist handelt es sidi um psycho-
pathisch Minderwertige, Degenerierte, Schwachsinnige, Hysterische mit
mangelhaft entwickelter Willenssphäre. Allerdings fallen solche Per-
sonen hpsonders leicht suggestiven Einflüssen Tollsinniger Verbrecher
zum Opfer.
Ahnliclif Anschauungen wie die vorstcliendeu entwickelt Cramer
in Seinern Aufsat/.e: Die Behaudluiij,' tler Li renzzustände in iüio liebst
einigen Bemerkungen über geiuiuikrle Zurechuungslähigkeit. (Berl.
klin. Wochenschrift Nr. 477, 1900,)
J)te besonderen Uomente, welche zur Zeit der Begehung der Tat
erblich prädisponierte oder pathologisch veranlagte Individuen zu einem
Konflikt mit dem Strafgesetzbuch treiben, mud hauptsäoblidi: Starke
Affekte, Vergiftung mit Alkohol, sexuelle Erregung, Menstruation,
Schwangerschaft und Klimakterium. Besonders gefihrlich ist die
Alkoholwirkung für epileptische, zu Gewalttätigkeiten geneigte Charak«
tere, während die Vorgänge des Geschlechtslebens liauptsächlich bei
hysterisch angelegten Personen trausitori^clie I^wulltseinsstönincren
hervorzurufen im stände sind. In P>r/.u<^ auf die Degenerierten, Schwach-
sinnieen, Neurastheniker , Alkoholiker teilt Cramer die Ansichten
W ü 1 1 e n be rg 's. Ik-soudere Berücksichtigung erheischen die senilen
Charakterveräuderungen , die Abnahme des Gedächtnisses, der In-
telligenz, die Reizbarkeit und Schwankungen in der Gemütslage bei
Greisen. Auch bei jugendlichen Verbrechern wäre Detention oft
zweckmäßiger angebracht, als das mitunter viel zu hohe Strafmaß.
Ebenso wies Kirn (Freiburg) auf klinischem Wege die Not-
wendigkeit der Annahme verminderter ZurechnungsfUhigkeit nach.
(Kirn: t'Ijer verminderte Zurechnunt^sfllliigkeit. Vierteljahrsscbrift
für gerichtliche ^ledi/^in, Olct. 1898.) Unter den Heohtsverletzungen,
die hier in Frage kommen, übormegen im allgemeinen die Aflfektver-
gehen. Beleidij2;tini!xen. Körperverletz«n*7en \md D'^likte auf sexuellem
Gebiet. Kirn iriht fine Übersieht über 41 Beobachlunf^en ans seiner
Praxis. 14 Sträflinge unter diesen litten an Schwachsinn < Verf^ehun^'en :
Unzucht mit Minderjährigen. Xntzucht. widernatürliche Unzucht, Körper-
verletzung, Brandstiftung, Sachbeschädigung, Diebstahl). An perversem
Sexualismus litten 4 (Päderastie und Unzucht mit Miiiderjährigen),
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n. Die Präge nach der verminderten Zurechnungafiihigkeit etc.
93
psychisch epileptische Degeneration zeijaiten 9 Fällo fKörperverletzung,
militärische Vorgr^hen, Betrug DiVIjstahl). An Hysterie litt ein wegen
Betrug verurteiltes Individuum. 3 clironische Alkoliolisten hatten sich
zu verantworten wegen Körperverletzung, Störung des öffentliclien
Friedens, Beleidigung und Diebstalil. An traumatisch erworbener
Gehiruscbwüche war ein wegen Diebstahl bestrattes Individuum er-
krankt. Begmnende seoüe Störung zeigte sieb an 9 Indiriduen, welche
sämüicli sich wegen Vornahme unsfichtiger Handlungen an Kindern
unter 14 Jahren zu Terantworten hatten.
Es würde zn weit führen, hier auf Einzelheiten dea peychiachen
Status bei den einzeben Erkrankungsformen einzugehen; nur möge
noch erwähnt werden, daß auch die schwer erkennbarm An&ngsstadien
mancher Psychosen geistige Umwandlungen erzeugen körnen, welche
vor Gericht zu berücksichtigen sind, das gilt namentlich von der Neur-
asthenie, der beginnenden Paralyse, sowie dem Vorstadium der Farauoia
und Manie.
4.
Beobachtungen aus der Gerichtspraxis des Verfassers.^)
L Chronischer Alkoholt«niue.
Th. L., Dienstkneeht, 47 Jahre alt, uu^^eklagt wegen Braudstiftuugf.
Chronischer Alkohoüsfiiu*. chrnni«irhc Nephritis, pntholnpischo Raaschztistümle,
Arteriosklerose, Herzklappetifehlcr. Ethisch und iuteilektuell liefekte I'eisönlich-
keit. Zündete im Ratisehzustend ein ihm aelbst cum Teil gehöriges Anweien an,
half dann bei den Löse lun iM iten, icUief teinen Rausch au$ und seigte weder Reue
noch Erinnerung an iIh- Tut.
Nach Ansicht des Verfassers und des zweiten Sachverständigen war die freie
Wüleosbestiuimung zwar nicht völlig auageschloeseo, aber erheblich vermindert.
Urteil: ZuehthauMtnfe.
II. Chronischer A Ikohoiismus.
Xaver "B., 40 Jahre alt, angeklapt wi^t^on Körfi^rverletzung mit nach-
gefolgtem Tode. Erschlug in einem AS'ektausbruche veranlaßt durch be«
grSndete Eifersndit seine Frau.
Outachten: Erblich belasteter Psychopath, chronischer Alkoholist. Gefäß»
•torangen, Kongestionen, Tomit. matut. Halluzinationen, Angstsuatäode, Bnbrselig»
1) Unter den im Nachfolgenden li< tii hteten Gutachten wurden 13 von dem
Verfasser unter Eid vor Geridit abgegeben. Fall 4 enthält ein schriftliches Gut-
achten fnr ein ausw^iges Oerickt und Fall U ein privates Gntaehten, welches
jedoch dem lleii hsgericht bei Revision des betreffenden Falles rorlag. Die Urteile
sind äberall so genau wie möglich beigefügt.
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94 I^i« Frag« oach der Terminderten Zarechnungsfiliigkeit etc.
keit, Depression, SellMtmordTersadie, TrBbuagea des Bcwußtaeios, triebart^
Handlungen, GewaUtÜtigkeii.
Resultat: Zurcchiiungsiahigkeit während der Tat nicht aufgehoben, weil
dfr Angfklaj.'te nur aiipolnirikf n. dtirch berechtigte Eifer«iu-ht crrogt war und
nach der Tat mit Uberifguug iiundelte; dagegen war die Zurechnungsfiihigkeit in-
folge der psychopathischen Erregbarkeit vermindert.
Urteil: 8 Jahre 6 Monate Gefangnit.
III. Epileptische Degeneration.
Juhonn K, lediger Schneider, 17 Jahre '6 Monate alt, augekiagL wegen
Diebstahls, war trotz seines jugendliehen Alters 9 mal wegen Diebstahl vor^
bestraft, mit einem Verweise, 2 Haft- und 6 Gefängnisstrafen.
Epileptische Degeneration mit anfänglich typisch epileptischen und cpüepti-
formen Aniälleu. Darauf psychische Äquivalente luit progressiver Veränderang
der Persönlichkeit. BewuOtteinatr&bungeo, Absenaen, Sdilafrtorangon, motirkMea
Vagabundieren, Bewegungsdrang, periodisch hochgradige Keiabarkeit, automatisches
Reagieren auf ännerf Reize. Klpplnmanic teilweise S' !i!ti ii^unpen mit BewuCtsein
und Vorbereitung der Handlungen, teilweise in truumartiger Benominenlirit.
Einige Diebstähle wurden höchst ungeniert ohne fUicksicht auf die Umgebung
ausgef&hrt.
Resultat des Gutachtens: Epileptischer Schwachsinn mit einem Minimum
von Ziireehnungsfähigkeit, £. ist für dauernde Unterbringung in eine Anstalt zu
empleldfu.
Urteil: Freisprechung.
IV. Epileptische Depo n e ra t i u n.
Georg W., 17 Jahre alt, angeklagt, in einer Privatklinik 2 mal Geldbeträge
in der Hohe von 5 und 3 Hark nachts gestohlen su haben.
Angeborene Epilepsie. Früher häufige Anfälle, jetzt Auftreten derselben
alle 4 — 6 Monate. AiiCcrdi iti fiesfelieii Skro[iIiuli»se. Driiseiisi-lnvflliinpeii und Atis-
schlüge auf der äußeren Haut. Tiefgrettende Anomalie des ChanüiLtorü und Geaiiit^;-
lebens. Sinnlose und impulsive Handlungen. Wutausbrüche, Vagabondage. Hang
SU allen mSglkfaen Absonderlichkeiten. MulÜte aus der Schule entfont werden,
da er die Mitschüler zu Diebstählen und schlechten Streichen verführte. Strafen
und ?*>zielrinir«^ni;if)n p-olii tranz ohne Erfolg. Absolute Unfähigkeit adiifiiiatr>r An-
passung an die äuliercii Verhält nisae. Ausgesprochene Abneigung gegen Arbeit
und jede ernste BescyUtignng. Vorliebe für Bummeln, Nichtstun, Neigung zu
Exzessen in Haccho et Venero. Zahlreiche Dtebstihle lassen auf krankhaften
Autrieb /urn Sti lilcn schlielien,
Ergebnis de» Gutachtens: W., uuverbesserhcher Psychopath mit epilep-
tischer Degeneration, ist ganz sicher nieht in vollem Sinne zurechnungs-
fähig. Bei der Unkenntnis der Tatumstilnde ist Nihercs über den Grad der
Terniiiiderton Zureohnuugsnihigkeit nicht anzugeben. Antrag, den Angeklagten
6 Wochen in einer Irrenanstalt zu beobachten.
Resultat unbekannt.
V. Gravidität und Hysterie.
^Infi'f^ideno LV, 11 Jitlire .i1t. !iiipokIa<,'t wegen versuchten n H e n m o r d e s.
UnglückiKlio Ehe, iniime Beziehungen zu einem Maler; Folge: Gravidität, Nachts
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IX. Die Frage nach der vermiDderten Zurecliuutjgsfähigkcit etc. 95
trat sie nn dns Bett SD dem ichlftfeDden Hann und tchoD ihm mit einem Revolver
in die litikf Srhliifo.
G u t n ch t en de» V e r tass c rs: Erblich bciastet. tiebar 10 Kinder. Seit
dem 10. Lebenfjahre kysteriseho AnflUle. Sdüafsiörungon, Katale])»!«, kooseofrMdie
OeaiehtsfeUleiiH'it^iini;, Störung der Sinnesenipfiiiduugc-n i Hemianaathcflie) , ge>
stcijrertes i*!ian!:ivi>I('bt>ii, AflVktausbrüche. I)i<' Tat wiird«' lirrrnntroTi von fiüor
durch 10 Gi'biirton gescliwäcliteii, hysterisclien, im Zustande der iiravidität be«
findlivhcii Person, wahrscheinlich unter dem Einflüsse eines Affektes.
Begultat: Wenn eine geminderte ZurechnungsHUiigkeit in dieiem Fall
auch mildernd ins (rewicbt fallen kann, so ist doch der Gmd deraelben nicht ao
groß, daü sich di* AriwrinhiiiLr d<s § nl emitHehlt.
Urteil: Schuldig des Totschiagversuchs. Strafe: 6 Jahre Zuchthau«,
10 Jahre Ehrverloat.
VI. K 1 i III a k [ e 1 1 u III uud Hysterie.
llefzgergattin, 44 Jahre alt, angeklagt des Murdvcrsucha und der
Anatiftnng su 9fachem Morde. Unter dem inggeativen Einfinfl einer
Karteuschlägerin hatte sie ihrem (wegen t im s Liebesverhältnisses ihr unbequemen)
(tatten ein Pnlver in die Snekon gestreut in der abergläubischrti Einbildung, er
werde daran sterben. Aulicrdem stellte sie bei derselben Prophetin eine Liste
von 9 Personen aaf, die ebehfaUa durch Sympathiemittel myattsch beaeitigt werden
müßten. Die V'erhandlung ergab, dafi der intellektuelle L'rheber die vielfach vor-
bestmftt W!i]n-irit,'i r'ni war. DnLjoefii mnchtf^ Frau S. nach dmii Gutachten des
Verfassers einen hysteropathischco Eindruck. Sie gebar 7 Kinder, überstand
mehrere Untcrieibskrankheiten und befand aidi damah im Klimalcterinm. Hoch-
gradige nervöse Erregbarkeit, Sehlalatörungeo, Hallosinationen, krankhaft <lurch
abergläubische Vorstellungen erhitzte Einbildunif'?kraft. rtn i->< h\viiiifrli< likeil. Putz-
snclif, Hührseliirkci?. vnl[ie< rrtrüslnsigkeit bis zur Beschränktheit. Fürsorglich
als Gattin und Mutter, guiuiüiig und mildherzig. Völlig hysterische Charakter-
anlage. Ohne BewuOtsein von der Bedeutung der beabatchtigiea Handlungen.
Resultat: Die Zur«;<liniih^'snihigkeit der S. irar infolge hyateropaihiacher,
psychischer .St-hwäche. ihres Kiiniiikt. riiims sowie infolge der auggcativen Wirkung
abergläubischer Vorstellungen erheblich herabgemindert.
Urteil: Freisprechung.
V^II. Migraine o p h t a I m i q u e und Z w a n g s a n t r i e b e.
"NV., Studiosus. 2'} .Jahr' nlt, anjjeklagt wegen Diebstahls ir: 1 Füllen
(3 Überzieher und 1 Cigarrcnotui). Dieselben erscheinen ungenügend motiviert,
weil W. in geordneten, anskömmKehen VerhSltnisseo lebte und mit den Gegen-
aiSnden einen gewissen Kultus trieb. AV. litt auf Grund erblicher Helastung an
hocberaitiL'eii Migräneanfün' n . I'^li iniin i skotoni , Gehörsliall i iiMf ioti' ti (Migraine
•ophtalinu|ue). Lebhafte Schlatstoruiigeti. Hang, sich heindich tiegenstäude au-
zueigoen, bestand von Jugend auf; Nuschsucht, Sammelwut. Lästig empfundene
Zwaogaantriebe su widersinnigen, teilweise antisozialen Handlungen, deren Nicht-
• befriedigung lebhafte körperliche Unlust^refühle und Angst erzentite. PciniKender
Oräbelzwang. PhnDtasii'lü^'nerei. Pmlihneht. Ethische und intellektuelle Funktionen
im übrigen intakt. Die Stehlantülie haben zwaugsarf igen, impuUiveu Charakter,
treten mit einer Art aura (epiteptica?) ein und sind von lebhaftem Angst-
alTekte begleitet. Unter diesen Umatänden spricht sich da* Qntachten des Yer-
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II. Die "Eng« nach der Temiaderten ZnreehnungifiUiigkeit ete.
fassers dahin aus, daß der Grad der Unzurechuungsf äbigkeit iür die
ia Frage kommenden HandlnDgen auf 75 Pros, sa «chStcen sei, d» das Ver-
halten nach den Tuten und das volle Bevufilsein wahrend derselbeo immerhin
auf fin ijrt'wissfs Mafi von freiem 'Willon schließen lassfn. Drr 7weifo Sachver-
Btätidigc halt W. für voll zurechDUogsiähig, wenn auch seine ucuropathisckeo
Symptome mildernd ina Oewielit fallen mögen.
Urteil: 9 Monate Gefüngnia,
VIll. Leichter Sc Ii w a c h s i n ti .
W. W., 2öjühriger Bauernsohn, angeklagt wegen Meineids. Als Zeuge
einer Rauferei war er Teileitet worden, zu Ounaten dee Beteiligten günstig aus-
susigen. Beschränktes, leicht saggeatiblea IndiTiduum. Überstand eine GeftLagnis-
psyrhosc. LieD sich bei der Untrrsdrhiitipf einreden, daß er den Gutachter bereits
von früher her kenne. Wurde infolge seiner psychischen Widerstandsarmut ver-
führt und zeigte sich, als er vor Gericht die ciniual genjachten Aussagen vertreten
lonfOf Terwirrtf widerrief dieselben und kgte roUes Ckstllndnia ab.
Resultat des Gutachtens: Die Bedingungen des §51 sind nicht ge-
geben, obwohl der Angeklagfr- wp^ren seiner nn Scliwarhsitn) grenzenden Bc»
achränklheit als vermindert zurechnungsfähig mildere ikurltilung verdient.
Urteil: IJahr 9 Monate Zuchthaite (trots Zubilligung de« Milderungsgrundes
dei Jl 167 ZiC I).
IX. Angeborener SchwacheiDn.
Xaver Sp., 21 Jahre alt, angeklagt wegen f ü ti f m al ig e r Brandstiftung
ohne rrchtes 3Iotiv, ILlmliche Freude nm Brennoii-Sehcn. riüizliclic imiiiilsivA
Zwangsantriebe zum Brandstiften. Sp. ist eine psychisch maugelbul't entwickelte
Pereontiehkeit mit Schwachainn mittleren Grades. Verstockter, gegen £tziehungs>
einllflase nnempfünglicker Charakter. Intellektuell schwach entwickelt trota der
renotniiiisf ischen Neigungen. Unfähig, dii' nedeutung srim r Handlungen zu be-
greifen. In hohem Grade gemeingefährlich, daher dauernde Deteotion mehr ZU
empfehlen ab mehrjährige Freihoitaentztehung durch Strafe.
Zwei SaehTerständige (darunter der VerfaMer) halten die Bedingung dea
§ 51 für gegeben, ein dritter bült den Angeklagten nur für vermindert su-
rechuungsfähifj.
Urteil: 3 Juhre 6 Monate Zuchthaus, 10 Jahre Ehrverlust und Stellung
unter Foliseiaafaicht.
X. Exkibitioniamus.
L., Portraitiualer, 31 Jahre alt, angeklagt wegen wiederholter Ezkibition.
Phantasie timl Sinnlicliki it di s Jj. sind m it friilicst i-r Kindheit abnorm erregbar.
Seit 20 Jahren excessive fast täglich geübte Uuauie unter Bevorzugung der be-
gleitenden Vorstellung männlicher und weiblicher Geuilalien. Fand im Coitos
keine Befriedigung. PrSsentierte seine Oenitalien mit Vorliebe öffentlich weib*
liehen Personen g«'genüber, in der Meinung, dieselben dadurch geschlechtlich auf-
zurpjrm. Das Exhibicren stand im Mittelpunkt seines Sexuallebens und bekam
einen iswaugHartjgen Charakter. Daneben besteht schwere Neurasthenie mit tief-
greifenden Charakterreränderungen: Energiekwigkeit, Weinerlicbkcit, Sellwtmord-
ideen u. s. w. Zeichen geistiger Schwäche. Das Bxhibitionieren ist ihm volles
Aquivalfnt für den GiMhlechtsgenuß und find« t aus organischer X«»fiprtiiip statt.
Ethisch und intellektuell geschwächte Persönlichkeit. Für einen gewissen Grad
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II. Die Frage uaek der ▼emÜDderten Zarechoungsfiiliigkeit et«.
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frcur WillftisbostiinmunEr b<*i den Handlungen sprAchon: Dio Vnrbf'ri^itung der
beabsichtigten Exhibition. die Wahl des Ortea , die Zurückhaltung gegenüber
männlichen Personen, die Einsicht io dM Uozuläasige des Thun« vnd die volle
Srinneraiig an alle Einselhetteii denelbett. Dafifegeo spricht der psyehopachiadie
Oesamtzustand. Bei Bemesssung der Zurechuuugsfähigkeit wurde vom Verfasser
der Grad der WilleaseinschränkuDg, der psychischen Unfreiheit auf 70 ürad
geschätzt.
Urteil: Freiiprechgiig.
XI. K X h i b 1 1 j 0 n i 8 Dl u 8.
28 Jahre alt, Beamter, erblich belastet. In den Pubcrtiitsjahrcn mutueilc
und solitire Onanie. Übertriebenes sexaeUes mMotaneleben. Exhibierte 60
bis 60 mal vor Kindern and Erwachsenen. 1^90 Verurteilung in Geld-
atiafe. 1899 TTrirat. IIKW) nou(^ Anklage wep^^n K .\ h i b i t io n.
Das (Tutacbten stellt einen mäßigen Grud int •>IIi>k Miellen und moralischen
Schwachsinns fest, mangelnde QefSUsreakiiou, Steigerung des Trieblebens, neur-
asthenische Symptome, perrenes Oesekleditslebea ab ovo mit zwangsartigen An-
trieben, jedoch keine förmliche Geistesstörung. Für einen gewissen Grad von Zu-
rechmintrsfühipkrir sjirechen: mangelnde Selbsterziehung wider besseres Wissen,
kein Versuch, der Kxhibitiou zu widerstehen trotz gerichtlicher Anzeigen, Auf-
■uehen der Ptitxe und Gelegenheiten cor Befriedigung der perversen Gelüsfe, rolle
Erinnerung an alle Tatumstände.
Ge-^amfresnliaf : H o ( h <> i ;i li i g eml »der l c, aber nicht völlig auf-
gehobene Z u r e i- h n u n g s 1 11 ii I g k e i l.
Urteil: Freisprechung.
XII. Paidophilia erotica.
ö., Pharuiaceut, 31 J ahre alt, angeklagt w^eu Verbrechen wider die
Sittlichkeit. Vorbestraft mit 16 Monaten Gefängnis wegen demelben Bestes.
Erblich belasteter Psychopath. Seit dem 18, Lebensjahre bis jetst esecssive solitKre
und uiutuelle Unnuie nii» homosexuellen Zwangsvorstellungen, insbesondere mit
der Vorstellung von Genitalien der Knaben. Fatite tie niieux 6nialiger Coitus-
versuch ohne Befriedigung. Paidophilia eroticu; selten homosexueller Ver-
kehr mit Erwachsenen, Ergab sich dem GenuB von Morphium, Cocain und
Kanipher. Anämische Konstitution. Zahlreiche neurojiathische Symptome im
Sinne der Xeura.tthenie. Verfolgungsidren, Gedürhtni.ssrhw (iche. wechselnde (Je-
mütslage. Verkehrte gewohuheitsiuäüig mit einem dasselbe Schlul'zinimer teilenden
Kanfmannslehrliog seit Monaten. Schwacher Charakter, bcrnhföhig, Intellekt
intakt. Fühlt .«ti< h gegenüber seiner Anomalie wehrlos.
«Tiita l trii (i s Verfassers: ZurechiiungsfMhigkeit gans erheblich vermindert.
Urteil: 1 Jahr 5 3Ioüate Gefängnis.
Xlir. Paidophilia e r<> t icB.
II.. K:iufin , .12 .laln ■ alt. atiircklugt w<'^»eii ^^)rnallIlle ii n z ü e Ii t i g r II und -
lungiMi ip -.p. \ ersuch zur Vorniiliiiie d»'rselben in .'> Fällen un Kindern im A!'«'r
von U— 12 Jahren. Erblich schwer belastet. (Jnunie seit dem 12. Lelx-nsijuhre
mit der begleitenden Vorstellung kindlicher weiblicher Genitalien. Xeigung zu
unreifen Personen. Anblick i'vent. B«"tastung kindlicher W(<iblu-her («enitulieii sind
mächtig von Luvti^rtühlon iM tr.nt. wirken als Erregungsmittel für den Geschlechts-
Y. Seil re nck - N otzing , .Studien. '
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II. Dt« Frage ttadi d*r verminderten Znreckniuigifiliigkeit etc.
trieb, dt r utitiiittclbar ciarauf entweder tlurch Unnnie oder Coitus befriedigt wird.
Coiius mit Erwachscuei; uhue &eeUäche Befricdiguug, aber zeitweite ah Schutz-
mittel gegen die eis umittlieb empfandenen Anwandlungen vorgenommen. Be-
stehen einer pa i d u p h i 1 i a crotica yera. Daneben neuraatheusche Schwindel«
anfnile. ZwnDirsvorsTriluuo'f.ii. Hyperästhesie des Gehöra, gesteigerte Aeflexe. Stnn
auf den Kopf im 14. Lebensjaiire.
Gegen die freie Willenibeitini mung sprechen: die erbliche Be^
lastung. die früher als das normal«' (nsi lili clitslchen auftretende paidophilia erotica,
(Iii Neurasthenie, «lus Verhalten wHhrend der drri Tnt* n dn i Vfrv-ui hc /ur Ver-
führung von Kindern hiutereiusnder^ der dritte auf ofleuer StroUe augesichts
mehrerer ihn yerfolgeader Personen). Auflerdem die aogenblieUiebe starke Er-
regung infolge mehrwödbentlieker Abetinenx und die Herrselialt pädophilen
Dranges trotz zahlreicher Korrekt urversuehe durch normalen Sexualverkehr. Für
die fr« io W i II e n s b e t ä 1 1 g u n p : das Fehlen einer förmlichen Geistesstörung,
das planniiiüigc Vorgehen bei den Haudluogcu, dos psychische Gleichgewicht im
allgemeinen. Das Fehlen organischer Nötigung, die Höglielikeit einer Befriedigung
durch Onanie nnd Coitus. Keine erweisbare Trübung de« Bf wiiGtseins.
Resultat des (» u t ac- Ii 1 • n ^ ; Krtu-hürh vr rnii rniiif < Ziirrchtningsfiihigkeit,
Urteil: Auuiüuue uiiliternder Lmstiinde, ti .Monate lö Tage Gefängnis.
TS. 'S,, 30 Jahre alt, angeklagt wegen widernatSrIicber Unzuckt, be-
gangen mit seinem Diener. Patient ist erblich schwer belastete hatte schon seit
d( Iii H fji bfusjahre hnuinscxuelle Neigungen. Vom 12, Jahre an Wechselonauie
mjl Knaben. Schlielibch iebiiafter honjosexueller Verkehr mit Leuten niederer
Lebensstellung. IJjakulation trat schon ein, wenn er beim weehselonaoistisehen
Versuch das Glied des Partners berührte. Horror feminae. Kittebchwere ITeur-
esth' iiic> mit Zwanps/.u.stiiiiden.
Das Gutachten steht auf dem Standpunkt. <laü die freie AVilleusbestiauuuDg
weder ganz aufgehoben noch ToIl»tändig Torhandcn gewesen sei. X. ist daher
Terniindert zurechnungsfähig.
Urleil: 4 Monate Geläognis (spätere Begnadigung).
B., 28 Jahre alt, Gelehrter, angeklagt >\ egeu widernatürlicher Unzucht
(mit einem Knecht). Allgemeine neuropathische Disposition, Intolerans gegen
Alkohol. Aus mutuoller Spielerei an den (ItMUfalieii währenvl der Pubertät ent-
steht Wechscb)naiiie mit Altersgenossen und schlicUlich MÜlige lloniosexuaUtat.
Tür eine psychisch defekte Veranlagung spredien auch aiidere 3Iomeute. wie der
Zühlzwang, das Gefühl körperlicher Schrumpfung u. s. w. Die zur Last gelegten
Handlungen wurden /.um Teil in aDgetrunkeuein Zustande vollführt.
Indes>en boherrseht die j»atholügische Triebrichtung den Patienten nicht so
stark, daii die freie Willeusbesliuiuiuug als ausgeschloaseu zu erachten wäre. Der-
selbe erscheint wohl aber als vermindert zurechnungsfähig und ist einer mildeik
Beurteilung zu empfehlen.
Urteil: IVeisprechung aus juristischen OrUnden.
XIV. Konträre Sexualempfinduog.
XV. Eontrare Sexualempfind u II g.
II. Die Frage nach der venDinücrten Zurechnungsfähigkeit etc. 99
6.
Schiursbemerkungen.
Das Ergebnis meiner eigenen Beobachtungen ist nun eine fünf-
malige Freisprechung unter 16 FSUen Temdoderter ZurechnungslShig-
keit. Neon Angeklagte worden schuldig gesprochen ; das Bestdtat der
Verhandlung bei einem jugendlichen Epileptiker blieb nnbekann^ dürfte
aber nach der ganzen Sachlage auch zu einer Freisprechung geführt
haben. !^in Freispruch erfolgte aus juristischeu Gründen. Demnach
knramon eifcentlich nur 11 Fälle in Betracht mit Tier Frei*
spr e r Im n t u und neun V erurt eilun c n.
Was nun die Wirkung der Gutachten auf den Gerichtshut', resp.
die GeschworeDen betrilTt. so läßt sich nicht leugnen, daß gar nicht
selten die laieohaftiäu Äußerungen derselben über die fachmänoischen
Gutachten zu Ungunsten der Angek)s|^n den Sieg davon tragen, auch
mitunter in solchen Fällen, wo die sämtlichen SachTerstandigen gleich-
mäßig den Angeklagten f&r unxurechnungsfähig erklären. So ist es
z. B. viel leiditer, einen Exhibitionisten, der noch einen erheblichen
Gnd von Willensfreiheit besitzt, zu einem F^eispmch zu verhelfen,
als einem völlig unzurechnungsfähigen, epileptischen oder idiotischen
Brandstifter. In einem derartigen, in München verhandelten Fall*)
nahm der Gerichtshof den auf ..Sclmldig" lautenden Wahrspruch der
Geschworenen nicht an , sondern verwies die Sache zur Yerliandhing
vor ein neues Schwurgericht (nach 317 der Strafprozeßordnung).
Nun sind aber weder Geschworene noch der Kichter in ihren Urteilen
an die (nitachten der Sachverständigen gebunden.
Auch aus dieäeia Beispiel erhellt deutlich, /u welchen oßeuüicht-
licheu Widersprüchen eine Boehtsprechung fuhren muß, die nur die
Wahl zwischen Freisprechung oder Unterbringung notorisch G«istes-
kranker in Strafanstalten hat^ Die Schwierigkeit wäre behoben bei
füniichtung staatlich organisierter Betentionsanstalten und Aufnahme
des Begriffes der vermindertMi ZuiechnungsfiUngkeit in das Straf-
gesetzbuch.
In zweifelhaften Fällen tut der Sachverständige wohl daran, den
Grad der Zurechnungsfahigkeit resp. freien Willensbestimmung bild-
1) Fall Schifßl. Vi rhiind« It am 2i?. Oktober 1900 wegeu Braudstiftung^ vor
dem oberbayrischen Schwargonolit. Der Oberarzt Dr. Focke erklärte deu An-
geklagteu für «ineo ganz uuzurrciinuugsfähigeu Idioten (nach scchswüchcullicher
Beoliaditang in der Kreisirrenftoitiilt).
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100
n. Die Frag» nach der Termindtttan ZofeohttttngiiflUugkeit etc;
lieh in Prozenten auszudrücken, je nach dem l^herwiegen der Argu-
mente, welche für oder gegen dieselbe sprechen. Damit hat der Ge-
richtshof die oft genug dem Gutachter vorgelegte Frage, ob die An-
wendung des § 51 gegeben ist oder nicht, selbst zu entscheiden und
zu verantworten.
Die Bestrafung auch bei ÄDnahme mfldenider Umatfiiide kann
auf das mehr oder minder erkrankte Gehirn kaum EUnfluß ttben; die
jfibrlich zunehmende Ziffer der verurteilten ^) Verbrecher und der Rück-
fälligen zeigt, vie mangelhaft die Rechte der GeeeUachaft durch die
bestehenden Gesetze geschützt sind.
Die natürliche uu<1 angemessenste Reaktion ist, wie Aschaffen-
bürg') richtig bemerkt, der Versuch, die Krankheit, an welcher der Täter
leidet, zu heilen, und wenn das nicht möglich ist. durch Intcrnirung
der Täter in einer Irrenanstalt die Otientlichkeit schiitzeu. Die zahl-
reichen, so oft zu einem Konflikt mit dem Gesetze führenden Intoxi-
k&tionszustünde durch Alkohol, Morphium, Cocain sowie zaidreiche
Fälle sexueller Perversion bieten hier vor allem ein dankbares und
Iruchtbares Gebiet lur liie arztlich-püdagogische Taligktit. Die Furcht
Tor Strafe spielt bei solchen Individuen eine sehr untergeordnete RoUe.
Nach Aschaffenburg würde eine milde Bestrafung sogar erleichternd
auf die AnsfOhmng eines Verbrechens wirken. Dieser erfahrene Autor
erlebte mehrfach, daß psychopathische Personen im Gefühle ihrer
sozialen ünbrauchbarkeit um recht lange Strafen baten in der vielieicht
Tergeblichen Hoffnung, inzwischen ihre mangelnde Enrrgie sich krSf*
tigen zu sehen, jedenfalls aber in dem richtigen Gefühl, daß eine knrzF
zeitige Strafe keinen Eindruck hinterlassen werde.
Demnach haben Staat und Gesellschaft selbst ein dringendes Jil-
teresse an der gesetzlichen Ai)erkenunng der verminderten Zu-
rech u u n s fä h i g k *• i t . au einer Änderung des ..SiralVollzuges und
Errichtung von Anstalten, in drncn Arzte und Lehrer zusammen-
wirken, um aus haltlosen, abnormen Menschen womöglich noch
brauchbare Glieder für die GeseUschatt heranzuziehen!^
1) Die Zahl der Verbrechen wider die Sittlichkeit in Proulien ist in acht
Jahren Ton 1887 bii 1895 rou 7400 auf 14700, also auf das doppelte gestiegen.
2) Ho che: Handbuch der geriehtl. Pflychiatrie. Berlin. 1901. S. 37.
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IL Die Frag« nach der TeriDuiderteii ZaredinuiigsflUitgkeH «te. 101
Literatar.
Die hatiptaldiliehiten Quellen sind iu der Arbeit lelbit angegeben. AmfOhr-
Üchere Litoratarzusammenstellungei) findet iiiaii iu:
1. Uoche, Uaadbuch der gerichtl. Psychiatrie. 1901.
8. Krafft-Bbing, Oeriohtliche Psychopathologie. 1900.
8. Kirn, Über geminderte Zurechnungsfähigkeit. Vierteljahmelirift fSae ge-
ru-htlifh.' M.diziti. 1888. Bd. XVI.
4. iiretener. Die Zurechnuugafähigkeit als Gesctzgebungslrage. Berlin.
18ü7 (Mühlbrecht ).
6. AlJgem. Zeitsdiriil fBr Fiycliiatrie.
III.
Bie gerichtlich medizinische Bedeutimg
der 8ii^g:estioii.
Vortrag gehalten geleg''iitlicli des zweiten interuationalen Kongresses
für experimeDtelleu und therapeutischen Hypnotismus m Paris
(August 1900).^)
1.
Einleitung.
Die gerichtliche Medizin ist in erster Linie firfahrungs wissoD'-
schaft und hat als solche mehr mit Tatsachen und Beobachtungen
in der Praxis 7.n rechnen, als mit psychologischen Möglich-
keiten. Die L'-im- vom hypnotischen und suggerierten Verbrechen
wurde seit etwa 2 Jahr/elmteu auf zahkeichen wissenschaillichen Kon-
gressen , in der Fachlitteratur und in EinzeldarstelluQgeu von der
psychologischen und foreusen Seite so eingehend bearbeitet, daß heute
die luage nach dem Verhältnis der Praxis zur Theorie mit Recht auf-
gefworfen werden kann.
Von diesem Gtadchtspunkt aus sollen nnn die nachfolgenden Be*
merkongen in Kfine ▼ersuchen, einige für die geiiefatsfinEtlicfae Be-
gutachtung wichtigen Punkte aus dem Gebiet der rerbiecherischen
Anwendung des Hypnotismns und der Suggestion nach dem gegen-
wärtigen Standpunkt der Sachlage schärfer zu präzisieren.
Die eignen Erfahrungen, die ich im Laufe der Jahre als forenser
Sachverständiger in einer Anzahl von Fällen dieser Art zu sammeln
Grelegenheit hatte, bieten ein um so wertroUeres Hilfsmittel in der
1) Publhdert im Archiv für Krimioabiithropologie 190O. Bd. IIL
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Dio gcrielitlieh medismueh« Bedeutung der Suggeition. 103
kritischen Behaudluug des Gegenstandes, als die neuere gerichtsärTit-
liche Literatur verUiiltnisrotißig ann ist an kasuistischem Material über
die kriminelle Befleutiiog der Suggestion.
Dio bishorigi'u Arbeiteu über den Gegeüstaud, speziell die Dis-
kussionen der Pariser und Nancyschnle, die Erörterongen Belboeuf-
Li^geois, dio bezüglichen Abhandlnogen von Gilles de la Tou-
rette, ton Bernheim, Lilienthal, Forel etc. darf ich in dem
Ejdse TOn FadikoUegen als hinlänglich bekannt TOranseetEen.
Die strafbaren für unser Thema in Betracht kommenden Hand-
lungen lassen sich am zweckm&ßigsten in 3 KIass(>n einteilen:
1. VerbrechenanHypnotisierten, wozu im weiteren Sinn der
fahrlässige Mißbrauch hypnotisirter Personen gerechnet
worden kann.
2. Verl) rec hon, welche mit Hilfe hypnotisierter P ersouen
ausgetührt werden.
3. Kriminelle Handlungen, herbeigeführt durch Sugges-
tion im wachen Zustande.
In den bisherigeu Arbeiten kommt der Unterschied zwischen dem
rein hypnotischen Verbrechen und dem im Wachiustande suggeriwtsn
nidit scharf genug zum Ausdruck. Nach der Anf&ssnng einzelner
Autoren handelt es sich bei der im Wachzustande suggerierten Straf-
tat auch um das B«tehen eines latenten hypnotischen Bewußtseins-
znstandes.
Bei der Verachiedenartigkeit der Bcgriffsdefinition in der Lite-
ratur, welche zu Unklarheiten und Miliverständnissen in foro führen
kann, nn.rr,. |i,V|. voraiisL'o.schickt werden, was unter j.Huj^gestion'' und
unter „Hypnose*' nach meiner Auffassung zu vorj^tehen ist.
„Suggestion^ bedeutet: Einschränkunji: der Assozia-
tionstätigkeit auf ^>e9timmte ß o w u lU s o i n s i n h a 1 1 e i Vur-
steiiungeu, Gefühle, Strebuugeuj. lediglich durch Inansprucii-
nahme der Erinnerung und Phantasie in der Weise, daß
dar Einfluß entgegen wirkender VorstellungsTerbin*
düngen abgeschwächt oder aufgehoben wird, wodurch
sich eine Intensitätssteigerung des suggerierten Be*
wußtseinsinhaltes d. h. eine Steigerung derVorstellnngs-
energie über die Norm ergibt.
Bei Individuen, die im Augenblicke der Erzeugung
des psychischen Inhaltes noch nicht über Gegenvorstel-
lungen verfügen (Kindern. Tieron, Wilden, Ungebildeten) kenn-
zeichnet sich der betreftentie Bewulitseinsinlialt erst
dann als suggeriert, sobalder seine Intensität (= Energie)
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III. Die gerichilich medisiDische Bedeutung der SuggestioiL
gegenüber den erst nachträglich gebildeten (im Sinne der
Konaktor mä HrauDUig) entgegen virkenden Vorstellangs-
▼ erbindungen in der genaonten Weise behauptet
Die „Hypnose^ am&Bt auf dem Wege der Suggestion
herbeigefiilirte aeblafartige oderSchlafsastftnde (Tom ein*
geengten Wachsein, partiellen Schlaf bis zum tiefen Somnambidinnus
mit Amnesie im Sinne der Nancyschule).
Für den hypnotischen Dissoziationszustand chanüctenstisch ist also
das Bestehen irj^end welcher schlafartiger Symptome.
Die überfränge voi^ deüi suggestiven Wachzustände /ur Hypnose
einerseits, zum normalen Wachzustände andrerseits sind tlüssii^e , all-
mähliche, und die Aufgabe des gerichtlicheo Sachverständigen wird
darin bestehen müssen , je nach dem Vorwiegen der Merkmale des
Wachseins oder des Schlafes seiue Eutächeiduug zu treöeu.
Strafbare HamKungen an HypnotialartM.
In der Kategorie der au hypnotisierten Personen be-
gangenen strafbaren Handlangen nehmen die Sittlichkeite-
del ikte den ersten Platz ein. Die Literatur berichtet über eine
Anzahl solcher Fälle (Fall Ca stell au, Fall Levy, in der von Kraft-
Ebing zusammengestellten Kasuistik finden sich Beobachtungen von
Bellauger, Laureut, Ladame, Brouardei, tülles de la
Tourette etc.). In diesen Fällen wurde in der Kegel das un-
zweifelhafte Vurhaudeust'in eines hypnotischen schlaf-
artigen Zustandes während der Handlung erwiesen; die-
selben endigten zumeist mit der Besträfaog des Tftters. Zur Aus-
führung solcher schändlichen Attentate sind allerdings tiefere Hypnosen
erforderlich, in denen der Hypnotisierte ein Automat des Hypnotiseurs
geworden ist. Häufig handelt es sidi dab^ um hysterische Schlaf-
zustände (Lethargie). Die Gesetzgehnng der verschiedenen Länder
bietet einen genttgenden Schutz gegen solche Delikte im Zustande
künstlich hervorgerufener Willenlosigkeit, der vergleichbar ist mit dem
durch Chloroform, durch Narkotika oder Spirituosen hervorgenifenen.
Dieser Punkt hat insofern eine gewisse praktische l^edeutung,
als garnicht selten LHieuhyj)n<)tiseure die Versuchsobjekte geschlecht-
lich miI5braucheD, so in dem von Lada nie bericliteten Fall: in einer
Beobachtung von mir handelte sich um einen Maler, der sein Modell
hypnotisiert uud geschlechtlich mißbrauckl hatte.
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III. Di« g«rieht]icli mcdiziniteh« Bedeotang der SnggesiicMQ. (05
£^ besteht aber in solchen Zuständen des tiefen Somnambulismiis
nicht immer volle Passivität. Wie die interessanten Versuche von
Delboeuf zeigen, c^tzen manche Hypnoti!>ierte den Angriflfen auf ihre
Schanihaftigkeit belügen Widerstand entfjepen. Aber auch das Gcgen-
teii ist möglich, indem ein raffinierter Hypnotiseur das somnambule
Opfer durch Suggestion zu einer aktiven Teilnahme an dem sexuellen
Attentat veranlassen kann.
So entnehme ich aus der Autobiographie eines meiner Patienten
folgenden Fall: Derselbe versetzte eine junge Frau, die an der Seite
eines welken Greises das Leben Tertranerte, in tiefen Somnambnliamos
und be&bl ihr, in diesem Zustande an seinem GUede onanistiaclie
Manipulationen vorsunebmen, was sie auch tat, ohne sich nach dem
Erwachen daran zu erinnern. Der eeznelle Verkehr wurde 3 Monate
in dieser Weise fortgesetzt und ist niemals entdeckt worden. Die
Dame hatte übrigens ein leidenschaftliches l^aturell und liebte ihren
Verführer. Wahrscheinlich hätte er sie auch im wachen Zustande
besitzen köonen. Aus Furcht vor Komplikationen wählte 4^er den
eigenartigen livpnotischeu Weg.
Riae ^veitere Beobachtung dieser Art bietet das folgende Beispiel
aus meiner Erfahrung:
Frl. v. B., Tochter eines höhere« Offiziers, wurde von einem
Geistlichen hypnotisiert, im Zustande des .Somnambulismus delioriert
und wiederholt auf diese Weise geschlechtlich mißbraucht Nach
9 Monaten Geburt eines Kindes. Aus Furcht vor Skandal unterblieb
die gerichtliche Verfolgung des Täters. Als sich Frl. t. B. später
verlobt hatte, ^ benfitzte ihr Geliebter die aus den früheren Versuchen
zurückgebliebene Empfänglichkeit seiner Braut zu hypnotischen Expe-
rimenten, entlockte ihr Greständnisse über alle möglichen Details ihres
inneren Lebens und diktierte ihr bei Meinnngsdifferenzen per Suggestion
seinen AVillen im Zustande tiefer Hypnose. Erst durch mein ärzt-
liches Eingreifen und energische hjFpnotberapeutiscbe Behandlung gelang
es, diesem T^nfug zu steuern.
Bei sexuellen Delikten setzt die natürliche Schamhnftigkeit und
gute Erziehung verbrecherischen (lelüsten ninen Damm entgegen, der
nicht durch einige Gegensuggestionen nmzuNverfen ist, während anderer-
seits sinnlich leicht erregbare Personen viel leichter das Opfer der
suggestiven Verlumung werden. Zwischen hartnäckigem ^\'iderstaud
gegen die Suggestion und absolutem Gehorsam existieren alle Schat-
tierangen. Bei etwa vorhandener Amnesie nach dem Erwachen kann
man in einer neu hervorzurufenden Hypnose die Erinnerung an das
Vorgefallene wecken und so Anhaltspunkte für eine Überführung des
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106 III. Die gerichtlich medisiniache Bedeutung der Suggeetioo.
Täters gewinn* n. (Fall von Dolbooiif. Geschlechtlicher MiO^nniich
eiuer hypootisierien Frau durch einen Arzt. Darstellung des Her-
ganges in neuer von Delboeul hirvorgerulener Hypnose.)
Eines der interessantesten Beispiele dieser Art aus neuerer Zeit
bietet der vor dem oberliayrischeu Schwurgericht 1895 verhand»-lte
Proseß Czynski, bei welchem ich in Verbindung mit Grashey,
Hirt und Frey er als SachTorstSDdiger t&tig war. Der Magnetiaeur
und Laienhypnotiseiir Czynski hatte sich einer Urkundeni&lschnQg
und der Vorspiegelnng einer Traoerceremonie (mit den kirchlichen
nnd eiTilteehtUohen Fernen) scbnldig gemacht, nm da« Vermögen einer
reichen un1)escliolteneQ Dame aus den besten Ständen fUr sich zu ge-
winnen. Für diese beiden Handlungen (Gebrauchmachung einer öfTent-
Heben Urkunde und Anetiftiing zur Anmaßung eines Öffentlichen [geist-
lichen] Amtes) wurde er zu einer GefHognisstrafe Ton 8 «lahren ?er-
urteilt.
AuRerdem hatte er dl» Baronin 2u Heilzwecken hypnotisiert und
ihr iu einem hypnotischen Zustande, der so tiet war. daß sie ihren
Willen nicht mehr zur Geltung bringen konnte. — seine Liebe unter
Küssen und Zärüichkeiten suggeriert. Schließlich erzielte er nach
6 — 8 Hypnosen dieser Art, daß die Patientin sich ihm hingab, ob-
wohl sie keine Gegenliebe ftlr ihn empfand. Ihr Widerstand war
durch hypnotische Maßnahmen , Liebessuggettionen in Verbindung mit
körperlichen Berührungen sowie durch Einwirkungen auf ihr Phantasie^
leben im wachen Zustand künstlich gebrochen worden. Czynski
hat also mit Hilfe lege artis angewendeter Suggestion
die Annahme seiner Liebeswerbung erzielt. Wenn die
Geschworenen den Angeklagten auch von diesem Teil der Anklage ( Ver-
brechen wider die Sittlichkeit) freisprachen, wahrscheinlich aus Gründen
juristischer Interpretation des Gesetzes, od^ r :ihcr, weil die Baronfsse
sich auch s])üter freiwillig i!irem Verführter inngab. — so kann doch
über den Dolus di s Angeklagten, also über die ver-
brecherische xVusbeutung des hypnotischen Zu Standes
durch zielbewußte Suggerierung kein Zweifel bestehen.
