Skip to main content

Full text of "Kriminalpsychologische und psychopathologigische Studien; gesammelte Aufsätze aus den Gebieten der Psychopathia sexualis, der gerichtlichen Psychiatrie und der Suggestionslehre"

See other formats


Kriminalpsyc 
und 
psychopatho 
Studien 



3P 





ir 



Albert 



Schrenck-Notzing 



Xibrari? 

- of tbe 

irinivcreitip of Mteconein 



Kriminalpsychologische und Psychopathologische Studien. 



Digitized by Google 



Kriluinalpsychologische 

und 

Fsychopathologische Studien. 



tieMmmelte AnMtce anB den Oebteten 

der P8ychüpaUiia st^xiiulis, der is^iM'iclitlieheu Psjchiairie uud 

der SuggebtioitBlelire 

von 

Dr. Freiliei-rii v<mi ScIinMick-Notziii^, 

prakt. Arzt iu MlUicbeu. 




Leipzig. 

V'erlug von Jolianu Ambrosius Barth. 

1802. 



Digitized by Google 



Vovwurt. 

Die in vorliogentU'iu Baude gesauunoltei) Aiit!)äl/.e behaadoln haupt« 
sächlich die gerichtliche B^utacktting und pitychopathologische Genese 
solcher zweifelhaften Geisteszustände, durch welche gewisse Mängel und 

Liickcii cUt deutsclion StrafrwIitHpÜege (/.. Ii. die Ivriortuljedürlii^^keit 
von 51 mnl ITfi des R. Sli .-(i - li.s) dctitlicli •rfkeunzeichnet worden. 
Zu den schweheudeit Str^itirageu dieser Art gehören: die forensische 
Beurteilung bestimmter Sittlichkeitsdelikte, die gerichtlich medizinische, 
noch längst nicht hinreichend {,'owürdigte Bedeutuu;? der Suiiftfestion, 
üuwie die überuus wichtige Frage nach der veruiiuderteu Zurechuuugs- 
iahigkeit. 

Die theoretischen Ausführungen hierüber sind durch zahlreiche 

Fälle aus der Kechtspmxis des A'ert'assers gestützt und «lürften tür 
das iSmUiuni jener Fruguu ein willkommenes Material darbiuteu. 

Zwei ausführlich wiedergegebene Gutachten (»Der Fall Mainone*' 
und j.Eine Freisprechung nach dem Tode**) betreffen die Rolle der 

tSuggeHtiun, einmal ah Mittel zu einem Silllichkeitsvergeheu au einer 
Hypnotisierten, und zweitens in einem Falle Ton Morphinismus. 

Einige mehr anhangsweise hinzugefügte kürzere Abhandlungen 

steilen /Ji doni JV-rensischen Teil des nuclits in keiner Beziehung; sie 
wurden vielmulir iu diese Sammlung autgenuiimien, weil die Ueraui»- 



j . -Li by Google 



x 

VI Vorwort. 

gäbe der „Studien" eine passende Oek gotilieit darbot, sie ihrer Ver- 
gessenheit aus den betreffenden Faclizeii Schriften m eutreiBeu. Bisher 
nicht veröffentlicht ist der Aufsatz über sexuelU Abatineuz. 

Mögen die in diesem Buche verölFentlicbten Arbeiten eine freund- 
liche, wohlwollende Aufnabtne finden und zu einer befriedigenden 

Lösung der heiretVeudeu lorensischen und psjxhülogiacheu Fragen das 
Ihrige beitragen! 

München, Juli 1902. 

Der VerfaKser. 



Digitized by Google 



Inhalt. 



Seite 

V)>r\v<irt ■ . . . ■ V 

I. Hcitriigt' zur fon ii^isflifn Itcurtfiliin^' von Siltlirhkoilsvrrpohoii niil 
lifMUuiriN T Hciiicksiohl iuiiiijif »Icr 1*ii|Iio;joik'S(' psyrhoscxucllcr .\iii>- 
maliiMt ^ 1 

1. Kinlciti tiilo Itt'iix'rkiiii^cii iil>cr lluiiios^xiinlitiil . 1 

2. Das Sliaftoclit [.t i scxin'llon l'svchopittliirii 7 

H. Zur i'atlto^oiK'si' iirrv rsrr i{ii'lit iiiigoii ilos (ioselih'ehtstiicl)t's 17 
4. Kasuistik m 

Fall I. Koiit rillt' ScMialeiiipliiHlutijf, Vi-rurtiilniifj eti 

Fall If. ()ff<'iillirln' iiiutuollo Onauit- Vcrurt«-il»nt; «u-, 41 

K:tll III. Konträre Scxualompfiiidniig. Froi.-<|irfchung . 4(; 

Fall ]\'. Exhibition. Sistic-ruiig th'r Auklatfc M 

Füll V. Fortgcsptztc Exhibition. Freisprechung' .')7 
F'all VI. liarviorle paasivo Algulatfiiit'. t)it'n8tf'ii(la-Hsunt;, 

Ufilunp (»}) 

II. Die Frap<' nach «Icr verinituhrteii Zuncliinititrsfähi^koil, ihre Knt - 

wickliinp, ihr g<'gonwiirtiL" I' Si;m.l[nii[ki üihI i ij. ii. I lool>achtunt.'en 76 

I. Die Verhandlungen <les Vereins «leutachcr Irrenärzte über 

verniiiitlerte Zurechiiungslähigkeit 76 

Weitere Meinungsäutjerung<Mi hervorrngentirr i'svciuuter inul 

i;> fhislihrer , , , , , , , , , , , , , M 

j{. Die l'iir lijc vennindcrle Xurecinniiig^läliigkeil tiauptsiichhcli 

in Helradit kouiineinlen Funneu psvchisciier Aiioinalien IMJ 
4. Heobachtungen aus der (i<'richlspraxis <l<'8 Wrfassfrs . . . iVA 

1 < 'lirotiifieher Alkoholisiuus 

LI t.' li I n iii x- ln r A l ku l m li.iiuLi.' 113 

III. K|)ileptiache Degeneration t>4 

IV. F^pile|ttisch>' Degeneration . . *.>4 

V. (iravidität und Hysterie '.>4 

VI. Kliinnkterimn mid Hysterie . ^ - i>5 

VII. Migraine ophtalnii»pi«- unil Zwangsantriebe \Ky 

VIII I..Mi-tili'r Si-lm-!H'hsiiiii , , 



VlJl luhult. 

Seit« 

IX. Ant.'o])orcncr Selm iK-lisinii % 

X. KxhibitioniHimis . 96 

Xt, Kxhiliitionisinus . . t>7 

XII. 1 ':iiiln[.hilia «Totiea . . 97 

Xill. I'iiidophilia crotira . , . 97 

XIV. Koiitriir<' Sexualoniplitidtiiitr . . , 98 

XV. Koiitriirc Scxiialciiipliiuluri^t 98 

5. SehlulUx'iix'rkmipt'ii . . - 99 

III l>io K^crichÜiob niotli/inist-ho Hftloutuiit; <i» t- .Sutrg''sti<>ii . . 102 

1. Eiüli-iluntf 102 

2. Straftiaro Haiulltmt>eii an llv|)ii(>tisi»'i (en KU 

'S. V»T>)rfchtii mit Hilf'' 1 1 vpiiol isiottor . 1 10 

4. Die Si)t;t^''''>ti«'ii im wucin ii Zn.slaml«^ 114 

5. Znsaiiiiiuiifasaiiii^' 124 

KrstiT Naflitra;,^ : Kiiiigc W('il«'rc HoimTkiiii^i'ii ühor «iio niiH - 

liräiu-liliclii' Anw riuluii^^ iK-m ll>|im>tisriiiis . 1 2<i 

Xwt'iltT N'at-hl r,->^^ : I)as aii^'^rlilirlic Siltrn-Iikfilsvcr;;> n <l. > l>i K. 

an t iiirm ii\ |iiii>li>i' I tL-ii Kimir 13:"» 

1. Sacliilar.sIrlluiiL: ih-s any« srliiilili^'h n Ary.tos l.t.") 

2. t iiitaciili'ii des \"<'i-fa.ss> rs . ., 137 

|)iill(r Naihliair: ( uilaelitoii iibtr tifii Fall Saiitii 142 

IjiUratni- Vcr/iifhiiis , 1 .'M I 

IV. n. r Fall M aiiiniu'. Vrrl)rcfli<'r> ^p^cn dif Sit tliohkoit. an i'iiipr 
liyiiiiotisicrtcii, vprlunuk-lt vin- dem Srl>\v(ir<>oi icht in K<"iln am 

7. lind 8. Mai UX)! , . . \h?t 

lat bestand , , lüä 

<Mitat-h><Mi des \'rrfass<'is 1;')7 

.Sf hl»ililH-m«TkiinL'«'n . 1<>2 

V. Kim- Fr^ isprechun); nach dmi 'l'ixlr. (iiitatdit' ii iihor iIpk <iois(fs - 
giistand dts am 17. .Mai VfislorboniMi l'i).s<( xpi-ilitoi-s W. 
;Su;;''< ricrtin'^^ ( Iihs Mor|ihim>tnan<>ii 1 <'>!'> 

VI. I'Ikt sexuell«' Ahstinen/ 174 

licol>a( liinny I : l'syelnsche lnipt>l('nx in der Kli< 17(> 

Heidiaclitun;; 2: Se.xnelle Hyperäatliesje mit IM-iapisnuKs ainatorins 17<> 

\'\\. Hin ( xp( rimenl'lliT und kril iselii r Heit r zur Fia^e d'i- mi^j^;' i von 
n< I vornifiiiij.' ciiriiin.skripler- \ iisoinxti'tisi lier \'eriinderiini;t n ai.f 
<ler änÜeii n Haut , , , , , LiÜ 

Vin. l'l.ei den Voua-Sildal , . 198 

IX. Kine (lelmit in der H\[hh>--, . 205 



I. 



Beiträjs^c zur foreiisisclieiiBeurtoiliiiij^youSittlichkeitfih 
yergehen mit besonderer Berücksicbtigiuig der Patlio- 
genese psyehosexneller Anomalien. 



1. 

Einifiitonde Bemerkungen Qlier Homosexualitti 

Die lebhafte ErörteruDjEf des sexuellen Prnbloins während des 
letzten Jahrzehnts in wissenschaftlichen Arbeiten uiui in den Erzeug- 
nisseu der schöueu Literatur erklärt sich durch die zuuehmende Er- 
kenntniB des gewaliigeD Einflusses, den die geschlechtlichen Faktoren 
Ruf das SedenlebeD ausüben, dessen praktische Bedeutung namentlich 
in medizinischer, strafrechtlicher und sozialer Beziehung bereits all- 
gemein anerkannt ist 

Die durch das Studium der Psychopathologie des 
menschlichen Sexuallebens aufgeworfenen Fragen berühren sich 
aufs engste mit den Aufgaben der Erziehung und der VererbungslehrCy 
mit der Frnnonbewegung und mit gewissen Punkten der Gesetzgebung. 
In medizinischer Beziehung kommt neben genauer Diagnose die T^e- 
handliiuf? und Heilung sexuell ationual empfindender Personen (mit 
HillV- von Psychotherapie, Suggestion) in Betracht. Neuere wissen- 
schnt'tlichc Arbeiten haben uns die Ursache, Entwickliin^^.slMiliuguDgen 
der sexuellen Psychopathien, sowie die liedeutuug de» Eiullusses, den 
die erbliche Anlage einerseits, die Erziehung und die Wahruehmungeo 
des Lebens (das milieu) andererseits, auf die Entstehung der sexuellen 
Anomalien ausüben^ kennen gelehrt. Von ihrer Würdigung hängt für 
den Kranken die Voraussage des Arztes, ein Teil seines zuktinftigen 
Schicksals ab. Wie oft wird ron Ärzten und Richtern heute noch als 
v.Sckrenek'Notciüf, stadial. 1 



. kj .i^Lo uy Google 



9 I. Beitrüge zur forenaiacliea Benrieilaog ron SitUichkeitsrergeheD etc. 



Lasterhaftigkeit erklärt, was nur auf Entwicklungsmängel zurückzufiitireD 
ist! Ganz bpsondcrs oft findet diese betrübende Tatsache ihre Be- 
stätigung vor Gericht, wenn dir Verirrnngfn des sexuellen Trieblebens 
XVL t'iiiem Kontlikt mit den gesetzlichen Bestimmungen geführt haben. 

Neben der rinfachen Onanie (Selbstbefieckung) kommt dir TonWest- 
phal sogeniunite ,.kontr;irf Srxualempfindung" (gesclilechtliche 
Liebe eines ilanues zum !iJiuiu, eines Weibes zum Weibe « Homo- 
sexualität, sexuelle Inversion, Unuiismus etc.) am liäufigsten Tor. Dw 
GeschlechtsverlaDgen solcher Penonen erstreckt sich auf Angehdrige 
desselben Geschlechts, wird dabei auch nicht als «idematttrlich em- 
pfondenj während der Trieb sum anderen Geschlechte herabgesetzt 
oder übeKhanikt nicht vorhanden ist In den meisten Ffillen besteht 
Unfähigkeit, den uonnalen Sexual v*<r kehr anssufttbren; es kommt nicht 
selten vor, daß konträr sexuelle Männer, ohne vorher geheilt zu sein, 
heiraten. In solchen Ehen bleibt, wenn zur Hebung des Leidens nichts 
geschieht, mitunter die Frau virgo intacta; Verfasser konnte mehrere 
solcher Ehen, die sogar teilweise länger als ein Dezeimium be- 
standen, beobachten. Ihrem inneren Wesen nach sind die Homo- 
sexuellen ihrem ( lesclilechte je nach der Gradstufe ihrer Erkrankung 
entfremdet, ihr Charakter, ihre ganze Lel>ensweise kann weiblich 
werden, so daß man von einer weiblichen Seele im männlichen Körper 
gesprochen hat. Bei den leichteren Graden ist der Patient in aktiver 
Rolle, kann sich tum Sexaalverkehr mit dem Weibe swingea und em- 
pfindet den Drang zum eigenen Geschlechte als Verirnmg, oder aber 
der homosexuelle Drang tritt überhaupt nar periodisch oiier bei be- 
sonderen Veranlassungen (Alkoholgenuß) hervor. Eine weitere Grad- 
stufe stellt nach den grundlegenden Forschungen v. K r a f f t - E b i n g ' s *) 
auf diesem Gebiet die fiviratio oder Defeminatio dar. Der 
Charakter des Kranken, seine Gefühle, seine Neigungen, sind im Sinne 
einer weiblich fühlenden Pt-rsiinlielikeit vcrfinflert. Schließlich tuiilt 
sich in den scliweren Formen der l'atit nt aueh köri)erlich als AN'eib, 
trotz männlicher Geschlecbtsattrilnite. Den Höhepunkt bildet der 
Wahn, ein Wi ib zu sein, oder in ein solches verwandelt zu sein. 

Einige Beobachter wollen auch in selteneren Fällen eine An- 
näherung der Körperform an den weiblichen Typus festgestellt haben 
(breite Hüften, runde Formen, reichliche Fettentwickinng, fehlende 
oder spKrliche Bartentwicklung, weibliche Gesichtszüge, feiner Teint, 
Fistelstimme); es soll sogar beim Manne weibliche Bmstbildung mit 
Uilchentwicklung vorgekommen sein. Von sonstigen krankhaften Sym- 



1) T. Krafft-Ebincr: Psychopathia »exuilis. 10. Aufl. 1899. 



Digitized by Google 



I. Beiträg« sur forensbeliea Bearteifaing tob SittlichkeitiTergeh«n ete. 3 

toroen sind boi diesen Patieuten beinprkeTi5?wert: A'orzeitigea (zu frühes) 
Riwaclu-n dt-s Gesuhleclitstriehps. aiionnai«' Stärke de«? Triebes lOnauie). 
schwärmerische Exaltatiou, irest lilechiliche Uhcrerregbarkcit, Entartungs- 
zeichen. Zeichen nervöser Eikraiikun?( Neurasthenie. H vsterie. Hiiilepsie), 
psychische Auoiaalien, Schwachsiuu, moiHÜsches Irresein, Zeichen erb- 
licher Belutung. 

Diese TJnglücklicben sind oft bestrebt^ das Weib nachzuabmen, 
zeigen sieb lanoiscb, feige, Ueinlich, und Tereioigen in sieb alle Mängel 
des Weibes, ebne dessen Vorzüge, und obne irgend welcbe sympathischen 
Eigenschaften des männlichen Charakters. Aber neben dem Defekt 
der ethischen Leistungen stellt oft eine «^läu/ende ^seifige Begabang 
in vdssenschafüicher oder kttnslienscher Beziehung; so finden wir 
homosexuell empfindende Personen in den hervorragendsten, verant- 
wnrtliclisten Stolltnig:^?), — als regierende Häupter. Staaismünner. als 
Zierden der Ivuiist und Wissrnschatl : wir treffen Spuren der konträren 
Sexualemptiiidung last iu allen Zeitaltern der Geschichte, sowie in allen 
grüiiereu Zweigen des Meuscheugeschleehi«. sowohl bei den Indianern 
Amerikas, wie bei den Eskimos in Alaska, bei den alten Helleneu, wie 
im modernen Europa au. Wir begegnen den bomosencUen Praktiken 
aber auch in der Tierwelt, und es seheint, als ob dieser tief im MeDSchen 
liegende Hang zur Variation im sexuellen Verkehr ähnlich verbreitet 
und ebenso unzertrennbar von den perversen Äußerungen lebhaften 
geschlechtlichen Fühlens sei, wie die Prostitation. 

Die Schule Krafft-Ebing's geht mit diesem hervorragenden 
Forscher in der Betonung des erblichen Faktors für das Zu- 
standekommen der fraglichen Anomalie bis zur Annahme piner bereits 
im Embrvo vorgebildeten weiblichen Geschlechtsaulage im Manne, und 
einer männlichen Aidaf,'e im Wi ilie liei der Mehrzahl solcher Patienten. 
(M'iren die Hichti|.'krit dieser Aut'stelhing spricht dii- .MJitjjlichkeit, dali 
mit Hille von Suggesiion ') «-ulclio Kr.inken dauernd geheilt resp. er- 
heblieh gebessert werden können ; sie sind also heute nicht mehr vor 
die Altcruative des Gefäugoisses oder der Irrenanstalt gestellt und 
brauchen nicht mehr lebenslänglich als „Enterbte des Ltebesglückes** 
Opfer ihrer Zwangsempfindungen zu bleiben, sondern können als nütz- 
liche Mitglieder der menschlichen Geeellsehaft Familien begründen und 
in zunehmendem Alter auf eine Schar fröhlicher Kinder zurückblicken, 
anstatt auf ein verfehltes Dasein, welches ihnen bevorstand, so lange 
sie sich für unheilbar hielten. Es ist eine bedaaerliche Tatsache, 



1} Vgl. ▼. Schrenrk-Xotziog: Die .Siigpestionsth^tÄpie bei krankhaften 
Bncheinangcn des üeschlechtsainoei. Stuttgart iHSfi. 

V 



Digitized by Google 



4 L Beiträge sur foreasischeu fieurteUuag^ von Sittlichkcitsrergehen eto. 



diiß der durch die Sachlage keineswegs berechtigte Kultus der Homo- 
sexualität, welcher beute in ein» Unzahl von literarischen Erzeug- 
nissen und Flugschrifben betrieben wird, sich darin gefallt, eine be- 
sonders geartete Klasse von Menschen so konstruieren, die mit dem 
Recht der Gebart (des angeblichen Angeborenseins ilirer Anomalie) 
auch dasjenige homosexueller Befriedigung des Geschlechtstriebes ver- 
langt, Ton einer Korrektur dieser Anomalie nichts wissen will und die- 
selbe auf Grand jener Erblichkeilstheorie a priori verwirft. Hiergegen 
sprechen nun jene vom Verfasser beobachteten Fälle völliger Effemi- 
nation. in denen trotz Rn^f-Micbcr schwerer erblicher Belastung d» nn- 
noch die Anomalie sn völlig zuriick^edrängf werd<ii koiiute, daß Ehe- 
schließung mit Kindersegen und in dcii inzwischen vertiossenen lOJahren 
kein Kiicktall in die frühere hoiiiost^xiu lle Lt hensweise erfoljjte. ') 

^ach der von LJinet uml Meynert angebahnten und vom Ver- 
fasser dieses veiter ausgeführten Theorie kommen homosexuelle Hand- 
lungen und Gewohnheiten auch mitunter bei normalen Personen vor 
als Ausdruck eines nach ErfUUnug ringenden oder noch nicht genügend 
differenzierten Geschlechtstriebes (letzteres bei Kindern Tor und zur 
Zeit der Pubertät, Unkenntnis der sexuellen Verbältnisse, Beizhungery 
faute de mieux bei Weibermangel, in Internateni auf Kriegszflgen, auf 
Schiifen etc.). Sobald aber solchen in ihrem NerTensystem normal an- 
gelegten Personen Gelegenheit zu heterosexuellem \ » rkebr geboten 
wird, findet die Korrektur statt und da.s fiormnle (lepchlechtsfjofüfil 
trägt den Sieg davuii. Anders liegt der Kall, wenn < - Nieh um « rh- 
lich prädisponierte Individuen bandelt oder um allmähliche lie\v(iiiiiuiig 
des psychüsexuellen Mechanisiuub un inadä<)uate Keize (pewolniheits- 
maliige Onanie mit verkehrtem VorstellnngsinhaltJ. Wenn aul dem 
Boden angeborener psycho- oder neuropathischer Disposition &ußere 
Schädlichkeiten (z. B, Verführung zur Onanie durch Mitschüler, Lehrer, 
oder überhaupt Beziehuog der undifferenzierten Organempfitidnngen auf 
männliche Personen in irgend welcher Weise) zu einer Assoziation der 
äuBeren Wahrnehmung mit dem (durch Zufall) gleichzeitigen körper- 
lichen Rilelmis (erste Erektioa. Erregung der Sexualsphärc überhaupt, 
erste Ejakulation, Traumpollution) Veraidassung bieten, so k<mnen diese 
falschen Ideenverkniipfungen für das spätere ganze Geschlechtsleben 
den berrseliendin Kinfltdi «'iner Zwangsempfindung bekommen, dRs 
(leachlechtslebeu und damit den ganzen PlinrnktiT pMtlioloL'isrii ver- 
ändern und so zur dauernden konträren 8exualemptiuduug führen. 

I i V. S c h r (mu- k - X o l z i u j{ : Zur Aotiologte der koutrarca Sexualemptmduog, 
Wien, Uül.lor. 18üj. 



L Beitragre zur forensiseh«!! Beurteilung tod Sitt]ichkeitsTeiigek«D etc. 5 

(Assoziation zweier gleichzeitig gegebenen und in der Folge an einander 
gebundenen Bewnßtseinszustilnde oder Wahrnchraungsinlialte.) Daher 
ist zur Analyse solcher Fälle iiiüglichst j,'enatier Anfschlul] über alles 
notwendig, was solche Patimteu zur Zeit de.-< crsicii Auttretfiis der 
sexuellen Errejuinj;^ psyrliisch Ix scliäffisft hat. weküo Sinneseindriicke 
von ihnen .t;lf'i»'h/.t.iiif,' aiifgcnonniien wurden. Weitere onaniatische 
31anipulatiuiR'U ktmum /ur Bcftbiiguug des krajikhaltea Vorstelluugs- 
inhaltes beitragen. So erklärt es sich, warum mitunter Vorstellungen, 
welcbe scheinbar gar keine Beziehung xum Geschlechtsleben zeigen, 
sexuelle Bedeutung und Betonung bekommen. Der mächtige be-* 
stimmende Einfluß des die ersten sexuellen Erregungen begleitenden 
Vorstelluogsinhaltes ffir die späteren vita sexualis, und das besonders 
hol • rlK'l)1ich degenerativ veranlagten Personen ist in seiner vollen 
Bedeutung heute noch nicht anerkannt worden. Somit stellen sich die 
meisten jreschlechtliohm Verirruiigfn dar als Produkt ungiinstii^er 
üuBrrt r Anbisse bei vorhandener erheblicher oeuropathischer Kon- 
stitution üud Labilitiii des Triehlebens. 

Die Gesctzc'ebuug über dif Sittlichkeitsdelikte hat im Laufe der 
Geschichte ^jiu/. erhebliche Schwaukuhgen durchgemacht. ISie is»t im 
wesentlichen jüdisch-christlichen Ursprungs. Das auf die Bibel ge- 
sttttzte kanonische Recht *) erblickt in jedem Akte der Wollust, welcher 
nicht der naturgemäßen fieischlafsvoUziehung (d. h. lediglich zum 
Zwecke der Fortpflanzung) entspricht, ein Verbrechen. Es geht also 
weiter wie die weltliche Gesefa^ebung, indem es den naturwidrigen 
Beischlaf mit einer Person anderen Qeschlechts, sowie die Onanie l)e- 
straft Die Bibel bestraft die Päderastie, die Sodomie, läßt aber 
merkwürdigerweise die lesbische Liebe straffrei, genau wie das Reichs- 
Strafgesetzbuch. 

Die Einseitigkeit und Härtr dieses nr^prüngbcb i^erren ganz be- 
stimmte heiilnisclie l^nsitten poriehleteu christlichen und mit den Re- 
dürfnisse-n der heuligen Kultur nicht mehr ühereinstiinnienden Meuls 
hat beigetragen zur Kückbilduug uud Verkümmerung der psychosexuellea 
Funktionen bei einem groi3en Teile des weiblichen Gesehlecht?, zur 
Förderung der Selbstbefleckung und Prostitution, sowie der zahlreichen 
Verirrungen und Erkrankungen des Sexualtriebes, sowie zur Unter- 
schätzung und Hemmung der mit den geschlechtlichen Bedürfnissen 
innig verbundenen ethischen und ästhetischen Faktoren, endlich zur 
Ausbreitung der Heuchelei und Läge im geschlechtlichen Leben. 

Den größten Gegensatz zu der christlichen durch eine Abneigung 



1) Weisbrod: Die SittJichkettsrerbrechen vor dem Q««et2e. Berlin 1881. 



Digitized by Google 



Q L B«itiitg« zur foremUich«!! Beurteilung tod Sitfliebkeitavergeheu etc. 



gegen das Irdische überhaupt gekennzeichneten Aiiffassunfr bildet das 
griechische Ideal! Das Sittliche kleidet sich hier in die Form des 
Schönen. In sexueller Bezieliang herrscht große Freiheit, die ge- 
schlechtlichen Fragen werden ohne Scheu, wie etwas Wichtige!? und 
Katürlichus hehaudelt, seihet die Prustitutiuu hekomoit durcli die hohe 
geistige Bildimg der Hetären einen idealen Zug, die Elnabenliebe ist 
erlaubt, insofern keine unlattteien oder gewerbemäBigeii Interasen 
damit Terknfipft sind* Der Begriff des Wideinatttrliehen im hetero- 
sexuellen Verkehr hat nichts Anstößiges. Kurzum, die Geschiehte der 
GeachlechtsYerhältnisse im alten Griechenland lehrt, daß' hohe Kuhor 
und Sittlichkeit sehr wohl vereinbar ist mit einer natürlichen, freieren, 
mehr den Bedürfnissen des menschlichen Wesens entsprechenden Auf- 
fiMSung des sexuellen Leliens. 

Staat und Gesellscbait, welche große Summen opfern zur Ver- 
besserung der Tierrassen, für private Gestüte. A'ichausstellungen, für 
die sorgfältige Konservierung antisozialer Individuen, von Verbrechern, 
Idiuten und Irren in entsprechenden gut eingerichteten Anstalten, 
kümmern sich zwar um di»- unschädlichsten Ahweicliuugeu des Sexual- 
triebes, — das wichtige Geschäft der P'oripilanzung, seihst aber, die 
Erzeugung der nächsten Generadon, das einzige Ziel des ganzen Ge- 
schlechtslebens überlassm sie ganz und gar der Willkür nnd dem Zu- 
fall. Der Mensch ist, wie Möbius^) mit Recht betont, bereits im 
wesentlichen fertig, wenn er das licht der Welt erblickt; die Er- 
ziehung kann nur das Vorhandene fördern oder hemmen. Die staat> 
liehen und gesellschaftlichen Einrichtungen erschweren gerade den In- 
dividuen in der Blüte der Jugend die Heirat, deren Kinder die besten 
Aussichten hätten und zeigen bis jetzt völlige Gleichgültigkeit geged- 
über der FortpHanzung von schweren Verbrechern, unheilbar Tuber- 
kulösen, von unverbesserlichen Trunkenbolden, von Syphüitischeo, 
Geisteskranken etc. 

Die durch Lheitragung erhliclu r Krankheiten auf die Nach- 
kommenschaft, sowie durch nnheküninierle Erzeuguui: üV)erhnuj)t het vor- 
gorufene Verschlechterung der liabäse und Einzelindividuen widerspricht 
dem wichtigsten btuallichen Prinzip der Selhsterhaltung. 

Demnach wäre es eine notwendige Aufgabe der Gesetzgebung, das 
Wohl der kommenden Generation ins Auge zu fassen, anstatt mit der 
Bevormundung der Einzelindividuen in sexueller Beziehung auch da» 



1) 3J.öl>ius: Über die Veretlelung des ineoschlicheu Geschlecht«. 2seuro- 
logiielie Beiträg« . Heft 5, lüm. 



Digitized by Google 



L BeitrKg:« zur forensisehen Beortcilang Ton SittliehkeitsTerg«hen etc. 7 

wo kein Schaden für einen Dritten oder dos Alljcremeiawohls daraus 
en^■ächst. so weit ym Li lien, wie der luhalt des § 175. 

Die Cxcsellschatt seihst müßte durch innere Reformen das Übel 
anf ein Miiiiniuni cinznsrhriiidven suclieu. Da?;« crehört aber in erster 
Linie Aufgeben des l'rui/.qis der Prüderie und Heuchelei in sexuellen 
Dingen, Erleichterung der Eheschließung för normale geschlechtareife 
Indinduen, Verhinderung der Verbrecher- und Krankenfortpflausttugy 
sowie sweckmäßige Aufklärung und Erziehung Mindeijähriger und Un- 
gebildeter, tfan schaffe also eine virkliche sexuelle Erziehnngy leite 
den gereiften Geschlechtstrieb durch Gewährung vernünftiger Befriedi- 
gnng in ungefährlidke Bahoen, man mache dem physiologischen Lebens- 
bedürfnis, der Naturgewalt, die notwendigen Konzessionen, und die 
öfFentliche Unzucht mit ihren Provokationen, die zahllosen ansteckenden 
Krankheiten, die sich mehrende Zjihl der Sittlichkeitsverbrechen werden 
sich in namhafter Weise vermindern , vor allem aber wird der Mastur- 
bation und der Riitwirklung des Geschlechtstriebes in perverse Kich- 
tttugen der Boden, so zu sagen unter den Füßen weggezogen! 

Das Strafrecht bei sexuellen Psychopathien.^) 

Der § 175 des Keichsstrafgesetsbuchcs, welcher die widernatürliche 
Unzucht, welche zwischen Personen mänulicbon Geschlechts oder von 
Menschen mit Tieren bedrängen wird, mit Gefängnis bestraft, ist, ob- 
wohl er schon länger das Interesse der psychiatrischen Sachverstandif^en 
beschäftigte, neuerdintrs Gegenstand lebhafter Kontroverse geworden 
durch dir im Jahre lH*t7 an die ge se tz ge b r n d c u Körper- 
sc haften des Deutscheu lieiches gerichtete Pelitiou auf 
Abänderung des l?aragraphen. Die Eingabe ist unterzeichnet 
▼on 136 Gelehrten, Schriftstellern, Ettnstlem und Ärzten. Sie erfuhr 
aber das gleiche Schicksal, wie ihre denselben Zweck rerfolgenden Vor- 
g&Dger, und wurde Terworfen. Verfasser hat nun durch seine Untere 
schiift die Aufhebung, resp. AbSnderong dieses Paragraphen für 
wünschenswert erachtet, ohne sich jedoch mit der Begründung der 
Petition ein^eistandea au erklftren. 

1) Kap. II, III u. IV wurden zuerst veniflentlicht io dem Archiv für Krimi nal- 
aDtbropologie. Leipzig 18^, Bd. I, Heft 1 u. 2. 

^ 0«genwSrtig wird eine neue, noch umfiiDgreiehere Petition an den Beiebs- 
tag behofs Aufhebung resp. Abänderung dn § 175 vorbereitet: so wünschenswert 
«ine aolehe Abänderung auch ericheioen mag, es hat wenig Wahrscheinlichkeit 



8 !• Beiträge zur forenüacheD Beurteilang Ton SittUchkeitsTergelieii «te. 



Es werden dariu uämlicli Anschauuügcn über das Aiigeboren- 
sein der sexuellen Anomalien, über die Entwicklung der 
bieexnellen Anlage bei Urniogen als wissenschsflilich nahezn erwiesen 
behandelt; ee wird ferner dann behauptet, daß die wissenscbaftlidie 
ForschiiDg auBDahmslos die Natürlichkeit der HomoBexnalität 
im Sinne Schopenhauer*a bestätigt habe! 

Beide Aufstellungen sind unrichtig, worauf Verfasser bei Bttck- 
senduDg der Eingabe aufmerksam machte. Die Hypothese «ner patho- 
logischen partiellen Entwicklung der dem zur Entwicklung gelangenden 
Geschlecht entgegengesetzten Anlage von Centren im Embryo wurde 
bereits 20 Jahre vor Chcviilier') und v, Krafft -Ebing*) durch 
Ulrichs -^j zur Erklärung der geschleehtüchen Inversion aufgestellt. 
Siemerling^) erblickt in der K ra ff t - E hi n g " s c h cn Theorie der 
embryonalen B i 86 xu a 1 i t ä t dasselbe, was Magiien mit dem 
weiblichen Hirn beim Manne ausgedrückt hat. Dir vom Verfasser*) 
schon früher betonte Luverstäudlichkeit der auatomischeu Grundlage 
dieser Deutung wird auch von Gramer*) bestätigt. Er findet innen 
Widwspmch darin, daß sich ein Centram entwickeln soUe, wo das 
Organ (nämlich die vorhandene weibliche Anlage im Manne) ver- 
kümmere. Denn nach einem unbestreitbaren pathologisch-anatomischen 
Gesetz stehen Organ und Gehirn doch in einem WechselTerh&ltnis, 
Auch darin stimmt die Anschauung Grameres mit der in der ge- 
nannten Schrift vom Verfasser geäußerten Auffassung übereiu, daß 
der Geschlechtstrieb eine kompliziert zTisammengesetzte Fiiiiktion dar- 
stellt — allerdings kein reines ,,Produkt der Vorstellungslätigkeit*' — 



für neh, daO bei der großen BeformbedOrftigkeit auch anderer Paragr»pheii gerad* 

jener 4} 175 zurrst ahgoänHf-rt werden sollte. Dagecpn ili'uTte bei einer all^M inr'inpn 
BcTision (ies KeichsstrafgcscUbuches auch die hier behaudelte Frage ihrer Er- 
ledigung entgegen gehen. 

1) Gheyalier: rioversiott sezualle. Paris u. Lyon 1888. 

2! V. K ralft-£bi ng: Zur Erklärung der konträren SexualempBndnng. Jahr^ 
bücher für Psychtatric un<l Nervenkrankheiten. XIV. Ifcft 1. 

'6) Vergl. V. Sehrenck - 2v otziug: Liieraturzusamnienstellung über die 
Paycbologie und Psychopathologie der vita sexnalis. Zeitschr. für Hypn. VII, 1, 8. 

4) Si e ui e rl i u L' : K :>suistische Beiträge zur forensischen Psychiatrie. Fest- 
schrift aiii;iniich des DOjähr. Bestehens der Prov.-Irren- Anstalt Nietleben. Leipzig, 
Vogel, iöy7. 

ö) Sehrenek - Notsing: Sin Beitrag zur Ätiologie der kontriven 
Sexualempfindung. Wien, Holder, 1806. Elio. Zeit> u. Streitsdirift. Jahrg. 34 

Nr. 43 u. 44. 

6) Cranicr: Die kontriirr Rf'xnalf^nspfindnnc hi ihren Beziehungen zum § 17Ö 
des Strafgesetzbuches. Berliuer kliu. Wücheuschr. iS'r. 43 u. 44, lüdl. 



Digiti^cü by Google 



L Beitrage sor forenutcbeo Beurteilongr von Sittlichkeitsrergehea ete. 9 

und nach den bisherigeo Forschuogen nicht ao uiu besonders cerebrales 
Centrnm gebunden sei. 

Trotz ihrer großen Ausführlichkeit und ihres außerordtuilichen 
Quellenreichtums können auch die neuesten Darlegungen MoU's'j in 
dieMm Paakte nicht überzeugen. Nach ihm stellt der homoeexuelle 
Trieb, wie der heteroseicueile einen sekundären Geschlechtscharakter 
dar. Die Reaktionsfähigkeiten anf spezifische Sinnes- 
wahrnehmungen B. mit bomosexuellem Inhalt) können nach 
o 1 1 ererbt sein und die Richtung des Geschleebtstriebes bestimmen ; 
dieselben werden gefördert durch einf J^rhwäche oder Funktionsun- 
fähigkeit der heterosexuellen Reaktionsfälngkeit. Das kommt mit 
anderen Worten auf das gleiche Ziel hinaus: In der Keim an läge 
ist bereits die K n t s c h o i d u n jj; über die Qualität des Ob- 
jektos (Männer. W'riljrr;. auf welche das Individuum später z. B. zur 
Zeil der- Puberiät geschlechtlich reagieren soll, vorgebildet (luhak- 
erfiillte angeborene Triebej. Mit dem gkiclien Rechte könnte auch 
die geschlechtliche ^Neigung zu Kindern, Tieren oder leblosen Gegen- 
standen präformiert im Embryo vorhanden sein. Jedeoialls ist es eine 
offene anch durch Moll 's sorgfältige Studien nicht entschiedene Frage, 
ob und inwieweit die Reaktionsfähigkeit der Triebe anf spezifische 
äufiere Rene (Objekte) bereits in der Keimanlage präformiert ist Wir 
kommen auf diesen Punkt noch im Verlauf der Darstellung zurück. ^ 

Diese Bemerkungen dürften genügeu, um zu erkeonen, daß die 
Eingabe an den Reichstag Fragen als völlig entschieden behandelt hat, 

die heute noch von einem großen Teile der Fachgelehrten im entgegen« 
gesetzten Sinne aufgefaßt werden und jedenfalls noch offene sind. 

Die Be7,iehiiii£r auf ..S c h op e n h a ii e r**, der die .."Nntiirlielikeit der 
Homosexualität •• nach di-iii Tenor der Petition behauptrt halji'U soll, 
ist /uiü mindesten uuvollsiaudig oder ungenau. Denn Schopenhauer 
betrachtet gerade an der Stelle des Citates die Päderastie als einen 
irregeleiteten Instinkt.") Sie stellt nach ihm „an sich betrachtet 
sich dar als eine nicht bloß widernatürliche, sondern auch im höchsten 
Grade widerwärtige und Abscheu erregende Monstrosität, eine Hand» 
lung, auf welche allein eine TÖllig perverse, verschrobene und entartete 
Mensdiennatur irgend einmal hatte geraten können?*^ 

In den. genannten Punkten ist also die Begründung der Eingabe 



1) Moll: Untersuchungen über die libido lexualis. BerUn 1898. 

2) V. Schr<'nok-Notzin|:^: Suf^fgostiotiiitlionipie bei kraakliAften £rBcliei- 
nuQgcit (los Cicsohiot'htssiiines. Stiittjjart. Enkc, 

3) Schopeu Lauer: 31c'taphvsik di-r ücschlfchtblii-bc. Anhang 18&9. 



Digitized by Google 



10 L Beitrüg« rar foreDBisclien Beurteilung tod Sittlichkeitivergehen etc. 



nicht mit den Tatsuclieu in Einklang zu bringen, und bierin lit^gt wohl 
aneli der Hauptgrund, warum eine Aiizaid uamhafter Facligenossen, 
wir B i 11 s w a n gfir (Jeuai, Forel (Zürich), Siemens (Lauenburg) 
die Eiügiiite uicht uuterschrieben haben. ') 

Fttr die Reformbedarftigkeit des § 176 dürften andera 
Grfl&de schwerer ins Grewicht fallen, als gerade die medinnisclieD. 
Zwar l&ßt sich gegen den Nachweis Gramer 's*) und Höchens*), 
daß beiscb1afsähDli<die päderastische Akte mitunter auch von gesunden, 
weder an erworbener noch angeborener konträrer Sexualempiindung 
leidenden i^Iännern ausgeübt werden flntemate, Getangnisse. Weiber- 
maugei), nichts einwenden, aber die forensische Praxis zeigt, daß solche 
Fälle nur selten zur gerichtlichen ^ • i handlung führen. In der Regel 
betriflft dieseüu- erblich belastete, m«'lir oder minder psvchisch defekte 
Persniiliflikeiten mit konträrer Sexualeniptindun^ . mit Impuit iiz im 
heteroscMU'llcii \"rflcriir. oIhih dali es ficii liif r stets um wirkliche 
Gei^^teskraukiieit liaiitleltt.', und ohne daß ihre freie \\ illriisbeatimmung 
nach § 51 d. R.-Str.-G.-B.8 in der Hegel deswegen ausgeschlossen 
werden müßte. Wie Sommer^) mit Recht bemerkt, kann die mensch- 
liche Gesellschaft die ßeherrschung eines endogen perTcrsen 
Triebes ebenso verlangen, wie sie die Beherrschung des endogen 
allosexuellen Triebes rerUngt, wenn er gegen ein Kind gerichtet ist, 
ebenso wie sie fordert, daß die Tielen Antriebe^ fremde Gegeustäude 
zu besitzen, unterdrückt werden. Also der Umstand allein, 
daß jemand sexuell pervers ist, mächt ihn noch nicht 
straffrei. Die Entscheidung über das. was nach den Sittlichkeits- 
beuriffen verpönt ist oder nicht, lifgt in dfr (ifVeiit heben Meinung, in 
der von itir abhängigen gesetzgebenden Kiirpi ix haft. 

So gilt heute in England der rr»itus per an um mit einem 
Weibe ebensowohl wie mit einem J^launo als felony und wird mit 
10 Jahren Freiheitsstrafe als 3Iiuimum, mit lebeut^langlicher Straf- 
arbeit als Maximum bestraft. ^) In Frankreich, Italien, Holland, Bel- 
gien und anderen Ländern ist der homosexuelle Verkehr straffrei, in 



1) llii scLft'lfi: }5 17.1 diL's R.-St.-U.-B. Die hoinuscxucllo Frugc iuk Urteilo 
der Zeitgenosseu. Leipzig 1886. 

2) r ra luer: loc. cit. 

:i< Hocho: Zur Fni<;e «ior forcustschcii Beurteiluug sexueller VcTgckea. 
licurol. C'cDtralbl. J8%. Nr. 2. 

4) Sommer: Kriminalpaychologie und Kriminalgosetzgebung. Deutsche Heci. 
Ztg. Xr. 79 u. 8D. 1894. 

H u V « 1 <> < k • EUis: Das konträre Qeüchlcchtsgcfühl, äbersotzt vonKurella. 
Leipzig lim, Ü. 2ö9. 



Digitized b\ 



I. Beiträfre >ar forensischeD BeuHeOung; von SittliehkeiteTergehen ete. H 

Deutschland der amor lesbicus, während der let/^toro in Österreich 
unter Strafe gestellt ist. Wenn nun auch, wie Hoc he*) mit Recht 
hervorhpbt . das Bestehen von Strnt"be?«timmiinireii fiir schwankende 
Kiituren flu Moment darsLelli. Avelcher die Krweckuii^' von (lepenvor- 
steUungeo im Sinne einer Beherrschung ihrer Impulse eileit htiTt. so läßt 
sich doch dagegen einwenden, dali man in jen^n Liiuderu. wu solche 
Strafbeiitimmungen nicht existieren, eigentlich von uiuei ,.besoDdersi 
gearteten" Klasse voq Menschen, deren soziale Berechtigung sogar 
dnreh einen spesiellen Literatnnsweig '-) Terteidtgt wird, ne\ weniger 
hört oder merkt. ■ Durch den Makel der Bestrafung, durch schmntzige 
Untersuchungen dieser Art wird erst recht die Aufmerksamkeit auf 
diese ünglücklichen hingeleitet, ganz abgesehen davon, daß das Un> 
glttck, welches durch solche Skandalprozesse Uber manche Familien 
gebracht wird, gamicht im Verhältnis steht zn der Bedeutung der be- 
treffenden antisozialen Handlungen. Denn eine wirklich endogen sexuell 
per\'erse Persönlichkeit ist auch durch Strafe nicht zu bessern. Und 
wenn zwei erwachsene niünnliche Individuen an homosexuellen Prak- 
tiken ihre Befriedigung finden, so ist das doch eine Privatsache, durch 
welche in den meisten FiiUcu kaum fremde Interessen geschädigt 
werden, so lange eben die Öffentlichkeit und die Jugend damit ver- 
schont bleiben. Daß auch dem Erpressertam und der männlichen 



1) II 0 che: lue. cit. 

S) Diesen Zweck verfolgt daa zum cntenmal 1899 ersehieoene und heute in 

vi< r .ralir^iing«*n rcsp. Binden VOrli^end«' von Dr. Jlirscbfold horiuisgoj{flM.'iie 
Jahrl.uch für m xtieü ' Zwischmi^Tuf. n. TM 1 /ühlt 280, B^i TT 48:^, H<1 III 616 
Ufld BtL IV 980 Seiten. Alles was irgendwie eine liezi*.'buug /uin sexuellen Problem 
bietetf findet man hier mit Quellenangaben gesammelt. Uochiuteressante wissen- 
MihaftHclie Abhandlungen *ua der Feder geiatreiefacr Gelehrter, hiatoriache, anthro* 
pologisclie, uiedi/inisebc literarische HeitnLf,'e, uusfiihrliche Bo.s[irechungen der 
Xiiteratur und bibliographische Xrtti^rri hnb»^n difsfs I "ntcrnohuieri bereits zn einem 
WcrtTollen und für den FachniuDii unentbebriichen Hdfsmitlel der Forschung ge- 
maeht. Man mag die Lehre do« Angoborenaeina der HomoaejcoAlitit (im Sinne 
Krafft-Kbing's) verwerfen, wie sie in den Juhrbächern beinahe dngmatiseh 
vertreten wird und mit immer neuen Beweismitf f|n ausgestattet erseheint; mau 
mag es als ein Cbaraktcriittikum unserer dekadenten Zeit betrachten, daO eiuv 
psychopathologische Spestes Ton Uenadicn bestehend aus wirklichen Degenerierten, 
aus Herniaphi riilitrn und pajrdliachen Zwittern eine besondere soziale Anerk<-nnaBg 
und Da.*-' iiistn rtH-hti<,'uiip anstrebt, ^nwie frrir r>rt:iiiL.'ian^: ihres mit dem Xatur- 
SWeck im Widerspruch stehenden geschlechtlichen irieblebens, »ier riesi)K'en uuer 
Bildlkhen Arbeitskraft, der zähen Ausdauer, der geschickten Urgauisation, wie sie 
in diesem Unternehmen betätigt sind, wird man die volle Anerkennung nicht 
versagen können, um so weniger, als ja auch die Abünderuogsbedttrftigkeit dea 
§ 75 von den (iegnern der Vererbungstbeorie zugegeben wird. 



Digitized by Google 



12 i> Beiträge zur forcuviscbeu beurteiluag tod i!>ittliclikeit«verg«h«D etc. 



Proatitiition durch den § 176 Vorschub geleistet wird, darüber herrsdit 
meines Wissens keine MeinungsTerschiedenheit. 

Ebenso wie die Ausführung des pSdenstischen Aktea^ so gehören 
auch Sittlicbkeit^Tergeben an Knaben von Seiten wirklicher kontrftr 

Sexualer zu den Selteuhdten.*) 

Große Schwierigkeiten bietet aber auch die Handhabung 
jener Paragraphen in foro sowohl für d< ii Trichter wie für den 
Sachverständigen. Denn die beischlalsähnlicheu oder beischlafsartigen 
Hatidlnn»efi wiirdon durch reichsjrerichtlieho EntschoiditriEj ym A(]ni- 
vaientt'ii ilcr P;i(k'i;(stie. Hier/ii gehört nun die iiiutuclle (Juauie (die 
maun«;tii])iHtio inler ?iiu-i nicht, wohl aber die Einlilhrijug des männ- 
lichüii Ijliedes in irgend eine Küipcjhühle des rurtiiers oder ein 
Reiben des Gliedes am Körper des anderen. -j Schon die auf diese 
Weise mögliche Erregung des Geschlechtstriebes ohne Ejakulation 
stellt eine strafbare Handlung dar. Der in den meisten Fällen einzige 
Zeuge für solche Delikte ist jener PartDer, ohne Rücksicht darauf, 
welche Motive ihn bei seiner Tat geleitet haben (Brpressertnm). 

Gerade für die Schwierigkeit uud juristische Meinungsverschieden- 
heit bei Auslegung des § 175 sind Fall 1 und 3 dit srr Arbeit*) lehl^ 
reich. Während die Verwerfung der K< vi^ion in Fall 1 von dem 
Reichsgericht damit begründet wird, daß schon das beischlafs- 
ähnliche Verlan i^iii hei Berührung di"^ miinnlirhpn (-rlicdes mit 
einem anderen mäuulichi'ii Körper den Täter strafbar machte, kommt 
in Fall 3 das ljf\ndj?«'nfht Miin<*ho)i 1 infolge ganz anderer Anscliuuuug 
zur Frrispret Illing' (Icä AugtkiaL'ti n. Denn die Beweisaufnahme ergab, 
tlaß der Angeklagte B. sich zwar niil dem entkleideten Dienstknecht 
in ein Bett gelegt und mit seinem erigierten Gliede Stöße gegen den 
entblößten Bauch des Dienstknechts ausgeführt habe. Das Gericht 
erblickte aber hierin weder eine beischlafsähnliche, noch eine beischlafa» 
artige Handlung im Sinne des Reich^richts, sondern lediglieh ein 
zufälliges Stoßen des erigierten Gliedes auf den Körper des anderen, 
und zwar in deutlichen Intervallen, wir sie beim Geschlecht-alct nicht 
▼orkommen. Diese zwei Urteile enthalten einen direkten Widerspruch. 
Denn welches Motiv veranlaßte den si<-h selbst für konträr sexual und 
impotent im heterosexuellen Verkehr erklün lulrn B., den entkleideten 
Dienstknecht zu sich ins Bett zu nehmen, da für die Ausübung mutu- 

1» T. Krafft'Ebing:: Der kontrXr Sexuale Tor dem Straf richter. 3. Aufl. 

Wien und Lv\\m\i 1895. 

2 Moll: Kuntriirr Scxiiulcniplindung. 2. Autl. Berlin 18^3. 8, 2ÖÖ. (Zu- 
saiumeuütclluug der reichügericbll. £trkeautüii$t'.) 

3) Man vergleiche die Kaaniatik weiter unten. 



. j . . y Google 



I. Beitrüge lur forenshelieD Beurteilung von Sittlichkeitsrcrfehen etc. 13 



eller Onanie die Töllige Entkleidung nicht notwendig erschien? Es 
kann also weder das beischlafsähnliche Verlangen des B. (Erektion 
eines Homosexuellen), noch dio stoHnrtip^p Berührtin;? soines erigierten 
Gliedes mit dem entldoiiten KiirjxT d' niidiTtMi be/weitVlt werden. 
Damit ist der Tatbestand der reichsgenclitlichen Entscheidung ge- 
geben und dennoch erfolgte Freisprechung. 

Dieses Beispiel lehrt deutlich, zu welchen üuklarheiteü und 
Inkouscqueozeu der § 176 in seiner jetzigen Fassung führen muß. 

Y. Krafft- Ebings) findet diese Kechtsflbung auch vom psycho- 
logischen Staadpunkt ans ganz unbegreiflich. Denn das strafbare 
Homeot könnte doch nur der Dolus, die erreichte und gesuchte Be- 
friedigung am Körper der gleichgeschlechtlichen Persönlichkeit dar- 
stellen, wobei die Mittel, wie dieser Zweck erreicht wird, erst in zweiter 
Linie zu berücksichtigen wärt n. 