In diesem lehrreichen Fall wird also das Urteil des hypnotischen i^ach-
mannes anders lauten müssen, als das des Juristeo.
Ungleich häufiger, als wirklich erwiesene SitÜichkeitsdelil^ an
Hypnotisierten sind fälschliche Anschuldigungen Ton Ärzten
nnd Hypnotiseuren wegen geschlechtlichen Hißbrauoha.
Auch bei wiritlichen Verfuhrungen ist der JSinwandf das Opfer einea
suggestiven Zwanges geworden zu sein, nicht selten. Uberhaupt sind
fälschliche Anschuldigungen wegen SittlichkeitsTergehen sehr häufig.
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III. Die gerichtlieb medisinuehe Bedeatuag der Soggestioo. 107
Nach Schauenstein whhmi von Ii^oo in Frankroich während der
Jahre ls5ii— 1854 ein^iereicht* m Klaiioii »licsor Art 5imi luibfgriindet
uud in Kuglaüd sollen auf < iiku (.'fwieseneu Fall zwüll' unerwieseDt»
korampn. Neben dm SinDestauschimgeu und Wahnidetn Yerrückt<*r
veranlassen besonders Hysterische und Ivinder solche Ankiaf^cü. Da
wenigstens in Deutschland die Becbtsprechung den Zeugenaussagen
Ton Kindem einen psychologisch nicht za rechtfertigenden Wert bel-
len pflegt, so Terüngt dieser Punkt die besondere Aufinerksainkeit
des Gerichtsarztea. In dem folgenden Beispiel wnrde erst durch das
Yom Verfasser elogehoice Gutachten die Staatsanwahsehaflt reranlaßt xur
Einstellung der Untersuchung, die bereits drei Monate lang gegen den
Angeschuldigten geführt war.
Der Assistenzarzt eines größeren Kraukenhauses in München hatte
in seinem Zimmer ohne Zru^^-n die 1."^ jährige Magdalena S. zu Heil-
zwecken hypnotisiert imrl die Unvorsichtigkeit bei^ansren, während der
Dauer des SchlafÄustandes in Gegenwart der Hypnotisierten seinen
Urin zu entleeren. Kurz uacli diesem Vorfall wurde von Seiten der
Kgl. Staatsanwaltschaft die Anklage gegen ihn erhoben, er habe dem
hypnotisierten Kinde sein Glied in den Mund gesteckt und ihr in den
Hand uriniert Diese Anklage stützte sich auf die Aussage des
13jährigen Kindes. Anfgeforderti mich gutachtlich Aber diesen Fall
m ftußem, erkannte ich bald nach genauer PrUfung des Tatbestandes,
nach Untersuchung des Kindes, daß es sieh nur um eine traumhafte,
iUusionierende Verarbeitung von Wahrnehmungen im hypnotischen Zu-
stande haudle und zwar im Aussoblnß an den Vorgang des Urinlassens.
Die retroatiYen Psendo-Reminiszenzen im wachen Zustande waren
durch Phanta9ietätis;koit und Besprecliun^ mit den Angehörigen iilrer-
trieben worden, l ud so wurde das einfache Produkt falscher, auto-
suggc^tiver Deutung von Wahrnehmunj^en in der Hypnose uud von
rückwirkiiider Erinnerungsverfälschuntr zur Unterlage einer so
schweren Anklage, welche die ganze Zukunft des Kollegen zu ver-
oichteu drohte. Infolge des (äutacbtens wurde, wie erwähnt, das Ver-
fahren eingesteUt.
Im Anschluß an das ?on den Terschiedenen Konflikten mit dem
Gesetz bei weitem am häufigsten Torkommende Sittlichkeitsvergehen
an Hypnotisierten, möge noch kunt das Verbrechen wider das
keimende Leben Erwähnung finden, das immerhin bei manchen
weiblichen Personen mit großer Empfänglichkeit für Suggestionen im
körperlichen Gebiet möglich erscheint, tiaurent berichtet einen Fall
dieser Art, in welchem ein Student der M' diziu seine durch ihn in
die HofihuDg gekommene Cousine hj-pnotisieite und ihr die Symptome
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108
Iii. Die gerichtlich medixiniache Bedeutaog der öuggestioo.
des Abortus fHr eine bestimmte Stunde (4 ^oh^ance) suggerierte. Der
Abort trat pünktlich ein.
Da der Gesebleehtstrieb sich mit grdfieier Gewalt geltend macht
als der Eigennnts, so sind auch EigentumsTergehen (Dieb-
stahl, Beranbnng etc.) an Hypnotisierten nicht von derselben
praktischen Bedeotong. Keines Wissens ist bis jetzt kein typischer
Fall dieser Art Gegenstand einer Gerichtsverhandlung gewraden,
wenigstens berichtet die Fachliteratur darüber nichts. Allerdin^ liest
man hier und da in Zeitungen Romnngeschichten von Hvpnotisierungen
im Fispnbahii('OU])('' /nm Zwecke der Beraubung. Hei der rnsicher-
heit des Erfolges dürfte der \ erbrecher ceteris paribus bes tr tun,
dem sicher wirkenden Chloroform den Vorzug vor der Hypnose zu
geben.
Kiiie U nt e rs (' Ii i e 1) u 11 ^ von Kindern (Substitution eines
Knaben für ein ueugcboreues Mädchen) küuntc wohl inszeniert werden,
seitdem man im Staude ist, Gebarten ganz im hypnotischen Zustande
▼erlaufen zu lassen.
Bei allen Vergebungen dieser und fibnücher Art ist der hypno-
tische Zustand zu beurteilen» wie eine Narkose, bietet also fdr die
Recht8i»echnng kein NoTnm dar.
Größeres praktisches und forensisches Interesse erfordert die
Körperverletzung hypnotisierter Personen. Auch eine
▼orsätzliebe Körperverletzung wäre, wenn auch selten vor-
kommend, doch denkbar, wenn z. B. jemand, um dem Militärdienst
zu entgelien. sich eine Krankheit suggerieren ließe (Konflikt mit 223
des Deutsclu n K.-Str.-G.-B.s). Theoretisch muß auch die Frage be-
jaht werden, ob man unter Urastauden jemand zum Selbstmord
durch hvjiäiotische Suggestion veranlassen könne. H \ {»notisierungen
ohne Wissen und Willen der Versuchs})erson oder gegen
deren ausgesprochenen Willen kann nach deutschem Gesetz
Bestrafung wegen Freiheitsberaubung nach sich su^en (§ 289 des
Deutschen R.-Str.*G.-B.s). Daß eine solche bei manchen Personen
möglich ist, darUber besteht kein Zweifel.
Zur fahrlässigen Körperverletzung gehören die leider so
h&ufig zu konstatierenden Gesundheitsbeschftdigungen durch reisende
Hypnotiseure, durch kritiklose Laien und professionelle Schwindler,:
durch Kurpfuscher, Magnetiseure, durch spiritistische llbungen und
sonstige mystische und abergläubische Zeremonien (Somnambulen*
kaViinets). Das deutsche (Jesetz bestraft die fahrlässige Körperver-
letzung mit Gefängnis bis zu zwei JMliren und erwähnt dabei die Ge^
fahren des Gewerbebetriebs der Kurpfuscher ausdrücklich.
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III. Die geriditlieh medisinbcfa« Bedeutans' der Suggestion.
109
. Eine fahrlässige Körpeirerletzung dürfte immer yorliegen, sobald
sieh nachweisen läßt, das bei Vornahme hypnotischer Ex-
perimente, welche körperliche Nachteil o der Versuchspersonen zur
Folge gehabt haben, nicht die erforderlichen \ ursichtsmaßregeln ange-
wendet wurden. Eine große Gefahr bieten heute noch immer die
planlosen liypnotischen Experiraentr, welche zur Befriedigung einer
eciiaulustigeu Menge in üti'eutlicheu Lokalen, oder wie vielfach iu
Deutschland ttblieb« in geschlossenen GeseUschaften, spiritistischen
Vereinen, SomnambulenkabinetB oder anch in Sftlons Torgenommen
werden. Hinreichend bekannt sind auf solche Anregung hin ent-
standene hypnotische Epidemien (z. B. in Breslau, Pforzheim, Mai-
land, in Kasernen, Knabenscbnlen, Pensiooaten etc.)* Schon vor mehr
als zehn Jahren hat Gilles de la Tourette in seinem ausge-
zeichneten Werke die Gemeingefahrlichkeit abergläubischer Be*
strebnngen dieser Art in Paris erörtert. Das von ihm während dreier
Jahre gesammelte Beweismaterial ist geradezu erdrückend, — und
dennoch haben polizeiliche und gesetzliche Maßregeln in manchen
Lniidprn es nicht vermocht, die Gefahr der Ausbeutung hypnotischer
Zustande durch kritiklose Laien zu beseitigen.
So berichtet z. B. der in Deutschland tätige Laienhypnotiseur
Reinhard Gerling 1995. daß er wälinnd des .laiires lb94 nicht
weniger ulä 232 Experimeutalvorträge über den Hypnoiismus gehalten
habe; obwohl diesem Manne die notwendige medizinische Vorbildung
fehlt, stellte er — seinem eigenen Bericht zufolge — mit nicht
weniger als 7000 Personen hypnotische Versuche an. Sein Lehrbaeh
über die Anwendong des Hypnotismus empfiehlt er jedermann zom
Haasgebraach. Die Verwerflichkeit solcher Popularisierung einer an
sich guten und für Heilzwecke unentbehrlichen Sache wird wohl kaum
bestritten werden können.
Die Gesundheitsschädigungen, welche infolge Mißbrauchs hypnoti«
scher Prozeduren eintreten können, sind ja hinreichend bekannt,
so daß ich sie an dieser Stelle nicht von neuem aufzuzählen
brauche. Besonders wichtig erscheint indfssf^n unter diesen die
MögUchkeit, daß durcli unrichtiges .Manipuhen-n in den Ver.-^ueh*<-
personen latente Dispositionen m Erkrankungen, hysteriselien. epilep-
tischen, psychopathiechen Anfidlen u. der;:il. geweckt werden können.
Neuerdings bat RecUtsamer auf ein noch wenig beachtetes Übel
anfinerksam gemacht, das ist die „Magneto-" oder „Mypnoso^'*Manie,
fergleichbar dem Morphinismus, nämlich die krankhafte j^eiguug, sich
immer wiedw in Hypnose Tersetzen zu lassen. Dafi auch selbst eine
unrichtige Technik wenig erfahrener Ärzte Gesundheitsstörungen her-
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110
HI. Di« geriehtlich meduiniselie Bedoutung der Soggestioo.
vorruli II kann anstatt der erwarteten Heilerfolge, das haben die ron
mir lu einer kleinen Schrift kritisch zergliederten hypnotischen Ver-
suche des Dr. Friedrich im Mtlnchener Krankenhause links der Isar
gezeigt.
Ich selbst konnte in einem Jahr an niebt weniger als sechs Per^
sonen, weldie bei hypnotischen nnd spiritistiichai Versuchen Ton
Laien als Medien gedient hatten, Gesnndheitsbescbftdignngen be-
obachten.
Eine traurige Berühmtheit erhielt vor mehreren Jahren der durch
die Ungesobicklichkeit des Laienhypnotiseurs und Brunneumachers
Neukomm — verschuldete Tod des Frl. Ella v. Salamon (in Ungarn).
Ein»' tiefe Ohnmacht, luTToriierufen durch aufregende i^iiggestionen
im Zustande des Somnamhulismus hatte den Tod zur Folge. Eine
Kommission von Sachverständige!) äulit rte sich dahin, daß ^'eukomm
der fahrlässigen Kün^erverletzung mit tödlichem Ausgang schuldig
sei. (Näheres im Anhang.)
Wie aus den wenigen Bemerkungeu bereits hervorgeht, ist die Ge-
fahr Terbrecherischer Ausbeutung von Personen im hypnotischen Zu-
stande ?iel geringer, als diejenige des Mißbiauchs Hypnothierter durch
Ünkundige, Magnetiseure, Kurpfuscher, sowie bei öffentlicli^ und pri-
vaten Schaustellungen und zn abergläubischen Zwecken.
Deswegen sollte, wie das oft genug Ton erfahrenen Fachkollegen
vorgeschlagen wurde und auch heute Ton neuem betont werden muß,
die Anwendung des Hypnotismus nur Ar/ten gestattet sein zu Heil-
zwecken und wissenschaftliclien Studien; dagegen müßte jede ander-
weitige Anwendung des Hypnotismus bei Strafe rerboten werden.
3.
Verbrechen mit Hiife Hypnotisierter.
•
Während bei den strafbaren Handlungen, die bisher Gegenstand
unserer Betrachtung waren, der Tatbestand in der Kegel einfach und
klar zu Tage liegt, stellt die Frage der Ausführung ron Ver-
brechen durch hypnotisierte Personen ein viel umstrittenes
Problem der gerichtlichen Psychologie dar. Die Heinnogsdifferens
darftber geht so weit auseinander, daß einige Autoren wie Fuchs,
Benedikt diese Möglichkeit überhaupt in Abrede stellen, während
andere, wie L i e g e o i s und Liebe ault dieser Form des hypnotischen
Verbrechens eine weitgehende Bedeutung für unser Bechtsieben zu-
»
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III. Di« srerichtUeb mcditinifehe Bedeutuner der Suggestion.
III
inesseu. Kinen TermitteindeD btaudpimkt ueiimeu Beruheim und
Forel eiu.
Sehr sachkundig beschreibt Jules Clarf'tie in seitnr Novelle
„Jeaü Moriias" eiu solches hypnotisches Ycrbrechen. Es ist eiae
hinlänglich bekannte Tatsache, daß man hypootisch und post-
liypootisch alle möglichen, also auch krimiiwlle Haodlungeu suggerieren
kann. Die zahlreichen zur Prüfung dieser Frage in Kliniken imd
Laboratorien angestellten ESxperimente nmfaeeen Köiperrerletaiingen,
Diebetahle, Erpreasang von Unterschriften unter Schuldscheine und
Testamente, DennnziationeUy Entlocknng von Geheimnissen, Abgabe
falscher Zeugnisse. Ja ganze Mordszenen sind mit Hilfe Hypnotisierter
inszeniert worden. Zu den raffiniertesten TUcken der Posthypnose ge-
hört die Suggerierunp; der frrien Willensentsehlusses für die Tat. Alle
diest' Rxpprimente sind trotz ihres hohen jisyrhologischen Interesses
nicht beweisend, da sie wie Theatercuups mit untangürhen Mittehi und
unter L'mstäuden angestellt wurden, die eiu wirkliches Verbrechen Ter-
hinderten.
Wie der Träumende oft noch das Bewußtsein besitzt, daß alle
seine phantastischen Erleboisse doch nur ein Tniam. und keine Wirk-
lichkeit sind, so haben offenbar auch riele Somnambule bei der
dramatischen Inszenieraog solcher Verbrechen noch das Geftthl der
Unwirklichkeit der Situation, und wissen, daß diese Handlungen nur
zum Schein markiert werden sollen. Dafür spricht jene Klaue von
Dell)oeuf angestellter wichtiger Versuche, in denen dieser Schein der
Unwirklichkeit durch die Versuchsanordnuog vermieden wurde. So
weigerte sich z. B. ein junges Mädchen in tiefer Hypnose, sicli Tor
Männern völlig zu entkleiden. So lührte ein von mir oft zu Heil-
zwecken hypnotisierter und liir Hi ilsuggestionen sehr empftiuglieher
Arzt meinen Bnfehl. postliypuotisch meinen Spazierstock zu stehleo.
nicht aus. Kurz, diese und zahln iche andere Versuche zeigen, dali
die Wirksamkdt der Suggestion ihre Grenze besitzt, daß die Hyp-
notmerten mitunter den Eingebungen heftigen Widerstand entgegensetzen.
Denn die Wirksamkeit der Suggestion hängt in hervorragender
Weise ah von dem Grade der indiTidnellen Empfönglichkeit So wird
in der Regel eine Suf^stion zu Hdlzwecken gern und ohne Wider*
streben von dem Patienten angenommen; sie ist dem Patienten sjm.-
pathisch und wird verstärkt durch den Trieb, gesund zu werden.
Ganz anders liegt der Fall l>ei Eingebungen unsympathischer oder
unmoralisclu r Art. Die durch die ganze Erziehung eingepflanzten,
während vieler Jahre gepflegten ethi«?chen Gegenrfirstellungt u der
normalen Individualität lassen sich nicht durch einen psychischen iShoki
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IIS
III. Die geriehtlich mediainUehe Bedeutung der Suggestion.
durch eiüe unmoralische Vorspiegelung entwui/eiu. Und ihre Wirk-
samkeit ist auch iu dem hypnotischen Zustand durchaus nicht ge-
lähmt. Daher vird notwendig ein Kampf entstehen mfineD, dessen
Entscheidung abhängt Ton der St&rke der widerstrebenden SUemente im
Vergleich zu der psychisdien Gewalt der unmoralischen Yor^iiefslnng.
Bei BeantwortoDg dieser wichtigen Frage sind folgende 3 Pnnkte
in Betracht 2U ziehen :
1. Die normale Individualität des Beeinflußten, seine Anlagen und
Erziehung, seine Suggestibüität überhaupt; sein sittliches JNiveau im
allgemeinen und seine moralische Widerstandsfähigkeit.
2. Die Stärke und Dauerhaftigkeit der unmoralischen Eingebung;
eine etwa vorausgegaogenp snorg«'"^tive Dressur. Abschwächung be-
stimmter hemmend wirkeudei psxchischer Tätigkeiten (z. B. durch
mehrfache frühere Hy])noti8ierung^.
3. Die Tiefe des schlafariigeu Zu Standes, in welchem sich das
Versuchsobjekt befindet
Dieses dritte Moment ist weniger belangreich als Punkt 1, wenn auch
im allgemeinen zugegeben werden kann, daß mit zunehmender Schlaf-
tiefe sich die Dissoziation der Vorstellangsrerbindungen steigert und
die Widerstandslosigkeit zunimmt.
Nach der Ansicht ron Forel kann der Hypnotisierte sieh um so
wirksamer gegen die unsympathische Einwirkung wehren, je Tollständiger
er wach ist. Außerdem hinterläßt, worin ich Forel beistimme, eine
acceptierte Kriminaisnggestion oft Spuren eines tief assoziierten Affektes.
Etwa dureli Suggestion au^igelüsfhte Erinnerungen an den ver-
brecherischen Ursprung bestimmter mit Hüte von Einredung erzwun-
gener Handlungen la9«?en sich in der Regel ohne Schwierigkeit in dem
betreffenden Opfer wieder erwecken, sobald mun dasselbe von neuem
hypnotisiert; dabei ist aber zu berücksichtigen, daß Hypnotisierte mit-
unter ebenso lUgen, wie wache Menschen. Deswegen kann das Zeugnis
eines Schlafenden nur einen relatiren ^ert beanspruchen und ist keines-
wegs mit einer eidlichen Zeugenaussage rergleichbsr; immerhin könnten
aber Aussagen im hypnotischen Zustande Indizioi und Anhaltspunkte
darbieten, die zum Schuldbeweise führen. Im ganzen ist also der
intellektuelle Urheber krimineller hypnotischer und posthypnotischer
Suggestion so leicht festzustellen, dali der Verbrecher in seinem eigenen
Interesse besser auf die Beniil/unir eines so zweifelhaften Mittels ver-
nichtet. Denn zu den erwaiuiten Schwierigkeiten kommt nocli di»' Un-
möglichkeit für den hypnotischen, l>lind auf sein Ziel losgehenden
Automaten. unvorhergesehene Umstände in semem Handeln Rück-
sicht zu nehmen, dasselbe je nach der Lage abzuändern.
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IIL Die gerichtlich medizinische Bedeutung der .Suggestion. 113
Wie ein normales sittliches GeilUil durch allmSbliche suggestive
Dressor abgeschwächt werden kaoD, das seigt folgendes interessante,
▼on Li^beault berichtete Beispiel:
Es bandelte sich um einen 18 jährigen Patienten, welcher einer
Reihe von Anten als Versncbsobjekt für die AusfiihruDg krimineller
Suggestionen, speziell für solche von kleinen I>ir 1v t il len gedient hatte.
Derselbe setzte auch noch nach Beendigung der ^ ('I•sllche die Diebereien
fort und w ii r d e dos w r- ? <■ n gerichtlich bestraft. Merkwürdisrer-
wt'ise harten jene I)i('l)stähle 7um Teil einen ganz zwecklosen CbaraktiT
(z. B. Wegnahme von V' isittukarten n. (l< rg].1. Die Vorstellung des
Stehlens hatte in seinem sugLrestiblen Hirn \\ urzel gefaßt und dazu
allmuhlich den Trieb entwicki;U.
Die Widerstandstiihigkcil des N. war jedenfalls durch eine wieder-
liollc Suggerieruug von Diebstiihlüu gebrochen worden, ein Faktum,
das immerhin für unser Thema bemerkenswert ist, zumal kein Grund
vorliegt, eioe natürliche Anlage zu dem Verbrechen bei dem Täter
vorauszusetzen. Im strengen Sinne bandelt es sich in diesem Fall
nicht um ein klassisches hypnotisches Verbrechen, sondern um eine
fahrlässige Gesundheitsbeschädigung durch SaggestioDSexperimente mit
kriminellem Inhalt.
Die oben erwähnten SchwierigkeitMif mit denen der Verbrecher zu
rechnen hat, mögen wohl die Ursache dafür sein , daß Fälle einer
Ausführung von Verbrechen durch Hypnotisierte bis jetzt nicht Gegen-
stand richterlicher Verurteilung geworden sind. Einige Autoren haben
nun. vielleieht um die^^e Tmcke auszufüllen, den Versuch gemacht,
uachträp:liih in i:ewis«?eii Fällen i Prozeß W e i R , Chanibige, (louife)
aus Gerii'hlüakteu die Wirkung der Suggestion /u erweisen oder auch
<Tesetzverlet'/ungei). welche in hysterischen Schlaf niul 'J'raumzuständen,
im epileptischen Äquivalent und auunciion psychupathischen Diiiuuier-
znständen begangen wurden, als das Produkt von Suggestion lodcr
Autosuggestion) hinzustellen. Eine solche einseitige und fehlerhafte
Auffassung ist nur möglich bei einer unzulässigen oder ungenauen
Definition des Begriffes „Hypnose".
Nicht selten wird die Einrede hypnotischen oder suggestiven
Zwanges erhoben, namentlich bei auffälligen Testamenten, Legaten
und dergl. Aber auch dieser Punkt hat bis jetzt eine Anerkennung
durch richterliche Urteile nicht finden können. (Fall Jouve, Fall
Howard-Kings bury.)
Somit ist nach den Erfahrungen des öffentlichen Lebens bis jetzt
4Ue Rechtssicherheit durch das Schreckgespenst des hypnotischen Ver-
Sehrenck -Notzing, Stadien. 8
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114 lU. Die gerichtlich iuedjsini«cbe üeäeutuog der SuggeatioD.
brechens uicht gefalinlet und die kriminelle Bedeutung der hypno-
tischen Suggestion beruht fast ausschließlich in sexuellen Delikten und
im fahrlässigen Mifibranch hypnotisierter Personen.
4.
Die Suggettlon Im wachen Zustande.
Weniger beachtet, aber von viel größerer Wichtigkeit als die be-
s7)rochenen beiden Kategorien für unser Rechtsleben ist die «Sug-
< t i () II im wachen Zustand e*'. olnie Rücksicht daraui'i ob sie
mit uder oliuf liewulksiein des Zweckes aniL'oiiljt wurde.
Es würde utMiifjstens für forensische Zui i ku eine unerlaubte Er-
weiterung des liegrities „Suggestion'' sein, wollte man jedwede Be-
einflussung von Willensäußerungen eines andwen Henschea als „Sug-
gestion" bezeichnen. In einer allgemeinen Auffassung derselben sind
in der Literatur riele gewissermaßen in Form ein^s Zwanges auf
einzelne Individnen oder auf die Masse wirkende psychische Faktoren
als Suggestiverscheinungen beschrieben worden, so die durch das
soziale Milieu gegebenen Einflüsse der Erziehung, Religion. Mode,
Politik und Presse, besonders aber die Ansteckung durch Fanatismus
und Aberglauben. Es unterliegt keinem Zweifel, daß psychische In-
fektionen dieser Art vielfach zur Begehung von Verbrechen geführt
haben. lu weiterer Verfol'^^uni; dieses Standpnidvies müßte man das
Verbreclu n als soziale Erscliemun^ und den eiiizeluen Verbrecher als
unverantwortliches Werkzeucj seinei- angilMircinn Anlasen und des
äuliereu ^lilieus auffassen. iMau könnte dann i. i>. den anarchistischen
Verbrecher nicht mehr zur Verantwortung ziehen.
Der Jurist jedoch, welcher mit den feststehenden Rechtsbegriffen
desGesetzes zu operieren hat, die ja bekanntlich eine relative Willens-
freiheit voraussetzen^ kann diesen psychologischen Deduktionen vorerst
einen EinfluO auf die Rechtsprechung nicht einräumen, sondern er hat
von Fall zu Fall seine Entscheidung lediglicli darüber zu treffen, ob
die freie AV'illensbestimmung in dem Fall einer Suggorierung nach
Maßi(abe der gesetzlichen Voraussetzungen ausgeschlossen war oder
nicht. Dennoch al)er verlangt die Suggestion im wachen Znstande,
auch Wenn man von den weir2'*'!if'nd<'n ]isvfhn]ncri^f'hen SclilulUolge-
ruugen al).«ie}it. eine sorgfülti.; ■ I h rueksichiiguu:; durch den l\iciiter.
Ks ist Vielleicht zwecknialiig. das an zwtd Fällen aus der Gerichts-
praxis, in denen ich als gerichtlicher lOxpette die Frage der Sugge-
rierung zu beantworten hatte, zu illustrieren.
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III. Dt« gerichtlich uciliiinuehc BedeutuniBr der Suggestion.
115
Der erste Fall betrifft die sensationelle, 14 Tage, vom 1. — 14. Ok-
to})er 180»). dauernde S c h w ii r fi; n ric h t s ve r h an d 1 un g in Münclu n
gegen .J o h :i u n B < ■ r o h t o l il \v e lc e n dreifachen Kau b ni o r d e s.
Die Verhaiullunf,' nidinte. trotz eiii- s immerhin mageren Jiidizieiil)e-
wf i^rs ]iiit \ t'rurtfc)ilun|üj des Angeklagten zum Tode, Der Verurteilt©
wurde zu It beuslänglicheui Zuchthaus bognadigc.
Da nach Entdeckung des Mordes das geheimnisvolle Dunkel,
welclies Über der Tat schwebte, sich nicht lichten wollte, so begann
ein Teil der Mttnchener Tagespresse sich an der Voruntersuchung zu
beteiligen; fast einen Monat hindurch erschienen täglich in den ge-
lesensten Blättern Notizen über den Mord, sowie kritische Bemer-
kungen zu den ungenügenden Sicherheitsverhältnissen und Polizeiein-
richtUQgea der Isarstadt. Außerdem setzte die Regierung eine Be-
lohnung von loOQ Mark auf die Entdeckung des M<irder8. ScbüeßUch
fonlerten die Münclieuer Neuesten Nachrichten jedermann, der etwas
zur Sache vorzubrinf»on habe, auf, sich :inf ihrer Redaktion 7.n melden
unter Zii-sicherung slreiigsltT Diskretion. Das in snlclicr Wci«^c i^e-
woniieni' Mairrial !:rab Stoff zur Veröffentlichung in (k-n Spulten und
zur Belriedigunu' des Sensaiionsbednrfni'jso':. Sdiüelilich , nachdem
zahlreiche Personen Zweckdienliches vurgi bracht hutlv ii, erklärte dieses
Blatt zu eiuei Zeit, wo die Voruutersucliung gegen Berchtold noch
nicht einmal durch die Staatsanwaltschaft abgeschlossen war : Es dürfte
jeder Zweifel ausgeschlossen sein, daß Berchtold der Mörder ist. Die
Folge dieses Verhaltens der Fresse war, daß sich zahlreiche Personen
zur Zeugenschaft meldeten und schließlich unter dem JSide Aussagen
machten, deren Inhalt die handgreiflichsten Widersprüche darbot
Außerdem veranhißie die in den Tagesblättem abgedruckte Photo-
graphie Berchtold's verschiedene Personen zu zweifelloser rückwirken-
der Erionerungsfalschuug. Mehrere weibliclu' IVrsonen gaben eidlich
an. dieser Mann — oder eine ihm völHi,' gloicb-eliciide P<Ts>»iiIichkeit
— Irabe sieh auf dieselbe Weise bei ihnen KingaiiLT /u \ erscbatlen ge-
sucht n ie bei den Ermordeten. Dazu traten Depositimu ii zweifellos
hystt ri-i hiT Persiiiieii. abenteuerliche Erzählungen zw eilclhafter und
mehrittch vorbt üirafter lndivi<luen, für deren Richtigkeit sich keine
anderen Argumente aufbringen lielltu, als ihre eidliche Versicherung.
Die you der Presse ausgeübte Suggestion im Sione der Schuld des
Angeklagten hat also ihre Wirkung nicht verfehlt. Und diesen Stand-
punkt suchte die Verteidigung durchzuführen, so daß selbst von der
Staatsanwaltschaft auf eine Anzahl Belastungszeugen verzichtet werden
mußte. Aber das von den Zeugenaussagen unabhängige Beweis«
material, das Vorleben Berchtold's, sein mangelnder Alibibeweis, sein
8*
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116
ni. Die irerichtlich medizinische Bedeutang- der Suggestion.
^ozes Verhaltf n belasteten ihn hinreichend, so daß die Geschworenen
auch wohl ohne Kücksichtnahme auf die durch die Presse erzeugte
psychische Epidemie zur Bejahung der Schuldfrage gelangen konnten.
Die schwieriEre Aufirrihe der Snchvorstäudigen (G r . i s h v y und
Verfasser lic^tHiid nun darin, dir F» hlerquellen für das Gedächtnis
jiufzuderken und üiier den Geisteszustand einer Anzahl von Zeugen
mit Hiublick aut die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen Gutachten ab-
zugeben.
Mau mag nun den Berchtold für schuldig halten oder nicht, d i e
Tatsache hat der Prozeß denn doch unwiderleglich festgestellt, daß
die Zeugeoanssagen zum Teil durch die Zeitung inspiriert waren ! Wie
sollte man sich auch sonst z. B. den merkwürdigen Umstand erklären»
daß sich während der 14tägigen Verhandlungen nicht weniger als
sieben Personen meldeten, die behaupteten, den Mord an der
Familie Roos begangen zu haben! Unter 210 geladenen Zeugen be-
fanden sich 18, deren Aussagen sich auf eine Beeiutlussung durch
Zeitungsnotizen zurückführen lieikn. Einer unter diesen behauptete
z. B. , er habe an einem Freitag Vormittncr den Angeklagten zu einer
bestimmten Zeit dreimal in der Nlihe des 'j'atortes /eines Hauses in
der KarlstrafJi' I erblickt und nach niüeutlichung der Photographie
die Persönlichkeit sofort wiedt rerkuuiu. Mit dieser unter Eid abge-
gebenen Zeugenaus^;.'lge stand aber die Tatsach» iu Widerspruch, daß
besagter Zeuge den gleichen Freitag Vormittag zu derselben Stunde
bei einer Gerichtsverhandlung anwesend war. Da er nicht an zwei
Orten zugleich sein konnte, so mag man den Wert seiner Aussage
hiemach bemessen. Sechs weitere Zeuginnen, — sämtlich Wohnungs-
inhaberinnen in München — behaupteten unter ihrem Eid ganz gleich*
mäßig, daß sie den Besuch eines verdächtig aussehenden Mannes er^
halten hätten, der unter dem Vorwande von Kto^etarbeiten sich bei
ihnen Eingang vcrschaflVu wollte. In dem Verdächtigen erkannten sie
erst dl n Ahl* klagten Berchtold, als dessen Photographie veröft'ent licht
wurde, .ia mehr noch, i ini d, r Zeitungen stt Ute den Berchtold in
einer Kleidung dar. die er niemals getrairen li:itte. Fiul eben diese
nur in der Phantasie des Zeielin^T« voiliandi ui . nieht aber in Wirk-
lirliktit iiti Besitz des Berelituld btlindiichr Kleidung will oiue der
Zeugiuijen an jeutiii \'i i diichtigen benierki lialRii.
Kurzum, das Ergebnis «lieser für die Suggestionslehre so inter-
essanten Verhandlung lehrte, daß den Behörden noch die richtige Er-
kenntnis des suggestiven Faktors bei richterlichen VernehmuDgen fehlt,
daß feroer die Zahl der Personen, die bona fide unter dem Eide Un-
wahres und Ungenaues aussagen, viel größer ist, als roanr im allge«
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III. Die gerichCUcb medixinischo Bedeutung der Su^^gestion. 117
meinen annimmt. Vor allem aber bat sie neue Beweise für die sug-
gestive Gewalt der Presse dargeboten.
Der zw fitf' Fall best häftigt sich direkt mit einem suj^erierten
Verbreclun (Fall Sauterji.
Aui 2. Oktober 1899 batto sieb die Frau des Metzgenneisters
Sauter vor dem o berba y ri sc b on Schwurgericht in München
zu veraiitwortüu wegen Mordversuches und Anstii'tuug zu
neunfachem Morde.
Das deutsche Gesetz bestraft auch Versuche und Anstiftungen zu.
Verbrechen, wenn sie mit untauglichen Mitteln unternommen werden*
Die Angeklagte war beschuldigt, den Versuch zur Tötung ihres Ehe-
manns, mit dem sie in unglficklicher Ehe lebte, dadurch gemacht zu
haben, daß sie ihm ein ihrer Meinung nach hierzu geeigneteSi von
einer Kartenschlägerin empfobleues ^fittcl, nümlicb En/ianwurzel in
die Socken streute. Außerdem soll sie die Kartenschlägerin auge-
stiftet haben, neun ihr uubeciueme Personen, daruntrr drei ihrer
Kiii(li>r, zwei frühere Dienstboten u, s. w. durch magische Mittel zu
töten.
Die AugekLi^'te stand in den AVecbseljahren, war schwer uuter-
leibsleidend und zeigte ZügtJ vou Hysterie. Dem Aht rglauben ganz
und gar verl'aUcn sah sie in der KartciischHicrriu. die sie für alle
Lebcuslrageu zu Rate zog, eiue Persöuiicbkeit mit übernatürlichen
Fähigkeiten und der Macht, Uber das Schicksal der Menschen, über
Leben und Tod zu entscheideu. Die Wahrsagerin dagegen erhitzte
die Einbildungskraft der Sauter durch allen möglichen Hokus-Fokns,
und verstand es, aus ihrem Vermögen materiellen Nutzen zu ziehen
und ihr Opfer systematisch auszubeuten. Wie die Akten ergaben, war
die Seherin bereits 21 mal wegen schwerer Gesetzesverlf^tzunj^!;cii vor-
bestraft. Die Hauptverbandlung ließ keinen Zweifel darüber, daß
die Wahrsagerin der eigentlich schuldige Teil sei. Durch ihre
Schwindeleien hatte sie die leichtgläubige, ihrem Einfluß ganz ver-
falleuo Ani2:pkl;)f?t»' zu übcrzrnijxf'n vermocht, daß es ihr ein leichtes
sei. alle ihr iiiib».Mjiiruien I'ersoiicu eines uatürlicbeu 'r<HU:'s sterben zu
lassen, und ihr erst auf diesi* Weise den uan/cn Mordplau — wenn
auch unabsichtüch — sugf^eriert. Ah diese Itleru in der Angeklagten
Wurzel faßten, denunzierte die riupheiiu ihr Opfer bei der Tolizei
und veranlaßte Frau Sauter, den ganzen Mordplan noch einmal zu
besprechen, so daß im Nebenzimmer versteckte DetektiTS alles hören
konnten und schließlich als Hauptbelastuugszeugen in der Hauptver-
bandlung funktionierten.
Während die Gutachten von Messerer und Focke zu dem
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118 III. Die grericbtlich meduiniscbe Bedeutunur <l?r Su^rgc^ifion.
Schluß kameD, daß Frau Saut er im Besitze ihrer freien AVillensbe-
Stimmung gewesen sei im Augenblick der ihr zur Last gelegten Hand-
lungen, führte das von mir ahirfvirehone (lUtachten den Nachweis, daf^
die Aiii^eschnldigte. fas/inicrt durch die Karten^chläireriri. ira Zustande
suggestiver Ahhiiiißigivoit deren Ideen zur Auslühruug gebracht hatte,
daß also ilire Zurechnungsfähigkeit infolge von Hysterie, infolge ihres
Kliniakteriu[ii><, suwie infolge abergläubischer Vorstellungen erheblich
herabgemindert sei.
Die Geschworenen sprachen die Angeklagte Ton beiden Schuld-
fragen frei.
Der Fall Sanier zeigt die erste Freisprechnng einer
Angeklagten, die unter dem suggestifen Einfluß einer
anderen Person das Strafgesetz verletzt hat. und ist deswegen
für die Lehre Yon den Beziehungen der Suggestion zum Strafrecht
von prinzipieller und bleibender Tragweite.
Tjcsonders gefährlich kann die Suggestion bei Kindern,
H ' ^ t (■ V i s ( Ii e n nnd Personen mit leicht erregbarer Phantasie werden.
A\ U' /.ahlreiche Versuche gezeigt ha])en. i<t die Zahl derjenigen, bei
denen durch einfache nachdrückliche hauptung ira wachen Zustande
rückwirkende E r i u u e r u u g s v e r f ä 1 ä c h u n g e n und Sinnestäu-
schungen sieh suggerier«!! lassen, kdne geringe. „Die Suggerieriiaren
eindi wie Bernheim mit Recht betont, die Betrogenen ihrer eigenen
Phantasie. Sie verfSlschen die Wahrheit unbewußt, nehmen etwas
davon weg oder fägen etwas binzu.^ Der Bichter kann durch Aos-
sagen dieser Art vollkommen irre geführt werden. Ich erinnere nur
an die von Bern he im erwähnte Aussage des 13 jährigen Sohnes des
Tempeldieners in der Aftare Tisza<ȣsla r.
Falsche Geständnisse dieser Art bieten der von Beru-
he im herrichtete Fall ..liorrus" i \ rrurieihnig eines Uii«rhiil(lif.ron zu
leliriisliiiiiilicher Zw:l!ll:^arl^t•it iutnlge von Krinnerungstäuschung), so-
wir das von Liegeois In r i( htt ti* Beispiel einer gewissen Adele 1».
(Ablegung eines suggerierten (itstäiidiii-ses wegen Abortus, der jedoch
unmöglich war, weil Adele sich in einem vorgerückten Stadium der
Gravidität befand, was erst bei Verbiißnng der Strafe im GefSngnis
konstatiert wurde).
Daß die suggestive Abhängigkeit lange Zeit anhalten und die
ganze Umgebung irre fuhren kann, zeigt folgende Beobachtung von mir:
Vor ca. 7 Jahren wurde mir ein öjähriges Mädchen zur ärztlichen
Behandlung überwiesen, das an Zerstürungstrieb litt, der sich in
rafönierter Weise gerade auf die wertvollsten Besitzstücke der Familie
richtete. ^Niemals gelang es den Eltern, das Kind iu flagranti zu er«
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HL Die gerichtlich medbrinitche Bedeutung der Suggestion.
119
tappen, sondern die Handlungen erfolgten stets hinter ihrem Kücken
oder in ihrer Abwesenheit Einmal stand sogar das Kind in seinem
Bett in Flammen. Die zahlreichen, sich immer wiederholenden auf
ganz raffinierte Weise mi^ireführten Diebstälile und Zerstörnnpen ver-
ursafhten dei) Hltern einen • rlii'hlichen niMtL'rif Hon S<')iad^»n. Kr/,iehungs-
maßregelu und Strafen ohne jeden Eriol^'. Das Kind weinte und
gestand immer wieder üen« Reate. SchlielUieh wurde es an die Kette
gelegt und hypnotiscli bt Iiandelt und dennüch naiiiui n die ver-
brecherischen Handlungen ihren Fortgang. Endlich nach 9 Monaten
eDtbfiUte ein Zufall die Wahrheit Das Kind ging n&mlieh mit den
Eltern anfs Land, während das Kindermädchen in der Stadt znrttck-
blieb. Von diesem Augenblick an hörten die Zerstörungen auf. Es
stellte sich nun heraus, daß das Kind völlig unschuldig, daß hingegen
die hysterische Kindermagd die Handlungen reranlaßt, heziehnnfj^
weise selbst ausgeführt Latte. Dem ilirer Obhut anvertrauten Kinde
▼erstand sie das Schuldbewußtsein fortdauernd zu suggerieren bis am
einem solchen (irade, daß es 9 Monate lang alle Strafen willig er*
duldete, ausführliche ihm ^n^r^estiv beigebrachte üeständnisse ablegte,
ohne jemals seine Tyraunin zu verraten.
Mau braucht aber durchaus uicht hysterisch /u <ein oder ein
Phantasielügner, um Suggerieruugen im wacheu Zu^^tande,
wie sie z. B. durch Lektüre oder Unterhaltuncr geboten werden, zum
Opfer zu falleu, JN'atürlich sind die Angaben gebildeter, den besseren
Ständen angehüriger Personen ihrem Bildungsgänge entsprechend
präziser, klarer, weniger widerspruchsvoll, — aber deswegen auch für
das richterliche Examen um so gefährlicher bei dem Schein größerer
Glaubwürdigkeit Hierfür bietet Prozeß Berchtold interessante Belege.
UnwiUkürlich infiltrieren sich gelesene ^leinungeo und Urteile
unserem Denken, bestimmen unsere Ideenrichtung und haben einen
mächtigen £influH auf die Gestaltung unserer Erinnerung. Eine Yer-
wechselung zwischen selbst Erlebtem und Gehörtem oder Gelesenen
tritt um so leichter ein, wenn der Inhalt des fraglichen (leuonstandes
schon früher einmal unser Interesse in Anspruch nahm. Die Treue
der Reproduktion leidet Ixi Mangel an kritischer Überlei^nng,
bei lelihal'ter Phantasie s.»\vie in Momenten psychischer Rrrc^'unu' i bei
AtTfkttii) 'ider der Ermüdung:. Wenn Elemente einer au^i<>ni)licklichen
Siiuaiiuu auf das Erinnerungsbild übertrajoreu ^verdeu, su wird dasselbe
leicht im Sinne der ueueu Wahrnehmung verfälscht (Einfluß des An-
blicks von Berchtold's Photographie auf die Erinnerung an den ver-
dächtigen Besucher). Diese äußeren Anregungen können dann einen
suggestiven Einfluß Üben, für den die Fehlerquellen unseres Qedächt-
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120
III. Die gerielitlidi medisiniseh« BedeutuDg der Soggettion.
Disses eiueu günstigen Bodeo darbieteu. Auf diese Weise kann, wie
bei manchen Zeugen im Berchtoldprozeli ein Gesamtbild aus Dichtung
und \\'ahrheit outslüheD, ohne daß es nachträglich auch dem psycholo-
gischen ISachverätäDdigeu immer gelingt, i'iir einzelne Bruchteile des
ErioDOTttngsbildes richtigen TTrsachen nachzuweisen.
Ks muß daher als ein Fehler im richterlicliou Examen
bezeichnet werden, wenn Einzelheiten der BückeiimieTung ia der Zeugen-
aiuBage zu sehr ttberschfttzt werden. Überhaupt werden die Fehler*
qnellen des Oed&chtnieses in foro viel zu wenig berttcksichtigt; eine
eingehende Erkenntnis derselben würde den Bichter vor dem gefähr-
lichen Irrtnm faewahreo, Meineid und ErinnerungsflUschung zu ver-
wechseln; er würde den Tatsachenkern von dem Produkt der Suggestion
Ittichter zu unterscheiden imstande sein. Auüerdem würde er sich in
dem Verhör von Zeugen größere Zurückhaltung auferlegen, um keine
Details in die Aussagen hinein zu suggerieren. Eine sorgfältige
Würdigung der Sugg(>stionsh>hre miilke auch die Sicherheitsorgane
veranlassen, den noch immer weit unterschätzten EinÜuU der Presse
auf die Kriminalität einzuschränken.
Was nun die freie W i 1 le ns he tä l i gu n g in Bezug auf straf-
bare Handlungen betrifft, so läßt sich diestlbe. wie wir an den
obigen Beispielen aus der Rechtspraxis gesehen haben, in maucheu
Fällen durch suggestive Mittel abschwächen oder aufheben.
Ein völlig unter dem EuiiiuÜ der Suggestion stehender Mensch
ist — wenn mitunter auch nur für bestimmte Handlungen und vis-fti-Tis
einem Menschen — als unzurechnungsfähig im Sinne des Gesetzes
zu betrachten, mag er auch sonst psychisch normal und wachen Geistes
sein. Auch nach dem deutschen Gesetz ist Bewußtlosigkeit nicht er-
forderlich, da der § 176 Abs. 9 ausdrücklich von dem bewußtlosen
oder willenlosen Zustande spricht. Überhaupt sind suggestive
Zwangshandlungen in foro zu beurteilen, wie die Zwangsvor-
stellungen Geisteskranker. Natürlich hat der intellektuelle Urheber für
den durch sein Werkzeug gestifteten Schaden gesetzlich aufzukommen.
Häutig tritt die Suggestion auf in Form autoritativer Be-
hauptung oder als Faszination (Blendung und Willeuslähmung)
oder als psychische A n s t e c k u n g (Zwang /ur Na<'hahmung), oder
sie erwächst wie schon erwähnt auf dem Boden starker Gefühls-
erregungen z. B. in der Liebe. Der Sachverständige hat in solchen
Ott sehr schwiengcu — ■ und an einfache Verführung erinnernden. — •
Fällen stets zu untersuchen, wieweit die Möglichkeit bestand, den
eigenen Willen zur Geltung zu bringen gegenüber der suggestiven
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ItL Di« g^eriehtUch medninimhe Bedeutung der Suggeatioo.