Während die Beurteilung der Delikte, die unter § 175 fallen, so- 
wie die Begriffsbe«;ti!iimi!i!? der als bcisclil:ifsä!inlich oder heiscblafs- 
artig aufzufassenden Handluügeu stet-* Saclie der ric h t e r 1 i c lie n 
Eittscheiduiifi; sein wird, erscheint für die sachverständige Beurteilung 
des ( Jeistts/.Mstandes § 51 des R.-Str.-G.-B. wichtifrer. als 175, 

Uersi-lbe lautet: „Kine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, 
wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in eiuenoL 
Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankkafter Störung der 
Geistestatigkeit befand,, durch welchen seine freie 
Willensbestimmung ausgeschlossen war." 

Dabei ist der Ausschluß d«r freien Willensbestimmung nicht im 
nll^'emeinen oder für sunstige Handlungen, sondern zu der speziellen 
Tat Liemeint. Der Nachweis krankhafter Störung der Geistes tätii^keit 
ist beim Vorhandensein echter Psychosen (Paranoia. Paralyse, Epi- 
lepsie. Alknhn]i<;mus, Dementia senilis etc.) oder schwerer Formen 
j?*Mstiger Schwächezustände unschwer zu führen. Zu Meinunfjsver- 
achiedenheiten zwischen den Sacliverstäiuli^^en unter sich und mit dem 
Richter geben sehr leicht solche sexuellen Dehkte. div in Zustünden 
zweifelhafter Zurech nungsfähigkeit von scheinbar normalen 
Personen begangen werden, Veranlassung. Und in der Tat bietet die 
Fassung des § 61 in foro größere Schwierigkeit, als diejenige des 
§ 176. 

Zunächst ist zu betonen, daß es bei Beurteilung der fraglichen 
Handlung, sobald diese das Produkt einer sexuetten Triebanoroalie 
darstellt) gar nicht darauf ankommt, in welcher Weise die sexuelle 



1) Erafft-Ebing-: Der Kontraraexuale. ioe. cit. 



uiyui^ed by Google 



14 X. Beitrage siir foreuisdien fiearteilung vod Sittlichkeitsvergehea etc. 

Psychopatliie entstanden ist, z. B. ob die kouträre Sexualempfinduug 
angeboren, ob sie auf erblich neuropathischem Boden entstanden oder 
lediglich erworben ist. Sondern er tragt os lediglich, ob im Augen- 
blicke der Handlung eine Störung der Qeistestätigkeit be« 
stand, durch welche die freie Willensbestimmung ausge« 
schlössen war. Und wie schon erwähnt wurde, der Nachweis des 
endogenen Gharakters der Triebanomalie bietet noch durchaus nicht 
das nach § 51 erforderliche Kriterium der Geisteskrankheit; also 
sichert Ausführung eines perversen Sexualaktes, wenn dieser auch 
durch eine krankhafte Richtung der vita sexualis herbeigeführt würde, 
keineswegs die Straflosigkeit. Vielmehr ist zu ermitteln, ob das Indi- 
vidnum auf Grund seiner psychischen Or«?anisation üluTliiiupt in der 
Lagr war, reclitliclu! und sittliche ( 1 e ;^ e ii v o r s t e 1 1 u u gen 
zu Inlden. u(]< r ol» dieselben durcli psycliisc'lic Erkrankung in Ver- 
fall kamen oder unwirksam wurden. Auf der audtreu Seite 
ist die St&rke der Antriebci die Bestimmbarkeit des 
Trieblebens durch äußere Reise, efentuell ein impulsives 
Auftreten der Triebe zu berücksichtigen neben der psycho- oder 
neuropathischen Grundlage und dem Bestehen sonstiger Zwangssmstände 
oder Abweichungen vom geistig normalen. 

So dürfte in manchen Fällen der Nachwois der Unwider- 
stehlich k e i t des Triebes bei einer psychopathischen Grundlage nach 
§ 51 zur Freisprechung führen. 

MolP) kommt in seiner erschöpfenden Darlegung dieses Punktes 
zu dem ScldnB, daß auf Grund di-s !? 51 wohl nur in selten» ii Füllen 
bei sexuellen Akten ein vollkomnu iier Strafanssrhlnl? InTechtif^t sei, 
während das Bestehen einer Perversiuu stiafmilderml ins Gewicht falle. 

Meist handelt es sich um eine allerdmgs durch die krankhafte 
sezuelie Triebrichtung beeinträchtigte Willensfreiheit, und 
es ist die Aufgabe des Sachverständigen, den Grad dieser Beein- 
trächtigung genau festzustellen. Da das Gesetz nur den vollen 
Ausschluß der Willensfreiheit anerkennt, nicht aber eine 
Torminderte Zurechnungsfähigkeit, so tut der vor die 
Alternative gestellte Sachverstandige gut, den Grad der Willensbe- 
schräukung schätzungsweise in Prozenten auszudrücken. Sprechen 
B, mehr Argumente für die Willensfreiheit, und lassen sich dennoch 
Momente aufweisen, die zeigen, daß der Täter nirlit völlig impulsiv 
handelte, sn künute das etwa z. B. durch das Veili.iltnis von 70 
ausgedrückt werden. Bei einer solchen Ausdrucksweise bleibt es ganz 



1) Holl: LibiUu sexualis. Berlin 1898. S. aiö. 



Digiti^cü by Google 



I. Beitriig« «ir fersttriMheD B«irteiliittff von 8ittlidikni«veygaili«ii «tc. 15 

dem Ermessen des Biditers überlassen, ob er die hochgradige Willens- 
eiuscbränkung der völligen Willenlosigkoit gleichstellen will. Der be- 
griff des Krankhaften kann übrigens z. £. durch das Bestehen der 
„konträren Sexualempfindung" alhn'n ^epreben sein, ohne daß andere 
Symptome eines krankhaften XtTvpii- oder GeisteHznstnndes iiaclizu- 
weisen siiul. Kin soleh^r Fall dürite allerdings zu den grüßten Aus- 
nahmen gehören, wurde aber von Moll u. a. beobachtet. 

Andererseits muß der Kausalzusammenhang zwischen der 
strafbaren Tat und dem durch krankhafte Störung der 
Geistestfttigkeit ausgescbloss^nen Willen beeonden naeli- 
gewiesen werden. Ein Konti&seznaler kann ferner dnreli die abnorme 
Stärke seines perversen Oescblecbtstriebes — einem psycbisch krank- 
haften Vorgang in Bexug auf Inhalt uod Stärke des Triebes — ge- 
drängt werden zur homos«cuelIen Befriedigung. ESs bleibt ihm nun 
die Wahl, entweder die gesetzlich nicht beanstandete mntuelle Onanie 
oder iigend eine strafbare beischlafsähnliche Handlung zu diesem 
Zweck vorzunehmen. Wenn nun die inkriminierte Tat auch zweifel- 
los ihr Dasein einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit verdankt, 
SU beriiitriichtigt sie doch so lange die Willensfreiheit des Angeklagten 
nicht, als dieser die freie Entscheidung treffen kanu und triftt über 
die Form der ihm adäquaten gesclilechtlichen Befriedigung, Dabei 
kann ihm, wie den meisleu konUär Sexualen, die Einsicht in die 
eTentnelle Strafbarkeit seines Tuns als Regulativ für seine Handlungs- 
weise fordernd zur Seite stehen. Dieser Fall zeigt deutlich, daß die 
anormale Stärke eines perversen Antriebes noch nicht straffrei macht, 
auch der normale Mensch ist durch abnorme Stärke seines Triebes 
allein nicht genötigt» auf illegalem Wege -Befriedigung zu suchen. 
Wenn der Richter auch bei den sexuellen Psychopathen leichteren 
(Grades dem Gesetze fn len Lauf laßt, so muß ausdrücklich betont 
werden, daß in der Regel auch leichtere psychische Störungen, sofern 
sie zu jenen Handlungen Veranlassung boten, durch die Strafe 
keine Veränderung erleiden. 

J^'ür solche Zwischenstufen geistiger Gesundheit und geistiger 
Krankheit wäre die Einführung des BegrittVs der verminderten Zu- 
rechnuugsfähigkeit sehr zu empfehlen, v. Liszt'j schlügt vor, bei ge- 
gebener Geraeingefahrlichkeit des Gegners die Gesellschaft zu sichern 
durch Verwahrung des Täters in ärztlich geleiteten An- 
atalten. Bfit der Verurteilung zu einer milderen Strafe wäre die 



1) r. Li ist: Die strafreehtliehe ZureehnungsßUUgkeit. Bericht für den III. 
lateriML Ptychologeakongrelt. Htinehen 1867. 9. 48. 



16 L BeitrBge zar fbrensiaehen Beurt«Uttttg von Sittlielikeitiv«rg<di6n 

TlhprweisMTif^ an eine Anstalt zu verbinden. Die Vorwahning in der 
Anstalt hat voraufzugfhcn ; sie wird auf die Dauer der erkauuten 
Strafe aufgerechnet, und zum Strafvollzuge konnnt es nur dann, wenn 
vor Ablauf der urteilfmäliitreii Strafdauer Kntlassmig aus der Anstalt 
wegen eingetretener Heilung »iatttiudeu sollte. 

£in Jahr nacb der ersten VeröfFentUcbung dieser Abhandlung er- 
schien das Werk von Professor Dr. F. Waobenfeld, „Homosexnalitilt 
imd Strafgesets", ein Beitrag zur üntersuchung der Jleformbedttrftig- 
keit des § 175 (Leipzig, Dieterich 1901). Verfasser erörtert, wenn 
auch mehr Tom juristischen Standpunkte} eingehend die psjchologiseben 
Grundlagen der Kontrasexualität und hSlt die<Theorie der Wiener 
Schule durch Cramer, Hoche» Näcke und den Verfasser für widerlegt. 
Obwohl aber gerade von den genannten Autoren die Krankhaftigkeit 
der Urheber in der erdrückenden Mehrzahl der Vergehen gegen 175 
besonders betont werde, so wünscht VV^achrnfold dt nnoeh die Bestrafung 
der Täter als Förderung der Sittlichkeit und im Interesse des allge- 
meinen Wohls (bei homosexuellen Handlungen beider Geschlechter). 
Seine Vorschläge lauten, wie folgt: 

„Die widernatürliche Lu/.ucht zwischen l'ersonen gleichen Ge- 
sohlechts ist mit Geföngnis zu bestrafen ; auch kann auf Verlust der 
bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. 

Liegen mildernde Umst&nde vor, kann auf Geldstrafe bis auf 1000 
Mark erkannt werden. 

Dieselben Strafen treffen denjenigen, weleher andere zur wider- 
natürlichen Unzucht verführt hat.** 

Gewiß würde die Einführung der Geldstrafe für Fälle mit mildern^ 
den Umständen einen großen Fortschritt biHlculeu. Indessen wird die 
Schwierigkeit in praxi iitn so wetnger beseitigt, uU Wachenfeld mit 
dem BegrilV di-r „verminderten Zureclinungsfaln'f^keit" im Stral'r»^("li! 
nicht operieren will. Er geht in seiner Auslassung nämlich von der 
Voranssi tzuug aus, (hiß die konträre Sexualemptindnng, sobald sie 
durch sachverständige Gutachten als Ausfluß eines kraukhafit n Triebes 
dargestellt wird, in Gemäßheit des § 51 straflos bleibt. Diese Vor- 
aussetzung trifft jedoch nur (Ur sehr wenige und lediglich sehr schwere 
Fälle zu; bei der großen Mehrzahl sokher Personen ist zwar eine 
mehr oder minder entwickelte krankhafte Anlage nachweisbar, — nicht 
aber die ebenfalls von §61 geförderte föllige Aufhebung der freien 
Willensbestim m u ng. 

Hiernaeh blieben wir auf dem alten Standpunkt, nämlich bei der 
zwecklosen Bestrafung psychopathischer Individuen, welche nach einer 
kurzen Freiheitsentziehung oder Erlegung der Geldstrafe in kürzester 



Digitized by Google 



I. Beitrage zur förenaisclien Beurteilung toh SittliehkeitsTergehen etc. 17 

Frist ihren krankhaften Antrieben von neuem nachgehen ! So ver- 
dienstlich die gründliche und utufassende Arbeit WachenfeUrs sein mag, 
90 haben dennoch die darin entwickelten Rei'urmvorschläge es nicht 
Termocht, die vorhandene und ?od mir aosfübrlich nachgewiesene 
Schwierigkeit zu beseitigen. 

3. 

Zur Pathogenese perverser Richtungen des Geschlechtstriebes. 

Besooderes Gewicht für die Beurteilung des § 175 legen einige 
Autoren Crrainer'), Hoche') ru*' das Vorkommen homo- 
sexueller Handlungen l»ei nt> Finalen Personen, namentlich 
im Anschluß au Onanie, au Liöbesverhäitnissc vou Kuabeu zur Puber- 
tätszeit, in Internaten etc. Die Tatsache solcher mitunter epidemisch 
ansteckender Betätigungen des Geschlechtstriebes ist nirgends in Ab- 
rede gestellt und zeigt, daß der perrerse Akt nicht ohne weiteres auf 
ein per? erses Empfind«i zorückzuführen ist. Verfiuser hat adion früher 
die Wichtigkeit dieses Ponktes besondeiB hetont'). 

Als Beweis dafilr bezieht Gramer^) sich aaf das klassiiche Alter- 
tum. Wenn er aber weiter behauptet» pathologische Verhältnisse hätten 
hierbei keine Rolle gespielt, sondern lediglich die Variation in der 
Geschlechtsbefriedigung, so findet er sich im Widerspruch mit den 
historischen Tatsachen. Wie in dem Kapitel: ^Zur geschlechtlichen 
Entwicklung der konträren Sexnal^Mupfindimg im Altertum" des oben 
citierten Werkes*) vom Verfasser nachgewiesen wurde, entwickelte sieh 
aus der ursprünglich idealen Knabenliebe eben durch se\ucUen Abusus 
schließlich vollständige Homosexualität. Die „Patbici*' des Altertums 
entsprechen den heutigen Konträrsexuaicu. Die künstlich aufgenötigte 
RoUe des Weibes führte zur Untergrabung lainnlichsr Tugenden. 
„Später traten erwachsene Männer als Pathioi auf, und es zeigten sieh 
nerröse und psychische Afifektionen (Impotenz, Blödsinn). Die „Andro- 
gynen" und „Kinaeden'* waren wohlbelcaent und eine beliebte Ziel- 
soheibe des Spottes. P a r m e n i d e s ^ i hat geradezu die Absiebt aus- 
gesprochen, daß die Fatbici mit der Anlage zu dem Laster geboren 



1) Cramer: !*»<•. cit. 2) Hucbe: loc. rit. 

3) V. Schre II i-k - N o tzi ug : „Suggcslioustherupie", loc. cit. S. 156. 

4) Cramer: loc cit. 

5) V. Schreack-Notzin^: Stiß(roätionstb«>rai>io bei krankhaften Erscbei« 
nuDgoii d»s Gescbleclitssiiines. Stuttgart, Knkc. 1892. 

6) Cael i u s - A u r e I iaii us; de uiorb. acut. c*l chruu. bb. YIL 

V. Scbreuck-NotztBg. Stadien. 8 



Digitized by Google 



IB !• Beitrüge zur forensiachen Bourteilang: Toa SittlidikeitiTergehen etc. 

werden könnten. Aristoteles') unterscheidet sogar die geborenen 
Pathici (neqiVTidrfc) von den durch Gewohnlieit Verführten (i^ €&ovg). 

Nach den sehr grüudlir-lien Aiisführungen von Äo se n 1> n u m be- 
deutet die %ovüog d-r'Uia niciits anderes als die ..zum Weib machende 
Krankheit", d. h. Efifemiuation oder kouträre Sexualenijihndung. Die 
geschichtliche Kntwicklung zeigt also, daß diese Krankheit als Folge- 
erscheinung homosexueller G ewo lui Ii eiten auftrat uud 
schließlidk 2or oharakterologiscben Umwandlung und DegenenitioD ein- 
selner Individuen führte. 

Was nnn das beatige Vorkommen homosexueller Handlungen bei 
normalen Personen betrifft, so lassen sich dieselben Tielfach als Aus- 
drack eines nach Erfüllung ringenden noch nicht genügend differen* 
zierten oder in der Entwicklung begriffenen Geschlechtstriebes be- 
obachte (bei Unkenntnis der sexuellen Verhältnisse oder auch aus 
ßeizhunger. faute de mieiix bei Weiberman^el etc.). In; n1]*;emeinpn 
ist zwar /u/.iigeben, daß späterer ht'tcrosrxuoller Veri<eiir solche 
erotischen Abweichungen korrigiert, aber es kann sehr wohl auch ohne 
erbliche Bela.stuiig ciu derartiger homosexueller Verkehr der Ausgangs- 
punkt zu konträrer Sexualempfiudung und zur Effemination werden. 
Das bestätigen geschichtliche uud klinische Beobachtungen. Je nach 
Häufigkeit und Art des sexuellen Verkehrs kennen sich auch als 
Folgeerscheinung neoropathische Symptome einstellen. 

Nicht nur die homosexuelle Empfiodangswmse, sondern auch alle 
möglichen anderen Anomalien des Gesdilechtslebens treten auch ohne 
erbliche F^isposition als Produkt der Erwerbung auf. Die Intensität 
der äußeren Schädlichkeiten und die vielleicht in auBoren Verhältnissen 
liegende Unmöglichkeit rechtzeitiger Korrektur, eventuell 
auch die allmähliche Gewöhnung des psychosexuellen Mechanismus an 
inadäquate Heize fOnauie) sind im st'ui de, schließlich sogar den Wider- 
stand einer normal enii)tindeii(lLn l'ci »nnlichkeit dauernd zu besiegen. 

Eine \\- e i te r e Ca r ad stufe p s y c h (j s f x u e 1 1 e r Erkrankungen 
umiußt jene Fälle, iu deueu auf dem Boden angeborener psycho- 
und neuropatbischer Disposition pathogeue, okkasionelle 
Einflösse zur Entwicklung einer krankhaften sexuellen Triebricfatung 
Veranlassung geben. Die Entstehungsart dieser Klasse geschlechtlicher 
Anomalien ist im wesentlichen die glmche, wie bei den erworbenen 
Formen, nur mit dem UnterschiedCi daß bei den letsteren die Intensi- 
tät der schädlichen Brziehungseinflüsse das vorherige Bestehen einer 
nenropathischen Anlage ersetzt EiodrucksvoUe sinnliche Wahmeh* 



1) Aristoteles: Problem IV, m. 



Digiti^cü by Google 



p 



1. Beitrüge zur lorenaischen Beurteilung voo SittliilikeitsvergeUeu etc. 19 

mungeo oder KörperempfiodangeD sind, wie Friedmaon') gezeigt 
hat, liäufig bei viideu Völkern die Ursache fatscli gebildeter Urteile, 
aber^ubischer Denkgevohnheiten, ja mituDter ganzer Wahnsystenie. 
Solclie lebhaften Eindrücke wirken insofern suggestiv, als sie ohne 
Kritik, ohne regelrechten Urteilsprozeß, ohne die Spur einer logischen 
Begründung impulsiv mit einer zweiten Vorstellung zu einem maß- 
gebenden rrteil verknüpft werden. Diese Suj,"/ es tivassociutioneu 
nehmen hücht die Richtnog der persönlichen i^^igenheziehunf,' : Fried- 
maitn bezeichnet sie als Primärurteile iui Gtgensat/ /.u den 
Reflex in n surteilen. So ist z. B. die Assoziation eines Unglücks- 
falles mit eiuer aui'läliigen Wahrnehmung und die daraus sich hildeude 
Überzeugung oft nur ein Primärurteil, dessen Entatehmig sieb andi 
bei gebildeten cinllsierten Personen mitunter beobachten lißt. Der 
innere Zwang zn solchen Beziehnogen ist bei einem nnentwickelten 
Geistesleben, z. B. bei Kindern und wilden Völkein etwas ganz ge- 
wöhnliches, kann daher bei erUieh disponierten Persönlichkeiten krank- 
haft gesteigert sein und zu bleibenden Snggestiveffekten führen. Nicht 
die logische Richtigkeit, sondern die eropiri«;che Einübung spielt bei 
dieser Art der Vorstellungsverknüpfung die Hauptrolle. 

Alti k:p, e t e i gort c Vo rst e 1 1 u n <?st ät i g k ei t . lebhafte 
U rga n e in p 1 1 M (i u II g e n , minderwertige Donk kraft be- 
günstigen die Tendenz zu solclien I d ee u v e rk u ii p t u n ge n , 
die schließlich ohne Absicht des Subjekts auch gegen den Willen des- 
selben sich als Überzeugung uukiräugen können. Die Korrektur 
dorcb Beispiel, Autorität, Schule, Erziehung, durch Aufklärung fehlt 
noch; und je stärker die Energie ist, mit welcher die Vorstellung auf- 
tritt^ um so unmittelbarer gewinnt sie subjektiTO Überzeugung, und um 
80 leichter löst sie motorische Impulse aus. 

Für den tiefgreifenden Einfluß, den eine einmal geknüpfte Yor- 
stellungsrerbindang auf das ganze Verhalten, auf die Zukunft, auf das 
geistige und korperlicbe Wohl von Individuen ausüben kann, liefern 
die psychische Infektion (z.B. in Kriegen, Panik), die klinische 
Beobachtung an Hysterischen, Hypochondern, Neura- 
sthenischen, Epileptikern, die Sn cpe s t i on s 1 eli re n. h w. 
zahlreiche Beispiele. Wenn z. B. ein Epileptiker Orte meidet, w » er 
einmal von Anfällen befallen wurde, auf Grund der Erfahrung, daß 
dieselben sich bei Erneuerung desselben Siuneseindruckes wiederholen, 
so handelt es Ü6k auch um ein SuggestiTurteO, um die körperliche 



1) Fricduiann: Weiteres zur Eutstehuog der WAhoideen und über die 
Gtvndlag« de« Urteils. Konatnehir. ffir PeydiiAtrie und Neurologie. 1887, 

8» 



üigiiized by Google 



20 !• Beiträge zur foreiwiachen Beurteilung von SittUchkeitsreiYehen ete. 



ItÜekwirkuDg eines lebhaft reprodaziertea YorstellungsiDhaltes, einer 
zwan;2;smäßig sich äußernden, in einem Augenblicke hoher psychischer 
Erregung gebildeten Association. Diese assoziativen Verkuüpfunpe?T 
als Reaktion auf äußere lelilintte Eindrücke sind also nicht nur, 
wie Binet glaubt, bei prädispomerteü Individuen möglich, sondem 
ganz besonders charakteristisch für das kindliche Greisteslebeu zur Zeit 
des Gebirnwachstumä, sowie für die minder eotwickelte Deuklvrait der 
NatnrrSlker; sie sind abw aueh, irie die Qeschichte des Aber- 
glaubens die psychologische Analyse von Sympathien und 
Antipathien, von Geschmacksrichtungen (x. B. in kflnst- 
leriscber Beziehung) und diejenige mancher einseitigen Denk- 
gewohnheiten Idirti nicht selten bei gaos normal entwickelten Ge- 
hirnen. 

Jene Krafft-Ebing ids „psychologische Kräfte^ bezeichneten 

Faktoren ersehenen sehr wohl anareichend zur Erkläruuf^ mancher 
Erscheinung, die als reines Produkt der Degeneration ungesj)rochen 
wird. In diesem Siune la.sspii sich auch die sexuellen Anomalien 
großenteils auf primäre Assoziationeu zurlickführen und dadurch zwang- 
los erklären. Daher ist hei der Analyse solcher Fälle möglichst ge- 
nauer Aufschluß über alles das notwendig, was solche Patienten 
zur Zeit des ersten Auftretens der sexuellen Erregungen 
psychisch beschäftigt bat, welche Sinneseindrücke Yon 
ihnen gleichzeitig aufgenommen wurden. Dem Verfasser 
gelang es in der fiberwi^enden Mehrzahl seiner Beobachtung«!, in der 
wahllosen maßgebenden Verknüpfung Ton Vorstellungen, die durch za- 
fiUlige äußere Umstände entstanden waren, mit den aus dem er^ 
wachenden (jeschlechtsleben hervorgehenden Bewußtseinsinhalten den 
Ausgangspunkt für den von da an herrschenden Inhalt der späteren 
Zwangsvorstellun? zu tiudeu. (Assoziation zweier gleichzeitig gegelieneu 
und in der Fnl^e aneinander gebundenen Bewußtseioszustäude oder 
Wahrnehmun^sinhalte. 1 

Schon die Tutiacho der bcxuellen iSpanuüugögetuhle und Stre- 
bungen, wie sie durch das Schwellen der Genitalien herrorgerufen 
werden, könnte eine psychische Erregung mit sich bringen, sei es, daß 
diese nur in einer Steigerung der Vorstellungstatigkeit hostet, sei es, 
daß sie eine Stimmuogs&nderung bis zum Affekt (Ejakulation, Pollution, 
VVoIluBtgefUhl) erzeugen würde ; in beiden Fällen ist die Neigung zur 
Deutung, zur inneren Vcrarheitung dieses Erlebnisses eine besonders 
starke. Daher erhält sich die Erinnerung an alle äußeren begleitenden 
Umstände in der Regel lebhaft: wenn aber ein zufälliger äußerer Reiz 
(körperliche BerühruDg mit lebenden oder leblosen Objekten), also ein 



Digiti^cü by Google 



1. B«itrig« tw foremiMlien B«art«i1uiig von 8itt1ielikeit§T«rg«h0n etc. Sl 

rein accideiitielles Momtiiit zur Auslösuug der iiatüilicben Reaktion 
beitriifj;t, so ist di«' Beziphuug auf das Objekt für das dem mächtigon 
Eindruck kritil 1»- [neisgcgebene kuidliche ^Seelenleben fertig, und es er- 
folgt impulsiv diircli innere Is^ötigung die assoziative Verknüpfung der 
Objektvorstelliing mit dem sexuellen Bewußtseinsinhalt in der Kichtung 
der persönJieli^ Eiganbesleliung. Das falsch gebildeto Urteil der in 
Bezug anf den widematttrlicben Infaalt pathologischen AiaoiiatioQ er- 
fahrt nun in der Regel aueh naehtrfiglich jahrelaDg keine Eonektnr, 
da die Bedentuag des Geschleehtslebens noch unbekannt ist; dagegen 
treten die sexuellen Dränge immer wieder auf, korrespondierend mit 
der Entwicklung' der Genitalien; sie rufen die Erinnerung an die mit 
den Organemptindungen assoziierten Olijektvorstellungen immer wieder 
hervor; die eindrucksvolle, von lebhaften Lustgefühlen l)eg]t'itete erst- 
malige ^V';1!lnlella^ung drängt zur Wiederholung: dieselbe tindet dann 
in der Kegel statt unter Begleitung deraelbcn einmal geknüpften \'or- 
stellungsverbinduogen; diese werden willküriicii reproduziert und er- 
zeugen schließlich, wenn die Assoziation enger geworden is^ ihrerseits 
sexuelle Dränge. 

So begleitet der pathologische YoistellungsiDhalt alle sexuellen 
Körper?org&nge» sei es die onanistische Manipulationen^ die Traum* 
Pollutionen oder die sexuellen Erregungen ohne Befriedigung des 

Dranges. Schließlich baut die Phantasie infolge ihrer Neigung xur 
Übertreibung und Verallgemeinernng jene Verknü])fungen weiter aus; 
durch verstärkende Kebenassoziationen und allmähliche Gewöhnung 
kommt endlich eine völlig perverse (Teschmacksrichtnng zU' stände. 
Die auch für da'« T\n*'llp rUbiet beschränkte psychische Kraft ist 
ganz in Ans])ruch genommeu durch die einseitig determinierte Äußerung 
des Geschlechtslebens; deswegen besteht für das an inadäquate Reize 
gewöhnte Individuum kein BedUrluis, andere Objekte, z. B. weibliche 
Personen f aar Geschlechtsbefriedigung heranzuziehen. Wenn also 
schließlich auch die Reaktion auf heterosexuelle Reise, die ja aiemals 
Gelegenheit snr fiotwicklnng hatte, auf diese Weise Terschwindet^ so 
ist das an sich noch kein Zeichen eines durch Erblichkeit bedingten 
Defektes, sondern lediglich die natflrliehe negatire Folgeerscheinung 
des vollständig durch die besondere Yorstellungsrichtung in Anspruch 
genommenen Geschlechtstriebes. 

Auch für die Erwerbung sexueller Anomalien ohne be- 
sondere erbliche neuropathische Prädisposition ist, wie überhaupt 
auf sexuellem (iebiet. die ganze Anlage und Entwicklung dt-s 
Charakters von hoher Bedeutung; G emüt, Ehrgefühl, Scham- 
güiuhl, intellektuelle Begabung, Phantasie tätigkeit, die 



Digitized by Google 



22 Beitrige sur forenaiidien BeorteUang von SiUlichkeitsTeigehen etc. 

individuelle Wid rs t a udsfä ii ig k eit gcfirniilier äußeren Eia- 
drückeu treifu in enge Beziehuug 7Mm Ttieblehtu in Form von 
förderüder oder hemmeuder Aktiou. So birgt leb Ii al te, iiber- 
wuehernde Phaotatietfttigk«it in Verbinduug mit leichter 
Beatimmbarkeit eines tod Natur starken Oescbleokts- 
triebes bei mangelhafter erzieherischer Ausbildung regu- 
lierender sittlicher Vorstellungen Gefahren für eine normale 
Entwicklung der vita sexualis in sich, ohne daß man berechtigt m9sn, 
für in solcher Weise entstehende perrerse Kichtungen des geschlech^ 
liehen Geschmack* s die erbliche fielastung verantwortlicii zu machen. 

Und ferner darf die Frage aufgeworfen werden, ob überall da, 
wo sich irgend rinc Form der Vererbnng von als dej^enorativ ange- 
sprnclieiicn Merkniak'ii tindet, wirklich oitir kausale Beziohunaf der 
erblicheu Auhigo zur aiiormaleu Kntwickluiig der vita sexualis Dach- 
wei8f»n läßt (post hoc i>t nicht immer propter hoc). ScLließlich sind 
wir ja überhaupt das Prüdukt unserer Ascendeuz, an welchem An- 
passung und £rdehuDg nur einen bestimmten Teil ändern können. 

Die psychopathologische Analyse kann aber diesen Standpunkt 
nur insofern anerkennen, als es ihre Aufgabe ist, die EntwicklungS' 
tendenzen fOr die einzelnen Funktionen des Gehirnes kennen zu lernen 
in ihrem Verhältnis zur äuOeren Anpassung. 

Die Reaktion auf die mit den ersten sexuellen Erfahrungen 
gleichzeitig oder im scheinbar kausalen Zusammenhange 
gemachteu Wahrnehmungen ist nnn erfahrungsgemäß bei erblich 
belasteten N e u rop a t h o n eine viel 1 e bh a f t e r e als bei nnrmalen 
Individuen. Von den iiathoguomischeu Zeichen der Heredität kdunnen 
für perverse Kichtungen di s Sexuallebens besonders in Betracht : eine 
gewisse Schwäche im l'rteilen, Assoziieren (erkliirbar 
durch mangelhafte Entwicklung der Assoziatiousbahnen) g e r i n e i u - 
tellektuelle Begabung, Stimmungsauomalien, Neigung 
zu lebhaften Geftthlsbetonungen und Affekten, zu im- 
pulsiven Bandlungen, leicht erregbare Vorstellungs- 
tätigkeit (wie sie zur Zeit des Gehirn Wachstums erkl&rlich ist), 
außerdem ein Hißverhältnis zwischen der GeringfOgig* 
keit ton Beizen, welche die Psyche treffen und ihrer 
Wirkung auf dieselbe, psychische Ermüdbarkeit, Ab- 
lenkbarkeit (Neigung zur Dissoziation) Einseitigkeit und un- 
g 1 e i c h m ä H i g e Entwicklung der p: e i s t i pr e n A n 1 a e n . In- 
toleranz gegen Alkohol, Unfähigkeit adäquater An- 
passung an die Außenwelt nach dieser oder jener iiich- 
tung (Vorliebe für das Ungewöhnliche), zügelloses 



Digitized by Google 



L Beitriig« zur forensischen Beurteilung von SittUchkeiUrcrgeliea etc. 23 

Ph an ta 8 i e le ho n . Disposition zum zwangsarti n Pest- 
halten von V or 8 1 e 1 1 u u g s V e r k u ü ]) l"u Ti e D , zu starke Be- 
tonung der Eigenbezit'huugeii M\güisiiius). Von seiteu des 
T ri e bl e be HS kommen einerseits ii Im u r iii frühes (vordem 10. Lehens- 
jahrj und starkes Aultreten desselben (bis zur rücksichtslosuu l^nt- 
änßeruug) und anderersetto letohte Bestimmbarkeit, Beei^« 
flnfibarkeit der Triebe in Betracht. Das Nervensystem zeigt 
bei erblicher Belastung erhöhte Beflexbarkeit und Symptome 
reizbarer Schwäche. 

Das Torz^itige Erwadien sexueller Diftoge (die Pr&cocität der- 
selben) wird von Krafft-Ebing und Moll besonders betont, nnd 
Clrevalier^) meint, die Assoziationstheorie könne dieses den sexuell 
perversen Personen eigentümliche Stigma nicht erklären. Darauf ist 
zu erwidern, daß diese rein quantitative Störung zunächst nichts 
mit dem qnalii ;iti ve ii Inhalt des sexuellen Triehleheris /.u tun h;it, 
denn dieselbe kommt, niclit selten auch hei sonst normal hetero.sexueli 
entwickelten Personen vf)r, wtiin auch vielleicht häufiger hei neuro- 
pathisch beaulagten Individuen. Sie ist aber von der liichtuug und 
dem Inhalt des Triebes absolut unabhängig. 

Diese pathognomischen Zeichen eines angeborenen fonktionellen 
Schwächezustandes des Centralnervensystems zeigen sich natürlich in 
unendlich versdiiedener Variation und bieten den oben erwähnten, aus 
snl&Uigeo äußeren Umständen sich ergebenden scbädliohen Anregungen 
des Geschlechtslebens einen gUnstigen Boden zur Ansiedelung und 
Entwicklung perverser Triebrichtungen. Die Bildung normaler 
Gegenvorstellungen und Triebhemmungen, welche übrigens 
in der Regel mehrere Jahre später, als das erste Auftreten sexueller 
Dränge durch erzieherische Maßnalimon angestrebt wird, ist bei neuro- 
pnthisch veiaulagten Personen durch die psychische Disharmonie viel- 
fach beeinträchtigt und erschwert. 

Andererseits können Begleiterscheinungen der psychi- 
schen vita sexualis, sowie alle möglichen Variationen der 
individuellen Gharakteranlage in Beziehung zu der per- 
Tersen Triebricbthng treten, dieselbe verstärken oder gelegentlich 
in andere Formen fiberführen; so findet man in zahlreichen Fällen 
neben einer Neigung zu sonstigen nicht sexuellen Zwangsznständen bei 
pervers empfindenden liidividuen mehrere Formen der Parae- 
sthesia sexualis zusammen vertreten; so sind die ..Sadisten** mit- 
unter auch nMasochisten'* und diese beiden Formen der ^Algohignie*' 



1) Chevalier: L'inversioa aexaelle. 1888. 



Digitized by Google 



94 L Brätriige siir foreaiiieli«!! Benrtdlutif von 8ittliebkeii8V«rg«lieii et«. 

kommen häufig in Verbindung mit Fetischismus vor ; ferner sind aigo- 
lagnistische und fetischistische Neigungen garnicht selten mit konträrer 
SexualenipKndunp verliunden; Verfasser hatte Gelegenheit, ein Indivi- 
duum zu beobachten, daß die wichtigsten Erscheinungsformen der vita 
säexualis in sich vereinigte, eine wandelnde ^Ps ychopatbia 
sctfnalis*'. Während Kraffi-Ebing die physiologisch 
vorkommenden psychischen II itbewegungen, z. B. mäch- 
tige Erregung der gesamten psychomotorischen Sphäre 
als Ausgangspunkt fiir die Algolagnie heseichnet, kSnnten die- 
seihen auch aU accessoriseh förderndes Moment erst sekundär tat 
pathologischen Assoziation geschl(Hht1ich betonter Vorstellungen mit 
grausamem Inhalt hinzutreten und dieselbe verstärken. Denn in der 
Tat bekommen alle möglichen, in ihrem Inhalt keinerlei Be- 
ziehung zum Geschlechtsleben bietende Vorstellungen 
mitunter sexuelle e d e u t u u g tm d 13 e t o ii u ii g. So hatte einer 
meiner Patieuleu regelmäßig Erektionen, wenn er sich anschickte zum 
Spazierengehen, ein anderer, wenn er gedrängt wurde, rasch irgend 
eine Handlung vorzunehmen, ein dritter durch die Vorstellung, geprüft 
8tt werden etc. Und fenier bleiben Kebenumstände, Details 
aus den mit der ersten sexuellen Erregung verbundenen Situationen 
und Bildern in der Erinnerung so lebendig, daß sie sogar conditio 
sine qua non für die Erektion und damit ein lästiger Zwang 
für das Individuum werden können (so aucli im Fetischismus), insofern 
dasselbe nicht im stände ist, bei späterer WiederholuDg der sexuellen 
Akte diese Nebenumstäude durch die äußere Situation zu reproduzieren. 
Eine weitere Ausführung dieses wichtigen Punktes muß mit Rücksicht 
auf den Kähmen dieser Arbeit unterbleiben. 

Diese Tatsache zeigt aber den mächtigen, bestimmenden 
Einfluß des die ersten sexuellen Erregungen begleitenden Vor- 
st eÜ ungs i u h al te s für die spätere vita sexualis und da^ besonders 
bei degenerativ veranlagten Personen.^) 

Zu den wichtigsten okkasionellen Momenten ftir die 
Pathogenese perverser sexueller Triebrichtung gehören: Spiele, Be- 
schäftigung und Lektüre der Kinder, sowie besonders leb- 



1) Einen vermittelnden Standpunkt nimmt Gel 11 ein. Er gibt >li' T'x'deutung 
schädlich^ r «.eMicllpr Momente bei neiir()j):ifliisi-li''ü Individuen während des Wachs- 
tums in vollem Umfange zu. Jedoch haben nach ihm solche Momente keioe Be- 
deutung bei aogeboreuer konträrer Sezualempfiaduug. Derartige Individuen «sigen 
eine angeborene Schwäche des Gescblechtdebens fiberhaupt, ja häufig des ganzen 
Gefühlslebens. Geill: Die Lehro von der P.sychopathia sexualis und ihro gerieht»» 
ärztliche Bedeutung. Ugcskrift for Läger. i B. XXVII. Kr. 27—33. 



Digiti^cü by Google 



I. Beitrüge zur fonnugchm Beurteilung ron Sittlichkeitsvergehen etc. 26 

hafte Anregung ihrer Phantasietätigkeit und die solitäre, 
resp. mutuollp Onanie, und zwar hauptsächlich zur Zeit der 
Pulifrtfit. Die seclis Fälle dieser Arheit hieten uebeii ihrer foren- 
sischen iiedeutiinp: auch iieispit'h:> dar für die Eutstehuug Kcxueller Ano- 
malien aus iiiiHeren Schädlichkeiten bei erblicher Belastung (vgl. die 
folgende Kasuistik). 

In Fall 1 wird ein zarter neuropathiscber Knabe vor der Pubertät 
bereits zur Onanie rerffthrt und su anderen sexaellen Praktiicen von 
seinen HitschOlem benutzt Mntaelle und solitiire Onanie mit bomo* 
sexuellem Vorstellungsinhalt wenigstens 7 Jahre hindurch. Schließlich 
zwangsweises Auftreten homosexueller Neigung und Impotenz 
gegenüber dem Weibe. 

Für die Analyse dieses Falles außerdem noch eine originäre im 
Embryo präformierte Anlage zum I^ranismus zu [KMtulieren, erscheint 
als unnötige Erweiterung der Erkliiningsprinzipien. 

nassclhf gilt von Fall 2. i^htiliche Belastung. Verführung durch 
Mitschüler zur Onanie. 6jährige eifrige Ausübung derselben in regel- 
mäßiger Begleitung homosexueller Vorstoll un gen. Dann erst 
Aufklärung über die Bedeutung der Gesclilecliter. 2^achden) er 9 
Jahre seine psycbosexuellen Funktionen an jene perverse Qeschmacks- 
richtung gewöhnt hatte, erster Versuch zum Beischlaf. Fiasko. 

Li Fall 3 handelt es sich um einen konstitutionellen Psychopathen 
mit Zwanpzustättden. Schon im 10. Lebensjahre mntuelle Spielerei 
an den Genitalien und Verführung zur Onanie. 6 jährige Gewöhnung 
an Onanie mit ho mosexuellem Vorstellungsinhalt. Schon 
im 15. Lebensjahre Coitusversuch mit Fiasko. Weitere Betätigung des 
Xrieblebens in der Richtung f1er perversen Angewöhnung. 

Bei dem Patienten von Fall 4 entwickeln sich auf dem Hoden 
geringer erblicher Belastung im AnschlnB an ganz bestimmte, auf An- 
blick und Betasten von Genitalien abzielende, die Vorstellungstätigkeit 
lebhaft anregende Jugeiidspiele , nachdem durch Onanie die Vor- 
stelluugsrichtung in diesem Sinne fast 10 Jahre lang determiniert 
worden war, exhibitionistische Neigungen, die zum Stimulans 
lUr die vita sexualis wurden und schließlich conditio nbie qua non fOr 
seine Potenz. 

In Fall 6 nur mäßige erbliche Belastung, gesteigerte Phantasie« 

tittigkeit und starkes Triebleben. Excessive IS Jahre betriebene 

Onanie mit Bevorzugung der BegleitTorstellung männlicher und wdb* 
lieber Geschlechtsattribute und des visuellen Teiles der vita sexualis. 
Zufälliges Erlebnis im 24. Lebensjahre bietet die äußere Veranlassung 
zur völligen Eutwickluog und iiealisieruug exhibitionistischer 



Digitized by Google 



S6 Beitrüge war forentiMlien Beurteilung von SitdieUceitarergeheii etc. 

Gelüste. Durch mehr als 10 jährige Gewohunuc^ der Phantasietätig- 
keit in diese eiuseiiige Kichtuug wird die Exhibitiou sciiiießUch zu 
einem lästigen Zwange. 

Bei Fall 6 handelt es sich um sehwere erbliche Belastnng nnd 
um Yerknapfang des die Phantasie lebhaft beschäftigenden Inhalts der 
Lektüre mit sexuellen Drängen zur Zeit der Pubertät. Dieser Vor> 
stellongnuhalt betrifft Indianerkämpfe und Sklavengeschiohten » also 
SehmerzzufUguDg. Unterwerfung, Mißhandlung. So! die Vorstellungen 
wurden von dem in sexuelieu Dingen unwissenden Kinde auf die 
Sfxualsphärc bezogen und die Ursache zur larvierteii passiven 
Algolagn ie. 

Für die u n ü ristige Wirkuiicj des Alkohols auf IndiTidaen 
mit sexuellen Anomalien sind Fall 2, 3 und 6 lehrreich. 

Nach dem im Vorstelu-ndeu erörterten Entstehuugsmodus von 
psychosexuellen Erkrankungen (^Erwerbuug olme erbliciie Belastung und 
pathologische Assoziation auf der fiasis hereditärer neuropsychischer 
Widerstandsunfähigkeit) läßt sich die Mehrzahl der Anomalien ge- 
schlechtlichen Fahlens erklären. 

V* Krafft-Ebing und seine Schule halten aber dieses Ep- 
kläTUDgsprlntip nicht fiir ausreichend, sondern nehmen besonders ittr 
die 8ch^vereren Formen tou Sadismus, Masochismus und Homosexu- 
alitäty wie schon oben unter 1. erwähm wurde, eine originäre An- 
lage an, welche mit dem sich entwickelnden Geschlechtsleben spon- 
tan, ohne äußere Anlässe zu Tage treten, als angeborene 
Erscheinungen der vi ta sexual is. Empfänglichkeit 
für sadistische oder g 1 e i c Ii g e s c h 1 c e h 1 1 i e Ii e j{ e i z e ist nach 
dieser Anschauung angeboren, wird durch die znt'äliige äußere Ver- 
anlassung nur aus ihrer Laieiiic geweckt. Diestir angeborenen lieak- 
tionsfähigkeit ist also die Tendenz auf eine bestimmte Klasse von Ob- 
jekten eigeotttmlicht In dieser Aufstellung liegt aber auch die psy- 
chologische Schwierigkeit; man hat dabei allerdings zu berUck<> 
sichtigen^ daß für die in dem Triebleben geäußerten Geschmacksrich- 
tungen auch die sonstige {Mychische Individualität maßgebend ist; und 
an sich spricht, wie Verfasser schon in seiner oben erwähnten Schrift 
bemerkt bat, nichts gegen die Möglichkeit einer gleichartigen Wieder- 
holung desselben Krankheitsbildes, desselben Symptomenkomplexes in 
direkter oder atavistischer ^Übertragung auf die Nachkommen. Wenn 
aber solche Fälle angeborener Determination des sexu- 
ellen Empfindens auf bestimmte 01)jekte vorkommeD, 
so bilden sie sicherlich die Ausnahmt'. Denn in der Regel 
zieht die pathologische liereditäi nicht diese eugeu Greu/eu, sondern 



Digrtized by Google 



L Beitrige anr forenanchen Beurteilung von SitilichkeitsTergehen ele. 27 



läßt den Gelegenheitsursachen eiuen größeren Spielraum, 
so daß (lip^t'ilx'ii nicht nur für den Inhalt, soodem Tiellach auch für 
Uie Form (icr Erkrankung bestimmend werden. 

Übrigens wird der Brennpunkt der Frage, ob eine originäre An- 
lage für eine bestimmte Form perverser Äußerung des Geschlechts- 
triebes ererbt wtrdta kann, von v. K rafft- Ebing und Moll nur 
zurückgeschoben. Denn als bestimmte Disposition oder als Reaktion»- 
föbigkeit aof eineii speaafisch äußeren Reis kdonten nur, wenn man 
die Möglichkeit solcher YererbuDg zugibt« solcbe Eigenschaften bei den 
Nachkommen sich äußern, welche die Vorfahren der betreffenden In- 
dividuen bereits als automatisierte Gewohnheit besaßen t also doch 
jedenfalls auch irgendwo einmal erworben haben niüHton. Demnach 
wäre nachzuweisen, daß in eiuem speziellen Fall die Vorfahren des 
Individuums jene perverse Gewohnheit besaf?"!! und zweitens, wie die- 
sellte vf>n den \'nrra!ireu erworben werden konnte. Man wird bei Be- 
:iiit\\iiitung dieser Frage die Assoziationstheorie nicht um.izehen können. 
Die stillschweigende Voranssetzuni^. daH die Aseendenten solchr* Ge- 
wohnlieiten besaßen und rrwarlien. bedarf alsu selbst eines /ureichenden 
Beweises und wird auch durch hibtorische Mitteilungen über Urniug- 
tum nicht erledigt. Außerdem müssen zwingende Gründe dafür bei- 
gebracht werden, warum eine angeborene oeuropathische Diatiiese (be- 
sondere Bestimmbarkeit des geschlechtlichen Trieblebens in Verbindung 
mit äußeren Schädlichkeiten Theorie der pathologischen Assoziation) 
nicht hinreichen sollte zur Erklänmg der perversen Sichtungen des 
Sexuallebens. Aber angenommen, die inneren Ursachen wären für das 
Zustandekommen derselben maßgehender, als die äußeren, so darf auch 
in diesem Fall bei der großen Neigung des Centralnervensjrstems zu 
Variationen in der erblichen Fbertragunj? die Grenze nicht m eng 
gezogen werden. ÜesweL't'Ti steht auch KohdeM mit vitdeii anderen 
Autoren auf dem Standininkti'. als Hauptmerkmal der erbhchen l her- 
traguug die Widerstandsu nfähit,'keit, die Schwäche des Nervensystems, 
die Disposition zur Eikiankung anzunehmen (psychopathische Priidis- 
position). Dieselbe kann direkt oder atavistisch vererbt sein, kann 
aber auch durch Verändernngeji in der Keimanlage während des em- 
bryonalen Lebens entstehen. Im ertteren Fall wäre die XHsposition 
ererbt, im zweiten angeboren. In letzterem Fall würden die sexuellen 
Perversiooen eine bestimmte oft vorkommende Gruppe von Mißbildungen 
(Fehler in der Himorganisation) mit Rttckwirkung auf das peychosexu- 



1) Rohdc: Über doni ^rogcnwärtigen Stainl iiurh Entstcbttng «nd Vererbung 
individuetler £igen»chAft«n und Krankheiten. Jena 



^ j . -Li by Google 



38 !• Brntrif« lur fwendichen B«arteilung tod SittIielikeit»T«:geheii etc, 

eile Verhalten darstellen, verdankteu also rein zufälligen Entwicklungs- 
hemmungen vvähreüd dos iutiiiuteiinen Lebens ihr Dasein. Ibr häufiges 
Auftreten wäre aber danu sehr rätselhaft. 

AoBerdem ist für jene Ausnahmefälle der zuletzt erwähnten Form 
der Nachweis einer Batwicklung jener krankhaften Neigungen im 
Widerspruch zum äußeren Milieu notwendig. Denn fttr den 
Begriff der Vererbung wird ron Bollinger ^) der Ausschluß 
äußerer Verhältnisse verlangt, und auch nach Graßmann*) 
lehrt die wissOMchaftUche Kritik der als für vorhandene Vererbung 
pathognomisch angesehenen Zeichen in immer eindringlicherer Weise, 
daß für die Feststrllurig der Erblichkeit die Methode der Ex- 
klusion heute noeh doniiniert. li»'crt daher — im Gegensatz zu 
den diesbezüglichen übrigens auf eiuem Mißverständnis der Anschau- 
ungen des Verfassers benihenden Ausführungen Molls") — kein 
Grund vor, die Erkläruügsprinz ipien um den Faktor 
angeborener, im Embryo präformierter sexueller Ge- 
sebmacksricbtungen auch bei jenen Fällen zn rermebren, 
dra sich als reines Produkt ungünstiger äußerer Anläne bei Tor* 
bandener erblicher neuropathiscber Konstitution nnd Labilität des 
ITrieblebens darstellen. 

Übrigens zeigt der Nahrungstrieb eine ähnliche leichte Bestimm- 
barkeit wie der Geschlechtstrieb. So ist auch das Verlangen nach 
einem bestimmten Oenußmittel niemals angeboren. Wie Karl 
Neiße r*) richtig bemerkt, kann man durch erzieherische 3Iittel das 
Eßverlangen und das Hungergefühl beeintlasseu, ja ganz alr?»Mvöhnei), 
und dieser Trieb variiert ebenfalls in Bezug auf das Oljjekt. Die 
Versuche mit den Hungerkünstlern und Tieren sprechen dafür. Man 
hat Wölfe mit KartoÖeln aufgezogen; dieselben ließen Fleisch unbe- 
rührt und fraßen mit Gier wieder Kartoffeln. 

Bei einem TÖllig entwickelten Triebe ist sehr scbwer zu unter- 
sdieiden, wie groß der Einfluß der Vererbung und wie groß deijouge 
der Anpassung war. Man darf aber die Anpassungsfähigkeit des 
menschlichen Trieblebens nicht unterschätzen, ihm keine zu engen 
Grei : n ziehen; denn die ßeobachtaogen der Geschichte und des täg- 
lichen Lebens lehren, daß die Geschlecbtsliebe, so sehr sie von Ter- 



1) Bollittger: Die Vererbnnif. Stutt^t t888. 

2) G raCm ;i II II : Krilischer ri-* rhliik über dio gegenwärtige J.>A\rf von der 
Erblichkeit der IVyrhnsen. AUgeui. Z. itsvlir. f. rsyilii;itrir. Heft 5. 

3) Moll: Libido sexualis. Berlin l8iW. 8. 316—317. 

4) Karl Xeifier: Die Ent»tehuag der Liebe. Wien 1897. 



Digitized by Google 



I. Beitrage sar foremiteheD Benrtetlan^ Ton SittlicfalceiisTei^gdken etc. 29 



erbten Gewohnheiten abhängig ist, dennoch bei Monachen und Tieren 
wenig beständig und fest sich erweist, vielmehr zur Variation, Ab- 
wechselung, zur Bf'stimmliarkeit dnrcli äiiRerc Einflüsse liiTineigt. 

Zum Schluß noch einige Bemerkungen über die i?rage der AI* 
golagnie. 

Für die von Kniff t- E b in sr unter dem Namen „Sadismus" und 
„Masocbismus" zusammengefaßten perversen Erscheinungen des Ge- 
scblecbtslebeos hat Eulenburg') nach dem Vorschlage des Ver- 
fassers *) den NameQ „ A 1 g o 1 a g ni e** angeDommeD. Zur Begründung 
dafür führt B. mit Becht ans, daß die aktive Betätigung achmers- 
hafter Handlnngen zum Zwecke der GeachleditsbefriedignDg (aktive 
Algolagnie) durchaus nicht charakteiietiseh sei für die Dan^nngen 
des Marquis do Sade, ebenso wenig die passive Rolle (passive 
Algolagnie) für die Helden und Heldinnen der IjoveUen von 
Sachr r-Masoch. Zudem ist, worin ich Eulen bürg ganz bei- 
stimme, das Gebiet der sexuellen Grausamkeitsaktc durchaus nicht 
mit der aktiven und passiven Rolle erschöpft. Gegen die Krafft- 
Ebing' sehen Bezeichnungen möchte Verfasser auch bemerken, daß 
diese Art sexueller Befriedigung viel älter ist, als die Werke von 
Sade und Masoch und in der Geschichte (z. B. der Kirche) be- 
sonders auch im Altertum eine hervorragende KoUe gespielt hat. 
Ferner gibt ee eine onanistische Algolagnie, die ich neuerdings 
beobachten konnte, wosu auch manche Fälle von Autoflagellantismns 
zu rechnen sind, femer eine visuelle Algolagnie, d. h. sexuelle 
Biregung beim Anbklick von PrOgelszeneu und eine zoo philo oder 
bestiale Algolagnie, sobald die Gelüste der Grausamkeit sidi 
auf Tiere bezichen. Handelt es sich aber nur um Markierung einer 
ersehnten Situation dieser Art. so könnte man diesen Vorgang sym- 
bolische Algolagnie benennen. Die Leichenschändung wäre in 
diesem Sinn, sobald Mißhandlungen der Leiche damit verknüpft sind, 
die nekrophiie Algolagnie und wiiro von der einfachen Nekro- 
philie dadurch unterschieden, daß mit letzterer, wie auch die Ab- 
stammung der Wörter sagt, nur Liebkosungen der Leiche gemeint 
sind. Eindlich konnte ich f^Ue beobachten, in denen der Schmerz 
an sich die Hauptrolle spielte, ohne Bücksteht auf aktive oder passive 
Betätigung; solche Pattenten sind Algolagnisten schlechthin. 
Übrigens ist das lyranniscbe Gefühl der schrankenlosen Beherrschung 
oder das der völligen Unterwerfung, wie es von v. Kr äfft- Ebing 



1) Euleoburg: Sexuale Xearopathie. Leipzig 1895. 

2y V» Sehren ek-Notsiüg: Siigge$tioii«tberapiej loc. eit. S. 12& 



. y Google 



30 ^- Beitrage inr foreniMchea Beurteilung tod SittUehkeitwergehen etc. 

als charaktpristisch für den Sadismus und Masoclusmus liozeichnet 
^vi^(l. durclmus nicht immer mit der Algolagnie verbuodeo, darf also 
nicht zur Begriffsbestimmung herangezogen werden. 

Auf die psychologische Erklärung dieser eigeutümlichen Form der 
Paraesthesia sexualiSi welche Krafft-Ebing sehr anafUhrlieh be- 
handelt bat» kann hier nicbt nfther eingegangen werden. 

4. 

Kasuistik. 

Falii. Konträre Sexualenipfiuduug. Anklage wegen 
beiscblaf sähnlicher Handlungen mit zwei K&nnern. 
Spexialftrstliche Kur. Eigene Beobachtung des Yer- 
fassera* Krankengeschichte nnd Pathogenese der 
sexuellen Anomalie. Anwendung der hypn. Suggestion. 
Verurteilung durch die erste Instanz in einem, Frei- 
sprechung im anderen Falle. Berufung beim Reichs- 
gericht, (iutachteo der Sachverständigen. Verneinung, 
resp. Beeinträchtignnp: der Willensfreiheit. Verwerfung 
der Kevision. Begnadigung des Angeklagten. 

Vorgeschichte. 

N. N., eine gebildete niitiiiiliche Pcrsimlichkeit in höherer TieV)cns- 
stellung, war augeklagt, mit einem Diener X. und einem dienstlich Unter- 
gebenen Y. durch mindestens /.wei selbständige Handlungen widernatürliche 
Unzucht begangen zu haben (Vergehen gegen J? 175 des K.-8tr.-G.-B.8). 

Die Vernehmung vou Sachverständigen in der Hauptverhandluog 
wurde abgelehnt 

Zur Saobdarstellung bemerkt die Anklageschrift, daß 
der Beichuldigte mit Terschtedenen mSnnlichen Personen seiner Um« 
gebung seit Jahren Unzucht in erheblichem Umfange gelrieben habe. 
Dteaelbe bestand in Umarmongeo, Küssen, Ergreifen der Gescbleehts- 
teile jener, Rdben an denselben bis zum Samenerguß. Gleichzeitig 
ließ er sich auch von jenen an seinem Geschlechtsteil spielen und 
reiben. Der Beschuldigte ist nach Feststellung der Anklage teilweise 
geständig und sncht sein Treiben mit seiner in geschlechtlicher Be- 
ziehung perversen Veranlagunt» zu entschuldigen. Dies Treiben mag 
sittlich in h<)clisteni Grade verwert lieh sein, ist aber (vergl. die kon- 
stante Praxis des Koichsgerichts, so z. Ii. 2."i, 4, iööu, Entscheidung I, 
395; 24. April ibtiü, Hecht&spruch 1, Üb2; 20. September 1880, fint- 



Digrtized by Google 



L Beitrige sur foreastaclieii B«nrteUuik|f tod SittlichkeiteTergeheit «te. 31 

Scheidung TL 237; 25. April 1882, Kntsrliuidung 211 n. n.) nur 
strafbar, insofern lioischln ff ähnliche Handlungen vorgekoiurneu ^ind. 

Solche sind i\\w\\ wenn man das Treiben de«? Angeklap^ten pe^t'u 
die t'inzi'hipn Personen schon zu seinen Gunsten nur hU eine forti^e- 
sptzte Handhint,' ansieht, in mindestens zwei B'älleu konstatiert. Sü be- 
zeugte der Diener X. eidlich, dali ihn wiederholt abends, wenn 
er demselben beim Auskleiden behilflich «ein miißte, ttber das Bett 
gelegt, sieh auf ihn hinanf gelegt und dann sein Qlied an seinem 
Körper gerieben habe nnter beischJafsftbnUchen Bewegungen. 

Der Zeuge T. wurde, als er dem N. N. eine Meldung za über- 
bringen batto, gegen die Stubentür gedrückt, umarmt Darauf knöpfte 
ihm N. N. die Hosen auf, holte den Geschlechtsteil herans und rieb 
denselben. Dabei drückte der Beschuldigte seinen Körper fest an 
di n Tnierleib des Y. und führte dessen Geschlechtsteil an den sei« 
uigen heran. 

N. N. begab sich ins Ausland, wohl ans Anlaß der bevorstehen- 
den Verhandlung, und trat in die ärztliche Hehandlung eines 
Spezialarztes für hypnotische Kuren. Wie dieser in einem Briefe 
an den Autor erwähnt, betrachtete N. N. eine Behandlung seines Zu- 
Standes nur aus VemnnflsgrQuden, nicht aus innerem Antriebe als er- 
wünscht Meines Erachtens war N. N. wohl lediglich von dem Be- 
streben geleitet) die Enuikhaftigkeit seines Zustandes durdi lingere 
Beobachtung seitens mehrerer Spezialisten konstatieren m lassen, um 
dieselbe dann in Form Tun Gutachten zu seinen eigenen Gunsten zu 
▼erwerten. 

Der erste Teil der hypnotischen BehandUing bestand in 70 

Sitzungen. Teilweise H^-potaxie, zoitweih'ir tiefer Schlaf mit Amnesie. 
Neurasthenische Syinptnüie gebessert, aber der Kintlnli auf die kon- 
träre Sexualempfinduu^j; erscheint trotz einer gewissen Besserung in 
mehrfacher Richtung nicht befriedigend. N. N. tritt nunmehr in die 
Behandiuag des Verfassers. 

Eigene Beobachtung. 

Patient ist 89 Jahre alt Vater starb an einem Hersleiden, war 
männlich, streng und einfach, zeigte nichts PerTerses. Mutter lebend, 
kränklich, nervös. Ein Bruder des Patienten geisteskrank, ein zweiter 
endete durch Selbstmord, ein dritter Onauist mit homosexuellen 
Neifrnnpjen, eine Schwester starb bald nach der Geburt, die übrigen 
zwei Geschwister normal, GroReltern normal: ebenso wird über die 
Geschwister der Eltern nichts Abnormes berichtet 



Digitized by Google 



33 Beiträge war forennachen Beurteiloog von SittUchkeit«y«rgehen etc. 

N. N. war als Kiud sckwäcbiicL und weichlich, machte im zehuteu 
Lebensjahi^. eine Ftaeonumie durch, blieb aber sp&ter von Mbwerfiren 
ErkiankuQgen Tencbont Dagegen hatte er Tielfach mit Ifageobe* 
. sehwerden, Mandelanschwellungen und Bachenkatarrhen su kämpfen 
nnd zeigte große Neigung zu Erkältungen. 

Patient will schon zwisdien dem füufteu und achten Lebensjahr 
Interesse für männliche Personen gehabt haben. Er erinnert sich genau, 
damals häufig mit besonderer Freude den Anus seines gleichalterigen 
Vetters, gleichsam mit ihm spielend, abgetastet zu liaben und in der- 
selben Weise von seinem Vetter behandelt zu sein. Hierbei hatte 
N. N. Lustgefühle ; dazu trat bald ein luteresso für die Geschlechts- 
teile älterer Kameraden. In der Schule empfand er an einem etwas 
älteren Freunde Zuneiguog, die aber niemals geschlechtlichen Charakter 
annahm. Er sagt hierüber: „es genügte mir, wenn wir gegenseitig 
unsere Hände auf die Sehenkel legten^. Im 18. Jahre VerfiUining 
zur Onanie durch einen älteren Mitschüler, der dem N* N. die Vor- 
haut mit Gewalt surttckz«^, so dafi eine leichte Blutung eintrat Von 
jetzt an solitäre und mntuelle Onanie mit regehnüßiger YorsteUnng 
männlicher Personen, ^eziell des Freundes. Einmal wurde am Patienten 
Coittts in OS voltzogen. N. N. masturbierte als Schüler häufig, zeit» 
weise täglich, bis zum 18. Jahr. Bei der Wechselonanie hatte er 
größeres Vergnügen in der passiven Rolle. Beim Militär und in seiner 
beruflichen Stelluuf,' pflog N. vielfach homosexuellen Verkehr mit 
Leuten niederer LebeusstelluDg', Arbeitern, Soldaten, Bedienten. Schließ- 
lich trat bei ihm schon Ejakulation ein, sobald er das (ilied seines 
Partners berührte. Außerdem Coitus inter femora bevur/.ugi. Beim 
Akte selbst pflegte er die Augen zu schließen, wie beim Onanieren. Da- 
neben onanierte er mit homossKnellen PhantasieTorstellungen, in der 
Begel einmal wöchentUcb. Traumpollutionen mit männlichen Bildern. 
Ansätze zu heterosexueller Empfindungsweise nicht zu bemerken. Zwei- 
malige Coitusversuche endigten mit völligem Fiasko. Ausgesprochener 
Horror feminae. Patient hält seine Empfindungsweise für vollkommen 
berechtigt, nicht für lasterhaft oder UDnatürlich; er fühlt sich dagegen 
niemals seelisch befriedigt, vermutlich, weil er eine auf tieferer Zu- 
neiguni; Im i ahende Gegenliebe trotz großen Liebesbedürfiiisses nicht 
finden knniite. 

Patient ist k ö r p e r l ic h eine männlich eui wickelte, wohl- 
genährte Persöulichkeit von mittkrer Grttße. Von Seiten des 
Cirkulations», Respirationsapparates, der Motilität und Sensibilität, der 
Befleace keine Störungen zu bemerken. Haarfarbe blond, langer Schnurr- 
bart. Genitalien klein, Ventisberg gut behaart. Fettpolster gut eni- 



Digitized by Google 



I. Beiträge zur forensischen Beurteilung von Sittlichkeitsvergehen etc. 33 

wickelt, besonders au den Hüften und an der Brust, l^'oruieii luud 
und weich. Skelettbildung lOMsiv, Becken m&nnUcb. BeckeDinaße: 
Eiitf. d. Spinae sap. snt.: 25, d. Oristae ilei: 27, d. tubera iachii: 8, 
d. Rollhiigel: 31 cm. Oonjagat. ext.; 19 cm. 

Stellang der Oberschenkd gerade. Haat sart Schädel von nor- 
maler Gestalt. Keine D^enerationszeicben. Papillen gleich , mittel- 
weit. Es besteht bei N. N. eine mittelaehwere Nearasthenie, deren 

einzelne Symptome in den nachfolgenden Gntachten näher erörtert sind. 
Patient ist psychisch deprimiert, zeigt Neigung zum Grübeln, zu 
Schwärmerei, raucht und trinkt wie andere Männer und liebt aacb 
körperliche Übungen, soweit sie seine Gesundheit nicht angreifen. 

N. N. unterzieht sich nun einer weiteren hypnotischen Be- 
handlung, welche 55 Sit/inigen umfaRto. nnfanj^s wurde er nur 
somnolent, kam dann später in tiefen Schlaf. Während der -ianzeu 
Behandhingsperiode stand er unter dem seelischen Druck der Ujvor- 
steheiiilen (lerichtSN crhandlung und w.ir vielfach trübe, mißjs:estimmt, 
also in ciuur für seelisch-therapeutische EiiigriiVe sehr ungünstigen 
Verfassung. Denn tou dem Resultat des Prozesses hängt sein Schick- 
sal ab; die Folge einer Venuteilang war nicht nur eine moralische 
Bloßstellungf sondern brachte die Notwendigkeit mit» den bisherigen 
Beraf aufzageben, die Heimat and Familie zu Terlassen, nachdem die 
gesellscbaftUche Stellung untergraben war. 

Nach den ersten sieben Sitzungen erster Coitus Versuch cnm 
puella — ohne Erfolg. Rückfall in homosexuelle Wechselonanie. 
Kann sich an den folgenden Tagen nicht entschließen, den Coitus* 
versuch zu wiederholen. Starker Horror feminae. Nach einij^en Tagen 
jedocii ist Patient dureh erneute Suggestion wieder im stände, die 
HeninuinjisvorstellunEren /u unti-rdrürken und einen neuen Versuch zu 
wagen. Diesesmal blid» er die ganze 2sacht hei der pueihi, die üKi iKcns 
liebenswürdig und zartfülileud mit N. X. umging. Si hlielilieli trat 
spontan eine zunächst ungenügende EiL'kliüu ein, dieselbe wurde arti- 
fiziell verstärkt, und der Coitus gelang, indem Patient sich passiv 
dabei verhielt! Kein Ekelgefühl, kein Horror post Coitumt Zwei 
Tage später berichtet N. N. mir, er habe zwar mit Hilfe männlicher 
Vorstellungen Erektionen bekommen, aber dreimal in jener Nacht 
coitiert! Acht Tage später Wiederholung de» Versuches bei unsym- 
pathischer Prostituierten. Trotz dieser ungünstigen Bedingung gelang 
der Akt. Beim folgenden Versuch völliges Fiasko. Patient ist ganz 
mit der ProzeBanj^elegenheit beschäftigt und tief verstimmt. Einige 
Tage später Kückfall in Unanie. in den folgenden Wochen mililiogt 

T. Schrenck-Notsiug. Studien. 3 



Digitized by Google 



34 !• Beitrige zur foreniischen Bearteilang von Sittlichkeitsrergehen etc. 

ein weiterer CoitnsTersuch, wiederum Rückfall in Onanie, und schließ- 
lieh plötzliche Abieiee wegen der beronteheeden Yerhandlnng. 

Die Behendlnng wurde später nicht wieder aufgenommen , be- 
rechtigt aber in Anbetracht der anfierordentlich ungUnetigen inßeren 
YerhSltnime an Hoffnungen filr Beseitigung der homosexaelleu Nei- 
gungen. Die psychische Disposition des N. N. war die denkbar un- 
günstigste, begreiflicherweise, da das ganze Interesse durch die auf 
dem Spiele stehende Existenzfrage absorbiert wurde. Der Z^eitpunkt 
für vlue solche Kur war schlecht gewählt, und die Zeiträume waren 
zu kurz für einen dauemdeu Erlolg. 

HanptTerhandlung und Verurteilung. 

Das Urteil in der Hauptverhandlung gegen K. N. lautete in dem 
einen Fall (Diener X.) auf vier Woeben GeCbigois, sowie die Kosten 
des Yer&brens, in dem zweiten FtXL auf Freisprechung. 

Die Beweiserhebung ergab die Richtigkeit der Anklage in Bezug 

auf N.'s Verhalten gegenüber dem Diener X. insbesondere die Tat- 
sache, daß K. in häufig wiederholten Fällen während der Dienstzeit 
des X. Stöße gegen den entblößten Körper desselben in der Absicht 

geschlechtlicher Befriedigung; rorgeuommeii hatte. 

Durch den Zeugen Y. wurde festgestellt, daß X. bei verschiede- 
ner Gelegenheit sexuelle MauipulatioDeo an ihm vorznnehniru suchte. 
Einmal trsclneu N. nachts um drei Uhr vor dem Bett des Y., griff 
mit seiner Haud unter das Deckbett nach dessen GeschlechtHSteil. nach 
weiteren fruchtlosen Versuchen gelang es ihm eiumul, dun Y. zu ma- 
sturbieren, als w bei ihm im Zimmer war. Solche Manipulationen nahm 
der Angeldagte mit Y. in der fraglichen Zeit ca. 60 mal TOr. Zum 
Begriff der widernatürlichen Unzucht gehört aber nach den Entschei- 
düngen des Reichsgerichtes, daß der Geschleobtsteil des Handelnden 
iu r-inr Berührung mit dem Körper des männlichen Partners kommt, 
wobei eine Einfühning dos Gliedes in den Körper desselben nicht not- 
wendig erscheint. Deswegen sind die an dem Zeugen ,Y.* Torge- 
norameneii Haudhingen nicht als widornatiiriiche Luzucht anzusehen 
(daher Freisprechung). Indessen war bei alh'u einzehjcn Handhingf^n 
der Angeklagte von dem einmal geialiteu Entschlüsse gi leitut, seinen 
Geschlechtstrieb fortdauernd au den betreliendi n Personen zu l»cfi iedigen. 
Die gegen jede der beiden Personen versuchttii Akte sind desliaib als 
eine fortgesetzte selbständige Handlung zu erachten. Uegeuüber dem 
Einwurf des Angeklagten, er sei konträrsexuell Teranlagt, macht das 
Urteil folgendes geltend : „ Außergewöhnliche Neigungen, die der Täter 



Digitized by Güchi Ic 



I. Beitrige mr loreiisifeiieii fiearkeilong von Sitttichkeitsrerfehen etc. 35 

zu bekämpfen aus moralischer Schwäche und mangeloder Euergie 
unterläßt, sind unter derartige Zustände (wie sie § 51 des R.-Str.-G.-B.s 
in sich scblioRt) nicht m rechnen. Bei die^'^n Neigungen ist der Wille 
des Täters gerade auf die Vornahme solcher Handlungen gerichtet. 
Dieselben entspringen lediglicli seinem Willen, nicht etwa einer Krank- 
heit, die ihn willenlos gemacht hat. Deshalb kann, wenn er seinen 
Neigungen frönt, nicht von einer Ausschließung seiner freien Willeus' 
bestimmang die Bede ada. AndereofaUs müßte jeder rückfällige 
Täter wegen der bewiesenen starken Neigung zn der speziellen 
Straftat straflos bleiben. Die Zumessung des Strafmaßes nahm noch 
darauf Bttcksicbti daß der Angeklagte den höheren Schichten der Be* 
Tölkerung angehört und wegen seines Bildungsgrades befähigt sein 
mußte, derartige verwerfliche, jeder Sitte und Anständigkeit Hohn 
sprechende Neigungen zu bekfimpfen, denselben aber «jennoch in hohem 
Maße gefrönt hatte. 

Bevision und Gutachten. 

Gegen dieses Urteil legte N. N. BeYision beim fieicbsgericht ein 
unter der Annahme, daß der § 176 des B.-Str.-G.*B.8 Terletit sm. 
Diesem Urteile wurden mehrere Gutachten Sachverstiindiger zu Grunde 
gelegt 

Das erste Gutachten von Prof. Dr. v. Krafft-Ebing weist 
auf die durch erbliche Anlage begründete abnorme sexuelle Ent* 
Wicklung des N. N. hin, betont den Horror feminae, seine Impotenz 
und erwähnt als De^enerationsahzeichen : abnorm kleine Genitalien, 
neuropathisches Au^e. partielle Farhenhliudiieit. Ferner hezieht '•ich 
(hisselbe auf die schwere Neurasthenie des Patienten, auf zeitweise An- 
fälle vüu Zwangsrurstellungen (folie du doute), von Trübsinn (Dysthymie) 
auf seine Selbstmordideen und die Unfähigkeit, den mit kraukhatter 
Stärke auftretenden Geschlechtstrieb zu beherrschen. Derselbe mache 
sich zeitweise mit organischer Nötigung, also impnlsir geltend. Infolge 
seiner krankhafteo Anlage mangeln ihm höchst wichtige, den normal 
gesrteten Menschen bestimmende sittliche Motive zur Begehung oder 
Unterlassung einer derartigen vom Gesetz verpönten Handlung. Seine 
perversen sexuellen Akte tragen daher nach t. Krafft>£bing dfiä 
Gepräge der Unfreiheit und erscheinen durch unwiderstehliche 
Gewalt provoziert. 

In einem Nachtrage zu diesem Gutacliten bezweifelt v. K rafft - 
El) um ili« Freiheit der Willensbestimmung des Patieuteu in den frag- 
lichen Situationen. 

3* 



36 ^ -Beitrige war lorenfvcben Beurtdlang tod 8UtUcIikeit8vergtth«D etc. 

Es folgt miiiiiiehr das Gutachten des Dirr-ktors einer 
bekannten Heilanstalt, in welcher N. N. sich halte beohachteu 
lassen. 

Dasselbe spricht sich wosentlicb in demselben Sinne aus, wie das 
Torttehende, und endigt mit der Znsammeofasstuig, daß K. N. lich 
in einem Zustande krankhafter St5mog der Geistestätigkeit befunden 
habe, welche seine freie Willensbestimmnng aufbebe. 

Hieran schließt ein weiteres Gutachten des Kollegen, der den 
Patienten l&Dgere Zeit hypnotisiert hatte, bevor er in die Behandlung 
des Verfassers eintrat. 

Dasselbe bespricht ausführlich die neurastheoischen Beschwerden 
des N. N. und bn^rliroibt folgende an ihm boabachtete Symptome: 
Leiclite psychischu Knnüdbarkpit, l'nfahiijkcit, die Aufmerksamkeit zu 
konzeütriereu, j>t^>uliche Ideentiuclit. eine powissc Willensabschwächung, 
Zwang zum Anschaueumüssen vou bestiuimten Gegenständen. Zäblen- 
miissons der Tapeteumuster des Zimmers, von Bäumen beim Spazieren- 
geheu, zwangsartiges Sichaufdrängen von peinlichen Gedankni mitten 
in der Konyersatioii, unstäte Stimmung, labiles psychisches Gleich- 
gewicht, Gereistheit, gestörter Schlaf, abnorme Empfindlichkeit gegen 
KUte, Appetitmangel, StuhltrSgheit, leichte Erregbarkeit des Herz- 
muskeb, Schmerzen in der Herzgegend, kalte Hände und Füße etc. 
In Bezug auf die konträre Sexualempfindung wird die Meinung der 
erwähnten Gutachten geteilt. K. N. war nach diesem Gutachten 
außer stände, infolge der reizbaren Schwficlie seines 
Nervensystems erfulgreicheu Widerstand seinem er- 
krankten G f s c b ! e (• Ii t s 1 e b e u e u t g e g e n 7 \i s e t z e n. Eine durch 
die \'t'rtpidiguuf; des N. N. auch von diesem einj^eholte Krgiinzung 
zu dem GuLachttu betont noch einmal die erwUhutt n Umstünde und 
vertritt den Standpunkt, daß der Geschlechtstrieb als instinktmäliiger 
Antrieb nur bis zu einem gewissen Grade der frdenWilleDsbestimmuug 
unterliege. Bei krankhafter Entwicklung höre der Wille leicht auf, 
dagegen anzukämpfen. Das Bewußtsein des Homosexuellen, der seinen 
Trieb subjektir als etwas Normales empfinde, ist nach dieser Äußerung 
getrübt in Bezug auf die Auswahl des Objektes der Befriedigung. 
Der Autor dieses Gutachtens nimmt krankhaft gestörte Geistestätig- 
keit zur Zeit der sexuellen Impulse bei N. N. an. 

Das erste von dem Yerffisser dieses Aufsatzes nbcrepjebene 
Gutarhten wnrdo /n oirtov Zeit verfaßt, in der dem N. i^. der uormale 
Soxualverkehr noch nicht gelungen war. 

Dasselbe lautet : 

Herr N. N. leidet an Neurasthenie, Xeben Zwangsideen, 8chlai- 



Digitized by Goo<?Ie 



I. Beitrage tat lorettSttchcD Beurt«üaiig tod' Slttliebkeitirergdhen etc. 37 

störuü^,'en. KoDgestiouen. Apprtitlosifjkeit beatoht eine linch^rndige ;,'e- 
mütliclie N'erstimmung, eiu ausf^esprocliciier Mangel au Energie, sowie 
eine tiiivcrkennbare Schwäche des ( iediiihtiiisses. 

Zu dieseü Ersclieiiiuugen allgemeiuer reizbarer Sek wäche des Nerven- 
systems gehört die im Mittelpunkte des Knnkheitsbildes stehende aus- 
gesprochene Anomalie des geschlechtlichen Fuhlens» die sieh nach den 
Arbeiten von Westphal, t. Krafft* Ebing etc. als konträre Sexual- 
empfindoDg heschrieben findet. Für die Krankhaftigkeit des Geschlechts- 
triebes spricht auch die neuerdings wiederum von mir bestätigte Be- 
obachtuDg, daß Patient in seinem ganzcu Denken und Fuhlen dem 
weiblichen Geschlecht gegenüber entfremdet ist und sich bis jetzt trotz 
einer Reilie von in bester Absicht uuternommonen Verfuchf n , den 
i3eisclilat" auszuführen, als friiiizlich impotent erwirst'u hat. Ferner 
spricht dafür das ahunrni frühzeitige Hervortreten <les Geschlechts- 
triebes (vor ileni 10. Lebeusjahre), die Stärke desselben und die Be- 
zichuiig desät^lheti auf das männliche Geschlecht schon beim ersten 
Moment des Auftretens im 10. oder 12. Lebensjahre. 

Daß durch ooanistische Manipnlattonen, welche Ton Mitschülern 
an dem Patienten vorgenommen worden oder von diesem selbst die 
Intensität dieser abnormen Empfindung gesteigert wurde, bis sie den 
Patienten völlig beherrschte, unterliegt keinem Zweifel. Aus der ein- 
seitigen Richtung des Triebes auf das münnlicho Geschlecht entspringen 
auch die flaudlnogen. welche zur Befriedigung von Patienten unter* 
nommen werden. Dieselben bezwecken lediglich die Befriedigung des 
als Gesetz empfundenen Triohes zum nif^pnen Geschlecht, wobei 
die Aft und Weis»', wie eine solche Hefricdi^ung iier beige führt wird, 
ob durch eine wechst l(»nanislische und beischlalsähnliche oder durch 
autoonanistische Handlungen, für das krankhafte Empfinden des Pa- 
tieiiiLii ganz nebensächlich wird. Patient folgt also in der Betätigung 
seines Sexualtriebes einem durch seine Anlage, sowie durch unglück- 
liche Süßere ümstftnde herrorgerufenen Zwange, der ihm schon die 
qualvollsten Seelenxustände erseugte. Da sein eigener Wille nicht 
ausreichte zur Beherrschung der Triebanomalie, so begab Patient sich 
in richtiger Erkenntnis des SachTcrhaltes in ärstliche Behandlung. 

Ol) die Stärke des Zwangstriebes ausreicht, den Patienten als un- 
surechnungsfähig im Sinne des Gesetzes erscheinen zu lassen, für die 
Beurteilung dieser wichtigen Frage wäre eine genaue Kenntnis des 
Sachverhaltes nötig und der damaligen Gemütsverfassung. Siclierlich 
aber sind die dem Pntientou zur Last gelegten Handlungen nidit aus 
einer Neigung zur Unzucht entstanden, sondern infolge krankhafter 
Beschaffenheit seines geschlechtlichen Trieblebens. 



Digitized by Google 



88 !• Beitrig« aar forensiidien Beurteilung tod 8itt)idüceittrergelkeii ete. 

Zu dt m verstehenden Gutachten wurde vou der Verteidigung 
ein ergänzender Nachtrag verlangt. Derselbe lautet wie fol^t: 

In dem Bericht vom wurde X. N. als erblich be- 
lasteter Neurflstheuiker liezeichnet. Dafür sprechtn folgende Daten 
aus seiner Faniilifiipeschiclite. Der Vater des Patienten starb an einem 
Herzleiden und hatte von jeher besoiideresWohlgeialliU an stattlichen 
großen Männern gehabt, ohne daB aber diese Vorliebe irgendwie sexuell 
zu deuten geweten w&re. Die noch lebende Mutter des Patienten ist 
krfinklich und nervös. Ein Bruder ähnelt dem Patienteni insofern auch 
er Tou Jugend auf onaniert, niemals den Beischlaf ausübte und Gefallen 
an schönen Soldaten fand. Der Zustand dieses Bruders Terschlimmerte 
sich derarty daß er geisteskrank wurde und seit 4 Jahren in einer 
Irrenanstalt untergebracht ist, £iD zuteiter Bruder zeigte ebenfalls die 
Spuren der erblichen Belastung in heftigen nervösen Angstan fallen. 
Er litt an Asthma pectori?« und endete im 21. Lebensjahre durch 
Selbstmord. Ein dritter noch lebender Bruder ist mi verheiratet, nervös, 
Onanist. mit hnnm sexuellen Neigungen. Ein vierter Bruder und eine 
Schwester sind normal. 

Für die erhiiche Behistunj; des Patienten kommt außerdem noch 
die 'Patsaehe in Betracht, daß er als Kind (vor seinem 1<). Lebensjahr) 
schon schwächlich und kränklich war. Er litt damals jahrelang haupt- 
sächlich an I^iagenbeschwerden, unaufbörlicbeu HalsentzUodungen etc. 
Die sidi sp&ter erst völlig entwickelnde ^Neurasthenie und Anomalie 
des Geschlechtslebens ist somit, worin alle Gutachten übereinstimmen} 
auf dem Boden einer erblichen neuxopathischen Diathese entstandoi. 

Patient gibt an, schon im 5. Lebeni|jahre geschlechtliches Inter- 
esse ftlr Männer gezeigt zu haben; mit 8 Jahren will er bereits Wollust- 
empfindnngen gehabt haben (?). Auch das Interesse fttr die Geschleoht»- 
teile älterer Kameraden war schon nach seiner Versicherung um diese 
2eit vorhanden (?). Mit dem 12. Lebensjahr begannen die ersten 
onanistischen Manipulationen, eine Leidenschaft, die heute noch fort- 
besteht. Schoji als Knabe fand er ein p:rößere3 Vcrp:DÜgen an Wecbsel- 
onanie mit Kameraden, und nur in Ermangelung eines Partners griff 
er zur Selbstbefriedigung. Das undifferenzierte ( t e s e h 1 e c h t s - 
gefiihl eines s e h \\ ä ch I i e h en erblich belustetcn Knaben 
wurde also schon zu einer Zeit falsch bezogen, d. lt. iu 
unrichtige Bahnen gelenkt, in welcher er über die Ge- 
schlechtsunterschiede und den Zweck des Geschlechts- 
Verkehrs noch nicht aufgeklärt war. Seit dieser Zeit ist 
Patient diesem Zwange vollständig verfaUen. Sowohl in seinem Piivat- 



^ j . -Li by Google 



I. Beitrige sur foreottsehen B«artdlungr von SittHdikeitiTergeh«ii etc. 39 



leben, ah anch während der Militardienstzoit suchte und fand er immer 
wieder Partner iiiännlicheu (ieschlecbts /.iir Befriedigung seines Triebes. 
Damit korrespondiert audi die völlige ( ileichgiiltigiceit und Abneigung 
gegen wtMblicht' Geschlecht, welche sich l)is zu Ekelgefühlen und 
zum HuiTor teminae steigerte. Patient iuit sich uitmüls zum Weibe 
hinge/ugeu gefühlt, die einzigen zwei Versuche, den Boiachlaf am- 
xuflihren, die er vor der Zeit der ihm znr Last gelegten Sittliehkeits- 
▼erbreclien Tomahnt, endigten mit ▼Olligem Fiasko. ' Somit ist Patient 
anßerdem impotent nnd infolge dieser unglücklichen Entwicklang 
w&hrend seiner Jugendseit überhaupt nicht dazu ge- 
kommen, die zur Korrektur einer solchen Anomalie er> 
forderlichen Gegenvorstellungen su bilden, retp. die- 
selben AUS den Sinneswnhrnebmungen des normalen 
GeBchlechtsverkehrs a)) zu leiten. 

Sein ganzes Wesen, sein Charakter ist so selir von dieser Tricb- 
auumalie durchdrungen, daß auch seine PolhitionNträuiDe von männ- 
lichen -Bililern begleitet sind. Neben der Atjiiuruiitiit des Triebes be- 
steht aber auch eine kraukhalte Steigerung desselbün, eine sexuelle 
Hyperfistbesie. Wenn dieselbe schon aus dem physiologisch anormalen 
frühzeitigen Hervortreten sexueller Drftoge ersichUicb ist, gibt sie 
sich auch zu erkennen in dem Eintritt von £|jakolationett, sobald das 
Glied des Partners von ihm nur mit der Hand berfthrt wird und in 
Form von peinlich empfundenen Erektionen beim Anblick männlicher 
wohlgebauter Personen. Ferner genügt eine eiufaclie Vorstellaog und 
Sinoeswahrnebmung. um auch ohne Friktion des Gliedes Samenerguß 
beim Patienten iu'rbeiznführen. Der sexuelle Schwächezustand des 
Patienten produzierte «nf^nr zeitweise Kjakulationen bei scldail'em und 
balbschiaffem Glieiie. W'i im im ganzen cb-r Ciiarakter des i'atx'uten 
auch als niiinnlich nnpunurt. so finden sich deimoch bei ihm 
einige ans Weibliche erinuernde Züge, So besteht eine Abneigung 
gegen jedwede Art männlicher Kraftproben , dagegen Vorliebe für 
Hans- und Handarbetlen (Kochen, Äufr&umen etc.). Eine große 
Weichheit des Gemüts, Liebe sur Musik und Kunst , Freude an 
Üppigen Festen, Sinn fUr Theater, Belletristik (und Hftuserbauen). 
Em gewisser Grad von Schamhaftigkeit wird sogar in den mann- 
männlichen Rapporten gezeigt, wobei Patient in der Regel, wie ein 
schüchternes Weib, die Augen schließt 

Auch das geistige Leben N. N.*s weist Abweichungen vom nor- 
malen Verb;dten auf. Neben einer ausgesprochenen Schwäche des 
Willens (Energielosigkeit und EntschluHunfähigkeit i besteht auch eine 
solche des Gedächtiusses, wie mau sie so häufig bei Ouanisten anthtit. 



Digitized by Google 



40 !• Beiträge zur foreuMiciieo Beurteilung Ton SittlichlceitsreiigeheD etc. 

Patient ist uufuiiig, seiue Getiaukeu zu kuuzentiiereu ; sie schweifen 
ab und führen ihm entweder geschlechtliche Bilder oder Sitnationeii 
anangeDebin«r Art Tor das geistige Auge. Die zwsDgsweiie rieh aaf' 
drängenden Yorstetlimgen, auf welche schon ein anderes Gutachten 
hinweist, ködnen so lebhaft sein, daß Patient laut spridit oder Schreie 
auastöfit. Die Stimmung ist ?ielfach deprimiert ; seine Gedankenrichtung 
mit pessimistischer Färbung. £r fiihlt sich außer stände, Irgend welche 
Art ernster geistiger Arbeit zu verrichten. 

Die körperliche Untersuchung ergibt bis auf die erwähnten 
Symptome des Nervensystems und einen loicht t-rregbaren Herzmuskel 
ein iicgntives Resultat. Das Becken zeigt in seinen (gemessenen) 
Durchmessern mäniilit lie Form. 

Patient leidet somit, wie schon in dem ersiou Gutachten gesagt 
wurde, au konstitutioneller Neurasthenie mit Zwangs- 
zustäuden. 

Daß die abnorme Intensität des Triebes dem Angeklagten bis 
zum Grade der Unwiderstehiichkeit beherrschen und sich impulsiv 
Befriedigung erzwingen hann, insbesondere bei Berücksichtigaug der 
als unzureichend aus der ganz^en Entwicklung des Inkulpaten nach- 

gewiesenen ethischen und intellektuellen Gegenvorstellungen, erscheint 
zweifellos. Demnach muß die freie Willensbestimmung des Herrn 
K. N. bei Begehung der ihm zur Last gelegten Vergehen in Frage 
gestellt werden. 

Entscheidung des Reichsgerichts. 

Unter Beifügung der ?orsiiheuden üutachttii wurde die Revisiou 
des ersten Urteils beim Reichsgericht beantragt. Das Reichsgericht 
jedoch verwarf die Rerisioo, erkannte das Urteil der ersten Instanz 
an und bürdete dem Verurteilten die Kosten des Rechtsmittels auf. 

In den Gründen werden nun folgende für die Beurteilung ihn* 
lieber Fälle wichtigen Punkte ausgeführt: Der Tatbestand des § 175 
setzt nicht die Einbringung des männlichen ( ilit-des in eine natürliche 
Öffnung des Körpers einer anderen männlichen Feison YOraus, sondern 
es genügt die körperliche Berührung dieses Gliedes mit 
de m K ü r p e r des anderen unter b e i s r Ii 1 n f s Ii h n 1 i <• h o m Ver- 
langen. Gegfiiüber den Gutacliteu der medizi'ii^'-h'M! Autoritäten 
nimmt das Kciclist^ericht dir ^'orinstaIlZ in Schutz. i>eun ..sie hat 
vielmehr in konkreter A\ ürdiguiii^ der Sachlage ftir erwiesen erachtet, 
daß der Angeklagte uicht nur von dem Eutschlussc. seinen Ucschlechts- 
> trieb fortdauernd an derselben Person zu befriedigen, geleitet gewesen 



I. BeitrSge zur forenaiichen BenrteilaDg von SittUehkeitsretgehea etc. 41 

ist, sondern daii er auch in voller Willensfreiheit und bewußt gfhandelt 
hat." Dil der Angeklagte selbst in seinen Erklärungen den ausdrück- 
lichen Einwand der Willensunfreiheit niihi erhobt"« hat, und da auch 
die Aussagen der Zeugen gegen einen Zustand vüu Bewußtlosigkeit 
oder Willensuulieiiieit sprechen, so mußte das Gericht die Uberzeugung 
gewinneoy daß der Angeklagte im ZustMide der Willemfreiheit ge* 
handelt habe, nach eiuer freien Prüfung der Frage, ob die konträre 
Sexualempfindung den Angeklagten bis sa dem Grade der Unwider- 
stehlichkeit nnd Willensunfreiheit heherrBcht habe. Es war hierbei an 
die Zuziehung der Gutachten der Sachrerständigen nicht gebunden. 
Demnach ist das Gericht Uber die Grenzen seiner gesetzlich bestimmte 
Befugnisse nicht hinausgegangen. 

N. hatte das Glück, seine Strafe nicht verbüßen za müssen. Er 
wurtlt; begnadigt infolge eines allgemeinen AmDestteerlasses des JLandes* 
lüiätea für Strafen geringen (Jmfanges. 

Fall II. Anklage e i u e s K ou trü rs exuale u wegen Ver- 
f ü h r u n g 8 V e r 8 u c h e s zu ni u t u e 1 1 e r O n a n i e an einem r» t f e n t - 
liehen Orte. Gutachten des Verfassers. Kranken- 
geschichte. Keine Beeinträchtigung der freien Willens- 
bestimmung. Verurteilung. 

A. , Beamter in höherer Stellung, angeklagt wegen Vergehens 
wider die Sittlichkeit (§ 175), ist gegenwärtig 83 Jahre alt, unver- 
heiratet. Sein Vater lebt, ist 64 Jahre alt, normal. Mutter starb an 
Tabes dorsaliä. Mutter<<r*^^ch\vister herzleidend. Eine Schwester der- 
selben ist infolge von Sclilagautaü gelähmt, eine weitere Mutterschwester 
hat ein liarmäckiL'rs Haulieiden. Vatersbruder und Vatcrsschwcstrr 
starben au Iler/.leulen. Vater litt au Wassersucht. Ein andrrer 
Vatersbruder starb an Tuberkulose. Eine Schwester des ratienteu ist 
hysterisch. Sexuelle Anomalien nicht nachweisbar bei den Angehörigen. 
Vater jähzornig, zu Gewalttätigkeiten geneigt . Altere Schwester des 
Patienten männerschea. 

Hieraus geht herrorp daß Patient in schwerer Weise erblich 
belastet ist Außer Kinderkrankheiten hat er keine schwereren 
Erkrankungen überstanden. 

Der Anbück des Gesichts zeigt Schiefstellung der Nase. Die 
Formation des Schädels ergibt in Bezug auf Umfang, Durchmesser, 
und sonst keine Al>weichnngen. 

Ebenso ist die Korm des Hrckens eine müuuliche, wie ?ämt- » 
liehe von mir angestellten Messungen ergeben haben. Die Stellung 



Digitized by Google 



4S ^ BeitrSg» lur foraunsehen Beorteflnng von Sittliehk«iUTeig«lieD etc. 

der ()l>ersch«-iikel pferade. Tm ganzen haben wir also einen inätHilichen 
Habitus, mit uuiuij liehen, normal entwickelten Gesclilechtsattributen vor 
uns, von mittlerer Ernährung. 

Stirn hochy Haara, Schnurrbart braun. Stimme : mSnnUcher fiaiiton. 

Zur Entwicklung seiner Bezuellen Anomalie iBt fol- 
gendee »i bemerken: Patient war von frOher Jagend au ein lelir 
schw&chliches, xartes Kind, wie das bei der Schwere seiner erblichen 
Belastung nicht anders su erwarten ist. Man zweifelte nach seiner 
Geburt, ob rr Uberhaupt am lieben bleiben würde. In der Schule 
war Patient scheu, schüchtern, nahm an den Spielen seiner Genossen 
wenig teil. Dappgeii will er eine gewisse Vorliebe für weibliche 
Hiuid:ubeiten und da/u eine großi- Geschicklichkeit gezeigt haben. 
Dieses Symptom dürfte sich wohl weniger durch die konträre Sexual- 
empHuduiig erklären, als durch die zarten Gesundheitsverhältnisse, 
welche ihn zu einer gewissen Zurückhaltung und leichteren Hand- 
arbeiten Teranlaßten. Bis zum 12. Lebensjahr war er hauptsächlich 
auf die Gesellschaft seiner jüngeren Schwester und deren Spielge- 
nossinnen angewiesen. Im 12. Lebeosjahr machte ihn ein älterer 
Hitschüler auf die Erektion des männlichen Gliedes aufmerksem. 
Neugierig ergriff A. das Glied des betreffenden Spielgenossen und 
empfand dabei znm erstenmal als ahnungsloses Kind dunkel eine ge- 
schlechtliche Erregung. Er versuchte nuD an seinem eigenen Glied 
durch Betasten desselben ähnliches herrorzubringen. Auf diese Weise 
trat nach und nach Erektion und Samenerguß ein. So kam es zu 
einer Zeit, wo ihm dir Kenntnis der G e s c h 1 e c h t s v e rli äl t- 
nisse noch viWlig 1 e ii 1 1 e . wo ihm auch die Bedeutung seiner 
eigenen Handluniren unklar wai. zur <)nanie, der er sich in der 
Folge eitrig hingab. Die einzigen Erfahrungen, die er als Knabe 
machte, bezogen sich auf seine Altersgenossen. Infolgedesseu 
traten die ErinnerungsTorstellungen an männliche Per- 
sonen (Uitschfiler) bei den gescblecbtliohen Erregungen 
immer wieder auf. £$ bildete sich also eine enge Assoziation 
zwischen dem Geschlechtsgefühl und den Vorstellungen 
der Geschlechtsattribute männlicher Personen. Diese 
Verbindung muffte um so enger und fester werden, ji' (ifter die all- 
mählich auch durch Phantasietätigkeit variierten Bilder den körper- 
lichen Prozpn des Onanierens l)egleiteten. Jene mit Hinblick auf ihre 
verkehrte liichlii:g als krankhaft zu bezeichnenden Asso- 
ziationen werden schlieRlich durch Angewöhnung automa- 
tisch und begleiten am Ende jede gr sc h 1 echtliche Er- 
regung des Patienten; ob er wollte oder nicht. Sie bekamen also 



Digitized by Google 



1. Beitrig« tnr foremuelMn Beurteilung Ton SittUehkeiteTeigeben ete. 43 

einen zwangsartigen Charakter niul das tim so loicliter. einer- 
seits weil das Gehirn starke Eindrücke in der Zeit des 
Wachstums am tiefsten sich einprägt und die Spuren 
davon auch für das spätere Leben lel) endig erhiilt, 
andererseits, weil es sich hier uni um schwächliches, weniger wider- 
standsfähiges Individaum bandelt, welches viel intensirer anf solche 
ßrlebnisse bei seiner NerTenbescbaffeebeit zu reagieren pflegt, als der 
normale Mensch. Die männlichen Bilder traten in eroti- 
schen Träumen anf, bei^eiteten nacfatliche Pollutionen und '▼er- 
ließen, nachdem sie durch jahrelange Angewöbnnng zwangsartig ge- 
worden waren, den Patienten nicht mehr. Erst gegen sein 18. Lebens- 
jahr wurde A. über die Beziehung der Geschlechter aufge- 
klärt Während nun ein normaler Mensch mit entsprechend starkem 
Willen solche pathologische Erfahrungen schließlich noch korri- 
gieren im Stande ist durch die späteren Wahrnehmungen des normalen 
Geschlechtslebens, war es für unseren Patienten zu spät. Er ver- 
suchte zuerst im 21. Lebensjahr den Beischlaf im Bordell, 
bekam aber nicht einmal eine Erektion. Völliges Kiasko und Gefühl 
des Ekels. Schließlich mastarhierte ihn die Prostituierte; aber auch 
dieser Prozeß widerte A. so an, daß er mehrere Tage sieh unwohl 
fiiblte. Seitdem bat er überhaupt nur noch drei derartige 
Versuche gemacht, ohne jeden Erfolg, ohne Erektion und ohne 
Samenergaß. ESs bestellt demnach bei A. bis jetst Impotenz gegen- 
über dem Weibe. 

Die L hertragung seines Gkischlechtsgefühles auf männliche Per- 
sonen drückte sich, wie das ja unter solchen Umständen natürlich ist, 
bei ihm als Knaben zunächst &m in Schwärmerei und inniger Freund- 
schalt (mit erotischen Zügen) für bestimmte Kameraden. Mit 15 
Jahren trat Leidenschaft für einen Husaren ein, dessen Bild 
nunmehr in seine onanistischen Träume überging. Mit 18 .Jahren ent- 
brannte er in heftiger Liebe zu einem Trambahnkondukteur, 
fuhr stundenlang mit ihm auf der Pferdebahn herum und erlitt alle 
Qualen der Eifersucht, wenn jener mit anderen Menschen oder weib- 
lichen Personen frenndliob war. Er getraute sich jedoch nichts seine 
Liebe zu gestehen, sondern begnügte sich damit, die lebhafte Erinne- 
rung an jenen Kcmdokteur in seine onaaistischen Phantasien aufzu- 
nehmen. Mit der Wechselouaoie wurde 8. erst in seinem 26. Lebens- 
jahre du rch räien Burggendarmen in Wien bekannt. Er beschreibt 
diese Erfahrung wie folgt: „Ein Wonneschauer ging durch meinen 
Körper, als er mich in seine Arme schloß, und ich zitterte am ganzen 
Xieibe als der ErguU eintrat Körperlich bisher durch Selbstbefriedi- 



44 Beitrag« lur forenikrhen Beurteilung von SittlieUceitirergehen etc. 

gunj,' und l'oüutiotieu heruntergekommen, gequält durch Öeibstmord- 
gedaiikeu, erwachte jetzt erst recht in mir die Lust zum Leben und 
nach wechselseitiger oder passiver Onanie, für die ich meistens Sol- 
daten: anwarb, aihlte ich mich erleichtert und gekrfifiigt« Pftde- 
rastie wurde vom Patienten von jeher Terabscheot. £r ?ennied anch 
den Umgang mit GesinnuDgBgenosaen nnd sog den Verkehr mit wirk- 
lichen M&nnern vor. 

So ist Patient auch hellte noch konträrsexual, d. h. sein Ge- 
schlechtsgefühl ist infolge erblicher Beanlagung nnd 
durch äußere Limstände umgekehrt, dem männlichen 
Geschlecht zugewendet: für Frauen hatte A. niemals Interesse. 
Es tinden sich auch seelisch bei ihtii gar keine -Ansätze für die 
hetern sexuelle Kmpfiuduugsweise. Er verkehrt mit Damen 
gesillschaftlicli. fühlt sich aber direkt abgestoßen, wenn er irgend 
welche Haudiuugeu oder Ausdrucksbewegungen wahrnimmt, die eine 
Tendenz aufs Männliche zeigen. 

' Keben die^ Impotenz bestehen Symptome einer lachten Neu- 
rasthenie, Intoleranz gegen alkoholische Getifioke, Spinalirritation, 
Müdigkeit nach dem Erwachen morgens, leichte psychische Erregbar- 
keit, Angstgef&hle, abnorme Sensationen, Druck im Hinterkopf, ge- 
mütliche Labilität, aufgeregtes Wesen etc. 

Zeichen einer ausgebildeten Effemination nicht vnrliandcn. Patient 
ist mit Ausnahme seiner geschlechtlichen Sphäre durchaus männlich 
entwickelt, psychisch und körperlich, muß aber angesehen werden 
vom gesundlieitlichen Standpunkte als ein zartes, 
wenig w i d e I s t a n d s t" ii h i 1,' e s Individuum, mit den Spuren 
schwerer erbliehcr Heiastun», leichter Neurasthenie 
und konträrem Geschlechtsgelühl. 

In dem Grade, in welchem Patient Gelegenheit m teil wurde, 
mit anderen männlichen Personen zusammen das W^oIlnstgefUhl zu 
produzieren, in demselben Grade ist die ei|ifacbe Onanie während der 
letzten Jahre zurückgegangen. Im ganzen aber pflegt das Geschlechts- 
▼eriangen solcher krankha^n Penonen ein abnorm starkes zu sein. 
Oas ist auch bei A. der Fall. So kann der bloße Anblick 
schöner kraftvoller männlicher Gestalten Erektion und 
Libido hervorrufen, und zwar noch leichter nach dem Genuß alkoho- 
lischer Getränke. In dieser Lage befand sich der Angeklagte am 
10. OkU)i)er IBiJH, als er gt ijen 11 Uhr abeuds vom Kolosseum 
(Varietetheater) den Heimweg anirat. 