Freiheitsberaubuug, oder ob etwa krankhafte Faktoreo, £iitwickliing»-
mäog« I die Willeustlitipkt'it lierabr'esftzt haben.
< h't sind bei Psychupatlii^rh - Miuderwertii^eD. Def^ciioriorteii und
Hybleriaclu n dif (jetühlswirkuiifjen abnorm stark bi'i schwacher Aus-
bildung d< r \Villtn^s|)li;iro. SoU lie Pi r-oiiun lalleu Sflir leicht sug-
gestiven Eiiitlüssen zum üpt'er. Aucii iiier bietet das Geschlechtslebea
wieder interessante Belege.
So sind als Zustände solcher suggestiTen Abhängig-
keit mit mehr oder minder pathologischem Hintergnmd aufzufassen
viele sexuelle Zwaugssustände besonders der von Krafft*
Ebing als sexuelle Hörigkeit beKeichnete sklavische Gehorsam
mancher Liebenden (Beispi« t(> ; fväthchen von Hoilbrona nach K 1 o i s t 's
Darstellung; Prozeß des Jesuitenpaters Ginird in der erstra Häli'te
des 18. Jahrhunderts betreffend den durch religiöse l'buogen erzielten,
absülutt'ii, dann se\n»dl ansgcnüt/.tcii (Gehorsam de» Krl. von Cadiöre),
ferner inicr Zustand von „Faszination*' oder ..Monoideismus",
den Preyi r beschrieben bat (völlip;e8 Beherrschtstin der Kllida
von Port;i ihirch l'andor, uimt' L\v\)o zum Tyrannen).
Wie die turense Kasuistik zeigt, handelt es sich bei den sugge*
rierteo Verbrechern fast niemals um geistig ganz intakte Personen;
wenn man von der suggerierten Erinnerungsfälschung absieht, so ge-
hört die suggestive kriminelle Zwangshandlung eines völlig Greistes-
gesunden su den größten Seltenheiten.
Da es aber weder fUr die strafrechUiche ZuiechnuDgarähigkeit
noch für deu Typus der geistJErcn Abweichunjrrn von der Konu,
d. h. denjenigen des ,.geistig Krankhaften** eine absolute Grenzt .ribt,
so kanu die von dem Sachverständigen verlangte Abwägung solcher
Imponderabilien grolle Schwierigkeiten bereiten nnd zu den spitzfind-
stigeu Disku'-'^ionen tiihren. Ja die Beantwortung feolelier Fra^'en hängt
nicht zum mindesten von den individuellen An^ehauungeü des (ierichts-
hofes, der Int Uitronz der Geackwurenen und den subjektiven An-
schauungen der Sacliverständigen ab. Was der eine Gutachter als
angeborene oder erworbene geistige Beschräuktheit, als leicbten Schwach-
sinn in das Gebiet des Krankhaften verweist, erscheint vielleicht dem
anderen als ein auch innerhalb normaler Grenzen vorkommender
Mangel an Begabung! Leichter zu beurteilen sind Fälle, wo das
Nervensystem nachweisbar durch traumatische Ursachen, Vergiftung
(Alkohol, Morphium . tc.) oder durch bestimmte Erkrankungen (Hysterie,
.Neurasthenie, Epilepsie) gelitten hat. Kur Personen mit Zuständen,
die nicht zur Annahme des voll' u Ausschlusses der freien Willens-
bestimmung aus krankhafter Störung der Geistestätigkeit berechtigen,
i^'iyui^uu Ly VjOOQle
1S9 m> {gerichtlich niedirinische Bedentung der Sugigestion.
also in ihrer freien "SVillenstätigkeit lediglich gehemmt orscheiuen, bat
mau mit Reclit don Ausdruck der „verminderten Zurechnungs-
fähig keit" neut nliiiijs violfach nn^rewendet.
Psychisclii' Ai)\veichuii^'en (lii'ser Art koiiinien nun. wie Kirn l'>'-
zeigt hat. auch uuier dem Kintluli der MeDStrualioii, dt-r Fuljertät,
der Gravidität und des Klimakteriums zustande; ferner gehüren dazu
die noch unbestimmbaren Aufaugszustände vieler sich laugsam ent-
wickelnder Seelenstörungeu, sowie der Zustand des kindlichen Seelen-
lebens.
Ganz besonders wichtig für die Frage der Suggeriemng von Ver-
brechen sind die Charakterreränderungen durch Hysterie^ angefangen
Ton den leichtesten Symptomen^ dem einfachen hysterischen Tempera-
ment" bis zur ausgesprochenen Psychose; allerdings beruht nach der
Anschauung von Wollenberg das, was man hysterischen Charakter
liezeirhnnt. in den Zügen, die besonders leicht zum Verbrechrn führen,
nicht auf Hysterie, sondern auf einpr alljr'^mf'inpn psychopatbiscuen
DeiTtMieiatioii. Auf die weitgeheude Ähnlichkeit gewisser nicht leicht
urkeuiiliarcr inid ins Normale hereinragender tr.mniarti^it'r Zuslände
der Hysterie uni »Kr Posthypnose ist wiederholt von 1 rtsud, Wollen-
berg u, a. aufmerksam gemacht. Sicherlich bietet das Vorherrschen
des Phantasie- und Geftthlslebens über das Teistandesmftßige, die
abnorm leichte Auslösung Ton GefUblsreaktioneu, die Heignng zur
Dissoziation einen besonders günstigen Angriffspunkt fiir Suggestionen
und Autosuggestionen (Monoideismus).
Der Nacliweis ».hysterischer Stigmata" oder von „Kraini)f:in-
fälleu*' kann in gewissen Fällen unmöglich sein, hat also für die
Gerichtspraxis keine erhebliche Bedeutung. Dagegen ist das Handeln
Hysterischer, worin ich Dell>rück lieistimme. oft viel krankhafter,
als es auf den ersten Blick erseheint, inwieweit jedoch die Zurechnungs-
fiihigkeit beeintniehticrt wird durch die Hysterie, läßt sich nur nach
Maligabe des Gesamtbildes beurteilen.
Je normaler, gesunder, moralisch widersiundslahiger eine Person
ist, um so weniger wird sie Gefahr laufen, das Opfer einer kriminellen
Suggestion zu werden^ — je energieloser, sittlich defekter, psycliisch
schwächer sich ein Mensch zeigt, um so leichter wird er der Ver-
fuhrung erliegen, die in Form einer . Suggestion auf ihn ausgeübt
wwden kann. Aus diesem Grunde laufen solche Individuen am meisten
Gefahr, suggerierte Opfer eines vollsiunigen Verbrecli« zu werden,
bei denen die Fähigkeit, ihren Willen durch sittliche Vorstellungen
bestimmen zu lassen, also Gegenvorstellungen zu bilden, in Folge
krankhafter Vorgänge oder von Entwicklungsmängeln beeinträchtigt
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in. Die gerichtlich tuedixiuische Ücdeutuug der Suggestiou. 123
oder aufgehoben ist. Ber Grad dieser Beeinträchtigung kann Terschieden
stark sein und wird das Kriterium abgeben für die Annahme voller
Willensfreiheit, resp. der verminderten oder aufgehobenen Zurechnungs-
fahigkeit. Tu dieser Tatsache liegt auch der Grund, warum es sich in
der MeUrzalil der in der Literatur bekannt gewordeneu Fälle sugge-
riert(^r Verbreclien um kindliche, psychopathiache , hysterische oder
schwachsinnige Naturen handelte.
So war Gabriele Bompard, das Instrument des ]\Ii»rders
Eyratid, oiin" inornliseh defekte bvsterische l^ersoii, füo Baronesse
Zedlitz, diiü (_)pier der st-xiielleu Cielüste des Czviiski . eine jisycliisch
schwach begabte erbiicli stark belastete Dame, Frau von J'orta, im
Falle der von Preyer beiichtettiu lasciiiation , der Gegeubtaiul von
Panders Liebeswerbungen, wird als geistig unreifes, kindlich naives,
ps) chisch schwaches Wesen geschildert, und in unserem Fall ist Frau
Sattter eine psychisch widerstandsunfähige Hysterische. Damit soll
nun keineswegs, wie Hirsch auf Grund dieser Tatsache annimmt,
gesagt sein, daß geistig gesunde Keuschen nicht unter Umständen
auch einer antisozialen Eingebung, einer verbrecherischen Suggestion
folgen könnten! Man bedenke nur. welche grundverschiedenen Ya-
rietäten mau unter dem Begritf geistesgesund zusammenfassen kann!
Ist ein charakterschwacher, leicht lenkbarer ^fensch nicht auch geistes-
gesund. — und doch suirirestibler als andere willenskräftigere Personen?
Das Wfseiitli« h(' liegt in dem Voriiaiij^ des Suggerieren«? in der Auf-
hebung oder AIi!*chwächuug der Gegenvorstellungen: ob diese wegen
krankhafter Gehirnvorgängre oder wegen vorhandener ßildungsniän^zel
nur schwach entwickelt sind, oder ob sie bei voller Ausbildung durch
künstliche Prozeduren (Hypnotisnms, Narkotika; in ihrer AVirkuug ge-
hemmt werden, das ist im Resultat das gleiche. Deswegen besteht,
wenn dieser Fall auch zu den Ausnahmen zu zählen ist und die
Bechtsichorheit nicht gefährdet, doch theoretisch die Möglichkeit, auch
den geistesgesunden Menschen mit Hilfe von Suggestion der freien
Willensbestimmung zu berauben, andererseits aber muß zugegeben
werden, daß die große Zahl der psychopathisch minderwertigen,
psychisch schwachen, ethisch defekten Personen, die wir auch unter
den sogenannten Normalen antreffen, viel eher Gefahr läuft, wegen
ihrer größeren Widerstandslosigkeit kriminellen Eingebungen zu er-
liegen, als der Geistp«=ge'<unde.
Viel schwieriger ^< stullt t sich die Hourieilung der Sachlage in
foro, wenn, wie im Pnizel^ Sauter, dem intellrktucilen L'rliebor (also
in nnserem Fall der \\ ahrsa-^erin Frau Giiuzbauer), das B' Nvulirsein
der Kechiawidrigkeit des Handehis, das Bewußtsein, ein Verbrechen
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124
Iii. Die gehchUich medizioiiche Bedeutung der äuggesüon.
anrntiften, ToUkoinmeii fehlt! Es bandeU sich daon also um iinbe>
abiidhtigte, unbemerkte BeeinflussuDg! Denn Fraa Gänzbauer war
«ich offenbar keineswegs darüber klar, daß sie selbst durch ihren aber-
gläubischen Hokuspokus jeoe auf Beseitigung des Mannes und anderer
Personen hinzielende Idcenrichtung in Frau Sanier enseugt hatte;
ebenso entging es ihr vollkommen, daß sie selbst bei der DemonstratioD
vor den versteckten Detekiivs ihrem Opfer den Mordplan so zu sagen
io die Feder diktierte und die ganze Cuterbaltuu?^ in diesem Sinne
nach mit den PolizciorgaEeu vereinbarten Gesichtspunkten leitete.
Bei der Vritnö^rlichkeit des Nachweise«! der verhn»cherischen Absicht
kann der Gtiirhtsht)f durch Verhältnisse dieser Art in die Lago kommen,
weder den Viheher noch den Täter bestraten zu können.
Kaum irgend ein Gebiet menschlicher Verirrungen zeigt einen so
günstigen Bodei: /ui Eiitüiltuug von Suggestivwirkungen als der Aber-
glauben. Derselbe stellt sich stets, wie von Lüwenstimm treffend
ausgeführt wurde, als ein Produkt der Unwissenheit und Unentwickelt-
heit ganzer Volksklassen dar und führt gar nicht selten zur VerUbung
außerordentlich grausamer Verbrechen.
Trotz des bestehenden gesetzlichen Verbotes der Gaukeid, Wahr-
sagerei etc. ist auch heute noch sowohl m den größeren Verkehrs-
centren, wie auch auf dem Lande der Aberglaube in verschiedenen
Formen weit verbreitet. Das Weissagen (alias Hellsehen), Karten-
schlagen ert'reut sich heute noch, wenigstens in München, einer fast
ebenso großen Beliebtheit und einer ebenso großen Verbri itung, wie
die U'"^etzlieh «jes^tattet»; KurpfiiM hei t i mit Sympathieniitteln, anima-
lisrhfiii M.iL'iictiMüiKs etc. Selbst in ib r Weltanschauung der Gewohn-
heitsvt i Im ri hi r sind abergläubische Sitten häufig anzutreffen.
Aucli iiarh dieser Richtung hin kann ciui richtiire Erkenntuiß
der Bedeiung suggestiver Faktortu im L'ublikum auikläreud wirken.
Vorerst wird ailerdiugs bei Seosationsprozessen und psychischen Epi-
demien, wenn sie zu Gericht8?erhandlungen führen, sich die gericbta-
ärztliche Begutachtung des Geisteszustandes anscheioend normal«
Persooeu, so unbequem dieselbe für die Zeugen auch sein mag, nicht
umgehen lassen.
Zusammenfkssung.
.Sowohl die nenereu Krlahrungen des Keclitslebens , wie die theo-
retischen l'>w;ii:iiii^''ii lehren, daß «las hvpnoti^'he und pn>t hypnotische
Verbrechen einen seiteneu Ausnahmetaii von untergeordneter gerichi-
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III. Die gerichtlich metlizimsche BeUeutung der Suggestion.
125
lieh medtzmischer Bedeutung dantelleo; dagegen bat die Suggestion
im wachen Zustande eiue Terhältntsmäßig größere praktische
Tragweite für unser Rechtsieben.
Das Ergebnis meiner Ausftthrangen ist in folgenden Sätzen zu-
sammengefaßt:
I. Das Verbrechen an hypnotisierten Personen und das-
jenige mit Hilfe hypnotisierter Personen (Posthypuose) ist
fast ausschließlich beschränkt
a) au f s e X u e ! 1 p Delikte {z. B. Fall C/.ynski 1 894),
b) auf den fahrlässigen Mißbrauch hypnotisierter
Personen (öffentliche Schaustellungen, Wunderkultus).
II. Die Suggestion imwacheo Zustande hat eino bisher
nielit in dem nötigen Umfange zugestandene gerichtlich-medizinische
Bedeutuo;^, Denn
I. Sic ist im stfinrle. auch geistig vollkommen nnrinnle
P p r s ü u e n zu f a 1 s c in' n bona fide beschworenen Z " n e n a u s s a g e n
/u veranlassen (z. B. IH lals« lie Zeufien im Prozeli Berchtold 1896,
Einfluß der Presse, psycliische iOpidemien).
2) Sie kann dem stig:gcstiven Kiiifluli beboutlers zu-
gän^jHehe Persouen /nr Begehung verbrecherischer
HuuUluugen hinreißen. (Fall JSauter 1899).
III. Im allgemcineu sind kriminelle Kingebungen für nor-
male Individualitäten mit wohl eDtwickeltei- moraUscher Wider-
standsfähigkeit ungefährlich; dagegen verfallen ihr leicht:
kindiichOf psychopathisch minderwertige, hysterische,
psychisch schwache, ethisch defekte IndiTidualitäten,
bei denen die Möglichkeit des Widerstandes durch eine schwache
Ausbildung der moralischen GegenTorstellungen herabgemindert ist.
Kadi den ▼orstehenden Darlegungen und manchen neueren Er-
fahrungen gewinnt es den Anschein, als ob die Lehre von den sug-
gestiTen Erscheinungen auch auf dem Gebiet der Kriminalpsychologte
eine größere Aufgabe zu erfüllen habe, als man bisher angenommen
hat. M<ig6 sie im stände seio, auch nach die r Uichtuog berechtigten
Erwartungen im ToUeu Umfange zu entsprechen 1
126
XU. Die gerichtlicli meduinische Üecl^utung der Suggestion.
Erster Nachtrag.
Einige weitere Bemerkungen über die mifBbr&uolüiche
Anwendung des Hypnotismus.
Es möge gestattet seiu. in Furm dieses Nachtrages einige zwang-
lose ErgänzuDgen der Arbeit hinzozafugen, auf die im Vortrage we^eii
Zeitmangel nicht näher eingegangen wurde. Speziell konnte die miß-
bräiif Ii liehe Anwendung des Hypootismus uicht SO ausführlich behan-
delt uerd' ii. wie sie es verdipnt
In L'inei' i^an/eu Jtt-ilie von Fallen wurden <lir üll'entlirhen IScIkiu-
steilungfu Hypnotisierter Ursache zu hypnotisclii-n Epidmuen, so in
Breslau, Pforzheim, Neuchatel, Ciiaux-de- Fonds nna :iiuit ren Städten.
Familienväter versuchten &ick an ihren Kindern iu dieser Kunst und
in den JCoabenschulen erfreute sieh das Hansen-Spiel einer großen
Beliebtheit» 19- und 14jährige Knaben versetzten sich zum größten
Gandium ihrer Mitschüler gegenseitig in den hjpnoUschen jSostand
und die Opfer solcher Mißbrauche sind leider so zahlreich, daß das
in Deutschland nunmehr fast überall bestehende polizeiliche Verbot
öfTuiithrher hypnotischer Schaustellungen volle Berechtigung hat. Der
Zweck solcher Schaustellungen, nämlich die Aufmerksamkeit der Wissen-
schaft auf die hypnotischen Phänomene zu lenken, ist ja ohnehin heute
längst erfüllt.
Wünschenswert wär(> eint* Ubertraguncr drs Verl»otes auch auf
Privntf?«'sellschatten und \'eieine. Leider biitn hirrzn bis jetzt
\\(_Miii:siens (Ins pri'uliische \'«'reins- und VorsannnluniJMrclit ki-iiip ge-
nügende Handhabe. So liiuU'n /,. B. auch laute nuch in Berlin unter
dem Schutz von Vereinen Schaustellungen Hypnotischer statt, an denen
unter der Form willkommener Gäste jedermann teilnehmen kann.
Unter anderem befaßt sich die „Magnetische Gesellschafb" in
Berlin, welche aus Dilettanten besteht, mit den hypnotischen Er-
scheinungen.
Andere Länder, so Belgien, Rußland, Ungarn, Frankreich u. a.
haben /.war b« r"i*'^^ 'j-f^^^etzliche Bestimmungen, resp. Einschränkungen
für das Hypnotisieren erl.isson ; indessen entsprechen dii si Iben nicht
ganz dorn praktischen Bedürfnis; sie sind entweder zu drakonisch oder
zu wenig unifassond.
IUt c1i;irlatanisti^f!t"H und milibniucldichen Anwendung livfiiio-
tiselin i'ro/rdureii wird ganz erheblich durch die In iitc weit ver-
brcileteu Jichren vom animalischen Magnetismus ^ orschub geleistet.
So trieben nach Gilles de la Touretto zui- Zeit, als er sein Werk
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III. Die gerichtlich mediniiisehe Bedcatang^ dar Suggcstioo. 1S7
schrieb, in Paris nicht weniger als lOOo Maguetisiure mit mehr oilor
weniger Erfolg ihr Handweric (von denen natürlich kein • inzi^t r iUv-t-
iiclie Examina gemacht hatte); 50U stüu-iige SümiiambultMikabiuettc
stacdeu täglichen Besuchen offen, und 20 Zeitschriften vormittelteu
den Verkehr und sorgten fUr gehörig« RekUme unter den 40000 An-
hänge ro dieser fiichtaog. In meinem Besitz befindet sich der Prospekt
eines solchen Heilmagnetiseurs aus Berlin, derselbe heißt Willy Beicliel
und erklärt, um den Anschein geheimnisToller Kraft noch zu erhöhen:
Keine hypnotische n Manipulationen oder Suggestivbehandlung. Diese
an die „leidende Jienschheit*^ gerichtete Empfehlung schließt mit den
Worten: „Diagnosen — gleichviel in welcher Entfernung — werden
auf somnambulem ^Vc^ü go^tellt gegen ein Honorar von 10 Mark."
.]eAf wi^senscbuftlichc Prüfung des animalischen Magnetismus als
geheiiunisvollrr Kraft hat bib jetzt Fiasko geuiacbt.
Siiiutlichf anij;el)lich auf diesem Wesre zu siaudo gekommenen
Jleilungeu lassen sich zwanglos, wie schon erwähnt, durch Suggestion
erklären. Daa hypothetische Agens sollte zuerst bewiesen werden, bo>
vor man gestattet, mit diesem Kichts Patienten zu bebandeln. Es er-
seheint mir als empfindliche Lttcke im Gesetze, daß man solchem
groben Unfug, dessen Früchte der Prozeß Ozynski einmal deutlich
gezeigt hat, nicht steuern kann, sondern in Deutschland jedem die
Ausübung der Heilkunde in gewissen Grenzen gestattet, der sich dazu
berufen füblt.
Auch das magnetisierte Wasser, womit ein schwunghafter Handel
betlieben wird, spielt in die^ser Lehre eine jrrof'e Rolle. Liebeault,
dessen hypnotische Krlahniiiir -•ich anl' etwa lUUüU ^fen«ehen erstreekt,
hat seit läiifierer Zeit »einen Patienten emfaches (^Uiellwasser gegeben,
jedoch sie in d<'m Glauben gelassen, das Wasser sei inaL'netisiert. Die
Heih'rfolü'e mit einfachem unl>erührteni Quelhvasser waieii gt iian die-
selben, wie die mit wirklich magnctisiertem. Die Heilwirkung ist also
le<iiglich auf den Glauben der Patienten, auf Suggestion zurückzu-
führen. In gleicher Weise sind erklärbar: die HeUwunder durch das
Wasser von Lourdes, das Auflegen Ton Metallplatten auf kranke
Körperstellen, die Wirkungen des jet<t uberall spukenden Sonnenäther-
strahl i j) i a I I tc - ; die Sus])ensiou. das Verfahren Ton B r o w n- S •'• «i u a r d ,
manche Anwendungen der Elektrizität und zahlreiche sonstige Heil-
methoden wirk' n 'Hein oder hauptsächlich durch die Sugirestiou, welche
eben wegi'U ihrer Einkleidung in ein greifbares Verfuhren, nament-
lich iti religiösen) i^'^vande, vielfaeli wirksamer ist, als in der ein-
f;u hen Fnrm des f4iapr<)chenen Wortes. Man würde geradezu seiner
Logik Uewalt antun, wollte mau lür jede einzelne der oft sehr merk-
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198
IlL Di« ^eriäitlieh medizinische Bedeutung^ der Suggeetion.
würdigen Prozeduren oinen bpsonderen Heilmechanismus, ciiip -ptvi-
fische Wirkuiif:^ ariiioliiiiPii. Die Heilungen kommen sotrar oft \m\te-
wußt für deu Heilkünstler, der den festen Glauben an seine Appli-
kation in sich trägt, durch den von ihm angewandten Brusttun der
Überzeugung^ m einer auf andere in Form von Suggestion sich über-
tragende Weise zu stände; ob Wasser, Hob oder irgend ein merk«
würdiges Lisiranient daza beiMgt, die HetlTorsteilung dareh Sinnen'
vahmehmang sn Terstfirlnnr das ist Nebensache, wiewohl Heilkttnstler
und Patient gerade in dem die VorsteRung Termittelndeo Agens das
Wunder finden.
Wenn wir auch die Frage der Tatsäcblichkeit gewisser bei
Medien beobachteter Vorgänge nicht berühren wollen, da von nam«
haften Forschern (Riebet. L o m b r o s o . L o d g e , W i 1 1 i a ni .1 a m e s
u. n.) positive Erirpbnisse borichtet sind, so haltcf) wir es doch ennz
besonders liir unsere Pflicht, auf das schändliche Treiben jener von
Leicht ^länbiq-keit und Gewinnsucht geleiteten Menschenklasscti das
Augenmerk /u lenken. Denn dieser grobe M ilil.iiiueli reciit fertigt nicht
nur j(!des polizeiliche \ erl»ol. sondern macht iiuch den Widerstand be-
greiflich, welcheu vorurt«lslose ehrliche P'orscher der Untersuchung
soleher Probleme entgegenstellen, deren Vertreter vielfach tum Aus-
wurf der Menschheit gehören. Auf die einzelnen mitgeteilten Fälle
infamer fieutelschneiderei, auf die Ober« und Unter-Somnambulen,
die Spezialisten für Schatzausgrahnngmi (bei Vorherbezahlnng toh
1000 Francs), fiiT verlorene Gegenstände, anf die Kartenschlägennnen
für Liebes- und Reise- Angelegenheiten, auf die Sibyllen für Eiweiß,
für Krit^Vetrofifcn, für Bleigießeu, von denen eine in sielen Monaten
nachweislich 22000 Francs verdient hatte, rmf die Massenfabrikation
Tou <Teisterplu'tographien. auf den fjnn/en iiierzti cjphririjjen tnid bis in
die Eiii/ellieiieii von G illes de la Toiirette geschilderten Mechanis-
mus können wir an dieser Stell«^ nicht näher eincrehen.
Die im \'urtrag erwähuleu seclib FitUe. in deaen icli Gesuudheit»-
beschädiguügeu infolge von Beschäftigung mit spiritistischen Übungen
beobachten konnte, sind folgende.
In einem dieser Fälle bandelte es sich um einen Scbneidergesellen,
in einem zweiten um einen Agenten, in einem dritten um einen Bild-
haner. Alle drei Personen zeigten Erscheinungen ausgesprochener
männlicher Hysterie, die jedoch erst durch die Versuche künstlich er-
zeugt und bei dem Bildlianer bis zu Anfallen gesteigert wurden. Die
drei übrigeji Fälle betrafen weibliche Personen. Eine Dame, welche
die Fähigkeit ihrer Freundin, die schon als Medium gedient hatte, auf
die Probe stellen wollte, rief durch ihre Manipulationen keine Hypnose,
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Ilt. Die gerichtlich medisiniiche Bedeutung; der Suggestion.
199
irolil aber ein Delirium hervor. Eine andere Oame wollte die Geister
befragen und bt-nützte als ^fediiim ein junges blutarmes Mädchen mit
nervöser Anlage. Ihre Prozeduren riefen tatsächlich eine Hypnose
hervor, allein es j^elang ihr nicht, die Freundin aus derselben zu er-
wecken, und so blieb diese mehrere Tage in eiuem Zustande von
SoauioK iiz , verbunden mit hochs:radigem Kopfschmerz und Wein-
krämpt'eii. Der sechste Fall bezieht sich auf eine kleine spiritistische
Hausepidemie in Mfioehen. Ein tSjähriges frtther geawicles Mädchen
entpuppte sich zum Erstaunen der spiritistisch angehavchten Eltern
als ^Ü^rance'Mediam'*. Dieselben stellten eifrige Versuche mit dem
^Wonder'Kinde" an. Dieses wnrde Kennern vorgestellt, man be*
hanptete sogar, historische Persönlichkeiten gäben sich durch sie kund,
femer hätte sie im Schlaf die Gabe des Klavierspiels uud dergl. mehr.
Die Holle der „interessanten Persönlichkeit" schien hei dem Kinde
giinstigen Boden zu finden uud wirkte sogar ansteckend auf ihre ältere
Schwester. Die Schlafzustände traten öfter ein, das Kind wurde stiller
und bleicher, — begreiflicherweise, weil seine empfängliche Phantasie
stets neue ungesunde Nahrung durch die \'ersuche und Erzählungen
der Familie aufnahm. Das Erwecken gelang nur schwer, und so war
es kein Wunder. daI3 das überreizte Nervensysttm endlich durch
hysterische Anlalle heftig reagierte. Das Kind kouute wochenlang
nicht zur Schule gehen und hatte an dem Tage, an dem ich es in
Behandlung nahm, sogar zwölf hysterische Anfälle gehabt. In solchen
PäUen sind die hypnotische Suggestivbehandlnng und strengstes Ver-
bot aller derartigen Versuche vom besten, ja meist sicheren Erfolg.
Auf diesem Wege gelang die Herstellung der systematisch behandelte»
weiblichen Patienten in wenigen Sitzungen vollständig.
Die Gesundheitsbeschädigungen . welche nun infolge Mißbrauchs
hypnotischer Prozeduren , sei es in öflfentlichen hypnotischen Schau-
atellungen, in Privatzirkeln oder spiritistischen Sitzungen beobachtet
.wurden, sind in Kürze: Schwieriges Erwecken: gewöhnlich entsteht
p^roße Restürzung. wenn in einem Salon das ()|)t'er der leichtfertigen
Spielfrei irgend eines Anwesenden nicht anlwachen will trotz emsiger
Bemühungen, ferner beol>!icht»t man Steigerung des Autoniatismus
hy8teruepil('i)tische Anfälle. Xarhtwaudeln , Delirien und dan große
Heer hysterischer Leiden, Iviilüuungen (z. B. Verlust der Sprachbe-
wegungen), außerdem psychische Ansteckung ; so gibt es Personen mit
lebhafter Einbildungskraft, die schon einschlafen, wenn sie einen Hyp-
flotisierton ansehen, femer spontanes Auftreten hypnotischer Zustande,
psychische StArnngen aller Art (Tobsucht etc.) und endlich tödlicher
Aufgang.
T. Sclirenek-Notiliig. Stadiftt. 9
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130 HI- IK« fferichtlich medisinisrhe Bcdeuliing der Suggestion.
Der hypnotisierende Laie kann nicht wissen, wie es mit den ge-
swndhoitlirhen Verhältnissen seines Opf rs stfht , das viollfirlit «'in
Herzleiden besitzt, virileicht auf (Irnnd erliliclier iielasniüi: lim Is^eim
zu epileptischen Aulälieii, zu ( ieisteskranklifit oder m Hysterie IQ sich
trägt, und läult Gefahr, diese latenten iStüruugen durch seine Unjje-
schicklichkeit künstlich infolge der emotionellen Erregung seines
Mediums zu wecken resp. in der Entwicklung zu beschleunigen ; selbst-
redoid wird er in den meiilen PHlen - für von ihm produdoie St5*
rangen auch dann Terantwortlich gemacht werden, wenn schon ein
geheimes Leiden in unentwickeltem Stadium vorher bestand. Das
möge sich jeder Torhalten, der den Mnt besitrt, ohne Kenntnb der
hypnotischen Technik, ohne vorherige körpertiche üntersvefaang seines
Mediums den hypnotischen Eingriff in die Gehirnmechanik des Neben*
menschen zu unternehmen.
£inige Beispiele mögen die vorstehenden Ausführungen erläutern.
Prof. Lomhroso beobaolitete in Turin einen Artillerieoffizier,
welcher von Dunato in iilfeutUrhcr Sitznn? hypnotisiert worden war.
Derselbe acquirierte von Zeit zu Zeit bei dem Anblick des geriugsteu
glänzenden Gegt ustandes Anfälle von spontanem Hypnotismus. So
mußte er z. B. der Lfiterne einer Drnsehke folgen, als sei er davon
bezaubert. Kndlich erlülgteu iieltige hysterische Krisen.
Ein Angestellter der Eisenbahn bekam infolge von Donators Ver«
soeben Konvulsionen und Anfalle von Irrsinn.
In diesen Schaustellungen in Mailand und Tarin wurden mehrere
Zuschauer ohnmächtig und litten später an Kopfschmerz und Schlaf-
losigkeit. Viele schliefen unfreiwillig ein.
Einen Fall von Hypnosomanie berichtet B e c Ii t s a m e r in Peters^
bürg: Eine S8 jährige Patientin wurd<> auf dem We^t^ hypnotiscber
Suggestion von ihren nervösen Beschwerden befreit und dann aus der
Behandlung entlassen : sie fühlte sich nun angeblich so wohl nach den
Hypnosen. dnB sie ihr^ PVeundin instruierte, «ir einzuschläfern, was
di'^se t:if,'lich besorgte. \\ aiirsrhrinlich triri) dirsellie mit ihr uUerhaud
Kunststücke und als Dr. Ii e c h t s ;i m e i die ratieutiu wiedersah,
niiiehte sie auf ihn einen geradezu stumpfsinnigen Eindruck. Er
wi'iiiluio liuu das ii\i>notische Heilverfahren bei ihr uu und suggerierte
ihr: !Nur der Arzt könne sie hypnotisieren, sie solle das mit der
Freundin Vorgefallene vollständig vergessen und dürfe sich nicht mehr
die Hypnotisieruug von Laien erbitten. Das Besultat war völlige Her-
stellung der Patientin; daß aber der Erfolg anhielt, wurde von dem
russischen Kollegen durch weitere Beobachtung der entlassenen Patientin
nach Monaten bestätigt.
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UI. Die geriehtlieh medinniadie BedeuinDg^ der Su^'gt stion. 13|
Eine tranrige Berühmtheit erhielt vor dDigen Jahren der darch die
Ungeschicklichkeit eines Laienmagnetiseurs, des BmDnenmeisters N e ü -
komm yersrhuldete Tod des Frl. Ella von 8alamon. Nach der sach-
verständifren imd ausführlichen Darstellniif» von Min de fühlte sich
der Bruunenma'li*^r Neukonim wie manclicr 1 ni°, df»m Ztijt seiner
Zeit folgend, i»ernten, die Hypnose in oxpcniiitiitt ller und therapeu-
tischer Weisf anzuwenden. Es wurde als Maguetiseur bekannt und
trat uucl» iu dieser Hligenschatt iu Beziehung zu dem Großgrund-
besitzer Salamon auf Schloß Tuscir bei jSyiregyhaza (Ungarn), hyp-
notisierte desiea Tochter und beseitigte ihr dadurch wiederholt Kopf-
weh. Sie erwies sieh als Torzügliches Medium nnd brachte auch auf
dem Gebiete des Hellsehens Terblfiffende Dinge zu stände (?). So
fand sie angeblich versteckte, verlorene .und gestohlene Gegenstände,
erwies sieh als geeignetes Objekt fttr Versuche der Stigmatisation, der
Objektivation des Typcs, Ihr Vater wurde glühender Anhänger der
hypnotischen Lehren und behandelte sie fast mit religiöser Scheu. Zu
den häuficren Sitzungen wurden regelmäßig zahlreiche Giiste aufs
Schlol) fjchiden. Die unglückliche hypnotische Sitzung hatte den Zweck,
dem zufällig anwesenden J)i. W, v. Vragassy, ehemaligem Chefarzt
der Wiener ireiwilH^Pu Rettungsgesellschaft, die Phänomene vorzu-
führen. Nenkomm schläferte die Somnambule auf suggestivem Wege
lege artis (^'m. Angeblich ging die Hypnosn unter Zeichen von l^rregt-
heit vor sich. ISieukomm befahl nun dem Medium, ihren kranken
Bruder in Werschetz geistig anfzosucben und seine Krankheit anzu-
geben. Nach Aussage des Dr. W. v. Vragassy soll sie nun die
topographischen Verhältnisse der Lunge mit einer sonst bei Laien
nicht vorhandenen Fachicenntnis beschrieben haben. Sie stellte die
Diagnose: Tuberkulose. Erschöpft lallte sie schließlich die Worte:
ffSeien sie auf das Schlimmste vorbereitet! Die Krankheit endet mit
Oedema pnlmoinnn acutum hydropicnm suflbcativum." T^nmittelbar
darauf sank sie mit einem Aufschrei zurück und fiel in tiefe Ohnmacht.
Trotz aller erdenklichen Bemühungen ging dicsp Ohnmacht nach
8 Minuten unter Erscheinung von Pulsmangel, tiefem In- untl Ivxspirium,
sowie schließlichcr A?phyx!e in den Tod über. Die Sektion e rstreckte
sich nur auf das (lehirn. da die Familie nicht gestatiete. den Körper
zu sezieren. Es ergab sich hochgradige Anämie, beginnende seröse
Durchfeuchtung, teigige, sehr weiche Hirnmasse und eine sehr starke
Entwicklung der Hirnschale. Außerdem war das Gehirn normal auf-
gebaut. Drei oder vier Tage nach der Beerdigung wurde auf ge-
richtliche Anordnung die Leiche exhumiert und die Sektion des ganzen
■Körpers vorgenommen. Das Ergebnis dieser Sektion ist nicht bekannt
9*
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ISS ILL Die garichUich medisinuche Bedeutooff der Suggestion.
geworden, doch verlautet, daß Zirkulations- uiul Atuumi^sorgane intakt
gewesen srion. Die Verstorbene litt au H^steroepiiepsie und der Tod
soll unter Krämpfen eingetreteu sein.
Otieubar siud in vorateLeudem Falk- vüii alleu Beteiligten Fehler
gonacht worden, so daß der wirkliche Zusammenhang des Todes mit
dem hypnotischen Zustande nicht ohne weiteres erhellt, wenn auch
theoretisch der Beweis erbracht ist, daß durch Suggestion in der
Hypnose Tod eintreten kann. Zweifellos wurde die infolge ihrer
Hysteroepilepeie fttr den Eintritt unTorhergesehener ZwischenftUe hoch-
gradig prädisponierte Patientin durch das Examen Nenkomm's außer*
ordeutlich erregt und erschöpft. Diese Erregung mag den Anfall aus-
gelöst haben, in welchem der Tod eintrat. Erst dieses traurige Vor'
kommnis veranlußte deu ungarischen Minister zu einer Verordnung,
nach wolclu-r die Vornahme von äypnotisierungen in Ungarn nur
Arxteu erlaubt ist.
Alx'i- pnst liuc ist niclit imjuer propti^r hoc. Nicht jeder Toiles-
l'all. aer im zritlichcii Zusammenhang'' mit oiner Hypuose steht, liiHt
sich kausal auf die ilypnotisierung zurück luiueu. So starb vor mehrereo
Jahren im Hopital civil in Nancy ein Patient, den B e r u h e i m einige
Stunden TOr seinem Tode noch hypnotisiert hatte. Der Fall war
folgender: Bei einem an Phlebitis der linken Vena tibialis posterior
Erkrankten trat nach iwanagtagiger erfolgreicher Behandlung eine
unsweifelhafte Lungenembolie auf. Vierzehn Tage später versnchte
Bernheim auf Wunsch des Patienten dessen Beinschmerzen durch
Suggestion zu beseitigen. Kaum eingeschlafen, wurde derselbe Ton
Beklemmungserscheinungen beängstigender Natur befallen, die weder
auf Suggestion, noch nach dem Erwachen sich besserten. Drei Stunden
später It taler Ausgang des Patienten, welcher noch kurz vor seinem
Ende behauptete, der Hypnoti?:nnis töte ihn. Indessen widerlegt«* rlit-
Sektion diese Behauptung: volhg. In beiden Lunireiitlüt(eln l";iiiil uiau
zahlreiche voluminöse lutarkte. In dem Hau|>t^tamm und beiden
Zweigen der Art. pulm. Thrombose, welche sich bis zur Valvula
sigmoidoa verlängerte. Die Notwendigkeit einer Sektion der Leiche
erscheint in solchen Fällen zur Aufhellung de» Tatbt .siaudes ak eine
unabweisbare Pflicht.
Diese wenigen Beispiele mögen als Typen fär zahlreiche ähnlidie
Ereignisse gelten; sie illustrieren deutlich genug die traurigen Resultate
der Hypnotisierungswut in den Gesellschaftszirkeln und die unter
irgend einem anderen mystischen Deckmantel auftretenden Hißbräuche
der Suggestion. Wenn bisher von „Unkundigen" und ^Laien*' ge-
sprochen wurde, so soll damit nicht gesagt sein, daß jeder junge Arzt,
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m. Die gerichtficii mcdiiinbche Bedeutaog der Supfg^ostion.
138
der uin Examen bestandeu hat, nun auch ohne weiteres berechtigt
wäre, mit hypnotischen Manipulationen auf die leidende Menschheit
loszugehen. T/eider sind nicht selten auch durch Arzte, die sich wie
Unkundige und Laien Ijf^i ihren hypnotischen Heilversuchen heuahmen,
ernste Gesundheitsbeschädiguugen produziert worden. Sie haben aber
in der Regel, wie sich das in jedem einzelnen Falle nachweisen läBt,
und wie ich das speziell für die Versuche des Dr. Friedrich im
Münchener Krankeuhause 1. der Isar in einer besonderen Broschüre
anefthrlich nachwies, — infolge ihrer geringscbätdgen Itteinnng von
der Sache, wenn ich so sagen darf, anfs Geratewohl experimentiert,
ohne die notwendigen yorsichtBrnaBregeln einzahaltra. Immer also
sind Fehler in der Technik des hypnotischen Verfahrens, das genan
80 gelernt sein will und seine Indikationen besitzt, wie die Anwendung
des Chloroforms und Morphiums, für die üblichen Folgen verantwort*
lieh zu machen. Arztliche Anfänger mögen die Hypnotisierung in den
Kliniken lernen und ihre Erstlingsversuche an gesunden Personen an-
stellen. Sie dürten dagegen ihre Patienten nicht als hypnotisches
Spielzeug betrachten und haben kein Kecht, andere Suggestionen zu
geben, ab zum Zweck der Heiluug geboten sind.
Die Gefahren des Hypnotismus haben also, wie sich aus dieser
ganzen Darlegung ergibt, mit der zweckentsprechenden therapeutischen
Anireodung der Soggestion bei Einhaltung der bekannten Kautelen
nichts m tun!
Sie entstehen bei der Hypnotiaiemng durch unvorsich-
tige Herbeiführung emotioneller Erregungen und durch
zu intensive Inanspruchnahme der physikalischen (und
chemischen) Hilfsmittel, sind aber bei Einhaltung der Bernheim«
sehen Regeln leicht zu vermeiden.
Sit' entstehen in der Hypnose durch Vornahme aller mög-
lichen psychologischen Ex]iprimente. welche dem Heilzweck
zuwiderlaufen und vielfach erneu nicht unbedenklichen psychischen
A'utomatismus proliziehen.
Sie entstehen ferner durch künstliche Entwicklung
aktiver Somnambuler, durch Produktion aller möglichen
hysterischen Erscheinungen bei Disponierten, wie Schlaf-
anfiUe, Er&mpfe, Delirien. Diese Symptome charakterisieren einen
pathologischen Zustand und stellen das direkle Gegenteil der Ittr
therapeutische Zwecke erforderlichen ruhigenpassiTen Hypnose dar.
Sie entstehen durch die meist unterschätzte Bolleder
Autosuggestion, deren Produkte insbesondere bei neurasthenischeny
hysterischen und ängstlichen Personen den Arzt irrefuhren können.
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JH. Die gerichtliohe medisuuiehe fiedeutUDg du SuaMtion.
Sie entstebeu auikrdem durcii unrichtiges Erwecken,
maugelhatte DesuggestioDieruug u. s. w.
Sie entstehen bei zu ungenauer und obern&ohlicher
Untersuchung und Kenntnia des NerTensyetems und der
IndiTiduAlität, auf welche eingewirkt werden eoU.
Si6,«nt8tehen ebjanso durch die Torgefafite Ueinnng der
Experimentatoren, wenn sie z. B. von vornherein naeh patholo-
gischen 'Merkzeichen suchen (Stellung der Bulbi, fibrilläre Mnskel-
zuckiingeu), sowie durch die als psychische Infektion anggestiv wirkende
antihypnotische Atmosphäre, in welcher sich der Patient befindet,
Sie entstehen endlich und nicht zum miudesteu durch Un-
wissenheit des Hypnotiseurs, wenn er sich nicht genügend über die
Elemente des hypnotischen Heilverfahrens unterrichtet hat.
Dagegen vermeidet die von der Nancyschule empfohlene Operations-
methode die säiutlicheu Gefahren. Bei sachverständiger An-
wendung, d. b. Einhaltung der bekannten Kantelen iet auch nach
meiner Er&hrung hypnotische EinfluBnabme zum Zwecke therai»ea-
tiscber Wirkung unschädlich, selbst wenn man denselben Patienten
mehrere hundert Mal Jabre hindurch hypnotisiert
Dazu gehört aber Anwendung der mildesten ICttel (Vermeidung
stark einwirkender Sinnesreize bei Hypnotisisrung), völlige Verzicht*
leistung auf alle psychologischen und sensationellen Kunststücke, Ein«
schräukung der Suggestion auf Einschläferung, Feststellung des Tiefen-
grades der Hypnose, auf die Heilvorstf^llung und das Envecken (also
Vermeidung aller überflüssigen und durch den Heilzweck nicht direkt
bedingten Eingeijungen).
Zu behaupten , die Hypnose könne wohl schaden . aber nicht
nützeni ist wiederum ein Nonsens; denn uat der Schädlichkeit wird
audi die Wirksamkeit der Suggestion auf den Körper zugegeben.
Bekanntlieh smd die st&rkstsn Gifte auch die besten Heilmittel Wie
in allen anderen Zweigen der Heilkunde hängt auch bei bypaotiscbeii
MaBnahmen die GefiÜirlicbkeit ab tdu der technischen Sicherheit» den
Kenntnissen und Erfahrungen des Arztes.
1
IIL Die gerichtli«h tnediiiiitielie Bedeutung der Suggestion.
135
Zweiter Nachtrag.
Das angebliehe SIttliehkeitavergehen des Dr. K»
an einem hypnoüfiiertea Kinde. ')
1.
Sachdarstellung des angeschuldigten Arztes.
Am Mi"'vn h. den 27. Juli (genau vermag ich nicht das Dutum anziijjiM)r>n)
rief ich tiaä Kiiui 3Iagdalene S., geb. am 15. Juli 1885, iu mein Zimmer (Assistcnten-
zimmer eines Uöncbeuer Kraukeuhauses). Als sie in demaelbeu war, scliloll ich die Tür,
damit idi nieht, wie lehoo mehrere Male bei frflhereitHypnoaeversnehen, durch den
plötzlichen Eintritt TOD Schweiteni oder Kollegen gestört würde. Ich sagte der Pai,
sie möchte sich aufs Soj>ha setzen und den vorgehaltenen Gegenstand, es war mein
FerkuMioDshämmerchen, »charf ansehen und an nichta anderes als aosSuhlafcn denken.
Nach einiger Zeit, nachdem ich ihr suggeriert, dafi sie müde lei and ^nst fett schlafen
wttrde, sagte ich ihr, sie sehlafe nun sehr tief, sie könne die Aupfcn nicht mehr öffnen,
was ihr auch trotz Anstrengnnrr nicht mehr gclnnsr. Xachdciii ich das Kind somit in
Schlaf viTsoiikt hatte, nahm ich einen der Arme meiner Fat. und hielt denselben
borixoutttl, um zu sehen, ob der katelcptische Zustand der Muskeln eingetreten war.