A. war vorher mdiicre Monate in 8e.\ueller Beziehung abstinent 
gewesen und halte sich au diesem Abend während der V^orsteUung 



y Google 



L Beitrage zar forenBiseheti BelirteiltiDg ron SittliebkeitsTergehen etc. 46 

durch doTi Anblick der Produktionen eines Athleten gesclilechtlici» 
au%pro^:t. Er marhte also unterwegs die Bekanntschaft eines Sol- 
dateu, der akh in (h'V Bayerstraße nach ihm nmsnh und den Ange- 
klagten achließlich begrüßt haben soll. Der gemeinsame Spaziergang, 
der sich an die Begegnimg anschloß, führte über den Maximiliansplatz, 
Salvfttorplats nnd wieder snrttck ttber den llaximiliaDspUtz» flb^ die 
Ottostraße in die Karlstiaße. Hier bogen sie in einen finsteren Hof 
eines Hauses ein, nnd der Soldat ging bis in die Ecke des Hofes mit. 
Patient öffnete nnn unter dem Vorwand des Urtnierens seine Kleider 
in der Absicht, sich ron seinem Begleiter masturbieren zu lassen. 
Der Soldat zog dann, un/u frieden mit der gebotenen Bezahlung, sein 
Seitengewehr, erklärte den Patienten für verhaftet und veranlaßte dann 
die Anzeige dessflbcn. 

Die niilieren Umstände Tatliestandes sind anweseiitliVh. Es 
fragt sich zunächst, ob Patient während der ihm zur Last yelegten 
Handlung in einem Zustande der (ieistesstörunfj; sich be- 
fand, resp. willensunfrei , d. ii. durch ktankhaite V'orgänge 
in seinem Seelenleben gestört war. Diese Frage ist unbe- 
dingt mit „Kein** an beantworten. Patient war zwar gescblecht- 
lieh erregt,, aber doch nicht in einem solchen Grade, 
daß ihm die Besinnung abhanden gekommen wäre. Denn sein gan?«8 
Verhalten zeigt das Vorhandensein TÖlh'ger Seibetbestimmung. Die 
Bekanntschaft, der Spaziergang bis zum Salvatorplatz, das Umwenden 
d:L ( ll)st, damit die belebtere Briennerstraße vermieden werde, 
endlich das Aufsnclion eines dunklen, uubesuchten Ortes, sein Verhalten 
während der Handlung seihst, alle diese Momente zeif^en. daii A. mit 
voller UberlegUTiir gehandelt liat und sicli der ganzen Situation völlig 
bewußt war. ebenso wie er sich nachträglich aller Einzelheiten der- 
selben erinnern konnte. Offenbar aber hat das Verhalten seiner Part- 
ners, welche Absicht derselbe auch gehabt haben mag, bei der nächt- 
lichen Anknüpfung einer Bekanntschaft, bei dem Spaziergange um 
Hittemacht> sowie bei dem Mitgehen bis in die Ecke des 
finsteren Hofes, auf seine ohnehin krankhaft veränderte nnd 
gesteigerte Qeschlechtssphäre prorozierend gewirkt nnd 
konnte vom Patienten nur in diesem Sinne eben w e g e n seiner krank- 
haften Anlage ausgelegt und verstanden werden. Jedenfalls war er 
sich nicht bewußt, mit seinem Verhalten ein öffentliches Ärgernis zu 
bieten. IMit Hiid)lick also auf die tie furchende seelische Ano- 
malie in dem Sexualleben, welche A. als einen erblich 
schwer belasteten Psychopathen k e n n ze i c h n e t nnd allein 
zu jener ihm zur Last gelegten Handlung Veranlassung wurde, welche 



Digitized by Google 



46 Beitriige rar förensiBeheii Bearteilnn^ toh SitUidikeitiTergelien ete. 

aber außerdem seine wenn auch irrtümliche Auffassung der 
Absicht des Soldaten psychologisch völlig verständlich 
macht; darf auch Tom Standpunkte des Gutachtens der Angeklagte 
einer mildwen Beniteilung empfohlen werden, 

A. wurde za 100 Ihrk Geldstrafe und in die Kotten des Yer^ 
f ahiens TeriuteUt 

Patient begab sich in ärztliche Behandlung nnd ist bereite 
auf dem Wege der Bessening. Mit Hilfe hypnotischer Suggestion 
gelang die Bekampfang der homosexuellen Neigungen und Uber- 
windung des Horror feminae. Anfängliche Schwierigkeit bei Aus> 
führung des normalen Geschlcchtsaktps wich bei wiederholten Ver- 
suchen. Darauf geregelter heterosexueller Verkehr mit voller Wollust- 
empfindung und spontaner Libido. Zur föUigeu Beseitigung der 
hum( »sexuellen zwar noch rorbandenen, aber nicht mehr als lästiger 
Zwang empfundenen ^ieigung wäre seelische Zuneigung einer geeigneten 
weiblichen Persönlichkeit notwendig. Dazu bot sich noch keine Gelegen» 
heit. Patient ist erheblich gebessert, wird aber noch weiter behsndelL 

Fall III. Konträre Sexualempfindung. Anklag» 
wegen beisehlafsfthnlicher Handlung mit einem Dienst- 
kneeht. Gutachten des Verfassers nnd des Oberarzte» 
Dr. Pocke. Freie Willensbestimmung nicht ausge- 
schlossen. Freisprechung ans juristischen Grttnden. 

B. , Gelehrter in anpresehener Stellung, ist angeklagt wegen Ver- 
gehens gegen § 175 des li.-St.-ü.-B. 

Er wird bezichtigt, in zwei Nächten einen Dienstkueclit L. zu 
sich ins Bett genommen und mit seinem entblößten Geschlechtsteil 
zum Zwecke der Wollnsterregung Stoßbewegungen gegen den nackten 
Bauch desselben ausgeführt su haben. 

Zur Begutachtung der sexuellen penrersen Beanlagung des Be- 
schuldigtoi wird ein Gutachten von dem Verfasser eingeholt Das- 
selbe fuhrt im wesentlichen folgende Punkte aus: 

Der Angeklagte ist 28 Jahre alt. Vater starb im Alter von 68 
Jahren an Lebercirrhose, Mutter lebt, hochbetagt. Vatorsvaier starb 
am Mn^jeukrebs, Aluttersvater an Leberleideo , Großmnttor an dor 
Cholera. Mnttersbruder war Epileptiker und starb frühzeitig. Zwei 
Brüder des Vaters sind verschollen. B. ist einziges Kind, machte eine 
schwere Geburt durch, als die Mutter schon 40 Jahre alt war. 

B. war als Kind zart, litt an Rhachitis und Skrophuluse. Seit 
der Pubertät bind aber die Spuren dieser Erkrankung verschwunden, 



Digitized by Google 



1. Beitrig« sar foreosisolieii Bearteilung Ton ffitUidikeitsrergehen etc 47 

und es blieb oar eine allgemoino neuropnthische Disposi- 
tion bestehen. Körperlich präsentiert sich Patient als wohlgenährte 
kräftige Persünliclikeit mit Starkem Haar- xmd Bartwuchs, männlicher 
Stimme ohue nachwrishare krankhafte Sviuntoine objektiver Art. Seit 
mehrL'ren Jahren bestehen heftige Magenkiampfe, die aucli zur Veran- 
lassung wurden, liuÜ Patient vor Beendigung stiiier Dieustjahre vom 
Militär entlassen wurde. Zeitweise wurde B. förmlicher Morphiopbage, 
um die Sehmenen zu betäuben. 

In neuerer Zeit heftige AogstaniUle, namentlicb zur Nacbtseity 
Schla&tOrungen, Ohnmachtsanwandlungeo, hochgradige p^chische Reiz- 
barkeit, zunehmende Intoleranz gegen Alkohol (zeitwdae 
:i — 10 Liter Bier pro Tag konsumiert), Vomitus matutinus, Gesichta- 
haUozinationen (Alkoholismus incipieus). Auffallende Gedächtnis- 
schwäche, Hang zu unklarer Phantasterei (Spiritismus), Neigung zu. 
heftigen rfffektiv^^n Entäußerungen ^ nach Alkoholfjenuß (Gendarmeu- 
beleidigung durcii die Verhandlung erwiesen). Uberliaupt seheinen 
impulsive Handhingen mit momentaner Bewußtseinstrübung bei B. 
vorzukommen. kann er sich verschiedener Handlungen , deren 

Realität durch Zeugen erwiesen wurde, nicht mehr eriunern, so z. B. 
Einkauf von Cigarren, die er verschenkt haben soll, aufMeudes Be« 
nehmen währeud einer Eisenbahnfahrt etc. Er wird also zeitweise zum 
Spielball augenblicklicher Antriebe mit rUekachtsloser Entäußerung 
derselben. Für die psychiscshe defektive Veranlagung sprechen auch 
sonstige Symptome, so der Zwang zu zählen, das Greftthl der körper- 
licheu Schrumpfung u. a. 

Die Vita sexualis beginnt beim Angeschuldigten schon vor 
dem 10. Lebensjahr. Aus mutucUer Spielerei an den Geni- 
talien entsteht allmählich Wechsclonanie mit Alters- 
genossen, bei g 1 e i c h z e i t i g c r U m a r m u n g n tul K ü s s e n d e r - 
^;elben. Daneben entwickelt sich in ErmangeluDg jeweils anwesender 
Partner solitäre Onanie mit begleitendem Vorsteilungsinhalt männ- 
licher Personen. 2 Coitusversuche im 15. Lebensjahr endigten mit 
negativem Resultat und riefen nur eine Steigerung der abnormen Trieb- 
richtung hervor. Seit jener Zeit Horror feminae, Ekel vor hetero- 
sexueller Berührung. Als älterer Gymnasiast wurde er durch Literatur- 
studien über das Wesen seines Zustande« aufgeklärt und suchte nun 
im Bewußtsein seines angeblichen Rechtes männliche Bekanntschaften 
anzuknüpfen. Seit dieser Zeit vielfacher homosexueller ^'erkehr mit 
allen möglichen Personen in der Regel durch Wcchselonanie. B. fühlt 
sich in der Betätigung seiner abnormen Triebrichtung glücklich, bevor- 
zugt aber im sexuellen Rapport mänulich angelegte Personen, während 



Dlgitized by Google 



48 Bettriige cor for«nsi«eben Beurteilung tod SittlichkeittTergehen etc. 



ihn effpminierte Urninge abstoßen. Faule ilc uütux wird auch gegeu- 
wiii ti^' noch die solitäre Mu&iurbation getrieben, welcher er sich ohne 
Maß und Ziel hingibt. Die Libido sexualis wird bei ihm 
durch stärkeren AlkoholgennB beeiDtrftehtigt, wogegen 
hochgradige Streit- und Sanflust sich bemerkbar macht. 

Der Tatbestand des ihm sur Last gelegten Vergehens ist 
folgender: B. machte in einer Branerei Hünchens vor einiger Zeit die 
BekaoDtscbaft des Dienstknechtes L., traktierte denselben mit Bier 
nnd begleitete ihn einmal auf den Abort. Hier griff B., wie durch 
Zcn^< n eidlich orhirtet wnrde, nach dem entblößten Geschlechtsteil 
des h., bestritt aber sowohl in der Voruntersuchung wie in der Haupt* 
Verhandlung vor dem Landgerichte diese Tatsache nnf das Bestimmteste, 
wiirdr zu einrr (irldstrafe verurteilt und kann aich aucli heute nicht 
mehr eririncni. eiue derartige Handlung vorgenommen zu haben. Aller- 
dings stand B. an dem frasrüchen Abend unter dem Einfluß des in 
bcträchtlicheu (^uaiitiliiteu genossenen Alkohols, war also zitmlich an- 
getrunken. 

Er nahm nun weiterhin den L. sich in die Wohnung, unter* 
stutzte denselben durch Geldgeschenke und Lebensmittel und befrie- 
digte mit ihm mehrere Wochen hindurch seinen Geschlechtstrieb. 
Das ganse Verhalten und die Besprechnogen mit L. brachten den B. 

in den Verdacht, er habe auf den Dienstknecht einwirken wollen, und 
fidirtou schließlich zur Anklage der Verleitung zum Meioeidei sowie 

des Vergehens gegen § 175 des R.-St.-G.-B.s. 

Die A'erhandlung er^ab ahor ztir Hegründung dt ^< ersten Teiles 
der Anklage keine genügenden Anhaltspunkte. erfol^ne also Frei- 
sprechung. In Bezug auf das Sittlichkeitsdelikt wünschte lias Gericht 
gutachtliche Außerunnen über dir behauptete Amnesie des Augeklagten 
für den Vorfall auf dem Abort, sowie über seine konträre sexuelle 
Veranlagung zu hören. 

Zu Punkt 1 bemerkte Verfasser: Es ist ^hr wohl denkbar, daß 
durch den Anblick des fremden männlichen Gliedes auf dem Abort 
ein heftiger sexueller Antrieb in dem Angeklagten entstand, der ihn 
impulflir Toraniaßte, das Glied des L. zu ergreifen. Die defektive 
durch die erbliche Belastung, seioe ganz anormale sexuelle Entwick- 
lung, durch eine An/ahl wichtiger neuropatfaischer Symptome gekenn* 
zeichoete, sowie durch chronischen und momentanen Alkoholgenuß 
gesteigerte Anlage des Patienten bediiif^t auch eine Abschwächung, 
resp. Anfheb^infT ethischer Kdirektivr. \'oriiberc:ehende geistige 
Dämrner/.ustiiii'le oder transiiori^clie ( «eistrsstiirungen werden bei Psycho- 
pathen, namentlich bei Epileptikern beobachtet. Sich mit ab&oluter 



I. Beiträge zur forensischen Beurteilung von Sit tUcLkeitsv ergehen etc. 49 



Sicherheit fiber die dem Vorfall folgende Amneiie zu änßon ist un- 
mS^cfa; dagegen sprtdit das ganze Verhalten des B. in Verbindung 

mit seiner psych osexuellen Erkraiikong und den Tatumständen fiir 
das wirkliche Vorhandensein der nachträglichen Amnesie, also für eine 
transitorische. (birrh AlkohoJgennß hcrbeif^eführtc BewnRtsfiiistrübung. 

Die T^mkehruDjT der Geschlochtscniptinclmsg, wie sie bei B. durch 
vorstellende Darstellung geschildert ist, erscheint als krankhaft und 
darf nicht verwechselt werden mit monströsen Vcrirningen ^oistig ge- 
sunder Personen. Sie stellt eineTeilerscheiuuugdes ganzen 
degenerativen psy cliopathischen Zustandes dar, der den 
Patienten beherrscht. Die sittlichen und rechUicben GegenTomtellnngen 
gingen durch die Art seiner Geschlecbtsentwicklung verloren, resp. 
sie wurden überhaupt niebt gebildet. Überdies beherrscht die Icrank- 
hafte Vorstellnngsricbtnng das ganze Denken des Pa- 
tienten. Bei Bemessung der Zarechnnngsf&higkeit ist die abnorme 
Stärke des Triebes zu berücksichtigen; andererseits aber fällt der Bil- 
dungsgrad des Patienten ins Gewicht, die bei ihm vorhandene Er- 
kenntnis und wohlmotiviorte T'ntersclieidung flcr strafrechtlich ver- 
folgten und nicht verfol^^ten homoscxuollou Haudlungeo. In diesem 
8innp kann also von einer wirklichrii Ausschließung der Willeus- 
freihtit, resp. der absoluten Unmüglicukeit , die homosexuellen bei- 
schlafsähnlicheu Akte zu vermeiden, nicht die Kede sein. Ob nun die 
Ton ihm an dem L. ausgeführte Betätigung seiner sezaellen Antriebe 
zu der Kategorie der beischlafsfthnlichen Handlnng gehören oder nicht» 
das ist Sache juristischer Entscheidung. Das Gutachten kann also 
nur betonen, daß die sexuellen nicht als widernatürlich empfundenen 
und zum Teil im angetrunkenen Zustande ansgefilhrten ' Handlungen 
nicht einer sittliclien Verirrung, sondern einer krankhaften Beschaffen- 
heit seines Geschlechtslebens ihr Dasein verdanken. Diese pathologiselio 
Triebrichtung beherrscht den Patienten aber nicht so stark, daß 
die freie W i 11 e n s Ii e s t i nimii ti fr als ausgeschlossen t: ti er- 
achten wäre. I)aRt'f,'eu darf B. mit Hinblick auf seine konstitutio- 
nelle Psychopathie einer milden Beurteilung im weitgehenden 
Sinne emptohlen worden. 

Auch der andere (i u t a c h t e r , 0 b e r a r z t D r. u c k e , spricht 
sich in seiuem Gutachten ähnlich aus, auch er tiudet keine förmliche 
Geistentörnng, welche die freie Willensbestimmung ausscliließe, und 
empfiehlt den Angeklagten einer milden Anwendung des GesetzeSi 

Die Verteidigung madite geltend, daß B. seinen Geschlechts- 
trieb durch Manustupration des L. zu befriedigen pflegte, so auch bei 
Gelegenheit des vorliegenden Vergehens. Das erigierte Glied des fi. 

T. Schranok-KoUing, StodieD. ^ 



Digitized by Google 



60 !• Beitrage zur forenciiehen BeiurteUung tob SittliehkeiUrergehen ete. 

soll hit^ iHid da zufällig tlcii Körper dos mit ihm Erust an Brust im 
Bett liogcudcu L. borülirt haben. Auch die Zeugenaussage des L. 
spriclit ge^en ein fortgesetztes Stollen des Gliedes auf den Kiirper 
des Dieustknechtes. Vielmehr wird in dieser Aussage beinrrkt. dali 
die Berührungen in größeren Zwischenräumen erfolgten. Nach der 
Verteidigung liegt also weder eine beitefalaftartige, noch 
eine beisohlafsähnliohe Handlung im Sinne der reicbsgericbt- 
lichen Entsoheidang vor, sondern nur das znfölUge in Zwischenr&umen, 
wie sie beim Qeecblecbtsakt nicbt Torkommen, erfolgende AufstolSen 
des eiigierton Gliedes auf den Körper des L. Demuach sei die An- 
klage unbegründet. Der Gerichtshof schloß sich dieser Anschauung 
der Verteidigung an und sprach den Angeklagten frei. 

Fall IV. Wiederholte Exhibition an öffentlichen 
Orten. Z weim al i ire B r s t rafu n g. Im dritten Falle Sistie- 
rung d e r A n k 1 a g e i d f n ! " <> ;i r /. 1 1 i c h e n (x u t a c h t e u s. Kranken- 
geschickte. P a t h o n e s e der s e x u e 11 e u A u u m a 1 ie. K r t'o 1 g- 
reiche Suggestionsbehandlung durch den Verfasser. 

K., Gescb&ftsreisender, 47 Jahre alt, Eltern beide lebend. Mntter 
▼OB jeher sehr aufregt. Vateissohwester endete in einem An&Ue 
▼on Melancbolie durch Selbstmord. Eine andere gut sitnierte Vaters* 

Schwester soll einen Diebstahl begangen haben. Muttersvater war 
Sonderling. Eine Schwester des Patienten leidet an hysterischen An* 
(allen, ein Bruder starb an Tuberkulose. 

K. machte im 4. Lelieiis'i^lire den Tvphns durch. l)esnchte die 
Schule mit Auszeichnung, ueiiuinerte mit Ib Jahren t'in IjUTigenloiden, 
welches mehrere Monate andauerte, dann aber versciiwand. Im 
24. Lebensjahre Svphilis mit sekundären und tertiären Rrscheinungen, 
die bis zu seinem .30. Lebensjahre aiKlaüert<;n und wiederholt behandelt 
wurden. Mit 29 Jahren heiratete Patient; ein Kind starb mit fönf 
Jahren an Diphtherie, und zwei weitere Kinder entwickelten sich normal. 

Patient ist eine mittelmäßig ernährte schwächliche ErscheiDung. 
Pupillen eng. Träge Reaktion. Sehkraft rechts erheblich herabgesetzt. 
Sprache und Gehör gut Erblindung des rechten Auges infolge ron 
Syjiliilis. Klonische librilläre Zuckungen im Facialisf^elu^ t der linken 
Gesichtsh&lfte und Blinzeln der Augenmuskeln beiderseits; diese Er- 
scheinung verstärkt sich bei psychischen F'.rregungen. Der reclitc 
Mundwinkel steht tiefer als der linke. Rechte Nasolabiall'alte ver- 
strichen, (i'uitalieu normal. Links an der Corona glandis hartes 
Marbengewebe. 



Digiti^cü by Google 



I. Beitriige aur foremiachen Beurteilung von Sittlidtkeitarerg elien etc. 51 

Im übrigen klagt Patient über Ohrensausen, Mouches volantes, 
Schwiudül, ObstipatioueD. Gedächtnis und iutyllektuello Bei.uuguug 
gut K. ist ein in seinem Berufe tüchtiger, verlässiger Mann. Die 
deprimierten StimmimgeD hängen mit der noeh za erörternden sexu- 
ellen Anomalie des Exbibitiimierens zusammen. Seine ethischen 
and intellektnellen Vorstellungen sind wohl entwickelt, 
er hat streng moralische Grundsätze und ein satreffeades 
ürteil. Wie dem Verfasser die Frau des K. mündlich und schrift- 
lich bestätigt bat, ist K. ein zärtlich besorgter Gatte und 
Familienvater, der die Seinigen über alles liebt und seine Familien- 
pHichten nach jeder Richtung hin erfüllt. Um so stärker kontrastiert 
mit diesem Xfr Kalten die Tatsache, daß K. wiederholt au ötTentlichen 
Orten seine Geiiit ilM u cnliululUo uud ouauierte (zweimalige Bestrafung). 
Interessant s^iiid m dieser Beziehung die eigenen Mitteilungen des 
Patieiiteu über seinen Zustand. So sagt er in einem Briefe : 

„Zu meinem Übel habe ich selbst noch zu bemerken, daß ich nie- 
mals glaubte, je so weit kommen zu können, wie ich tatsSchlich ge- 
kommen bin! Ich bin seit 18 Jahren glücklich verheiratet, babo 
jetzt, nachdem mir metn Erstgeborener schon im Jahre 1886 durch 
den Tod entrisaen wurde, was mich heute noch tief schmerzt, wieder 
ein Tochterchen von sechs Jahren und ein Söhnchen von 2^j^ Jahren, 
an welchen ich mit ganzer Seele hänge 1! Es ist mir ein Eätsel, 
wie ich mich von Zeit zu Zeit so vergessen konnte, ich. der ich nichts 
mehr auf der Welt liebe, als meine Frau uud meine Kinderchen. 
Aber der Dämon tritt an mich heran, ohne dali ich es merke ! Werde 
ich dabei ertapj)!. so wird es mir erst in diesem Augenblick kiar, daß 
ich wieder etwas getan habe, was ich nicht hätte tun sollen; es fallt 
mir dann wie Schuppen von deu Augen, und es erfalii mich eine 
furchtbare Qual und Sorge um meine lieben Angehörigen, denen ich 
schon so fiel Kammer in dieser Hinsicht bereitet habe! Dies ist 
sicher: ich will nichts Derartiges tun, nehme es mir jeden Morgen 
fest vor und bitte den lieben Gott, mich davor zu schlitzen, und denn* 
noch kommt es hin und wieder vor, daß ich ganz anders handle, als 
es selbst mein aufrichtigster Wunsch wäre! Ich bin mir bewußt, 
welche Strafe, oder, wenn nicht mehr Strafe, daß mir die Ein- 
schließung in ein Irrenhaus bevorsteht, wenn ich wieder vor Gericht 
kommen sollte, und trotzdem mich dieser Gedanke tägüeh mit Angst 
und Schrecken ert'üllt und mir schon im voraus daln i fast das Herz 
brechen will, wenn ich daran denke, welches Herzeleid ich den Liehsten, 
die ich auf der Welt habe, welchen ich nur Freude bereitea möchte, 
veruiäuche, uud welche schauerliche Zeit mir selbst bevorstünde, mache 

4» 



^ j . -Li by Google 



52 !• Beiirige rar forenibdiea BeurteSong toh SUtliehkMteTwgelieD ete. 

ich hio und wieder solche Sachen, nicht nns Frivohiät, sondern in 
einer geheimnisvoUeu Anwandlunf^, die zu erkliireü ich mich vergeblich 
bemühe, der zu widerstehen ich aber nicht im stunde bin! 

Zu bemerken habe ich noch, daU ich seit Jahren ungemein nervüg 
bin; es reizt mich jede Kleinigkeit foxclitbar, so daß ich mich schon 
mit vielen Memichen verfeindete, und meine lieben Angehörigen tauk 
viel daranter zu leiden haben! Es tat mir dies nachher immer fnroht- 
bar leid, aber beherfschen kann ieh mich auch hierin nicht mehr« 

Dos BewoBtsein einer Krankheit, wie sie sieh durah die geschlecht- 
lichen Verirmngea m erkennen gibt, beugt mich schwer darnieder, 
und oft^ wenn ich monatelang geschäftlich von den lieben Heinen ge- 
trennt sein muR, erfaßt mich tiefe Schwermut darüber, warum gerade 
an mich, der ich von jeher nur am Guten und Fullen Freude halte, 
eine solche Sache kommen mußte! r3ie Aug8t, ich konnte wieder, 
gegen meinen Willen, einen solchen Streich machen und meine arme 
Familie dadurch ins Unglück stürzen, läßt mich nie mehr recht froh 
werden! Die Erinnerung an das Überstandene ist so furchtbar für 
mich, daß man schon deshalb meinen sollte, ich könnte nicht mehr in 
den alten Fehler Texfallen, und dennoch! Bs rinnen mir bei dem Ge- 
danken an meine Vergangenheit imd bei dem an meine und mdner 
lieben Frau nnd lieben Kiedeidi«! Ztikonft, wenn dies nicht aufhört, 
die Tränen über die Wangen! Ich hin nie leichtsinnig gewesen, war 
höchst ideal angelegt, habe bis ins Mannesalter fleißig gelernt, nm es 
zu etwas zu bringen, und ich hätte es zu etwas gebracht, wenn mich 
dieser fürchterliche Dran^ nicht erfaßt, und ich dadurch nicht immer 
wieder in den Abgrund gestürzt worden wäre!" 

Zur Pathogenese der ex hilitionis tischen Neigungen 
K.*s geben folgende Punkte Aufschluß: Schon vor dorn 10. Lebens- 
jahre war Patient Zeuge, als ein Knabe mit einem 12 jährigen Mädcheu 
einen Ooitusrersnch ausführte. Dasselbe HSdehen sachte anoh ihn in 
reriUbren. K. wurde geschlechtlieh erregt, widerstand aber der Wer* 
bung. Hierbei hatten aber beide Teile ihre Geschlechtsteile enthlöfit 
Von nun an interessierten den Jungen K. Spiele mit sezueUen Be* 
tastungen. So machte es ihm Freude, seine entblöfiten Ni^s gegen 
diejenigen von Mädchen zu drücken. Ein anderes von diesen in ihren 
sexuellen Erlebnissen schon Torgescbrittenen Kindern beliebtes Spiel 
bestand darin, daß die Mädchen in auffjehobenen Kleidern, die Knaben 
mit entblüBteu (ienitulieu abwechrieliul an einander vorbeizo;:en. Diese 
Vorgänge übten einen mächtigen Einfluß auf des Patienten X^hautasio 
und er/eugicu frühzeitig sexuelle Dränge. Ein anderes Spiel bestand 
darin, das Bespringen von Stuten durch Bewegungen nachzuahmen. 



Digiti^cü by Google 



I. BeitrHge snr foreamchett Beorteilubg tod Sittli«likeitaTei|^1ieii «ie. 53 

* 

Derartige Spiele wurden oft wiederholt, uud K. freute und errate, 
tieh an dem Anblick der GeDitalien und Situationen mit Bexaellem 

Charakter. 

Die Erinnerung an diese sexuellen Erlebnisse des frühen Kindos- 
alters blieb so fest in der ErinnpninL'' des Patienten haften, daß er 
heute tri)tz der inzwischen vertlossenen 38 Jahre sich aller Einzel- 
heiten ilerselben bewulit ist. Schon vor dem 14. Ijebensjahre versuchte 
er, einem Dienstmädchen unter die Röcke zu greifen ; diese ßetastimgs« 
veisache worden fortgesetst bei dem weiblichen Ladenpereonal, mit 
dem er zwischen dem 14. und 17. Lebensjahre bemflich in Berfthrung 
kam* Gleichzeitig begann er zu onanieren, und der Anblick sowie 
das Betasten Ton weibliehen Genitalien, spielten in den be- 
gleitendoi sexuellen YorBtellnngen die Hauptrulle. Der Ursprung 
dieser im späteren Leben so verhängnisvoll werdenden Vorstellungen 
ist also in dem mächtigen und nachhaltigen Eindrucke zu suchen, den 
die eigentümlichen Jugendspiele auf das ohnehin durch erbliche Be- 
lastunL»; flisj)i)Dierle Gehirn des K. ausübten. Der wirkliche Zusammen- 
hang ler (leschlechtsvrrhältüisse war dem Patienten damals noch un- 
bekannt, und die AufkÜlnin;» erfolgte orst mit 21 .Jahn-n. 

Als es ihm zum ersten Male gelang, weibliche Lüenitalien einer 
erwachsenen Person zu berühren, indem er unter den Eiickeu die be- 
haarten Teile ergriff, erschrak er und wußte sich diese Erfahrung 
nicht zu erklären. Im 19. Lebeosjahre folgte eine neue Bernhmngs- 
form. Er rieb an den Nates eines liUdchens sein Glied, bis Ijjakulatton 
erfolgte. Das war seine erste GesehleehtsbefriedigODg im Beisein einer, 
weiblichen Person. Erst als Elojährig-Freiwilliger kam er zur Aus- 
fUhrung des Coitus. Aber auch schon bei diesen normalen Erfahrungen 
des Sexuallebens erwies sich ihm das Betasten und Betracht! u d.T 
weiblichen Genitalien als eine Bedingung für die sexuelle Hrregung, 
woraus später sich eine Conditio sine <ina non für dir Ptitenz ent- 
wiLkelte. Ebenso — stellte er sich dauiaU vor — müsse das Weib 
erregt werden durch den Anblick seiner Genitalien. Berühniiig und 
Anblick von Genitalien begleiteten auch die Traumpolluiionen, und ia 
einer ganzen Anzshl ▼onElllen kam es unter Orgasmus zur Ejakulation 
schon bei dem Anblick von weiblichen Genitalien ohne onanistische 
Nachhilfe und ohne Biofuhruog des Gliedes in die Scheide. Ebenso 
trat mehrfach spontan Samenerguß ein, sobald Patient einem Weibe 
die Röcke aufhob oder ihn Genitalien betaste Diese in der Jugend 
angeknüpften Assoziationen mit pathologischem Inhalt, welche sich 
natürlich nur auf einem durch erbliche Belastung vorbereiteteo Boden 
entwickeln konnten, bekamen somit den Charakter von Zwangs- 



Digitized by Google 



54 Beitrüge zur forensischen BearteUung vou SittlichkeitsvergchcD etc. 



TorBtellnng« u und waren bereits unzertrennliche Begleiter seioer 
eexnellen Erlebnisse geworden. Auch Einzelheiteo der ursprünglichen 
Bilder beherrschten das sexuelle Vorstellungslebeo späterhin in einem 
beniprkpnswrrtfn (5rade. So führte Patient spinr Spezialität auch im 
ehelichen Sexualverkehr ein. Wenn et (iu seltenen Fällen) den Cnitiis 
im Bett entkleidet ausluhrte, erregt« es ihn geschlechtlich viel nn hr, 
seiner Frau unter die Röcke zu greifen, die Genitalien zu betasten, 
darauf die Frau hinzulegen uud sich die Genitalien anzusehen, als 
der natürliche Akt. Die Entblößung der Genitalien bei 
sonst bekleidetem Körper nnbm seine gansie Einbildao^cnft 
gefangen; schließlich interessierte ihn das Weib ak solches nicht mehr, 
nur ihre Genitalien. Damit kam ein fetischistischer Zug in seine Vita 
sezaalis. Die sexuelle Erregbarkeit, die ErektioiMf&bigkeit standen 
ganz im Banne des Anblickes von Genitalien. Im ehelichen Verkehr 
zeigte sich bald eine geschwächte Potens, wie aus den Briefen der 
Frau hervorgeht. Die Abnahme seiner sexuellen Leistungsfähigkeit 
schol) Paüent seinen .Tahren zu, in merkwürdi^rer V^rkennung der ihn 
immer mehr heherrscliendrn scxiiellm Zwan<^s/ustände. Auch darin 
war er den ErinniTniirrshildern aus seiner Jugendzeit treu, claU ihn 
Mädchen im Altt r von 10—17 Jahren besonders erregten. Die Idee 
der völligen rnkeuninis derselben iu sexueller Beziehung fachte seine 
Libido mächtig an. Und wenn er schließlich eine Art seelischer 
Defloration an nichts ahnenden Kindern durch Demonstration seiner 
Genitalien Tornehmen wollte, so ging er Ton der Annahme aus, daß 
andere Personen sexuell ähnlich reagieren würden, wie er selbst. Mach 
seiner Meinung mußte der Anblick seiner eigenen Gmitalien auf nn- 
schuldige, im Pubertätaalter befindliche Mädchen shokartig verblüffend 
und geschlechtlich ebenso erregend wirken, als auf ihn die Betrachtung 
weiblicher Genitalien, während ältere weihliche Personen mit sexueller 
Erfahrung dadnroh viel weniger oder garnieht aus dem Gleichgewicht 
ge!)racht worden könnten, Kine wpitore Stcijjcrunfj dieser Vorstellnngs- 
richtung faud durcli die i^eine sexuellen Träumereien beherrschende 
Einhilduncj Rtatt, dal) ein anständiges, sexuell unbenutztes, an den An- 
blick mänulicher Genitalien nicht gewöhntes Mädchen mitchtig erregt 
werden mUsse bdm Anseh«ii seines nackten Körpers. Daher die Be- 
fürchtung seiner F^an, ihr Maon werde sich eines Tages noch nackt 
auf der Straße zeigen. 

Der Kern dieses sexuellen Wahnsystems war und blieb 
immer der, sich seihst geschlechtliche Erregung und Befriedigung zu 
Terschaffen durch Erzeugung geschlechtlicher Gedanken 
und Dränge in unwissenden und unschuldigen Mädchen. Solche 



Dig'itized by Go 



1 Beitrige zur foretttiMfaeo Beurteilnng Ton SittlichkeitaTerge1i«B etc. 56 

Phantasieschwelgereieu eudigten zeitweise mit Masturbation. Die Lektüre 
der Enthüllungen der Fall Mall Gazette gab den letzten AnstoU zur 
praktischen Ausführung seiner sexuellen IMäue. Er exiubicrte also 
8 — 10 mal in der fi^gel an öffentlichen Orten Tor Kindeni. Drei 
dkaet F&Ue worden angezeigt und flihrten sn gerichtlichen Nach- 
spielen. Sein geschlechtliches Verhalten hierbei war ein ganz ver- 
schiedenes; der Akt der Eixbibition allein genügte in einigen Fällen, 
Samenerguß herronnrnfen, in anderen Fftlien trat Ejakulation sogleich 
bei (1er Berfihruiig mit dem kindlichen Körper ein. 

Der erste Fall . welcher Gegenstand einer Anklage wurde, 
q»ielte sich in folgender Weise ab: 

Ah Piitifüt eines Tngos in den örtVntlichen Anlagen einer größeren 
Stadt vier kleine, im .V'er von 12- — 15 .Jahren stehende Mädchen er- 
blickte, suchte er ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Unter 
dem Anschein des Urinierens entblößte er seine Genitalien in einer 
solchen Weise, dali die Kinder dieselben ansehen mußten. Dann 
lockte er durch Geberden die Mädchen zu sich heran und Tersprach 
ihnen ein Geldgeschenk, wenn eine von ihnen sein Glied bortthieu 
würde. Zur weiteren Ausführung der Handlung kam es nicht Denn 
auf Asamgß eines Spaxierg&Dgers wurde er fiberrascht und Ter- 
haftet. Das Resultat der Gerieb tST erb and Inng war % Jahr 
Gefängnis. 

Es verging nach Abbößung der Strafe kein Jahr, ohne daß Patient 
sieh von nenem zu verantworten hatte: Die^e^mal handelte es sich 
um PI!» .Mädchen im Alter von 13 Juhreii. welciies in dem Park einer 
grolicrcn Stadt Deutschlands Holz sunuuelte und auf diese Weise 
der Bank näher kam, auf der K. Platz genommen liatte. Wieder 
demonstrierte er dem Kinde zuerst sein entblößtem Ulied. Sobald das 
Kind sich seinen Wünscheu willig zeigte, hob er ihr die Kleider von 
hinten anf und bertthrte mit seinem erigierten Penis die Nates des- 
selben. Diese fierUhrung genügte, um Ejakulation eintreten zu lassen. 
Wiederum Anzeige, Verhaftung. Urteil: 1 Jahr GefSngnis. 

In dem 3. Fall ging Patient offenbar unter dem Einfluß starker 
geschlechtlicher Dränge in den Anlagen einer kleinen Stadt spazieren, 
hatte sein Glied bereits entblößt, aber den Überzieher derart darüber 
geschlagen , daß auf den ersten Anblick nichts Auffälliges an ihm 
wahrzunehmen war. Sobald ihm nun • itfige von derSchnlG heimkehreode 
Mädchen f Alter 1.^ — 16 Jahre) itcgegueteu . Hchlug er den Mantel 
zurück und demonstrierte ihnen seine Geschlechtsteile! 

Dieser zweite iiückfall gab erst den Behiirden \'eraiila.ssung, den 
Geisteszustand des K. durch ein gerichtsam Ilicheä Guiaehieu fest- 



Digitized by Google 



56 ^* Beitrlige rar foreniucheii Bearteilnng toa 8ittlielikeilsrei]g«hen etc. 

stellen zu lassen. Das Gutachten gibt einen kursorischen überhlick 
über die üeauDdheitsverhiiltuisse des Angeklagten, betuat das Impul- 
aive der dreimaligeQ Vergebungen, die Wiederholung derselb«! Hand- 
lang troti swdmaliger BestraüiDg und kommt zu dem SchlnB, daB 
K., eine degenertttire neuroapychopathische Natur, im Zustande des im- 
pulsiven Irreseins gehandelt habe. Demnach seien die Handlungen 
aufzufassen als das Resultat einer krankhaften Störung der 
Geiatestätigkeit, durch welche die freie Willensbe- 
stimmung aufgeboboti ei. 

Dieses Gutachten liattc die Einstellung des Verfahrens zur Folge. 

Die e X Iii 1) i t i o n i s t i s c h e n A ii f iil ! »■ traten beim Patienten episo- 
disch auf, ltp«on(l<'rs nach Zeiten längerer sexueller Abstinenz oder 
bei besonders lebhafter Anregung seines Geschlechtstriebes. Seine 
Potenz war in den letzten .fahren geschwäcbt, er verkehrte selten 
mit seiner i'rau, mitunter iiasko ioi ehelichen Verkehr infolge von 
mangelnder Brektion oder Zuhilfenabme exhibitionistischer Vorstellungen 
für firseugung von Brektionen. Indessen iÜblt er sich durch den 
ehelichen Sexoalrerkehr nicht befriedigt. Andererseits triigt er als 
Verheirateter moralische Bedenken Tor dem außerehelichen Gesohlechts- 
verkehr* Dazu kommt, daß sein Beruf ihn nötigt, oft monatelang auf 
Reisen za sein. Masturbation wird verabscheut 

Somit stehen die geschlechtlichen , zur Betätigung drängen- 
den, tief in seinem geistigen Leben wurzelnden Ideenverbiudungen 
den ethischen Vorstellungen der Familienpüicbteu gegenüber und 
fübreu zu heftigen seelischen Konflikten. Je mehr die K^^xtu'lleii Phan- 
tasieeu bei Tage unterdrückt werden, um so lebhafter kommen »io in 
den Träumen des Patienten, die allerdings nur selten von Pollu- 
tionen begleitet sind, zur Geltung. Trotz der oben erwähnten Be» 
denken suchte K. einige Male, um sidi Ruhe au verschaffen, Puellae 
publicae auf. In der Regel resultierte aber, wenn der Akt nach Über- 
windung des £kels mit Mühe gelungen war, eine um so stärkere An- 
regung der Libido, ein lebhafteres Aufbreten der eichibitioniBtUehen 
Phantasieen. Schließlich erfüllten die immer mächtiger sich auf- 
drängenden Bilder sein Bewußtsein derart, daß die Rücksicht auf 
die familiären und sozialen Pflichten, auf die augenblickllehe Um- 
gebung gänzlich unterdrückt wurde und während der .Anfälle ihren 
hemmenden Eintiuß viillig verlor. Die sexuellen Zwangsvorstellungen 
bekamen den (^harakter des Suggestiven und realisierttm sich durch 
die oben genannten Handlungen. Erst nachdem die Ejakulation einge- 
treten war, folgte die Erkenntnis der Tatumstäude und der augenblick- 
lichen Situation. 



Digitized by Google 



I. Beitrilge nir lorenaiselL«!! Beurteilung Ton Sittlichkeitsrergehen etc. 57 



In den Anfallen selbst bestoht weder Schwindel, iiorh Angst, und 
di' EritineruDg an die Einzelheiten der Tat ist nach Auslührung der 
sexutiieü Impulse im vollen ümfaiip;e vorbanden. 

Patient begab sich auf Veranliissuuj,' st'ints Hnusarztes in die 
Behandlung des \"ert'asst;rs und machte eiue zweimonatliche 
SaggesÜTkur darcfa. Die Suggestionen beasweokten eine Abeebwäcbuug 
der krankhaften VorBteltangsriehtung, sowie Stärkung des normalen 
Geechlechtelebens. Während der Daner der Behandlung keine ex- 
hibitionistische Anwandlung mehr, Rückkehr der Potenz im ehelidien 
Yerk^r. Patient konnte aus äußeren Gründen nicht länger als zwei 
Monate bleiben und wurde als erheblich gebessert eutlasseu mit dem 
Auftrage, für regelmäßige 13efriedigung seines Geschlechtstriebes zu 
sorgen und bei etwaigem Wiederauftreten der alten Zwaogsvorstellunp^en 
behufs suggestiver Be^f itigung derselben sich unTerzUglich von neuem 
in ärztliche Behandlung z« bej^ehen, 

Patient ist seit 9 Monaten eutls^sen und ließ nichts weiteres von 
sich hören. 

• 

Fall V. Fortgesetzte Exhibition an öffentlichen 
Orten. Anklage. P> eobachtunf» und Gutachten des Ver- 
fasscrii. A u s f ü h r I i e Ii I! Pathogenese der Störung des 
Sexuallebens. Onanie. Neurasthenie, in ii H i f»e r S c h wa eh - 
sinn. Freie W i II e u s bes tim m u u g nahezu ausgeschlossen. 
Auf Antrag des Verfassers Beobachtung durch einen 
Irrenarzt Gleichlautendes Gutachten des Oberarztes 
Dr. Focke. Freisprechung. 

Vorgeschichte und geschlechtliche Entwicklung des 

Angeklagten. 

Der Angeklagte Porträtmaler L., ist 31 Jahre alt, hat zwei ge- 
sunde» sexuell normale Geschwister. Vaters?ater starb an Schlag- 
anfidli Vatersbmder an einem Lungenleiden. Mutter lebend, leidet an 
Schwindelanföllen. Vater lebend, gesund. Zwei Sdiwestem des Ange* 
klagten sind magenleidend. £in Bruder nahm sich als Knabe das 
Leben, wie es scheint, aus krankhaftem Ehrgeiz. 

Im 7. Lebensjahre machte L. die Cholera durch und war sehr 
schwer krank, kam aber mit dem Leben davou. Sonst sind schwerere 
Erkrankungen in der Vorgeschichte des Pattenten nicht zu verzeichnen. 

Bis zum PI. Jahre besuchte L. die W erktagsschule, vom l'-i. bis 
17. Lebensjahre war er im Geschälte des Vaters tätig. £r liihltc 



Digitized by Gc) 



58 BeitrSf^e rar foreaiiscIieD Bcurteilaog ron SittliohkeitsvergeheD etc. 

sich aber wedt r auf der Schtilo. noch in der gewerblichen Tätigkeit 
befriedigt, sein Khrgeiz, .stiu \\ issi nsdursi, seine rege Phantasie drängten 
ihn in die künstlerische Laufbahn. Kr wurde Schauspieler und 
zog 2 Jahre lang mit einer wanderutieu Truppe von Ort zu Ort. Aber 
auch hier fand er nicht sein ideal erfüllt und kehrte von neuem in 
das Geschäft seines Täters zurück, um darin tätig zu sein, aber nur 
filr ein Jahr. Dann wurde L. Maler und übte nach Beendigung der 
Studien seine Kunst mit innerem und äußerem Erfolge nun etwa ein 
Jahrzehnt aus. In dieser Zeit seiner Tätigkeit ist es ihm gelangen, 
sich einen geacliteten Namen unter seinen Kollegen zu machen und 
sich auch in materieller Beziehung so weit sicher zu stellen, daü er 
vor 2 Jahren nn die ßej?riindiing eine?: Familienlehens denken konntet 
Seitdem lebt er in glücklicher, l»is jetzt kinderloser Ehe. 

Die Phantasie und Sinnlichkeit des Patienten scheinen in- 
folge erblicher Anlage vnn frühester Kindheit an abnorm er- 
regbar gewesei» zu bein. Ob schon vor dem 9. Lehensjahre bemerkens- 
werte Erlebnisse nach dieser Richtung vorgekommen sind, läßt sich 
nicht feststellen/ da Patient keine Erinnerung daran hat. Dagegen sah 
er im 9. oder 10. Lebensjahre einmal zu, als Mitschüler onanierten. 
Als unwissendes, unaufgeklärtes, neugieriges Kind machte er nadi, was 
die anderen ihm zeigten. Er erinnert sich, schon vor dieser Zeit ein- 
mal im Abort ans Neugier den Geschlechtsteil eines Spielgenossen sn- 
gegriffen und dadurch sexuelle .Erre;]:u hl: gehabt zu haben. 

In dieser Weise wurde er als ahnungsloses Kind auf die 
Onanie aufmerksam pcmacht und gab sich derselben mit allmählich 
immer mehr wachsender Leiib npchaft hin und ist auch heute noch — .ilso 
nunmehr seit etwa 20 Jahren — dies» m verbäii^rnisvollen Tri'be 
ergeben. Während dieser Zeit onanierte L. imnu r ni e h r ni a 1 s wöchent- 
lich, in der Regel aber täglich, und nutunier mebruialü läglieh. 

In einigen Fällen wurde sogar anstatt des Samens B 1 u t ejaku- 
liert. Der Blasenzwang, auf den ich später zu sprechen komme, sowie 
die äußere Gestaltung des Gliedes (anormale Größe des Penis) 
sind als Folgen der fortgesetzten starken genitalen Reizungen anzusehen. 

Im Alter Ton 13 Jahren wurde er über den Zweck und die Be* 
Ziehung der Geschlechter aufgeklärt. Seine ohnehin lebhafte, zur 
Ausschweifung neigende Phantasie begleitete von da au die 
Akte der Selbstbefriedigung mit allen möglichen Bildern sexueller Art. 
Immer aber standen weiblirli.' Personen . üppicre weibliche Formen 
und der Verkehr rnit Frauen im Mittelpunkt derselben. Auch im 
Traume tauchten die f,'leiclien Vorstelhmgen auf. b-^sleiteteu frelt'r,'ent- 
liche Pollutionen und führten schließlich zur krankhaften Uber« 



Digitized by Google 



L Beiträge zur forenrischen Beurteilung von SitttieIikeiiirerg«ikeD etc. 69 



treibung. Sclion damals zeigte sicli in diesen Bildern eine Vor- 
liebe für die Vorstellung:: männlicher nnd weiblicher 
Genitalien. Bis zum 21. Lebensjahre ersetzten ihm diese sdilieR- 
lich durch die jahrelange Gewöhnung automatisch auftretenden 
Vorstellun<2:sTprbindun£rpn die Wirklichkeit ^vpim auch ErinnoninjE^s- 
bilder bekannt er Persfinen mit verwendet wurdeu. Bei BfurteiluLf^ 
des sich hier alispieh'nden Prozesses ist 7.\\ berücksichtigen, daß ciue 
solche psychische Betätigung hei den lü a s t ur hu tori sehen Akten 
eine ungleich etärkere Anstrengung der Phantasie er- 
fordert, als diejenige beim normalen Gescblechtsiapport nnd seinen be- 
gleitenden SinnesempSndnngen sein kann, oder als diejenige ist, welche 
notwendig erscheint bei Herrormfnng von Brinnernngsvorstellungen 
wirklicher sexueller Erlebnisse. Also je weniger aus der wirklichen 
Erfahrung geschöpft wird, um so größer ist der Spielraum, für die 
Einbildungskraft, aber um so anstrengender und gef&hrlicher ist di^ 
Tätigkeit für das Individuum. 

Die Phautasieen des Patienten nun bezogen sich etwa lO.Tabre 
lang Icdiglicli auf die bildliche Vorstellung von weih lichen 
Formen und Gesehl echt steilem denn die vvirkiiche Er« 
fahrung des eigenen sexuellen Rapj)urts fehlte bis da hin. 

Dieser 10jährige Mißbrauch seiner Einbildungskraft in 
geschlechtlicher Beziehung ist dem Patienten fUr die Zukunft sehr 
nachteilig geworden; denn er konnte sich nie mehr ganz von diesen 
so SU sagen zwaagsartig infolge der Gewöhnung arbeitenden Aus- 
schweifungen seiner regen Phantasie freimachen. Überhaupt ist ja das 
im Wachstum begriffene Gehirn, und zwar besonders in der Zeit der 
Pubertiity sehr geneigt, starke Eindrücke aus dieser Zeit in der Er- 
innerung festzuhalten, so daß die Spuren davon im späteren Tjehetis- 
gange der TTuHviduen sich immer wieder zeigen und nicht verwischt 
werden können. der Bevorzugung des optischen, visuellen 

Teiles in der sexuellen Betätigung stimmt ja auch überein das 
malerische Talent des Tnkulpaten. 

Hiemach kann es nicht Wunder nehmen, daß der erst im 21. 
Lebensjahre unternommene Beischlaf des Angeklagten ihn sehr 
enttäuschte. Die Wirklichkeit, wie sie ihm bei der Prostituierten 
entgegentrat, konnte nicht in Eonkurrenz kommen mit seiner schön 
färbenden -ttbertreibenden und unendlich Tariierenden Phantasie. 

So waren fär ihn also die inneren Erlebnisse bei seinep onanisti- 
Bchen Orgien viel reizvoller, als die wirkliche Erfahrung mit dem 
weiblichen Geschlecht. Indessen machte er trotzdem mehrfach den 
Yersncb, zur Natur zurückzukehren und coitierte zwischen dem 



uiyiii^ed by Google 



60 X> Beitrüge sur foreosiichen BeurtoiloDg von SittlieUceitsvergdLen etc. 

2t I. UD(129. Lebensjahre et\v:i zehnmal, fand aber niemals 
j u ö Befriedigung, welche die ihm zur zweiten Natur 
gewordene Onanie ihm darbot. A'ielUicht ma^; auch als änßeres 
Moment der l'nistaud mitgewirkt haben, daß die masturbaturische 
BefriediguDg durch die Haud sein Glied au eiueo kräftigeren Reiz 
gewöhnte; wie er durch die Friktion an den weichen Sddeimhftnten 
der weiblichen Vagina ttherhanpt nicht oder nur mit Mtthe zu erzielen iat. 
Somit blieb Patient auch fernerhin infolge mangelnden Genuise« im 
normalen Verkehr seiner alten Leidenschaft treu. 

Im Alter von 24 Jahrea badete L. einmal in einem Badehaus 
bei Starnberg; zufälligerweise hatte die Zelle neben ihm eine Dame 
inne; er bemerkte nun, daß seine 2sachbarin durch ein Astloch sich 
seinen nackten KTirper betrachtete, und geriet durch diese Wahrneh- 
mung in einen solchen Grad gescbiechtücher Erregung, daß er sich 
nur mit sofortiger Onanie zu helfen wußte. 

Dieser \ i>rfall bietet zum erstenmal jene Momente, die für 
die Folge so verhängnisvoll werden tsollteü, nämlich den Anblick der 
eigenen Genitalien durch ein Weib, welches offenbar nach Ansicht des 
Patienten sich selbst damit geschlechtlich erregen wollte. Bei seiner 
Neigung, das Bildliche im Sexuellen zu bevorzugen, bot 
ihm dieses Ereignis neuen Stoff fttr die «lanistischen Träumereien. 
Er malte sich nunmehr lebhaft aus, daß der Anblick seiner Geni* 
talien auf Mcibliche Personen aufregend wirke. Diese 
Vorstellung rief Erektion herror und wurde zur Lieblingsidee beim 
Onanieren. 

Wie sehr er übrigens selVist sich für den Anblick der weiblichen 
Genitalien interessierte, geht daraus hervor. daI5 er VergnÜL'en daran 
fand, die (ieui talien Akt stehender Modelle genau zu be- 
trachten, daß er außerdem diese Teile lür sich allein wiederholt malte. 
Gelegentlich onanierte er auch iu Gegenwart von Modelleu oder ließ 
sich durch dieselben masturbieren, während er den normalen Verkehr 
möglichst vermied. 

Ein Jahr Tor seiner Verheiratung wohnte Patient einem End- 
lichen Tanz feste, bei und ging gelegentlich abseits zum XJrioieren. 
Der Torangegangene reichliche Alkoholgenuß mag in diesem Fall den 
Mut L.'s gesteigert haben; er benutzte diese Gelegenheit zum erstenmal, 
drehte sich rasch um, präsentierte den in der Nähe befindlichen 
Bauemmädchen seineGenitalien. Die Mädchen lachten und faßten 
den Vorfall als Spaß auf, w:Lhr<nd der Angeklagte hierbei in eine 
heftige geschlechtliche Krreguug (Onanie) kam. 

Die Vorstellung des Exhibitionierens wich nach diesen 



Digitized by Google 



L Beitrag« rar f<»renU9oh«n Beiirteilang Ton 8ittlidikeitsverg«lien «tc 61 

beulen Krle])iiisspn nicht mehr von ihm , sie beßleitote ihn bei der 
Oriai)ie, sie vt'rfol«te ihn in seine Triiunie. sie siaud im Mittelpunkt 
seiucs geschlechtlichen Fiihlens und bekam einen zwangsartijSfen 
Charakter. Die Onanie wurde schrankenloser und bäu6ger betrieben 

.als buhor. Der Drang, diese seinen individttellen Wünschen adä- 
quate Art geschlechtlidher Erregung, die ihm mehr Befriedigung bot, 
als die einfädle Onanie und der SexnalTerkehr, Ton neuem au pro- 
hieran, wurde immer lebhafter und mächtiger. SchUeßlich be* 
herrschte ihn das krankhafte Verlangen derart^ daß er, unfähig den 

• l^rieb su sttgelo, jede Bücksicht beiseite setzte; er exhi bitionierte 
von neuem, und zwar in Müuchen in der Annastraße. Den ganzen 
Vorfjnng ließ er — analog nach dem ersten Erlebnis — wieder wie 
zufällig sich abspielen, indem er scheinbnr nrinierend die Heran- 
kommenden beobachtete und sich plötzlich unidrehle. wenn das Opfer 
nahte. Kr wurde damals der Polizei angezeigt: man schlug aber, wie 
er angibt, die Sache nieder, und er entging der Strafe. Seitdem e.\- 
hibierte L. wiederholt, und zwar in der Jäegel gegen Abend in einer 
öffentlichen Anlage neben einer größeren Restanration, wohin Dienst- 
mädchen zum Bierholen gingen. Diese Vorfälle flihrten schließlich 

.zur Anklage des Patienten. 

Vor 2—3 Jahren erfolgte dann die Verehelichoog des Angeklagten. 
Aber auch der geregelte sexuelle Verkehr des Ehelebens 
konnte seiner krankhaften sexuellen Emptindungsweise nicht genügen; 
derselbe vermochte es nicht, der geschlechtlichen Zwangsvorstellung den 
Boden zu entziehen. Sein Versuch, die eigene Gattin für seine Spe- 
zialität (Masturbation ! zu gewinnen, mil^lang. l^nd so lebt L. heute in 
einer scheinbar glücklichen Elie; er koniiut seiuen ehelichen Pflichten 
regelmäßig nach. Währ<^nd also in dieser Weise seine Frau nichts 
entbehrt, gibt er sich int geheimen seiner alten Leidenschaft, der 
Onanie häufig bin und steht aadi während seioer Verheiratung noch 
in dem Bann seiner exhibitionistischen Gelüste, deren Betätigung, wie 
es scheint» allein im Stande ist, dem Patienten Tolle Befriedigung zu 
gewähren. 

Status praesens. 

L. ist blond, groß, gut genährt, besitzt normale äuHere Genitalien; 
sein Glied ist in erschlafl^tem Zustande ziemlich groß (infolge von 
Onanie). Vena dorsalis penis stark vorspringend i Varikosität». 

Störungen von selten der Respiration^- und Cirkulatiousapparate 
nicht nachweisbar. 



Digitlzed by Google 



()2 i. Beiträge zur forcusiscUen Beurteiluog voo Sittlichkcitsvergeheu otc 



Uobilit&t und SeoalbilitSt ahne Abwetohnngen. 

Degenerationtzeichen körperlicher Art fehlen. Sehldelbildnng 
normal. Prompte Beaktion der Papilleo. Dieselben nigen mittleie 
Weite. Konvergenz der Augenmnekdn normaL 

In dem Gebiete des KerTonsystems sind Störnngw »i be- 
merken, wie sie einerseits darch erbliche Anlage, andererseits io folge 

jahrelanger unuiäßig betriebcnier Onanie entstehen können. L. leidet 
an Stirn k o p fw eh, das anfallsweise wöchentlich etwa 1 — 2mal 
auftritt, bi'sonders im Anschluß an onanistische Praktiken. 
Ft^rner klagt er über P^rschcinungen von Schwindel, über 
mangelndes (^et'iihl des körperlichen Gleichgewichts, 
Ohnmachtsanwandlungon, Schwimmen vor den Augen, 
Kongestionen zu Kopf, über Angst- uüd Beklemuiuugs- 
zustände. Außerdem sind Symptome der Spinalirritation Xtt 
konstatieren in Form Ton Rfickenschmerzen besonders nach waem 
sexuellen Ezsessen. Patient zeigt eine leicht erregbare Herz* 
tätig k ei t H e rz klo p f e n bei geringen Anlässen (Tr^penitdgen etc.), 
Empfindung von Druck und Schmerzen in der Brust. Smu Schlaf 
ist unruhig, unterbrochen durch Pollutionen von abnormer Häufig- 
keit (mehrmals M<ichentlich neben den sexuellen Betätigungen). Hier- 
nach darf man wohl eine reizbare Schwäche des Lendenmarkes 
annehmen. Nach dem Erwachen des Morgens Gefühl der Ab- 
geschlagen he i t. Bei Aufregungen sowie infolge angestrengter 
Arbeit: Kopfdruck im Hinterkopf. Obwohl Patient täglich nicht 
mehr als 3 Grlas Bier trinkt, bestaht große Keizbarkoit des 
Blasenmuskels, vermutlich eine Folgeerscheinung der Onanie. 
Die Sinnesorgane zeigen keine Störung. 

Die bisher geschilderten Erscheinungen entsprechen dem Krank- 
heitsbilde der N e u r a s t h e n i e. 

Diese Annahme wird auch durch das psychische Verhalten des 
Patienten bestätigt. 

L. macht einen ängsthcben, aufgeregten und deprimierten 
Eindruck, wie es ja als natürliche Folge seiner jetzigen Situation 
zu erwarten ist. 

Eiue förmliche Geistesstörung ist weder im Vorleben des 
Patienten, noch im jetzigen Augenblick zu konstatieren. Ebensowenig 
hat eine äußere Schädigung des Gehirnes stattgefunden (durch 
Sturz oder dergl.). Bewußtseinstrübungen, welche keinen Zu- 
sammenhang mit dem Geschlechtsleben zeigen, ausgesprochene 
Symptome von Epilepsie, die ja infolge Ton exzessiTer Onanie 



Digitized by Google 



L Bcitrige snr foreiisi«chea Beortcilung von SittlichkeitirergdkeD ete. 63 

mitunter beobachtet wird, oder Zwangszustände anderen Charakters 
sind nicht nachweisbar. 

L. ist eine schwache, haltlose, leicht beeinflußbare 
l^atnr. Die fortgesetzte Onanie und die gesteigerte einseitige Kichtung 
de« Denkens auf sexuelle Dinge, sowie eine gewisse Widerstands- 
unfähigkeit des Xervensy Sterns auf erblicher Grandlage haben 
einerseits eine för den Fachmann nicht m Terkennende psychische 
SchnriUshe^ «ndereiseits eine abnorme Steigerang des gesohlecht' 
liehen Trieblebens zur Folge gehabt. 

Diese Schwäche zeigt sich in einem Mangel an Selbstver- 
trauen, in häufig auftretender Unfähigkeit zur beruflichen Arbeit, 
in leichter psychischer E r m ü d Ii a r k o i t , in einer {gewissen 
\' e r f 1 a c h u Ii g des Gedankenganges, in der Unfähigkeit ZU 
intensiver eindringlicher geistiger Beschäftigung. 

Femerbestehen deprimierte Stimmunge n (aiicli auOerhalb 
der Zeit des Aiiklagezustaudes), Weinerlichkeit, tSelbstniord- 
Ideen — aber Energielosigkeit, so daß es wohl kaum zur Aus- 
fOhrung derselben kommen dürfte. Außerdem sind eine erhöhte 
psychische Beixbarkeit wa konstatieren, sowie eine Ab- 
schwSchung des Gedächtnisses, Schon die Art, wie Patient 
selbst s^oe aenielle Empfindnngsweise beurteilt, seine Dniähigkeit^ 
mir das fär das Gutachten nötige Material selbständig an bieten, der 
Mangel an Initiative in seinen ureigensten Interessen, die kind- 
liche Form der für mich abgefaßten Autobiographie, ein 
gewisser Mangel im logischen Denken etc. etc.. das aber 
sind auch Zeichen, daß der Geisteszustand des Angeklnrrton nicht den- 
jenigen niiitli ren Ansprüchen genügt, die mau an einen 3ijährigcn 
Mann seintM- Stelhmg richten darf. 

Dagegen M das geschlechtliche Triebleben auf Kosten 
der sonstigen psychischen Funktionen durch erbliche Eeanlaguug und 
änflere Erlebnisse, die ihren Ursprung in der Ktnderzeit haben, ab- 
norm stark entwickelt, so stark, daß es fraglich erscheint, 
oh Patient noch aus eigener InitiatiTe die beim nor- 
malen Menschen vorhandenen Hemmnngsvorstellungen 
moralischen Inhaltes nachhaltig und erfolgreich /u be- 
tätigen im Stande ist. Aul^erdem aber erscheint seine sexuelle Em- 
pfindungsweise als pervers. Sein psy chosexueller Mechanis- 
mus ist im Laufe der Zeit mit Hüfe von äuRtTen T'mständen und 
durch Onauie füi- ^'nrstt'lhlngen und Haadhiugen krankhafter oder 
ganz läppischer Art, wie bie der E.vhibitionismus darstellt, an- 
spruchsfähig geworden. Vorstellungen und Handlungen dieser 



Digiti^cü by Google 



ti4 Beitrag« war forennsehen BeurteiliiDg Ton 8ittUdik«tfrergehen etc. 

Art nifen in dem Patieriten eine stärkere geschlechtliche Erregung 
hervor, und befriedigi'ii ihn uiehi, als der uoruiate geschlechtliche Ver* 
kelir. Selbst die Onanie bietet ihm ein wirkBameres l^fnedigungs- 
mitt«l, ala der beteroseznelle Rapport. Und in der Art der Aus* 
Übung dieser sexuellen Tätigkeit ist h» maßlos, er bat den 
Maßstab fftr das im eigenen Interesse Zweckmäßige Töllig Tsrloren, 
obwohl er sich der ungewöhnlichen Bicbtang seines Triebes nnd seiner 
sexuellen Hyperästhesie wohl bewußt ist. 

Die Rückwirkung auf sein Empfinden und Haodein, nuf sein 
ganzes geistiges Leben, seinen Charakter, konnte niclit luishlriben und 
führte srlilitBlich zur rücksichtslosen Entäußerung der ge- 
s ch 1 • c Ii t i i (' Ii eu Dränge, zu einer Realisierung der Vorstellungen 
seiner erhitzten Einhildungskraft, zu einer Verletzung des «Scham- und 
Austands<?efühles und zum völligen Cynisnius. 

In Züsauiuieutassuug der vorstehendeu Darlegungen erscheint der 
Angeklagt« als eine erblich belastete Persönlichkeit mit 
einer bis in die frühe Jugend snrOck au Terfolgenden abnorm 
starken Erregbarkeit des geschlechtlichen Trieblebens. 
Exzessive Masturbation seit fast SO Jahren schließlich 
mit zwangsartig auftretenden Vorstellnngen der Ex- 
hibition. Als Folge der erblichen Anlage und der Onanie Zeichen 
geistiger Schwäche und allgemeine Neurasthenie. 

Die Tatumstände. 

Was nun die deui Angeklas^ten zur Last gelegten Haiifllungen 
betriift, so kommen folgende Punkte in Betracht; J)ür wieilerholten 
sexuellen EntüuOerung in Form des Exhihitionierens ging in der Kegel 
eine lange anhaltende und mitunter Stunden dauernde geschlecht- 
liche Erregung voraus. Der Gedanke der Exhibition be< 
'scbäftigte als Zwangsvorstellung den Patienten so vollständig» daß er 
Erektionen bekam, die Stunden lang angedauert haben sollen. 
Versuche, dieselbeu zu unterdrQcken oder durch Ableitung der Auf- 
merksamkeit oder durch kaltes Wasser sie XU beseitigen, kurzum die 
Erregungen zu bekämpfen, mißlangen. Mit die^sen Erregungen 
waren rrg* Imiißig Kongestionen zu Kopf, Kopfschmerzen und 
besohleuii i '/t e M-zTzaktion verbunden. Dagegen bestand keine 
Aura, kein kSchwiudel, wie bei epileptischer ExlübitioD. Einmal 
ging auch mehrtägige sexuelle Abstinenz voraus. 

Die ganze krankhafte Entwicklung des Geschlechtslebens hat all- 
mählich auch einen tiefgreifenden Einfluß auf die Veränderung der 



^ j . -Li by Google 



I. Beiträge zur torensisciien Beurteilung von bittlichkeitsTcrgehen etc. (Jo 



etbisehen und intellektnellen Funktionen gehabt in der 
Weise, daß die hemmende Wirkung jener Faktoren in demselben 

Grade abgeschwächt wurde, in welebem die anormale Steigerung des 
exbibitionietischen Dranges immer mehr wuchs. Je öfter diese eigen- 
artige geschlechtliche Befriedigung gelang, um so stärker wurde das 
Streben, die Hnndhing zn wipderholen. Schließlich wurde das 
Bewußtsein gäuzlich durch den Gedanken der Ent- 
äußerung dieses Dranges erfüllt. Immer wieder suchte L. 
unter dem Einfluß seines perversen geschlechtlichen Dranges jene 
halbTerdunkelten Plätze auf, wo es ihiu einmal gelungen, sich zu be- 
friedigen. 

Für die erstmaligeAuswahl desPlatzes mag der Umstand 
bestimmend gewesen sein, daß gerade in jenen Wirtschaften weibliche 
Personen hftufig Yerkebren zum Zwecke des Bierbolens. 

Der Vorgang spielte sich — schließlich wie automatisch — immer 
in gleicher Weise ab, wie die erste. Eiihiintion vor den Bauffln- 
mädchen. L. nahm die Stellung ein, wie beim Urinieren. Wenn 
Männer passierten, blieb er ruhig stehen. Sobald aber 
weibliche Personen sich nSherten, drehte er deh um, demonstrierte 
sein erigiertes Glied und begann onanistische Manipulationen daran 
TOrsnnehmen. Durch Zurufe „da schau her, wie ich's kann'' etc. soll 
er ja er auch die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich ge- 
lenkt haben. Dann Icam es in der Regel an Ort und Stelle zum 
Samenerguß während oder nach der Prozedur der Exhibition. Un- 
mittelbar aber nach diesen unter Herzklopfen. Kongestinn 
und Beklemmung stattfindenden Entäußerungen des Ge- 
schlechtst ri e 1) es tritt ein Gefühl der Befreiung, der 
Erleichterung auf, wie das auch sonst beobachtet wird bei 
Handlungen, d ie aus organischer Nötigung stattfinden. 
Erst jetzt kommt Patient zu sich, wie ans einem Traum, erkennt das 
ganze Unwürdige seines Tuns in klarem Lichte; die Folge davon ist 
gemütliche Depression, moralischer Katzenjammer, der 
sich auch in Tränenergttssen geäußert haben soll. Das Kopfweh steigert 
sich in der Begeh dagegen beruhigt sich die vorher beschleu- 
nigte Herztätigkeit, und mit dem Gefühl tiefer Be- 
schämung begibt sich Patient heim. 

Aber trotz der lebhaftesten inneren Vorwürfe, trotz aller Willens- 
anstrengungen ist Patient nicht im stände, der nächsten Versuchung 
zu widerstehen, und sn wurde er ein trauriges Opfer seiner blinden, 
verhängnisvollen und krankhaften Leidenschaft; denn der Akt des 

Schrenok-Notsinst Stadiui. ^ 



Digitized by Google 



66 !• Beiträge sar forensbehen Beartrilaag voo Sittli«hkei(sTergeh«a «tc. 



Exfaibitionierens wurde ihm schließlich gleiclibedeutend mit sexuellem 
Kappnrt. also ein perverses Äquivalent des Geschlechts' 

geo usses. 

Das Gedächtnis des Aiii^eklagteu ist zwar im pauzeu geschwächt, 
aber derselbe eriDUtrt sich doch in der Kegel au die Einzelheiten 
seiner Handlungen, dagegen dürfte noch die große motorische 
Unruhe zu bemerken sein, die vor der Trieben täußernng den 
Patienten beherrscht und veraolafit, sweeklos hemmzngeheii. 

Die Tat selbst befreit ihn von dieser Unruhe und von dem 
Geftthl der Beklemmung. 

Die Z u r 0 c h Ii II u g a 1 it Iii g k c i t des Auge klagte u. 

Für den Standpunkt der vorhandenen Zurechnungs- 
fähigknit lassen sich foljjende Punkte geltend machen: Einmal das 
Fehlen einer ausgebildeten (Jristoskrankhf^it. fernpr die Absicht, zu 
exhibitionieren , die zur Auslührung nötige Auawahl geeigneter Orte, 
die Zurückliahung sregennher iiiannliclien Passanten, ferner die Ein- 
sicht iu das Unzulässige seines Tuns nach der Tat, sowie die nachträg- 
liche Erinnerung an die Einzelheiten der Handlungen. Endlich fällt 
noch sehr ins Gewicht die von jeher vernachlässigte Selbstdressnr in 
sexueller Beziehung. 

Größer aber erscheint die Zahl der Argumente, welche f&r 
eine erhebliche Beeinträchtigung der freien Wülenshesümmung 
sprechen. Dabei kommt folgendes in Betraclit: 

Wenn weiter kein Material zur Beurteilung des Falles vorhanden 
wäre, als die festgestellte T a t s a c h e d e r Ex h i b i t i o n . so müßte 
schon dir» lappische Art und Weise dieser Geschlcchtsbefätigung 
Zweifel erregen und die V^ermuttnig nahe legen, dali Imlividuen, welche 
in sexueller Demonstration öftentlich Belrieiligung timlen. et hisch und 
intellektuell geschädigt sind. d. h. an Schwachsinn lei- 
den, resp. 11 u temporärer Unfähigkeit klaren Denkens 
und freier Selbstbestimmung. Denn jeder einigermaßen ver* 
nünftige Mensch wird sich doch selbst sagen milisen, daß diese in der 
Öffentlichkeit vollzogenen Verletzungen der Sittlichkeit, namentlich bei 
häufiger Wiederholung und wechselnden Zuschauern nicht geheim blei> 
ben können, sondern unfehlbar vor den Bichter führen. 

Auch wird nach meiner Beobnchtnug an solchen Individuen durch 
Strafe nichts geändert. (Vergl. Fall IV.) 

In unserem speziellen Fall nun haben wir ein Individuum mit 
erblicher Belastung vor uns. 



I 



. kj .i^Lo uy Google 



I. Beitrage sur loreMisehen Beurteilung^ Toa SittUehkeitsvergehea etc; 67 

Dazu kommt ein zum Teil erworbener geistiger 
SchwUcbezu stand (excessive Onanie), eine mittelschwere 
Neurasthenie und «'ine anormMle Stärke dt-s Geschlechts- 
triebes. (Sexuelle Hyperästhesie und malilose Onanie.) Weiterhin 
erscheint bei Beurteilung der Zurechnungstähigkeit wichtig : Hie 
regelmäßige AViederkehr tler perversen Zwangs Vor- 
stellung des Ex hibitio liieren 3 (wiederholte Exhibitiou, Vor- 
stellung derselben beim Onanieren), das zwangsweise Auftreten 
•der perversen G-elUste trotz gleichzeitigen normalen ehe- 
lichen SeamalTerkehrs; trotz des glücklichen Familenlebens; femer die 
anormale Stärke des Dranges, welcher das Bewußtsein 
ganz erfllUte und keine Gegenvorstellnng anfkommen 
lies. Denn wenn L. cdch wohl noch über Ort und Zweck seiner Hand- 
inog orientieren konnte und auch in der Ausführung ( wie z. B. ein Schlaf- 
wandler) Rücksicht nahm auf äußere Umstünde, so hat er doch offen- 
bar w ii h r e n d d e r T a te n selbst nicht d a s k 1 ar e B e w u R t s c i n 
der s t r a f r e c h 1 1 i <• h e Ti und sittlichen Bedeutung d e r H. a n d - 
1 u n g e n gehabt, ihm fehlte also in jenen Augenblicken die Einsicht in 
die Strafbarkeit seines Tuns. Kr folgte den sexuellen Impulsen, und zwar 
um so leichter und rascher, je enger die pathologische Asso/iaiion des 
perversen Vorstellungskomplexes mit dem Geschlechtsgefühl durch die 
Gewohnheit zusammengewachsen war, nnd je öfter ihm die Aasführung 
dieser Demonstrationen gesehlechttiche Befriedigung gewährte. 

Ob nun eine wirkliche organische Kötiguog zur Exhibition vorlag, 
.das bestimmt zu beantworten, ist nicht moglieh. Daß aber körper- 
liche Vorgänge eine mitbestimmende Rolle gespielt 
haben, das zeigen folgende Umstände: Die andauernden körperliche 
sexuellen Erregungszustände vor den Taten (Erektionen), die Konges- 
tionen, der beglfitende Kopfschmerz, dif t riebart ipe motorische 
Unruhe vor der Handlung, ferner die B k 1 e ui ni u ii ^' e n , diu be- 
schleunigte Herzaktion, das Kopfweh, die Beklemmung wäh- 
rend der Tat, — das Gefühl der Befreiung, der veränderten Gemüts- 
stimmung (Reue) nach der Tat. Hiernach emplindut Patient selbst 
das Auftreten der exhibitionistischeu Dränge als läs- 
tigen Zwang. Daför spricht auch der Umstand, daß Patient seit 
der Zeit der Anklage immer noch heftig geplagt wird von seinen 
Zwangsantrieben, die er aber durch Onanie seitdem befriedigt hat. 

Deswegen geht auch die Meinung des GntaohteDs dahin, daß wenn 
Patient nicht durch eingreifende ärztliche Behandluniz ändert wird, 
er über kurz oder lang sich wegen desselben Reates wird zu verant- 
worten haben. 



Digitized by Google 



I. Beiträge zur furcnsischcn Beurteilung vod Sittiichiceitsvergehen etc. 



Zeichen wirkliclier eexueller Abstinenz sind in dem Vorlebeii des 
Patienten mcht oaebweislkar ; im übrigen kann ja aueb die Onanie 
als Symptom angeborener Geistesscbväche Torkommen (in Irren- 
anstalten bänfig). 

Zusammenfassendes Gntacbten. 

Sicher steht aber, daß der Angeklagte L. nicht mit Her Ab- 
sicht, eiu ütientiiches Arf^emis zu geben, sondern unter dem 
zwiugeuden Eiufluli eines pervers entwickelten Ge- 
schlecbtstriebes Ton abnormer Sürke die Ihm snr Last ge- 
legten Handinngen vorgenommen hat. Dieselben sind also lediglieh 
der Ansflnß seines krankhaften Oe'seblechtslebens. 

Außerdem war er durch die anormale Starke seines Triebes^ also 
durch einen krankhaften Vorgang, für dessen Krankhaftigkeit seine ge- 
schlechtliche Entwickhing I die Wiederholung derselben Handlungen 
spricht, während der Taten so gestört, daß ihm die volle klare 
(z. B. uacli der Tat vorhandene) Einsicht iu die sittliche Be- 
deutung seiner Handlungen abhamleii gekommen war. 
Die Triebrichtung des Patienten als solche muß als krank- 
haft erachtet werden, ebenso wie der zwaugsartige Charakter seiner 
Handlungen. 

Da nun das Gesetz nur eine völlige Ausschließung des freien 
Wülens, keine BeeintrI&cbtiguDg anerkennt, so ist bei Bemessung 
der Zureebnungsfähigkeit des Angeklagten der Grad der 
WUleoseinschränkoog, der psychischen Unfreiheit auf ca. 70 Pros, 
zu sch&tKen. 

Der ganxe Charakter derHandlungen und die Neben- 
nm stände sprechen mehr gegen die erforderliche Zurechnungsfähig* 
keit des Angeklagten, als dafür, und zwar etwa in dem Verhältnis von 
% zu "3. Sollten dagegen die hier geäußerten Zwei fp] an der Zu- 
rechniiugsiiihigkeit des Angeklagten nicht hinreichen zur Bildung eines 
definitiven Urteils . so sind dieselben doch lebhaft und stark genug, 
um die Beobaclituug des Angeklagten in einer Irreuaustalt unter Bei- 
fügung dieses Gutachtens zu beantragen. 

Auf Grund dieses Antrages wurde L. schon vor der Hauptver- 
handlung zur Beobachtung und üntersuchung in die Kreisirrenanstalt 
geschickt Der Oberarzt Dr. Focke schloß sich in der HauptTor^ 
handlung den Ausfahrungen des Ver&ssers in vollem Umfange an. 
L. wurde freigesprochen, Yom Richter angefordert, sich in ärzt- 
liche Behaudlung zu begeben, da im Wiederholungsfalle die Internierung 
in eine Irrenanstalt erfolgen werde. 



^ j . -Li by Google 



L Baitrig« zur forenauchen Beurteilang von SittUchkeittrergehen etc. 69 • 

Fall VI. LarviertepassiveAl^olagnie. Auffälliger 
intimer Verkehr mit dienstlich Uniergebeue n ohne un- 
sittlich« Handlangen. Auf Veranlaeanng der Tor- 
gesetzten Behörde: Beobachtung und Behandlung durch 
den VerfasBer. Gutachten desselben mit ansfflhrlicher 
DarsteUnng der sexuellen Störung. Hangelnde Selbst- 
erkenntnis. Beeinträchtigung der freien Willensbestim- 
mung. Günstige Prognose. Längere SuggestiTbehand- 
lung durch den Verfasser. Völlige Heilung, 

R., junger Beamter in verantwortlicher Stelhiug. wurde dem \'er- 
fasser zur Beobachtuog und Behandlung zugesendet, da auffälliges 
Benehmen desselben Zweifel an seinem geistigeu Zustande erregt hatte. 

Es wurde nämlich seitens der Vorgesetzten bemerkt, daß R. einen 
ganz ungebräuchlichen Verkehr mit einzelnen Untergeben en 
niederen Standes hatte; die auf Grund der Verdaehtsniomente euge- 
leitete Untenuehung ergab, daß irgend welche unsittliche Beaehaogen 
nicht TOrhanden gewesen waren, daß man aber eine ärztliche Unter- 
suchung itir notwendig erachtete. Die Amtsärzte , denen er zur Be- 
obachtung zugewiesen wurde, kouuten zu keiner klaren Erkenntnis 
seiDes Zustandes kommen. Das Wenige, was Patient selbst angab, 
war folgendes: Er fühle, zeitweilig einen unwiderstehlichen 
Drang, sich in die ganze Lebens- und Anschaunngs weise 
abhängiger Personen niederen Standes zu versetzen; er 
hatte einzelne der unter ihm stehenden Beamten tiefster Rangstufe 
zu sich auf sein Zimmer geladen, sie nach ihren Familien- und Tjebcns- 
verhältnissen ausgefragt, sie ersucht, nicht den Vorgesetzten in ihm zu 
erblicken ; schließlich ging er so weit, sich ihren schlechtesten Dienst* 
anzug bringen zu lassen, denselben anzuziehen und zu verlangen, daß 
jene ihn als Ihresgleichen behandeln sollten. 

Diese Vorfälle wiederholten sich mehrere Haie und waren unTer- 
einbar mit dem Torgeschriebenen BienstTorhältnia. Somit wurde B. 
auf unbestimmte Zeit behufs eingehender spezialär/.tlic her Unter- 
suchung und Behandlung beurlaubt; an den Verfasser erging 
gleichzeitig das Ansuchen um Abgabe eines Gutachtens über den Zu- 
stand des R. an die ihm vorgesetzte Behörde. 

Dasselbe lautet wie folgt • 

R.. 20 Jahr alt, stammt von gesundem Vater. Mutter leidet au einer 
chromachen iTeisteskrankheit. Ebenso war Muttersvater geisteskrank. Drei 
Kinder der Mutter starben an unbekannten Krankheiten, ein Vaters- 
bruder an Krebs. Ein Vetter des Patienten ist an Delirium tremens erkrankt. 



Digiii^ca by Google 



. 70 ^ Beitrage zur forensisdieD Beurteilung too SittUehkeitsrergehen etc. 

Patieiii macht körperlich im gauzeu eiueu gesunden aber 
zarten Eindruck. Die Benchtiguug der OenHalien ergibt eine 
leichte Phimosis, die bei erigiertem Gliede das ZurUcksiehen der Vor- 
baut nicbt ebne Schmerz ermöglicht und ioBofero als Hindernis flir 
den GescblechtsTerkebr anzusehen ist Die Möglichkeit einer Korrek- 
tur bei mehrfachen sexaellen Rapporten ]ä8t einen operativen Eingriff 
Torerst nicht erfordwlich erscheinen. 

Störungen von seilen der Bespirations-, Zirknlatious- und Ter- 
dauuDgsapparate , sowie des Nervensystems nicht vorhanden. Puls 
regelmäßig, von guter Spannung, 

Motilität, .St nsibilitiit. Reflexe normal. 

Die Erziehung de?; Knaben lag zum Teil in den Händen der 
Mutter: und wenn Ii. auch von Natur nicht mit hervorragenden Geisles- 
gaheu ausgestattet ist, so besitzt er doch alle EigenschafteUi um seinen 
Beruf ganz anszvflUlen. Allerdings tritt in seinem ganzen Auftreten 
undOebahren ein Streben auf das Äußerliche hervor; sein Denke« verrät 
einen oberftächlicben, flachen Zug. Außerdem macht B. einen nnselb- 
stSndigen Eindruck, was wohl auf die verziirtelnde Erziehung der Mutter 
zurückzuführen sein dürfte. Die erwähnten Eigenschaften liegen in nor« 
malen Grenzen, verdienen aber Erwähnung, weil sie einer gründlichen 
Selbsterkenntnis und richtigen Beurteilung seines Zustandes imWege stehen. 

Die ersten sexuellen Erregungen des Pntienten fallen in sein 10. 
oder 11. Lebensjahr zu derselben Zeit, in welcher R. die ersten 
Erektionen hei sich beobachtete, beschäftigte sich die Phantasie des 
Kiiiiheu lebhaft mit Indianer- und ^klavenge schichten. 
Das zeitliche Zusammenfallen der erwachenden, aber noch nicht ver- 
standenen sexuellen von lebhafter Lustbetonung begleiteten Dränge, die 
von den schwellenden Genitalien ausgingen, mit jenen das kindliche 
Geistesleben m&cbtig in Anspruch nehmenden Vorstellnngsznsammen- 
bSagen ist wohl als Ursache fttr die assoziative zunächst von einem ein- 
fachen Irrtum atisgehende Verknüpfung anzusehen, welche durch häufige 
He])rnduktion und infolge der starken QefÜhlsbetoimng eine solche 
ITestigkeit bekam, daß der eine Teil dieser Verbindung den anderen 
regelmäßig mit erzeugte. Als wesentliches Förderungsmittel für die 
Art dieser Oenese ist die erbliche Belastung dos Patienten anzusehen. 
Sie brachte eine gewisse Assoziatiousschwäche. eine intolge der ange- 
bon'neu Widerstaudsuufähigkeit abnorm starke Eeaktion des Nerveu- 
sjstems, eine mangelnde Kritik mit sich. Gerade bei erblich Belasteten 
spielt die Übertragung von aus korperlicheu Sexualvorgängen resul- 
tierenden lostbetonten Organemphndungen auf besonders lebhafte gleich- 
zeitige Siiineseindrücke als Ursprung fttr spätere Verirrungen des Ge^ 



Digrtized by Google 



X. Beitrage zur foreasischen Beurteilaugr ron SittUchkeitsvergehen otc« 71 



schlechtstriebea die größte Rolle. Gleichzeitige Objekt- und Körper- 
euiphnduDg werden in Beziehuug geset2t und führeD zu einer iobalt- 
lieben Störung der Urteilsassomadon. Dabei ist es Tielleicbt sogar 
möglich^ daß die Assosdationssohwäcbe sich nur auf besümmte T^e 
des psychischen Lebens bezieht in Abb&igigkeit von den snr Aus- 
lösung dieser Funktionen dienenden cerebralen Leitnngsbahnen und 
Centreo. Wenn solche einmal im Zusammenhang erlebte faJsdie Be- 
ziehungen nach Erfüllung ringender sexueller Impulse mit starker positiver 
Gefdhlsbetonung häufig, ohne daß eine Korrektur durch die richtigen 
WalirDphmnngon wie sie den tatsächlichen Objfktbezichungen in der 
Außenwelt eiits])rechen (d. h. inanfiels berichtigender Crteilsassoziationen) 
oder durch l^olehrun;; erfolf^t. reproduziert und auch durch gleiche 
Sinneseindrückf* derselbeu Art gefordert \fi'erden. so kann durch all- 
mähliche oi't Jahre andauernde Gewöhnung diese pathologische Assoziation 
zu einem Zwang werden, von welchem sich viele Neuropathen ans 
eigener ImtiaÜ?e nicht mehr frei zu machen vermögen, venu endlich 
die Aufklärung über die Beziehung der (Tcscblechter erfolgt. Es ist 
dann häufig zu spät, und in dem! nun entstehenden seelischen Kampfe 
behauptet sich jene krankhafte nunmehr der Korrektur durch fir- 
iabniDg widerstrebende Vorstellungsrichtung ; der normale Mensch ver- 
mag sich dann vielleicht noch herauszuarbeiten, da seine Reaktion 
auch in diesem Punkte keine gesteigerte, seine Fähigkeit zur Selbst- 
beherrschung und Hemmung einp ]>essere ist. 

In diesem Sinne ist es erklärlich, daß die Vorstellungen der 
Sklaverei, dt;r Abhängigkeit, welche aus der Lektüre ent- 
standen, bei R. eine sexuelle Bedeutung bekamen, und zwar 
ohne sein Wissen und Zutun. Auch seine Traumbilder betrafen solche 
Situationen der Sklaverei mit sexueller Tendenz und endigten schließ- 
lich mit Pollutionen. Er konnte sich schließlich das Beberrschtsein 
eines Hensdien durch einen anderen nicht mehr vorstellen^ ohne ge> 
sehlechtlieh erregt zu vrerden. Die wirklichen Sexual verhält* 
nisse waren ihm unbekannt, ebenso die Oname, der Patient sich 
niemals hingegeben hat. 

Erst mehrere Jahre später erfuhr er NiUieres Uber die Geschlechts* 
funktion. Inzwischen aber hatte sich seine rege Phantasie damit be- 
schäftigt, Variation in jene Bilder zu bringen. So kam er dazu, sich 
die Lage eines abhängigen Menschen seelisch auszumalen und sich 
vorzustellen. dalJ derselbe von einem anderen körperlich niilihandelt 
uüd gequält werde. Das Moment der Wchrlosigkeit gegen die zuge- 
fügten Akte körperlicher Züchtigung uud Schmerzerrogung stand 
immer wieder im Mittelpunkte seines sexuellen Fühl««. Dagegen 



72 L Beiträge zur foreusücheo Beurteilung von äittlicbkeitsvergelteQ etc. 



mUsseo sich die grauBamen Handlungen selbst in gewissen Orenxen 
halten; sie dflr&n nicht den Charakter loher Brutalität oder blut- 

dürstif^nr Grausamkeit annrlimcn und sind nur auf Scenen leichter 
ZüchtiguDg (Fußtritte» Ohrfeigen u. dergl.) beschränkt. Der Gegen* 
stand der Untorwerfung muß das Töllige Bewußtsein seiner Wehrlosig- 
keit und Abhängigkeit bekommen. Der Gedanke, es könnte der Ge- 
schliiJTene etwa vnrsnrlp'n, sich zur Wehr zu set/^n. ruft mächtige gc- 
sciileciitüclie Erregung hervor; immer aber muü eiae solche Sceue mit 
der völligen Niederlage des Gcschhigenen endigen. Für das geschlecht- 
liche Emptlüden des Patienteo ist es gleichgültig, ob Männer oder 
Frauen in aktiver oder passiver Holle an diesen Scenen beteiligt sind. 
Lediglich die Sache, die Situation der Schmerzerduldnng er> 
regt ihn; das Persönliche spielt dabei eine Nebenrolle. 

Bie abnorme Phantasierichtong bestiounto auch den Inhalt seiner 
Lektüre. Er bevorzagte daher Sohfldemngen Tdn körperliehen Strafen 
auf Scbi£fen, in Gefängnissen, Soldatenmißhaadlungen etc. und suchte 
schon als Knabe Gespräche von solchen Personen in niederer, ab- 
hängiger Stellung, wie von Pferdewärtern, Soldaten anzuhören; be- 
sonderen Reiz übte auf ihn das Dienslvprlifiltnis beim Militär. Trotz 
seiner Neigung zu diesem Berufe wurde er als untauglich zurückgewiesen. 

Obwohl Patient sich mit Vorliebe in die passive KuUe des 
G e m i Ii h a n d el te n hineinversetzte, wirkte doch die r>i8zi])liü des 
Internats, iu dem er erzogen wurde, da^s Verhältma /u M inen Lehrern, 



älteren Schülern etc. keineswegs anregend auf ^ine sexuelle Anomalie. 
Das Spiel der Phantasie unterscheidet sich also auch hier von der 
Wirklichkeit Ebenso haben' dramatische Sitoationen seelischer Quälerei, 
wie sie auf der Bühne su beobachten sind, irie überhaupt das nur 
seeHsche Atdiiogigkeitsferhältnis oder das Bewußtsein der Demütigung 
keinen geschlechtlichen Heiz. Immer ist der Gedanke der 
körperlichen Mißhandlung der Ausgangspunkt. Es bandelt 
sich also hier nicht etwa um symbolische Akte des Unterworfen- 
seins, der Demütigung, wie sie v. Krafft-Ebing nach dem 
Inhalt der NüvH'mi Sac h e r - Mas o <• h ' s und eigenen Beobachtungen 
als Masochismus beschrieben iiat, sondern um jene Anomalie des Ge- 
schlechtslebens, die vom Verfasser in seiaeni Werke: „Suggestions- 
therapie bei kraukhalten Erscheinungen des Geschlechtssinues" als 
„passive Algolagiiie" (von &Xyos ~ Schmerz und Acyyot; = geschlecht- 
lich erregt) bezeichnet ist 

Wenn schließlich auch die allgemeine Lage der Abhängigkdt 
von Personen und der bloße Gedanke der Wehrlosigkeit den Patienten 
beschäftigte, so ist und bleibt doch die Idee der Erduldvng körper- 




% 



y Google 



I. Beitrige sur forensisdien Beurteilung von Sittlidüteitorergekon etc. 73 



lieber Schmerzen der Ausgangspunkt; und wo bei Unterwerfungsakten 
der Hinweis auf die Erdulduug körperlicher Schmerzen lehlt, du bleibt 
anch die geschlechtliehe Erregung aus. 

Dieee eigenartige VorsteUungsricbtiing in sexueller Be- 
ciehung (d. h. inhaltliche Störung der UrteUsastoiiation) bebe rr Bebte 
bereits das GeseblecbtalebenR/s vollständig als erim 16.Leben8- 
zabre zweimal den Careacblecbtsakt anszufübren sncbte. Völliges 
Fiasko. £s kam nicht zur Erektion, und R. hielt sich seitdem f&r 
impotent Dagegen sind Ansätze zu einer heterosc^xuellen Betätigung 
bei ihm vorhanden. So liebte R. scbou als Knabe Mädchen mit dem 
Wunsch, sie zu küssen, und din Vorstellung, durch ein gebildetes, 
herrschsüchtiges, grausames, launeübattes Weih mit Anwendung physischer 
Gewalt unterworfen zu werden, wirkt auf iim gescblecbtlicb erregend. 

Nach dieser Darlegung werden die Handlungeu verständlich, die 
K. mit seinen Untergebenen vorgenommen hatte. Sie iiutten keinen 
anderen Zweck, als ein Stimulans für seine sexuelle Vorstel- 
luDgstätigkeit zu bilden. Sie sind regelmaBig TOn starken Erek- 
tionen begleitet gewesen. Zur Ejjaknlation kam es außer in Tr&umen 
mit gleicbem Voratellungsinbait bierbei nicht 

Ein unzweckmäßiges Leben (Nacbtscbwärmen), Intoleranz 
gegen Alkohol, trugen dazu bei, daß R. schließlich die Riidc- 
sichten auf seine Stellung vergaß und sich der Realierung seines sexuellen 
Wahnsystems ohne moralischen Widerstand hingab. So kam er dazu, 
sich ganz auf die nietlere Stufe seiner Untergebenen zu stellen, die- 
selben mit Du anzusprechen, ihre Dienstanzüi^e anzuziehen, und ihnen 
einen Rollenwecbsf»! vorzuschlagen, bei welchem R. den Untergebenen 
darstellen wollte. Diese Akte sind als pathologisrhes Äquivalent 
der normalen Geschlechiseneguug bei K. aulzufassen; sie 
sind rein sexueller Natur, wenn auch bis dato direkt unzüchtige Hand- 
lungen nicht Torkamen. Demnacb kann bei der Vergangenbeit B.'s 
und der ausfUbrlicb besobriebenen Patbogenese des Zustandes kein 
Zweifel obwalten, daß lediglicb die krankhafte Bicbtung des Gescblechts- 
lebens Vemnbissung wurde zur Vomabme der aufföUigen Handlungen, 
die für ihn dasselbe bedeuteten, vas der sexuelle Verkehr för einen 
normal fühlenden Jungen Manne darstellt. 

Durch die krankhafte Störung der Geistestätigkeit 
auf sexuellem Gebiete i^t die freie Willens bestimmung des 
Patienten nach der genannten Richtung hin beeinträchtigt. Denn 
die Zwangsvorstellungen der passiven ..Algolagnie" können bei 
ihm triebartige, impulsive Handlungen auslösen. Die erbliche Be- 
lastung uod seine gauze Entwickiung waren der Ausbildung von 



74 1* Beiträge cur forensischeD Beurteilung tob Stttlichkeitsrergehen etc. 

ethischen Hemmungs« und Gegenvorstellungen nicht 
förderlich. Denn seinen Lehrern und Erziehern, ebenso wie seinen 
VoTgcsetzten fehlte die erforderliche Einrieht in das Krankhafte seines 
Sexuallebens, ebenso wie Patient selbst über das Wesen seines Za- 
standes bis vor kurzem im Unklaren war. Eine Korrektur durch 
Belehrung oder Selbstkritik war also bis dato ausgeschlossen. 

Was nun die Prognose des in Frage stehenden psychosexuellen 
Leidens betrifft, so ist im allgemeioen zn bemerken: Wenn es gelingt, 
einerseits das geschlechtliche Vorstellungsleben des Patienten auf dem 
Wege psychischer und sufTpcstiTer Behandlung in die normalen Bahnen 
zu leiten und die KinwirkuDg (Innervationskrat't) jener pathologischen 
As.soziationnn auf die Sexualsphäre abzuschwiiciien oder zu vernichten, 
andererseits aber nach l.'berwindung der Irnputtnz dureli ein regel- 
mäßig betätigtes normales Geschlechtsleben die für das Alter li.'s 
SO bedeutungsvolle Gefahr der psychischen Beizung eines unbefriedigten 
Gleschlecbtstriebes zu beseitigen, so besteht keine Veranlassung, an der 
If^lichkeit TÖlUger Heilung zn zweifeln. In ähnlieben Fällen dieser 
Art ist die dauernde Befreiung von solchen zwangsartigen Antrieben 
mit perversem Vorstellungsinhalt häufig genug gelungen, so daß die 
Behandelten ohne weitere Störung ihre beruflichen Obliegenheiten 
wieder aufnehmen konnten und auch weiterhin von KttckiaUen Ter- 
schont blieben. 

Es spricht also nichts gegen die Möglichkeit einer Heilung 
des Herrn ii. Denn angeboren i^t ihm nur eine gewisse Schwäche 
und Widerstandfinnfähigkeit seines Nervensystems: dagegen ist der per- 
verse Inhalt seiner geschlechtlichen Gedanken durch eine unglückliche 
Verkettung äußerer Umstände erworben, also korrigibel ! 

Zudem kommen das jugendliche Alter des Patienten und seine 
sonstige Gesundheit als günstige Momente in Betracht. Nach der 
Meinung des Verfassers ist R. jedenfalls so weit wieder herzustellen, 
daß er seinen Bemfspflichten nachgehen kann, ohne von neuem Kon- 
flikte befürchten zu müssen wie die beschriebenen. 

Was die Zeitdauer der Behandlung betrifft, so wird R. frühestens 
in einem halben, spätestens in einem ganzen Jahr seinen Beruf wieder 
aufnehmen können. 

Die H' h andlung des Patienten nmfnRte zunächst 65 hypno- 
tische Sitzungen in vier Mon-it^ti. hierauf nach einer fünfmonatlichen 
Pause noch weitere 47 Sit^unf^eu m zwt i Monaten. R. wurde somno- 
lent, erwies sich anfangs ziemlich refraktär gtgen Suggestionen rich- 
tiger Selbsterkenntnis, kam aber aUmählich auf den Weg normaler 
ScxualbetätiguDg. Erst nach 23 hypnotischen Sitzuogen und mehr- 



Digiti^cü by Google 



I. Beitrüge cur forenrisclieii Beurteilang tod 8ittlichkeit«Terge1ien etc. 7& 

maligem Fiasko gelang der Coitii8 zum erstenmal völlig und wurde 
dann regf^hnalJig wiederholt. Trotz ausführlicher und gründh'cher Be- 
lehrung über die Präventivraaßregeln gegenüber der Iiifektiousgefahr 
befolgte B, diese VonchriffceD nicht und zog sidi eine GonoTrhoe zu, 
die nach einer aechswöchenilichen Behandlung zur H^lung kam. Er 
setzte dann den Sexnalverkehr fort» knftpfte schließlich aus wirklicher 
Neigung mit einer bertthmteu Soubrette ein YerhSltnis an und erwies 
sich bei dieser Gelegenheit^ wie audh bei vielen anderen, als TÖllig 
potent. "Wie er selbst sagt, hatte er im sexuellen Verkehr mit j«ier 
Dame einen Genuß, der unvergleiclilich und größer war. ah alles, was 
er bisher mit Hülfe meiner krankhaften Phantasietätigkeit euijjfunden 
hatte. Er verkehrte sogar in einer Nacht mehrmals mit jener, ohne 
irgendwie einen Nachteil davon zu spiirpn. Größere Reisen nach 
London und Paris Ijoteii ihm reichliche Gelegenheit, seiue Potenz V04 
neuem zu erproben. Er blieb jetzt immer Herr der Situation (stets 
spontane Erektion und inteDsives Wollustgefühl bei der Ejakulation) 
und wurde seitdem nicht mehr dureh die frfihere Zwangs- 
vorstellung bel&stigt, weder beim Akte selbst, noch sonst. 
Dieselben scheinen Tiebnehr ihren sch&dlichen Einfluß auf das 
Sexualleben des Patienten verloren zu haben und nur noch der Er- 
innerung an eine vergangene Leben^eriode anzugehören. 

Seit Entlassung ist ein Jahr veigangen. Patient blieb, wie er mir 
brieflich mitteilt, völlig geheilt und dürfte auch in Zukunft vor 
Bfickfallen gesichert sein. 



Digitized by Google 



n. 



Sie Frage nach der yemiiiiderteii Zureclimmga- 
ffihigkeit, ihre EntwieUung, ihr ^e^enwfirtiger 
Staii<U>uukt iiud eigene Bcobachtuiigeu. ') 



1. 

Die Verhandlungen des Vereine deutscher Irrenärzte über 
„verminderte ZurecbnungsfUilgkiif *. 

N.nch der in den Kulturländern herrschenden Rechtsanschauung, 
welche als eine Folge der be;^sereu Erkennmis geistiijer Störnnq^en und 
der dadurch Hedinf^ten gewaltigen Keforni in der Irrenbeiiandluug 
eintTsrits, einer humaneren Auftassung des Verbrechens und der Strafe 
andererseits anzusehen ist, bleiben Rechtsverlctzungm. welche unter 
dem KinfloB von Geisteskrankheiten begangen werden, sirafloä. Der 
fttr solche Fälle psjchialrischer Begutachtung in foro maßgebrade 
§51 das Denttchen Beichsstrafgesetzbiuslies lautet: 

„Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn 
der Täter sur Zeit der Begehung der Handlung sich in 
einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter 
Störung der G*istestätigkeit befand, durch welchen 
seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war." 

Das Gesetz berücksichtigt also bei Beurteilung einer strafbaren 
Handlung nur zwi i Möglichkeiten: die ..Zurechnungsfähigkeit" und 
die ..Unznrecuiiuugsrahigkeit". ..Diese G egenüberstell uiij^ putspricht 
aber keineswegs den tatsächlichen Verhältnissen, da es /:,wischen der 
Breite der Gesundheit und ausgesprochener Geisteskrankheit eine 

1) Pabliziert im ArduT fär Kriioinalaiithropologie. Bd. VUI Heft 1. 



Digitized by Goc^^^le 



IL Die Frage uach der Tenniaderten Zareehnungsfähigkeit etc. 



77 



große Reihe von Ubergaogszuständen gibt, so daß eine scharfe Grenze 
iwiacben geistiger Gesandheit und Bjrankheit oft schwer zu ziehen ist** 
(Gramer.) 

Theoretisfli muß sich also die Zureclinuugslahigkeit, d. h. der 
Ornrl der Schuld in dem Verhältnis mindern, in welchem die Geistes- 
krauklieit wächst. 

Jenen Zwischenstufen geistiger Gesundheit und Krankheit, für 
welche eine „verminderte Zurechnuugsfähigkeit" angenommen werden 
müßte» ist DUO sowohl in den früheren deutschen Landesgesetzgebungen 
wie auch in den Strafgesetsbfichem anderer Länder (8ehweiZ| Öster- 
reich, Frankreich, Italien) Rechnung getragen, dagegen wurde schon 
in dem Entwurf zum Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund 
(1868) ein diesbezüglicher Antrag Ton dem Bundesrat verworfen; 
daher fehlen auch solche Bestimnrangen in dem an den Deutschen 
Reichstag gelangten Entwurf. 

Nachdem nun während der letzten Jahrzehnte infolge der großen 
Fortschritte auf dem Gehiote der Kriminalj)sychohicfie der Eintiuß 
ärztlicher Sachverständiger auf die Rechtsprechung in irnn/ erheblicher 
Weise zugenommen hat, ist es immer deutlicher geworden, daß es 
eine absolute Grenze der strafrechtlichen Znrechnungsfahigkeit, wie sie 
§ 61 yerlangt, nicht geben kann, daß also das praktische Bedürfnis 
Bestimmungen Uber geminderte strafrechtliche ZurechnungtfiUugkeit 
Terlangt. 

Das Verdienst, diese wichtige Frage von neuem angeregt und 
damit eine mfichtige Bewegung ins Leben gerufen zn habeui welche 
seitdem nur gewachsen ist, hat sich Prof. JoUy (damals in Straßburg) 
erworben durch seinen am 10. September 1887 vor dem Verein 
Deutsclier Irrenärzte in Frankfurt gehaltenen Vortrag „Über ver- 
minderte Zurechnuugsfähigkeit". 