Ab ich dies bestStigt fand, als ieh sah, dafi die Arme nnd HKnde jede ihnen g^^ene
passive Sti llung' beibehielten, sagte ich ihr, sie könne ihre von mir geschlossene
Hand nii-h( mehr öffnen, was ihr such nicht mohr n^i lantr. Dann nahm ich eine
Nadel und prüfte ihre Sensibilität, dieselbe war voilkommeu erloschen; Pat. xog
die Hand, in die ieh stach, nicht surfick, nachdem ich ihr suggeriert, dafi sie nichts
mehr fühle. Nun sagte ich ihr, sie solle aufstehen, was sie bereitwillig tat Dann
ging sie auf mein GehciC hiii znr Tür, klopfte dort dreimal an uml kam. gfenau
allen meinen Befehlen gehorchend, wieder zum Sopha zurück, wo sie sich wi.-der
niederlegte. Aisdaun nahm ich den Qrilf meines Bartpinsels, welcher aus Höh
gef(Nrtigfe war und entfernte Anlichkeit mit einem Gummidietsel = Qummisauger
hatte, wie ihn auch hier in Mflnchen die kleinen Kinder noch bis zum dritten
und vierten Jahre zur Beruhigung in den Mund gesteckt bekommen. Ich steckte
diesen Holzgriff der Pat. in den Mund und suggerierte ilir, es sei ein Dietzel, sie
möge nur daran nahen und lutschen. Die Suggestion des Sangena an einem Gummi»
dietael sduen mir bei meiner Pat. deshalb sehr geeignet anr Piüfnng ihrer Sinnes-
cmpfindungon. weil sie wie jedes Kind frenati einen Giimniisnuger kennt, und so
konnte ich ilieaen Versuch genau in Parallele stellen zu jenem von Prof. Bernheim
aogestellteu, welcher einem Manne in Hypnose den Bleistift in den Mund gab und
ihm suggerierte, ee sei eine Cigarre, worauf dieser Pat. denn auch an dem Bleistift
saugend rauchte uml Kauehwolken von sich blies. Bei meiner Pat. nahm ich ein-
mal den Oriff aus dem Munde und fragte sie, ob der Griff ans Holz oder ob es
ein wirklicher Dietzel sei, worauf sie schwieg. Daß der Ausdruck Dietzel hier iu
Mündien in der ToUcsspraehe für das Membnim Tirile gebraucht wurde, war mir
damals bei der Hyimutisierung meiner Pat. vollständig unbekannt, ich erfuhr dies
erst spiiter von meinen Kollegen. Ich sagte meiner Pat. alsdunn, sie solle sich
davon überzeagcu, daß ich ihr einen Dietzel m deu Mund gesteckt habe, sie möge
1) VergL 8. 107 dieses Werkes.
136
IIL IKe gvriehtlick medisiDitehe Bedeutoog der SuggMtion.
deu8«^lbt-ii nur aufuMeo. Darauf nahm sie erst eine, danu beide Hände, tastete
an dem Oriff berom, lehwieg aber und sagte nicht, daß es ein Dietsel sei. Xud
steckte der Pat. den HolsfrilF wieder in den Knnd und be&hl i|ir, weiter an
deiiisi Iben zu ziehen. Ich giug alsdann einige Schritte vun ihr fort und legte
ihr cm Ilamliuch lose über (]ie Aupcn. ihr saggeriorrnd. sie würde riihip tind lief
\k'eiter schlafen und gar nichts mehr sehen. Ich fühlte das Bedürfnis zur Uriu'
entleerang, ging infolgedessen au meinem Kaditgesehirr, welches in meiner Kadit-
kommode einige Schritte vom Sopha entfernt stand und urinierte. Ich ging ana
mehreren GrÜBden nicht aus dem Zimmer, einmal, weil ich aus den von mehreren
Autoren beschriebenen Hypnoseversucheo wuütc, dali die hypnotischen PersooeUi
sobald sie nicht mehr unmittelbar unter der Hacbt des Hypnotiseur« stehen, mit>
unter sofort wieder erwachen ; dann aber wollte ick auek den Hergang der nno
einmal von mir eingeleiteten Hypnose genau beobachten, und drittens kam es mir
darauf an, meine Fat. nicht aiku oft zu hypnotisieren, womöglich gleich bei der
ersten HN^inose, die ich gerade au jenem Tage an ihr Toruahm, therapeutisch
mit aUer Enetgie erfolgreich auf sie Mniuwirken, und um dies an können, kitte
ich noch längere Zeit die eingeleitete H>'puose fortsetzen müssen. Da mir selbst
aber die Handlung des Urinierens peinlich war, legte ich der Pat, ein Hnndtuch
über, durch welches sie, selbst wenn sie hätte erwachen sollen, uüch nicht sehen
konnte. Als ich bald darauf wieder «u Magdalene S. trat, hatte dieselbe noch
imiiK r den (iriflf meines Bartpinsels in dem stunde. Ich nahm denselben io meine
Hand, warf das ihr übergelegte Tuch luif uuiu Butl uiul legte ihr etwas S:\lz auf
die Zunge, iodem ich ilir suggerierte, es .sei Zucker, sie solle denselben nur hin-
nnterscUncken, er sei sehr afiH. Als ich die« gesagt, acbrak Fat. plötzlich zusammen
und sehlug die Angen auf; sie machte dn gana verstörtet Oeaidit und fing etwaa
an zu weinen. Sie beruhigte bich jedoch bald wieder, als ich ihr gesagt, es sei
ja nichts jiassiert. ich hätte ihr nur etwas Salz Repehen. Dann ließ ich sie au»
dt-iu Zuikuiei- lu ihren Saal, in den ich mich ebeuialls nach einiger Zeit begab.
Ich traf die Pat. im Bett liegend and sagte sie mir auf meine Frage, weshalb sie
denn au Bett gegangen, datt sie nnwohl sei und Kopfsekmersen habe.
Aua der Anamnese ergab sieh (cf. Krankengeschichte) Folgendes;
Stit 3 Jahren litt Pat. an Bauehbeschwerden, ne bekam in Zwischenräumeu
von einigen Wochen nnfnilsweise heftige Leibschmerzen, begleitet von Erbrechen
und Durchfällen und starkem Aufgetriebensein des Abdomens. Vor einigen Tagen
soll Pat. in einem solchen Anfall ohnmächtig hingefallen aein mit Schaum TOt
dem 3Iunde. Die Ohnmacht hat angeblich 4 Stunden gedauert, die Leibschmeraen
hielteti 4 Tapo an. es trat Erl*reelien und l in ..kolossales" Aufgetriebensein dcS
Leiber ;iuf. Dit lirrb(i^:('ruffue Arzt kunstati'Ttr IJuuclifcllcntziindung.
Ich konnte bei der objektiven Untersuchung (cf. Krankengeschichte), die
natürlieh im Saal in Gegenwart von Kollegen nnd Schwestern Torgenommen wurde,
ander einer starken, schon lange bestehenden Atrophie des rechten Beines absolut
nicht«! pathologisches an ihren inneren Organen nai'hweisen, was mir nur einiger-
raaüen die in der Anamnese erwähnten Krankheitssymptmue erklarte. Da nun
auch hier im Hospital bis zu dem Tage, an welchen icii Put. hypnotisierte, absolut
keine krankhaften Krscheinungen, inabesondere kein Erbreeken, Ohnmachtsanfall,
Aufgetriebensein des Abdomens sidi aeigten, so ersdiienen mir diese in der
Anamnese angepebenen Erscheinungen als Symptome einer Hysterie oder der
Simulation. Deshalb glaubte ich auch mit vollstem Rechte, bei dieser Pat. Uyp-
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III. Di« gericbtUok m«dizini«ehe Bedeutung der SuggeBtioiu IS7
iiosc Hl Auweudung brinffen zu dürftu. um ihr in drrsplhon die SiiKp^'sfioa zu
gubeu, dal] sie in Zukunft nie wieder <lt*rurtige Eräclieiiiungeu bekumiueti würde,
wie sie dietelben vor ihrer Aufnahme ins Hospiuü gehabt hatte.
M a •.*■<! a 1 (■ n « S,, u flcho um 11. Sept. auf wein Vcrlnngeu mir von deren
Vater vorgestellt wurde, luaclit« auf luicii den Eindruck eines abgeuiagert«D, krän-
lichen, zurflrkgebliehenen und verwahrlosten Xindes, Ihre iufiere Erscheinung'
liSt nicht auf ihr Alter sehliefien, sondern aidit einer TJährigen ihnlich. Sie
hinkte beim Betreten des Zimmers und zpitrto weder in ilircr Sprechweise noch
in ihrer ganzen Art etwas Anziehendes. Du- nähfre J^rschreilniiig ihres körper-
hcheu Status ergibt ihre den Akten beigelegte Kraukeugesclüchte. Vater und
Tochter stellen das SittBehkeitsattentat so dar, wie es in den Akten deponiert
wurde. Der Tagelöhner S. erwiderte auf Befragen, daß man unter „Dietzel" im
Volksmund ebensowohl den Üommisangfer der Kinder als auch das männliche
Oüed verstehe.
Magdalene will wihrend der ganzen Handlung des Arztes TdJlig wach gewesen
sein. Daher erinnere sie sich deutlich aller Einzelheiten. Sie habe ferner durch
das ihr über den Kopf grlcrflc Haiullueh das Glied des Dr. K. pr'^ehrn. l"ber
andere nicht mit dem Attentat zusauunenhängende Suggestionen des Dr. K. weiß
sie nichts Näheres anzugeben. Die Mitteilung von dem Vorgefallenen habe sie
der Pßegesehwester erst gemacht, als diese sie über die Vorgänge in der Hypnose
befragte.
Hei der Wichtigkeit der Anssape des Kindes und dm "NViderhprüfhen in der-
selben erschien mir behufs möglichst genauer Feststellung des Vorgefallenen und
Weckung der Erinnerung daran die Herbeiffihrnng einer neuen Hypnose
(in Gegenwart eines Zeugen) nötig zu sein. Die theoretischen Darl^nngen
ilieser Arbeit enthalten für die Berechtigung dieses Vorgehens die nötige Be-
gründung. Ich feilte dies dem Kinde mit und versuchte es in eine liegende
Stellung auf dem Soplia zu bringen. Magdalena S. zeigte sich widerspenstig,
wollte durchaus nichts davon wissen, fing an an schreien und zu weinen und ge-
berdete sich sehr unartig. Schließlich sddug sie wfltend mit Händen und Fnfien
um sich. Ich rief den Vater herein. Dieser suchte auf sein Kind EinflnO zu ge-
winnen, sie überzeugen durch gütliche Zurede. Aber ganz vergeblich. Sie
setste anch dem Vater heftigen Widerstand entgegen, der sieh bei Drohungen
and Schlagen des Vaters nur noch stdgerte. Sie warf Mch auf den Boden, hielt
sich an der Tür fest. lärmte, sehri" und tobte in einer selir Loshaften und un-
gezogenen Art. mehr der V:iu r in »ie drang, um so heftiger wurde der Anfall.
Die S^eue dauerte länger als 20 Minuten und erweckte den Kindruck, daß dieses
offenbar vielfach auf sich seihst angewiesene Kind einen eigenwilligen verstockten
Charakter besitze, vielleicht einen gewissen moralischen Defekt, wie man ihn b<*i
nervösen, hysterischen Kindern mit Hang znni Liipen und Sinmlierei» häufig findet.
Die Patientin mußte also von mir ohne weitere Wiederholung des Versuches ent-
lassen werden.
Bemerkenswert ist noch die Mitteilung des Vaters, wonach das Kind
Gutachten.
138 III» Pi« geriebtUeh medisiniMhe Bedeatun^ der SuraMtioo.
bereits einiual Gegenstaud eiues äittliclikeitsvergelieus geworden
iit. Ein tltw MAnn fflkrto das KmA ma ^nm «iiuanien Ort und nxinierte ilim. in
den Mund. Ee »pielte sieh «bo dunala genau das gleiche Vergelten an dem Kinde
ab, wie OS iui vorliegenden Fall dorn Dr. K. zur Last gclept wird.
T>ip orstp M fi pr ! i c h k e i t wäro dir, dali das Attentat auf die iSitlUchkeit
des Madclioiis sieh no zugetragen hatte, wie sie es selbst daralt-iit.
Jedeniüb ereeheinen dann ihre Mitteilungen Aber die sonstigen Suggestionen,
die doch Dr. K. jedenfalls behufs Herbeiführung einer tieferen Hypnose vorge-
nomiucn haben müßte, lürkciihuft uml die^si r Gcdiirhtnismangel auffällig. Nach
ihren eigenen Angaben müilte sie das Büd des Schlafes simuliert haben, indem, sie
in dem Arat den Glauben an das Vorhandensein eines hypnotiadiett Zustande« tu
erwecicen wallte. Aber noch merkwUrdigor berührt iler Umstand, daß sie ohne
sich zti widersetzen, obwohl sii" doch Zeugin der Vurhoreitunpen zu dem Attentat
war und das entblößte Glied durch das Tuch hindurch vorher wahrgenommen
haben will, willig den Wünschen des Dr. K. nachkam, indem sie. wirklich
Saugbewegnngen und onaaistische Manipulationen an dem G-Uede des Antes vor-
nahm. Erst als er seinen Urin in ihren Mund entleerte, also beim letzten Akt
ihr bereits von früher in seinen Einzelheiten hekanjiton Dramas roaprierto sie im
gegeuteiligeu Hiaul Ist es nun überhaupt psychologisch wahrscheinlich und denk-
bar, daO ein Midchen Ton der hartniddgen EigenwilUgkeit und Selbständigkeit,
wie sie Magdalene mir gegenüber bewies, trotz ihrer früheren ErCahrung auf
sexuellem Golti'^t. trotz aller Warnungen und Bplehrtmgen ihres Vaters, in dorn
TOD ilir selbst behaupteten Vollbesitz ihres freien Willens, sich ein zweites Mal
einen so mffinirten und in seiner Ausführung umständlichen Angriff auf ihre Ge*
schleehtsehre bitte geHsllen lassen, daO sie ein Opfer desselben worden konnte?
Warum erhob sie sich nicht sofort bei den ersten Versuchen, entrüstet ü!>er die
Zumutungen des Arztes, und verließ das Zimmer? Warum rirf sie nicht uiu Hülfp''
Warum schrie und weinte sie nicht, wie sie es suiist zu tun ptlegt, wenn ihr
etwas Unangenehmes widerfihrt? Abgecehen Ton der in der Art der sexuellen
Betätigung höchst auffälligen Übereinstimmung beider geschlechtlicher Vergehen
lädt Magdalene S. durch ihre eigene SaehdarstoHonp doti Vtrdatlit der Simulation
auf sich. Denn sie simulierte das Bild der Hypnose, erniedrigte sich zum Werk-
nrnig der eigenartigen sezneOm Gelbrte des Ajntea, um dann mehtraglich gegen
ihn die schwere Anklage wegen Sittlidikeitsdelikts zu veranlassen!
Dio zweito Möglichkeit wiirn die, daC das Miidi-hen siili wirklich in
einer Hypnose leichteren (irades befand, über deren Beistehen sie sich selbst
täuschte. Indessen wäre bei einem so tiefen verbrecherischen Eingriff in ihre
Selbatindigkeit, wie im theoretischen Teil gezeigt wurde, die IHhigkeit des
Widerstandes kaum abhanden gekommen. Sic hätte aus der leichten Benommen-
heit schon bei den ersten sexuellen 3Ianipulationr'n lic.s Arztes erwachen müssen.
£s ist psychologisch nahezu ausgeschlossen, daß in Hypnosen leichteren Grades
gegen den Willen der betreffenden VersuehqMrsonen tief greifende lunnineUe
Suggestionen besonders bei erstmaliger Hypnotisierung angenommen und reati«ert
werden.
Die tiritte 3iöglichkeit ist diejenige des Bestehens einer tiefen Hypnose.
Die Angaben des Dr. K., wonach die hypnotisierte Mi^dalene S. Handlungen
automatisch ausföhrte und selbst SinnestÜusehungen zugänglich war, lassen auf 'das
Vorhandensein einer solchen schließen. Aber auch in diesem Falle wäre ebenfalls
in Anbetracht der entmaligeo Einschläferung der Erfolg für die Bealisierung rou
IIL Die geriehtlidi ueduinisefai» Bedeutung der Suggestion. 189
turayinpathisi'hoii Kingobungm mit soxnollcr Tcnrlptiz r.nm niimli sti ii zwpifplhaft
gewesen. Beobachtungen, lu denen schon bei einer ersten Hypnose solche ver-
t^eherisehen Suggeetionen gelingen, gehören zu den Seltenheiten, zu den Aua-
Mhinen.
Wenn hImt überhaupt eiru' II \ p u u se leichteren o »I r r t i o f o r e ii H r a d n s
bestand, so stellt das £riuuerung8Teriiiögeu der betrefl'euden \'ersiich»-
penon nMh dem Erwaeheti da gan« uinuverlässiges Mittel cur FeetiteUung der
wiildiehen Vorginge im hypnottsehen Znetoode dar. Dasselbe ist, wie in dem
ersten Toil aii«fTofnhrt wurde, allen möglichen Täuschungen und Fehlerquellen
ausgesetzt und wird um so unzuverlüssiger und lückenhafter, je tiüfi r cHc H>-pnose
war, bis zur roUigen Amnesie, läßt sich also, wie schon orwähut. abgesehen von
•einer informatorischen Bedeutung, als juristisdies Beweismittel ebensowenig ver-
wenden, wie die mehr oder minder vcrsdiwommenen Erinnemngsbrnehattteke aua
den Träumen des normulrn Srhliifo«!.
Die vierte Möglichkeit besteht bei dem wirklichen Vorhandenseiu einer
Hypnose in einer traumhaften Verknüpfung lebhafter firinnerungsvorstellangen an
das fi ülu-re sexuelle XSrIebnts mit den Suggestionen und sonstigeu Wahruehniuiigen
in der Hy|)nnse zu rinrni ( ipsnmf bililc ans Dichtung und Wiilirlifit. ticssrn Inhalt
nachträglich von der liagdalene 8. erinnert worden wäre. Für diese Annahme
sprechen Terschiedene schwerwiegende Argumente. Es iat eine bekannte Tatsache,
daft der hypnotisierte oder somnambule Träumer von den Produkten aetner Ein-
bildungskraft autosuggestiv völlig beherrscht werden kann. Die Suggestion des
Snti^ff'ns an einem „Guinniidif tzol" konnte srhr wohl di»» l^pniiniszonr an jf^ne« erste
sexuelle Attentat in dem Kinde wachruten; beiden Erlebnissen war das Saugen
an einem weichen Gegenstände sowie der sahdge Gesehmaek gemeinsam: das Wort
,.Dutz<'l" als Bezeii liiuintf für das männliche Glied konnte imiffl icherweise auch
dem Kinrio nicht utihekannt sein. Wenigstens lüflf hierauf das Verhalten der
Patientin aui-h den Schilderungen von Dr. K.. schhelien; denn sie blieb trotz ilirer
offenbar gesteigerten Empfänglichkeit fSr die Suggestion deaAnttes ihm auf seine
Vrage, an waa sie sauge, die Antwort schuldig; dieses Verhalten wflrde sieh in
dem prnnnnten Sinne durili Vorlf^penhrit oder Schnmhaftigkeit erklären lassen.
Hatte sich aber einmal die Phantasie mit «ler autosuggestiven Verarbeitung
jener für ihr kindliches Geistesleben tief einschneidenden Eriuncrungsvurgängc
baaehifllgt, so war das ganse weitere Verhalten des Arztes dasu angetan, den
Argwohn der H^-pnotisierten, es han<llc sich um eine Wiederholung des früheren
sexuellen Attentats, zu licsfärken, d. h. item aufosuffporierien Triium neue Nahrung
sazuführen. Durch das für das Versuchsobjekt bclremdliche Verhüllen der Augen
mnfite dieser Verdaeht sieh atdgem; cur Gewifiheit wurde die Vermotung der
OMumenden, als sie aus der rermeintlichen Geaiehtewahmehmnng oder aus dem
Hören des HrTHnsches heim l'rinicren in da"? Xachtpeschirr schlofi, daD der Arzt
sein Glied entblößt habe und ein Hcdürfnis verrichtete. Die phantastische Um-
dautung oder illosionierende Übertragung der äußeren wirldichen Vorgänge (z. B.
taeh dea Sabq^eadimadces) auf den Inhalt des herrsebenden Traumhildea wurde
ergänzt durch die halluzinatorische Schöpfung der ohne Kritik und Hemmung
tätigen Einbildungskraft. So wurden aus df»in suggerierten Giiminidietzel das
männliche Glied, die Saugbewegung und das Ergreifen desselben zu onanistischen
Manipulationen, das VerhfiUen der Augen ein Hollsmittel zur leichteren Ausf&hrung
des Vorhabens, der Salzgeschmack zum Uringeschmaek; das Urinieren in den Hund
der Patientin muO naeh ihrer Ansicht, wie beim ersten sexuellen Attentat dem
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140 in. Die geriehtlick medisiniMhe Bedantany d«r SuggMtion.
Arzte 2ur goschlechtlicben Befriedigung gedient haben; die nicht zu bestreitende
Tatsache des UrioliiSBcus wurde aber in Besiehung auf die träumende PeraönUchkstft
unter dem domioierendeo Einflafi der lebhaften Srinnening «n dai frShere MzueDe
Delikt iimgedeuteif wozu der Geschmack des Salzes, welches ihr Dr. K. auf die
Zvinp*» ^h\k heip»'tragen habt*» maß. Der Vorgang der Ejaktjlation als Mittel lur
geschlechtlichen Befriedigung war dem Kinde vielleicht noch unbekannt.
So entftsod durch eine TerbingnisroUe Terkettang' innerer nnd Kußereir
Umitande gewissermaßen als letztes Glied der herrschenden Vorstellungsketie
;i (1 1 et ü ti e <; t i V die Selbsttäuschung, der Arzt habe zum Zwecke geachlechfe*
lieber Befriedigung der Magdaleae S. ia den Jiund uriniert.
Die Erinnerung an diese Tteumerlebnisae kann onch dem Erwachen cial
allmühlich eingetreten oder geweckt lein. So war Magdalene vielleioki bei Be»
sprechung mit der Schwester trotz der aus der Hypnose ztirüfkf;ebliel)ene!i Spüren
tiefer affektiver Erreptinp iuk-Ii niiht im stände, alles anzugeben und erst nach
den L'nterreduugeu unt ihren ZiiumcrgcuossinDcn üeleu ihr die Einzelheiten dea
Tmumee ein, die dwin sdblielUich cur Anzeige f&hrten.
Oder aber die Vetaehmelzung der vielleicht teilweise undeutlichen Reminis-
zenzen aus der Hypnose mit der lehhaften Erinnerung nn das frühere Erlebnis zu
einem Gesamtbilde ist möglicherweise erst nach dem Erwachen erfolgt, als der
Argwohn durch Oeiprache mit anderen Kindern erregt nnd die Aufmerkaamkoit
anl das sexuelle (tebict hingelenkt war. In diesem Falle wäre die im wachca Zu-
stande erfVil^i-to. uinvinkürliclie. rüekvs irkeiHlc EriiincninpsfiilsL-huii^j be^'iinsti^it durch
lebhafte Phantasietätigkeit mit der Unfähigkeit und dem Streben, die Vorgänge
in der Hypnose mögUehftt genau zu rekapitulieren.
Wie im Schla&uatand, wären also audk hier die Ifiekenhaften Erinnernngi-
Itilder durch Elemente der früher erlebten Situatioti unwillkürlich ern;;n/.t, Xach
dieser Auffa^sunfr H.ncht die Magdalene S. noch nicht in dem Augenblick an den
Aogrid auf ihre Geschlecht«ehre, als die barmherzige Schwester sie befragte. Viel"
mehr bekam dieser Argwohn erst spKter den Wert einer autgektiven Überzengui^.
Welche der 2 Variationen der vierten Möglichkeit pqrclld,OgiMll
die rrrfiCte WnhrscheinUchkeit fär sich hat, das möge nach freiem Ermeaaen eittU
-schieden werden.
Für die vierte Möglichkeit einer autoanggeatiTen Erinnernngt*
fälsehung in der Hypnose oder einer ret roaktiren Fseudo re mini szcns
im wachen Zustande sprieht aber auch die ganze snnstitr<' Sachlage. Vor
ollem kommt hier die Persönlichkeit des Arztes in Betracht, eines Mannes,
der dos volle Vertrauen seiner Vorgesetzten gcnieOt und sich nie eine Pfliehtrer-^
letzung zu Schulden kommen liefi. Außerdem scheint derselbe seine bankan
Kinder alle nach der gleichen Methode hypnotisiert zu haben und machte fast
bei allen die gleichen Suggestionsexperimente, wie sich durch Zeugenaussagen
erweisen läßt.
Bekanntlich kommen sexuelle Handlungen, wie die in TVage stehenden, bei
abgelebten Koues, deren in Abnahme begriffene geschlechtliche Poteu immar.
neuer Reizniitti-1 bedarf, sowie bi'i krankhaften nnd senilen Personen vor. Pur
das Vorhauueuscin einer solchen perversen Geschmacksrichtung
lifit sidi bei Dr. K. nicht der geringste Anhaitapunkt finden. Es wSre psycho^
logiarh ganz unbegräflich, wie dieser sexuell normal empfindende und bemflieh.
vertrauenswürdige Arzt dazu hätte kommen sollei,. eine vom Stiindiiunkte sexueller.
Befriedigung ganz sinnlose und widerliche Handlung an einem derartig .verwahr^).
III. Die g«riditlich »«disiniscfae B«deatuDg^ der Suggniioo.
141
losten. iltiHfrUch nicht aasiehcndeot hinkeadeu, körperlich zurückgebliebenen Kinde
«1 vollziehen!
Allerdings war sein Verkaltcu uiiudcstens sehr unvorsichtig; denu
bei einem tieferen Eindringen in die Saggestionslehre hKtte er wissen müssen, daO
die Hypnotisierten und spezit'll tiio So ni n a iii h u 1 o ii feine psychische
Rparrp"ti''n darstHIen auf alle äußeren Eittdn'irkp. dalJ «ic rli(«oIlion im Sinnt'
ihrer Träumereien und Suggestionen zu verarljeiteu j)riegon, dall es also für den
Arst cur Sicherung seiner Standesehre ein Gebot des Selbstschutzes ist. in zweifel-
haften Fällen Zeugen bcisuziehen. soweit das mit der Wahrung dos ärztlichen
Anit«;L;< ln inmissp«: vcrf itihnr f-rscbeint. Al" r ilii^'^nr Punkt kommt in öffentlichen
Küuik<'n wenigi-r in Betracht, als in der l'rivatpraxis.
Dm wenig sorgsame und mit den Kegeln der Suggcstivbchaudlung
nicht vereinbare Verhalten des Dr. K. bot allerdings die Veranlassung,
daß eine so schw(>rc' Anschuldigung mit einem Schein von Recht gegen ihn er-
hoben werden konnte.
Diese Krlahrung lehrt aber von neuem, dali mau den zu ( lie r a ]ie n 1 1 seh c n
Zwecken Hypnotisierten keine anderen Suggestionen eingeben
aoll, als für seineHeiUing nötig sind, dafi man ferner die meist unter-
sehiitzf e Bedeutung der Autosugestionen bei Hypnotisierten su beriick-
sichtigen hat.
Vor allem verlangt dieses Spezialgebiet, genau wie andere Speziairaeher, um-
fassende Sachkenntnis nnd gründliches Vorstudium, damit der therapeutische
Hypnotismus nicht für die Schulden aufzukommen hat. welche un-
vorsichtiger iirzt licher Dilettantismus auf dem psychologischen Uebiete
der Suggestion anhäuft.
Nach der vorstehenden ausführlichen Begründuofr fasse ich also mein Gut-
achten dahin zusammen:
Dil' Au.ssage der IHj ä h r i e n :i <j il a J .■ n >■ S, iiietet. Wenn atifl're
Beweisniittol für das dem Dr. K. zur Last gelegte Vergehen nicht vorliegen,
keine hinreichende Gewähr für die Richtigkeit deü von ihr be-
haupteten Vorfallos. Vielmehr erscheint dieselbe als Produkt
falscher autoanggestiver T' i mg von Wahrnehmungen in der
Hypnose und von r ii e k w i i k <• n d > r K r i n n o r u n gs v e r f ü I s c h u n g . in-
sofern es sich nicht um bewuUte ."i^imulation iian<lelt. Keinesfalls kann eine
solche durch Fehlerquellen getrübte Aussage psychologisch oder
juristisch als B o w << i s m i 1 1 el dienen. Dagegen bietet der ganze
T a t Im- s t :i II li kriiierloi Anlaß, an d^r meines Ernc Iltens t;!a un-
würdigen Sachdarstellung des angeschuldigten Dr. K. zu zweit ein.
In der Voruntersuchung wurden die von Dr. K.. hypnotisierten Kinder, das
Wartepersonat des Krankenhauses, der Vorstand desselben vernommen, ohne daß
andere für den Angeschuldigten nachteilige Homento sich ergaben, als die im
Vorstehenden erwähnt
Somit sahsich die StaatsanwalLschatt veraulaltt, das V erfahre ii
gegen den Dr. K. einsustellen.
Der TorsteheDd beschriebene Fall, aber lehrt von uenem eindringe
lieb, daß die Anwendung des hypnotischen fleilrerfahrens ihre be-
gtunmten Begeh ond Indikationen besitzt, welche auch von sonst noch
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148 in. Die g6ri«htU«h meduiDuehe Bedeutung der Suggestion.
80 tüchtigen Ar/teii frlernt und mit grölker Sorgfalt berücksichtigt
werden raüsseu, genau wie andere Metliodeu fl«T ärztlirhen Beliandlnng.
Es wäre aber ganz falsch, für die unansretiehmea Folgen eines un-
richtigen lind unvorf»irhti«:;:en Vorgehens die Sacbf selbst verantwortlich
zu machen, wie das leider nur zu gern geschieht, und die Flinte ins
Koru zu werfen I Mag das Lehrgeld, welches mitunter bezahlt werdra
muß, auch teuer sein die Leistungsfähigkeit der suggestifen Heflnuethode
in der Hsnd eines mit den Grundsätzen ihrer Anwendung hinreichend
Tertrauten Antes wird dadurch nicht berührt!
Dritter Nachtrag.
Gutachten über den Fall Sauter.
Die uacbüteheuden AusfübriinE^en stützen sich einmal auf das
Studiuni der Akten, ff'rner auf eine nieliriimlige perstMiliclie Unter-
suchung der Angeklagfeu in der AugerlVohnfeste, und endlich aut da«
Ergebnis der heutigen Hauptverhandlung.
Frau Katharina Sauter, Metzgerm«bitersgattin ist 44 Jahre alt
Vater (Gastwirt) starb im Alter ron 64 Jahren angeblich an Nieren-
leiden, ebenso die Mutter an Kierenerkrankung, 62 Jahre alt. Yaters-
bmder köpf- und nierenleidend, Vatersschwester im Klimaktetinm,
geistig nicht normal. Eine Schwester der Patientin starb infolge einer
Frühgeburt. Die häutigen Xierenleiden in der Familie sind möglicher"
weise auf Alkoholminbrauch zurückauführen.
Frau Ö. will in der Schule nur mittelmäßig gelernt h-iben. Ihre
Menstruation trat ungewöhnlich früh, schon mit 11 Jahren ein und
/war unter SeIiiner/*'Ti. Mit 12 .lahren Oophoritis nnd Peritonitis.
Den anormalen f]rs<'h< iLiun;:i*n in (b-n Rntwjekbmijsjalin'n entsprechen,
wie das »itter zu beobachten i-^r, die ^^l•aukbatteu S^^^mjitiune im Klimak*
t< rium. Mit 14 .labren (ji ienivrhtiumatismus. Mit lÖ «Jahreu trat die
Angeklagte in den Dienst, mit 17 Jahren Detloration : 18 Jahre alt
verehelichte sie sich. Schon damals waren die Menstruationen regeU
mäßig Itegleitet von erbeblichen Störungen des Allgemeinbefindens.
Im ganzen gebar Frau S. 7 Kinder, erlebte 1877 den ersten
1) L'ber den TAtb^stand Tergl. miin S. 117 dieses Baches.
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III. Die gerichtlich medinDieehe Bedeutung der SagtsfeitioD.
143
Abortus und mußte sich wegen srhwerer Unterleibsstönmgen einer
2 Jahre dauernden ärztlichen Behandlnnir imterzioben. Trot/.deiii bei
der dritt>^Ti Srliwangerschaft 1883 von ueuem Abortus. Endometritis.
L'terinbl r uui,'f"n init Lebensfrefnbr. In den Jahren 1S84. 87, 91, 94
wideniiii Sciiwaugerschalten, üterinblutungeu, Krampladern und andere
Unterleibsstörungen.
1893 auf 94. Sturz von einer Treppe mit daraulYoln;ender Fiüb-
jjebiut. Patientin will bewuBtlos gewesen sein. OtVcubar Gehirn-
erschütteruDg. Ein Kind der Frau 8. starb 1887 an Tuberkulose,
ein zweites 1892 an Masern und Pneumonie.
Daß die lorttresetzten Störungen der Unterleibsfunktionen bei einer
schon durch erbliche Belastung reizbaren Frau einen nachhaltig schäd-
icben Einfluß auf die Derröaen und psychischen Vorgänge ausüben
muBtenf bedarf wohl keiner weiteren Begründung. So finden sieh aueb
eine ganze Reihe von Anhaltspunicten, die bereits vor dem Klimak-
terinm bestanden und sich mit dem Eintritt desselben erheblich
steigerten.
Seit etwa IVg Jahren ist Frau S. in das Klimakterium eingetreten,
wie aus der X3nregelmSßigkeit der menstroalen Funktionen herrorgebL
Bald Amenorrhoe während dreier Monate, bald minimaler Blutabgang
in Abständen von 14 Tagen. Das Klimakterium ist bekiumtlich für
r( i/.bar.' Fi auen eine gefährliche Zeit, weil vielfiEich bei dieser Ge-
legenheit sclilummernde Dispositionen zu geistigen und sonstige Er-
krankungen zum Ausdruck gelangen.
Schon seit Jahren leidet Frau S.. wie auch der Hausarzt be-
stätigt, an schweren Migränenntalleu mit Sehwindel, Erbrechen. Ge-
fühlen Yon Betäubunir et«'. Z- itwei^e dadurch völlige Arbeitsunfähigkeit.
In letzt- r Zrit Zunahme des Schwindel«?. s(> daß l^Vau S. genötigt war,
sich fest/uhaken und an einem Sfockc /.u geh' n. Wiilnend der
3Ienses Steigerung der ner?(isen Erregbarkeit, Emptindlichkeit gegen
Geräusche.
Hierzu traten besonders während der let/tt u Jahre eine auilalh nde
geisdge Verstimmung, eine gemütliche Depression, die oft länger an-
hielt, ohne daß äußere Veranlassung d&ZM vorhanden gewesen wäre.
Dazu ein Gefühl der Unsicherheit, schwimmender Beweguugsempfindung,
kutane Hyperästhesien, Empfindung von Jucken und Brennen auf der
Haut) krankhafte lästige Empfindungen von Hitze, Kongestivzustände
(besonders im Kopf). Erhebliehe Schlafstörungen, schwere Traume,
hypnogogiscbe HaUuztnationeii mit dem Charakter der Verfolgung. So
glaubt die Angeklagte z. B. daß sich jemand in ihr Schlafzimmer ein-
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144 lU* gerichtlich medisinisohe Bedeutung der Suggintioo.
goschiichrn habe. Sie will sogar wachesd GesichtsballttzitiatioDen ge-
habt hallen.
HcrAlopt'en, An^;st, Bt'kleminuug. iu leUler Zeit Zunahme der
melancholischen Verstimmunsr. J^ie if^t zerstreut, vergeßlich , wie (Irr
Hausarzt auch beatätigi , inie Aut'met ksamkeit leidet. Man darl alstX
mit Hecht anuehmea , daß infolge uervüser Aulage und schwerer
Erkrankungen die psychisebe Widerstandsfähigkeit seit
Eintritt der Wechseljahre erheblich herabgesetzt ist
Dafür sprechen sowohl die aoamoestischen Angaben, wie auch der
gegenwätige Befand der Untersuchung.
'Frau S. macht auf mich den Eindruck einer Hysteropathin»
d. h. einer Person, die im Sinne der Hysterie mit ihrem Nervensystem
auf Schädlichkeiten reagiert. Diese Art der Heaktiun ist ja auch hei
weiblichen Uuterleibsstörungen eine ungemein häufige nervöse £r-
krankuugsform.
In Bezug auf ihren ( harakttT war Frau S. eitip aufgeweckte,
fi'i^^ti;,' regsame Frau, tüchtig in ihrem (iescli.itt, iui Haushalt, eine
jiii>(>rf,'liiho Mutter utid (i.ittin. Sie zeigte /citwiise große Energie
uud SelbstüberwiuJuug. Andererseits war sie ebcusu heftig, aufbrausend
uud zu Affekten geneigt, wie sie gutmütig und mitleidig sein kouute.
^ ließ sie sich hinreißen su Tätlichkeiten gegen ihre Kinder: — aber
während der Krankheit war sie ihnen die hiogebendste aufopferndste
Pflegerin. So half sie der Frau Koch in der Not mit 2000 Mark,
ohne, sie je au ihre Schuld zu mahnen.
Wie die meisten Hysterischen, war auch sie dem Stimmungswechsel
sehr unterworfen; unmotivierte Lustigkeit wechselte mit AiiiT.illen trau-
riger Stimmung;. "Wenn in letzter Zeit die depressive Verstimmung
die Oherhand behielt, so war wohl dnran das häusliche Unglück mit
Schuld. Ferner sind weitere charakteristische Züge ihres Ciiarakters:
Impulsives Verhalten, überschwängliche Phanta«ipt;iti!?keit . Putzsucht,
Coquettciio. ..Kleider." sairte sie tnir, ..sind m«'ine einzige Freude"
Wie sie seihst /.ugibi . ist sie :iurh durchaus nicht l'rei von hyst*>-
rischer Lügtuhaltigkeit. Xehea der gesteigerten Embildungskralt. einer
großen Lebendigkeit psychischer Vorgänge bestehen völlige Urteils-
losigkeit, Mangel an Kritik, Geschwätzigkeit und Kühraeligkeit.
Hysterische Personen dieser Art sind in der Bogel krankhaft
suggestibel und werden leicht das < )pier irgend welcher äußeren Eln-
drttcke, ^on Verführungen vollsioniger Verbrecher etc. Ihr Uemmnogs*
▼ermögen ist eben geschwächt. So können ihre Einbildungen auch
das ganze Denken und Handeln beherrschen und sind stärker als alle
ßegenrorstellnngen und sittlichen Grundsätze, Ohne erkennbare Beweg*
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III. Die greriefatlieh medizinische Bedeutung der Sugg^estion. 145
gründe gelangen sokhe Kranke zu monströsen, läppischen. j:i auch zu
kriminellen Hanrlhiugen. Es fehlt ihnen die verslandesmäHii^e Ver-
arbeitung der Jjt'benserfahrungen. Plötzliche Gefühlswirkungen künncn
uiaHgehend sein. Mitunter zeigt sich auch bei ihnen ein träumerisches
Gebaren, eine ^tiijuug zur Vortauschuug von irgend welchen Ver-
brechen (dramatische Selbstmordszenen, Diebstähle, fingierte sexuelle
Attentate etc.). Sie werden auch zum Spielbali ihrer momentanen
Einbildungen, so daß die Unterscheidungafthigkeit Ton Recht und Un-
recht mitunter Terloren geht. So erklären sich manche Kätsel und
Widersprüche in der hysterischen Gharakteraolage. Die hochgradige
Snggestibilität betätigt sich auch in der großen ZugängUchkeit für
religiöse Bräuche und abergläubische Ceremouien.
Zu diesem ganzen Verhalten paßt auch die Art wie die Sauter
ihre Liebe bestiiti^'te, Sie war ebenso sehr die geistige Sklavin ihres
Liebhaliera, wie sie diejenige der Kartenschlägerin wurde. Für ihn
hätte sie jedes Veihrerhen begangen^ ihm Vermögen und Leben ge-
opfert, wenn er m verlangt hätte. Während in der ilegel im Klimak-
terium eine Abnahme der gfschlechtlichen Anspruchsfähigkeit zu be-
obachten iat, sich bei der Angeklagten eine Zunahme, eine Art
sexueller Hyi)erasthesie (häufiger leicht aushisliarer Orgasmus. Imch-
gradig gesteigerte Wollustempfinduug, Neigung zu perverser sexueller
Betätigung).
Auch bei der körperlichen Untersuchung fanden 8ieh Symptome
vor, die für Hysterie sprechen; so fand sich beiderseits eine konzen-
trische Einengung des Gedchtsfeldes. Gehör beiderseits abgeschwächt.
Uhrticken wird links 26 cm weit, rechts 37 cm weit gehört Kugel-
gefühl im Hals, Uyperalgesie, aoonnal starke Reaktion auf Nadelstiche.
Temperatursinn normal. Tastempfindung eingeschränkt; sie nimmt
auf dem linken Handrücken eine Entfernung der Zirkelspitzen von
cm, rechts eine solche von P/, cm als eine einzige Empfindung
wahr. Daneben motorischer Ruhetremor namentlich in den Armen, der
sich bei Intention steigert. Konvulsivische Zuckungen. Kjiigastrium
druckempfindlich. Neigung zu Her/klopfen Puls üö). Uvarie, häutige
Rückenschmerzen. Dynamometrisciie Kraft recht-* M5. links 25.
Versuche, die Suggestibilität in dem Lut- rsnchungszimmer des
Gelaugiiisses zu prüfen, fielen negativ aus, was wohl durch die lioch-
grndiiie Hrregung und Spannung der Gefangeneu, also durch die anor-
male Situation erklärlich erscheint.
Kechenvermögen normal. Gedächtnis ohne erhebliche Sir»rnng
(soweit sich das bei einer flüchtigen Untersuchung feststellen ließ).
V. äcbronck- Notzing, Stadien. It)
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146
III, Bie gehchtUck mediziuiache Bedeutung der Suggestion.
Ki'iue typischeu hysterischeu Aulalle. i'brigeüis lehlen dieselheu be-
kanntlich bei ',4 weiblicher und bei ^ männlicher Hysterischer (B r i q ue t).
Nach diesem Befunde leidet Frau Suuter au einer
neryösen und psychischen Widerstandsunfähigkeit im
Sinne der Hysterie infolge einer offenbar auf erblicher
Anlage beruhenden neuropathischen Diapoeition, sowie
infolge zahlreicher schwerer (Jnterleibsleiden und des
seit IVs Jahren eingetretenen Klimakteriums.
Mit dieser FeststelluDg ist aber die Frage derZurechoungsfahigkeit
TOtt Frau Sauter noch nicht genügend beantwortet; vielmehr erscheint
dazu die Prüfung des yorliegenden Saclivcrhaltes sowie (nne Würdigung
der Einwirkungen uot\veudig, welche abergläubische Zeremonien und
Handlungen auf ungebildete und geistig widerstandsunfähige Meuschen
auszuüben vermögen.
Die in der heutigen Hauptverhaudlung aufgedeeicte Tätigkeit der
Frau G iinzbauer in München deckt sich ganz mit ihren Pariser Vor-
bildern.') Auch sie zeicrt dieselbe staniipnfrrpgende Sicherheit in der
Behand)uiii^ ihrer Klimten. auch sie verstatnl es F^indrnck, aut" die
Aiii;^^klayte zu machen und deren Privatverhältuisse au^;/.u spüren. Diese
Münchner Pythia wußte ihr harmloses, betörtes Oplt-r gauz in den
Netzen des Aberglaubens zu Terstricken und den seelischen Zustand
desselben für ihre Interessen auszubeuten.
^iuu ist jedoch Aberglauben au sich keine Geisteskrankheit, kann
also auch nicht ohne weiteres zur Anwendung von § 51 des Reichs-
strafgesetzbuches führen. Denn den abergläubischen Handlungen fehlt
nicht das Merkmal, daß sie bewußt sind und bewußt ausgeführt werden.
Dagegen sind abergläubische Vorstellungen Suggestionen im eminenten
Sinn des Wortes. Sie können wie ein Zwang wirken, alle Gogen?or-
Stellungen, jede psychische Hemmung aufheben und ein Individuum so
▼ollkommen beherrschen, daft Rhre, Familie, Vermögen, kurz alles den-
selben geopfert wird. Das Charakteristische krimineller Handlungen
durch Aberglauben ist das sch«'inl)are Fehlen sonst meist nnfznHnd' iider
Motive für die Tiitor. So katin mich der vnllii^ «jeistiu (if-uiide aus
abergliiubisehen \ oibiollubgen heraus /.u (Tesel/rsverletzungeii gelangen.
Natürlich wird der ^reistiir Bescliränkte , Unge))ildete, Urteils- und
charakterschwache Mcum h mii verkiuumerter Moral und ohne religiösen
Glauben dem verhäuguisvollen Zauber solcher aborgläu bischeu Vor-
stellungen eher verfallen, als eine intelligente gebildete und religiöse
1) Verpl. S. 126—128 dioscs Buches.
III. Di« gerichdich mcdiximBcbc Bedeatung der Sns^gostton.
147
Per?rvnlichkpit mit l'esteu Moralbe?nfl'(Mi Die Unwissenheit allein ist
also noch kein hiureichender Gruud tür Beheiung von Strafe.
Das gemoinsamr^ Motiv für abergläubische Handlungen, welches wir
auch bei der Frau Sauter autreflFeu, ist häutig? der Wunsch das Be-
strebefl, aas eiaer bestimmten Situation befreit zu werden; diese
Situation kann ein aeeliaeber Zwang, ein Kammer aein; sie kann aber
eb«isowobl in der Notlage äußerer YerhältDisse (Armut u. s. w.) be-
eteben.
Weno nun scbon der Aberglaabe aaf geiatesgesunde urteilsschwache
Menschen einen v. rhäogoisvollen Einfluß auszuüben vermag, so weV'
fallen ihm Psychopathen und geistig geschwächte Individuen um so
leichter. Dieser Umstand fällt mildernd ins Gewicht bei ßeurteiloog
der Angeklagten, die. wie ich ^laiibc. im Vollbesitz ihrer trHstiijjpn Ge-
suTtdheit wolil kaiiin in dieser W eise das üpler abergläubischer Bräuche
und Zcrriiidiiitii urworden wäre.
Oti'eiibur üuchte die Mot?:<;er«gattiu die Sonmunibulo zunächst aus
purer Neugier auf; »laun aber» als sie einmal i,'efangen uud geküdert
war, wirkten diese abergläubischen Vorstellungen wie ein psychischer
Zvaog, aus dem sie sich nicht mehr losmachen konnte, auch wenn sie
gewollt hätte. Sie fühlte sich, wie sie selbst sagt, unfrei wie unter
einem suggestiven Bann.
Das ganze Verfahren der Fran Gänsbaner war auch danach an-
getan, die Einbildungskraft der hysterischen Patieotin zu erhit/.en.
Ich erinnere nur an <li*> Turteltauben, die weile u Mäuse, die Lichter
und den sonstigen I Ii >kus^- Fokus der Hellseherin. Genug, die Ange-
klagte erblickte in der Wahrsagerin eine Prophetin mit übernatürlichen
Kr:irt«>n. dor iii»'iiia[i(l, auch die weltlirhe (4prerhti:;k<'it niclit. etwas
anhahtiu köuiKv Su' ü'lanhir tr-t driran, dal» Frau ( iiiu/.imuer im -tande
sei, einen gt'heimnisvnllcn Kiulhdl aul" da< S'-!iii-k>al der Meiisclirn aus-
zuüben. Aus diesem liliuilen Glaub» n < i klart ^ich auch ihre naive
Bitte: „Ilichten Sie es doch, daß der Schorchl kommt."
Wie andere psychisch bekümmerte Personen ihren Trost in reli-
giösem Zusprach finden, so fand sie Erleicbterang in der Aussprache
mit Frau Gänzbauer; sie folgte darin dem inneren Bedürfiiis, Trost
zu erhalten und Belehrung. Schon das Unerlaubte ihrer außerehelichen
Beziebnngen und der Wunsch, die Liebe ihres Schauspielers nicht zu
verlieren, macht i-u ihr die Aussprache mit einem GeistliriK ti unmöglich.
Sie erwartete also. — das geht aus allem hervor — durch Schicksals-
fäguugeu Erleichterung ihrer Situation.
Die Schicksalsfügungen, welch«* Frau Gänzbauer hellsehend voraus-
sagen und herbeilühren zu können vorgab, waren natürlich dem Fall,
10*
i^'iyui^uu Ly VjOOQle
14B
IIL Die gerichtlicb medizinitehe Bedetitnng der Suggettiott.
d. h. den Wünschen dt-r Klientin angemessen; aie konnten also li ir
bestehen in einem Verschwinden der unbequemen Personou von der
Bildfläche. Diese Lobuug sollte entsprechend der Vonuissas'p in harm-
loser Weise durch eine natürliche Todesart (Schlaganfall. Kraulvheit etc.)
erfolgen. Nun war die einzige Person, welche das hauptsächlichste
fliudeniia ßkt die veiliebte Eheftau darstellte, deren Gatte, der Metiger-
meister Santer. Die echoa beim ersten Besuch ans dem tropfenden
Eiweiß unbestimmt prophezeiten Sterbefalle in der Familie Sanier
nahmen später eine konkrete Gestalt an. Die Hoffnung, daß sie
dnreh seinen Tod aus ihrer Sitnation erlöst werde und zwar baldigst,
blieb ihr einziger Trost und wurde allmählich infolge ihrer ürteDs-
schwäche zu einem festeu nnersclmtterlichen Glauben, so daß sie seiDdn
baldigen Tod selbstverständlich fand. Schließlich sprach sie. wenn
man den eidlichen Depfteitionen der Prophetin Glanl)en schenkea darf,
ganz unverblümt von dem „Verrecken des Hundshäuternen".
AVie »ind ol» sicli nun aus diesen rdeonj^UngeD, welche eine Er-
lösung au* der traurifjrn "Tja^e durch Tudostalle in Aussicht stflUnn.
der Wunsch entwickelte, diMn Schicksal ein wenig /u Hilfe zu komnieü.
das^ji'lbe zu iicsclilciiui^cn durch .VuNvendunt^ niagisclicr iiod sympathe-
tischer Mittel, das nat'liuagücli aus deu GespriiGhcu der zwei Frauen
festzustellen und somit die Schaldanteile für beide genau abzumessen,
erscheint besonders mit Hinblick auf die Unzurerlässigkeit und Frivolität
der eidlich deponierten ^tteilnngen der Gänzbaner ganz unmöglich.
Sicher ist aber, daß die Wahrsagerin die Dummheit der Frau
Sauter systematisch ausbeutete, die Angeklagte durch ihren Hokus-
Fokus völlig verwirrte, was um so leichter gelang bei dem bestehenden
psychischen Schwächezustand der Klientin.
Diese Verwirrang zeigt sich auch in dem ganzen Verhalten, in den
Widersprüchen ihres Handelns. Sie sagt ja selbst, wie festgestellt
wurde, von dem Schreiheu des Zettels, „da könnte man ganz dappi
(=dunim) werden." Offenbar faßte sie. wenn sie überhaupt etwas
dabei gedacht hat. das Aufschreiben der Opfer als einfache magische
Manipulation auf. Die Frau Gänzbauer brauchte einen solchen Zettel
etwa in der irlcichen WVise , wie sie die weißen Mäuse benötigte.
JJalicr ist ihr ganzes Verhalten anders zu bpurtrilen als das einer
plannuiBi^ vorgehenden Mörderin. Der Zustand eisiger iiuhe, den der
Komuiiäsur Bossert in der Schreibszeno btuhachteto, ist etwa vergleich-
bar mit dem stoischen Gleichmut eiues Hypnotisiei ien, der automatisch
ein suggeriertes Verbrechen ausführt, ohne aber zur Begehung eiues
wirklichen Verbrechens befähigt zu sein.
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III. Die geriditUeh mcdbiDische Bedeutmif der Suggeftion. 149
Auch die Schrift des Zettels weicht von der Dormalen Schrift der
Frau JSauter etwas ab. Auffallend ist die Stärke der (irundstriche.
Der Tragweile dessen, was sie mit der Aufstellung der Proskrip-
tionsliste beging, war sie sit:h offenbar nicht im mindesten bewußt.
Nur beherrscht von der einzigon Idee der Ju'lösung. die von der Wahr-
sagerin kommen sollte, befolgte sie blind jeden Wink dieser Person;
und die Keiguug zur Dissoziation der Vorstellungsverbinduiigeii im hjBte-
risehen Geistesleben läßt es TollkommeD erklärlich erscheinen, daß
jene psycbiscben Komplexe, welche sonst in ihr die Mutter-, die Nächsten-
liebe, die RttdEsicht auf Nebenmenschen, die Ehre und Pflicht repr&sf»*
tierten , in jenem Augenblick eine hemmende oder korrigierende Wir>
knug nicht aussttfiben vermochten. Ja das Phantastisch- Läppische ihrer
Handlung war sie nicht mehr im stände zu erkennen. Vielleicht auch
handelte es sich, wie bei Hypnotisierten und Hysterischen im Zustande
partiellen Rchlit^'es , um eine Art träumerischer Ausmalung einer un-
wirklichen Situation, während doch das Gefühl dabei bestand, daÜ ja
doch nur alles Traum und deswegen unmö^^iich sei.
Die gauze Art, wie sie zu Werke ging, spricht gegen ein überlebtes
Verbrechen. Mit stoischer liuhe schrieb sie den Zettel nicdt r nach
dem Diktat ihrer Herrin ; sie war sich ganz und gar nicht klar da-
rüber, aus welchem Ghnmde diese nenn Personen, darunter die drei
Kinder, aus dem Leben geschafft werden sollten; auch ttber die Art
und Weise, wie das geschehen sollte, wurde kein Wort verloren. Nach
Aufttellung des Zettels und den Yeräbredungen über die Entlohnung
ihrer Helferin ging sie ruhig ihren Tagesgeschäften nach und auch ein
geftbter Psychologe hätte nichts von dem fürchterlichen Mordplan be-
merken können, den sie soeben entworfen hatte. Die liügUchkeit
Trost zu 6nden und die Hoffnung auf eine baldige Erlösung waren
meines Erachtens ihre einzigen Leitmotive, die sie veraulaßten, jeden
auch den widersinnigsten Wunsch ihr* r Herrin zu erfüllen.
Xnr so werden ihre scheinbar sinnlosen Handlungen psychologisch
begreiflich.
Sie war von Frau Gäuzbauer so fasziniert, daii sie in dem Zu-
stande suggestiTer Abhängigkeit deren Ideen zur Ausführung hraehte
Trotsdem aber kann Ftan Santer nicht als fällig unaurechnangs-
fthig im Sinne des Gesetiee angesehen werden. Denn weder bestand
eine sichtbare Geisteserkrankong noch ein ausgesprochener Dämmer*
sustand des Bewußtseins. Denn in den Pausen zwischen den einzelnen
Besuchen der Kartenschlägerin machte ihr Verhalten in* n iznuz ver-
nünftigen Eindrack. Auch wäre eine Terstandesmäßige Verarbeitung
der Erlebnisse bei ihrer Prophetin nachträglich wohl möglich gewesen.
i^'iyui^uu Ly VjOOQle
160 in. Die gerichtlich medizinische Bedeatung der Suggestion.
Sie hat abfr Tiellcicht aus innerf^r 'Re']iipmlichkeit, aus Dummheit ofler
aus Liebestorheit diese Korrektur mclit aa^ewpiulet, — die antisozialen
Antriebe, da^ Resultet ihrer Yfrbindung mit der Gänzbaucr nicht
bekämpft. jJariu liegt ihre Huuptschuld I Wenn iiir das Stratl>ark*'its-
bewußtsein wohl fehlte — das geht aus ihrem ganzen V^erhalten
hervor — so war ihr doch die Möglichkeit, sich fUr Ausführaug oder
üntedasBimg der ihr nur Last gelegten Hftndluugeu zn entsobetdeB
dnrch die allefdinge bestehende krankliBlle StSrong der Oeistestätigkeit
nicht TöUig ahgeaehnitteo.
Wohl aber erscheint ihre ZurechnnngsfUhigkeit infolge hjateto-
pathiscber psychischer Schwftche und ihres Klimakteriums suwie iu-
folge der suggestiTen Wirkung abergl&nbiscber Vorstelltugen erheblich
herabgemindert
Oh nun der Grad ihrer krankhaften Ursachen entstandenen Willens-
einschränkung genügend ist, um sie im Sinne des Gesetzes willensunfrei
erscheinen zu lassen, diese Entscheidung liegt in dem freien Ermessen
der Herreu Geschwürenen!
Das Urteil lautete auf Freisprechung.
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Prospekt des Heilmagnetiscurs Willy Keichcl, vom Xov. 1883. (Beilage zur Zeit-
•chrilt Sphinx.) Den abgedruckten CStaten von Ndlbanm and du Frei
bt die Honorartaxe hinzugefügt (fOr einen MtgoetisatlonsakC in der
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lüfS III. Die gerichtlidi mediäniadi« Bedeotang der Soggettioo.
Sprechstunde 5 Mark, auUer dem iiausc» 10 Hark, für Minderbemittelte
du entere 3^ des letetere 6 Mark).
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IV.
Der Fall Malnone.
Verbrecheu gegen die Sittlichkeit an einer Hypnotisierten, verhandelt
vor dem Schwurgericht in Köln am 7. und ti. Mai 1901.
Tatbestftnct.')
Ein gewisser Carl 31aiuoue, 22 Jahre alt, bis dato als Schlosser, Spez«rei-
häudler und Oetchäftsreiseitder der Kölner Eau do CoIogi»««F«brik tätig, ver»
heiratet, Vater von 4 Kindern, nahm im Jahre 1900 bei dem MagnetopAthen
Robert Müseier in Köln einen sechsstündigen Kursus (sechs Kurse zu je ',2 Stunde),
um dessen Heilmetho<lf zti erlerneu. Am 1. Dezember 1900 mietete dorsflbo sich
in der Konditorei von U. in Mühlheini u. lt. ein Warte- und Sprech/.! nuner, un»
eine Prazu als Hagnetopath amzaiiben, da tein Terdtenst ab Reisender infolge
niederer Prorisionssütze zu gering war. In ilin Zeitungsannoncen, tlie ihn bekannt
macheu sollten, bezeichnete er sich n\s ..Ma>;tietopath und Xaturheilkundiger*'
and versprach überraschende Heilerfolge durch Magnet isniuskriiuter und Waaser.
Bei dem Konditor H. wohnte au dieser Zeit die 20jährige Schwester von
dessen Frau, Maria R., welche naeh irttlichen Feststellungen an hodigradiger
Kurzsichti^ktil litt. Das MiidclKii war erblich nicht belastet, dnpopen streng
religiös erzogen und hatte bis vor kurzer Zeit in einem kleinen schlesischen Ort
gelebt, ohne von der Welt etwas zu kennen und über geschlechtliche Dinge belehrt
Sa aein. In ihrer Familie galt Maria für etwas besehriinkt und ungescbiekt bei
. der Arbeit, was man aber /um Teil mif Kosten ihr^ r schlechten Au^'cn setzte.
Mit Rücksicht darauf. daG tler bei dtr Familie woliin iulc Magnetüj»atli Mainone
die Heilung solc;h^r Augenleiden als seine Spezialität bezeichnete und den von
ihm als „Anaata sum grauen Star* diagnostlsierton Zustand bei Maria in &^
Sitzungen heilen zn können Torgabf besddoD Frau H., an ihrer Schwester einen
solchen Heilversnch vornehmen au lassen.
1) Au« dem Archiv fttr Eriminalanthropologie, Bd. VQ S. 13S.
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m
IV. Der Fall Hmdod«.
Zu diesem Zwfik rief der Beschuldigte wenige Xage, uuihdem er die Woh-
nung b«zog«a htAte^ du Haddien auf aeio Ziminer. Beim enten und sweiteo
Vernich hielt er nach der glaubwürdigen Darstellung der Patientin ihr einen Stift
vor die Auprn. an dessen Spitze sich ciin'^ Ktipr-I in ErliscrigröRo bffancl. und ließ
eie diesen angeblich magnetischen Stift zehn 31inuten mit den Augen tixicren,
was Maria sehr anstrengte und schläfrig machte. Er fügte hinzu: ^Da werden
Sie gut seUafen können nach dem Magnetisieren.'* Beim dritten Hai am 10. Da-
xeml)er 1900 wiederholte er das Verfahren uth! xii<,'te des öfteren: y,Vcrsuchen Sie
JEU schlafen, verspüren Sie keinf>n Schhif " Kr falit-' dann di»« Hände der Patientin,
fühlte ihren Puls, strich ihr mit seint-n ii.uuien über die Augenlider. Durch diese
Manipulationen wurde sie schlftfrig und niöde; ^cs war ihr acUaam an Hute*. Br
forderte sie dann auf, sich auszuziehen, sie brauche sieb nicht zu genieren. Trotl
nnfänplichcii Sträiilx ns ]<-g\i' Pafioiititi all«' Klticiunpsstürke ab und behielt nur
Schuhe und Strümpfe an. Der Beschuldigte erldärtc, das sei zur Untersuchung
notwendige er mttas« den Unterleib nntemeheD, weil Ton hier ein Harr mit den
Augen in Verbindung stehe. Auf Anordnung des Angeklagten setzte sich Maria
luiii auf einen Stuhl. Der Beschuldigte fing an, ilir mit beiden näiHlfn unter den
AriiK'ti. über die Hrüst» und über den Rücken zu htreiehrn, mi^'ofiihr 10 Miiuiten
lang, was die Patientiu in groUc Erregung versetzte. Dünn begann er den Loter^
leib xu streichen und au drBcken, wobei Maria auf der einen Seite geringe Sehmenten
spürte. Der 3Iagnetopath erklirto non, sie hütt<- ein Harnleiden, es habe sieh
links eine HurnWaso gebildet, in welcher sclilechtfr Harn zurückgeblieben sei,
dieser müsse heraus, soust würden die Augen nicht gut, weil dadurch die Augen
angegriffen seien. Sodann legte der Beachnldigte einen Finger in den Geschlechts"
teil der Krauken und bewegte deuelben auf und ab, was ihr Schmerzen vcr-
ursacbtr. lU-im Aufstclu n ^var sie so schwiM<iIi^<^. dun sie sich an einem Stuhl
feslhalteu inultte. Er gebot ihr zu schweigen über die Untersuchung.
Am folgenden Tage Wiederholung desselben Verfaiireus: 10 Jüouteo lange
Fixierung des Stiftes, bis ihr schwarz vor den Augen wnrde. Sie mußte sich er-
heben, schwankte, wurde von ihm gestQtzt. Er hob nun ihre Bocke in die Höhe,
fuhr mit iWin Finp^r in <lif Scheide und legte die in einem trauniUhnüchen Zu-
stund betiudlicbe Kranke aut das Sopha (der Lüuge nachj, so dali ein Beiu auf
der Sophalehne lag, das andere herunter hing. Patientin war zu müde und
schläfrig, als daß iie sich weiterer Ein/C' Iheiten erinnert, sie weiü nur noch, daß
Mainoin dfivon sprach, „der schlechte Harn mnssc lu raus" nnd ihr mil fnnrm
iuu-teu Uegeustand in den Geschlechtsteil fuhr, wodurch sie starke Schmerzen
bekam. Aufgeweckt spürte sie, daO eine Flfisaigkeit an den Brinen herabliel
Munone kflOle dann Maria und entließ ne. Nadb dicaem Eriebnis war rie noch
so benommen, dali sie schwankte und auf der Straße bei fJclegenheit einer Be-
sorcfunfr tinifirl. Kinc Frau half ihr uutslehen. Atich um folffrndrn Tnjre vorsetzte
Mttiuoue mit Hülfu des Stiftes <lie Patientin in einen schlafartigen Zustand uud
fuhr wieder mit „einem harten Gegenstand" in den Ocaehleehtsteil der B., naeh- *
dem er beide Arme um ihre Taille gelegt hatte. Befragt über die an den Beinen
nach diesem Vorfall heral>fli<-I!eiide Flnssipkeit erklärte Mainone. das sei schlechter
Harn, der heraus müsse. Maria kam erst jetzt die Sache verdachtig vor, sie er-
zählte das Ganse ihrer Schwester, die sie s<^i»rt au einem Arst filhrte. Dieser
konstatierte Zerreißung des Hymens infolge von Manipulationen am 11. und
13. DezeudxT.
Die Schwester der Geschädigten, Erau H., ergänzt die Angaben der Go-
IV. Der Fftll Htinooe.
157
gcliiidiplen dahin, »laÜ 3Iuna nach den Sitziin{f»"n sich in «'iiMMu konfusen, taumoligcii
Zustand befunden hal»e. der eine Stunde andauerte. Aber auch sonst sei sie seit
ihrem Verkehr mit Jiaiuoue äuUerst vergeßlich und wirr ge\yordeu. Dieser Zu-
stand der Erregnag dauerte oocli ca. 14 Tage nach Abbruch der Besiehungen au.
Der .\ni;i^schuldijrto leuornot, das Madchen hypnotisiert zu haben. Vielmehr
hätte ihn die K. pi-rcWf und zu drrn zweimaligen geschlechtlichen Verkehr ihn»
ausdrückliche Zustiuimung gegeben. <>eßeu die Kichtigkcit dieser Aussage spricht
jedoch die Deposition des Zeuge», Magnetopathcn Mnseler, dem Xsinone selbst
von seinen hypnotischen Versuchen mit dem jungen Mädchen erzählte. Die
Keimtiiis dazu jfewntiii rv ans dem Werke des Dr. Sturm: HypMriliMMni> und
Magnetismus. Auf lirund dieser durch die Jte\vcis«ufuuhnie in vollem 1 nifango
bestätigten Ermittelungen kam die Anklage zu der Überzeugung, daO Mainoue,
welcher wohl wufite, daß er durch seine Manipulationen das Augenleiden der R.
Dicht heilen könne, durch Anwendung der Hypnose sich das Mädchen zum Ge-
schlechtsverk' hr <r<^fitiTig machen wollte, und auch diese« Ziel durch aoine unlauteren
Mittel erreicht iiatie.
Demnach wurde der Reisende Osrl )Iainone angeklagt zu Mählheim a. Rh.
durch drei selltstandige Handhingen.
1 Aiu 10. Dezember 1900 die Mana K. beleidigt zu haben und zwar mittelst
einer iiitlichkeit,
2. am 11. Dezember 1900 und
8. MIM 13, Dezember 1900 die Maria ]{., eine in einem w illeulosen Zu.standc
bcfiiiiirtciie Frautnisj»(<rs()ii. zum aul!< i i In lirliiu Heischlafe iniUbraiichl ZU haben
(Vergehen bezw. Verbrechen gegen IKy. 176 Abs. 2 des K.Sl.ti.Il.^.
Die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung am 7. und 8. Mai vor dem
K61ner Schwurgericht ergab die Richtigkeit rorstehender Saehdarstellung in allen
Einzelheiten, f's fanden sich keinerlei Anhiilts]ninkte. welche zu Zv.eifelii an der
Unschuld il<*r Marin }{. !ierfchtigt< n <u\fv nuf ihre ZustimnuitiL' zu den it' Krn'jre
kommenden Handlungen hätten schiietfen lassen. Die ärztlichen Sachverst»ndi);;er
der Stadt pbvsikus Dr. Longard') (Köln), (teKeimrat Pelmann (Bonn) und Referent
gaben einstimmig ihr Outachten dahin ab, daß Maria R. im willenlosen Zustande
zum Heischlnf mißbraucht \vor'!i^!i -^im
Der ala Zeuge und Sachverständiger ^eruomme^e Mugnetoputh und Hyp-
notiseur Mfiseler (Köln), Lehrmeister des Angeklagten, erklärte unter seinem
Side, alle Krankheiten durch Magnetismus heilen zu können, mit
Ausnahme solch«' r. in denen organische Fehler v > r 1 ri c n. Sein Ver-
such, durch Vorlepung von Krankenffeschichter, dem tiencht diese Hehauptunjj
zu illustrieren, fand gebührende Zurechtweisung durch den Vorsitzenden. Zum
Schluß gab dieser Heilkundige seiner Uberzeugung dahin Ausdruck. Maria R.
habe sich freiwillig aus Liebe dem Mainone hingegeben.
Gutachten des Verfassers.
Nach der Darstellung der Zeugenaussagen hat der Magnetopath
Mainooe ohne den Besitz irgend welcher zulänglichen medizinischen
Vorbildung eine ärztliche Praxis in Mülheim am Rhein eröffnet.
1) Das sehr ausführliche Gutachten des Dr. Longard ist in der VierCel-
jahrschrirt für gerichtliche Medizin erschienen.
i^'iyui^uu Ly VjOOQle
168
IV. Der Fall Mainone.
TJntpr dem Vorgehen, er kiinno die 2ujabrige Mnria R.. die Scliwester
seiuer Hauswirtin, der Frau Kouditor H. iu lüul" bis sechs magne-
tischen Sitzuiigei> vou ihrer Kurzsichtigkeit; die nach seiner Auffassung
durch „AnsAti zum grauen Star^ bedingt sei» befreien, wußte er daa
junge Mädchen an sich xa locken und zu einer magnetischen Behand-
Inng zu gewinnen. Die Manipulationen, welche der Angeschuldigte
▼ornahm, sind jedoch weder ärztliche, noch magnetische, wie sie
eventuell bei einem Augenleiden in Anwendung gelangen könuleo.
Vielmehr war die ganze Art seines Vorgehens in brutaler und durch-
sichtiger Weise von vornherein auf den geschlechtlichen Mißbrauch
des unschuldigen Mädchens gerichtet. Ks hestcht nicht der geringste
Zweifel darüber, daB ^rainonp sein Opfer wirklich hypnotisiert hat,
um es soiiion A\'iinsch»'n gefügig zu machen. Dif zu diesem Zwecke
aijgeweiideteu Mittel bestaudeu iu ilvm Austarreulassen einer auf einem
Stift befindlichen Metallkugel, in Streichungen mit den Händen über
die Augen, das Gesicht uoil später, als Maria sich i-iitkleidet hatte,
in Streichungen des nackten Körpers. Daneben suggerierte er das
Eintreten tob Schlaf oder schlafartiger Zustände. Die Fixation wurde
mindestens mehrere Minuten nach der Sachdarstelluog der R. sogar
zehn Minuten lang fortgesetzt, bis Mana schläfrig und schwindlig
wurde. Gerade die Fixationsmethode, das älteste nnd bekannteste
Verfahren beim Hypnotisieren ist bei ärztlicher Behandlung mit Hypnose,
wie sie ja vielfach mit Rrfolg geschiebt, durchaus verpönt, wegen der
unangenehmen Folgezuständt« für das Versuchsobjekt. Ein Arzt,
welcher nach der Art des Augeklagten verführe, würde sich eines
K.unstf»'hlers schuldig ma<'hen.
Weiju der Ü* s( liul<ligte behauptet, die von ihm gebrauchten Mitiei
srieü magnetopathisclit', nicht aber hypnotische MnBnahmen, so ist
das eine der bekauiiteston Phrasen, mit denen die Anhänger des
animalischen Magnetismus die rein suggestive Wirkung ihrer Heil-
erfolge bestreiten. Diese Behauptung ist zudem vollkommen unbe*
wiesen, da bis jetzt die Lehre vom animalischen Magnetismus nicht
auf fehlerfreie Yersacbe basiert, bei deren Anstellung die Möglichkeit
suggestiver Einwirkung durch die Versachsanordnung ausgeschlossen
sein müßte. Der aDimallBche Magnettsrnns schmückt sich, wie so
manches andere Verfahren der Kurpfuscher, mit fn nulen Federn, denn
die ganzen mesmerischen oder magnetischen Prozeduren sind im
Grunde nichts anderes, als ein larviertes, mit Mystik verhrämtes
Snggostivverfahren ; d. h. die sogenrinnten !Tiagn<'Hschen Heilwirkungen
kommen rhirch den (nlaubcn (l<r Patienten, ilurch dir Inansjiruch-
ualmie ihrer psychischen Tätigkeit für die Heilung, nicht aber durch
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IV. Der FftU MaiDone.
169
ein»- wnndi rh:',r<' Kraft zu stände. Denn das angeoomineue Fluidum
des auimaijscheu Alagnetismus bedarf erst selbst eines Beweises.
L'brigeus bieten die unerhörten Einzelheiten des vorliegenden
Falles ein neues lehrreiches Beispiel liir die Tu verfrorenheit und Ge-
wisseulusigkeit, mit der sogenannte Magueto|>atlieu, als^ Tersoueu ohne
irgend eine SrztUche Yorbildung die UnwiMenheit ihrer Klientaa für
sich aasbenteo. Sowohl im Interesse der Patienten wie der ärztlichen
Wissenschaft erscheint es als Pflicht, an dieser Stelle nachdrücklichst
zu protestieren gegen diesen Unfug und auch besonders gegen die
leichtfertige Art, mit welcher hier heute ein flauptvertreter dieser Sichtung
ttber Behandlung und Heilung von Krankheiten gesprodien hat.
Gesetzt den Fall, Mainoae hätte keiue Fixation angewendet (wie
er behauptet) sondern nur Streichungen und die auf Eintritt von
Schlaf tind j^chlafartifjon Svmptomen hinzielenden Worte, so wäre
doch das ebenfalls als ein Suggestions verfuhren zur Erzeugung hypno-
tischer Zustände anzusehen.
Nach meiner Auffassung aber hat Mainone in der Tat sich der
Fixation des Stiftes bedient, wahrscheinlich beUuts Kiziuluug einer
tiefereu Hypnose. Das geht auch aus seiner eigenen Auffassung Uber
den Unterschied ron Magnetismus und Hypnottsmus hervor. Denn
nach der Ueinuug der Magnetopatiben gehört zum Hypnotisieren die
Fixation, zum Hagnetieteren aber nicht Wie nun der Magnetopath
Müseier bezeugt, hat ihm Mainone xagegeben, an der Maria R,
hypnotische, nicht etwa nur magnetische Versuche vorgenommen za
haben, d. h. also, es wird der Gebrauch eines von dem magnetischen
unterschiedenen Verfahren zugestanden. Der Unterschied besteht aber
lediglich in dem Anstarrenlassen der ^lotallkugel. Hierzu kommen
noch in Erwägung die völlig glaubwürdig klingenden Angaben der
R. selbst.
D< III juni,'iMi Mädchen kann allerdings nicht die Kritik erspart
bleiben, daß sie unwissend und beschriinki yeiiug war, trotz ihrer
Unkeuntnis der geschlechtlichen Diuge, einen so plumpen Schwindel
nicht zu durchschauen. Schon die erste Entkleidungsszene, deren
Eiinzelheiten sie zwar nicht genau anzugeben vermag, hatte einem
jungen Mädchen mit dem Durchschnittsverstand einer 20jährigen die
Augen über die Pläne des Verführers vollkommen geofinet Sie hätte
sich dann zu einer Fortsetzung dieser eigenartigen Metbode gewiß
nicht hergegeben.
l^nd damals war ihr moralischer Widerstand noch nicht völlig
gel>rochen. NVenu sie den T^t fehlen des Kurpfuschers folgend anfangs
.'brer Schwester nichts anvertraute über die Behaodiungsweise, so mag
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160
lY. Der Fall Mainone.
eif möß;li('hf'rweise noch uuter dem suggestiven Baun des Augeklagien
gestaudeu liabeu. In diesem Fall hätte sie nicht sprechen können,
auch wenn sie es gewollt hätte, weil er es veibotea hatte.
Die moralische und intellektuelle Widerstandsfähigkeit der B. war
jedenfalls tod vomhereiii eine geringe. Weno auch uicht im Sinne
der Fsychiatik sehwacheinnig, war «ie doch geistig in hohem Grade
unreif, kindlich nat? und intellektuell sehr sehwach begabt, so
Mainone leichtes Spiel mit ihr hatte. Es ist deswegen auch durchaus
unwahrscheinlich, daß Maria den Angeklagten an sich gelockt, ihn
sexuell aufgeregt oder gar ihre vorherige Zustimmung zu dem Bei-
schlaf gegeben haben sollte. In diesem Falle wären ja auch die
ganzen hypnotischen oder magoetiacheu Manipulationen überflüssig ge-
wesen. Thr Zweck konnte doch nur der sein, den Willen der Wider-
strebenden künstlich /u brechen.
Der allerdings noch in den (irenzen des Normalen vorhandene
Mango! nn Begabung der Gpschädigten. ihre Verstandesschwäch»*,
lieüeu sie uicht dazu komnieu, den verbrechcrischeu Plao des Maiuone
zeitig genug zu durchschauen. Ihre totale Unwissenheit in sexuellen
Dingen begünstigte das Gelingen des geschlechtlicben Vergehens.
Der psychische Zustand, in welchen die Patientin durch die hyp-
notischeo Manipulationen des Mainone geriet, war nach der Beobachtung
der Zeugen sowie ihren eigenen Angaben ofifenbar ein schlafartiger
Dusel, eine Schlaft ruDkenheit, eine Benommenheit, d. h. also, ein im
Vergleich zum Wachsein veräuderter Bcwußtseinszustand.
Derselbe ist aber als eiue echte Hypnose anzusprechen. Denn
zu den Konnzoichen der Hypnose gehört uicht etwa, wie vielfach ge-
glaubt wird, volle BewnRtlosifrkeit oder Bewußtseinstrübung mit nach-
heriger völliger Erimieriingsl<i>ij^kpit. Dir meisten Hypnotisierleu er-
innern üioh ganz oder teil\v(Msc der Vorgiin^:? in der Hypnose. Außer-
dem läßt sich die Erinnenino; nachträglich wecken. Schon die ganze
Art, wie die R. ihren Zustand beschreibt, der automatische Gehor-
sam ^ den sie den Befehlen des Hypnotiseurs gegenüber kundgab,
sprechen für das Vorhandensein der Hypnose. Der Begriff eines
hypnotischen Zustandes umfaßt die leichtesten schlafartigen Ver-
änderungen des Bewußtseins ebensowohl, wie den tieferen Somnam-
bulismus mit posthypnotischer Amnesie. Übrigens zeigte die R. für
die eigentlichen Vorgänge bei der Defloration nachträglich nur eine
summarische JOrinnerungan die Schmerzen und den ,,harten Gegenstand**.
Einzelheiten wußte sie nicht anzugehen. Eben dieser kleine Um-
stand spricht für da>' Vorhandensein oinnr tiefen Hypnofte. einer weit-
gehenden Veränderung des Bewußtseins (wenn dieselbe auch uicht als
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IV. Der FaU HainoD«.
161
eine Howiißtlo!?if;keit im Sinno des Gesetzes atr/ust-hen ist). Es ist
auch kaum denkbar, daß ein so hü wissendes und unbegabtes ^fädclien.
wie Maria, im stände wäre, eine in allen Details überemstimmeude
uod den Kenntxiiäseu der hypnotischen Bewußtseiusänderuiigeo ent-
sprechende Darstellung in Protukoll zu gebeu.
Wie stark und nachhaltig der frevelhafte hypnotische Eingriff in
die Gehirameehanik des aimen Veranchsobjektes gewirkt hat, das be-
weist ihr Verhalten nacsh den Sitzungen. Sie machte einen konfusen,
wirren Eindruck, zeigte SehwindelanflUle, fiel auf der Straße um, war
TergsBUch und brauchte zwei Wochen, bis die letzten Spuren dieser
Einflußnahme auf ihr psychisches Leben verschwanden.
Es gibt hypnotische Zustände, in deurti das Bewußtsein intakt
und in denen noch ein geringer Grad von Willensfreiheit, oder auch
die ganze Willensfreiheit vorhanden ist. Ein solrber hypnotischer Zu-
stand w;h nluT bei der durch ihre Unwissenheit und geistige Unreife
zu ^luguerieruugen prädestinierten R. nicht vorhanden. Denn sie war
einerseits durch die angeblich tut Heilung nötigen und von ihr nicht
richtig erkauiiteu unlauteren Mittel, dcreu hieb Mainone bediente,
(Vorspiegelung eines Harnleidens etc.) andererseits durch die hypno-
tischen Manipulationen kfinstlieb unfähig gemacht, ihren, möglicher-
weise im normalen Dasein schwachen Willen frei zu betätigen, sittliche,
im gesunden Geisteslehen wirksame Grond^tze (z. B. diejenigen ihrer
fieligion) zur Geltung zu bringen, d. h. sich frdi zu entscheiden für
oder gegen die Vollziehung des Beischlafs.
Das Gutachten ist also dahin abzugeben: Carl Mainone hat die
durch ihre intellektuelle Widerstandsarmut und ihre völlige Unwissen-
heit in geschbrlitlirlien Idingen zur Verführung und Suggerierung
prädestinierte Maria J{. mittels livpnntisrher ^lanipnlationen in einen
tiefen schlat'arti^en Zustand ¥t r>>eizt, durcii welchen iliro freie VVillens-
betätiguug, die Möglichkeit, Widerstand lu Icisleu, völlif^ aulgehohen
wurde. In diesem Zustande künstlich hervorgerufener Wiiienslosigkeit
hat er sein Opfer geschlechtlich mißbraucht.
Urteil: Die Geschworenen bejahten die erste auf tätliche
Beleidigung lautende Hauptfrage (§ 185 des B.-St-G.-B.s), verneinten
dagegen die sämtlichen anderen Haupt- und Nebeulragen, betreffend
den Mißbrauch der Maria R. zum außerehelichen Beischlafe in einem
willenlosen Zustande (g 176 Abs. 9) oder nach VersetzuDg derselben
in einen willenlosen Zustand zum Zwecke des geschlechtlichen Miß-
brauchs 177).
Der Angeklagte wurde zu 18 Monaten Geßuignis sowie in die
Kosten des Verfahrens verurteilt.
T. Schreack-Notting, ätadien. 11
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162
IV, Der FaU Mmnone.
Schluß be merkungen.
lu dem vorstehend kurz geschilderten Prozess Mainone wurde
meines Wissens zum erstenmal nach dem Fall Czyuski (L894) den
deutschen Geschworenen die Frage der hypuotisdheii Willensberaubung
zum Zwecke eines sexuellen Attentats vorgelegt. Obwohl die Beweift-
aufnähme in dem Kölner FaU lückenlos erschien, obwohl far einen
freien Willen oder for ein Einverständnis der Maria B. mit den Mani-
pulationen des Mainone sich keine Anhaltspunkte finden ließen, konnten
die Geschworenen dennoch nicht genügciu] ihs rzeugt werden von einem
Verbrechen gegen 176, Ahs. 2, resp. § 177 des R.-St.-(i.-B.s.
Der Gerichtshof teilte oflcnhar die Mrinini? <]? r GesTliworenen
nicht, vielmehr schi*'n er d^n Fehler derselben durch ein reichltchf^.
man kann sagen, abuortii hohes StraiausmaB korrigieron zu \v(*llen.
Ihuu das Strafrnaximum lür Beleidigung durch Tätlichkeit ist zwei
Jahre Geliinguis.
Die Erwägungen, welche die Geschworenen zu einer Freisprechung
gegenüber der Frage § 176 Abs. 2 veranlaßten, sind schwer zu ver^
stehen. Allerdings hatte die Zeugin am 11. Dezember nach Vornahme
der Defloration einen Kuß von dem Angeklagten erhalten, als sie aus
dem Schlaf erwachte. Trotz ihrer Unwissenheit und Beschränktheit
mußte sie in dem Kuß eine Unziemlichkeit erblicken, für welche jeder
Vorwaud fehlte, auch wenn sie den Vorspiet^ehiimi n des Mainone im
übrigen Glauben geschenkt liätto. Nichtsdestoweniger schwieg sie
ihrer Schwester gegenüber und bot dem Angeklagten noch ein zweites
]\Ial G( logeiihrit, seine geschlechtlichen Neigungen an ihr zu befriedigen.
f>( mnach ist es verständlich, wenn mair Fall 8 f;im IM. Dezember)
ausscheidet, da inuuerhin die Möglichkeit einer schweigenden passiven
Zustimmung ans dem ^ eilialten der Maria abgeleitet werden könnte,
d. h. von einlachen Laieu, denen das Wesen der posthypnotischen
Einflußnahme auf das Verhalten des Opfers sehwer begreiflich gemadit
werden kann.
Dagegen ist die Frei^rechung von der Tat am 11. Dezember
fast unglaublich. Entweder scheuten die Geschworenen davor zurttck,
die fr^e der hypnotischen Willenlosigkeit prinzipiell zu entscheiden
oder aber sie erblickten in einer wesentlich auf die Aussage und Kr^
inuerungen der Geschädigten sich stützenden Anklage keine hinreichende
Beweisführung , um eine schwere Zuchthausstrafe eventuell Ins zu 10
Jahren oder 15 .fahren (§ 1771 verantwort(»n m können. Indem sie
den sich ilmen bietenden Ausweg der Bejahung der ersten ächuldlrage
IV. Der Fall Mainoue.
163
(tätUohe BeleidigoDg) ergriffen, mögen sie darch die müdere Anf&sstmg
geleitet sein, daß das genannte rechtswidrige Verhalten der An*
geklagten durch eine höhere Bestrafong fUr Punkt 1 hinreichend ge-
sühnt sei.
Damit entzogen sie sieh in geschickter Weise der Beantwortung
mehrerer juristisch interessanter Fragen, so z. B. derjenigen, ob eine
hypnotisierte Frauensperson eine hinreichende Zeugin für ihren eigenen
Zustand ist, ferner, ob rlip hypnotische VVillenlosigkeit eino Wiljpn-
losif^keit nach jeder Kichtuiij; durstellt, wie sie da«? Ot'st t/ vnraus^ietzt,
oder aber ol> die Willoulosigkrit nur p;f'^eu dru Hypuotiseur existiert.
Beide Fälli' wären denkbar, und auch für dm Sachverständigen
düilte es hierbei schwer sein, eine sich lediglich aui 1 atsachen, nicht
auf bloße subjektive Auffassung stützendo Unterscheidung zu treffen.
Endlich mösron die Geschworenen den personlichen Eindruck ge-
wonnen haben, daß eine 20jährige, weün iiuch schwach begabte
Frauensperson, wie Maria R., die nachträglich iu der Voruntersuchung
und Hauptrerhandlung ihre Angaben in geordneter zusammenhangender
Weise ohne Widerspruch vorzubringen mißte, auch trotz ihrer Un-
kenntnis der geschlechtlichen Vorgänge das Unziemliche oder wenigstens
AuffSUige der sexuellen Manipulationen des Angeklagten am 10. De*
zember hätte erkennen können. Sie sprach aber weder mit ihrer
Schwester darüber, noch zog sio dii'selbe bei Fortsetzung des Verfahrens
als Zeugin bei. Aus dieser möglicherweise von Neugier und sexu«'ller
Errpfjnng begleiteten Passivität dos Opfers ließe sich vielleicht eine
Art schw.ieher Wülensbetätigung, ein gewisses unklares Entgegen,
kommen ableiten.
Nur so wird t\m dorn ( Jodankrn{»atv?p prfiktif?ch denkender Männer
des Volkes hieraus ' ine I leurtrihiii^: d« s 'ratbcsiaiidcs bf^rreifüch. die
sich mit der Bejahung lier ^erinffsteii Schuhllragr* be^^uügte und den
Angeklagten vor einer schwtMüii Zuchthausstrafe bewahrte.
Vom juristischrn Standpunkte aus hätte mau mit Hücksieht auf
die Durchl'ülirharkeit der Anklage vor einem Geschworene ngericht auf
Frage I (tätliche Beleidigunsr^ Vt rziehr leisten, dagegen die drei reehts-
widrigen Handlungen als eine am lU. vorbereitete, am 11. Dezember
perfekt gewordene und am 13. Dezember fortgesetzte Straftat dar*
stellen können. Auch die für den Angeklagten wohlwollendste Auf-
£u8ung wäre trotz des oben erwähnten passiven Verhaltens der R. kaum
im Stande gewesen, hieraus eine förmlidie Einwilligung zu dem ihr bis
dato ganz unbekannten sexuellen Eingriff des Angeklagten Mainone
abzuleiten. In diesem Sinne hätte sich die Handlung des Mainone als
11*
164
IV. Der Fdl Mainone.
ein fortgesetztos Verhrechen der Notzucht (i; 177 des R.-St.-G.-B.s)
durtrestellt (Eiubcitüflikcit des Entschlusses, ersichtlu-h aus der Vor-
spiegelung der HeüuDg lu 5 — 6 Sitzungt n. Iiitjutität des verletzten
Rechtsgutes: Geschlechtsehre der Zeugiu, Gleichheit der verwendeten
Mittel) dargestellt Die Tat vom 10. Dezember war bereits ein Ver-
sach| mindestens aber eiue Vorbereitungshandluug, die üaudluugeu am
11. und 13. Tollendete Verbrechen. Allerdings war auch in der flanpt*
Verhandlung die Frage auf Verletzung des § 177 gestellt» aber eist,
nachdem die Handlungen am 10. Dezember fttr den Tatbestand einer
tätlichen Beleidigung in Anspruch genommen waren (erentuette doppelte
Bestrafung fHi dieselbe Handlung).
Wie Ton juristischer Seite bemerkt wird, empfahl sich fUrsoi^lich
auch die Stellung einer Hauptfrage auf Körperverletzung (§ 9S3). Der
Tatbestand derselben (Zerstörung der Jungfemhaut unter starkem
Schmerzgefilhl) wäre ebenfalls vorhanden gewesen. Der Strafrahmen
dieses Paragraphen ist um 1 Jahr weiter der des § 185.
Die Anklage hätte sich mit ^ 177 (Notzucht» efentuell an einer
zu diesem Zweck in einen willenlosen Zustand versetzten Person) und
eventuell mit § 223 (Körperverletzung) begnügen können ohne Zurück-
gehen auf die § 17f), Ziffer 2 ffniBprchplichcn Brischlaf mit einer im
willenlosen Zustande behudlicheu J^Vauenspersou) oder § 185 (tätliche
Beleidigung).
Mit dieser Anklagepolitik wäre wahrscheinlich ein höheres Straf-
maß erzielt worden.
Vom .StHiidpunkt der forensischen Psyehiatrie betrachtet, ohne
Rücksicht auf die Aiiwendiin«T der Hi '-ltt^formeo und die aus rein
praktischen Krwii^niiigeii getrotrtjuü Hntj?«heidiing der Geschworenen
bietet der Fall Mainimo ein typisches, man kann sagm klassisches Bei-
spiel für dcü gesciilecLtlicheu Miß brauch einer Hypuutisierten. Hätte
der Angeklagte jene unter dem Yorwaude ärztlicher Behandlung am
10. Dezemher an der ausgeübten sexuelloi Manipulationen ohne An-
wendung der Hypnose vorgenommen, so wäre auch zweifellos dadurch
der Tatbestand einer tatlichen Beleidigung gegeben gewesen.
Der springende Punkt für die Beurteilung des Prozesses ist aber
jedenfalls die Frage» ob überhaupt die Hypnose angewendet wurde oder
nicht. Wenn die Verteidigung auch in einem vierstündigen Plaidoyer
mit großem Geschick sich gegen den Mißbrauch der Hypnose aus-
sprach, 80 bleiben doch bei dieser Auffassung mehrere Punkte un-
erklärli( h. so das Zugeständnis des Mainone au Müselcr. daß er die
Maria B. hypnotisiert habe; femer das ganze Verhalten derK selbsti
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IV. Der F&U Hainone.
166
ihr gestörtes psychisches Gleichgewicht nach den Sitznngen, welches
mehrere Wochen andauerte und von nnfthhän^if^en Zeuc^on heobnchtot
wurde. T'nd ist es überhaupt denkbar, daß eine so weni/; iutelligeute
beschränkte Person, wie die R. ein Bild von den psychischen Er-
scheinungen der Hypnose auf Grund von Selbstbeobachtung entrollen
könnte, welches in allen Zügen richtig ist, zu dessen Darstellung ein
Simulant sich eingehende Spezialkeuuinisse über die hypuotischeu Er-
sdieimmgen zuvor venchaffen müßte! Ist es denkbar, daß sie wäh-
rend der VonmteisachuDg, der ärztliehen Emninft, und auch in der
Hanptrerbandlnng alle fieteüigten, ihre Umgebung ebensowohl wie die
Ante, Sachverst&ndigeo und lÜohter fortgesetzt su täuschen TermSehte,
ohne sieh jemals in Widerspräche zu Terwickehi! Eine solche Vorans-
setsong scheint nach der ganzen Sachlage unhaltbar zu sein!
Werde Dun aber von Mainone die Hypnose überhaupt angewendet,
dann diente sie sicherlich seinen rechtswidrigen Absichten, indem sie
das Opfer betäubte und künstlich des freien. Willens beraubte. War
die Patientin schon hypnotisch willenlos im Augenblicke der ersten
sexuellen Manipulation am 10., dann war sie es mit absoluter Sicher-
heit auch bei der Defloration am 11. Dezember! Dann erklärt sich
auch zwanglos , warum sie erst nach der zweiten Entehrung ihrer
Schwester Mitteiluiif; maelite, warum sie den KuH nicht als Heh idigung
empfand! Sie war eben auch während des Wachseins iu den Zwischen-
pausen unter dem suggestiven Bann ihres in derselben Wohnung bo-
findlichen H y])notiseurs ; ihre HemmungsvorsJlelluugeu wareu einge-
schränkt und kamen erst nach dem zweiten Geschlechtsverkehr wieder
zur Geltung! Trotz des schmbaren Wachseins lebte ue wie im
Taumel, und die klare Selbsterkenntnis trug erst am 13. über die
mächtigen suggestiven und sexuellen Einwirkungen ihres Verfuhren
den Sieg davon.