Nach der Auffassung Jolly's bedeutet die Ersetzung des Aus- 
drucks „Zurcclmungsfahif^keit"* durch ..freie WilU'Mshcstimmung* in 
vi 51 einen entschiedenen Rückschritt, da hierdurch die Anualime einer 
Zwischenstufe der Zurechnungsiabigkeit ausgeschlossen erscheint. 
Allerdings soll der SachYerstandige sich gegebenenfalU nicht nur über 
das Vorhandensein yon Gesundheit oder Krankheit, sondern auch Uber 
das Vorhandensein freier Willensbestimmung auslassen, wenn auch von 
gerichtlicher Seite zu einer so weitgehenden Begutachtung ein Zwang 
auf den Sachverständigen nicht ausgeübt werden kann. Besonders ist 
aber der Umstand hervorzuheben, daß nicht die einfache Feststellung 
irgend eines beliebigen Grades geistiger Störung für die Anwendung 
des § 51 genügt» sondern daß eine gewisse Erheblichkeit, ein 



Digitized by Google 



78 H. Di« Frmg« naeh der verniindertoii ZuredwungifiLhiKkett etc. 



gewisser L!r;ul vüd K ran k h p i t e r f o r d e r 1 i cli ist. Im Gegen- 
satz hierzu bestimmt das frauzösische Stralgesetz den Ausschlul} der 
Strafbiirkeit auf Grund nachgewiesener Störung der Geistestätigkeit 
ohne weitere Bezeichnung des Grades. 

Als wichtigen Einwand gegen Bestimmungen Über Terminderte 
Zureehniingsfähigkeit hat man die Möglichkeit hervorgehoben, daß sie 
als bequemes Anskunftsmittel io F&Uen sweifelhafter Diagnose benutit 
werden könnte. Indessen wird noh, wie Jolly mit Recht sagt, weder 
die ärztliche Diagnostik noch die Rechtspflege jemals von menschlichen 
Unvollkommenheiten ganz frei machen können. Nach der Erfahrung 
derjenigen Staaten, in welchen früher Bestimmungen über yerminderte 
ZurcchnungsPähigkeit bestanden, wird die durch g 51 hervorgebrachte 
Änderung des Gesetzes als Rückschritt empfunden. 

Nun findet allerdings die geminderte Zurechnmip^sfäliigkeit nach 
der gegf^nwärtigec. Rechtspraxis insofern eine Berucl.-^n hi i<?ung, als 
durch Annahme mildernder Umstände eine entsprechende ötralinilderung 
stattfinden kann. Aber auch dieser Ausweg erscheint unzureichend. 
Denn das Deutsche Strafgesetxbuch enthält .eine ganze Beihe strafbarer 
Handlungen, bei denen die Annahme mildetiider Umstände fehlte also 
unzulässig ist Unter S39 Verbrechen und Vergehen gibt es €2 mit 
der Zulassigkeit mildernder Umstände, bd 177, also drei Viertel der 
Fälle, ist deren Annahme ausgeschlossen. Im allgemeinen handelt es 
sich bei der letzten Kategorie um Vergehuogeo, für deren BfBstrafung 
dem Richter ein großer Spielraum gegeben ist in der Strafzumessung 
(von 1 Tag Gefängnis anj. Allerdings fehlen nun auch mildernde 
Umstünde bei einer Anzahl schwerster Verbrechen, Mord, Totschlag, 
Brandstiftung und gewissen Sittlichkeits verbrechen. Entgegen anderen 
Anschauungen kann Jolly in der Annahme mihlernder Umstände 
keinen hiureicheudtn Ersatz erblicken Im die Bestimmungen über ver- 
minderte Zurechuungsfähigkeit. Nach seiner Auffassung (entgegen 
z. B. derjenigen Mendors) sollen die mildernden Umstände über- 
haupt nidit die Bedeutung haben, eine bestimmte 6eistesbescha£Fenheit 
des Täters allgemein als Strafmildeningsgrnnd zur Geltung zu bringen, 
.sondern sich nur bemessen nach den bei den einzelnen strafbaren 
Handlungen in Betracht kommenden Umständen. 

Aus diesen hier kurz wiedergegebenen Darlegungen zieht Jolly 
den Schluß, daß die Bestimmungen über mildernde Umstände, welche 
das Deutsche Strafgesetzbuch enthält , nicht ausreichend sind . dem 
praktischen Bedürfnis zu entsprechen, und daß das letztere Be- 
stimnuiugeu über geminderte Zurechuungsluhigkeit verlange. 

Die Versammlung stimmte den Ausführungen Jolly 's in der 



Digitized by Google 



IL Die Frage nach der Tenninderten ZoredmuDgiKbigkeit etc. 



79 



Hauptsache zu und set2to 7mt Weitrirrrfolixung dieser Augelegenheit 
eine Kommission ein, deren Kderonten die Professoreo Mendel (Berlin) 
und (jrashev i München i waren. 

Im foigeoden .lahre 1888 erstaltete Mendel bei der JüUressitzuug 
des Vereins deutscher Irrenärzte in Bonn seinen Bericht , dessen 
wesentlicher Inhalt folgende Punkte umfaßt: 

Referent steht, wie er in seiner Bespreobnng der ,,Ziirechnnnga* 
fölugkeit" in „Eulenbnrg's Realencyclopädie" (1890. Bd. XXI, 
8* 539) dargetan bat auf dem prinzipiellen Standpunkt, daß ^Zn* 
rechnangsfähigkeit" ein jniistiseher, speziell kriminalrechtlicher Begriff 
ist. Deswegen gehört es überhaupt gar nicht in die Kompetenz des 
gerichtlichen Arztes, über Zurechnungsfähigkeit oder Unzurechnungs- 
fähigkeit zu entscheiden. Sache des Arztes ist es lediglich, das Vor- 
liRndensein oder Nichtvorhandensein derjenigen Requisite fest/ustellea, 
welche die (lesetzgebung al'^ RHordernis des § 51 betrachtet. Hier- 
nach wäre es lediglich die Aulf^abe des Sachverständigen, die Frage 
zu b»*autworten, ob der Angeschuldigte zur Zeit der Begehung der 
Handlung gaistesgesund oder geisteskrank war. Aus den verschiedenen 
Auffassungen der Experten über den § Sl schließt Mendel, daß 
eben niemand recht wisse, was er mit der ^freien Willensbestimmung** 
anfangen solle, daß also jeder sie nach Gutdünken inteipretiere. 

Das Mittelding der verminderte Zurechnungsföhigkeit könnte nur 
dazu dienen, die Verantwortlichkeit des Arztes zu mindern oder aber 
auch seine Unkenntnis zu Terbergen. Mendel zieht es vor, in zweifel- 
haften Fällen „non liquet" zu erklären, und das Weitere dem Bichter 
zu überlassen. 

Im (JeL'eiisat/e zur Behauptung Jolly's stellt Mendel an der 
Hand des i^ueiieDmaterials fest, daß dii niihienulen rmstände be- 
stimmt seien, die geminderte Zurechnungstähigkeit zu ersetzen. Ferner 
weist Kefereut auf den Iböl vorgelegten Gesetzentwurf über die Be- 
strafung der Trunkenheit hin, aus dessen Beratung die Abneigung der 
Majorität des Reichstages berrorgehe, eine Änderung des Strafgesetzes 
im Sinne dieser Darlegung anzunehmen. In den Motiven zu jenem 
Gesetzentwurf heißt es: „Vielfach sind nun Klagen darüber laut ge* 
worden, daß einzelne Arzte sich nur zu geneigt zeigen, Zweifel anzu- 
regen und zu begründen. Teilweise beruhen solche Gutachten auf 
übertriebenen Vorstellungen Uber die in Humanität und Gesittung er- . 
zielten Fortschritte." 

^fendel verlaugt auf Ontnd dieser Bedenken, daß die Antrag- 
steller konkrete Fälle auiühren sollten, in denen das Gesetz schädlich 
gewirkt habe. Seiner Auffassung nach hätten in Fällen verminderter 



Digitized by Google 



80 



IL Die Frage nach der Tenninderten Zurcdmongsfilhigkeit et«. 



Zurochnuiij^'^fähigkeit mildernde Umstände eine viel {rriiliere Bedeutung 
durch eine mildere SlratVollstreckuog, als durch eine größere oder 
geringere Alikürzung der Strafzeit Mendel faßt sein Referat in 
folgenden Sätzen zusammeu : 

„Scharfe Grenzen zwischen geistiger Gesandheit und Geistes- 
krankheit bestehen nicht. Das Strafgesetz hat auf diejenigen Täter 
einer strafbaren Handlung, vekshe sich anf diesem Grenxgebtet be- 
finden, billige Blicksicht su nehmen. Tatsächlich ist dies in dem jetzt 
bestshenden Bechte nicht geschehen. Der augenblickliche 2«eit|rankt 
scheint nicht geeignet, an die zuständigen Behörden mit der Forderung: 
anf eine Abänderung des Strafgesetzbuches nach dieser Bichtang hin 
Torzn^^ehen ; vor allem sollten erst weitere Tatsachen gesammelt werden, 
welche die Lücke der Gesetzgebung beweisen.'^ 

Der Korreferent Grashey kam in seineu Auslührungpn m 
einem wesentlich anderen Kesultate. Nach seiner Meinung hat JoUy 
zwei Kategorien krankhafter Störung der Geistestäf igkeit aufgestellt, 
solche erheblichen Grades und solche nicht erheblichen Grades. Nun 
Termeidet aber § 61 des Deutschen Glesetses aus guten OrQnden den 
Ausdruck „erheblicher Grad krankbafler Störung'*, sondern verlangt 
vielmehr eine bestimmte Wirkung der krankhaften Störung auf die 
freie Willensbestimmung, nämlich den Ausschluß der letateren. Es 
muß also nach Grashej der Nachdruck auf das Wort krankhaft" 
gelegt werden, und di Aufgabe des Sachverständigen besteht in dem 
Nachweise, daß eine bet>timmte Handlung durch eine krankhafte 
Störung der Geistestätigkeit herbeigefülirt war. In einem solchen 
Fall ist dann eo ipso für den Arzt und Richter die Annahme freier 
Willensbestimmung ausgeschlossen. So liegt z. B. der Fall, wenn 
nachgewiesen werden kann, dal{ ein Angeschuldigter an Zwangsvor- 
stellungen Htt. daß die Zwaugsvorstellimg von ZwanE^sirapulseu gefolgt 
war und daß infolge eines solchen Zwangsimpulses eine bestimmte 
Handlung erfolgte, welche die Kollision mit dem Strafgesetze herbei- 
fttbrte. 

Litt nun aber ein Angeschuldigter zwar an Zwangsvorstellungen, 
war jedoch frei von Zwangsimpulsen und beging die in Frage stehmde 

Handlung unabhängig von seinen Zwangsvorstellungen, so ist zwar für den 

Arzt das Vorhandensein . Iner krankhaften Störung der Qeistestätigkeit, 
. nicht aber der Ausschluß freier Willeushestimmung nachgewiesen. 
Ferner bezieht sich Grashey noch auf die dritte Möglichkeit, daß 
nämlich ein an Zwangsvorstellungen leidender An^pschuldij^ter gewisse 
Hrn.dl uiigt'ii iuldlge dieser krankhaften Stitiniig ausführte, die bestinitute 
mit dem Strafgesetz kollidierende Handlung aber unabhängig von seinen 



Digrtized by Google 



II. Die Frage nach der vermiuderteu Zurochuuugsfähigkeit etc 81 



ZwangsTorstellimgeD beging. Für die in Frage stehende HandluDg 
wäro dann die freie Willeosbestimmniig nicht ausgeschlossen, wohl aber 
für die aus der kraakhaften Störung der Geistestätigkeit eDtstatidenen 
Zwanpshandlunpen. Grashey verlautet auf Grund dieser Argameutation, 
daß man sich nicht mit dem Nachweis krankhafter Stcirnng der Geistes- 
tätigkeit, durch welche im allgem *■ i ti f n die freie WiHensbestimmung 
ausgeschlossen sei, begnügen solle, fondern außerdem im hfsondercn 
nachweisen miisse, daß die freie WilleDsbestimmung iu Beziic auf eine 
•gewisse Handlung ausgeschlossen sei. Nun ist allerdings uach d^r 
Anndit des Befeienten überhaupt jede tereinzelte krankhafte Störung, 
welche zu einer bestimniien Handlung gef&hrt hat, erbeblieh 
genng, die freie Willensbeslininning in Bezug auf diese Handlung ana- 
znichlieBen. 

Somit haben p^chisch abnonne Menschen nicht eo ipso für un- 
zurechnungsfähig zu gelten ; Personen mit angeborenen und erworbenen 
Defekten sind in mancher Beziehung noch berufsfahig, in anderer 
Richtung aber nicht. Hieraus eine geminderte Zurechnungsfähi^keit 
ableiten zu wolleu . sei identisch mit dor unzulässigeo Bph;ui]itung, 
daß Zurcchnungsfahigkoit in der einen Richtung und Uuzurechüunf?s- 
föhigkeit in anderer Kichtuug geminderte Zurechnungsfähigkeit im 
allgemeinen bedinge. Das Auskunftsmittel geminderter Zurechnungs- 
fähigkeit schließt nach Grashey bei jeder Anwendung Fehler iu 
-sich, indem es entweder den Znrechnnngsföbigen tu leicht bettraft 
oder einen ünzurechnungsföbigen verurteilt. Auch die ans der An- 
nahme Terrainderter Zurechnungsfähigkeit sich eröffnende praktische 
Perspektive in Bezug auf die Unterbringung der wegen Geisteskrank- 
heit Freigesprochenen ist allein nach Grashey hinreichend, den Stab 
Uber die geminderte Zurechnungsfähigkeit zu brechen. 

Aus den dargeh'gten Gründen bittet Grashey die Versammlung, 
einen bezüglichen Antrag an die gesetzgebenden Behörden nicht zu 
richten. 

In 'ler sich an die Referate Ale d de l's und (4rashey'8 scliließen- 
den i)ij<kus8ion weist Schafer die Unhaltbarkeit des Mendel 'sehen 
Standpunktes in Bezug auf die Beurteilung der freien Willensbestimmuug 
nach. Nach seiner JUeiuuug hat der Sachverständige ein besseres 
Urteil ilber Znreehnnngsf&higkeit oder Unzureehnungsfähigkeit einee 
Geisteskranken, als der Richter. Und wenn der Begriff „Zurechnungs- 
ffthigkeit" auch ein strafrechtlicher sei, so hat er doch eine Yerbindung 
▼on Natnrerecheinangen zum Lihalte. Im ttbrigen ist in der Bogel 
entgegen der Mendel' scheu Auffassung dem Gerichte eine .Xußemag 
ftber das Fehlen oder Vorbandensein der freien Willeasb^mmong 

V. Sebren«k*KotslBS, Stadial* 6 



Digiii^ca by Google 



89 



IL Di« Fr«g« aMh der Termindirten ZtirechiiiingiflUiigkeit eie. 



willkommeo. Außerdem darf die Gesetzgebung; sich nicht durch die 
Rücksicht auf schlechte S;ichvprstäudigo leiten lassen. 

Schülc hält die Auüassung Graahey's geradezu für bedenk- 
lich (betreffend den Zusammenhang zwischen inkulpierter Tat und einer 
vorhaudeueu psychiscben Anomalie). Demi wer künute «ich uuter- 
faogeu, bei den nnergründllchen ZoflarnnraihiBgMi In der ISefe des 
bewvfiten und unbewußten Seelenlebens, den psychologisohen Erweis 
im Sinne Grashey's pro und contra zu liefern. Die Darlegung 
aber, daß ein Zusammenhang swischen den naebgewiesenen Zwangs- 
ersebeinuDgen und der konkreten Tat sieb in spede nicbt erweisen 
lasse, sei fUr den Richter wertlos und nütze dem Inkulpaten, den der 
Sacbferstäudige zu schtttsen die Pdicht habe, wenn er ihn als anormal 
erkannt habe, gar nichts. Man komme über die Tatsache minder- 
wertiger geistiger Existenzen, die noch nicht schlechthin als geistes- 
krank im Sinne des Gesetzbuches zu bez<»ichnen sind, nicht weg; daher 
bleibe nur die Annahme einer geniiuderton Zurechnungstuhigkeit. Auf 
Mendel'» Vorschlag stellte Schule den Antrag einer SHinmlung 
einschlägigen Ueobachtungsmaterialä durch den Verein. Erst weua 
genügendes Haterisl Torbanden sei, soUe fom Vermne ans in der t<hi 
JoUy beantragten Richtung an die legislatorischen Instanzen forge* 
gangen werden. 

Der Verein Deutscher Irrenftnte beschäftigte sich erst elf Jahre 
später in der Sitzung zu Halle am 21. und 22. April 189U wieder 
▼on neuem mit dieser wichtigen Frage, obwohl die verminderte Zu* 
rechnungsfähigkeit seitdem in fast allen Lehrbüdhern der forensen 
Medizin Berücksichtigung fand und auch mehrfach in besonderen Auf- 
sätzen bearbeitet wurde. 

Tn seinem gelegentlich dieser .Jahresversammlung gehalteneu Vor- 
trag: „Die Grenzen der strafrechtliclieu Zurechnungstahigkeit" inter- 
pretierte Wollen borg die Aufgabe des Sachverstiindigen bei An- 
wendung des § 51 dahiu, «lali es lediglich darauf ankomme, fest- 
austellen, ob sich krankhafte Faktoren nadiweiseu lassen, welche die 
Willensäußerungen des Angeschuldigten zu beeinflussen geeignet smen. 
Diese Beeinflussung der Willensäußerungen kann nun der Art und 
dem Grade nach außerordentlich variieren. Es gibt also eine absolute 
Greoze der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit nicht; sondern es 
ist ein Grenzgebiet vorhanden, innerhalb dessen die Znrechnungsföbig- 
keit mehr oder minder beeinträchtigt ist. 

Bei ausgesprochenen typischen Geistesstr.rungen ist die Stellung 
der Diagno*ie leicht un l die Anwendung des ^ 51 ohne weiteres ge- 
geben. Referent wendet sich gegeu Ziehen, der wie Urashey im 



Digitized by Google 



11. Die Frage nach der veriiiiti(lertea Zurechuungsfübigkuii etc. g3 



Jahre 1888 , ebenfallft den Xacliwcis des KaoBalzasaminenhanges 
zwischen Psychose und Strafbandlung fordert, denn das Qesetx Ter- 

lan^ nur einen zeitlichen, nicht aber einen kausalen Zusamm^- 
hang zwischen krankhafter Störung der Geistestätigkeit und der straf- 
baren Handlung. Außerdem kann man im konkreten Falle, z. B. bei 
Paranoia oiemals nachweisen, daß bei der Tat die krankhaften Motive 
nicht mitgewirkt haben. 

Im Auschluß an diese Ausführungen betont AVollenberg, daß 
in den vU Jahren seit der Verhaudlung des Vereins über die vrr- 
minderte Zurechnungsfähigkeit nichts weiter behufs einer Sanuuiung 
geeigneten Materials geschehen sei. 1 >a nach seiner Auffassung in 
dem genannten Punkt eine Lücke der Gesetzgebung vorhanden ist, so 
tritt W. fttr die Zolassung mUdernder Umstände bei alleo Verbieeben 
ein, sowie f&r eine qualitatiT andere Behandlung des minderwertigen 
Verbrechers. 

In der sich an WoUenberg's Vortrag schließenden 
Diskussion betrachtet Schäfer den gegenwärtig als maßgebend 
dastehenden BegrifiF der Willensfreiheit als größtes Hindernis fttr die 

Einfülirung von Bestimmungen über geminderte Zurechnungsfahigkeit. 
Nach seiner Auffassung ist es widersinnig, ?on einer WiUenstätigkeit 
zu reden, welche generaliter als frei anzusehen, in gewissen Fällen 
aber beschränkt sei. 

Mit der ausdrücklichen Anerkennung der geminderten Zurechnungs- 

fähigkeit nWißte also der Ausdruck ,,frcie Willenshestimmung" in 51 
fallen, i^ur den streitigen 1 begriff ..freie Willensbestimmung** niiiI5te 
also der jjraktische und leicht zu handhabende Ausdruck „Zurechnuugs- 
fähigkeit" gesetzt werden. 

Hitzig warnt davor, so verschiedeiit" Fragen, wie ,.partielle Zu- 
rechnuogslahigkeit" und .,verniindi rte Zurechiumgstuhigkeit" zu ver- 
wechseln. Kr bestreitet, daß es überhaupt eine partielle Zurechuuugs- 
fahigkeit gibt, da ea keine partiellen Geistesstörungen gibt. Des- 
wegen ist der Kachweis eines psychologischen Zusammenhangs der 
Wahnideen eines Geisteskranken und der strafbaren Tat nicht not- 
wendig. Denn er hält es überhaupt für unmöglich, so tief in die 
psychischen Vorige eines anderen einzudringen, um au erkennen, 
wie weit eine Wahnidee die anderweitige Gedankenbildung zwingend 
beeinflußt. 

Weber hält es für zweckmäßig, daß die psychisch minderwer- 
tigen resp. vermindert mrechnungälahigen Individuen ihre Str f in 
besonderen, dem Zwecke angepaßten Anstalten verbüßen müßteu, da 

6* 



^ j . -Li by Google 



84 



II. Die Frage nach der Terminderten ZuredmungsfiUügkieit etc. 



sie durch die endlos sich wiederholenden Rückfälle die GeseUschaft 
scbädigea. 

Die Versammlung nimmt den Vorsrhlng ^ von Siemerling und 
Biuawanger au, wonach eino Sammlung tkijtuigeu beweiskräftigen 
Fälle yeraustaltet werde, welche für die Eiuiühruug der vtr minderten 
ZnrechnangsfSUugkeit spredien. 

Bas Qeaamtergebnis dleier Verhandlungen läßt sich nun in folgen- 
den drei Punkten nuammen&ssen: 

1. Es gibt Zwiscfaensustfnde swischen gelstiiger Oesondheit und 
Eiankhetty fta welche der Ausdruck geminderte ZufechnuugsilUiigkeit 
am Platze ist. 

2. Das Reichsstrafgesetzbuch berücksichtigt diese Zustünde nicht 
genügend. Das Auskuuftsmittel der milderen Umstände oder einer 
milderen Hestriifung schützt die Ge8*'ll«rhaft rüclit fjt'nii^^end vor den 
unausblciblicheu Riicktalh.'n solcher Individuen. Die einfaehe Bestrafung 
im 8iune der gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen erfüllt also 
ihren Zweck nicht. 

3. Aus diesem Grunde ist eine qualitativ andere Behandlung 
solcher Individuen notwendig. Als bestes Jlitkel empfiehlt ridi die Er- 
richtung TOn ärztiieh geleiteten Detentionsanstalten. 

2. 

Weitere Meinungefittreeningen lienrorraflender Psychiater 

und RecMsiehrer. 

Es dürfte zweckmiiliig sein, nunmehr einen Bliek zu werfen auf 
die Anschauungen namhafter Fachmänner, die in diesen Versamm- 
lungen das Wort nicht ergriffen haben. 

Scliüu in di'üi 1840 erschienenen Werke von Schnitzer, „Die 
Lehre von der ZuTechnungsfähigkeit" (Berlin 1840, Hayn) macht Ver- 
fasser aufmerksam auf die Schwierigkeiten! weldie die Aufoahme des 
Begriffes der fVeiheit in das Preußische Allgemeine Landrecht mit 



1) An anderer Stelle (Vierteljahmchrift für gerichtl. MeduiD, Juli 1900» 

Artikel: Straf- und zivilrt-ohtlichc Begriff«? in SschsD von <t«'i.stoskrnnkon) führt 
Schäfer srAnc oben rcferirrten Aiisiolilrii woitor um. Fr h:ilt ilic S.trniDltini,' be- 
weiskräftiger Fälle, wie sie die N'ersanuuluug der deutschen Irrenärzte in Uallo 
▼erlangte, ans ]traktiacheii Orfiadea für lehr sehwierig; Denn neeh FHUung der 
Urteile erfahren die Sachverständigen iQ dor Regel nicht die ( tründe für . das 
I'rt. it i]>'s Gi rii lit4iiifi s. imch. %vns aus dem Aniroklagten witd; ebeniowenig be« 
kommen sie nachträglich diu Gcriciit»akten zur HauU. 



Digitized by Google 



II. Di« Fng6 naefa der Termiiid«rten ZurechDungsfähif^keit ete. 85 



sieb bringt, 14 des AllgemeiDen Landrechts, Th. I, Tit. 3 lautet: 
..Der Grad der Zurechming bei den wnmittelbarpn, als bei den mittel- 
barcü Fülgen eiuer H nidlung richtet sich nach dem Grade der Frei- 
heit bei dem Handehiden." Nach Schnitzer aber gibt es nur eine 
unteilbare psychische Freiheit und Unfreiheit, nicht aber ein Mittel- 
diog oder verschiedene Grade der Freiheit. W ollLe der Ge- 
setzgeber etwa für die höheren oder niederen Grade der abnormen 
Itsycbischen Ztt&tftnde ebenfalls G-rade aDnehmen, so dfirfte dieeee 
ninuDermehr darch eine Gradation der Freiheit geschehen, vielmehr 
müßte er sich direkt auf die Krankheitszustände des Untersuchten 
stutzen. 

T/b(T die Existenzberechtigung des Begriffes der „yerminderten 
Zurechnungsfähigkeit-* hat sich Bresler (Die partielle Zurechuuugs- 
fahigkeit der Geisteskranken. Psychiatrische Wochenschrift 1899 Xr. 7) 
ausgelassen. Er sagt so: „Wenn ein Geisteskranker als solcher eo 
ipso in seiner 1'otalität als krank betrachtet wird, so kann man um- 
gekehrt mit demselben Recht einen Geistcsgesnnden in seiner Totalität 
als gesund betrachten. Entweder gibt es alsu keine partielle geistige 
Gesundheit, dann gibt es auch keine partielle geistige Krankheit 
Diejenigen, welche die verminderte Znrechnungafähigkeit eingeführt 
haben wollen, müssen zugeben, daß jemand, der Termindert geistig 
gesund ist, mit anderen Worten als nicht ganz geisteskrank au^üiBt 
werden kann ; und jemand, der nicht ganz geisteskrank ist, auch nicht 
ganz zurechnungsfiUiig zu sein braucht. Man läuft damit die große 
Gefahr, im eigentUchen Sinn Geisteskranke als nicht ganz zurecbnungs- 
unfdlii^ m betrachten". Eben diesen Standpuukt nehmen schon eng- 
lische Psychiater wie Mercier ein, welcher sehr wenige Geisteskranke 
als völlig iin/.urechnunssfähifT erachtet und für Vergelmngen solcher 
Kranker gewisse Strafen in seiner Anstalt eingeführt hat (durcli dis- 
ziplinarische und erzieherische MaBuahmen). Bei den großen Be- 
denken, die ein solches Vorgehen erwecken muH, ist Bresler für die 
Beibehaltung des empirischen BegriflFes „der freien Willensbestimmuug 
wodurch annähernd sichere und bestimmte Verhältnisse geschafft 
worden. In der stra&ecbtUcben Behandlung solcher FfiUe sei es 
besser, durch Verringerung des Strafmaßes und Ausdehnung der mil- 
dernden Umst&nde denselben Bechnung zu tragen, anstatt die betreffen- 
den Personen in den Augen des Publikums sozial zu schädigen durch 
das Odium ,.der Minderwertigkeit^^ 

Der prinzipielle Standpunkt des Determiniertseins 
verbrecherischer Anlagen, wie er in neuerer Zeit von der italienischen 
Schule unter Ji^ruog vonLombroso vertreten wird, ist am klarsten 



Digitized by Google 



86 



IL Die Frage nach der vermiaderten Zurechsangflfiihigkeit etc. 



zum Ausdruck gebraclit worden Ton Sommer in seinem Vortrage 
ttber Kriminalpsychologie auf der JahresTeraammlung der dentsclien 
Irrenärxte in Dresden 1894. (Zeitscbr. für Psychiatrie 1894, Nr. 51, 
Heft 4.) in der Grundfrage kommt es nach Sommer nicht darauf 
an, ob es einen Verbrechertypns gibt» sondern ob es im aUgemeioen 
aogeboreoe Geisteszustände gibt, welche zum Verbrechen fKhreu. Man 
braucht die Neheühypothesen T. ombroso's nicht zu acceptieren, 
wenn man doch den wesentlichen Punkt zugibt, daß nämlich bei ge- 
wissen Mfnsc!ion ondowene Anlage zum Vcrhrerlien die äußeren 
Momeute üherwicgt. Zu dieser z\nuahuie wird man geuutigt durch die 
psychologischt' Analysp rücklulligcr Verbrecher, wenn sieh auch kein 
Typus im groben Sinn der Anatomie dafür aufstellen h'iRt. Der 
Grundgcdiiuke dieser Theorie liegt nicht iu di r öpbzielleu Anuaiime 
des Angeborenaeins verbrecherischer Neigungen, sondern in der An- 
nahme des Determiniertseins der Terbrecherbehen Handlangen. 
Unter Determinismus Tersteht Sommer die Lehre, daß Naturror- 
g&Dge, also auch alle menschlichen Handlungen durch gegebene Ver- 
bältDisse notwendig bedingt seien, daß die Terbrecberischen Handlungen 
als Resultat aus der endogenen Anlage and den exogenen, d. h. von 
außen wirkenden Momenten zu erklären seien. Sittliche Geftthle und 
Gewissen sind nur Kompoueateu in der Rechnung} aus welcher ein be- 
stimmtes Resultat mit Notwendigkeit hervorgehen nniB. In jedem 
Falle einer Gosetzesüliertretiing müßte also untersucht werden, oh die 
Handiuiif^ mehr endniren oder ex'>c;en ist. Ist sie rein endogen, so 
sind weitere kriminelle Handluugeu zu erwarten und der Mensch 
mijtite, zum öelbstscliiit/ der Gesellschaft unschädlich gemacht werden. 

Allerdings ist zuzugeben, daß der allgemeine Determinismus prak- 
tisch unlösbare Aufgaben stellt und zu den staatswissenschaftlichen 
Utopieeu zu zählen ist. Die Hypothese der AVillenslVeiheit und die 
Festsetaung eines Strafmaßes sind im Strafgesetz notwendig verbunden, 
sie sind nötig zum Schutze der Gesamtindividuen gegen Willkür von 
Seiten Weniger. Indessen ist zu hofien, daß der deterministiscbe Ge- 
danke bei gewissen Gruppen jugendlicher und räckfiUliger Verbrecher 
Boden faßt. Das Unzureichende des 8tra%esetzbnches geht aus der 
konstanten Zunahme der Krimioalitätsziffer im allgemeinen hervor. Es 
ergibt sich also die Notwendigkeit eines größeren Schutzes der Uesell- 
Schaft gegen endogene Verbrecher. 

Kriminelle Handlungen haben durchweg die BigentQnüichkeit, 

daß sie eine Befriedigung des Individuums gegen das Interesse und 
den Willen der Gesamtheit bedeuten. Daher fehlt au sich das Kriterium 



1 



Digitized by Google 



II. Die Frage Mch der rermioderten ZurechnttogafiliigkeU «tc. 



87 



der Krankheit voUstkiulif?, und es kanu nur unter bestimmieu psychischen 
Yorausset/uiif^t'ii vou Krankheit dif» Rede sein. 

Ein Defekt, wie z. B. das Fehlen ethischer Gefühle, welches den 
geborenen Verbredier cliankteririert, ist nun nach Sommer noch 
nicht als Icraiikhafl zu beseichnen. Der Defekt wird nar dann zur 
Enokbetty wenn er das Individunm wirklich sch&digt 

Nach Sommer k(tonen endogene Verbrechematnren In diesem 
Sinne nicht als Geisteskranke bezeichnet werden, und sie gehören dem* 
entsprechend nicht in Krankenanstalten, sondern in Detentionsanstalten. 
Es gibt also nach dieser Anschauung eine Unfreiheit des Willens 
ohne Geisteskrankheit. Die Art des Strafvollzuges (Bestrafung, Irren- 
anstalt, Detention) muß aus der psycliischeu Besch affenlieit der Ver- 
brecher Irreleitet werden; die Psychologie des Verbrechers gibt also 
die Basis ab für einen ratioüölifii Strafvolhsug. 

Der Auffassung Sommer 's kommt die Anschauung Forel's, 
die er in seinem Vortrage über die Zurecimungsfähigkeit dargelegt hat 
(München, 1901. Reinhardt) sehr nahe» Freiheit ist nach ihm ein 
GefÜhlf jede psychische Tätigkeit ist durch komplizierte Ursachen und 
Triebfedern bedingt. Seele und Gehini sind nach Forel eins. Das 
durch die Empfindongsnerren mittelst der Sinne Eindrucke too der 
Außenwelt empfangende Gehirn hat, wie die lebende Nervensnbstanz 
überhaupt, die Fühigkeiti sich beständig neue Dinge anzueignen^ sich 
denselben anzuschmiegen nnd sich durch dieselben beeinflussen zu lassen^ 
und auf solche \Vci?e neue Kombinationen aus den alten zu hilden. 
Diese Tätigkeit des sich Anschniiegeusund ordnungsmäÜigen Komhinierens 
neuut i?'orel phisti'^eli. im ( Ictreusatz zu der plastischen Öeeirntätig- 
keit maclien die instinkliveu, automatischen Triebe den Eindrui k der 
Gebundenheit, Unfreiheit, des MaschinenuiiUiigeu, obwohl es unzählige 
Übergänge zwischen den reinsten Automatismen und den allerfeiusten, 
höchsteni schmiegssmsten Seelentfttigkeiten gibt. So arbeitet das Gebim * 
teilweise mehr instinktiv, teilweise mehr plastisch. Die Instinkte sind 
angeborene resp. ererbte Automatismen (z. B. die Merkmale der Klasse, 
der Ordnung, der Familie, der Gattung, der Art, der Varietät, Eitel' 
keit, Eifersucht, (Geschlechtstrieb und Hungen, sind nur der Ausdruck 
der alten Tererbten Eigenschaft der Variet&t und ebensD alte vererbte 
Merkmale unserer Ahnen, wie unsere Nase, unsere Hautfarbe, das 
Fehlen des Schwanzes u. s. w. 

In diesem Sinne fällt nach Forel der Begriff' der Willensfreiheit 
mit dem Begritl der plastischen Anpassungsfähigkeit zusammen. Was 
wir unter Freiheit fülden und verstehen, ist nicht absolute F'reiheit 
ohne Ursachen, tiuuderu eine rehitive Frciiicit, d. h. die Fähigkeit, 



Digitized by Gc) 



88 



II. Die Frag6 nach der Terminderteo Zui-echaungiühigkeit etc. 



unser Denken, Fuhlen und Handeln an alle äoBeien nnd inneren Vei^ 
hfiltniese adSqnat, d. ,h. mögliehet entsprechend nnd geordnet anzn- 
passen. Diese Anpaseang erscheint uns als frei in ihren unendlichen 
feinsten, komplizierten und sablrelcheii Weobselhetiehangen, wenn wir 
sie mit der unmittelbaren Gebundenheit der groben Instinkthandlungen 
Tergleichen. 

Dieser relative Freiheitsbegriff hat den Vorzug, auf Wahrheit zu 
beruhen. So ist auch der Bpgriff der Zurocbniiugsrabigkeit nur ein 
relativer. Der Mensch ist also um so zurcchuuncisfähiger, als er 
feiner, plastischer und a<lüquater anpassungsfähig ist. Ein durch wenige 
Gläser Wein leicht angeheiterter Mensch, ein zehnjähriges Kind sind 
bereits minder zurechnungsnihig. In diesem 8iune ist vtrmiuderte 
Zurechnungsfäbigkeit stufenfürmige ^''enuindenmg der plastischen 
adäquaten Anpaseungsf&bigkeit. Es gibt also auch bei normalen 
Menschen alle mdgliehen Stufen der Znrechanngsfähigkeit je nach der 
Gebundenheit durch starke Triebe, geringe Intelligens , mangelhafte 
Kenntnisse, schwachen Willen, vor allem aber durch angebonneit 
Mangel an ethischen und sympathischen Gefühlen. Der BegrifT der 
Zurechnungsßihigkeit setzt eine solidarische Gemeinschaft gleicher 
Wesen mit gleichen Rechten und Pflichten voraus; mit der Entwick- 
lung des sozialen Iiistinktos geht Hand in Hand eine rnterdrückung 
der rein egoistischen Trieiie. Handelt also ein adäi[uat uiigepalUea 
Glied einer solidarischen Geniemschaft antisozial, so ist es Pflicht der 
anderen (ilieder der Gemeinschaft, dieses schädliche Glied nnschäcUich 
zu machen, und zwar wegen Eriuiuuug der Gesellschaft. Die Zurecb- 
nungsfäliigkeit des Meoscben ist also keine wirkliche oder absolute 
Willensfreiheit, sondern eine möglichst feine, komplizierte Anpaßbar- 
keit ganz besonders an die sozialen Notwendigkeiten. Wer durch viele 
starke Ketten gebunden ist, nähert sich immer mehr dem Geistes- 
' kranken^ oder dem geistig Abnormen, oder dem unreifen iÜnde. 

Nachdem wir den Standpunkt der Psychiatrie in der Frage der 
verminderten Zurecbnnngsfähigkeit kennen gelernt haben, erscheint es 
zweckmäßig, noch einen Blick zu werfen auf die rechtliche Seite der- 
selben. Sehr ausführlich hat Gretener. Professor der Rechte in 
Bern, 1897, „die Zurecluiungsfähigkeit als Gesetzgebungsfrage" be- 
arbeitet (Berlin, Puttkaninier iiiul M ii hl b recht); seine Schrift 
war gewissermaßen eine Vorarbeit für den Euiwurf zu einem Schweize- 
rischen Strafgesetzbuch. Die Schweiz ist bekanntlich in der Aulnaliuie 
▼on Geeetsetbestimmun^n Uber die Termioderte Zurechnuugsfähigkeit 
anderen Ländern vorausgegangen. . 

Gretener hält an dem Fnndamentalsatz jeder rationellen Zu- 



Digitized by Google 



IL Die Frage nach der ▼erinifi«]ertea Zureelmongsflbigkeit etc. 89 

rechnuDgslehre fest, daß die Verurteilung; auch zur iiiildesteu bnafe 
ein zurechnungsfähiges Subjekt voraussetzt. Nach seiner Meinung ist 
die verminderte Zurechuungslähigkeit kein Mittelding zwischen „Zu- 
rechnuugsfähigkeit*' oder „Zurechüimgsunfähigkeit", denn die Schuld- 
flUiigkflit kann nur Yerneint oder bejaht werden. Demnach gibt es 
zwar Grade der Zarechnang, aber keine Grade der ZurechnnogB- 
fahigkeit Gegenfiber der Beräcksichtignng solcher abnormer Getstes- 
sustände, wie sie hier in EVage kommen, hat die deatsche Bechts- 
praxis infolge des Schweigens des Deutschen Strafgesetzbuches zu 
einer ganz willkürlichen Handhabung der Strafjustiz geführt, l'brigeus 
trag das letzte Deutsche Partikularstrafgesetzbuch, nämlich das 
Bayrische vom J;ihro 1841 dem Standpunkte dadurch Kcchnung, daß 
es zur Annalime geminderter Zureclmungsfähigkeit eine tM'hebliche 
Mintlcrung der Urteilskraft oder der Freiheit der Willensbcstimmung 
fuiderte. Der iScliwei/crische Entwurf in seiner revidierten Fassung 
kommt diesen Ei^utgungen insofern entgegen, als er einerseits für solche 
Minderwertige unbeschränkte Strafmilderung zuläßt, andererseits aber 
eine Anrechnung des Aufenthaltes in einer Heil- oder Pflegeanstalt 
aof die vom Biohter bestimmte Strafzeit vorsieht, wobei freilich nicht 
ausgeschlossen ist, daß die bloße Versorgung an Stelle der Strafe 
treten kann. Natürlich darf die Frage nach der Schuld und Straf- 
ffthigkeit nicht mit derjenigen der Heilungs- oder Veraorgongsbedürftig- 
keit verquickt werden ; denn für die medizinische Behandlung ist es gleich- 
giltig, ob jemand überhaupt ein Verbrechen begangen hat oder nicht 
Zu denselben Resultaten kommt der deutsche Strafrochtslehrer 
Prof. V. Liszt (Berlin) in seinem gclegenflirh des 3. iiiternationalou 
Psychologenkougresses in München (Kongreß-B» i icht München. Leh- 
mann 1897). Auch er findet die Gleichstelluiii; der „Zureclmungs- 
fähigkeit** mit der „freien Willensbestiujmung', wie sie § 51 des 
Deutschen Beichsstrafgesetzbuches zeigt, bedenklich. Nach sdner Auf- 
fassung muß das Strafrecht dem unaustragbaren Streite Aber die 
Willensfreiheit entrttckt bleiben. Deswegen müßte d«r Ausdruck 
„freie Willensbestimmung'* unbedingt fallen. ZnrechnaDgflhigkeit nach 
Liszt ist „normale Bestimmbarkeit durch Motive", und er 
schlägt vor, diese Fassung an Stelle der „freien Willensbestimmung" 
in das Gesetz aufzunehmen. Die bisherige Definition versagt überall, 
wo unausrottbarer Hang zum Verbrechen (unverbesserliche ("Jewcdin- 
heitsverbrecher) eine Siclierurigsstrafo ertordert. Mangelt aber dem 
Gewohnheitsverbrecher di»' Zurechnungsfähigkeit, so kann er nicht ge- 
straft werden; es ist also nur Unschädlichmachung als Yerwaltungs- 
luaiiregel gegen ihn möglich. 



Digitized by Google 



90 



IL Die Frage a«ch der reminderten Zurechnungsfähigkeit etc. 



Liszt schlägt Abiiaclcrunis: des § 51 Tor wie folgt; 

„Eine strafbare Haudlung ist uicbt vorhanden, wenn der 
Täter zur Zeit der Begehung der Handlung io einem die 2a- 
rechuungsfilhigkeit aotscbließenden Zustande Ton Bewnßtlotig- 
keit oder Ton krankhafter Hemmung oder Störung der Geistes- 
tätigkeit sich befand." 

In Bezug auf Fälle verminderter Zurechnungsf&higkeit ist Lisst 
fUr Sicherung der Gesellschaft durch Verwahrung des Täters in 
Anstalten und Asylen. Der Schweizer Gesetzesentwurf trifft hier nach 
Liszt das Richtige und darf zur Nachahmung empfohlen werden. 

Der vorstehende Uherbliek faSt die wesentlichsten theoretischen 
GesichtspuDkte zusammen, welche von gericbtsärzUicber und juristischer 
Seite für die Aufstellung einer verminderten Zurechnungsiähigkeit 
geltend gemacht werden können. 

3. 

Die fir vennindsrte Zurechnungsfähigkoit bauptBichlicb In Betracht 
kommenden Formen iisychischer Anomalien. 

Es erübrigt nun noch, einen Blick zu werfeu ani die rein medi- 
zini'j' lie Seite dieser Fra£?e. d. Ii. auf die psychischen Abweichungen 
und Störntifjon. welclic in toro vorwiegend für die verminderte Zu- 
rechiiungsiläliigkeit in Betracht koninien. 

Wollenberg rcchutt in der obm erwähnten Arbeit zu den 
(iruppeti, welche in das bezeichnete Greu/gebiel lallen, alle Individuen, 
die man im weitesten Sinn als Degenerierte und Uindenrartige be- 
zeichnen kann, die Epileptischen, Hysterischen, erworbene Degenerationen 
und Scbwächezustände, die psychischen Störungen des Alkoholismos, 
Morphinismus, femer intervallare Zustände periodisch Geistesgestörter, 
Frühstadien der Dementia senilis, sowie Verftnderaogen der Peycbe 
bei organischen Erkrankungen des Centralnervensystems. 

In Bezug auf die erbliche Belastm^ unterscheidet Wollenberg 
die latente Veranlagung, die nur fius einer bestehenden erblichen Be- 
lastung zu entnehmen ist, und die manifeste, die sich in dem Indi- 
viduum objektiv nacliweisen liilit. Eine groBe Menge erblich belasteter 
Individuen ist nnludingt als zurechnungsfähig zu betrachten. Die 
krankhafte Veranlagung kaon aber die Zuiechnungsfähigkeit beein- 
trächtigen und in der Strafabschätzung als Milderuugsgrund geltend 
gemacht werden. Bei Individuen der oben genannten Gruppe finden 



Digitized by Google 



IL Di« Frage nMh der verminderten Zoreelwungsfelugkeit etc. 91 



sich nun büuli^ Versehrohfnlieiten. Einseitigkeiten. Absonderlichkeiten 
neben körperlichen Anoinalieü, Eotwickluügsmäufjelii ; dahin sind zu 
rechnen selbstquälerisclie, hypochondrische Individuen, niaiiclu" Prahler, 
Geizhälse, Verschwendor . Fanatiker, Schwärmer. Sonderlinge und 
Exceutriscbe. Bei Individucu dieser Art können Ail'ekte zeitweilig 
eine wlehe Inteniitat erlangen, daß cladurdi die Zmechnungöfühigkeit 
fUr einen bestimmten Zeitraum auageschloeaen ist. 

Ferner gdiören in jenes Grenzgebiet die sexuell Perfersen, KontrSr- 
sexnalen nnd Exhibitionisten. Die letzteren gehören nach Wolleu- 
berg in der Mehrzahl zu den Geisteskranken im engeren Sinne. Die 
echte Homosexualität ist nach Wollenberg immer ein Zeichen einer 
degeneratiTen krankhaften Veranlagung. Sie ist also ein die Zurech- 
uungsfahigkeit Terminderades Moment. 

Große Schwierigkeit bietet die Beurteilung^ der leichten Schwach- 
sinnsfornien. Ihre Insufiicieuz zeigt sich überwiegend auf praktischem 
Gebiet. Vielfach ist es schwer zu entscheiden, was auf Rechnung der 
endogenen VeraDlaf?iinp. was auf dipjenif?e der Verwahrlosnni» zu setzen 
ist, und (las hesondeis bei den mäßig Schwachsinnigen der untersten 
Schicht« !), die sich viellach in den Gefängnissen als usdissiplinierte 
Gewoliiiheits Verbrecher finden. 

Bei tler Rpilej^i^if erheischen rielieu den I )ämmerzustiiuden die 
psychischen Aquivuleiitc das f^rüHtc lnrcnsisehe Interesse. Ma» kann 
bei solchen Kranken nnuuiter wohlgeordnete, anscheinend besonnene 
Handlungen beobachten. Auch besteht durchaus nicht immer Eriu- 
nerungslosigkeit, sondern ea kommen alle Abstufungen des Erinnerungs- 
▼erm^ns Tor. 

Bei Epilepsie ist unter allen Umstanden «ne mildere Beurteilung 
angezeigt 

Auch bei der Hysterie liegt die Schwierigkeit auf dem Gebiet 
der Diagnose. Bei den Bewußtseinsstörungen der Hysterischen han- 
delt es sieb Tielfaeh nur um eine krankhafte Verftuderung des Be- 
wußtseins. 

Die ans den krankhaften Zuständen ins normale Wa^hbewuß^ 

sein mitunter hiuttbergenommwen Vorstellungen können wie eine post- 

bypnotische Suggestion das gesunde Verhalten beeinträchtigen und zu 
strafbaren Handlungen führen. Wichtig in diesem Sinne bei der 

Hysterie sind die charakteristische T^herregbarkeit des ganzen Nerven- 
svstonis. das Vorherrschen des Phantasie- und Gefühlslebeos über den 
ruhig ai)wä^ien(leu Verstand, die abnorm leiclito Auslösung von Gefühls- 
reaktiouen, die xseigung zu KrinnerungstäuschungeUf Träumereien, im- 



Digitized by Google 



IL Die Fnge nach der Terminderien ZuredmimgsfiUdgkeit ete. 



pulsiven Handlunpon. Das liysterischt» Tompcraineot kann in höheren 
Graden die Zuiechuuugäfahigkeit aut'heheu. 

Die freie WiUensbetätigung bei atrafbaren Handltmgeik kaon aoeh 
durch suggestive Mittel (im Wachzustande) und hypnotiBche wie post- 
hypnotische Eingebungen abgesdiwächt resp. aufgehoben werden. In- 
desaeQ gehört die auggeatlTe krtminelle Zwangshandlung eines Geisten 
gesunden zu den Seltenheiten, und meist handelt es sidi um psycho- 
pathisch Minderwertige, Degenerierte, Schwachsinnige, Hysterische mit 
mangelhaft entwickelter Willenssphäre. Allerdings fallen solche Per- 
sonen hpsonders leicht suggestiven Einflüssen Tollsinniger Verbrecher 
zum Opfer. 

Ahnliclif Anschauungen wie die vorstcliendeu entwickelt Cramer 
in Seinern Aufsat/.e: Die Behaudluiij,' tler Li renzzustände in iüio liebst 
einigen Bemerkungen über geiuiuikrle Zurechuungslähigkeit. (Berl. 
klin. Wochenschrift Nr. 477, 1900,) 

J)te besonderen Uomente, welche zur Zeit der Begehung der Tat 
erblich prädisponierte oder pathologisch veranlagte Individuen zu einem 
Konflikt mit dem Strafgesetzbuch treiben, mud hauptsäoblidi: Starke 
Affekte, Vergiftung mit Alkohol, sexuelle Erregung, Menstruation, 
Schwangerschaft und Klimakterium. Besonders gefihrlich ist die 
Alkoholwirkung für epileptische, zu Gewalttätigkeiten geneigte Charak« 
tere, während die Vorgänge des Geschlechtslebens liauptsächlich bei 
hysterisch angelegten Personen trausitori^clie I^wulltseinsstönincren 
hervorzurufen im stände sind. In P>r/.u<^ auf die Degenerierten, Schwach- 
sinnieen, Neurastheniker , Alkoholiker teilt Cramer die Ansichten 
W ü 1 1 e n be rg 's. Ik-soudere Berücksichtigung erheischen die senilen 
Charakterveräuderungen , die Abnahme des Gedächtnisses, der In- 
telligenz, die Reizbarkeit und Schwankungen in der Gemütslage bei 
Greisen. Auch bei jugendlichen Verbrechern wäre Detention oft 
zweckmäßiger angebracht, als das mitunter viel zu hohe Strafmaß. 

Ebenso wies Kirn (Freiburg) auf klinischem Wege die Not- 
wendigkeit der Annahme verminderter ZurechnungsfUhigkeit nach. 
(Kirn: t'Ijer verminderte Zurechnunt^sfllliigkeit. Vierteljahrsscbrift 
für gerichtliche ^ledi/^in, Olct. 1898.) Unter den Heohtsverletzungen, 
die hier in Frage kommen, übormegen im allgemeinen die Aflfektver- 
gehen. Beleidij2;tini!xen. Körperverletz«n*7en \md D'^likte auf sexuellem 
Gebiet. Kirn iriht fine Übersieht über 41 Beobachlunf^en ans seiner 
Praxis. 14 Sträflinge unter diesen litten an Schwachsinn < Verf^ehun^'en : 
Unzucht mit Minderjährigen. Xntzucht. widernatürliche Unzucht, Körper- 
verletzung, Brandstiftung, Sachbeschädigung, Diebstahl). An perversem 
Sexualismus litten 4 (Päderastie und Unzucht mit Miiiderjährigen), 



Digitized by Google 



n. Die Präge nach der verminderten Zurechnungafiihigkeit etc. 



93 



psychisch epileptische Degeneration zeijaiten 9 Fällo fKörperverletzung, 
militärische Vorgr^hen, Betrug DiVIjstahl). An Hysterie litt ein wegen 
Betrug verurteiltes Individuum. 3 clironische Alkoliolisten hatten sich 
zu verantworten wegen Körperverletzung, Störung des öffentliclien 
Friedens, Beleidigung und Diebstalil. An traumatisch erworbener 
Gehiruscbwüche war ein wegen Diebstahl bestrattes Individuum er- 
krankt. Begmnende seoüe Störung zeigte sieb an 9 Indiriduen, welche 
sämüicli sich wegen Vornahme unsfichtiger Handlungen an Kindern 
unter 14 Jahren zu Terantworten hatten. 

Es würde zn weit führen, hier auf Einzelheiten dea peychiachen 
Status bei den einzeben Erkrankungsformen einzugehen; nur möge 
noch erwähnt werden, daß auch die schwer erkennbarm An&ngsstadien 
mancher Psychosen geistige Umwandlungen erzeugen körnen, welche 
vor Gericht zu berücksichtigen sind, das gilt namentlich von der Neur- 
asthenie, der beginnenden Paralyse, sowie dem Vorstadium der Farauoia 
und Manie. 