Vom logischen Standpunkt aus ist also mit der Bejahung der
ersten Schuldfrage auch die Bejahung der zweiten Sohuldfrage (Ver-
brechen gegen § 176 Abs. 2) gegeben. Das Strafmaß wäre wohl kaum
so hoch bemessen worden, wenn die Bichter nicht auch fttr die Frage I
die künstliche Willensberaubung durch hypnotische Einwirkung mit-
berflcksichtigt hätten.
•s
Uber die rechtswidrigen Absichten des Mainone, bei denen jeden-
falls der Mißbrauch der hjpnot^chen Suggestion eine mehr oder
minder große, nachträglich schwer festzustellende Rolle gespielt hat,
kann also nach den vorstehenden Darlegungen kaum ein Zweifel ob-
walten. Der Fall Mainone lehrt von neuem, daß die für Urteile der
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166
IV. Der B»U Mainou«.
GeschworeDengerichte oft genug aJJeia maßgebeuden praktischen Er-
wägungoQ des sogeuaniiteii gesandan HensdMmTentaiideB in direktem
logischen Widersi^ch stehen Iconnen mit den feineren Bechtsbegriffen
der Gteaetseskonde und forensen P^chologie. Ein Kollegium juristisch
gebildeter Richter hätte nach den grarierenden Umständen der ge-
BchÜderten Sachlage den Angeklagten gewiß nicht von dem Verbrechen
g^en § 176 Abs. 2 freigesprochen.
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V.
Eine Freisprechung naeh dem Tode.')
Gutach teo
über
deu Li eiateazustand des am 17. .M.ii 1900 verstorbeuen Postexpeditors W.
(i^ugg^^riuruug eines Morphinomaueu.^
Am 27. Juüi 1899 wurde der Postexpeditor Johann W. durch
die Strafkammer des k. Laodgerichts St. für schuldig erklärt eines
Vergehens im Amte und zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaton
und arht Tagen, sowie zu den Kosten des Strafverfahrens inid des
StratvollzujTcs vcrurtrilt. W. hatte, wie durch oijic Kassenvisitation
am 10. April und durch das Hniiptvcrfahreii »rwieseii wurde, der
Ämtskasse ungefähr 900 Mark entnommen zur Begleichung von Privat-
verbindlichkeiten.
Auf Gruud ärztlicher Zeugnisse wurde die Vollstreckung der Ge*
fänguisstrafe zweimal verschoben, das erste Hai bis zum L Februar
1900, das zweite Mal bis zum 1. April IdOO. Schon am 17. Mai 1900
verstarb Johann W. infolge der Erkrankung, welche den Strafauf-
schub veranlaßte.
Obwohl der Verurteilte schon vor der Zeit jenes Vergehens und
wahrsi'lieinlich auch zur Zeit der inkriminierten Handlung in einer
Weis« erkrankt war, daß seine freie Willensbestimmuug hätte in Zweifel
gezog» n werden können, wurde dennoch die Beiziehuog ärztlicher Sach-
verständiger zur Haupt\ crliniidliuief unterlassen.
Durch die Vertcidii^aiiig zur iiuchträi^liclien Alfi^nbe eines (4ut-
achtens über deu Geisteszustand des W . zur Zeit der Tut aulgelordurt,
betiiidet nicli der Sachverständige in ähnlicher Lage, wio bei Beur-
teilung eines zweifelhaften Zustandes geistiger Integrität zur Zeit einer
1) Archiv für KniuioaUnthropologie. Bd. YIU, S. 177.
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168
y. Eine freUprechaog nmdh dem Tode.
Ttstameütgerrichtung nach bereits erfolgtem Tode des Testators. Em
solcher Fall stellt also prinzipiell für das Gesetz kein norum dar.
Allerdings kann sich ein solches Gutaditen bei der ünmöglichkdt der
persönlichen Untersachnng des Verurteilten lediglich auf Aussagen
und Wahrnehmungen stützen, weldie von den behandehiden Arsten,
▼on der Gattin und anderen Personen im Verkehr mit dem W* ge-
macht worden sind. Der Wert eines solche Benrteiluugsniat«'ri:ils
würde erst durch die eidliche Zeugenvemehmnng der beteiligten Per-
sonen seine richtige Bedeutung erhalten.
Tiiflessen bestoht für dm Referenten keiuerlei Veranlassung, die
Glaubwürdigkeit der diesem Gutachten v.n Grunde gelegten Berichte,
zumal dieselben sich gegenseitig er^iiinzeu, zu bezweifeln. Es darf
hiernach schon im voraus bemerkt werden, daß A\ . an chronischem
Mor|)liinismns litt. Die neuere gerichtliche Psychopathologie stellt die
Forderung, daß jeder dem AlorphiummiÜbraucb ergebene Augeschuldigte
auf seinen Greisteszustand hin untersucht werde (TergL Kr äff t-
Ebing: Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie, 3. Auflage.
1900. 9. 268). Die damaU unterlassene Begutachtung muß nun nach
dem Tode des Beschuldigten so weit als möglich nachgeholt werden.
Den vorstehenden Ausführungen sind zu Grunde gelegt: 1. Ab-
BchriftUche Notizen aus den Akten, welche von der Verteidigung
eingesendet wurden : 2. Die schriftliche und mündliche Aussage der
"Witwe W., Gattin des Verstorbenen (Besuch der Frau W. im Februar
r.tOo): :], Zwei ärztliche Zeugnisse vom Bezirksar/t Dr. H. in A. und
vom Bezirksarzt Dr. K. in L. ; i. Die briet'liehen Antworten dieser
beideu Arzte auf die über den Geisteszustand des W. vom Gutachter
gestellten Fragen,
Hiernach ergibt sich folgendos Gesaratbild :
W. starb 55 Jahre alt. Seine Mutter erlag einer Tuberkulose, als
W. 12 Jahre alt war. Der Vater beendete sein Dasein 60 — 70 Jahre
alt. Zwei Vatersgeschwister sollen nach Angabe der FrauW. geistes-
gestört gewesen sein. Vatersmutter soll ebenfalls an Geisteskrankheit
gelitten haben. Ein Bruder W.s starb 20 Jahre alt an Tuberkulose.
^Vie Frau W. bekundet, ist der pensionierte k. Oberanitsrichter K. in
£. in der Lage, über die Familienverhältnisse und erbUche Belastung
des W. Angaben zu macheu. W. heiratete seine Frau nach einem
17jährigeo Verhältnis im Alter von 52 Jahren. Vnn 4 Kindern, die
dieser Verbiiiiluiif^ entsprangen, leben zwei. W. machte im 2'>. Lebens-
jahre den l'\ l(l/ui: l '^T"?! mit und soll nach Aussage seiner Frau seit
dieser Ztnt herz- und uierenleideud gewesen sein. Wenigstens wurde
er seit dieser Zeit ärztlich behandelt,
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V. SÜD« F^eiiprechiing Dtxh dem Tod«.
Wie Frau W. und Dr. E. uiuibhäiij^it: von ••inunder mitteilen, i;riti'
Patient 1897 zur Tiiiideninp: seiner Kranklieitss\ mj)tome zum Morphium
und ergab sich seitdem voilkoimiitn Hnu Mißbrauch dieses Giftes.
Schon zur Zeit seiner Eheschließung war er so h'idend, daß er an den
Tod dachte nnd daß die kirchliche Trauung verschoben werden mußte.
Nach seinem Ableben sollten die Kmder wenigntens seinen Namen
tragen 1 Dieses Motiv veranlaBte den Patienten zur Heirat.
Nach den Schilderungen der Ärzte litt W. schon mehrere Jahre
▼or der ihm zur Last gelegten Handlung an chronischer, fettiger Ent-
artung von Herz und Leber mit konsekntiTer Wassersucht und chro-
nischem Darmkatarrh. Hiergegen wurden zur Linderung Morphium-
und Atherinjektionen angewendet. 3Iit der Entwicklung des Leidens
steigerten sich auch die nervösen Symptome des Patienten in Form
von Kopftlrnrk. hoehfjradiger Reizbarkeit, hypochondri.srhen Errcp^nnps-
zust.-inden und cifif-r völlif^en Veränderuiifj des Charakters, so daß er
zur nuiclitührung einer MorphiumabstiueniÄ nicht mehr föhig war.
Zu (iiefjpn sclion vor dem April 1900 von den ArztHii festge-
stellten Ivrauklieitss) inptumeu trat die tiefe physische uad psychische
Degeneration des Horphiummißbrauches , welcher Patient allmählich
ganz Terfallen war. W. spritzte sich, wie Dr. E. bemerkt, täglich
mehrmals ein, um seine Unruhe zu bemeistem. „Er, der energievoUe
Hann, ließ sich** — so föhrt E. in seinem Bericht fort, — j,$B,nz von
seiner Frau beherrsebeo. Er wurde zaghaft, unentschlossen,
zeigte zunehmende Gedächtnisschwürho . war unpünktlich, nachlässig
im Dienst, vernachlässigte sich in der Kleidung, kannte den Wert
(It s Geldes nicht mehr; femer ließ er sich von allen Leuten
3tl»'(likanit iitc kommen, um sio wrt^/nwerten : it war hald heiter. Iioff-
nuugsvoll. wninte ff wie ein Kind, lii'irte undi iiianchinal Stinimeu.
AuRerdrni scl/Ae er nicht seken den Austaud bei stite, urinierte in meiner
(le^'euwart ; endlieh klagt«« er über Verwirrtheit, Sausen im Kopf und
ich war bestanilig iu Angst, er könne einen Selbstmord begehen."
Am 18. März, also gerade 3 Wodien vor der Kassenvisitation
hidt Dr. E. wegen des bedenklichen Zustandes, in dem W. sich be-
fand, mit Dr. H. ein Konsilinm. Sein Morphiumrerbrauch war so
groß durch die häufigen, nicht mehr kontrollierten Injektionen, die
er sieh selbst machte, daß Dr. E. kein Rezept mehr schreiben wollte
und au Friiu die Frage richtete, ob ihr Jlann sich vergiften wolle.
Dr. E. schließt seine AnsitÜlmngen mit den Worten : „W, war
1) Ebenao erklärt Dr. R., LaDdgericht««rxt in L., drr den Postexpcditor W.
nach seiner Verurteilang vom .lahre 1899 \>h /u iucin im 3Iai 1900 erfolgten
Tode behandelte, denselben für dicie g«nze Zeiti>enodo als unxureehnnni^Brdhtg.
i^'iyui^uu Ly VjOOQle
170
V. £iDe f reispreehung nach dem Tode.
damals nicht nur körperlich. soiultTn auch geistig krank, sciu psy-
chischer ZusiiiuJ war autangs April ein getrübter."
Als Zeugen für die Richtigkeit dieser AufsteliuDgen benennt Dr. £.
den Postboten B., der oftmals wachen mußte.
In demselben Sinne spricht sich der zweite Arjct Dr. H. aus, so
daß seine Angaben den Bericht des Dr. '^E. xu einem Gesamtbilde
ergänzen. Von den typischen Symptomen der Horphinomanie beob-
achtete Dr. H. fol^ciidc Erscheinungen bei AV. : Willeusscbwächey be-
einträchtigte rrteilstuhigkeity l'iu ntschiossenlieit, hochgradige Er-
inneruDgsscbwäcbe und Unztiverlässigkeit. leichte BeoiDtiuIiharkeit im
Geldausg^chen. ausnrepnip^te Nei«rnng zu impulsiven Handlungen. Wider-
standslüsigkeit fielen iiiiHer»' l'>indrücke, peinliclii' Si-lilal'lusi^^keit, Stiui-
mungsanomaiien, dehrÖse Zustiiiule, Apathie, similo^t* Haudiungeu, tiefe
Bewußtseinsstörungen. H. hält W. /iitweise tür völlig unzurech-
nungsfähig uud nimmt lür deu Anlang April liJOO das Bestehen
einer geminderten Zurechnungslähigkeit au.
Die Uittcilnngen der Witwe W. bestätigen und ergänzen die ein*
zelnen Beobachtungen der behandelnden Arzte und erscheinen daher
glaubhaft. Hiemach soll W. seit dem Jahre 1898 mindesteos 40 Narben
an beiden Armen gehabt haben, die zum Teil eiterten, als Folge der
Injektionen. Frau W. konstatierte ebenfalls die erwähnte Selbstmord-
neigung ihres Gatten, ferner Depressiuuszustände, Weinkrämpr- tihne
äußere Veranlassnog. Oft gab der Kranke irre, unzaaanunenhängende
Antworten in scheinbar wachem Zustande, Er halluzinierte, fühlte
sich vorfoljjt und sprach mit den Plmtocrrnphion. die an der Wand
hiiiL'' ii. I-'r li.»rtc birii auslachen i ' i rhiWshalluzmatiun i uud Ijezog das
aul die i'diträt-' au der Waud : mau mußte die Bilder unuli ehrn. so
daß die Riicks>eite zum Vorschein kam. Außerdem liürte er Kanonou-
gerassel; ferner will Frau W. Zeuge von Fieberaufälleu ihres Maunes
gewesen sein. Stundenlang soll W. apathisch und stumpf Tor sich
hingestiert haben. Daneben Neigung zu impulsiTen Handtungen und
Affekten. So warf er ihr an tbrem Geburtstage einen Wasserkrug
nach. Als Bismarck starb, war er, wie Frau W. deponierte, nfSß^
weg'*, behauptete, daß es Krieg gäbe, und ließ alle Telegraphen-
apparate herrichten, ein Feldbett aufstellen, um auf alles vorbereitet
zu sein.
Auch seine ethischen Gefühle stumpften j;ich nach und nach ab.
Obwohl er in gesunden Tagen mir Liebe an seinen Kindern hinj:^,
wurden die^e ihm im Foitffange seines geistigen V'erlailes gauz gluich-
gUltig. Scldielilich duilte das jüngste Kind nicht einmal mehr in
seiner Gegenwart essen, sondern mußte vor den Alahkeiten in der
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V. Eine Preisprechung nach dem Tode.
171
Küche speisen. Gewisse Kinbildun^m hflicrrschten ihn zwangsartig;
so saß er z. B. sluiKlcnlaiif; solclien Eingebungen folgend auf dem
^Nachtstuhl. Ebenso iichwüchie sich auch sein Gedüchtuis. Er fand
die Sachen des tUglichen Gebrauches, seine Akten u. s. w. nicht mehr,
obwohl sie neben ihm lagen. Auch der Zeitsinn schwand» so daß er
schließlich oft nicht wußte, ob Tag oder Nacht sei.
Hit dem ateigenden Mangel des Orientierungsrermdgens, dem Nach-
laß der ethischen und intellektaellea Funktionen ging die zunehmende
Unfähigkeit, seinen Berufspflichten nachzukommen. Oft mußte man
ihn vom Bureau in seine Privatwohnung bringen, und schließlich
wurde eine Verbindung der Die&strüunie mit dem Krankenzimmer
durch ein Sprachrolir hergestellt, so daß Patient im Bette arbeiten
konnte. Nach Angabe seiner Frnn war W. mehrere Momite vor der
inkriminierten Handlung nicht mehr im stände, seine Abrechnungen
richtifj abzuschließen. 8ie srlbst mußte ihm helfen oder zu diesem
Zwioke Pui^ttjehiiieu herbeiholen. Als Zeugon tut Bestätigung der
Tatsache benennt Frnn AV. die Gehilfen .lakub und Ernst K., von
denen der letztere noch m L. bedienstet ist. Ebenso hatte VV, einen
Aufzug, mit dem die Akten ins Krankenzimmer und zurück befördert
wurden. Nur mit Hilfe dieser Einrichtungen und seiner Erau gelang
es ihm, den Anforderungen des Dienstes notdürftig nachzukommen.
Er wurde auch allmählich unreinlicher, wollte keine Wäsche mehr
wechseln. Mit Geld konnte er erfahrungsgemäß nicht umgehen und
Terlor bei der zunehmenden Geistesschwäche auch hierfür das Vei^
stäudnis immer mehr. Daher verwaltete Frau W. die Einkünfte.
Energie und Willenskraft und selbständige Urteilstahi;;keit schwanden
80 völlig, daß Patient „wie weiches Wachs in der Hand seiner
Gattin** wurde, die mit ihm machen konnte, was sie wolltf.
Die vorstehenden, nab<*zu erdrückenden BewcismuiiKiiti' /lif^en
mit /w in^jcnder TiOgik. dali W. schon melircre Monate vor tler in-
kriminierten Handlung sich in einem Zustande tiefster mora-
lischer Haltlosigkeit und totaler Zerrüttung der Geistes-
kräfte bt'l'and, wie vr die notwendige Folge des mehrjährigen
Horphiumahusus darstellt. Wenn auch Stunden und Tage soheinbwer
Buhe und relativer geistiger Luzidität mit Zuständen vollkommenen
Irreseins, totaler Bewußtseinstrübung gewechselt haben m5gen, so darf
doch nicht vergessen werden, daß auch in den Stunden relatiTer
Besserung und scheinbarer Klarheit die psychischen Grundlagen des
gesamten Charakters, seines Denkens und Wollens durch die chronische
Morphiumintoxikation derartig gesi h Idigt waren, daß von einer recht-
lichen Verantwortung nicht mehr die Bede sein konnte.
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178
V. Eine Freiiprediniig nabh dem Tode.
Unter den Symptomen dpr Morphinomanie ist besouders charak-
teristisch die fast bei allen ^lorphinisten zu beol »achtende Schlaffheit
und Willenschwäche. Ihre sittliche Widerstandski au ist gebrochen,
resp. erloschen. Diese Erschemung war bei W. nach Angabe des
Dr. E. und aemer Gattin in so hohem Qrade Torhanden, daß er ein
willenloses Werkzeug in den Händen seiner Frau geworden war.
Nun ve^egenwartige man sich in BerCicksichtiguDg dieses Punktes
die liotiTe niid Ursachen, welche zn dem Eingriffe in die Amtskasse
geführt haben.
Die materiellen Verhältnisse der Ebelente waren, wenn auch das
Kranksein ihnen teuer genug zu stehen kam, geordnete. 700 Mark
steckten in dem Geschäfte d^r Frau W., 600 Mark waren alsKeserve«
fonds hei Kechtsanwalt S. zur Zeit der Tat dt pouiert.
Die schwere Erkrankun;^' leaselte den W. ans Zimmer und Bett,
jedenfalls fehlte die Anregung, größere Summen zu seinem Verernügen
auszugeben, vollständig. Bei dem V erhör gab er au, die der Amts-
kasse entnommenen 900 Mark zur Sicherung seiner Kaution verwendet
zu haben, d. h. um seine Obligation bei Bankler H. auszuldsen!
Dieser Verpflichtung konnte er aneh ohne Eingriff in die Postkasse
nachkommen, wenn er seiner Frm anvertraut hätte, daß er in früheren,
gesunden Tagen seine Kantktn Terp^det und das emp&ngene Geld
Terbraucht habet Über die Motive, welche ihn von einer derartigen
einfachen Lösung der Angelegenheit abgehalten haben, lauen sich
höchstens Vermutungen aufstellen. Aber wahrscheinlich waren auch
diese Motive ein Produkt snine« krankliafton Denkens, wodurch ihm
die Möglichkeit cim r klaren Überlegung getrübt wurde. Er sah nur
das Nächstliegende, 8rham und Furcht vor seiner Frau beeinflußten
vielleicht, wie bei solcher psychischer Degeneration erklärlich, seine
Hamllungeil stärker, als logische Erwägungen.
Frau W. drängte aber immer wieder iu ihren kranken Mann,
sich seine Kaution von der Post zurQckzahlen zu lassen. So trieb
sie ihn, ohne zu wissen, was sie tat» in sein Unglück. So wurde er
das Opfer einer absichtslosen, unbewußten Suggerierung
von Miten seiner eigenen Gattin. Er war das blinde, automatische
"Werkzeug ihres Willens und wollte i\ tout prix sich Ruhe vor ihren
quälenden Fragen Schäften. Offenbar war W. intellektuell bereits
durch die psychische Erkrankung soweit geschwächt, daß er, unfähig
7MT Bildung normaler sittlichf r (irt,'t*nvorstellun;?en , sich nicht mehr
aus iVriem Willen für BcLrehuiiu' (mUm- l uterla'^suntj: der Tat entscheiden
konnte. Er wurde d;is ( )j>t'er eines iinpulsiven Antriebe.';, den er aus
krankhaften Ursachen nicht mehr zu beherrschen im stände war.
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V. Eia« FreiBpredniDg nmä. dem Tode.
173
Sowohl fler gesamte Geisteszustaud des W. im Anfange April
1900, wie die ganze Art der Ausführung des Vergehens, liesouders
die un/.ulä.ngliche Motorierung desselben, sprechen gegen eiae £reie
W illen sbeslimmuiig des Inkulpaten bei Begehung der Tat.
In Berücksichtigung der vorstehenden Darlegungen ist das Gut-
achten in folgender Weise zusamtuenzufasseu:
W. endLeint als ein erblich belasteter Nearopatb mit
schweren körperlichen En tartungs zuständen von selten des
Herzens nod der Leber. Außerdem litt er mehrere Jahre Tor der
Tat nnd znr Zeit der Strafbandlung an Morphinomanie, die hei
seiner konstitutionellen Schwäche in besonders schwerer Form zum
Ausbruch kam und eine andauerode Charakter-, WiUens- und Denk-
schwäche hervorrief.
W. befand sich also zur Zeit der Begehung der ihm zur Last
gelegten Handlung in einem Zustande krankhafter Störung
der Geistestätigkeit, durch welche seine freie Willensbe-
stim muug ausgeschlossen war.
Infolge der gerichtlichen Verurteilung des W. wurde derselbe im
Diszipliiiarveriahreji seines Amtes entsetzt und verlor damit für sich
und seine Gattin das Recht zum Bezug einer Pension, resp. eines
Witwengehaltes durch den Staat Dieser Umstand und der Wunsch,
den Makel zu löschen, welchen die Verurteilung des Terstorbeneo W.
auf seine Familie geheftet hatte, Teranlaßten die hinterbliebene Witwe,
die Wicdeianfnahme des Verfahrens durch den Bechtsanwalt Bernstein
in München anzustreben. Dieser ttberwies dem Verfasser das Akten-
material zur Ausarbeitung des vorstehend mitgeteilten Gutachtens.
Auf Grund desselben beschloß das Gericht, dem Antrage auf Wieder-
aufnahme des Verfahrens Folge zu sehen, vern.'ihm di<' in dem Gut-
achten namhaft gemachten Arzte, Krankenwärter u. s. w, al-> Z-Mit'en
und ließ darauf den N erfasser auf sein Gutarliten vereuligeu. Die
Depositionen der Zeugen wichen in keinem wesentlichen Punkte von
dem lüLaltu des Gutachtens ah.
Das Urteil des Gerichts in zweiter Instanz lautete auf Frei-
sprechung und hob die frühere Enfsobeidnng des Landgerichts in
St Tom Juni 1899 auf.
Die Folge dieses Rechtspruches muß Annullierung der auf dis-
ziplinarem Wege erfolgten Amtsenthebung und Auszahlung des
Witwengehaltes an die hinterbliebene Gattin des Verstorbenen sein.
Da eine Freisprechung post mortem in den juristischen Annalen
7u den Seltenheiten zählt, so dürfte der vorstehend geschilderte Fall
immerhin einiges Interesse beanspruchen.
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über sexuelle Abstinenz.
Die Frage ob völlige geschlechtliche Eothaltsamkeit ▼Olk noimAlen
geschlechtsreifeo Mäuneni ohne Schaden für die Geatiiidheit durchgeführt
werden kann, ist neuerdings durch den Aufruf einer Anzahl deutscher
XJniversitätslehrer an die studierende Jugend wieder in den Vordergrund
des Interesses getreten. Zahlreiche namhafte Forscher, so die englischen
Gelehrten A sto n,') Beall,*) Paget,'*) G o wers,*) ferner Iii h hing ^)
Rulenburg") stehen auf dem Standpunkte, daß mau durch sexaelle
Abstinenz hei sonst vernünftiger Lebt'nswfisp keine nprvjispn oder
nenras'tKenischen Hrsclieinungen prworbcn kimne. Rfiiiior") hrhauptet
sogar in diesi iu Sinuc : Nicht (.iiinKil der Scluitten eines lieweises liegt
dafür vor. diiii ein nervöser M« ii^ch durch sittonroinfs Leben (d. h.
durch völlige Abstinenz vom Geschlechtsverkehr) etwa nerven- oder
gemütslcidend wird. Anderer Ansicht sind: v. Krafft-Ebing,^)
Tarnowsky/) Rohleder,'") Siebert,»') Pürbringer,»-) Gyur-
1) Aston: Oo the reprodactive Organa. Ged. London.
2\ Uiiilv: Our morality niul the nioral question. London 1887.
Hl Paget: Citieit Ix-i R.>al<>.
4) G Overs: Loudon Laucct 1889, 16. Febr. S. 316.
6) Ribbing: Sexnelt« Hygiene und ihre ethischen KoQwqaeoseD.
6) Siebert: Sexuelle Uoral und sexuelle Hygiene. Frankfure 1901. (Joh. Ali.)
S. 164 fr.
7) KTMuer: Die Sitteureiohi.'it vor dem Hichlerstuhl der ärztU Autoritüt.
Berlin 18U2.
8) T. Krafft- Ebing: Jahrb. ffir Psychiatrie VIII 1 u. 2.
91 Tnriiowsky: Pnistitution und AliolHionistnus.
lOi K o h 1 e (I (. r : «st urbation. lierün liKtt. (2. Aufl.)
11 j JSiebert; lue. eil.
12) Fflrbringor: Die Störungen der Geschlechtafunhtionen des Hannea.
Wien 1901.
VI. über sexuelle ALsliiicuz.
175
koTechky*) und Verfasser*). Nach ihrer Meinung aiiid Kraft
und Inteusität de» GescMeohtstriehes ebenso wie die moralische und
physische Individualität, b* i verschiedenen Menschen äußerst m&nmg-
faltig; allerdinf!;> sind Rohleder"') und Fürbringer*) gegen die
Aneinpfi hlimp; des anneieliplichen (Ie<?chb*chts Verkehrs, v. Krafft-
Ebiug'') wnr einer der ersten welcher nachwies, daß als Folc;e der
Untertlriirkuni,' clups der mächtigsten Triebe fin allgemeiner nervöser
Erregm);,'s/.ustand eintreten könne. Auch nueii G v u rk o v ech ky ®)
kann eine ubermäßige Enthallsamkeit den Körper und die sexuelle
Kraft schädigen. Xuch Tarnowsky*) wird geschlechtliche Ent-
haltnog von dem einem dank- den angeborenen Eigenschaften gut-
vertragen, während ein anderer dadurch veranlaßt wird, Befriedigung
der ihn verzehrenden Glut in weiblicher Umarmung su suchen oder
Sinnestäuschungen, wie denjenigen des heiligen Antonius oder dämono-
manischen Halluzinationen unterliegt^ oder endlich durch Onanismus
unrettbar I?) 711 n runde geht.
Wie von mir au anderer Stelle *) ausgeführt wurde, l)esit7,on die
wenigsten Menschen die Willensstärke, in dem Kampfe /wischen Sinn-
lichkeit und Verminf't Sieircr rn blfihen: die überwiegende Mebr/ahl
l?»'rät. wenn die tiele.t:«'nli< it zu normalmi Verkehr Jiiehl geboten ist
od* r \\ ( III) dersell)e aus priii/.ipiellt ii (iriiiuleii verniiedeu wird, auf den
Ab\ieg der Selbstbefriedigung oder perverser BetUtigung des Gcschlechts-
dranges ; er wählt also, wenn ein unehelicher, aber normaler Verkehr
als ein Übel bezeichnet werden darf, von zwei Übeln das größere.
Bei den großen Meinungsverschiedenheiten, welche heute noch
über die BVage der sexuellen Abstinenz in den Kreisen der Fach-
gelehrten herrscht, ist es angezeigt, solche Fälle zu publizieren, in
denen sich scliiidliche Folgen für das Nervensystem aus der Abstinenz
entwickelt haben. Das war der Grund für die Mitteilung der nach-
folgenden zwei Beobachtungen. In dem ersten Falle handelt es sich
um eine in einer jungen Ehe fast ein .Talir licstchnide psychische Im-
potenz als Folge prinzipieller Abstinenz vor der Ehe. Patient wurde
1] f! yu r k o V c 0 hk \ : IniiKttm?:. Wien 1889.
- Sn<.'L"^tion.sihorai)i(' loi- rit.
Hj Kohl, der: „Masturbtttiou". lioilin 11)02. (2. lieft.)
4) Fürbringer: Di« StÖnmfren der GescUeehtsfunktionen des Mannes.
Wien \m.
b) V. K; it'tr.E!)inp: Jahrb. lär Pi^chiatrie VIJU 1 u. 2.
ti) Uyur kovcchky: loc, cit..
7) Tarnowsky: Prostitution and Abolitionismos.
8) Suggestionstherapie loc. dt.
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176
VL Über BemieÜe Abstinent.
inzwischen durch den Verfasser frebpüt und Vater eines Kindes. In
dem zweiten Falle treten als Folge einer 20 Jahre konsequent durch-
geführten sexuellen Abstinenz anfallsweiser Priapismus amatorius, Zu-
stände sexueller Hyperästhesie mu unlrei willigen .Sauieiieigießuugeu
am Tage ein; die Erscheinungen hatten sich seit 9 Jahren langsam
entwickelt und in letzterer Zeit ble zur UnertrSglichkeit gesteigert
Beobachtung 1: Psychische Impotenz in der £he.
A., Gelehrter, 8ß Jahre alt. Seit 8 Monaten Tcrheiratet. Vater 62 Jahre
alter hrrzkrankor Diabetiker. Mutd r miniia]. Vatorsvater und Vatersschwoster
, herzleidLiiiI, 4 pi smuli' (l. sili\\ isti r. Iiis auf leichte Anfälle von Podagra völlig
gesuud. Gemtulieu normal, krallig entwickelt (ohoe Phimosis).
Keine Onanie weder als Knabe noch ala Student. Dagegen regelniällige
nSehtliehe Pollotionen. In der Zeit (l(>r Pubertät schwhrraerische Knnbenfreund«
Schäften und Noicfung, Kameraden beim Buflrm zu li- oliacht*-n. Die iial'ere An-
regung, weibliche nackte Körper zu sehen, und die Höglichkett , irgend welche
Erfahrungen auf heteroaezuellem Gebiet so «mmmeln, fehlte vüUig ; daher spielten
die Vontelhingen nadcter Knabenkörper bei den TraumpoUiitionen eine gewiase
Rull<-, wechselten aber später, namentlich vor und in der Ehe, mit heterosexuelloQ
Bildern. Dil die Neigungen des I^nti» hIcti nach der homosexuellen Kichtung nie
weiter gingen, iiiugcgcu ein lebhalle» Verlangen nach normalem Geschlechtsver-
kehr und wirkliche Liebe aar Gattin (einer hflbachen temperaroentTolleo, 22jährigen
Dame) denselben TOlHg beherrschten, so kann der Patient nicht als konträr sexaal
erachtet werden. Streng moralische und n Iit;ii"st^ Cnnidsätze hielten ihn* von
jeher ab, den auCerehelicheu (ieschlechtsverkehr ?u versuchen, trotz normal ent-
wickelter Libido, häufigen 31orgenerektionen und regelmiilligen Pollutionen.
Keine nervtiseti. neura«thenisehen oder psychopathischen Heschwerden. Patient ist
tüchtig im Beruf. tAwio aus'j-c^jprnchf^np Symptnnio i rblirlior Belastung.
Obwohl nun die (iattin an Liebkosungen und Umarmungen nichts unversucht
lieO, obwohl beim Patienten die libido scxualis völlig cutwickelt ist, leidet der-
selbe an Impotenz aus psychischer Ursache (Mangel an Erfahrung); alle die sah!»
reichen in den 8 Monaten vorgenommenen I?('isr]ilaf\ ersuche blieben resultatlos.
Di»' (»attin ist heute virifo und Patient 1cid« t an Iiis ji i/.t nicht jri hfilter psychischer
Impotenz. Nach den Antccedentien des.selbeu kann es gar keinem Zweifel unter-
liegen, daß diese Impotenz lediglich als Folge der konsequent bis aur Ehe
durchgeführten Abstinenz aufzufassen ist. Der Fall bietet eine gfinstige
Prognose für die psychotherapeutische Behandlung.
Beobachtung S: Sexuelle Hyperästhesie mit
Priapismus amatorius.
36 Jahre alter unverheirateter Beamter. Vater starb 69 .Jahre alt au Caxci-
nom, Mutter an Magenleiden. Schwester leidet an erworbener Geisteskrankheit, •
4 gesunde Geschwister. Patient ist völlig normal, von robustem Korperbau mit
ausgesprochener Entwicklung der männlichen Sexualcharaktere. Onanierte mäßig
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VI. Ober sexuelle Abetioens.
177
bis zum 16. Loltffisjahr. wunio datiiuls ühcr Hio Fnlt'^ti iI«ts*»Uk<ii Im-IcIu". uud blieb
bis heute (also 2i) Jahre hindurchj aus luoralischeu Orundon abstinent. Gclügeut-
Kch yerliebte er sicli, ohne üeh su erklKren und litt unter den seelischen Auf*
regungen. K. ist eine vollkonmieu inTiiKilt" lVrs<">nliehkeit von kräftiger, blut«
rciilu r Kunstitiitiuti : ii; Trifhlchon hrMiml- r^ das (Jeschleohtsgcfülil lebhaft ent-
wickelt. Oenitalien wohl ausgebildet. Ehrgeizig uud eifrig im Beruf ist er bis
jetzt seinem Grundsätze, keusch io die Ehe zu treten, treu geblieben, obwohl er
seit etwa 10 Jahren unter der Heftigkeit seiner sexuellen Erregungen seelisch
leidet und zeitweise d.ulnrch vollkommen arbeitsunfähig wird. Während der Arbeit
(am Schreibtisch) wirii i r (iurdi 7.\vaiig«jartig auftreteiidt Krektifnen und sexuelle
Phaiitasieu gepeinigt. Die Erektionen sind in der letzten Zeit verlmndeu mit
konvulsivischen schmerdiaften Krämpfen der Muskeln des Dammes und der Schwell*
köi pc I . l)!(>sr schon seit t) Jahren andauernden und vergeblich mit allen mög«
liehen hydrotheraiieutisohen , diiitiscli»'!! um! iin iiikain' iitiix'n Kiirm Vk käinpftnn
Anfälle treten in letzter Zeit reaelinüßig luit groüer Heltigki-it während d«'r Arbeit
auf, SU daü ii. auUer stände ist, mehrere Stunden ununterbrochen am Schreibtisch
za sitsen. In seinem Berufsleben glaubt er dadurch so sehr geschSdigt zu
sein, daU er um etwa 2 Jahre gegenüber seinen gesunden Kollegen zurückgeblieben
ist. Es fällt ihm immer schworer. seine Aufmerksamkeit von d< n si xucllt ti Vor-
gängen iu seinem Körper abzulenken. IVblcu aller üoustigen nervösen oder
neurasthenisehen S> niptome. Er sagt selbst aber diese AufSUc: „9* 4 Jahre lang,
eine Zeit furchtliarer «;> srjjli chtlicher Erregungen, die mir oft den To«l als
wiiii.'^t'henswert erschein«'ii lii'lH'H. uml (]!>' icli imt X;k'.i'iii. Alk^ilm! mni T^^''Ii£^ioIl
bekämpfte. Ab und zu übermannte mich die He>;ier uwi ii Ii land durch Pollutionen
infolge von Berührungen au Kellnerinnen (Uäudedruck, Pressen der Arme in
offentlieken Lokalen, ohne je den Beischlaf auszuüben) einige Erleichterung, erkauft
durch bitterst(> Heue. Über die Schlafpollutionen fahrte ich 4- .'> .Tuhre lang
Buch. Danach hnite ich nüe 3 — 4 Tage eine sulch««. Im Aii!:»u.st löW waren die
Aufälle eines Tages so stark, »ial{ ich wachend ohne Anwesenheit eines Weibe»
«ine unfreiwillige Pollution hatte. Für Frauenspersonen ungemein empfänglich.
Schon der Anblick eines Bildes mit weiblichen Figuren regt uüch auf. In jeder
LaiTf beim Strhnü. rrflv n. Sitzen. Lieireii. licim Arb' !(• ii. Kssen, Kühen, zu jeder
Tages- und Nachtzeit quälen mich die Zuckungen. .Teuer Arger, jede JliUstimmuug
ruft diese Anfälle herror; ebenso schon der bloUe (icdaukc, au eine schwierige
Arbeit heranzutreten.**
Die häutigen Pollutionen wirken auf da.s Allgemeinberuiden des Patienten
•chwächetid und beeinträchtigen ihrerseits die Arbeitsfähigkeit nrx h n . hr.
Es unterliegt keinem Zweifel, dali die hier gesuhilderten Symptome sexueller
Hyperästhesie lediglich die Folge der mit rücksichtsloser Energie 30 Jahre konsequent
durchgeführten geschlechtlichen Abstinenz darstellen.
Tr.-t:^ seiner quälenden Beschwerden kann Piit-fMit sich nicht zum auCer-
ehelichen < »eschlechtsvorkehr verstehen. Es wird daher bahlige Eheschließung
angeraten. Die sofort eingeleitete psychotherapeulischo Behandlung (^hypnotischer
Suggestion, Katschläge pädagogischer Selbstbehandhing) hatte das günstige Resultat,
daB Patient vom Tage der Kur un von den .\nfällen vorschont Idieb. Indessen
bleibt der weitere F.i foljr nl.;'in\ «rten. Inzwischen ist ein .Inhr vorstrichen.
Seltene schwächere Kückfäile bei konstanter Einhaltung der Abstinenz. Patient
beabsichtigte zu heiraten und dürfte durch die Ehe völlig geheilt werden.
T. Sebrenck-Netzing, Studien. 12
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178
YL Über •exuelle Abstinent.
Die beiden hier erwähnten Fälle sind durch das Fehlen irgend
welcher anderweitiger Störungen im Gebiete des centralen nnd spinalen
Nervensystems iiiltressaLit. Trotz der htiredititreu Aiitecedentieu in
den beiden FamiUen lassen sich bei beiden Personen keine Stigmata
erblicher Belastung nachweiaen, so daß man wohl berechtigt ist,
im aUgemeinen die beiden Abstinenten ak normale Individuen sn
bezeichnen.
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4
VII.
Ein experiiueiit^'Hor uuü kritiselier Eeiti as: zur f i'age
der foiggestiTen Hervomiftang cirenm^kiipter Taso-
motoriiächer Terändemngeii auf der Saferen Hanf)
Eine Physiologie der suggestiven Erschpiminfj;en hat mit der für
unsere »Sinne zugänglichen, ti. h. objektiven Feststellung anatoEiischer
Eti'ekte zu beginnen, die mit Ausschluß andersartiger F^inwirkungen
allein durch psychische Erregung zu stände gekuuinieu siud. Wenn
die Tatsache der Abhängigkeit sämtlicher KörperfuDktionen vom Ge-
hirn und der gegenseitigo fiinfliiB dieser beiden wichtigen GxQJBen anf
einander im allgemeinen keinem Zweifel unterliegen kann, so muß es
doch die Aufgabe der Forschung sein, diese Beziehungen dem Ex--
periment zugftoglicb zu machen. Mit dem Gelinge solcher Versuche
gewinnt die suggestive Therapie eioe unumstöBliche Basis. Das Ex-
periment der Blasenbildung durch Suggestion bezeichnet, wie Beannis
mit Recht bemerkt, einen Markstein in der Gi sehicbte des künstlichen
Somnambulismus. Hinlänglich bekannt ist die Bedeutung fördernder
und hemmender cerebraler und spinaler Centren für die Blutzirkulation
bestimmter durch ih»-»' funktionelle Sf^lbständigkeit abgegrenzter Teile
und Organe des KuijuT.'?; so die rit /iclnuit,' der Vorstt llungen zu den
Ersclifinuiigen de» Errötens (Schamrote i. der Er» l<tioii, der Men-
struation ete. Wenn nun auch ein Zusamnienliung jeih r. auch der
kleinsten Zelle unseres (Organismus mit dem Centralorgau postuliert
werden muß, so ist doch im Vergleich zu jenen einer b^timmteo
Arbeitsleistung dienenden ineinandergreifenden ilechanismen des Körpers
1) Aus der „ZeiUchrift für Hypaotismus «tc.« Bd. IV S. 215.
12*
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180 VII. UervorrufuDg circumakripter Tuomotorischer Veräaderuagea etc.
uüd Gelums au den durch saggestireD Yorstellungsreiz augeblich auf
der ftaßeren Haut hervorgebrachten Erythemen, entzflndlichen Ödemen
und Yedkationen neu, die willkürlich Torgezeiebnete Abgrenzung Ton
den Nachbartefleti, oli^leich diese von denselben Nerven und Geflißen
versorgt werden. Ist es überhaupt miigtich, daß die centrifngalen
Neurokyme bei entsprechender Stärke — unter sorgfältli^etn Ausschluß
jeder äußeren Eiowirkung auf der Haut — ganz beliebige circumskripte
Partien der Epidermis zur Kongestion und Kntzüudung bringen können?
Nach den in der Literatur mitgeteilten und weiter unten berück-
sichtigten Verbuchen. L i e b e a ul t * s . K r ;i t'ft - E b i n ' s . Forel's
u. a. könnte mau grueigt seiu, diese Fraj^e zu bejaht-n! Aber einer-
seits wurden in der Reprcl Hysterische als W-rsuchsobjektr angewendet,
andf-rersfiis ist die Zahl derartiger wirklich einwandfreier B<'f)ba( htuiigen
eiue zu geringe und die Möglichkeit der Selbsttäuschung gerade in
diesem Falle besonders naheliegend. Um so mehr erscheint es als eine
Pflicht der sich mit Suggestion beschäftigenden Kollegen, jeden Fall
sogenannter Stigmatisation auf das Sorgfältigste nachzuprüfen und
darüber tu referieren. Erwägungen dieser Art führten auch zur An-
stellung jener Versuche, die in nachfolgender Krankengeschichte be«
richtet sind. In positiver und negativer Beziehung bietet dieselbe
manche Anregung für den Fachmann, so daß ihre Wiedergabe in
dieser Sammlung zweckmäßig erscheint.
Die Yenuehsperson Eva St., Of«naot2erstochter, ist ab Kochin bedienitet
in Aschaffenban? boi dem praki, Arzte Dr. Fla eh, der in dankenswerter Weise
dit' Aiiretriinir vm ili ii Kxiierinjeiiten gal) und uurli für liu' vjcitni- U< isi A-r St.
UÄch Müaclieu Soi-gc trug. AuUer ihrem Brotherrn untersuchten dieselbe iolgendc
Ärzte: Dr. GoOmann, Frauenant, Dr. Uirschbergerf Augenarzt, Dr. Kaller,
Nervenarzt und Verfaaser diese« Berichte«; die vier genanntoa Ärzte sind aamtlieh
in München. Das Resultat ihrer von einander unabhiingigeii Beobachtungen ist
Folgendes :
Eva St., 20jähng. krultig gebaut, siumnii von eiucr Mutter, die an Cnrciuuma
veDtrie9)i starb. Vater und vier Geschwister lebend und gesund. Menses traten
mit 15 Jahren ein, sind 4tagig, mitunter schinerxhui't. Vor 9 Jahren überstand
die St. Blinddurnifiifzündiing. Der pyniikolociseln H'-riclit des Herrn Dr. (JdÜ-
luaxiQ lautet: ^Scheide gut durdigäugig, Corvi.x kuuiscli. Gebüriuutterkürper iu
steiler KetroTrrsion, die binanucll leicht zu korrigieren ist, Parametrien frei,
Eierstöcke beide gut an normaler Stelle taatbar. Dagegen kann die Patientin in
aiifn cliter Stellung tien Urin nieli; li.ilvn. Boi näherer Hesiohtigiing jindet niau
die Harnröhre bis zur Fmgerdureli-.ii ^iijkeit erweitert, die Khtoris in der Glari.s
und dem Präputium gespalten, dalt uiuu ^iwisehen den beiden Hälften gut ciueu
Finger einlegen kann ; die Spaltung geht vom Hons veueris in einer Flucht bis in
<lie Harnröhre hinein, ein seltener Fall von weiblicher Epispadie. WieWohl Schott
ein vergeblicher < >|»eration.sver.sneh gemacht w urde, wäre ein weiterer operativer
Knignti zur Beseitiguug der lustigeu lukoiitintMU entäckiedeu augezeigt.
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V'II. Uervorrufuug circuuiskripter vasomotorischer Vcräudcruugeu etc.
Von sciton dos Herzens, der Ltinfifoii und des Darmes liegen keinerlei
Stiirun^eii vor. Schluf >fu( (ohne sjumtane»! StiTrinnnihtilisnius). Das Mädchen ist
vüllstäudig berufsftthig. Die Hautdecken prall elastisch, stellenweise derb, Schmerz*,
Bertthrungt- und Tempenttoremfifindung zeifj^en irots genauer Prttfong nieht*
P»tholupisches. Dapepen besteht offenbar eine pesteiporte vtisomotoriRchc Erreg-
barkeit in «1er Epi^li-nnis: auf verhiiltiiisiuiißiLr siliw.uhf Reizunp iHerührunp orler
leichten Druck mit dem Finger, Streichen mii dem stumpfeo £ude eiuea Bleistifts)
tr«t nMsli wenig Sekunden devtUche Rötung der bernhrten Teile ein (ohne
SAwellnng). Die dynamonietriscli gemessene £nft der linken Hand betragt 46,
der rechten 65. In <len Armen leichter Tremor l>fmfrk-bar. der, wie i-s scheint, auf
die psychische Aufrejrnnp bei der Untersuchung zurüduuführen ist. Hysterische
Stigmata sind nicht nachzuweisen.
Aueh die Untertnchnng der Angen dnreh Herrn Dr. Hirsehberger ergab
einen völlig normalen Zustand beide r S* horpane. abgesehen von einer mäCigen
lTyp*>rfTie»r<>p(e (c. 1.5() Diopt. IkI^^. . I>ic f^röO'' der l'upillcn. ihrr Ii- aktions-
fühigkeit völlig normal, desgl. Sehscharfe, sowie Farben* und Lichtsinn. Daa
0encht«feld zeigt keinerlei EinsehrSnkang weder für Weiß noch für Blau oder
Rot. Augenhintergrund und Sehnervenpapille nurmal.
Das psychische Verhaltm dir Patientin, dii' nur ^.rliiicliti^rn Antworten cribt.
zeigt nichts Auffälliges, MiiUige intellektuelle Hegnbung. Doch machte die Art
ihres Sprechens und ihrer Ausdrucksbcwegungcu wohl den subjektiven Eindruck
anl den Autor, als ob eine Disposition sum spateren Eintritt hjrsterischer Symptome,
also ein hysterisches Temjierament bestünde.
Nach dem .Status praesens aber vom 6. Januar 1896 ist Patientin int ganzen
nicht als hysterisch xu be/eichnca.
»
Eva St. ist seit 5'/« Jahren bei Herrn Dr. Flach im Dienst, war wihrend
dies*'r Zeit nie - rnsllich krank, Sie ist nach «lern Bericht ihres Herrn gutmütig
und willig. Si' liatit (^ehceuheit im Hause des Arztes hypnotische Behandlang
der i'atieuten mit anzusehen.
Schon bei d«ni ersten Versuch vor 2*lt Jahren erwies si« sich als leicht hjp-
notisierbnr. In einem Bericht führt mm Dr. Flach fort:
..Damals gelang e« mir und dem lals Psychologen bekannten' Gymnnsiull' lirer
Dr. Offuer, mit einem kalten Schlüssel, der angeblich glühend gemacht war,
dnreh Berührung lim Halse für den nichsten Tag einen sichtbaren Fleck an er-
'/engen. An dem betreffenden Morgen war genau an der berührten Stelle ein
stricbförnutf. s Er ytl'.' m aufgetreten, das 3 Wochen sichtbar blieb und unter (d>er-
fllächlicher Abschilfernng der Epidermis heilte und gelang es uns wiederholt in
ca. 5 Minuten durch Berührung mit stumpfen üegensläuden Urticariaquaddcln
SU erzeugen. Eva litt spontan nie an Nesselsncht." Diese Berichte erklären sieh
durch die angioneurotische Keizbarkeit ihrer Haut, ohne daO dasu Suggerierung
nötig •."•w< «<'ii wäre.
in \ erbindung nun mit dem durchsein Werk „Uber die Trugwahruehmung"
in der Psychologie bekannten Herrn Parlsh setzte Dr. Flach die Versnehe fort
und wollte feststeilen, ob ohne gleichzeitigen Hantreizaaf einfache Verbalsuggcttion
drr«;i Iho Erfolg rinfr.te. _\ach energischer, lange und <.ff w i.ilrrlif^lt<»r Suggestion
von Seiten des Herrn Parish. die Hyjinotisiertc m<">ge zuerst lu-liigen Schmerz,
dann starkes und später leichtes Jucken an dem fraglichen Fleck verspüren; bis
cum nächsten Sorgen werde eine Blase entstehen, w^arde die gewählte Stelle
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189 'Vn. HeiTorruliaiig dreumakripter vHomotonidier Verinderungea ete.
am linkon Arniriickrn iihpr der Handwurzel mit einer Gazebindf 1)Ci1r->ckt. Am
folgeoden Morgen Uua sich wirklich genau in der gewünschten Ausdehnung eine
wMMwheUe Bbuw Ton der Gröfi« eiik«t Mariutfleke«, omIx auOen langebeo ron
«inem toharf bagreastea roten Hof.* (Sahere Angaben über die Kontrolle fehlen.)
DicMr Brfolg bewog die Experimentatoren, den Versuch unter strengeren
Katitclcn am 14. Oktober 1885 au wiederholen. Daa besUgUche Versuduprotokoll
lautet wie folgt:
▲schaffen bürg, Montag am 14. Oktober.
Anwesend: Edmund Parish, Dr. Ptaeh, Dr. Offner.
Um 4 Uhr 16 Min. wurde mit dem Yersuehe begonnen. Daa Versuchsobjekt,
welchem vor Beginn des Experimentes ein Thalerstück unter besonderem Hinweis
auf dessen Guil'x' gezeigt worden war, wurde auf ein Sopha gesetzt und konnte
sich bequem anlehnen.
Alsdann rief Herr Parish durch einfache Verbalsuggestion in etwa 1—2 Min.
tiefen Schlaf hervor. In diesem Zustand wurde dem Versuchsobjekt auf der
ObiTScitc (Ii s linki ti l'nt crarnins untrrhalli <Ies Elllioy^onpcli-iikcs zwei breite, über
1 cm hohe Wattebauschen in einer gegenseitigen Entfernung von gut 2'/* cm
aulgoh'gt und mit Kollodium befestigt. P. suggerierte nun, dali die zwischen den
Bauschen freigelassene Stelle sehr krank sei and nur geheilt werden fcSnne, wenn
sie mit einem Thermokautergebliise — ein Instrument, dessen Handhabung das
Versnchsobjokt rltirdi sciiio Hilf<-lfistuiig bei Behandlung von Patienten cur (j^nüge
kennen geiemi iiatte — genügend ausgebrannt würde.
Das Thermokautergebfise wurde nun unter leichtem Drflcken der Oummi-
blase in die Nähe der durch Worte genau bezeichneten Stelle g>'ha1ton, jedoch
ohne die Haut mir im geringsten zu berühren. Dabfi suggerierte V. fortwährend
lebhaften Brandschuierz. Ea erfolgten häuhg schmerzhafte Reaktionen mit zu«
nehmender Heftigkeit, weldie aehliettlidi au ausgesprochener HyperSsthesie de«
gansen linken Unterarmes fUirten. Nachdem neben der Suggestion kraftigen
Brennens und hefti-^eii .hiekens auch wiederholt lebhaftes un«l ständigfes Daran-
denkeu für Abend und Nacht und für den anderen (rechten) Arm hinderndes
Stechen, falls er nach der juckeuden Stelle greifen sollte, suggeriert worden war,
wurde Aber die Wattebaoseiien ein kriftiges Pappedaeh gelegt, so daß die
„kranke" Hautstelle von jeder Berührung oder Reibung absolut frei bleiben mulite.
Darüber befestijTte F. wieder Watte mit Kollodium, wickelte einen langen Verband-
atreiten darum, band das Ganze zuaamiueu und siegelte schließlich mit dem Fet«
Bchaft des Herrn Parish über den Knoten ein Papierblatt rierfaeh an, sowie' die
heraushängenden finden nochmal: über das Qonae worden dann kreuz und quer
Heftpflaster «>ele)Tt und scblicßlieh auch auf diese noch ein Siegel gedrü kt Nach
Wiederholung der Befehle weckte mau das Versuchsobjekt, dem zum iSckluU noch
in üblicher Weise Wohlbefinden suggeriert war, um 4 Uhr 55 3Iio.
Dr. Flach revidierte nun Abends 8 Uhr am 14. Z. den Verband und fsnd
das Ganze intakt und keinerlei Veränderung. „Eva klagte über Schmerzen und
starkes Jucken. In der Xacht träumte sie viel und zwar elnnial. dali sie am
Anue gebraunt werde, sonst aber nach ihrer Aussage nur Angenehmes. Doch
stöhnte sie die ganie Nacht hindurch. So oft sie mit ihrer rechten Hand nach
dem Verband fassen wollte, empfand sie einen Stich, der die Bewegung unmöglich
machte."
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Vn. HerYOrrafua^ circnmikripter y«soiiiotorifcher TerttoderungeD etc. 183
Der BefuDd bei Eroffnungr wird durch das noch folgende Protokoll wieder^
Bflgoben :
Dienstag, 15. Oktober 1895.
Anwesend: Prof. Dr. Dinfrlpr. T>r. Streiter, Dr. Fla eh und Dr. Offner.
Arn näclisten Tage Iii L'hr ^ Min. V. fanden sich die oben bezeichneten
Herren in der Wohnung des Dr. Flach ein. Nachdem das Versuchsobjekt wieder
io die Sophaecke gesetzt und durch ein pnar Worte des Dr. Flach in hjrpno«
* tischen Schlaf Tcrsetzt worden war, wurde der Verbund besichtigt.
Das Iftzte, oberste Siegel, sowie alles, wbü vi>ni Vorbanile sichtbar war, war
ToUküuimen intakt, ebensowenig zeigten die nächsten zwei Siegel auch nur die
geringsten Spuren irgend einer Verletiung. Angenehts der lebhaften SehmerB*
reaktioncn des V( rsiK-hsnbjektes and gegenüber der offensichtigen Unrerlctdichkeit
des übrigoii Vorbandes im p'anzen hielton die Anwesenden v'm weiteres lanp^amM
Lösen des Verbandes für überflüssig uud lieUeu Dr. Flach den durch das
Kollodium sehr starr gewordenen Verband bis auf die Wattebauschen mit der
Schere durchschneiden.
Zwischen den Wattebauschen erblickte man an der bezeichneten Stelle einen
stumpf und unregelmäßipr rechteckigen, peröteten Flecken, der über die Fläche
eines Thalers erheblich hinaufging und etwas unter die Bauschen sich erstreckte.
Die lÄnge — in der Bichtung de« Armes — betrug 5 cm, die Breite SVt bis 4 cm.
Das Erythem zeigte deutlich sahireiche Blasen von Terschiedener Ausdehnung;
eine davon hatte sogar etwas über ErbscnfjröÜe bei einer Höhe von 1 — 2 mm.
Wie die übrigen Blasen wur am gelblich gefärbt und um einer gelbiicheo, toIU
sündig durdisiohtigcn Flüssigkeit gefüllt. Die ErseheinoDg trug ganz den Charakter
von Pemphigus.
"Während der Abnahme des Verbandes und des Me-^^ens wunle ibm s> hr auf-
geregten Versuchsobjekt wiederholt Analgesie suggeriert, aber ohne dauernden
Erfolg. Besonders die Ablösung der durch das Kollodium festgehaltenen Verband-
teile rief oft lebhafte Zudmngen hervor. Nachdem der Befund von simtlichen
Anwesenden konstatiert war, suggeriert*' mun dein Versnchsobjekt nochmals Wohl'*
befinden und Schmcrzlosigkeit und lieU es nucli kurze Zeit im Schlafe.
Am 16. X. Eva ist ganz munter, klagt über geringe Empfindlichkeit der
heeiollnSten Stellen; glaubt , sie sei tou uns Terbrannt worden, gibt aber auf
Befragen an, sie habe sich in der Kfiehe Terbrannt. Sie verlangt in weinerlichem
Tone nach Herrn P a r i s h.
18. X. Herr Parish gibt ihr die Suggestion, nicht mehr an ihn zu denken.
Die Verbrennui^ sei mit siedendem Wasser geacheheOf wm de von jetct an glaubt.
Leises Jucken. Blasen am Vertrocknen.
BO. X. Die Wunden sind mit üintcrlassun;? roter dünn fiberhittteter Stdien
geheilt. Keinerlei Schmers oder Jucken mehr vorhanden.
Auf Anregung des VeriHMrs UUIt Herr Paris h die Somnambule nach
M4nehen kommen und hier wird suniohst jene körperliche Untersuchung vor*
genommen, dcri n Ergebnis oben uiit^n teilt ist. Ein neuer Versuch, organische
VerÜDdenint^'en durch Siiq-jj-pstion willkürlich hervf>r/urufou, wird in der Woiinuog
des ilerrn Parish am i. Januar lH\hi vorgeuommcu.
Anwesend sind folgende Personen: der Herr Parish, die Professoren der
Xediaini Dr. RSdinger, Dr. Clansner, Dr. Horits, die Nervenänte
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164 Vii. Uer?orriifaag circumskripier TaMmotomcIier Verinderungen etc.
Dr. Loweuf eld,Br.l[fill«r^ Dr. Höflmeyr, Dr. v.Schrenek-Notxing, der
Privatdoient Dr. Kopp, die Amte Dr. Hinde, Dr. Bil Hoger, Dr. Hirsoh-
berger, Dr. Albrtchf.
Uni n Vhr 45 Min. wird Eva St. von Parish hypnoti«irrt. Sii- ist imruliig,
fröstelt, Tremor in den Armen. Offenbare Aufregiiiijf. Die Hvpuoise aolcUe
macht nidit den Eiodrnek eines tiefen Sehlafinttandes, denn Et» öffnet wiederboli
die Augen, vrirft sich herum und ein UÜC den hypnotischen Erscheinungen nicht
genügend Vcrt rauf r-r künnto annehmen, sie »chlnfe ü>H'rliiia|it nicht, äie gibt
Antwort auf Fragen und steht iu keinem Isolierrapport mit Parisli.
Sie wird entkleidet. Prot Clan an er wischt ihren rechten Unterarm ab,
wahrend Parish lieiniiht ist. <]aro}i beruhigende Suggestionen die Aufmerksamkeit
der Somnimibiilr- !i!izulcnk< n. Die Ünterarmflächr wird mit gelbem und blauem
Reagenspupier berührt, um lestitustellen, ob irgend welche ätzende Medikamente
auf die Haut gebracht seien. Negatives Resultat. Die Haut ist ganz intakt. £■
wird nun von den Anwesenden etwa die Mitte awudien Handgelenk und Bllbogen-
^M'Ionk des rechten Armes auf der Dorsalaeite als Ort der zu suggerierenden Vesi-
kation gewühlt. Die Suggerierung wird in der Art rrm Hrrrn l'urish ausgeführt,
daß er mit einein einfachen GummibaUon die betr. Stelle anbläst und dabei die
YorsteUnng eintnredeu sucht, die Patientin werde mit einem glfihenden Gegen-
stand gebrannt, es werde Jucken, Schmers, Rötung und Bhwenbilduog an der,
betrefiendeo Stelle eintreten.
Um nun den betreflenden Hantfleek vor mechanischen Insulten zu seh&tsen,
war ein sattelnrtigcr Kasten konstruiert worden, wie ihn <]i>^ obige Figur veran-
schaulicht. Derselbe bestand ans drei im rechten ^N'inkil aneinanderpfefügten
Brettern und seine Höhlung war weit und bequem genug für den Unterarm der
Patientin. In das mittlere Stfiek war ein rundes Fenster eingeschaltet, dureb
welches man den Vorgang beobachten wollte.
Professor Clausner legte nun den weiter unten hei der Wf%'iiiihme penan
geschilderten Verband in der Weise an, daß zunächst die Haut mit Stücken von
Lackmuspapier bedeckt wurde. Nur der für die Stigmatisieruitg gewählte Haut-
besirk blieb frei und kam direkt unter dem Fenster des Kastens xu liegen. Der
übrige Hohlraum des Kastens wurde mit dicken "Wattebauschen ausgepolstert.
Das Gan^f> \vur(lr> mit Gazs lninii n befestigt. .Tcdoch werden mehrere Lnpcii Papier
in den Verband eingefügt ; das Papier wird sorgfältigst vorlier untersucht und
xeigt keinerlei Lücken oder Löcher. Rings um den Xastenrand laufen Papier-
sduchten, damit eine etwaige Durchbohrung mit Nadeln und dergl. sichtbar g»t
macht werileii k'"'>nn'-
Dos mittlere Kasteubrett mit dem Fenster stand auf der Dursalscite, die
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VII. HerroiTufung eireumskripter vasoraotomcher VeränderuDgen et«. 185
beideu Seitenbrettw waren auf der Hadial- utid Uluarscite c-äiigi>rügt. Jiaud uud
HandgeleDk waren ebenfalb mit eingebunden.
Die linke Hand wird andi in einen Verband von &ase mit Watte verpackt.
Alle woitercu den Verband botreflfeDden Angaben «nd am der Sduldening
,der Abtiahnu- dfsüclbr-n zu r-nlnehmen.
Jivu wird nun nach Beendigung des Verbandes von 7 Lhr 30 Min. an bis
Sur Abnahme denelben ohne Unterlaß Ten Arsten bewacht und war keinen
Augenblick allein im Zimmer.
Von > (8 Uhr an sind zu (!i('S( m Zwecke anwesend: Dr. Hinde, Dr. UiiHer,
Herr Sehttiauß und Hrrr Pürisli.
7 Lbr 4ä Min. Patn iitin waciit. Itliigt uhvr SciuiuTzen.
8 Uhr 5 Miu. hmer der Beobachter will durch das Fenster am oberen
rechten ncd unteren linken Rande je einen kleinen leicht gerdteten Fleck be-
merken, was ober von den anderen Beobachtern bestritten wird.
9 Uhr lö Min. Pationtin trink! eine Tasse Thee.
9 Uhr 30 Min. Die ^»li' ii L;( >i"hiI<I< rton 'jf-rfitoten Stollni zfifron sich als
Schattenbilder einiger Wassertroj»fen, die auf dem Ülase durch Wasserverduustung
▼on der Haut entstanden sind.
9 Uhr 33 Min. Parlsh suggeriert von neuem Schmenen und Blasenbildung.
10 Uhr lö Min. Eva wird unruhig, klagt und jammert über starkes Jucken
in dem rechten Unterarm und sucht mit dem linken Arm Kratzbewegungen su
machen.
10 Uhr 3U 3iin, Dr. Minde wird durch L)r. HirscLbergcr abgelost.
Eva ist sehr unruhig. Untersuchung tnit dem Sjtiegel ergibt, daK die Hautpartie
nirgends verändert ist.
1 Uhr 30 Min. Klagen Aber Jucken und Brennen. Der Verband «ier rechten
Hand hat sich durch Bewegungen der Patientin gelockert, so daß drei Finger
fast Irci üiod.
2 Uhr nachts: tleit 12 Uhr wesentlich ruhiger, klagt hin und wieder
über Judcen, Brennen und Schmers am rechten Arm unter dem Verband. Um
2 Uhr übernehmen die Kontrolle die Herren Dr. Albrecht und Stabsarst
Dr. ch ini d t.
2 Lhr 30 31in. Kva unruhiger. Durst. Trinkt eine Tasse Milch.
4 Uhr 40 Min. Seit länger als 1 Stunde schläft Eva ruhig und macht voll-
kommen den Eindruck einer im natürlichen tiefen Schlafe liegenden Person. Nur
stöhnt sie von Zeit /.u Zeit leise. AVach geworden behaui)tet sie. von Dr. Flach
gpfrfliiitit und ihm geklafft /u haben, daß sie Steh verbrannt hätte; er habe ihr
aber t;ts,agt. daß es wieder li- ili n würde.
5 Uhr 30 Min. Erneuerung der Suggestion durch Parish wie oben, schiäit
bis 6 Uhr 45 Min. Wacht auf, klagt, wie oben, Über Jucken und Brennen. Das
Glosfcnsti»' ist ganz von innen durch Wasserdampf beschlagen, so daO die Be-
obachtung unmöglich ist.
Upi 7 riir 15 Min. übcni'*hiHoti Herr Parish und Dr. Billinger die Wache.
8 Uhr. Frühstück. !>> i Sclinn iv. wird mehr auf der Innenseite de» Armes
lokalisiert. Bis Mittags nicbi» neues.
12 Uhr nimmt Eva Nahrung zu sich.
Um 1 Uhr Wache des caod. med. Anschüta.
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186 ^'U. Hervomifang cireuniskripter vMomotorwdier Vennderaagen et«.
Um 2 Uhr 20 Miu. 3Iitt-agessen. Patientin ist besorgt, es innchtc sich eiue
Bitte gebildet haben. Yerlangi Öffnung des Terbaades.
Um 5 Uhr, Starker SchweiC. Puls 102, Temperatur 37,4. Der Verband au
der linken Hand hat lich gelockert, so dafi die Finger au sehen sind.
6 Uhr 16 Min. Öff uuug des Verbandes durch Herru Professor Muri tz.
Anwesend sind die Herren Parish, Dr. Billinger, Dr. Minde, Dr. tod
Sehrenek-Notzing, Herr Anschütz.
Der Verband an der litikm Hand hat %ich derart gelockert, daß Daumen,
Zeige- und Mittelfinger herausgestreckt werden können.
Am Unken Unterarm, der noch die Sparen der früheren vernarbten Wunde
zeigt, der gestern zur Kontrolle ebenfidb angeblasen wurde, keine Verinderung.
„Der Verband am rochton Arm hat sich verschoben und gelockert, so
daC die fünf Finpor bis zum zweiten Gliede herausgestreckt werdfn könnoti. Der
Holzkasten mit dem anliegenden Verbände hat sich gegen die Hand zu und gegen
die Dorsalflioho des Unterarms etwas medialwSrts renchobeo. Durch diese Ver-
schiebung haben sich die Wattebauschen, wel^e in einem Abstand von 5 — 6 cm
das Versuchsfeld begrenzten, otwas ciiiatulfr genährt, bcsundors tltncli Herab-
rückea des ceutralwärts gelegenen Bausches. Das Uhrglas, welches in die Holz-
sdüene so eingefügt war, daO es nur nach unten entfernt werden konntai, ist un-
rerletzt nnd zeigt steh mit Waaaertropfen beschlagen. Der Verband wird geöffnet,
in(l<'!ii die Binden langsam ontfcrnt werdi-n. Dit YcrTniiul hrstf^lif nach außen
hin aus Stärkebinden, welche den Hokkasten und die zur Polsteruug dienende
Watte und iitu*) lixicren.
Der Hobfcasten war dnreh Lagen von Papier, welche teilweise auf ihm und
teilweise auf der Polsterung lagen, ganz bedeckt worden. Dieselben kommen naoh
Entfernung der Binden zum Vorschein. Dio frstc Papierlage, centrahvärts zum
geriugeu Teil auf der Dorsalseite, zum gröUeren auf der Kadialseite liegend, ist
unTCfindert Ein «weites Papier, welches nach der Hand zu li^end und zum
kleineren Teile die Radialseite und zum grötteren Teile die Volarseite bedeckt,
zeigt sich «»twas zrrknittert und eingerissen. Daß-ejTon iM'fnult t sich iti th-r Xühe
derjenigen Kante des Holzschirmes, welche nach der Volarseite gelegen ist. der
Lage des Daimiens entsprechend, eine stecknadelkopfgroße Perforationsöffuuug ; zu
bemerken ist, daß die Umgebung der Öffnung wenig serknittort ist, daO femer
eine derartige Perforation durch die Ecke des Kastens unmöglich erscheint. Son-
dern die Offnunp zeigt nach außen aufgeworfene Ränder, wie wenn sif» vfranlaCt
wäre durch ein perforierendes Instrument, das beim Zurückziehen jene Händer er-
seugt. In der folgenden Oasebindenlage ist ebenfalls eine der PapierSffnung ent-
sprechende Stelle zu bemerkt' II, in welcher die 3Iascheu der Gase erweitert sind,
wie es beim Durehstickcn tinrs Instnnnfnt«"? geschehen s< in könnte. Auch in
der nächsten Lage zeigt sich eine ähnliche weniger deutliche Erweiterung der
Maschen. Ein weiteres nicht mehr auf die Hand übergreifendes rolarwarts ge>
If^enes Papier ist gftnzlich unverletst, ebenso dasjenige Stttok, weldies die dorsal
gelegene Spalte zwischen Verband und Holzgehäuse bedeckt.
Den Ecken des Holzgehäuses entsprechend zeigen sich fi^tfijrp Flocken am
Papier (durch den Anstrich des Holzes erklärlich). Ein weiteres ceutralwärts ge-
legenes Papier ist unverletzt, ebenso das letzte centralwSrts dorsal liegende Stftck.
In den weiteren Oaselagon keine derart in-en Erweiterungen mehr zu kon-
statieren wie oben. Die seitlichen Bretter des Holskastens sind durch Feuchtigkeit
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VII. Hervorrufuug circuiuskripter vasomotorischer Verätidcrungeu etc. 187
'gequollen und tpringrn nach auUon konkav vor. Der Schirm wird ahgcnomaien
Qnd b«;rührt nirgends dir« Hiuit. An den nach d«>r Tlaiul zu fji'lpirenen Teilen
Wattebausche behnden sich obeo uud au den beiden Seiten uass« uud ge-
biiiaot« Stellen (»uf die Einvirkungf des Hobes surfidatuftthren). Die tiefen Legen
find davon ^i. Die weiteren Ligen des Verbandes die der ' ru iihiuoii Pcrrorfttion
entsprechen mfissen, /eicen keine derartigen Mffninic^en. Di'' Wattebausche tind
Stärkebindeo an der Haud werden cutferut. Am Kuckcu der Haml finden sich
M der ersten Lage des L«ekmuq>ftpiers Öffnungen von SteduMdeUcopfgrüße mit
nach nnfien aufgeworfenen Bindern. Zwei derselben entsprechen ebensoielien
Öffnungen (nher etwas mehr zerfetzt) anf der darunter gelegenen Stelle des
Papiers und zwar sowohl in dem hlawn wie in doni (larunter liependon gelben
Heagenspapier. Auf der weiteren Lage befindet sich keine Öffnung mehr.
Naeh vollstündiger Entfernung des Verbandes migt sieh swiscfaen mittlerem
und iinti rrm Drittel der Volarseite dea Unterarms eine «juergestellte 3 cni lange
und 2 cm breite abgegrenTit'' St pIIo von ovaler Form mit leicht gerötetem Kande,
dereu innere Partien weiUlich, wie leicht vcrschorft, ausseheu.
Die Öffnungen der Haarbilge treten sehr dentlieh leicht gerötet hervor.
Das ganze Bild erinnert an eine Verbrennung ersten Orades mit drohender Blfsen«
bUdung." (Soweit Prof. }l o r i t z.)
Entsprechend den Perforationsöffuungeo finden sich in der (tegend der
Danmenwursel dorsalwärt« uehrere gerötete Punkte auf der Haut, wie veranUOt
durch Nadelstiehe. Dr. t. Sehrenck findet neben dem Bett eine Hsamadel.
Ätif näheres Befragen der Herren, welche die Wache hielten, wurde konstatiert,
daß Eva den rechten Arm seitweise ührr ihren Knpf auf das Ki«»!»eri p»-lt^gl hatte
und überhaupt sehr viel mit ihren Annen sich bewegte. Uftenbar rühren jene
Perforationen von einer Hearnadel her, wobei es unentschieden bleibt, ob die
Haarnadel bei Berührung des Verbandes mit dem Ko^ lurällig sich • inpf Qte
(sehr unwahrscheinlich), od< r ob ratit ntin die freigewnrd»Mi»"M Fiiii,'LT di'r liiik<>n
Hand dazu benutzte, die Nadel durcluu^itechea und jene zwei sichtbaren Verände-
rungen Btif der Haut zu stände zu bringen.
Ks muß ferner betont werden, daß des Stigma auf der Volarseite^ — also
gcrad«' niif di r n i c h t dun h rii i Holzdecke geschützten Seite des Armes, — eintrat,
während es für die DorsalHache suggeriert war. Die Möglichkeit durch den Ver-
band hindurch in irgend einer Weise einen länger wirkenden Druck auf die Haut
ansgeSbt m haben vermittelst der anderen Hand, der Kastenecke oder durch
einen Teil des Bettgestells bleibt offen, und dann erscheint es noch fraglich, ob
auf derartige Heizung eine solche circtimikripte, entzündliche V< rauderung der
Haut entstehen kann — ohne Verletzung der darauf liegenden Papierscliicht.
Küttraueo erweckend ist die Hanipnlatiou mit der Haarnadel; daher konnte
nach dem ühcreinstimmendeii Urteil di r Tt ihu-hmer dieser deonoch immerhin
in Beini'in Kcsnltat in<M-kwiinllt,n' Versuch niclit als entscheidend angesehen werden.
Die scharf abgeränderte, in den oberHücblicheu Schichten infiltrierte und leicht
gesehwellte Hautpartie bestand noch am folgenden Tage und konnte mehreren
Qelehrten gezeigt werden. Sie verursachte scheinbar starkes Jucken und ich ver-
mute, (!aC Eva durch mechanische Heizuug, durch Reiben mit der linken Hand,
alles getan hat, um womöglich den entzündlichen Zustand noch zu steigern oder
ihn wenigstens auf dem Status quo so lange wie mügUch zu erhalten. Verfasset
war mehmmla Zeuge soldier Bestrebongen.
Das iweifelhafte Resultat des letzten Venuches bot die Veranlassung, das
188 VII. Herrorrufung circumikrtptcr TMomotoritdier Verinderuttifen ete.
Kx|iehui(*ut uuch fuiiiial iintor Änderung «ier VersuciubediDguugeu xu wieder-
holcD. Zur Erzielung eiues ciuwaadfreieii Kesultatea erscliien uns ein« Eimchrinkung
der Bewegtingimogliehkeit för die Arme, sowie ▼öUige Sicherung der gewiUton
Hautpartie vor incchaitisi-bcu Insulten notwendig zu sein. Auf den Vorschlag
d«"8 Vorfassf'rs wiirrN daht r für Anlppunt; f^inf^ ropuliiren (tipsvorbaiid- s ln .vrhlo'isrn.
Das ufue Exporinu'ut land am 11. Juuuur 1896 um 6Vt Uhr wjcdorum in der
Wohnung des in dieser Sache unennttdlichen und sehr entgegenkommenden Herrn
Parish statt.
Aiiwosond sind dir Herren: Professor Clausner, Prnfissor Moritz, Pro-
fessor Lipps. Dr. H i 1 1 i ng e r, Dr. A I b r e ch t , Dr. von Sehr cnck - Notxiug,
Parish, Schmauß, Anschütz, Jiusnir.
Der Ton den Anwesenden für den Ver»udi erwählte Haatheurk befindet ndi
auf der Volarseite des linken Unterarmes, 9 cm unterhalb der BUbogcnbeuga.
Dieselbe wird gewaschen. Hypnotisierang und Saggeriening durch Uenm Parieli,
wie oben.
Iii dem Augenblick, als der Verban«! angelegt «erden soll, benn tkt Dr. von
Schrenck'Kotzing einen roten Streifen iu der Nähe des linken Uan<lgelenks auf
der Volarseite. Dieser Streifen war kurssoTor oidbt vorhanden und ist offenbar durah
die Somnambule niechmii^. h hervorgerufen. Uberhaupt zeigt dieselbe die TendoM
mit i\fr rechten Ilarul an den linken Lnterarm zu urfifofi. woran sie gehindert
wird. Um die nuirkierlc SteUc legt Prof, Clausuer eine iTazebinde, auf denselben
wird mit Blaustift jener Fleck eingezeichnet, an welchem das Stigma zu stände
kommen soll.
K« erfnltjt nun Anlegunff des Gipsverbandes nm il> n linken in der Kllbogen-
bcuge fixierten Arm. Ders<'lbe uni.schließt die pun/.e linke Hund. <len ganzen
Unterarm und endigt erst in der Mitte des Oberarms. Während der Anlegung
des Verbandes Fortsetzung der Soggerierung. Laute Schmerseninßernngen der
Somnambulen. Ebenso wird die rechte Hand bis fiber das Handgelenk in Oipe gelegt.
In beiden Verbänden Ivefindet sich überall unter dem Gij^s eine Watteschicht.
Es erfolj;» nun die l ber^vni'huntr 'i' r P.itieiitin ilurch »iie m hon früher br-
teiligten J'ersüuc-u bis zur Eröffnung. Eva befand sich keinen Augenblick allein.
Wegen groOer motorisdier Unruhe wurde der in Gips gelegte Arm von den Wach-
habenden gehalten. Zunächst wachen abwechselnd Dr. Minde, Dr. Albreeht,
Au schütz. Parish. Gegen 10 Uhr fibernehmen Dr. Billinger und
Dr. Schmidt die Wjk'Iu'.
Patientin ist seitr erre(,>t, wimmert, gerät ullmählich io einen apathischen Zo-
stand und schläft erst ge{,'eu 2 Uhr nachts ein.
Nachts 3 Uhr 12 Min. wird Dr. Billinger durch Dr. Schmidt abgelost.
Eva liegt in tiefem Schlaf.
Um 7 Uhr 20 Min. am Xolgciideo Morgen nochmalige Wiederholung der
Suggeütiou durch Parish.
Patientin wimmert und bricht in Thranen aus.
Um 8 Uhr morgens fibernimmt Herr Anschatx die Wache. Schmers-
äuSerungen wie frfiher.
10 Uhr morgens. Überwachung durch Dr. Fogt. Puls 84— DO (mehrmals
gem<.*sseui. , ,
Um '6 Uhr 45 3Ii». AbloMing der Wache dordi Herrn Anschfitz.
W^eitere Mitteilungen aus dem Protokoll über Evas Xahlseiten und ihre
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VU. Hervomtfuiig cireuaskripter TMomotoriseher Veränderungen etc. 189
Wiedprlioltt n Sihninrzäußonnifjf n, sowio sor.stige belaiiglosi^ I)<"!nt>rkun«jtMi sind
liier mit Hinblick auf das Kesuttat des Versuches als überfiiissip wopfjelassen.
I , Um 6 ühr abeutis aui 17. Jauum* 1896 Erütfuuug des (jiipäverbaDdes durch
l^errn Prof. Glaamer.
Anwesend: Prof.Lipps, Prof. 31nritz, Prof. M u t h in a n n , Dr. AI b r echt ,
Dr. Skhmiilt. Dr. Billinper, Dr. Fogt. Dr. von SclireacIcNotzicg,
Dr. Mindc, sowie Parish, Rosncr und Auschütz.
Der Verband wird auf der Beugesette mit einer Schere angeschnitten. Die
eingelegten Pupienchichten zerreißen zum Teil beim AbnehueD des Verbandes an
der Di>i-snl>. ■!!<•.
Die Besichtiguug des Arme:$ ergibt ein völlig negatives Hesult«t.
Wenn berOcksichtigt wird, daß eine geregelte und zuverlässige
Kontrolle der Versochsperson bei dem in seinem Ergebnis allem An-
scheine nach klassisch gelungenem Ezpenment in Aschaffenburg während
der Entstehung des Stigmas nicht ausgeübt wurde, so ist doch die
Möglichkeit irgend einer mechanischen oder cht inischon Einwirkung
auf die Haut (z. B. mit einer durch den Verband eingestocheneu
längeren Nadel), nicht ausppsclilossen. Demnach kann auch der
AschafTenbnrger Versuch nicht als hinreichend beweiskräftig aogesehen
werden.
Gegen ein tadrllosfs Resultat htn Wiedcrlioluiii^ dieser H\perimeute
in München sprnl r. wie ^chon erwähnt, der 1' instand, daß die be-
schriebene entzüinlli« 1h- Veränderung auf der Haut nicht gemiili der
Suggestion auf der Dorsaltiäche, soudern an der relativ am wenigsten
^en äußere Einflüsse geschützten Volarseite entstand.
Zu diesen Bedenken kommt der TOilig negative Eriolg bei An-
wendung des Gipsverbandes und zuverlässiger ununterbrochener Kon-
trolle. Wenn aus diesen wenigen Beobachtungen ein Schluß gezogen
werden darf, so ist zuzugeben, daß die Chancen eines Erfolges in dem-
selben Grade abgenommen haben, indem die Versuchsanordnung strenger
wurde. Endlich ist aus unseren Erfahrungen zu erkennen . wie leicht
auch dieses Gebiet suggestiver Erscheinungen zu Selbsttäuschungen
führen kann. Das Bestreben, mechanisch auf die Haut einzuwirken,
um so das Resultat zu beschien nijjcn ofler ;\ tnut prix wenigstens mm
Scheine die Snjr;?estifm zu realiüieren. ist bei Eva kh\r bewiesen; erst
wenn durch eine neue durchaus einwandfreie und mit voller Ben'ick-
aichtigung uusert^T obigen Ertahrunjjen anirestellte Versuchsreihe ein
unzweideutiger Erfolg erzielt würde, könnte man wenigstens bei dieser
Versuchsperson die Frage der suggestiven Hervorrufung circumskripter
vasomotorischer Veränderungen auf der äußeren Haut zur Diskussion
Strien. Unsere in negativer Beziehung lehrreichen Erfahrungen zeigen,
daß man nicht skeptisch und vorsichtig genug sein kann bei allen Be-
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190 VIJ. Henrornifaiig cirenmikripter ▼«■oniotorMcher VeräDd«niDgeQ etc.
richten über X'rrsuche dieser Art; sie mögen die Anroj^ung bieten,
daß Forscher, dtmen geeignete Versuchsobjekte zur Vertü^niiig stehen,
diese wichtige Klasse vou Krscheinungen von lieiiem uachprüfeu, jedoch
mit Biniialtimg der strengsten ECautelen (am besten Gipsverband und
nxumterbrocheae Beaufsichtigung durch Arzte).
An dieser Stelle dürften einige Bemerkungen xweclon&Big ^-
«chetnen über die bis jetKt in der Literatur bekannten Fälle soge-
nannter Stigmatisation.
Schon Hack-Tucke*) macht anf die mögliche Mitwirkuüg mecha-
nischer Reizniii,' dn- Huut bei Besprechung der Blutungen Louise Lateaus
aufinerksam. £r sagt darüber: ,.Ein nervöses Mädchen befindet sich
in einem seit lange vorbereiteten Zustande des l>eständigeu Ven^eilcns
bei einer Gruppe von Tdi^on und zwar solcher, welche zu gewissen
Körperteilen in bestimmtfr |}r/.ichmi;r stehen. Anf die dcrartiq: örtlich
bestimmte KoLzt'Ltraüon des Geistes lolj^te an elit-seii Stellen vasomo-
torische Störung und Blutandrang. So konnte nicht liloli schlicIUich
ein passives Auatreten vuu l>lut erlolgen, suudtru uuleblbar führte
der Reiz dazu, die Haut zu reiben und begünstigte so erheblich
die Neigung zu Blntanstritten."
Die eisten diesbezüglichen Experimente der Gelehrtenschule in
Nancy (Li6beaalt, Focachon, Bernheim) wurden ebenfalls an
einer Hysterischen*) angestellt. Auf Veranlassung von Bemheim
suggerierte maft ihr Blasenbildung zwischen den Schulterblättern und
bezeichnete deren Ausdehnung auf den Kleidern. Die Ton Li^beault
und Focachon überwachte Somnambule gab von Beginn des
Schlafes ein Wärmegefühl zwischen den Schultern au und klagte
ilber ein breuueudes Jucken, das sie roelirmals zu dem Versuch
bewogen hatte, ihren Rücken an einem Möbel za reiben^ woran sie
gebindert wurde.
Über die Tasomotori^che Erregbarkeit der Haut und ob dieselbe
vorher geprüft war. sagt der Bericht kein Wort. I>ie wirklich ein-
tretende Kötuug konnte also auch durch traumaartige Einwirkung zu
Stande jrf^knmm^'n sein.
Bei lirni weiteren, ehenfiills celungeuen Versuch mit derselben
Person (gummKi tes Postmarkenpapier wurde als BlasenpHaster zwischen
ihre Schultern geklebt) blieb dieselbe während der ganzen kri-
tischen Xacht allein im Zimmer! Das dürfte für die. Erfindungs-
1; 11.U k-Tucke: Geist und Kürjier. doiitsvh V. Komfcld. Jena 1^. S. 67.
2j Liebeault: „Der knnatliche Schlaf-*, deutsch v. Dorablfith. Wien im.
S. 199.
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VII. Herrorrufnrig dreunukripter momotoriacber VerBDderaiig«n etc. 191
gäbe einer Hystcrisclien vollständig geDÜgen, um bei einigermaßen er-
höhter Reizbarkeit der Haut auch schwierigere Aufgaben zur Lösung
m briogen, als die vonLiebeault undBeaunis gestellte! Das Bern-
heim'scho Experiment dessen Protokoll von Liebeault, Beaunis,
Bfrnlieim, Liegeois, Simon, Brullard, Laurent u. a.
unterzeichnet wurde, gehört so ziemlich zu den best^elungensten und
findet dch auch in den bezüglichen Schrifter; vielfach citiert. Fo-
cachou machte dann mit derselben Person den sinnreichen Ge^jen-
▼ersuch, ein wirklich aufgelegtes BlaseapliasLer aU wirkuugslus üu
Bnggerieroi, vas ebenfalls gelang! Aber auch hier berücksichtigt die
Beschreibung der Versuchsanordnung nicht die Möglichkeit, daß die
schlaue Hysterische sich durch Abheben des Pflasters von der Haut
helfen konnte. Der Bericht ist viel zu oberflächlich, um äberseugend
SU wirken. Da die hier genannten Beobachtungen — sie finden eich
als H a n p t versuche von Beaunis und Bernheim ottiert — ein
wichtiger Baustein, man kann sagen Stützen der Lehre von der Bnt>
stehung kutaner Augioueurosen durch Suggestion geworden sind, so
ist man besonders mit Rücksicht auf die Münchener Erfahrungen be-
rechtigt, sie in Bezug auf die Versuchsanordoung als unvollkommen,
als nicht genügend beweiskräftig zu betrachten, sowie ihre Wiederiioiung
unter den strengsten Bedingungtn . mit genauer Protokollführung an-
zuempfehlen. Wenn der von jenen i'urscheru erzielte Erfolg aiicli
möglicherweise richtig gedeutet ist, so würde eine geriebene Hysterisehe
unter den gegebenen Verhältnissen doch wohl im stände gewesen sein,
den gewünschten Effekt faetrOger&Kih zu produaderen! Mitunter genügt
ein unbewachter Augenblick, eine unbemerkte Pause in der «aufmerk-
samen Beobachtung; der eminent gesteigerte Spürsinn solcher Patieu'
tinnen weiß aus jeder BlölSe, die sich der Beobachter gibt, Kapital
zu schlagen.
Verfasser hatte selbst Gelegenheit, im Jahre 1889 in Kancy bei
Liebeault einen Vorsuch suggerierter Verbrennung mit anzusehen.
Als Versuchsobjekt dient«* eine hübsche, 18jährige Französin
„Camille*'. Liebeault versetzte sie durch einige Worte in titten
Somnambulismus und ersuchte mich, eiu Zeichen auf ihren Arm zu
machen. Ich zeichnete mit meinem Finger aui die Volarseite des
rechten Unterarms ein elsä-ssischej» Kreuz d. h. eine Linie, die durch
zwei authre geschnitten wird. Dr. Liebeault suggoriorte ihr nun
Frost. ( "amilh' verfällt sofort in heftiges Zittern, libnlläre Zuckungen
der Oberextremitäten treten ein, die Zähne klappern. Dr. Liebeault:
„Nicht wahr Fräulein, es ist recht kalt, Sie frieren heftig , der Frost
wird den Schlaf überdauern , nach dem £rwachen werden Sie Fenster
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198 VII. Herrorrufung eireamskrtpter TMomotoriseher Veriladcruog«tt etc.
und TüreQ schiieüen. sich au deui Ofen wärmen! Sic werden mit dem
rechten Uoterarm der glühenden Phitte zu nahe lionimen und infol£?e-
desseii ein rotes Brandmal an dt r von deoi iVenulHii Doktor bezeich-
neten Stelle und iu der von ilim uDgegebenen Form davontragen."
Erweckt ging die Französin frierend herum, bei einer Temperatur von
ca. 20^ Blamnnr Sonnenwärme und fragte die anwesenden fremden
Arzte und den Professer Li^geois, ob sie nicht auch Kälte empfanden.
SorgfUtig schloß sie Tfiren und Fenster; sie blies sich in die Hände, .
rieb sich die Arme, trat dann zum Ofen, um siob zu wärmen. Hit
drastischer Lebhaftigkeit, wie sie fast nur bei hysterischen Somnambulen
zu finden ist, gab sie in jedem Wort, in jeder Bewegung das natür-
liche Bild einer heftig frierenden Person wieder. Zuerst erwärmte sie
ihre H.'inde an den oberen Ofenkacheln, darauf lehnte sie ihren Rücken
an ( wie wir beobachteten, wat dn^ f^ewünschtf Zeiclien nun noch nicht
erschienen) und endlich niilicrtt' sie ihre Händt^ der Ofentür mit der
8elltst\ ertiiudlichen Natürlichkeit eiuei frierenden Person. Sie bi rüiirte
das Eisen und sprang, wie von einem plötzlichen Schmerz betrullen,
vom Ofen weg, uud rief Dr. Liebeault zu: Ich habe mich verbrannt.
Sie zeigte uns dann die schmerzende Stelle am rechten Unterarm. Die
durch meine Finger angedeuteten Linien traten jetzt als rote scharf
abgegrenzte Streifen auf der Haut hervor, die eine obere Querlinie
mit etwas schiefem Verlauf.
Zweifellos wnr die Entstehung des Erjrthems von Camille äußerst
geschickt in die Verbrennungsscene eingefügt worden ; indessen erfuhren
wir nichts über den ohnehin vorhandenen Erregbarkeitsgrad der Vaso-
motoren in der äußeren Haut: aber selbst bei mittlerer Erregbarkeit
hätte die Hysterische wiilirend ihrer dramatischen Darstellunir Zeit und
Gelegenheit genug gehabt, mit dem Finger der anderen Hand (beide
Hände lagen zum Teil auf dem Rücken beim Erwärint n an dem Ofen)
oder mit dem Griff der Ofentür das Kreuz noch einmal kräftigst auf
der Haut zu markieren. Die mechanische Insceuieruug deä augeblicheu
Stigmas war also sehr wohl möglich! Unbefriedigt durch dieses Re-
sultat beschlossen der ebenfalls bei dem Versuche anwesende Pri?at-
dozent der Neurologie Dr. Kybalkin (aus Petersburg) und Verfasser,
ohne Wissen des Experimentators Camille in ihrer FriTatwohnung zu
besuchen; dort stellten wir eiu von uns sorgföltig verabredetes Ex-
periment an; kurz nach der Begrüßung suggerierte Verfasser in folgen-
der Weise:
Verfasser: ^Fräulein, was haben Sie denn dort unter ihrem
linken (>\\r (neben dem Ohrlä])jichciil ?*'
Kybalkin: (näher hinsehend mit Erstauueu): „Dort scheint aicii
VJJ. Herrorrafung cireuuakriptor vaiomotorUcher Yeriind«rniigen e(c. 193
ja eine Hauten tzünduDg za bilden ; wenigstens sieht man schon deutlich
einen roten Kleek."
Verfasser: „Ein Insekt hat Sie wobl gestoeheu; die iiutuug
ist iDtensiv und nimmt zu.^
Bybalkin: „Habeo Sie an dimer Stelle Schmerzen?**
Das in dieser Weise eingeleitete Gespräch wird Ton uns fortgesetzt,
nm die Aufmerksamkeit der Französin auf den von uns gewählten
flantfieck hinzuleiten. Camille war roUständig wach, wurde bei
unseren Worten sehr unruhig und. war offenbar überrascht und
ängstlich !
Wir fesselten durch die Unterhaltung ihre Aufmerksamkeit, um zu
verhindern, daß sie in einen Spiegel sehe und beobachteten beide, un-
ausgesetzt die linke Halsgegend unter dem Ohr : merkwürdigiTweise
begann nun alsbald auf der vorher normalen und weißen Haut in
vielleicht 3 Minuten sich ein Erythem zu bilden mit deutlichen Kändero,
von runder Form etwa in der Größe eiueä Füulpfennigstücks. Eine
Berührung ist, soweit ich mich erinnern kann, weder durch uns
noch durch die Hysterische in dieser kurzen Zeit ausgeübt worden.