4. 

Beobachtungen aus der Gerichtspraxis des Verfassers.^) 

L Chronischer Alkoholt«niue. 

Th. L., Dienstkneeht, 47 Jahre alt, uu^^eklagt wegen Braudstiftuugf. 
Chronischer Alkohoüsfiiu*. chrnni«irhc Nephritis, pntholnpischo Raaschztistümle, 
Arteriosklerose, Herzklappetifehlcr. Ethisch und iuteilektuell liefekte I'eisönlich- 
keit. Zündete im Ratisehzustend ein ihm aelbst cum Teil gehöriges Anweien an, 
half dann bei den Löse lun iM iten, icUief teinen Rausch au$ und seigte weder Reue 
noch Erinnerung an iIh- Tut. 

Nach Ansicht des Verfassers und des zweiten Sachverständigen war die freie 
Wüleosbestiuimung zwar nicht völlig auageschloeseo, aber erheblich vermindert. 

Urteil: ZuehthauMtnfe. 

II. Chronischer A Ikohoiismus. 

Xaver "B., 40 Jahre alt, angeklapt wi^t^on Körfi^rverletzung mit nach- 
gefolgtem Tode. Erschlug in einem AS'ektausbruche veranlaßt durch be« 
grSndete Eifersndit seine Frau. 

Outachten: Erblich belasteter Psychopath, chronischer Alkoholist. Gefäß» 
•torangen, Kongestionen, Tomit. matut. Halluzinationen, Angstsuatäode, Bnbrselig» 

1) Unter den im Nachfolgenden li< tii hteten Gutachten wurden 13 von dem 
Verfasser unter Eid vor Geridit abgegeben. Fall 4 enthält ein schriftliches Gut- 
achten fnr ein ausw^iges Oerickt und Fall U ein privates Gntaehten, welches 
jedoch dem lleii hsgericht bei Revision des betreffenden Falles rorlag. Die Urteile 
sind äberall so genau wie möglich beigefügt. 



Digiti^cü by Google 



94 I^i« Frag« oach der Terminderten Zarechnungsfiliigkeit etc. 



keit, Depression, SellMtmordTersadie, TrBbuagea des Bcwußtaeios, triebart^ 
Handlungen, GewaUtÜtigkeii. 

Resultat: Zurcchiiungsiahigkeit während der Tat nicht aufgehoben, weil 
dfr Angfklaj.'te nur aiipolnirikf n. dtirch berechtigte Eifer«iu-ht crrogt war und 
nach der Tat mit Uberifguug iiundelte; dagegen war die Zurechnungsfiihigkeit in- 
folge der psychopathischen Erregbarkeit vermindert. 

Urteil: 8 Jahre 6 Monate Gefangnit. 

III. Epileptische Degeneration. 

Juhonn K, lediger Schneider, 17 Jahre '6 Monate alt, augekiagL wegen 
Diebstahls, war trotz seines jugendliehen Alters 9 mal wegen Diebstahl vor^ 

bestraft, mit einem Verweise, 2 Haft- und 6 Gefängnisstrafen. 

Epileptische Degeneration mit anfänglich typisch epileptischen und cpüepti- 
formen Aniälleu. Darauf psychische Äquivalente luit progressiver Veränderang 
der Persönlichkeit. BewuOtteinatr&bungeo, Absenaen, Sdilafrtorangon, motirkMea 
Vagabundieren, Bewegungsdrang, periodisch hochgradige Keiabarkeit, automatisches 
Reagieren auf ännerf Reize. Klpplnmanic teilweise S' !i!ti ii^unpen mit BewuCtsein 
und Vorbereitung der Handlungen, teilweise in truumartiger Benominenlirit. 
Einige Diebstähle wurden höchst ungeniert ohne fUicksicht auf die Umgebung 
ausgef&hrt. 

Resultat des Gutachtens: Epileptischer Schwachsinn mit einem Minimum 
von Ziireehnungsfähigkeit, £. ist für dauernde Unterbringung in eine Anstalt zu 

empleldfu. 

Urteil: Freisprechung. 

IV. Epileptische Depo n e ra t i u n. 

Georg W., 17 Jahre alt, angeklagt, in einer Privatklinik 2 mal Geldbeträge 
in der Hohe von 5 und 3 Hark nachts gestohlen su haben. 

Angeborene Epilepsie. Früher häufige Anfälle, jetzt Auftreten derselben 
alle 4 — 6 Monate. AiiCcrdi iti fiesfelieii Skro[iIiuli»se. Driiseiisi-lnvflliinpeii und Atis- 
schlüge auf der äußeren Haut. Tiefgrettende Anomalie des ChanüiLtorü und Geaiiit^;- 
lebens. Sinnlose und impulsive Handlungen. Wutausbrüche, Vagabondage. Hang 
SU allen mSglkfaen Absonderlichkeiten. MulÜte aus der Schule entfont werden, 
da er die Mitschüler zu Diebstählen und schlechten Streichen verführte. Strafen 
und ?*>zielrinir«^ni;if)n p-olii tranz ohne Erfolg. Absolute Unfähigkeit adiifiiiatr>r An- 
passung an die äuliercii Verhält nisae. Ausgesprochene Abneigung gegen Arbeit 
und jede ernste BescyUtignng. Vorliebe für Bummeln, Nichtstun, Neigung zu 
Exzessen in Haccho et Venero. Zahlreiche Dtebstihle lassen auf krankhaften 

Autrieb /urn Sti lilcn schlielien, 

Ergebnis de» Gutachtens: W., uuverbesserhcher Psychopath mit epilep- 
tischer Degeneration, ist ganz sicher nieht in vollem Sinne zurechnungs- 
fähig. Bei der Unkenntnis der Tatumstilnde ist Nihercs über den Grad der 
Terniiiiderton Zureohnuugsnihigkeit nicht anzugeben. Antrag, den Angeklagten 
6 Wochen in einer Irrenanstalt zu beobachten. 

Resultat unbekannt. 

V. Gravidität und Hysterie. 

^Infi'f^ideno LV, 11 Jitlire .i1t. !iiipokIa<,'t wegen versuchten n H e n m o r d e s. 
UnglückiKlio Ehe, iniime Beziehungen zu einem Maler; Folge: Gravidität, Nachts 



t 



Dlgltized by Google 



IX. Die Frage nach der vermiDderten Zurecliuutjgsfähigkcit etc. 95 



trat sie nn dns Bett SD dem ichlftfeDden Hann und tchoD ihm mit einem Revolver 

in die litikf Srhliifo. 

G u t n ch t en de» V e r tass c rs: Erblich bciastet. tiebar 10 Kinder. Seit 
dem 10. Lebenfjahre kysteriseho AnflUle. Sdüafsiörungon, Katale])»!«, kooseofrMdie 
OeaiehtsfeUleiiH'it^iini;, Störung der Sinnesenipfiiiduugc-n i Hemianaathcflie) , ge> 
stcijrertes i*!ian!:ivi>I('bt>ii, AflVktausbrüche. I)i<' Tat wiird«' lirrrnntroTi von fiüor 
durch 10 Gi'biirton gescliwäcliteii, hysterisclien, im Zustande der iiravidität be« 
findlivhcii Person, wahrscheinlich unter dem Einflüsse eines Affektes. 

Begultat: Wenn eine geminderte ZurechnungsHUiigkeit in dieiem Fall 
auch mildernd ins (rewicbt fallen kann, so ist doch der Gmd deraelben nicht ao 
groß, daü sich di* AriwrinhiiiLr d<s § nl emitHehlt. 

Urteil: Schuldig des Totschiagversuchs. Strafe: 6 Jahre Zuchthau«, 
10 Jahre Ehrverloat. 

VI. K 1 i III a k [ e 1 1 u III uud Hysterie. 

llefzgergattin, 44 Jahre alt, angeklagt des Murdvcrsucha und der 
Anatiftnng su 9fachem Morde. Unter dem inggeativen Einfinfl einer 

Karteuschlägerin hatte sie ihrem (wegen t im s Liebesverhältnisses ihr unbequemen) 
(tatten ein Pnlver in die Snekon gestreut in der abergläubischrti Einbildung, er 
werde daran sterben. Aulicrdem stellte sie bei derselben Prophetin eine Liste 
von 9 Personen aaf, die ebehfaUa durch Sympathiemittel myattsch beaeitigt werden 
müßten. Die V'erhandlung ergab, dafi der intellektuelle L'rheber die vielfach vor- 
bestmftt W!i]n-irit,'i r'ni war. DnLjoefii mnchtf^ Frau S. nach dmii Gutachten des 
Verfassers einen hysteropathischco Eindruck. Sie gebar 7 Kinder, überstand 
mehrere Untcrieibskrankheiten und befand aidi damah im Klimalcterinm. Hoch- 
gradige nervöse Erregbarkeit, Sehlalatörungeo, Hallosinationen, krankhaft <lurch 
abergläubische Vorstellungen erhitzte Einbildunif'?kraft. rtn i->< h\viiiifrli< likeil. Putz- 
snclif, Hührseliirkci?. vnl[ie< rrtrüslnsigkeit bis zur Beschränktheit. Fürsorglich 
als Gattin und Mutter, guiuiüiig und mildherzig. Völlig hysterische Charakter- 
anlage. Ohne BewuOtsein von der Bedeutung der beabatchtigiea Handlungen. 

Resultat: Die Zur«;<liniih^'snihigkeit der S. irar infolge hyateropaihiacher, 
psychischer .St-hwäche. ihres Kiiniiikt. riiims sowie infolge der auggcativen Wirkung 
abergläubischer Vorstellungen erheblich herabgemindert. 

Urteil: Freisprechung. 

V^II. Migraine o p h t a I m i q u e und Z w a n g s a n t r i e b e. 

"NV., Studiosus. 2'} .Jahr' nlt, anjjeklagt wegen Diebstahls ir: 1 Füllen 
(3 Überzieher und 1 Cigarrcnotui). Dieselben erscheinen ungenügend motiviert, 
weil W. in geordneten, anskömmKehen VerhSltnisseo lebte und mit den Gegen- 
aiSnden einen gewissen Kultus trieb. AV. litt auf Grund erblicher Helastung an 
hocberaitiL'eii Migräneanfün' n . I'^li iniin i skotoni , Gehörsliall i iiMf ioti' ti (Migraine 
•ophtalinu|ue). Lebhafte Schlatstoruiigeti. Hang, sich heindich tiegenstäude au- 
zueigoen, bestand von Jugend auf; Nuschsucht, Sammelwut. Lästig empfundene 
Zwaogaantriebe su widersinnigen, teilweise antisozialen Handlungen, deren Nicht- 
• befriedigung lebhafte körperliche Unlust^refühle und Angst erzentite. PciniKender 
Oräbelzwang. PhnDtasii'lü^'nerei. Pmlihneht. Ethische und intellektuelle Funktionen 
im übrigen intakt. Die Stehlantülie haben zwaugsarf igen, impuUiveu Charakter, 
treten mit einer Art aura (epiteptica?) ein und sind von lebhaftem Angst- 
alTekte begleitet. Unter diesen Umatänden spricht sich da* Qntachten des Yer- 



Digitized by Google 



96 



II. Die "Eng« nach der Temiaderten ZnreehnungifiUiigkeit ete. 



fassers dahin aus, daß der Grad der Unzurechuungsf äbigkeit iür die 
ia Frage kommenden HandlnDgen auf 75 Pros, sa «chStcen sei, d» das Ver- 
halten nach den Tuten und das volle Bevufilsein wahrend derselbeo immerhin 

auf fin ijrt'wissfs Mafi von freiem 'Willon schließen lassfn. Drr 7weifo Sachver- 
Btätidigc halt W. für voll zurechDUogsiähig, wenn auch seine ucuropathisckeo 
Symptome mildernd ina Oewielit fallen mögen. 
Urteil: 9 Monate Gefüngnia, 

VIll. Leichter Sc Ii w a c h s i n ti . 

W. W., 2öjühriger Bauernsohn, angeklagt wegen Meineids. Als Zeuge 
einer Rauferei war er Teileitet worden, zu Ounaten dee Beteiligten günstig aus- 

susigen. Beschränktes, leicht saggeatiblea IndiTiduum. Überstand eine GeftLagnis- 

psyrhosc. LieD sich bei der Untrrsdrhiitipf einreden, daß er den Gutachter bereits 
von früher her kenne. Wurde infolge seiner psychischen Widerstandsarmut ver- 
führt und zeigte sich, als er vor Gericht die ciniual genjachten Aussagen vertreten 
lonfOf Terwirrtf widerrief dieselben und kgte roUes Ckstllndnia ab. 

Resultat des Gutachtens: Die Bedingungen des §51 sind nicht ge- 
geben, obwohl der Angeklagfr- wp^ren seiner nn Scliwarhsitn) grenzenden Bc» 
achränklheit als vermindert zurechnungsfähig mildere ikurltilung verdient. 

Urteil: IJahr 9 Monate Zuchthaite (trots Zubilligung de« Milderungsgrundes 
dei Jl 167 ZiC I). 

IX. Angeborener SchwacheiDn. 

Xaver Sp., 21 Jahre alt, angeklagt wegen f ü ti f m al ig e r Brandstiftung 
ohne rrchtes 3Iotiv, ILlmliche Freude nm Brennoii-Sehcn. riüizliclic imiiiilsivA 
Zwangsantriebe zum Brandstiften. Sp. ist eine psychisch maugelbul't entwickelte 
Pereontiehkeit mit Schwachainn mittleren Grades. Verstockter, gegen £tziehungs> 
einllflase nnempfünglicker Charakter. Intellektuell schwach entwickelt trota der 
renotniiiisf ischen Neigungen. Unfähig, dii' nedeutung srim r Handlungen zu be- 
greifen. In hohem Grade gemeingefährlich, daher dauernde Deteotion mehr ZU 
empfehlen ab mehrjährige Freihoitaentztehung durch Strafe. 

Zwei SaehTerständige (darunter der VerfaMer) halten die Bedingung dea 
§ 51 für gegeben, ein dritter bült den Angeklagten nur für vermindert su- 
rechuungsfähifj. 

Urteil: 3 Juhre 6 Monate Zuchthaus, 10 Jahre Ehrverlust und Stellung 
unter Foliseiaafaicht. 

X. Exkibitioniamus. 

L., Portraitiualer, 31 Jahre alt, angeklagt wegen wiederholter Ezkibition. 
Phantasie timl Sinnlicliki it di s Jj. sind m it friilicst i-r Kindheit abnorm erregbar. 
Seit 20 Jahren excessive fast täglich geübte Uuauie unter Bevorzugung der be- 
gleitenden Vorstellung männlicher und weiblicher Geuilalien. Fand im Coitos 
keine Befriedigung. PrSsentierte seine Oenitalien mit Vorliebe öffentlich weib* 
liehen Personen g«'genüber, in der Meinung, dieselben dadurch geschlechtlich auf- 
zurpjrm. Das Exhibicren stand im Mittelpunkt seines Sexuallebens und bekam 
einen iswaugHartjgen Charakter. Daneben besteht schwere Neurasthenie mit tief- 
greifenden Charakterreränderungen: Energiekwigkeit, Weinerlicbkcit, Sellwtmord- 
ideen u. s. w. Zeichen geistiger Schwäche. Das Bxhibitionieren ist ihm volles 
Aquivalfnt für den GiMhlechtsgenuß und find« t aus organischer X«»fiprtiiip statt. 
Ethisch und intellektuell geschwächte Persönlichkeit. Für einen gewissen Grad 



Digrtized by Google 



II. Die Frage uaek der ▼emÜDderten Zarechoungsfiiliigkeit et«. 



97 



frcur WillftisbostiinmunEr b<*i den Handlungen sprAchon: Dio Vnrbf'ri^itung der 
beabsichtigten Exhibition. die Wahl des Ortea , die Zurückhaltung gegenüber 
männlichen Personen, die Einsicht io dM Uozuläasige des Thun« vnd die volle 
Srinneraiig an alle Einselhetteii denelbett. Dafifegeo spricht der psyehopachiadie 
Oesamtzustand. Bei Bemesssung der Zurechuuugsfähigkeit wurde vom Verfasser 
der Grad der WilleaseinschränkuDg, der psychischen Unfreiheit auf 70 ürad 
geschätzt. 

Urteil: Freiiprechgiig. 

XI. K X h i b 1 1 j 0 n i 8 Dl u 8. 
28 Jahre alt, Beamter, erblich belastet. In den Pubcrtiitsjahrcn mutueilc 
und solitire Onanie. Übertriebenes sexaeUes mMotaneleben. Exhibierte 60 
bis 60 mal vor Kindern and Erwachsenen. 1^90 Verurteilung in Geld- 
atiafe. 1899 TTrirat. IIKW) nou(^ Anklage wep^^n K .\ h i b i t io n. 

Das (Tutacbten stellt einen mäßigen Grud int •>IIi>k Miellen und moralischen 
Schwachsinns fest, mangelnde QefSUsreakiiou, Steigerung des Trieblebens, neur- 
asthenische Symptome, perrenes Oesekleditslebea ab ovo mit zwangsartigen An- 
trieben, jedoch keine förmliche Geistesstörung. Für einen gewissen Grad von Zu- 
rechmintrsfühipkrir sjirechen: mangelnde Selbsterziehung wider besseres Wissen, 
kein Versuch, der Kxhibitiou zu widerstehen trotz gerichtlicher Anzeigen, Auf- 
■uehen der Ptitxe und Gelegenheiten cor Befriedigung der perversen Gelüsfe, rolle 
Erinnerung an alle Tatumstände. 

Ge-^amfresnliaf : H o ( h <> i ;i li i g eml »der l c, aber nicht völlig auf- 
gehobene Z u r e i- h n u n g s 1 11 ii I g k e i l. 

Urteil: Freisprechung. 

XII. Paidophilia erotica. 

ö., Pharuiaceut, 31 J ahre alt, angeklagt w^eu Verbrechen wider die 
Sittlichkeit. Vorbestraft mit 16 Monaten Gefängnis wegen demelben Bestes. 
Erblich belasteter Psychopath. Seit dem 18, Lebensjahre bis jetst esecssive solitKre 

und uiutuelle Unnuie nii» homosexuellen Zwangsvorstellungen, insbesondere mit 
der Vorstellung von Genitalien der Knaben. Fatite tie niieux 6nialiger Coitus- 
versuch ohne Befriedigung. Paidophilia eroticu; selten homosexueller Ver- 
kehr mit Erwachsenen, Ergab sich dem GenuB von Morphium, Cocain und 
Kanipher. Anämische Konstitution. Zahlreiche neurojiathische Symptome im 
Sinne der Xeura.tthenie. Verfolgungsidren, Gedürhtni.ssrhw (iche. wechselnde (Je- 
mütslage. Verkehrte gewohuheitsiuäüig mit einem dasselbe Schlul'zinimer teilenden 
Kanfmannslehrliog seit Monaten. Schwacher Charakter, bcrnhföhig, Intellekt 
intakt. Fühlt .«ti< h gegenüber seiner Anomalie wehrlos. 

«Tiita l trii (i s Verfassers: ZurechiiungsfMhigkeit gans erheblich vermindert. 

Urteil: 1 Jahr 5 3Ioüate Gefängnis. 

Xlir. Paidophilia e r<> t icB. 

II.. K:iufin , .12 .laln ■ alt. atiircklugt w<'^»eii ^^)rnallIlle ii n z ü e Ii t i g r II und - 
lungiMi ip -.p. \ ersuch zur Vorniiliiiie d»'rselben in .'> Fällen un Kindern im A!'«'r 
von U— 12 Jahren. Erblich schwer belastet. (Jnunie seit dem 12. Lelx-nsijuhre 
mit der begleitenden Vorstellung kindlicher weiblicher Genitalien. Xeigung zu 
unreifen Personen. Anblick i'vent. B«"tastung kindlicher W(<iblu-her («enitulieii sind 
mächtig von Luvti^rtühlon iM tr.nt. wirken als Erregungsmittel für den Geschlechts- 
Y. Seil re nck - N otzing , .Studien. ' 



Digiii^ca by Google 



98 



II. Dt« Frage ttadi d*r verminderten Znreckniuigifiliigkeit etc. 



trieb, dt r utitiiittclbar ciarauf entweder tlurch Unnnie oder Coitus befriedigt wird. 
Coiius mit Erwachscuei; uhue &eeUäche Befricdiguug, aber zeitweite ah Schutz- 
mittel gegen die eis umittlieb empfandenen Anwandlungen vorgenommen. Be- 
stehen einer pa i d u p h i 1 i a crotica yera. Daneben neuraatheusche Schwindel« 
anfnile. ZwnDirsvorsTriluuo'f.ii. Hyperästhesie des Gehöra, gesteigerte Aeflexe. Stnn 
auf den Kopf im 14. Lebensjaiire. 

Gegen die freie Willenibeitini mung sprechen: die erbliche Be^ 
lastung. die früher als das normal«' (nsi lili clitslchen auftretende paidophilia erotica, 
(Iii Neurasthenie, «lus Verhalten wHhrend der drri Tnt* n dn i Vfrv-ui hc /ur Ver- 
führung von Kindern hiutereiusnder^ der dritte auf ofleuer StroUe augesichts 
mehrerer ihn yerfolgeader Personen). Auflerdem die aogenblieUiebe starke Er- 
regung infolge mehrwödbentlieker Abetinenx und die Herrselialt pädophilen 
Dranges trotz zahlreicher Korrekt urversuehe durch normalen Sexualverkehr. Für 
die fr« io W i II e n s b e t ä 1 1 g u n p : das Fehlen einer förmlichen Geistesstörung, 
das planniiiüigc Vorgehen bei den Haudluogcu, dos psychische Gleichgewicht im 
allgemeinen. Das Fehlen organischer Nötigung, die Höglielikeit einer Befriedigung 
durch Onanie nnd Coitus. Keine erweisbare Trübung de« Bf wiiGtseins. 

Resultat des (» u t ac- Ii 1 • n ^ ; Krtu-hürh vr rnii rniiif < Ziirrchtningsfiihigkeit, 
Urteil: Auuiüuue uiiliternder Lmstiinde, ti .Monate lö Tage Gefängnis. 



TS. 'S,, 30 Jahre alt, angeklagt wegen widernatSrIicber Unzuckt, be- 
gangen mit seinem Diener. Patient ist erblich schwer belastete hatte schon seit 
d( Iii H fji bfusjahre hnuinscxuelle Neigungen. Vom 12, Jahre an Wechselonauie 
mjl Knaben. Schlielibch iebiiafter honjosexueller Verkehr mit Leuten niederer 
Lebensstellung. IJjakulation trat schon ein, wenn er beim weehselonaoistisehen 
Versuch das Glied des Partners berührte. Horror feminae. Kittebchwere ITeur- 
esth' iiic> mit Zwanps/.u.stiiiiden. 

Das Gutachten steht auf dem Standpunkt. <laü die freie AVilleusbestiauuuDg 
weder ganz aufgehoben noch ToIl»tändig Torhandcn gewesen sei. X. ist daher 
Terniindert zurechnungsfähig. 

Urleil: 4 Monate Geläognis (spätere Begnadigung). 



B., 28 Jahre alt, Gelehrter, angeklagt >\ egeu widernatürlicher Unzucht 
(mit einem Knecht). Allgemeine neuropathische Disposition, Intolerans gegen 

Alkohol. Aus mutuoller Spielerei an den (ItMUfalieii währenvl der Pubertät ent- 
steht Wechscb)naiiie mit Altersgenossen und schlicUlich MÜlige lloniosexuaUtat. 
Tür eine psychisch defekte Veranlagung spredien auch aiidere 3Iomeute. wie der 
Zühlzwang, das Gefühl körperlicher Schrumpfung u. s. w. Die zur Last gelegten 
Handlungen wurden /.um Teil in aDgetrunkeuein Zustande vollführt. 

Indes>en boherrseht die j»atholügische Triebrichtung den Patienten nicht so 
stark, daii die freie Willeusbesliuiuiuug als ausgeschloaseu zu erachten wäre. Der- 
selbe erscheint wohl aber als vermindert zurechnungsfähig und ist einer mildeik 
Beurteilung zu empfehlen. 

Urteil: IVeisprechung aus juristischen OrUnden. 



XIV. Konträre Sexualempfinduog. 



XV. Eontrare Sexualempfind u II g. 




II. Die Frage nach der venDinücrten Zurechnungsfähigkeit etc. 99 



6. 

Schiursbemerkungen. 

Das Ergebnis meiner eigenen Beobachtungen ist nun eine fünf- 
malige Freisprechung unter 16 FSUen Temdoderter ZurechnungslShig- 
keit. Neon Angeklagte worden schuldig gesprochen ; das Bestdtat der 
Verhandlung bei einem jugendlichen Epileptiker blieb nnbekann^ dürfte 

aber nach der ganzen Sachlage auch zu einer Freisprechung geführt 
haben. !^in Freispruch erfolgte aus juristischeu Gründen. Demnach 
knramon eifcentlich nur 11 Fälle in Betracht mit Tier Frei* 
spr e r Im n t u und neun V erurt eilun c n. 

Was nun die Wirkung der Gutachten auf den Gerichtshut', resp. 
die GeschworeDen betrilTt. so läßt sich nicht leugnen, daß gar nicht 
selten die laieohaftiäu Äußerungen derselben über die fachmänoischen 
Gutachten zu Ungunsten der Angek)s|^n den Sieg davon tragen, auch 
mitunter in solchen Fällen, wo die sämtlichen SachTerstandigen gleich- 
mäßig den Angeklagten f&r unxurechnungsfähig erklären. So ist es 
z. B. viel leiditer, einen Exhibitionisten, der noch einen erheblichen 
Gnd von Willensfreiheit besitzt, zu einem F^eispmch zu verhelfen, 
als einem völlig unzurechnungsfähigen, epileptischen oder idiotischen 
Brandstifter. In einem derartigen, in München verhandelten Fall*) 
nahm der Gerichtshof den auf ..Sclmldig" lautenden Wahrspruch der 
Geschworenen nicht an , sondern verwies die Sache zur Yerliandhing 
vor ein neues Schwurgericht (nach 317 der Strafprozeßordnung). 
Nun sind aber weder Geschworene noch der Kichter in ihren Urteilen 
an die (nitachten der Sachverständigen gebunden. 

Auch aus dieäeia Beispiel erhellt deutlich, /u welchen oßeuüicht- 
licheu Widersprüchen eine Boehtsprechung fuhren muß, die nur die 
Wahl zwischen Freisprechung oder Unterbringung notorisch G«istes- 
kranker in Strafanstalten hat^ Die Schwierigkeit wäre behoben bei 
füniichtung staatlich organisierter Betentionsanstalten und Aufnahme 
des Begriffes der vermindertMi ZuiechnungsfiUngkeit in das Straf- 
gesetzbuch. 

In zweifelhaften Fällen tut der Sachverständige wohl daran, den 
Grad der Zurechnungsfahigkeit resp. freien Willensbestimmung bild- 



1) Fall Schifßl. Vi rhiind« It am 2i?. Oktober 1900 wegeu Braudstiftung^ vor 
dem oberbayrischen Schwargonolit. Der Oberarzt Dr. Focke erklärte deu An- 
geklagteu für «ineo ganz uuzurrciinuugsfähigeu Idioten (nach scchswüchcullicher 
Beoliaditang in der Kreisirrenftoitiilt). 

r 



Digitized by Google 



100 



n. Die Frag» nach der Termindtttan ZofeohttttngiiflUugkeit etc; 



lieh in Prozenten auszudrücken, je nach dem l^herwiegen der Argu- 
mente, welche für oder gegen dieselbe sprechen. Damit hat der Ge- 
richtshof die oft genug dem Gutachter vorgelegte Frage, ob die An- 
wendung des § 51 gegeben ist oder nicht, selbst zu entscheiden und 
zu verantworten. 

Die Bestrafung auch bei ÄDnahme mfldenider Umatfiiide kann 
auf das mehr oder minder erkrankte Gehirn kaum EUnfluß ttben; die 
jfibrlich zunehmende Ziffer der verurteilten ^) Verbrecher und der Rück- 
fälligen zeigt, vie mangelhaft die Rechte der GeeeUachaft durch die 
bestehenden Gesetze geschützt sind. 

Die natürliche uu<1 angemessenste Reaktion ist, wie Aschaffen- 
bürg') richtig bemerkt, der Versuch, die Krankheit, an welcher der Täter 
leidet, zu heilen, und wenn das nicht möglich ist. durch Intcrnirung 
der Täter in einer Irrenanstalt die Otientlichkeit schiitzeu. Die zahl- 
reichen, so oft zu einem Konflikt mit dem Gesetze führenden Intoxi- 
k&tionszustünde durch Alkohol, Morphium, Cocain sowie zaidreiche 
Fälle sexueller Perversion bieten hier vor allem ein dankbares und 
Iruchtbares Gebiet lur liie arztlich-püdagogische Taligktit. Die Furcht 
Tor Strafe spielt bei solchen Individuen eine sehr untergeordnete RoUe. 
Nach Aschaffenburg würde eine milde Bestrafung sogar erleichternd 
auf die AnsfOhmng eines Verbrechens wirken. Dieser erfahrene Autor 
erlebte mehrfach, daß psychopathische Personen im Gefühle ihrer 
sozialen ünbrauchbarkeit um recht lange Strafen baten in der vielieicht 
Tergeblichen Hoffnung, inzwischen ihre mangelnde Enrrgie sich krSf* 
tigen zu sehen, jedenfalls aber in dem richtigen Gefühl, daß eine knrzF 
zeitige Strafe keinen Eindruck hinterlassen werde. 

Demnach haben Staat und Gesellschaft selbst ein dringendes Jil- 
teresse an der gesetzlichen Ai)erkenunng der verminderten Zu- 
rech u u n s fä h i g k *• i t . au einer Änderung des ..SiralVollzuges und 
Errichtung von Anstalten, in drncn Arzte und Lehrer zusammen- 
wirken, um aus haltlosen, abnormen Menschen womöglich noch 
brauchbare Glieder für die GeseUschatt heranzuziehen!^ 



1) Die Zahl der Verbrechen wider die Sittlichkeit in Proulien ist in acht 
Jahren Ton 1887 bii 1895 rou 7400 auf 14700, also auf das doppelte gestiegen. 

2) Ho che: Handbuch der geriehtl. Pflychiatrie. Berlin. 1901. S. 37. 



Digitized by Google 



IL Die Frag« nach der TeriDuiderteii ZaredinuiigsflUitgkeH «te. 101 



Literatar. 

Die hatiptaldiliehiten Quellen sind iu der Arbeit lelbit angegeben. AmfOhr- 
Üchere Litoratarzusammenstellungei) findet iiiaii iu: 

1. Uoche, Uaadbuch der gerichtl. Psychiatrie. 1901. 

8. Krafft-Bbing, Oeriohtliche Psychopathologie. 1900. 

8. Kirn, Über geminderte Zurechnungsfähigkeit. Vierteljahmelirift fSae ge- 

ru-htlifh.' M.diziti. 1888. Bd. XVI. 
4. iiretener. Die Zurechnuugafähigkeit als Gesctzgebungslrage. Berlin. 

18ü7 (Mühlbrecht ). 
6. AlJgem. Zeitsdiriil fBr Fiycliiatrie. 



III. 



Bie gerichtlich medizinische Bedeutimg 

der 8ii^g:estioii. 

Vortrag gehalten geleg''iitlicli des zweiten interuationalen Kongresses 
für experimeDtelleu und therapeutischen Hypnotismus m Paris 

(August 1900).^) 



1. 

Einleitung. 

Die gerichtliche Medizin ist in erster Linie firfahrungs wissoD'- 
schaft und hat als solche mehr mit Tatsachen und Beobachtungen 
in der Praxis 7.n rechnen, als mit psychologischen Möglich- 
keiten. Die L'-im- vom hypnotischen und suggerierten Verbrechen 
wurde seit etwa 2 Jahr/elmteu auf zahkeichen wissenschaillichen Kon- 
gressen , in der Fachlitteratur und in EinzeldarstelluQgeu von der 
psychologischen und foreusen Seite so eingehend bearbeitet, daß heute 
die luage nach dem Verhältnis der Praxis zur Theorie mit Recht auf- 
gefworfen werden kann. 

Von diesem Gtadchtspunkt aus sollen nnn die nachfolgenden Be* 
merkongen in Kfine ▼ersuchen, einige für die geiiefatsfinEtlicfae Be- 
gutachtung wichtigen Punkte aus dem Gebiet der rerbiecherischen 
Anwendung des Hypnotismns und der Suggestion nach dem gegen- 
wärtigen Standpunkt der Sachlage schärfer zu präzisieren. 

Die eignen Erfahrungen, die ich im Laufe der Jahre als forenser 
Sachverständiger in einer Anzahl von Fällen dieser Art zu sammeln 
Grelegenheit hatte, bieten ein um so wertroUeres Hilfsmittel in der 

1) Publhdert im Archiv für Krimioabiithropologie 190O. Bd. IIL 



Digitized by Google 



Dio gcrielitlieh medismueh« Bedeutung der Suggeition. 103 



kritischen Behaudluug des Gegenstandes, als die neuere gerichtsärTit- 
liche Literatur verUiiltnisrotißig ann ist an kasuistischem Material über 
die kriminelle Befleutiiog der Suggestion. 

Dio bishorigi'u Arbeiteu über den Gegeüstaud, speziell die Dis- 
kussionen der Pariser und Nancyschnle, die Erörterongen Belboeuf- 
Li^geois, dio bezüglichen Abhandlnogen von Gilles de la Tou- 
rette, ton Bernheim, Lilienthal, Forel etc. darf ich in dem 
Ejdse TOn FadikoUegen als hinlänglich bekannt TOranseetEen. 

Die strafbaren für unser Thema in Betracht kommenden Hand- 
lungen lassen sich am zweckm&ßigsten in 3 KIass(>n einteilen: 

1. VerbrechenanHypnotisierten, wozu im weiteren Sinn der 
fahrlässige Mißbrauch hypnotisirter Personen gerechnet 
worden kann. 

2. Verl) rec hon, welche mit Hilfe hypnotisierter P ersouen 
ausgetührt werden. 

3. Kriminelle Handlungen, herbeigeführt durch Sugges- 
tion im wachen Zustande. 

In den bisherigeu Arbeiten kommt der Unterschied zwischen dem 
rein hypnotischen Verbrechen und dem im Wachiustande suggeriwtsn 
nidit scharf genug zum Ausdruck. Nach der Anf&ssnng einzelner 
Autoren handelt es sich bei der im Wachzustande suggerierten Straf- 
tat auch um das B«tehen eines latenten hypnotischen Bewußtseins- 
znstandes. 

Bei der Verachiedenartigkeit der Bcgriffsdefinition in der Lite- 
ratur, welche zu Unklarheiten und Miliverständnissen in foro führen 
kann, nn.rr,. |i,V|. voraiisL'o.schickt werden, was unter j.Huj^gestion'' und 
unter „Hypnose*' nach meiner Auffassung zu vorj^tehen ist. 

„Suggestion^ bedeutet: Einschränkunji: der Assozia- 
tionstätigkeit auf ^>e9timmte ß o w u lU s o i n s i n h a 1 1 e i Vur- 
steiiungeu, Gefühle, Strebuugeuj. lediglich durch Inansprucii- 
nahme der Erinnerung und Phantasie in der Weise, daß 
dar Einfluß entgegen wirkender VorstellungsTerbin* 
düngen abgeschwächt oder aufgehoben wird, wodurch 
sich eine Intensitätssteigerung des suggerierten Be* 
wußtseinsinhaltes d. h. eine Steigerung derVorstellnngs- 
energie über die Norm ergibt. 

Bei Individuen, die im Augenblicke der Erzeugung 
des psychischen Inhaltes noch nicht über Gegenvorstel- 
lungen verfügen (Kindern. Tieron, Wilden, Ungebildeten) kenn- 
zeichnet sich der betreftentie Bewulitseinsinlialt erst 
dann als suggeriert, sobalder seine Intensität (= Energie) 



Digitized by Google 



III. Die gerichilich medisiDische Bedeutung der SuggestioiL 



gegenüber den erst nachträglich gebildeten (im Sinne der 
Konaktor mä HrauDUig) entgegen virkenden Vorstellangs- 
▼ erbindungen in der genaonten Weise behauptet 

Die „Hypnose^ am&Bt auf dem Wege der Suggestion 
herbeigefiilirte aeblafartige oderSchlafsastftnde (Tom ein* 
geengten Wachsein, partiellen Schlaf bis zum tiefen Somnambidinnus 
mit Amnesie im Sinne der Nancyschule). 

Für den hypnotischen Dissoziationszustand chanüctenstisch ist also 
das Bestehen irj^end welcher schlafartiger Symptome. 

Die überfränge voi^ deüi suggestiven Wachzustände /ur Hypnose 
einerseits, zum normalen Wachzustände andrerseits sind tlüssii^e , all- 
mähliche, und die Aufgabe des gerichtlicheo Sachverständigen wird 
darin bestehen müssen , je nach dem Vorwiegen der Merkmale des 
Wachseins oder des Schlafes seiue Eutächeiduug zu treöeu. 

Strafbare HamKungen an HypnotialartM. 

In der Kategorie der au hypnotisierten Personen be- 
gangenen strafbaren Handlangen nehmen die Sittlichkeite- 
del ikte den ersten Platz ein. Die Literatur berichtet über eine 
Anzahl solcher Fälle (Fall Ca stell au, Fall Levy, in der von Kraft- 
Ebing zusammengestellten Kasuistik finden sich Beobachtungen von 
Bellauger, Laureut, Ladame, Brouardei, tülles de la 
Tourette etc.). In diesen Fällen wurde in der Kegel das un- 
zweifelhafte Vurhaudeust'in eines hypnotischen schlaf- 
artigen Zustandes während der Handlung erwiesen; die- 
selben endigten zumeist mit der Besträfaog des Tftters. Zur Aus- 
führung solcher schändlichen Attentate sind allerdings tiefere Hypnosen 
erforderlich, in denen der Hypnotisierte ein Automat des Hypnotiseurs 
geworden ist. Häufig handelt es sidi dab^ um hysterische Schlaf- 
zustände (Lethargie). Die Gesetzgehnng der verschiedenen Länder 
bietet einen genttgenden Schutz gegen solche Delikte im Zustande 
künstlich hervorgerufener Willenlosigkeit, der vergleichbar ist mit dem 
durch Chloroform, durch Narkotika oder Spirituosen hervorgenifenen. 

Dieser Punkt hat insofern eine gewisse praktische l^edeutung, 
als garnicht selten LHieuhyj)n<)tiseure die Versuchsobjekte geschlecht- 
lich miI5braucheD, so in dem von Lada nie bericliteten Fall: in einer 
Beobachtung von mir handelte sich um einen Maler, der sein Modell 
hypnotisiert uud geschlechtlich mißbrauckl hatte. 



Digitized by Google 



III. Di« g«rieht]icli mcdiziniteh« Bedeotang der SnggesiicMQ. (05 



£^ besteht aber in solchen Zuständen des tiefen Somnambulismiis 
nicht immer volle Passivität. Wie die interessanten Versuche von 
Delboeuf zeigen, c^tzen manche Hypnoti!>ierte den Angriflfen auf ihre 
Schanihaftigkeit belügen Widerstand entfjepen. Aber auch das Gcgen- 
teii ist möglich, indem ein raffinierter Hypnotiseur das somnambule 
Opfer durch Suggestion zu einer aktiven Teilnahme an dem sexuellen 
Attentat veranlassen kann. 

So entnehme ich aus der Autobiographie eines meiner Patienten 
folgenden Fall: Derselbe versetzte eine junge Frau, die an der Seite 
eines welken Greises das Leben Tertranerte, in tiefen Somnambnliamos 
und be&bl ihr, in diesem Zustande an seinem GUede onanistiaclie 
Manipulationen vorsunebmen, was sie auch tat, ohne sich nach dem 
Erwachen daran zu erinnern. Der eeznelle Verkehr wurde 3 Monate 
in dieser Weise fortgesetzt und ist niemals entdeckt worden. Die 
Dame hatte übrigens ein leidenschaftliches l^aturell und liebte ihren 
Verführer. Wahrscheinlich hätte er sie auch im wachen Zustande 
besitzen köonen. Aus Furcht vor Komplikationen wählte 4^er den 
eigenartigen livpnotischeu Weg. 

Riae ^veitere Beobachtung dieser Art bietet das folgende Beispiel 
aus meiner Erfahrung: 

Frl. v. B., Tochter eines höhere« Offiziers, wurde von einem 
Geistlichen hypnotisiert, im Zustande des .Somnambulismus delioriert 
und wiederholt auf diese Weise geschlechtlich mißbraucht Nach 
9 Monaten Geburt eines Kindes. Aus Furcht vor Skandal unterblieb 
die gerichtliche Verfolgung des Täters. Als sich Frl. t. B. später 
verlobt hatte, ^ benfitzte ihr Geliebter die aus den früheren Versuchen 
zurückgebliebene Empfänglichkeit seiner Braut zu hypnotischen Expe- 
rimenten, entlockte ihr Greständnisse über alle möglichen Details ihres 
inneren Lebens und diktierte ihr bei Meinnngsdifferenzen per Suggestion 
seinen AVillen im Zustande tiefer Hypnose. Erst durch mein ärzt- 
liches Eingreifen und energische hjFpnotberapeutiscbe Behandlung gelang 
es, diesem T^nfug zu steuern. 

Bei sexuellen Delikten setzt die natürliche Schamhnftigkeit und 
gute Erziehung verbrecherischen (lelüsten ninen Damm entgegen, der 
nicht durch einige Gegensuggestionen nmzuNverfen ist, während anderer- 
seits sinnlich leicht erregbare Personen viel leichter das Opfer der 
suggestiven Verlumung werden. Zwischen hartnäckigem ^\'iderstaud 
gegen die Suggestion und absolutem Gehorsam existieren alle Schat- 
tierangen. Bei etwa vorhandener Amnesie nach dem Erwachen kann 
man in einer neu hervorzurufenden Hypnose die Erinnerung an das 
Vorgefallene wecken und so Anhaltspunkte für eine Überführung des 



Digitized by Google 



106 III. Die gerichtlich medisiniache Bedeutung der Suggeetioo. 



Täters gewinn* n. (Fall von Dolbooiif. Geschlechtlicher MiO^nniich 
eiuer hypootisierien Frau durch einen Arzt. Darstellung des Her- 
ganges in neuer von Delboeul hirvorgerulener Hypnose.) 

Eines der interessantesten Beispiele dieser Art aus neuerer Zeit 
bietet der vor dem oberliayrischeu Schwurgericht 1895 verhand»-lte 
Proseß Czynski, bei welchem ich in Verbindung mit Grashey, 
Hirt und Frey er als SachTorstSDdiger t&tig war. Der Magnetiaeur 
und Laienhypnotiseiir Czynski hatte sich einer Urkundeni&lschnQg 
und der Vorspiegelnng einer Traoerceremonie (mit den kirchlichen 
nnd eiTilteehtUohen Fernen) scbnldig gemacht, nm da« Vermögen einer 
reichen un1)escliolteneQ Dame aus den besten Ständen fUr sich zu ge- 
winnen. Für diese beiden Handlungen (Gebrauchmachung einer öfTent- 
Heben Urkunde und Anetiftiing zur Anmaßung eines Öffentlichen [geist- 
lichen] Amtes) wurde er zu einer GefHognisstrafe Ton 8 «lahren ?er- 
urteilt. 

AuRerdem hatte er dl» Baronin 2u Heilzwecken hypnotisiert und 
ihr iu einem hypnotischen Zustande, der so tiet war. daß sie ihren 
Willen nicht mehr zur Geltung bringen konnte. — seine Liebe unter 
Küssen und Zärüichkeiten suggeriert. Schließlich erzielte er nach 
6 — 8 Hypnosen dieser Art, daß die Patientin sich ihm hingab, ob- 
wohl sie keine Gegenliebe ftlr ihn empfand. Ihr Widerstand war 
durch hypnotische Maßnahmen , Liebessuggettionen in Verbindung mit 
körperlichen Berührungen sowie durch Einwirkungen auf ihr Phantasie^ 
leben im wachen Zustand künstlich gebrochen worden. Czynski 
hat also mit Hilfe lege artis angewendeter Suggestion 
die Annahme seiner Liebeswerbung erzielt. Wenn die 
Geschworenen den Angeklagten auch von diesem Teil der Anklage ( Ver- 
brechen wider die Sittlichkeit) freisprachen, wahrscheinlich aus Gründen 
juristischer Interpretation des Gesetzes, od^ r :ihcr, weil die Baronfsse 
sich auch s])üter freiwillig i!irem Verführter inngab. — so kann doch 
über den Dolus di s Angeklagten, also über die ver- 
brecherische xVusbeutung des hypnotischen Zu Standes 
durch zielbewußte Suggerierung kein Zweifel bestehen. 
In diesem lehrreichen Fall wird also das Urteil des hypnotischen i^ach- 
mannes anders lauten müssen, als das des Juristeo. 

Ungleich häufiger, als wirklich erwiesene SitÜichkeitsdelil^ an 
Hypnotisierten sind fälschliche Anschuldigungen Ton Ärzten 
nnd Hypnotiseuren wegen geschlechtlichen Hißbrauoha. 
Auch bei wiritlichen Verfuhrungen ist der JSinwandf das Opfer einea 
suggestiven Zwanges geworden zu sein, nicht selten. Uberhaupt sind 
fälschliche Anschuldigungen wegen SittlichkeitsTergehen sehr häufig. 



Digrtized by Google 



III. Die gerichtlieb medisinuehe Bedeatuag der Soggestioo. 107 



Nach Schauenstein whhmi von Ii^oo in Frankroich während der 
Jahre ls5ii— 1854 ein^iereicht* m Klaiioii »licsor Art 5imi luibfgriindet 
uud in Kuglaüd sollen auf < iiku (.'fwieseneu Fall zwüll' unerwieseDt» 
korampn. Neben dm SinDestauschimgeu und Wahnidetn Yerrückt<*r 
veranlassen besonders Hysterische und Ivinder solche Ankiaf^cü. Da 
wenigstens in Deutschland die Becbtsprechung den Zeugenaussagen 
Ton Kindem einen psychologisch nicht za rechtfertigenden Wert bel- 
len pflegt, so Terüngt dieser Punkt die besondere Aufinerksainkeit 
des Gerichtsarztea. In dem folgenden Beispiel wnrde erst durch das 
Yom Verfasser elogehoice Gutachten die Staatsanwahsehaflt reranlaßt xur 
Einstellung der Untersuchung, die bereits drei Monate lang gegen den 
Angeschuldigten geführt war. 

Der Assistenzarzt eines größeren Kraukenhauses in München hatte 
in seinem Zimmer ohne Zru^^-n die 1."^ jährige Magdalena S. zu Heil- 
zwecken hypnotisiert imrl die Unvorsichtigkeit bei^ansren, während der 
Dauer des SchlafÄustandes in Gegenwart der Hypnotisierten seinen 
Urin zu entleeren. Kurz uacli diesem Vorfall wurde von Seiten der 
Kgl. Staatsanwaltschaft die Anklage gegen ihn erhoben, er habe dem 
hypnotisierten Kinde sein Glied in den Mund gesteckt und ihr in den 
Hand uriniert Diese Anklage stützte sich auf die Aussage des 
13jährigen Kindes. Anfgeforderti mich gutachtlich Aber diesen Fall 
m ftußem, erkannte ich bald nach genauer PrUfung des Tatbestandes, 
nach Untersuchung des Kindes, daß es sieh nur um eine traumhafte, 
iUusionierende Verarbeitung von Wahrnehmungen im hypnotischen Zu- 
stande haudle und zwar im Aussoblnß an den Vorgang des Urinlassens. 
Die retroatiYen Psendo-Reminiszenzen im wachen Zustande waren 
durch Phanta9ietätis;koit und Besprecliun^ mit den Angehörigen iilrer- 
trieben worden, l ud so wurde das einfache Produkt falscher, auto- 
suggc^tiver Deutung von Wahrnehmunj^en in der Hypnose uud von 
rückwirkiiider Erinnerungsverfälschuntr zur Unterlage einer so 
schweren Anklage, welche die ganze Zukunft des Kollegen zu ver- 
oichteu drohte. Infolge des (äutacbtens wurde, wie erwähnt, das Ver- 
fahren eingesteUt. 

Im Anschluß an das ?on den Terschiedenen Konflikten mit dem 
Gesetz bei weitem am häufigsten Torkommende Sittlichkeitsvergehen 
an Hypnotisierten, möge noch kunt das Verbrechen wider das 
keimende Leben Erwähnung finden, das immerhin bei manchen 
weiblichen Personen mit großer Empfänglichkeit für Suggestionen im 
körperlichen Gebiet möglich erscheint, tiaurent berichtet einen Fall 
dieser Art, in welchem ein Student der M' diziu seine durch ihn in 
die HofihuDg gekommene Cousine hj-pnotisieite und ihr die Symptome 



Digitized by Google 



108 



Iii. Die gerichtlich medixiniache Bedeutaog der öuggestioo. 



des Abortus fHr eine bestimmte Stunde (4 ^oh^ance) suggerierte. Der 
Abort trat pünktlich ein. 

Da der Gesebleehtstrieb sich mit grdfieier Gewalt geltend macht 
als der Eigennnts, so sind auch EigentumsTergehen (Dieb- 
stahl, Beranbnng etc.) an Hypnotisierten nicht von derselben 
praktischen Bedeotong. Keines Wissens ist bis jetzt kein typischer 
Fall dieser Art Gegenstand einer Gerichtsverhandlung gewraden, 
wenigstens berichtet die Fachliteratur darüber nichts. Allerdin^ liest 
man hier und da in Zeitungen Romnngeschichten von Hvpnotisierungen 
im Fispnbahii('OU])('' /nm Zwecke der Beraubung. Hei der rnsicher- 
heit des Erfolges dürfte der \ erbrecher ceteris paribus bes tr tun, 
dem sicher wirkenden Chloroform den Vorzug vor der Hypnose zu 
geben. 

Kiiie U nt e rs (' Ii i e 1) u 11 ^ von Kindern (Substitution eines 
Knaben für ein ueugcboreues Mädchen) küuntc wohl inszeniert werden, 
seitdem man im Staude ist, Gebarten ganz im hypnotischen Zustande 
▼erlaufen zu lassen. 

Bei allen Vergebungen dieser und fibnücher Art ist der hypno- 
tische Zustand zu beurteilen» wie eine Narkose, bietet also fdr die 
Recht8i»echnng kein NoTnm dar. 

Größeres praktisches und forensisches Interesse erfordert die 
Körperverletzung hypnotisierter Personen. Auch eine 
▼orsätzliebe Körperverletzung wäre, wenn auch selten vor- 
kommend, doch denkbar, wenn z. B. jemand, um dem Militärdienst 
zu entgelien. sich eine Krankheit suggerieren ließe (Konflikt mit 223 
des Deutsclu n K.-Str.-G.-B.s). Theoretisch muß auch die Frage be- 
jaht werden, ob man unter Urastauden jemand zum Selbstmord 
durch hvjiäiotische Suggestion veranlassen könne. H \ {»notisierungen 
ohne Wissen und Willen der Versuchs})erson oder gegen 
deren ausgesprochenen Willen kann nach deutschem Gesetz 
Bestrafung wegen Freiheitsberaubung nach sich su^en (§ 289 des 
Deutschen R.-Str.*G.-B.s). Daß eine solche bei manchen Personen 
möglich ist, darUber besteht kein Zweifel. 

Zur fahrlässigen Körperverletzung gehören die leider so 
h&ufig zu konstatierenden Gesundheitsbeschftdigungen durch reisende 
Hypnotiseure, durch kritiklose Laien und professionelle Schwindler,: 
durch Kurpfuscher, Magnetiseure, durch spiritistische llbungen und 
sonstige mystische und abergläubische Zeremonien (Somnambulen* 
kaViinets). Das deutsche (Jesetz bestraft die fahrlässige Körperver- 
letzung mit Gefängnis bis zu zwei JMliren und erwähnt dabei die Ge^ 
fahren des Gewerbebetriebs der Kurpfuscher ausdrücklich. 