Wir TerlieOen bald darauf die Wohnung und konnten den weiteren Ver-
lauf des Erythems nicht verfolgen.
Das vorstehende Experiment, welches fdr die Tatsache des lokalen
Errötens spricht, ist in mehrfacher Beziehung lehrreich. Zunächst
war Oamille nicht hypnotisiert, wenn auch die Dressur durch frühere
Hypnosen auf ihr Verhalten im Wachzustände Einfluß gehabt haben mag.
Die TESOmotorische Erregbarkeit ihrer Epidermis durch psychische
Beize war jedenfalls in dem Augenblick unserer Beobachtung abnorm
gesteigert. Mechanische Mithilfe beim Zustandekommen des Eryt!i<"ni8
scheint ausgeschlossen zw sein. Bei Wiederholung solcher Versuche
sind also drei Punkte zu berücksichtigen .
1. Existiert die vasomotorische Erregbarkeit durch 'S'orstelliingeu
für circumskripte Hautpartien bei manchen Personen überhaupt, als
neuropsychisches Symptom unabhängig von einer hypnotischen Dressur?
2« Weil dieses Phänomen bisher fast nur bei Hysterischeu be-
obachtet wurde, so scheint weiterhin die Frage berechtigt: Ist dasselbe
lediglich eine Teilerscheinung des hysterischen Sjmptomenkompleses,
eventuell der pathologisch gesteigerten Suggestibilität — also kein
eigentlich suggesüres Artefakt, sondern ein wirkliches Krankhetts-
Symptom? Manche Beobachtungen an Hysterischen (halbseitige Hyper-
hidrosis) und die hysterischen Angioneurosen sprechen dafUr.
3. "Welchen Eiutiuß besitzt das künstlich gesteigerte Vorstelluu^s-
leben Hypnotisierter auf diese Erscheinung i:' Ist sie der Suggestion im
T. Sehrenek-Kotsing. Studien. 13
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194 VII. HerrornifuDg circumakripter Tuomotorisclier Yerilnderangen etc.
wachen Zustand weniger /iigauglicli, als derjenigen in der Hypnose?
Läßt sich diese vasoinotorisclir Erregbarkeit hei nicht disponierten
Personen mit nurnialem V erhalten der kuiaueu Nerven und (ieiaße
überhaupt künstlich durch Suggestion produzieren ?
Die bisher verüüentlichten Beubachtuugen reichen zur Beantwortung
keiner der hier gestellten Fragen aus.
Das voD f oreP) erwähnte Herrorrufeii Ton Quaddeln mit einer
Btampfen Spitze spricht für die ErBcbeioiiDg des Dermographismus,
beweist aher noch durcbaos kein aaggestiTes Produkt. Und wenn es
wirklich Personen gibt, die als Symptom nervöser Hautkrankheit
Erytheme willkürlich produzieren, so ist daTon die wirkliehe Dermatitis
und Vesikation (Urticaria vesiculosa) nur ein höherer Grad, also an
sich nicht wunderbarer, wie der Eintritt des circumskripten Erythems.
Trotz der hier gewÜDBchten schärferen jFormulierung der Fragestellung
oder eben deswegen kann es dorn Verfasser in'cht beifallen, die emi-
nente Bedoutunir dieser Tntv.'iche im Falle ihr» r Kealität. auch wenn
sie nur lvraukheit^»produkt w-ne. für den EiuÜuß des Psychischen auf
kür])erlictie Prozesse zu untersciiälzen.
Die letzten Stützen suggestiver anatomischer Veränderunj^en auf
der Haut, soweit solche iu der neueren J^iltratur von glaubwürdigen
Autoreu berichtet sind, stellen die von Moll und Krafft- Ebing
berichteten Experimente dar. Die ersten von HoU^ in Verbindung
mit Forel beobachteten Versuche hält der fierichterstatter selbst
nicht für beweisend, weil keine strenge Beaufsichtigung der Versuchs»
person stattfand. „Wenige Tage später machte Forel an derselben
Person (in ßegeuwart MolTs) zwei ganz leichte Kreuze mit der
Spitze eines stumpfen Messers, die aber nicht bluteten und je eines
auf der Beugeseite beider Vorderarme. Kechts wurde Blasenbildung
suggeriert. Nach ca. 5 Minuten bildete sich rechts eine kreuzförmige
Quaddel. Auf der linken Seite war nichts zu sehen, als das künstlich
gemachte Kreuz ohne jede Veränderung.**
Kür die Beantwortung einer so wichtigen Kraue, ui*- dir vorliegende,
scliemt uiib auch dieser Versuch keine geiiügeude Beweiakratt zu be-
sitzen. w»'nn auch immerhin manche positive Momente dniiei für die
KcatheiL uprechen. Denn die Erzeugung von (Quaddeln durch stumpfe
Berührung der Haut i'^t eine zu oft vorkommende Erscheinung, als
daß sie bemerkenswert wäre; vielleicht ist bei dem rechten Kreuz
vom Experimentator eiu stärkerer Druck ausgeübt worden, als links,
1) Porel: „Dtr ll.vitiiotiMuus-. Stuttgart. 3. ÄuH. 1895. S. 70.
2) Moll: J}vT Hypootisimis''. Uerlio. 3. AuH. 8. IUI ff.
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YJI. HenrorrufuDg cireunukripter ▼«Mtmotomeher Veränderungen ete. 195
wodurch Rötung und Quaddelbildung erfolgte. Die weitpren unter
strtni^'erer Kontrolle ;^iii;rst*'llten Versuche sind bis auf leichte Hautr
rütuugen (erklärlich durch Berührung?) bei derselbeD Person miß-
lungen. Dieses Mil^liui^eu schiebi Forel eiuer ungünsti^'en psychischen
Disposition des Versuchsobjekts zu, die ms (b in Militraueo der Be-
obachter sich erkläre. \ erfasser dagegen kunu in Berücksichtigung
dieser gaozea Versuchsreibe mit positiTen und uegativeu Kesultateu
soweU sie sich auf die genannte Wärterin beziehen, sowie in Erwägung
der ausgeübten fierährung resp. Hantreizung (wie Holl sieh aus-
drückt, bat „Forel der Suggestion nur durch einen leichten Strich
den Weg gezeigt* ) nicht finden, daß die Experimente Ton einer
für das vnrli- rrendc Problem entscheidenden Bedeutung sind.
Schließlich bleiben nur noch die bekannten Beobachtungen Krafft-
Ebing's in der Grazer Klinik an der berühmten Hysterischen, llma S.
Als Hauptversuch dart" wohl das von v. Krafft-Ebing ') und
Lipp amr''Stc!lfe Experiment mit dem Metallbuchstnhen K. gelten. Der
lei/rt Tu wurde aber „nach innen Toni linken Scliulterljhitt u u i' die
Haut gedrückt**. An der suggerierten iStelle Inliloft' sich bis zum
folgenden Tage eiü» Dermatitis in Form eines K. 1 heser verhältnis-
mSßig am besten kontrolierte Versuch leidet lu «einer Beweiskral't
wegen des auf die Haut ausgeübten Druckes an der Suggestionastelle
(traumatische Reizung einer empfindlichen Haut). Auftreten von fUr
die linke Seite suggerierten Erydianen an der rechten, die pünktlich
sich auf Suggestion einstellenden Temperaturveränderungen, stehen so
sehr ohne analoge Erscheinungen auf physiologischem Gebiet, daß im
Interesse der Wissenschaft eine Nachprüfung der Resultate unter den
sorgfälligsten Kautelen dringend erforderlich erscheint. Wenn bei
diesen Versuclien alles mit rechten Dingen zugegangen ist ohne be-
trügerische Mitwirkung der überaus schlauen und raftinierten Patientin,
so Htellen sie .rewiB die stärksten körperlichen Veräoderuugcu dar, die
in neuerer Zeit durch Suggestion erreicht wurden.
Zeiut nun schon eine kritische Beleuchtung des sonstigen Mjiterials,
daii die Frage der sugeuunnleu Stigmatisation, bicli noch nicht mit
definitivem „Ja*' beantworten läßt, so können sicherlich diese äußerst
merkwürdigen Beobachtungen Krafft'Ebing's für sich allein eben-
falls nicht die Frage zur Entscheidung bringeo. Gewiß ist vorauS'
zusetzen, daß ein so gewiegter Forscher, wie Krafft- Ebing, die
Überwachung Ilma's in sorgfältigster Weise ausführen ließ, daß
1) Vcrgl. V. Krafft -Ebing: „Bitte experimentelle Studie auf dem Gebiete
des Hypnotismus**. Stattgart IVSA.
Ii**
196 VIL Herronrufung eirewmskriptvr Taaomotoriiclier VeritnderuoKen etc.
z. B. dif zur Teinpf^raturmps^img vorwendeten Thennomet''r vor und
während des Versuchs furtwährend durch Arzte koiitroüiert wurden,
düR ferner di«* Putieutin von dem Moment der Siif^f^ttierung vaso-
motorischer Wirkungen auf die Haut bis zum Kiiitritt dürseibeo auf
der entpe^eiiL'esc^tzten Klirperseite von aufmerksamen Ärzten ohne
Unterbrechung beobachtet wurde. Aber der genauere Bericht aller
dieser — vrie unsere £rfahraogen lehren — notwendigen Eautelen
fehll leider in den Ernnkeiyonroabkizien , welche die bertthmte
Broschüre £rnfft-Ebing*s mitteilt. Anch die Außernng des
Prof. Lipp (8. 54 des Werkes) daß der (für links suggerierte) und
rechts (an der Skapula) erst nach 24 Stunden in Form eines Erythems
eingetretene Kreis ^ weder mit Kadeln noch durch sonstige chemische
oder mechanische Mittel erzeugt sein könne", erscheint keineswegs
überzeugend und entkräftet nirht des Verfassers Aufstellungen.
Tiber die angioneurotische Irrititabilität der Haut bei der h>8te-
Tischen Ilma S. finden sich kein»» Bemerkungen. Aber dieselbe brauchte
auch durrliaus nicht geradr hervorra^*"nd grsteij,n«rt zu sein! Denn in
der Zeitdauer von 24 Stunden bot sich der Patientin genügend Ge-
legenheit, daß sie durch leichte mechanisciie Kei/untr an der rechten
Schulter das gewünschte Erythem erzeugen konnte. Warum dasselbe
unmÜKlicherweise mecbauisch zu stunde gekommen sei, dafür bleibt
Prof. Lipp uns den Beweis schuldig.
Einer der einwandfreiesten Versuche wurde , wie L5wenfeld^)
erwähnt, Ton Charcot angestellt Allerdings handelt es sich nicht
um eine willkürlich umgrenzte, also zirkulatorisch unselbständige Haut-
iläche, sondern um ein Glied, nämlich die Hand eines Hysterischen.
Charcot suggerierte ihn an 5 aufeinanderfolgenden Tagen, daß ihm
die rechte Hand anschwelle, daß sie blau und roth. ferner kalt und
hart und größer werde, als die andere. Die Hand schwoll so an, daß
si»^ nahezu den dnpp<>Iten l^mfang der anderen erreichte ; sie wurde
cvanotisch hart, die Temperatur sank um etwa '.i Grade. Das (Jelingen
dieses Versuches widerspricht den Anfstpllungfn dieser Arbeit nicht,
sondern bestätigt nur di»- in tler Einh-itung liervorgehobeue und durch
zahlreiche iM ispiclc aus der Pathologie zu erliiirtende Tatsache, daß
gewisse zirkuhilt^risch abgegrenzte und funktiuuell selbständige Körper-
bezirice und Teile unter dem Eiulluß der Gehirutätigkeit ihre Blut-
zuftthr verilndem können.
Eines der jüngsten Stigmatisationsexperimente berichtet Pierre
Jan et.*) Es handelte sich um eine Hysterische mit den Wundmalen
*) Lövrenf«ld: Der HypttotMinus. Wieabodon 19ül. S. 201.
^ Jauct: ,,Une exstatique". Bullet in de Hnatitut p»ychotogique 1902, S. 225.
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VII. Hcrvorrufang circamakripter Tasomotoritdier Verindenrngea ete. 197
des Erlösers. Verfasser dieser Zeilen hatte Gelegenheit, diese Patientin
am Karfreitag 1901 in der Salpetri^re za beoliachten und zu
konstatieren, daß die in der H'-rzE^egead befindliche Hiiiitwnnde ;m
diesem kirchlichen Gedenlctage blutete. Um einen einwandfreien
Versuch anzustellen, ließ Jan et für den rechten völlig intakten
l uinücken eine demselben wie ein Schuhstück angepaßte Kupi'erplatle
anfertigen und in der Hitte der Platte eiii Uhrglas eiDschmelzeo, durch
welches bequem die zirkidatorische VerandeniDg, die in Form eines
Stigmas ton ihm saggeriert wurde, zu beobachten war. Der Ap{»arat
wurde mit Bändern und Siegeln befestigt^ so daß es nach Jan et der
Hysterischen unmöglich gewesen wäre, mechanisch auf jene Haut«
stelle einzuwirken. Unter diesen Bedingungen entstand zweimal unter
dem Uhrglase Bötung, Blasenbildung und Abheilung durch Schorf.
Janets Experiment« mehrere Jahre nach der ursprünglichen
Abfassung dieser Arbeit angestellt, scheint den Anforderungen exakter
wissenschaftlicher Kontrolle zu genügen, wenn in dem Bericht auch
nähere Angaben über die Art der Überwaclmng und die Zeitdauer
der £nt\vi( k1nng des Stigmas wünschenswert erscheinen würden.
Wie wichtig es ist, bei Anstellung solcher Versuche womöglich
den Grad der kutanen vasomotorischen Krregbarkeit im voraus zu
prüfen. 5^eigrn die Rx}>erimente Grützner's und II *' i d e n hain 's ,
welche l'cststelUen, daß schon ei in' pinfachr ßfrührnng der
Haut odtT ein Luftzug, welch e r d ie de 1 l>e streift«" eine sehr
erhebliche Steigerung des Blutdriukes zur Folge hatte. Ähnlich
zeigten die Versuche von Istomuw und Tarchanow. Hinreichend
bekannt ist das Hervortreten ganzer Quaddelzeichnungen auf der Haut
bei gewissen IndiTiduen auf einfache Berthrung (Dermographismus);
bei Ansammlung größerer Serummengen in der Epidermis durch
mehrere zusammentreffende Quaddeln kann es sogar zur Blasenbildung
(Urticaria vesiculosa) kommen.
Der Zustand der kutanen Beizbarkeit braucht zudem nicht einmal
auf der Hand allgemein verbreitet zu sein; denn es gibt auch akute
umschriebene ( )deme, flQchtige seröse Infiltrationen, die als Produkt
angioneurotiscber Störungen in "»rllicher Begrenzung auftreten (z. B.
bei gastrischen und nervösen Zufällen). Die Ursachen dieser Krank-
heitserscheinung sind noch nicht geniigcnd bekannt; es wäre denkbar,
daß diese Form der Hauterkraukuug zu einer Fehlerquelle werden
könntr hei Hervorrufung der suggestiven Vesikation.
Dalj ab'T auch psychisch^' Erregungen an sich mitunter im Stande
sind, auf der Haut Veräuderuugen hurvorzurufeu, dafür spricht die von
i^'iyui^uu Ly VjOOQle
198 HerTorrtafung «ireamakripter TMomotckcischer V«riliideraog«n «tc.
Stillpr^) beschriebene Beobachtung. Diesflh*^ hotrifft einen merk-
würiiirfen Fall von Herpes naso- labialis, der bei eint r Hysterischen als-
bald infolge jeder depriinien-nden wie freudigen Erregung fz. B. Eio-
laduug zum Ball) aui'trat. Em psychlücher Impuls erzeugte hier eine
umschriebene HautenUttndung mit einer Häufigkdt und Sicherheit, die
Dach der Meinung des fieobaditan den Zufall auseohiieOt.
Trotz bereitwilligster Änerkennung einiger positirer Momoite, wdche
für die Möglichkeit der Entstehnng circumskripter seröser Infiltrationen
auf Suggestion sprechen, hält doch im ganten das bisher gesammelte
Material an fizperimenten dieser Art einer eingehenden Kritik nicht
Stand; entweder läßt die ungenaue und unzureichende Berichterstnttimg
auf ungenaue, nicht einwandfreie Beobachtung schließen, oder das
scheinbar positive Resultat der Suggestion vermindert sich bis zum
völligen Verschwinden in demselben Grade, iu welchem die Versuchs-
bediuguügeu immer strenger werden. Es empfiehlt sich in Zukunft,
Sülclu! Versuche nur an deu Extremitäten und nur unter Gipsverband
bei dauernder Überwachung der Versuchsperson anzustellen.
Die Behauptuug sogenannter suggestiv erzeugter
Vesikation istalso bis jetit keineswegs mit wissenschaft-
licher Gründlichkeit erwiesen; sie gehört in das Gebiet
jener Übertreibungen, ron denen leiderdie hypnotische
Literatur mehr heimgesucht ist, wie andere Wissens-
zweig e.
Neben vorurteilsloser Anerkennung wohl konstatierter, wenn a :i Ii
anfänglich unverständlicher Tatsachen, ist sorgfältige objektive Kritik
der experimentellen Beobachtungen eine unerläßliche Vorbedingung
für die tbrtschreiteiide Erkenntnis.
1) Wieuer med. Wocheiisciinft. laSl. No. ö.
vm.
Über den Yoga-Schlaf/)
Wenu die Tatsache, daß die Anweudung hypnotischer Prozeduren
weit zurück reicht bis in die priesterliche Medizin der Indier und.
heute nncli an dor I 'rspnmj^sstätte abendländischer Kultur eiupn
wichtigen Bestandteil n liijjr.ser Zeremonien ausmacht, auch last üljer.ill
in der (Teschiclito des Uypnoti^'mus angeführt wird . so findet man
doch fast nirgends iüerzu die erford'Tlichen Quellenbelei^e oder eino
nähere P'rlänterung des indischen Verfahrens. Diesem Maugel lullt
Hermann \\ alter'-) ab mit einer aus dem Sanskrit übersetzten
Stndie, die sich betitelt: ^Srftiii&rfttiiia*s Hathayoga Pradlpik&.'' (Die
Leuchte des Hathayoga.) Die Arbeit des Verfassen behandelt die
Übungen des Yogins, in den sogenannten Yogaschlaf an kommen und
lebendig begraben m «erden, und stützt sich auf das im Titel ge-
nannte Werk, sowie auf zwei von BhudaTanacandra Vasuka
herausgegebene Schrifteti; ..Guralcshasataka" (Calicut 1901) und
^Gheraiida Samhita" (Calicut 1817).
Als Baupterfordernis. um in den augestrebten Zustand zu geraten,
gilt dauernde einseitige Konzentration des Denkvermfigens. In der
Sprache des uKMlernen Hypnotismns würde das die iM'krtnnte Rin-
engung des iH'uuI^Jstiii^- sein. W ie di-r suL'ueriertMide Ar/t durch
Nebenumstiinde . Jüihe. Zinimeivviirme, be<iueujes Lager etc. den
Patienieii miizubeeiutiusseu sucht, ebenso soll die 1 bung des Yogin
durch dem indischen Klima augepaßte äußere lutstäude begünstigt
1) Zeitschr. für HTpnotUiiiuB. Jmhrf;. 1894-
2) 3tfinchen 1898. Dissertation. Im Buchhandel nicht au besi«hen.
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900
Tin. über den Yogft-Sehlal.
werden. Nach den Vorschriften der Hathayogaprädipika muß der
Yogin sich in einom wohlregierten Lande befinden, ferner zum Zwecke
der iTbting in einer Zelle, die mit »'iiier kleint^n Tür versehen ist,
reguiigslüs aui" einem Platze verweilen. Eine ^^iaiier soll die Zelle
umgeben. Diese Regeln beabsichtigen, den Andächtigen vor Klima,
Menschen und Tiereu zu schützen. Das Innere der Zelle darf nur
mit dem AUerDOtwendigsteu ausgestattet sein, und es muß alles ver-
niieden werden, was die Anfinerkiamkeit abzieht Die Tür soll
achriftsmäßig mit Kuhmist dick bestrichen sein nnd frei von jeglichem
Ungeziefer. Um stets «ne gleiohnulBige Temperatur zu erzielen, ist
es als Ausnahme gestattet, Fener zu machen.
Die NahrungSTorscbriften empfehlen dem Togin das Einfachste
als zuträglich, und davon nur so Tiel, daß das Leben gefristet wird.
Als passende Lebensmittel sind bezeichnet: Gute Speisen aus Reis,
Weizen, Gerste, Shäshtika (indische Getreideart), Milch, frische und
zerlassene Butter, Sandzucker, Honig, Ingwer und einige Gt niüsearten.
Besonders zuträglich ist nach dieser Anschauung eine bestimmte Speise
aus nährender. süUer, iVtter Milch.
Verboten sind : berauschende Getränke, alle beiiieudeu, sauren,
scharfen, salzigen Speisen, Fische, Fleischsorten, geronnene Milch etc.
Inigang mit Menschen, starke Anstrengungen, Geschwätzigkeit
sind zu vermeiden, der Aspirant muß aller Sinnlichkeit entzogen sein,
wovon jedoch Ausnahmen gestattet sii^.
Die Hauptgebote der Entsagung, die von ihm gefordert werden,
sind: Wahrheitsliebe, Keuschheit, Armut, Beinheit, Mäßigkeit, Zu*
ixiedenheit, Freigebigkeit, Gläubigkeit, Askese, Studium und Gk>tt>
eigebenheit (Yama und Niyama).
Wer sich hiermit vertraut gemacht hat, schreitet zur Übung der
Asana, d. h. des regungslosen Yerweilens in einer Stellung. Aus den
84 wichtigsten Vorschriften dazu hat Svamaratma die 15 hauptsäch-
lichsten niitgrti ilt. Das in diesen Regeln angestre1)te Niclitlunktionieren
des Atniens soll ein Kichtfunktionieren des Geistes herbeiführen.
Das It t/t. TO heißt: RAjayoga und ist eine Vorstufe zur höchsten
Glückseligkeit lvuival}a.
Das in diesen I'bungen zur Anwendung kommende hypnotische
Verfahren wurde Träkala genannt.
Die Lehre von der Hemmung des Atmeus, welche eine Haupt-
rolle in der Askese des Yogi spielt, ist erst Terständlich, wenn man
die altindischen Vorstellungen über die Funktionsweise der einzelnen
körperlichen Organe dabei berücksichtigt. Nach dieser Anschauung
gelangt der Atem durch drei Öffnungen (das rechte, linke Nasenloch
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VIIL Über den Yoga-Schlrf,
201
und die Trachea) iu den Körper (d. i. Ida. Pingala und Su8huinn&).
Ida und Piugala fähren den Atem in die Nabelgegend (Kanda), von
wo er durch die 72 Adero im Körper verteilt wird, und münden
in die Sushumna. welche Kopf und Nabel vorbindet, durch die Trachea,
als deren direkte Fort^etziuig man sich die Aorta abdominalis dachte.
Nach der Anschauung anderer Überset/cr bo^tobt die Sushumna in
sämtlichen Nädi iu der Mitte des Körpers, ^ierveu, Blutgefäße und
BroiK hien werden durcheinander geworfen und heißen Nadi (Röhren).
Wenu der indische Mediziner den Puls fühlte, so wollte i r untersuchen,
ob die Luft sich normal im Körper bewege. Zu diesem Zweck berührte
man auch die Halsschlagadero. Näheres ersehe man ans Walter's Dar-
stellnng. Auf solche rervorrene und dem kindlichen GeistesnlTean
eines Naturvolkes entsprechendCi vom Standpunkte des hentigen Wissens
aber geradem lidierliche anatomische Vorstellungen stiitzt sich die
Methode des Hathayoga, welche heute in den mystisdien Übungen der
Theosophen ihre Auferstehung feiert.
Vorbereitende l'bungen des Yogin zur Beiniguug des Körpers
sind 7. B. die Neti. welche darin besteht, eine glatte Schnur durch
Nasenloch und Mund zu fiihreu. ..Neti reinigt den Kopf, verleiht einen
scharfen Blick und bewältigt eine Menge Krankheiten, die oberhalb
des Schlüssen MMDs stecken."
Die Dhauiiubuni,' schreibt das lanüjsame Verschlucken fines vier
Daumen breiten uud fünfzehn Haud iaugeu augeleuchteten Stück Zeuges
vor. Dann wird dasselbe wieder herausgezogen. Neben anderen Vor-
teilen wird dieser Procedur auch die Fähigkeit sugeschriebeu, daß sie
80 MPhlegmakrankheiten** beseitige.
Bei Ausführung der Basti wird ein Bohr in das Bektum eingeführt
während man bis zum Nabel im Waaser verweiU. Diese Übung ver-
leiht Buhe der Körperelemente, helles Aufflackern des Verdauungsfeuers,
Schönheit etc.
Alle drei Übungen haben moderne ParaUeien in der Mediain
Neti stellt die ursprünglichste Form dar zur Reinigung des Nasenrachen-
raums. Aus der Dantbi ist heut die Mucrenspöluog geworden und der
Basti erinnert au »'inen primitiven Irrigator.
Eine gan/.t' besondere Rt-ihe von Vorschi iti -ii bezweckt den Still-
stand der Tätigkeit des Atmens. Um die Nädi i^Kühreni m reinigen,
muß der Yogin üben, zuerst die Atmung zu beherrschen. Dabei soll
eine gewisse Fertigkeit erworben werden im Verschlucken von Luft;
Druck auf den Unterleib durch eine Binde facht das Verdauungsfeuer
an und treibt die Unreinigkeiten aus dem Körper. Auch über die
hierbei notwendigen Körperhaltungen und Bewegungen sind zahlreiche.
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SOS VIII. über den Yog«-Schkf.
mitunter seltsame Regeln mitg. (.eilt, die immer die altindische Anatomie,
Yoraussetzen. Eine derselben verlangt z. B., der Adept solle sich mit
beiden Händen flacb auf den Boden atUtsen nnd langsam die beiden
Hinterbacken mit der Verse schlagen.
Ein nnerl&Bliches G^bot für jeden, der den Yogascblaf erreichen
will, entb< die Kbecar!. Sie Terlangt, dnicb melkende Bewegungen,
die Zunge zu verlängern. Erst wenn sie so lang ist, daß man damit
die Stelle zwischen den Augenbrauen berühren kann, hat die Khecart
ihren Zweck erfüllt. Das Zungenbändchen ist durch Schnitt vorher
zu durchtrennen. Die verlängerte Zunge wird nun in den Nasenrachen-
raum hinaufgesteckt, um so der Luft jeden weiteren Z«{rang in den
Körper zu versperren. Auch das Hrrunterdrücken des IsLinus auf die
Brust (.Jalandharabandha) kommt oft zur Verwendung.
Dazu tritt nun als echt hypnosigenes Mittel dif Tnlkata, man
würde heute sagen dif Fixutionsmethode (nach B r a i d ,. „Mit unbewegtem
Auge fixiere man aufmerksam einen recht kleinen Gegenstand (oder auch
die Nasenspitze), bis Tränen kommen. Sorgfältig wird das Ti&kata
Terheimlicht, gleich einem Korb der Gold enthält."
Werden nun die Schleimhäute durch das Verweilen der Zunge
im oberen Teil des Nasenrachenraums mechanisch zu stärkerer Schleim-
absonderung oder auch entzündlich gereizt, so soll das herabfließende
Sekret, welches Sorna genannt wird und als Lebenssaft gilt, nicht
verloren gehen, sondern in den Magen f^olangen. „Der Yogakundige,
welcher mit der Zuncrp nach oben gerichtet unbewefitich bleibt und den
Sorna trinkt, der wird ohne Zweifel den Tod einen halben ilionat lang
besiegen."
Zablreiche Repeiii über monotone Beweguiigeu. welche lauge Zeit
fortzusetzen sind, eriuijem an die Ekstase der tanzenden Derwische.
Schließlich wird die Vernichtung des Atems — und nach der
Meinung Svamaratma's gleichzeitig des Vorstellungsvermögeos herbei-
gefiihrt. „Wo der Atem Ternichtet wird, da wird auch das Bewußtsein
▼ernichtef*
Auf dem angegebenem Wege autohypnotischer Selbsterziehnng
gelangt der Jünger auch aur Erzielung suggerierter GehörshaHuzinationen.
Zu diesem Behuf hält der Yogin sich Nase, Mund und Ohren zu und
lauscht gesp.annt auf einen im Inneren seines Körpers (in der Sushumna)
hörbaren Laut, den Aniihatadhvani. Derselbe erklingt znorst im Äther
des Herzens, dann d( Hals^^s als trommelartiger Laut, darauf zwischen
den Aus'Mibranen uml schlieHlich als tlntenartifjor T^aut im Braiiniarandbra
(Vorderhauptfontaneliei. Audi dii.' Laute einer Glocke, einer Muschel,
eines Rohres, einer Biene werden gehört. Mit der inneren Versenkung
VIII. über den Yogft-Schtaf.
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in eioen bestimmteu Laut (Nadu) hat man di« letzte Stufe zur Krldsuog
erreicht. ^Wer mit halbgeöffnett^n Augen, unbeweglichem Geist und
auf die Nasenspitze jjerichteten Augen durch seine vollkommene Ruhe
Candra uud Sürya zur Veniichtuug bringt, der gelan^'t zur leuchtendeu,
einzigen T^rsnehe. zur volktändigen. strahleudi n. höchsten Wahrheit,
zum Ort dfs Brahma, zur höchsten Wirklichkeit."
„Von allen Zuständen befreit, von allen Gedanken verlassen, ist
er nun (im Zustande der Samadhi) gleich einem Toten, aber erlöst.
Er wird 70in Tode nicht verzehrt, Tom Karma nicht gequält und tod
keinem anderen eirdcht Der'^ogin, deräamftdbi erreicht hat, kennt
weder Geruch, noch Farbe, noch Tastgefttbl, noch Laut» noch sich
eelbst» noch einen anderen. Sein Geist schläft nicht, auch wacht er
nicht, er ist von Erinnerung und Vergessen befreit; er kennt weder
Külte noch Wärme, weder Glück noch Unglück, weder Ehre noch
Verachtung. Wer gesund und im wachen Zustande gleich einem
Schlafenden verweilt und weder ein noch ausatmet, der ist sicher erlöst;
der Yogin, der SamAdhi erreicht hat, ist unverletzlich für alle Waffen,
▼on Sterblichen nicht zu überwältigen, unangreifbar für alle Zauberei."
..Solange der umherziehende Atem sich nicht in der Sushumna
bewegt, solange man nicht durch das feste Hemmen des Atems der
Nada ertönt, solange nicht ln-i der Meditation die der eigenen Natur
gleiche Wesenheit entsteht, .solange spricht man vom Wissen, uud alles
ist trügerisches eitles Geschwätz."
Diese Schlußworte von Svamaratma'8Hathayogapradipik&
besehreiben töllig xutreffend einen Zustand, der die suggestiven und
kataleptischen Erscheinungen in gewissen Fällen von hysterischem
Somnambulismus umfaßt. Genau wie im Yogaschlaf finden wir in
dieser Form der Katalepsie totenähnliche Starre, Respirationsstörungen
(Apnde), halbgeseblossene Augenlider, völlige Anästhesie derSinnesnerren,
Fehlen der Beakticm bei Reizung der Riechkolben, der Retina, der
Gefühlsnerven (Tast-, Schmerz- und Temperatnrempfindung). Auch im
hysterischen Somnamhulismus sind Halluzinationen (nicht nur des Gehörs)
ein gewöhnliches Vorkommnis.
Die Mittel /nr llorbeitüiinnig des Yogaschlafes sind teilweise
diese] (>f'Ti wie die zur Er/.fuguiig eint-i- Hypno<;e: so finden wir in beiden
Fällen : vürl)ereiteiide l'rozcdnren i Rnlie und Znriickgezt*geidieit j, Fem«
haltuug aller Gemütsb^wef^ungen und Ablenkung der Aufmerksamkeit,
einseitige Konzentration dis iJeukuns, Abschlull der Sinne gegen Reize
der Außenwelt und eventuell artitizielle Ermüdung eines Sinnes (Fixation).
Das Resultat ist in beiden Fällen Schlaf (oder Halbschlaf) und gesteigerte
Suggestibilität. Nur werden die besprochenen Mittel von den indischen
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Vm. über den Yoga-8eU«f.
Ekstatikern im Superlativ aogewendet, währocd das hypnotische Ver-
fahren sich in der Kegel (wenigateDS bei therapeutischer Anwendung)
uiclit aus ileu Grenzen der normalen physiologischen Suggestibilitat
entfernen soll.
Spedfiseh für die Ekstase der Indier und anderer Völker rind die
asketischen ÜbuDgen, die Überwindung der sinnlichen fiedfirfnisie
und Triebe, sowie die Veisenkiing in religidee Torstellongen. Zweifel-
los wird schließlich dnreh solche Gewaltprozednren eine psychische
Hyperiisthesie. eine krankhafte AutoMin:<(estibilität geschaffen; dazu ist
auch das gesteigerte Geftthl des Wohlseins (Glückseligkeit i y.u f ebnen,
bei welchem es sich vermutlich um eine Übertragung sexueller Empfin-
dnngen auf ein religiöses Gebiet handelt.
Bei Beurteilnn? des Yo;»a<?rblal"es ist auch zu berücksichtigen die
reiche. Begabmif,' der indischen Bevölkernn^ für Mirakel und suRf];estive
Phänomene alier Art uiii ihrer nur wenigen zugänglichen uralten
Literatur, sowie ihr Hang zur Kuhe und Beschaulichkeit. Das System
der Yogaübungen hat nun allerdings Leistungen hervorgebracht, hinter
denen die Phftnomene der Stigmatisation nnd die snggestiTe £2rseogiing
von Brandblasen — das höchste durch Suggestion in Europa Erreichte —
weit zurückbleiben, nämlich eine Herabsetzung der Lebensfunktionen,
einen menschliehen Wintersdilaf, in dem .die Fakire ohne Nahrunga-
znfuhr und Luftemeuerung wochenlang verharren. Kiue erneute Untei^
suchuug dieser gut beglaubigten Beeinflussung des Lebensprozesses an
(3rt und Stelle durch Ethnologen, welche auch die genügende Kenntnis
der Sugge5tir)nslelire Ijesitzen. würde voraussichtlich eine reiche Ernte
auf psychophysiolugisckem Gel)ieti' ergt hcn.
Weitere vergleichende Ausführungen über die anthropologische
Bedeutung der hypnosigenen >Miitel findet man in der Arbeit des
Verfassers y.Sugßestiün uud suggestive Zustande" (Miiüchen, Lebmano,
i89'i) ; historisches Material dagegen bietet die reichhaltige und durch-
aus empfehlenswerte Schrift tou Stell: „Suggestion und Hypuotismua
in der Völkerpsychologie." (Leipzig 1894.)
IX.
Eine Gebart In der Hypnose.')
H., Knufnia 1 • liter, 25 Jahre alt, besuchte am 17. Xov. 1891 meine Sprech-
stunde. Sie sielit in 8—10 Tagen ihrer Niederkunft entgej^en und wünscht, daü
di« eigentliche Ueburi in der Hypnose vor sich gehe, d. h. für ihr BewuÜtfieiu
ohne Schmerzen. B. ist Erstgebärende, stammt Ton gesunden Eltern, KbetBUnd
snQer den Kinderkrankheiten im 14. Lebensjahre einen T,v])hus. Seitdem hit sie
nicht nif'lii- krank ^fr'Wf'^rn Kriiflit; j^'enährt, reichliches Fi t t pulstor. starke Ent-
wicklung der Mammae mit groLieni. lebhaft pigmentiertem Warzeniiof. Die Brust-
warzen selbst sind wohl ausgebildet und entleeren auf den L>ruck einen Tropfen
Milch. Die UnterBOchnng des Unterleibes ergibt Schwangerschaft im 9. Monat bei
2. Srliiiiiellage. Die B. macht im gan/*'ii eiti. t; äutierst gesunden n»l>usten Ein-
druck. Sie wurde Ton ihrem jetsigeu (ieliebttiu deÜoriert aud gleichzeitig in die
Hoffnung gebracht.
Ich erteile der B. den Rat, sich mehrmals vor Eintritt der Geburt hypnoti-
sieren zu lassen, einmal, um ihre Empfänglichkeit festzustellen, und ferner, um
durch mehrfache HypDotisieruog den Eintritt der Hypnose für den Qeburtsatweck
zu erleichtern.
Die B. wird 7 mal am 17., 1»., 19., 20., 23., 2ö., 2G. November 1891 hypnotisiert,
und Terßllt bereits beim ersten Versuch in tiefen Somnambulismus mit posthyp-
notischer Amnesie.
Am 27. NnvrPib* r alt^nfis 7 I hr rrmi ii die ersten leichten Wehen ein,
setzen jedoch zeitweise, namentlich am Vonnittag des 28. Nov., wieder ganz aus;
sie werden gegen 4 Uhr nachmittags stSrker, so daD man mich rufen liül
Um 6 rhr abenda befindet sich die Gravida noch auGer Bett, der Kopf steht
noch ini I'eckeneingang. Die Enitl'nung erfolHt Iir langsam; um 11' < Uhr
nachts 2. Besuch, Muttermund nicht ganz ein Dreimarkstück groli. glatt und ge-
spannt. Die Wehen vrerdca nun häufiger und schmerzhafter. Die Hebamiue, bei
der Pattentin wohnte, erhielt den Auftrag, mich so zeitig in Kenntnis zu setzen,
daß ich noch Tor Eintritt der 2. (ieburtsperioile anwts«-,«l sein könne. Um
2 Uhr 45 M i n u t e n nachts werde ich wieder gerufen und treffe einige Minuten
vor S Uhr ein. Der Muttermund iüt volbtäudig erweitert, die Wehen sind kräftig
nnd sehr schmer^aft. Patientin schreit und stöhnt, so daO die Insassen der Neben-
simmcr im Schlaf gestört werden.
Präzis T'lii- llv|iiiii(ivicrung der pari utirus Tu i[ilu lnj>' lii Mi th'"l" . Hin
B. verfallt in etwa 2 — 3 Minuten in Schlaf, die SchuierzUuüeruugeu verschwinden
1) Vergl. Zeltschr. für Hypnotismus. 1892.
S06
IX. £ine Qeburt in der Hypttoae.
bis auf eiu leises Stühneu. AiUXallende Beruhigung. SuggestiTkatalepsie und
Anmlgeflie auf N«delstiehe. Der BUsensprung gebt 8 Uhr 5 Min., Beginn
der 2:. Geburtsporiocie. iu der Uvpn<)S(> vor sich, der Kopf ragt mit dem
giT»0«'ren .S«'gincnt in »lio Bt'< kcm« - it . Wclu ii kräftig, etwa alle 3 Minuten,
dauern 4ö Sekunden. Bei joder neuen schmerzhaften Wehe lege ich meine Hand
auf die Stirn der parturiens und suggeriere Fortdauer des Schlafes und Schmerz*
lofligkeit Diese Methode warde trührend des ganzen Gebortaaktes dorehgefilhrt,
um das Erwachen zu verhindern. Als ich 3 Uhr 10 Min. bei einer dauerhaften
Wehe einmal vr rsuchswoise (lein Bette fern blieb, < rfolgten sofort lebhaftere und
lautere Schnierziiuüeruugeu uutur grußer Unruhe und Uuiherwerfeu. In deiu
Hiall»eh1af, der hierdurch proToziert wurde, rief die B. — jedoch bei gesdUossenen
Angen — ■ „Ich l 'iii < i wacht y- Sofortige Vertiefung des Schlafes durch Suggestion
in einer halben Muriti Di.- B. wird wieder ganz ruhiir und nur ein leises
•Stöhnen Uegicitet das Mitpressen während der Wehen, der Kiirper behalt die
ihm gegebene huge bei und ei erfolgt uuauiehr kein spontanes iilrwachen mehr
bei neuem Weheneintritt. Dagegen wird immer bei jeder Wehe Sdhmersloaigkeit
suggeriert. 3 Uhr 15 Min. jiassiert der Kopf die Beckenenge. 3 Uhr 20 Min.
Irefrn die Weh<Mi f^rbnti i» schnellerer Aufeinanderfolge jede Mintit»' ein. sind
aber nur von einer iiaibeu Minute Dauer. Von neuem wird Analgesie auf Nadel-
■tiehe konstatiert und suggerierte Katalepsie. Der Kopf wird nunmehr bereita
wfthrend der Wehen in der Sehamspalte siehtbar.*
('in 3 Uhr 3<> Min. wiederum XachlaB der Wehen; dieselben folgen sich
weniger häufig und f»ind schwächer.
Um 3 Uhr 40 Min. schreitet der Kopf vor. steht noch einen halben Cenfi-
mcter über dem Beckenausgang. Eine Wehe dauert 2ö Sekunden, die Wehen-
pause 2 Minuten. Wiederum kräftigere Wcheu. 3 Uhr 48 Min. steht der Kopf
in Beckenausgang. Xunmehr beginnt die Au^t reibungsperiode. Die Ge-
barende verhält sich unverärMlf-rt, liegt ruhig schlafend da. nur ein leises Stöhnen
begleitet die Wirkung der Bauchpresse. Um 3 Uhr Ö8 Min. dauert eine Wehe
nur 8 Sekunden, ist schwach. Ich suggeriere nun der paturiens, sie m6ge leb»
hafter und krüftigi r ilie Wehen durch stärkeres Mitpresscn uiiterstiitzeii. Soforl
werden die Wehen länger und so stark, daü ein Danimril» zu befürchten stand.
Daher ziehe ich vnr, lieber die (ieburt durch mehrere Wehen ein wenig lang-
samer zu £nde zu führcu. Jedenfalls zeigte dieser VersucJi, dal> auch die
Wehentätigkeit durch Suggestion verstärkt werden kann.
Üm 4 Uhr 12 3[ii). achneidet der Ko]*f durch mit der Pfeilnaht in an-
nähernd peradein Diirchiiie.NSir. Das (Besicht gleitet iilur den Damm. Mit der
nächsten Wehe schneidet der Kuinpf durch. Es folgt eine mkltige 3Ienge Frucht-
Wasser mit 3IekoniuDi.
Die Gebärende schläft während dieses ganzen Vorganges ruhig weiter, ohne
stärkere Erregung und ohne zu erwachen.
4 l'hr 15 M in. wird mit einer neuen Wehe die Nachgeburt herausbefordert
(daneben etwa lOü (iramm Blut .
4 Uhr Iti Min. suggeriere ich von neuem crlolgreich Katalepsie, konstatiere
Analgesie. Der Schlaf ist nach Beemligung der Geburt liefer und ruhiger ge-
worden, da auch das leise Stöhnen aufgehört hat.
Um 4 I hr 20 31 i n. weck<- ich die Kreißende durch Zählen bis 4, nachdem
Euphorie für d»s Erwachen anbei'oblen war.
IX. Eine Geburt in der Hypnose.
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Di<- B. schlügt (iie Aagen auf, kommt aUmählich zu sieh, blickt Terwuadert
um Sick.
Sie gibt nun «n, keinerlei Sehmerz vihrend des ganzen Gebartsprocesse«
ciuitfuiulon ■/.» haben. Wohl aber orinuere sie sieh, datt ihr „etwas Bundes und
WariiH"^'' a1 ii.'-»"^':infr'''n si'i.
31eiiie 8iipp«>stioii Ix-tral nur die S r h in c rz v in |i f i ini u n g, um so inlcr-
esjuanter ist diese Angabe über die erhalt eueTast- und Wärmecuipfiudung,
Hitunter ist die B., ihrer Aussage gemSß, aus dem tiefen Somnambulismus in
einen Zustand von Halbschlaf i^'eratOnt jedoch bei Yilllijrer Bonomnienheit und
ganz ilunkler nachträglicher Erinnernn<j Sie will aUi r iinter dem Einlluß der
auf der Stiru liegenden Huud immer wieder iu Tietscblaf geraten sein. Aber
auch während dieser kurzen Perioden des Halbschlafes will sie niemals eine Spur
TOn Sclinierz tunpfuciden haben.
1)10 Wiichnerin ist iibergliicklich. dal! der ganze ProzelJ ohne Schineiz, ohne
Daininrili un«l so schnell T(tr sich gegangen sei. Sie preist die Hypnotisiernng
als groüe Wohltut ; denn bei erhaltenem Jicwulitseiu hätte sie nicht gowuUt, wie
sie die Sehmerzen hatte ertragen sollen.
Die B. gc))ur ein ge.suiHb-s Mädchen, da$ laut sdirie. naclKh in es das Licht
der Weit erblickt !i;itt<\ '^i" orholff «-ich vi«ii i]'n: Wochenlirf t»^ in f;nj.:f»ti
Wochen, ütellte sich mir dann als gesund vor und w urde dauu nach einem halben
Jahre wiederholt bei Demonstrationen Kollegen vorgestellt.
Auffalleu muß in vorliegender Betiliaclitung ilie Kürze der Zeit,
in welcher die 2. und 3. ( K^-luirtsperiodo ablieieu, Dämlich von 3 Uhr
5 Min. bi<« 4 übt 12 — d 2 uud 3 Miu. und dazu noch bei einer
Primipara.
Aus dem Verlaul' des beschnebeueii Gt t'uitsjiruzesses liilit sich
vermuten. (htlJ das durch Suggestion geregelte Verhaiteu der Kreiliendeu
hierau eiiitu lordernden Auteil hat.
Dieser Fall — einer der wecigeu, wo nicht der einzige der bis
jetet in Deutschland beobachteten — lehrt ebenso« wie ähnliche Er-
fahrungen in Frankreich, daß es möglich iet^ bei geoQgend vertiefter
Hypnose :
a) den Weheoschmerz fär das Bewußtsein der Kreißenden per
iSuggestion zu beseitigen;
b) das Verlialten derselben, die Körperlage. Haltung der Glieder etc.
in einer für den Geburtsverlauf zweckmäßigen Weise zu re-
jjeln. und
c) die Wehentiitigkeit suggestiv zu verstärke!! oder abzusclnvächeu
dllrc}^ KinwirkuT ir nuf dif Aktion der wiiikiirlicheu Mti"<kelu.
Müye diese in jeder ii«'/.iehung jL'iinsti^e F^rfnhruug deut^elien
Arztrn die Anrcgting bieten zu weiteren l ntei>uchungeu über die
prtiktiscbe Hedeulung der Suggestion für die Geburtshilfe!
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Lippert ä Co. (0. Pits'teb« Bachdr.), Nanmbuis üS.
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