Digitized by Google 



III. Die geriditlieh medisinbcfa« Bedeutans' der Suggestion. 



109 



. Eine fahrlässige Körpeirerletzung dürfte immer yorliegen, sobald 
sieh nachweisen läßt, das bei Vornahme hypnotischer Ex- 
perimente, welche körperliche Nachteil o der Versuchspersonen zur 
Folge gehabt haben, nicht die erforderlichen \ ursichtsmaßregeln ange- 
wendet wurden. Eine große Gefahr bieten heute noch immer die 
planlosen liypnotischen Experiraentr, welche zur Befriedigung einer 
eciiaulustigeu Menge in üti'eutlicheu Lokalen, oder wie vielfach iu 
Deutschland ttblieb« in geschlossenen GeseUschaften, spiritistischen 
Vereinen, SomnambulenkabinetB oder anch in Sftlons Torgenommen 
werden. Hinreichend bekannt sind auf solche Anregung hin ent- 
standene hypnotische Epidemien (z. B. in Breslau, Pforzheim, Mai- 
land, in Kasernen, Knabenscbnlen, Pensiooaten etc.)* Schon vor mehr 
als zehn Jahren hat Gilles de la Tourette in seinem ausge- 
zeichneten Werke die Gemeingefahrlichkeit abergläubischer Be* 
strebnngen dieser Art in Paris erörtert. Das von ihm während dreier 
Jahre gesammelte Beweismaterial ist geradezu erdrückend, — und 
dennoch haben polizeiliche und gesetzliche Maßregeln in manchen 
Lniidprn es nicht vermocht, die Gefahr der Ausbeutung hypnotischer 
Zustande durch kritiklose Laien zu beseitigen. 

So berichtet z. B. der in Deutschland tätige Laienhypnotiseur 
Reinhard Gerling 1995. daß er wälinnd des .laiires lb94 nicht 
weniger ulä 232 Experimeutalvorträge über den Hypnoiismus gehalten 
habe; obwohl diesem Manne die notwendige medizinische Vorbildung 
fehlt, stellte er — seinem eigenen Bericht zufolge — mit nicht 
weniger als 7000 Personen hypnotische Versuche an. Sein Lehrbaeh 
über die Anwendong des Hypnotismus empfiehlt er jedermann zom 
Haasgebraach. Die Verwerflichkeit solcher Popularisierung einer an 
sich guten und für Heilzwecke unentbehrlichen Sache wird wohl kaum 
bestritten werden können. 

Die Gesundheitsschädigungen, welche infolge Mißbrauchs hypnoti« 
scher Prozeduren eintreten können, sind ja hinreichend bekannt, 
so daß ich sie an dieser Stelle nicht von neuem aufzuzählen 
brauche. Besonders wichtig erscheint indfssf^n unter diesen die 
MögUchkeit, daß durcli unrichtiges .Manipuhen-n in den Ver.-^ueh*<- 
personen latente Dispositionen m Erkrankungen, hysteriselien. epilep- 
tischen, psychopathiechen Anfidlen u. der;:il. geweckt werden können. 
Neuerdings bat RecUtsamer auf ein noch wenig beachtetes Übel 
anfinerksam gemacht, das ist die „Magneto-" oder „Mypnoso^'*Manie, 
fergleichbar dem Morphinismus, nämlich die krankhafte j^eiguug, sich 
immer wiedw in Hypnose Tersetzen zu lassen. Dafi auch selbst eine 
unrichtige Technik wenig erfahrener Ärzte Gesundheitsstörungen her- 



Digitized by Google 



110 



HI. Di« geriehtlich meduiniselie Bedoutung der Soggestioo. 



vorruli II kann anstatt der erwarteten Heilerfolge, das haben die ron 
mir lu einer kleinen Schrift kritisch zergliederten hypnotischen Ver- 
suche des Dr. Friedrich im Mtlnchener Krankenhause links der Isar 
gezeigt. 

Ich selbst konnte in einem Jahr an niebt weniger als sechs Per^ 
sonen, weldie bei hypnotischen nnd spiritistiichai Versuchen Ton 
Laien als Medien gedient hatten, Gesnndheitsbescbftdignngen be- 
obachten. 

Eine traurige Berühmtheit erhielt vor mehreren Jahren der durch 
die Ungesobicklichkeit des Laienhypnotiseurs und Brunneumachers 
Neukomm — verschuldete Tod des Frl. Ella v. Salamon (in Ungarn). 
Ein»' tiefe Ohnmacht, luTToriierufen durch aufregende i^iiggestionen 
im Zustande des Somnamhulismus hatte den Tod zur Folge. Eine 
Kommission von Sachverständige!) äulit rte sich dahin, daß ^'eukomm 
der fahrlässigen Kün^erverletzung mit tödlichem Ausgang schuldig 
sei. (Näheres im Anhang.) 

Wie aus den wenigen Bemerkungeu bereits hervorgeht, ist die Ge- 
fahr Terbrecherischer Ausbeutung von Personen im hypnotischen Zu- 
stande ?iel geringer, als diejenige des Mißbiauchs Hypnothierter durch 
Ünkundige, Magnetiseure, Kurpfuscher, sowie bei öffentlicli^ und pri- 
vaten Schaustellungen und zn abergläubischen Zwecken. 

Deswegen sollte, wie das oft genug Ton erfahrenen Fachkollegen 
vorgeschlagen wurde und auch heute Ton neuem betont werden muß, 
die Anwendung des Hypnotismus nur Ar/ten gestattet sein zu Heil- 
zwecken und wissenschaftliclien Studien; dagegen müßte jede ander- 
weitige Anwendung des Hypnotismus bei Strafe rerboten werden. 



3. 

Verbrechen mit Hiife Hypnotisierter. 

• 

Während bei den strafbaren Handlungen, die bisher Gegenstand 
unserer Betrachtung waren, der Tatbestand in der Kegel einfach und 
klar zu Tage liegt, stellt die Frage der Ausführung ron Ver- 
brechen durch hypnotisierte Personen ein viel umstrittenes 
Problem der gerichtlichen Psychologie dar. Die Heinnogsdifferens 
darftber geht so weit auseinander, daß einige Autoren wie Fuchs, 
Benedikt diese Möglichkeit überhaupt in Abrede stellen, während 
andere, wie L i e g e o i s und Liebe ault dieser Form des hypnotischen 
Verbrechens eine weitgehende Bedeutung für unser Bechtsieben zu- 



» 



Digitized by Google 



III. Di« srerichtUeb mcditinifehe Bedeutuner der Suggestion. 



III 



inesseu. Kinen TermitteindeD btaudpimkt ueiimeu Beruheim und 
Forel eiu. 

Sehr sachkundig beschreibt Jules Clarf'tie in seitnr Novelle 
„Jeaü Moriias" eiu solches hypnotisches Ycrbrechen. Es ist eiae 
hinlänglich bekannte Tatsache, daß man hypootisch und post- 
liypootisch alle möglichen, also auch krimiiwlle Haodlungeu suggerieren 
kann. Die zahlreichen zur Prüfung dieser Frage in Kliniken imd 
Laboratorien angestellten ESxperimente nmfaeeen Köiperrerletaiingen, 
Diebetahle, Erpreasang von Unterschriften unter Schuldscheine und 
Testamente, DennnziationeUy Entlocknng von Geheimnissen, Abgabe 
falscher Zeugnisse. Ja ganze Mordszenen sind mit Hilfe Hypnotisierter 
inszeniert worden. Zu den raffiniertesten TUcken der Posthypnose ge- 
hört die Suggerierunp; der frrien Willensentsehlusses für die Tat. Alle 
diest' Rxpprimente sind trotz ihres hohen jisyrhologischen Interesses 
nicht beweisend, da sie wie Theatercuups mit untangürhen Mittehi und 
unter L'mstäuden angestellt wurden, die eiu wirkliches Verbrechen Ter- 
hinderten. 

Wie der Träumende oft noch das Bewußtsein besitzt, daß alle 
seine phantastischen Erleboisse doch nur ein Tniam. und keine Wirk- 
lichkeit sind, so haben offenbar auch riele Somnambule bei der 
dramatischen Inszenieraog solcher Verbrechen noch das Geftthl der 
Unwirklichkeit der Situation, und wissen, daß diese Handlungen nur 
zum Schein markiert werden sollen. Dafür spricht jene Klaue von 
Dell)oeuf angestellter wichtiger Versuche, in denen dieser Schein der 
Unwirklichkeit durch die Versuchsanordnuog vermieden wurde. So 
weigerte sich z. B. ein junges Mädchen in tiefer Hypnose, sicli Tor 
Männern völlig zu entkleiden. So lührte ein von mir oft zu Heil- 
zwecken hypnotisierter und liir Hi ilsuggestionen sehr empftiuglieher 
Arzt meinen Bnfehl. postliypuotisch meinen Spazierstock zu stehleo. 
nicht aus. Kurz, diese und zahln iche andere Versuche zeigen, dali 
die Wirksamkdt der Suggestion ihre Grenze besitzt, daß die Hyp- 
notmerten mitunter den Eingebungen heftigen Widerstand entgegensetzen. 

Denn die Wirksamkeit der Suggestion hängt in hervorragender 
Weise ah von dem Grade der indiTidnellen Empfönglichkeit So wird 
in der Regel eine Suf^stion zu Hdlzwecken gern und ohne Wider* 
streben von dem Patienten angenommen; sie ist dem Patienten sjm.- 
pathisch und wird verstärkt durch den Trieb, gesund zu werden. 

Ganz anders liegt der Fall l>ei Eingebungen unsympathischer oder 
unmoralisclu r Art. Die durch die ganze Erziehung eingepflanzten, 
während vieler Jahre gepflegten ethi«?chen Gegenrfirstellungt u der 
normalen Individualität lassen sich nicht durch einen psychischen iShoki 



Digitized by Google 



IIS 



III. Die geriehtlich mediainUehe Bedeutung der Suggestion. 



durch eiüe unmoralische Vorspiegelung entwui/eiu. Und ihre Wirk- 
samkeit ist auch iu dem hypnotischen Zustand durchaus nicht ge- 
lähmt. Daher vird notwendig ein Kampf entstehen mfineD, dessen 
Entscheidung abhängt Ton der St&rke der widerstrebenden SUemente im 
Vergleich zu der psychisdien Gewalt der unmoralischen Yor^iiefslnng. 

Bei BeantwortoDg dieser wichtigen Frage sind folgende 3 Pnnkte 
in Betracht 2U ziehen : 

1. Die normale Individualität des Beeinflußten, seine Anlagen und 
Erziehung, seine Suggestibüität überhaupt; sein sittliches JNiveau im 
allgemeinen und seine moralische Widerstandsfähigkeit. 

2. Die Stärke und Dauerhaftigkeit der unmoralischen Eingebung; 
eine etwa vorausgegaogenp snorg«'"^tive Dressur. Abschwächung be- 
stimmter hemmend wirkeudei psxchischer Tätigkeiten (z. B. durch 
mehrfache frühere Hy])noti8ierung^. 

3. Die Tiefe des schlafariigeu Zu Standes, in welchem sich das 
Versuchsobjekt befindet 

Dieses dritte Moment ist weniger belangreich als Punkt 1, wenn auch 
im allgemeinen zugegeben werden kann, daß mit zunehmender Schlaf- 
tiefe sich die Dissoziation der Vorstellangsrerbindungen steigert und 
die Widerstandslosigkeit zunimmt. 

Nach der Ansicht ron Forel kann der Hypnotisierte sieh um so 
wirksamer gegen die unsympathische Einwirkung wehren, je Tollständiger 
er wach ist. Außerdem hinterläßt, worin ich Forel beistimme, eine 
acceptierte Kriminaisnggestion oft Spuren eines tief assoziierten Affektes. 

Etwa dureli Suggestion au^igelüsfhte Erinnerungen an den ver- 
brecherischen Ursprung bestimmter mit Hüte von Einredung erzwun- 
gener Handlungen la9«?en sich in der Regel ohne Schwierigkeit in dem 
betreffenden Opfer wieder erwecken, sobald mun dasselbe von neuem 
hypnotisiert; dabei ist aber zu berücksichtigen, daß Hypnotisierte mit- 
unter ebenso lUgen, wie wache Menschen. Deswegen kann das Zeugnis 
eines Schlafenden nur einen relatiren ^ert beanspruchen und ist keines- 
wegs mit einer eidlichen Zeugenaussage rergleichbsr; immerhin könnten 
aber Aussagen im hypnotischen Zustande Indizioi und Anhaltspunkte 
darbieten, die zum Schuldbeweise führen. Im ganzen ist also der 
intellektuelle Urheber krimineller hypnotischer und posthypnotischer 
Suggestion so leicht festzustellen, dali der Verbrecher in seinem eigenen 
Interesse besser auf die Beniil/unir eines so zweifelhaften Mittels ver- 
nichtet. Denn zu den erwaiuiten Schwierigkeiten kommt nocli di»' Un- 
möglichkeit für den hypnotischen, l>lind auf sein Ziel losgehenden 
Automaten. unvorhergesehene Umstände in semem Handeln Rück- 
sicht zu nehmen, dasselbe je nach der Lage abzuändern. 



Digitized by Go 



IIL Die gerichtlich medizinische Bedeutung der .Suggestion. 113 



Wie ein normales sittliches GeilUil durch allmSbliche suggestive 
Dressor abgeschwächt werden kaoD, das seigt folgendes interessante, 
▼on Li^beault berichtete Beispiel: 

Es bandelte sich um einen 18 jährigen Patienten, welcher einer 
Reihe von Anten als Versncbsobjekt für die AusfiihruDg krimineller 
Suggestionen, speziell für solche von kleinen I>ir 1v t il len gedient hatte. 
Derselbe setzte auch noch nach Beendigung der ^ ('I•sllche die Diebereien 
fort und w ii r d e dos w r- ? <■ n gerichtlich bestraft. Merkwürdisrer- 
wt'ise harten jene I)i('l)stähle 7um Teil einen ganz zwecklosen CbaraktiT 
(z. B. Wegnahme von V' isittukarten n. (l< rg].1. Die Vorstellung des 
Stehlens hatte in seinem sugLrestiblen Hirn \\ urzel gefaßt und dazu 
allmuhlich den Trieb entwicki;U. 

Die Widerstandstiihigkcil des N. war jedenfalls durch eine wieder- 
liollc Suggerieruug von Diebstiihlüu gebrochen worden, ein Faktum, 
das immerhin für unser Thema bemerkenswert ist, zumal kein Grund 
vorliegt, eioe natürliche Anlage zu dem Verbrechen bei dem Täter 
vorauszusetzen. Im strengen Sinne bandelt es sich in diesem Fall 
nicht um ein klassisches hypnotisches Verbrechen, sondern um eine 
fahrlässige Gesundheitsbeschädigung durch SaggestioDSexperimente mit 
kriminellem Inhalt. 

Die oben erwähnten SchwierigkeitMif mit denen der Verbrecher zu 
rechnen hat, mögen wohl die Ursache dafür sein , daß Fälle einer 
Ausführung von Verbrechen durch Hypnotisierte bis jetzt nicht Gegen- 
stand richterlicher Verurteilung geworden sind. Einige Autoren haben 
nun. vielleieht um die^^e Tmcke auszufüllen, den Versuch gemacht, 
uachträp:liih in i:ewis«?eii Fällen i Prozeß W e i R , Chanibige, (louife) 
aus Gerii'hlüakteu die Wirkung der Suggestion /u erweisen oder auch 
<Tesetzverlet'/ungei). welche in hysterischen Schlaf niul 'J'raumzuständen, 
im epileptischen Äquivalent und auunciion psychupathischen Diiiuuier- 
znständen begangen wurden, als das Produkt von Suggestion lodcr 
Autosuggestion) hinzustellen. Eine solche einseitige und fehlerhafte 
Auffassung ist nur möglich bei einer unzulässigen oder ungenauen 
Definition des Begriffes „Hypnose". 

Nicht selten wird die Einrede hypnotischen oder suggestiven 
Zwanges erhoben, namentlich bei auffälligen Testamenten, Legaten 
und dergl. Aber auch dieser Punkt hat bis jetzt eine Anerkennung 
durch richterliche Urteile nicht finden können. (Fall Jouve, Fall 
Howard-Kings bury.) 

Somit ist nach den Erfahrungen des öffentlichen Lebens bis jetzt 
4Ue Rechtssicherheit durch das Schreckgespenst des hypnotischen Ver- 

Sehrenck -Notzing, Stadien. 8 



Digitized by Google 



114 lU. Die gerichtlich iuedjsini«cbe üeäeutuog der SuggeatioD. 

brechens uicht gefalinlet und die kriminelle Bedeutung der hypno- 
tischen Suggestion beruht fast ausschließlich in sexuellen Delikten und 
im fahrlässigen Mifibranch hypnotisierter Personen. 

4. 

Die Suggettlon Im wachen Zustande. 

Weniger beachtet, aber von viel größerer Wichtigkeit als die be- 
s7)rochenen beiden Kategorien für unser Rechtsleben ist die «Sug- 
< t i () II im wachen Zustand e*'. olnie Rücksicht daraui'i ob sie 
mit uder oliuf liewulksiein des Zweckes aniL'oiiljt wurde. 

Es würde utMiifjstens für forensische Zui i ku eine unerlaubte Er- 
weiterung des liegrities „Suggestion'' sein, wollte man jedwede Be- 
einflussung von Willensäußerungen eines andwen Henschea als „Sug- 
gestion" bezeichnen. In einer allgemeinen Auffassung derselben sind 
in der Literatur riele gewissermaßen in Form ein^s Zwanges auf 
einzelne Individnen oder auf die Masse wirkende psychische Faktoren 
als Suggestiverscheinungen beschrieben worden, so die durch das 
soziale Milieu gegebenen Einflüsse der Erziehung, Religion. Mode, 
Politik und Presse, besonders aber die Ansteckung durch Fanatismus 
und Aberglauben. Es unterliegt keinem Zweifel, daß psychische In- 
fektionen dieser Art vielfach zur Begehung von Verbrechen geführt 
haben. lu weiterer Verfol'^^uni; dieses Standpnidvies müßte man das 
Verbreclu n als soziale Erscliemun^ und den eiiizeluen Verbrecher als 
unverantwortliches Werkzeucj seinei- angilMircinn Anlasen und des 
äuliereu ^lilieus auffassen. iMau könnte dann i. i>. den anarchistischen 
Verbrecher nicht mehr zur Verantwortung ziehen. 

Der Jurist jedoch, welcher mit den feststehenden Rechtsbegriffen 
desGesetzes zu operieren hat, die ja bekanntlich eine relative Willens- 
freiheit voraussetzen^ kann diesen psychologischen Deduktionen vorerst 
einen EinfluO auf die Rechtsprechung nicht einräumen, sondern er hat 
von Fall zu Fall seine Entscheidung lediglicli darüber zu treffen, ob 
die freie AV'illensbestimmung in dem Fall einer Suggorierung nach 
Maßi(abe der gesetzlichen Voraussetzungen ausgeschlossen war oder 
nicht. Dennoch al)er verlangt die Suggestion im wachen Znstande, 
auch Wenn man von den weir2'*'!if'nd<'n ]isvfhn]ncri^f'hen SclilulUolge- 
ruugen al).«ie}it. eine sorgfülti.; ■ I h rueksichiiguu:; durch den l\iciiter. 

Ks ist Vielleicht zwecknialiig. das an zwtd Fällen aus der Gerichts- 
praxis, in denen ich als gerichtlicher lOxpette die Frage der Sugge- 
rierung zu beantworten hatte, zu illustrieren. 



üigiiized by Google 



III. Dt« gerichtlich uciliiinuehc BedeutuniBr der Suggestion. 



115 



Der erste Fall betrifft die sensationelle, 14 Tage, vom 1. — 14. Ok- 
to})er 180»). dauernde S c h w ii r fi; n ric h t s ve r h an d 1 un g in Münclu n 
gegen .J o h :i u n B < ■ r o h t o l il \v e lc e n dreifachen Kau b ni o r d e s. 
Die Verhaiullunf,' nidinte. trotz eiii- s immerhin mageren Jiidizieiil)e- 
wf i^rs ]iiit \ t'rurtfc)ilun|üj des Angeklagten zum Tode, Der Verurteilt© 
wurde zu It beuslänglicheui Zuchthaus bognadigc. 

Da nach Entdeckung des Mordes das geheimnisvolle Dunkel, 
welclies Über der Tat schwebte, sich nicht lichten wollte, so begann 
ein Teil der Mttnchener Tagespresse sich an der Voruntersuchung zu 
beteiligen; fast einen Monat hindurch erschienen täglich in den ge- 
lesensten Blättern Notizen über den Mord, sowie kritische Bemer- 
kungen zu den ungenügenden Sicherheitsverhältnissen und Polizeiein- 
richtUQgea der Isarstadt. Außerdem setzte die Regierung eine Be- 
lohnung von loOQ Mark auf die Entdeckung des M<irder8. ScbüeßUch 
fonlerten die Münclieuer Neuesten Nachrichten jedermann, der etwas 
zur Sache vorzubrinf»on habe, auf, sich :inf ihrer Redaktion 7.n melden 
unter Zii-sicherung slreiigsltT Diskretion. Das in snlclicr Wci«^c i^e- 
woniieni' Mairrial !:rab Stoff zur Veröffentlichung in (k-n Spulten und 
zur Belriedigunu' des Sensaiionsbednrfni'jso':. Sdiüelilich , nachdem 
zahlreiche Personen Zweckdienliches vurgi bracht hutlv ii, erklärte dieses 
Blatt zu eiuei Zeit, wo die Voruutersucliung gegen Berchtold noch 
nicht einmal durch die Staatsanwaltschaft abgeschlossen war : Es dürfte 
jeder Zweifel ausgeschlossen sein, daß Berchtold der Mörder ist. Die 
Folge dieses Verhaltens der Fresse war, daß sich zahlreiche Personen 
zur Zeugenschaft meldeten und schließlich unter dem JSide Aussagen 
machten, deren Inhalt die handgreiflichsten Widersprüche darbot 
Außerdem veranhißie die in den Tagesblättem abgedruckte Photo- 
graphie Berchtold's verschiedene Personen zu zweifelloser rückwirken- 
der Erionerungsfalschuug. Mehrere weibliclu' IVrsonen gaben eidlich 
an. dieser Mann — oder eine ihm völHi,' gloicb-eliciide P<Ts>»iiIichkeit 
— Irabe sieh auf dieselbe Weise bei ihnen KingaiiLT /u \ erscbatlen ge- 
sucht n ie bei den Ermordeten. Dazu traten Depositimu ii zweifellos 
hystt ri-i hiT Persiiiieii. abenteuerliche Erzählungen zw eilclhafter und 
mehrittch vorbt üirafter lndivi<luen, für deren Richtigkeit sich keine 
anderen Argumente aufbringen lielltu, als ihre eidliche Versicherung. 
Die you der Presse ausgeübte Suggestion im Sione der Schuld des 
Angeklagten hat also ihre Wirkung nicht verfehlt. Und diesen Stand- 
punkt suchte die Verteidigung durchzuführen, so daß selbst von der 
Staatsanwaltschaft auf eine Anzahl Belastungszeugen verzichtet werden 
mußte. Aber das von den Zeugenaussagen unabhängige Beweis« 
material, das Vorleben Berchtold's, sein mangelnder Alibibeweis, sein 

8* 



Digitized by Google 



116 



ni. Die irerichtlich medizinische Bedeutang- der Suggestion. 



^ozes Verhaltf n belasteten ihn hinreichend, so daß die Geschworenen 
auch wohl ohne Kücksichtnahme auf die durch die Presse erzeugte 
psychische Epidemie zur Bejahung der Schuldfrage gelangen konnten. 
Die schwieriEre Aufirrihe der Snchvorstäudigen (G r . i s h v y und 
Verfasser lic^tHiid nun darin, dir F» hlerquellen für das Gedächtnis 
jiufzuderken und üiier den Geisteszustand einer Anzahl von Zeugen 
mit Hiublick aut die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen Gutachten ab- 
zugeben. 

Mau mag nun den Berchtold für schuldig halten oder nicht, d i e 
Tatsache hat der Prozeß denn doch unwiderleglich festgestellt, daß 
die Zeugeoanssagen zum Teil durch die Zeitung inspiriert waren ! Wie 
sollte man sich auch sonst z. B. den merkwürdigen Umstand erklären» 
daß sich während der 14tägigen Verhandlungen nicht weniger als 
sieben Personen meldeten, die behaupteten, den Mord an der 
Familie Roos begangen zu haben! Unter 210 geladenen Zeugen be- 
fanden sich 18, deren Aussagen sich auf eine Beeiutlussung durch 
Zeitungsnotizen zurückführen lieikn. Einer unter diesen behauptete 
z. B. , er habe an einem Freitag Vormittncr den Angeklagten zu einer 
bestimmten Zeit dreimal in der Nlihe des 'j'atortes /eines Hauses in 
der KarlstrafJi' I erblickt und nach niüeutlichung der Photographie 
die Persönlichkeit sofort wiedt rerkuuiu. Mit dieser unter Eid abge- 
gebenen Zeugenaus^;.'lge stand aber die Tatsach» iu Widerspruch, daß 
besagter Zeuge den gleichen Freitag Vormittag zu derselben Stunde 
bei einer Gerichtsverhandlung anwesend war. Da er nicht an zwei 
Orten zugleich sein konnte, so mag man den Wert seiner Aussage 
hiemach bemessen. Sechs weitere Zeuginnen, — sämtlich Wohnungs- 
inhaberinnen in München — behaupteten unter ihrem Eid ganz gleich* 
mäßig, daß sie den Besuch eines verdächtig aussehenden Mannes er^ 
halten hätten, der unter dem Vorwande von Kto^etarbeiten sich bei 
ihnen Eingang vcrschaflVu wollte. In dem Verdächtigen erkannten sie 
erst dl n Ahl* klagten Berchtold, als dessen Photographie veröft'ent licht 
wurde, .ia mehr noch, i ini d, r Zeitungen stt Ute den Berchtold in 
einer Kleidung dar. die er niemals getrairen li:itte. Fiul eben diese 
nur in der Phantasie des Zeielin^T« voiliandi ui . nieht aber in Wirk- 
lirliktit iiti Besitz des Berelituld btlindiichr Kleidung will oiue der 
Zeugiuijen an jeutiii \'i i diichtigen benierki lialRii. 

Kurzum, das Ergebnis «lieser für die Suggestionslehre so inter- 
essanten Verhandlung lehrte, daß den Behörden noch die richtige Er- 
kenntnis des suggestiven Faktors bei richterlichen VernehmuDgen fehlt, 
daß feroer die Zahl der Personen, die bona fide unter dem Eide Un- 
wahres und Ungenaues aussagen, viel größer ist, als roanr im allge« 



Digltized by Google 



III. Die gerichCUcb medixinischo Bedeutung der Su^^gestion. 117 



meinen annimmt. Vor allem aber bat sie neue Beweise für die sug- 
gestive Gewalt der Presse dargeboten. 

Der zw fitf' Fall best häftigt sich direkt mit einem suj^erierten 
Verbreclun (Fall Sauterji. 

Aui 2. Oktober 1899 batto sieb die Frau des Metzgenneisters 
Sauter vor dem o berba y ri sc b on Schwurgericht in München 
zu veraiitwortüu wegen Mordversuches und Anstii'tuug zu 
neunfachem Morde. 

Das deutsche Gesetz bestraft auch Versuche und Anstiftungen zu. 
Verbrechen, wenn sie mit untauglichen Mitteln unternommen werden* 
Die Angeklagte war beschuldigt, den Versuch zur Tötung ihres Ehe- 
manns, mit dem sie in unglficklicher Ehe lebte, dadurch gemacht zu 
haben, daß sie ihm ein ihrer Meinung nach hierzu geeigneteSi von 
einer Kartenschlägerin empfobleues ^fittcl, nümlicb En/ianwurzel in 
die Socken streute. Außerdem soll sie die Kartenschlägerin auge- 
stiftet haben, neun ihr uubeciueme Personen, daruntrr drei ihrer 
Kiii(li>r, zwei frühere Dienstboten u, s. w. durch magische Mittel zu 
töten. 

Die AugekLi^'te stand in den AVecbseljahren, war schwer uuter- 
leibsleidend und zeigte ZügtJ vou Hysterie. Dem Aht rglauben ganz 
und gar verl'aUcn sah sie in der KartciischHicrriu. die sie für alle 
Lebcuslrageu zu Rate zog, eiue Persöuiicbkeit mit übernatürlichen 
Fähigkeiten und der Macht, Uber das Schicksal der Menschen, über 
Leben und Tod zu entscheideu. Die Wahrsagerin dagegen erhitzte 
die Einbildungskraft der Sauter durch allen möglichen Hokus-Fokns, 
und verstand es, aus ihrem Vermögen materiellen Nutzen zu ziehen 
und ihr Opfer systematisch auszubeuten. Wie die Akten ergaben, war 
die Seherin bereits 21 mal wegen schwerer Gesetzesverlf^tzunj^!;cii vor- 
bestraft. Die Hauptverbandlung ließ keinen Zweifel darüber, daß 
die Wahrsagerin der eigentlich schuldige Teil sei. Durch ihre 
Schwindeleien hatte sie die leichtgläubige, ihrem Einfluß ganz ver- 
falleuo Ani2:pkl;)f?t»' zu übcrzrnijxf'n vermocht, daß es ihr ein leichtes 
sei. alle ihr iiiib».Mjiiruien I'ersoiicu eines uatürlicbeu 'r<HU:'s sterben zu 
lassen, und ihr erst auf diesi* Weise den uan/cn Mordplau — wenn 
auch unabsichtüch — sugf^eriert. Ah diese Itleru in der Angeklagten 
Wurzel faßten, denunzierte die riupheiiu ihr Opfer bei der Tolizei 
und veranlaßte Frau Sauter, den ganzen Mordplan noch einmal zu 
besprechen, so daß im Nebenzimmer versteckte DetektiTS alles hören 
konnten und schließlich als Hauptbelastuugszeugen in der Hauptver- 
bandlung funktionierten. 

Während die Gutachten von Messerer und Focke zu dem 



Digitized by Google 



118 III. Die grericbtlich meduiniscbe Bedeutunur <l?r Su^rgc^ifion. 



Schluß kameD, daß Frau Saut er im Besitze ihrer freien AVillensbe- 
Stimmung gewesen sei im Augenblick der ihr zur Last gelegten Hand- 
lungen, führte das von mir ahirfvirehone (lUtachten den Nachweis, daf^ 
die Aiii^eschnldigte. fas/inicrt durch die Karten^chläireriri. ira Zustande 
suggestiver Ahhiiiißigivoit deren Ideen zur Auslühruug gebracht hatte, 
daß also ilire Zurechnungsfähigkeit infolge von Hysterie, infolge ihres 
Kliniakteriu[ii><, suwie infolge abergläubischer Vorstellungen erheblich 
herabgemindert sei. 

Die Geschworenen sprachen die Angeklagte Ton beiden Schuld- 
fragen frei. 

Der Fall Sanier zeigt die erste Freisprechnng einer 
Angeklagten, die unter dem suggestifen Einfluß einer 

anderen Person das Strafgesetz verletzt hat. und ist deswegen 
für die Lehre Yon den Beziehungen der Suggestion zum Strafrecht 
von prinzipieller und bleibender Tragweite. 

Tjcsonders gefährlich kann die Suggestion bei Kindern, 
H ' ^ t (■ V i s ( Ii e n nnd Personen mit leicht erregbarer Phantasie werden. 
A\ U' /.ahlreiche Versuche gezeigt ha])en. i<t die Zahl derjenigen, bei 
denen durch einfache nachdrückliche hauptung ira wachen Zustande 
rückwirkende E r i u u e r u u g s v e r f ä 1 ä c h u n g e n und Sinnestäu- 
schungen sieh suggerier«!! lassen, kdne geringe. „Die Suggerieriiaren 
eindi wie Bernheim mit Recht betont, die Betrogenen ihrer eigenen 
Phantasie. Sie verfSlschen die Wahrheit unbewußt, nehmen etwas 
davon weg oder fägen etwas binzu.^ Der Bichter kann durch Aos- 
sagen dieser Art vollkommen irre geführt werden. Ich erinnere nur 
an die von Bern he im erwähnte Aussage des 13 jährigen Sohnes des 
Tempeldieners in der Aftare Tisza<ȣsla r. 

Falsche Geständnisse dieser Art bieten der von Beru- 
he im herrichtete Fall ..liorrus" i \ rrurieihnig eines Uii«rhiil(lif.ron zu 
leliriisliiiiiilicher Zw:l!ll:^arl^t•it iutnlge von Krinnerungstäuschung), so- 
wir das von Liegeois In r i( htt ti* Beispiel einer gewissen Adele 1». 
(Ablegung eines suggerierten (itstäiidiii-ses wegen Abortus, der jedoch 
unmöglich war, weil Adele sich in einem vorgerückten Stadium der 
Gravidität befand, was erst bei Verbiißnng der Strafe im GefSngnis 
konstatiert wurde). 

Daß die suggestive Abhängigkeit lange Zeit anhalten und die 
ganze Umgebung irre fuhren kann, zeigt folgende Beobachtung von mir: 

Vor ca. 7 Jahren wurde mir ein öjähriges Mädchen zur ärztlichen 
Behandlung überwiesen, das an Zerstürungstrieb litt, der sich in 
rafönierter Weise gerade auf die wertvollsten Besitzstücke der Familie 
richtete. ^Niemals gelang es den Eltern, das Kind iu flagranti zu er« 



Digitized by Google 



HL Die gerichtlich medbrinitche Bedeutung der Suggestion. 



119 



tappen, sondern die Handlungen erfolgten stets hinter ihrem Kücken 
oder in ihrer Abwesenheit Einmal stand sogar das Kind in seinem 
Bett in Flammen. Die zahlreichen, sich immer wiederholenden auf 
ganz raffinierte Weise mi^ireführten Diebstälile und Zerstörnnpen ver- 
ursafhten dei) Hltern einen • rlii'hlichen niMtL'rif Hon S<')iad^»n. Kr/,iehungs- 
maßregelu und Strafen ohne jeden Eriol^'. Das Kind weinte und 
gestand immer wieder üen« Reate. SchlielUieh wurde es an die Kette 
gelegt und hypnotiscli bt Iiandelt und dennüch naiiiui n die ver- 
brecherischen Handlungen ihren Fortgang. Endlich nach 9 Monaten 
eDtbfiUte ein Zufall die Wahrheit Das Kind ging n&mlieh mit den 
Eltern anfs Land, während das Kindermädchen in der Stadt znrttck- 
blieb. Von diesem Augenblick an hörten die Zerstörungen auf. Es 
stellte sich nun heraus, daß das Kind völlig unschuldig, daß hingegen 
die hysterische Kindermagd die Handlungen reranlaßt, heziehnnfj^ 
weise selbst ausgeführt Latte. Dem ilirer Obhut anvertrauten Kinde 
▼erstand sie das Schuldbewußtsein fortdauernd zu suggerieren bis am 
einem solchen (irade, daß es 9 Monate lang alle Strafen willig er* 
duldete, ausführliche ihm ^n^r^estiv beigebrachte üeständnisse ablegte, 
ohne jemals seine Tyraunin zu verraten. 

Mau braucht aber durchaus uicht hysterisch /u <ein oder ein 
Phantasielügner, um Suggerieruugen im wacheu Zu^^tande, 
wie sie z. B. durch Lektüre oder Unterhaltuncr geboten werden, zum 
Opfer zu falleu, JN'atürlich sind die Angaben gebildeter, den besseren 
Ständen angehüriger Personen ihrem Bildungsgänge entsprechend 
präziser, klarer, weniger widerspruchsvoll, — aber deswegen auch für 
das richterliche Examen um so gefährlicher bei dem Schein größerer 
Glaubwürdigkeit Hierfür bietet Prozeß Berchtold interessante Belege. 

UnwiUkürlich infiltrieren sich gelesene ^leinungeo und Urteile 
unserem Denken, bestimmen unsere Ideenrichtung und haben einen 
mächtigen £influH auf die Gestaltung unserer Erinnerung. Eine Yer- 
wechselung zwischen selbst Erlebtem und Gehörtem oder Gelesenen 
tritt um so leichter ein, wenn der Inhalt des fraglichen (leuonstandes 
schon früher einmal unser Interesse in Anspruch nahm. Die Treue 
der Reproduktion leidet Ixi Mangel an kritischer Überlei^nng, 
bei lelihal'ter Phantasie s.»\vie in Momenten psychischer Rrrc^'unu' i bei 
AtTfkttii) 'ider der Ermüdung:. Wenn Elemente einer au^i<>ni)licklichen 
Siiuaiiuu auf das Erinnerungsbild übertrajoreu ^verdeu, su wird dasselbe 
leicht im Sinne der ueueu Wahrnehmung verfälscht (Einfluß des An- 
blicks von Berchtold's Photographie auf die Erinnerung an den ver- 
dächtigen Besucher). Diese äußeren Anregungen können dann einen 
suggestiven Einfluß Üben, für den die Fehlerquellen unseres Qedächt- 



Digitized by Google 



120 



III. Die gerielitlidi medisiniseh« BedeutuDg der Soggettion. 



Disses eiueu günstigen Bodeo darbieteu. Auf diese Weise kann, wie 
bei manchen Zeugen im Berchtoldprozeli ein Gesamtbild aus Dichtung 
und \\'ahrheit outslüheD, ohne daß es nachträglich auch dem psycholo- 
gischen ISachverätäDdigeu immer gelingt, i'iir einzelne Bruchteile des 
ErioDOTttngsbildes richtigen TTrsachen nachzuweisen. 

Ks muß daher als ein Fehler im richterlicliou Examen 
bezeichnet werden, wenn Einzelheiten der BückeiimieTung ia der Zeugen- 
aiuBage zu sehr ttberschfttzt werden. Überhaupt werden die Fehler* 
qnellen des Oed&chtnieses in foro viel zu wenig berttcksichtigt; eine 
eingehende Erkenntnis derselben würde den Bichter vor dem gefähr- 
lichen Irrtnm faewahreo, Meineid und ErinnerungsflUschung zu ver- 
wechseln; er würde den Tatsachenkern von dem Produkt der Suggestion 
Ittichter zu unterscheiden imstande sein. Auüerdem würde er sich in 
dem Verhör von Zeugen größere Zurückhaltung auferlegen, um keine 
Details in die Aussagen hinein zu suggerieren. Eine sorgfältige 
Würdigung der Sugg(>stionsh>hre miilke auch die Sicherheitsorgane 
veranlassen, den noch immer weit unterschätzten EinÜuU der Presse 
auf die Kriminalität einzuschränken. 

Was nun die freie W i 1 le ns he tä l i gu n g in Bezug auf straf- 
bare Handlungen betrifft, so läßt sich diestlbe. wie wir an den 
obigen Beispielen aus der Rechtspraxis gesehen haben, in maucheu 
Fällen durch suggestive Mittel abschwächen oder aufheben. 

Ein völlig unter dem EuiiiuÜ der Suggestion stehender Mensch 
ist — wenn mitunter auch nur für bestimmte Handlungen und vis-fti-Tis 
einem Menschen — als unzurechnungsfähig im Sinne des Gesetzes 
zu betrachten, mag er auch sonst psychisch normal und wachen Geistes 
sein. Auch nach dem deutschen Gesetz ist Bewußtlosigkeit nicht er- 
forderlich, da der § 176 Abs. 9 ausdrücklich von dem bewußtlosen 
oder willenlosen Zustande spricht. Überhaupt sind suggestive 
Zwangshandlungen in foro zu beurteilen, wie die Zwangsvor- 
stellungen Geisteskranker. Natürlich hat der intellektuelle Urheber für 
den durch sein Werkzeug gestifteten Schaden gesetzlich aufzukommen. 

Häutig tritt die Suggestion auf in Form autoritativer Be- 
hauptung oder als Faszination (Blendung und Willeuslähmung) 
oder als psychische A n s t e c k u n g (Zwang /ur Na<'hahmung), oder 
sie erwächst wie schon erwähnt auf dem Boden starker Gefühls- 
erregungen z. B. in der Liebe. Der Sachverständige hat in solchen 
Ott sehr schwiengcu — ■ und an einfache Verführung erinnernden. — • 
Fällen stets zu untersuchen, wieweit die Möglichkeit bestand, den 
eigenen Willen zur Geltung zu bringen gegenüber der suggestiven 



Digitized by Google 



ItL Di« g^eriehtUch medninimhe Bedeutung der Suggeatioo. 



Freiheitsberaubuug, oder ob etwa krankhafte Faktoreo, £iitwickliing»- 

mäog« I die Willeustlitipkt'it lierabr'esftzt haben. 

< h't sind bei Psychupatlii^rh - Miuderwertii^eD. Def^ciioriorteii und 
Hybleriaclu n dif (jetühlswirkuiifjen abnorm stark bi'i schwacher Aus- 
bildung d< r \Villtn^s|)li;iro. SoU lie Pi r-oiiun lalleu Sflir leicht sug- 
gestiven Eiiitlüssen zum üpt'er. Aucii iiier bietet das Geschlechtslebea 
wieder interessante Belege. 

So sind als Zustände solcher suggestiTen Abhängig- 
keit mit mehr oder minder pathologischem Hintergnmd aufzufassen 
viele sexuelle Zwaugssustände besonders der von Krafft* 
Ebing als sexuelle Hörigkeit beKeichnete sklavische Gehorsam 
mancher Liebenden (Beispi« t(> ; fväthchen von Hoilbrona nach K 1 o i s t 's 
Darstellung; Prozeß des Jesuitenpaters Ginird in der erstra Häli'te 
des 18. Jahrhunderts betreffend den durch religiöse l'buogen erzielten, 
absülutt'ii, dann se\n»dl ansgcnüt/.tcii (Gehorsam de» Krl. von Cadiöre), 
ferner inicr Zustand von „Faszination*' oder ..Monoideismus", 
den Preyi r beschrieben bat (völlip;e8 Beherrschtstin der Kllida 
von Port;i ihirch l'andor, uimt' L\v\)o zum Tyrannen). 

Wie die turense Kasuistik zeigt, handelt es sich bei den sugge* 
rierteo Verbrechern fast niemals um geistig ganz intakte Personen; 
wenn man von der suggerierten Erinnerungsfälschung absieht, so ge- 
hört die suggestive kriminelle Zwangshandlung eines völlig Greistes- 
gesunden su den größten Seltenheiten. 

Da es aber weder fUr die strafrechUiche ZuiechnuDgarähigkeit 
noch für deu Typus der geistJErcn Abweichunjrrn von der Konu, 
d. h. denjenigen des ,.geistig Krankhaften** eine absolute Grenzt .ribt, 
so kanu die von dem Sachverständigen verlangte Abwägung solcher 
Imponderabilien grolle Schwierigkeiten bereiten nnd zu den spitzfind- 
stigeu Disku'-'^ionen tiihren. Ja die Beantwortung feolelier Fra^'en hängt 
nicht zum mindesten von den individuellen An^ehauungeü des (ierichts- 
hofes, der Int Uitronz der Geackwurenen und den subjektiven An- 
schauungen der Sacliverständigen ab. Was der eine Gutachter als 
angeborene oder erworbene geistige Beschräuktheit, als leicbten Schwach- 
sinn in das Gebiet des Krankhaften verweist, erscheint vielleicht dem 
anderen als ein auch innerhalb normaler Grenzen vorkommender 
Mangel an Begabung! Leichter zu beurteilen sind Fälle, wo das 
Nervensystem nachweisbar durch traumatische Ursachen, Vergiftung 
(Alkohol, Morphium . tc.) oder durch bestimmte Erkrankungen (Hysterie, 
.Neurasthenie, Epilepsie) gelitten hat. Kur Personen mit Zuständen, 
die nicht zur Annahme des voll' u Ausschlusses der freien Willens- 
bestimmung aus krankhafter Störung der Geistestätigkeit berechtigen, 



i^'iyui^uu Ly VjOOQle 



1S9 m> {gerichtlich niedirinische Bedentung der Sugigestion. 

also in ihrer freien "SVillenstätigkeit lediglich gehemmt orscheiuen, bat 
mau mit Reclit don Ausdruck der „verminderten Zurechnungs- 
fähig keit" neut nliiiijs violfach nn^rewendet. 

Psychisclii' Ai)\veichuii^'en (lii'ser Art koiiinien nun. wie Kirn l'>'- 
zeigt hat. auch uuier dem Kintluli der MeDStrualioii, dt-r Fuljertät, 
der Gravidität und des Klimakteriums zustande; ferner gehüren dazu 
die noch unbestimmbaren Aufaugszustände vieler sich laugsam ent- 
wickelnder Seelenstörungeu, sowie der Zustand des kindlichen Seelen- 
lebens. 

Ganz besonders wichtig für die Frage der Suggeriemng von Ver- 
brechen sind die Charakterreränderungen durch Hysterie^ angefangen 
Ton den leichtesten Symptomen^ dem einfachen hysterischen Tempera- 
ment" bis zur ausgesprochenen Psychose; allerdings beruht nach der 
Anschauung von Wollenberg das, was man hysterischen Charakter 
liezeirhnnt. in den Zügen, die besonders leicht zum Verbrechrn führen, 
nicht auf Hysterie, sondern auf einpr alljr'^mf'inpn psychopatbiscuen 
DeiTtMieiatioii. Auf die weitgeheude Ähnlichkeit gewisser nicht leicht 
urkeuiiliarcr inid ins Normale hereinragender tr.mniarti^it'r Zuslände 
der Hysterie uni »Kr Posthypnose ist wiederholt von 1 rtsud, Wollen- 
berg u, a. aufmerksam gemacht. Sicherlich bietet das Vorherrschen 
des Phantasie- und Geftthlslebens über das Teistandesmftßige, die 
abnorm leichte Auslösung Ton GefUblsreaktioneu, die Heignng zur 
Dissoziation einen besonders günstigen Angriffspunkt fiir Suggestionen 
und Autosuggestionen (Monoideismus). 

Der Nacliweis ».hysterischer Stigmata" oder von „Kraini)f:in- 
fälleu*' kann in gewissen Fällen unmöglich sein, hat also für die 
Gerichtspraxis keine erhebliche Bedeutung. Dagegen ist das Handeln 
Hysterischer, worin ich Dell>rück lieistimme. oft viel krankhafter, 
als es auf den ersten Blick erseheint, inwieweit jedoch die Zurechnungs- 
fiihigkeit beeintniehticrt wird durch die Hysterie, läßt sich nur nach 
Maligabe des Gesamtbildes beurteilen. 

Je normaler, gesunder, moralisch widersiundslahiger eine Person 
ist, um so weniger wird sie Gefahr laufen, das Opfer einer kriminellen 
Suggestion zu werden^ — je energieloser, sittlich defekter, psycliisch 
schwächer sich ein Mensch zeigt, um so leichter wird er der Ver- 
fuhrung erliegen, die in Form einer . Suggestion auf ihn ausgeübt 
wwden kann. Aus diesem Grunde laufen solche Individuen am meisten 
Gefahr, suggerierte Opfer eines vollsiunigen Verbrecli« zu werden, 
bei denen die Fähigkeit, ihren Willen durch sittliche Vorstellungen 
bestimmen zu lassen, also Gegenvorstellungen zu bilden, in Folge 
krankhafter Vorgänge oder von Entwicklungsmängeln beeinträchtigt 



üigiiized by Google 



in. Die gerichtlich tuedixiuische Ücdeutuug der Suggestiou. 123 



oder aufgehoben ist. Ber Grad dieser Beeinträchtigung kann Terschieden 
stark sein und wird das Kriterium abgeben für die Annahme voller 
Willensfreiheit, resp. der verminderten oder aufgehobenen Zurechnungs- 
fahigkeit. Tu dieser Tatsache liegt auch der Grund, warum es sich in 

der MeUrzalil der in der Literatur bekannt gewordeneu Fälle sugge- 
riert(^r Verbreclien um kindliche, psychopathiache , hysterische oder 
schwachsinnige Naturen handelte. 

So war Gabriele Bompard, das Instrument des ]\Ii»rders 
Eyratid, oiin" inornliseh defekte bvsterische l^ersoii, füo Baronesse 
Zedlitz, diiü (_)pier der st-xiielleu Cielüste des Czviiski . eine jisycliisch 
schwach begabte erbiicli stark belastete Dame, Frau von J'orta, im 
Falle der von Preyer beiichtettiu lasciiiation , der Gegeubtaiul von 
Panders Liebeswerbungen, wird als geistig unreifes, kindlich naives, 
ps) chisch schwaches Wesen geschildert, und in unserem Fall ist Frau 
Sattter eine psychisch widerstandsunfähige Hysterische. Damit soll 
nun keineswegs, wie Hirsch auf Grund dieser Tatsache annimmt, 
gesagt sein, daß geistig gesunde Keuschen nicht unter Umständen 
auch einer antisozialen Eingebung, einer verbrecherischen Suggestion 
folgen könnten! Man bedenke nur. welche grundverschiedenen Ya- 
rietäten mau unter dem Begritf geistesgesund zusammenfassen kann! 
Ist ein charakterschwacher, leicht lenkbarer ^fensch nicht auch geistes- 
gesund. — und doch suirirestibler als andere willenskräftigere Personen? 
Das Wfseiitli« h(' liegt in dem Voriiaiij^ des Suggerieren«? in der Auf- 
hebung oder AIi!*chwächuug der Gegenvorstellungen: ob diese wegen 
krankhafter Gehirnvorgängre oder wegen vorhandener ßildungsniän^zel 
nur schwach entwickelt sind, oder ob sie bei voller Ausbildung durch 
künstliche Prozeduren (Hypnotisnms, Narkotika; in ihrer AVirkuug ge- 
hemmt werden, das ist im Resultat das gleiche. Deswegen besteht, 
wenn dieser Fall auch zu den Ausnahmen zu zählen ist und die 
Bechtsichorheit nicht gefährdet, doch theoretisch die Möglichkeit, auch 
den geistesgesunden Menschen mit Hilfe von Suggestion der freien 
Willensbestimmung zu berauben, andererseits aber muß zugegeben 
werden, daß die große Zahl der psychopathisch minderwertigen, 
psychisch schwachen, ethisch defekten Personen, die wir auch unter 
den sogenannten Normalen antreffen, viel eher Gefahr läuft, wegen 
ihrer größeren Widerstandslosigkeit kriminellen Eingebungen zu er- 
liegen, als der Geistp«=ge'<unde. 

Viel schwieriger ^< stullt t sich die Hourieilung der Sachlage in 
foro, wenn, wie im Pnizel^ Sauter, dem intellrktucilen L'rliebor (also 
in nnserem Fall der \\ ahrsa-^erin Frau Giiuzbauer), das B' Nvulirsein 
der Kechiawidrigkeit des Handehis, das Bewußtsein, ein Verbrechen 



Digitized by Google 



124 



Iii. Die gehchUich medizioiiche Bedeutung der äuggesüon. 



anrntiften, ToUkoinmeii fehlt! Es bandeU sich daon also um iinbe> 
abiidhtigte, unbemerkte BeeinflussuDg! Denn Fraa Gänzbauer war 
«ich offenbar keineswegs darüber klar, daß sie selbst durch ihren aber- 
gläubischen Hokuspokus jeoe auf Beseitigung des Mannes und anderer 
Personen hinzielende Idcenrichtung in Frau Sanier enseugt hatte; 
ebenso entging es ihr vollkommen, daß sie selbst bei der DemonstratioD 
vor den versteckten Detekiivs ihrem Opfer den Mordplan so zu sagen 
io die Feder diktierte und die ganze Cuterbaltuu?^ in diesem Sinne 
nach mit den PolizciorgaEeu vereinbarten Gesichtspunkten leitete. 
Bei der Vritnö^rlichkeit des Nachweise«! der verhn»cherischen Absicht 
kann der Gtiirhtsht)f durch Verhältnisse dieser Art in die Lago kommen, 
weder den Viheher noch den Täter bestraten zu können. 

Kaum irgend ein Gebiet menschlicher Verirrungen zeigt einen so 
günstigen Bodei: /ui Eiitüiltuug von Suggestivwirkungen als der Aber- 
glauben. Derselbe stellt sich stets, wie von Lüwenstimm treffend 
ausgeführt wurde, als ein Produkt der Unwissenheit und Unentwickelt- 
heit ganzer Volksklassen dar und führt gar nicht selten zur VerUbung 
außerordentlich grausamer Verbrechen. 

Trotz des bestehenden gesetzlichen Verbotes der Gaukeid, Wahr- 
sagerei etc. ist auch heute noch sowohl m den größeren Verkehrs- 
centren, wie auch auf dem Lande der Aberglaube in verschiedenen 
Formen weit verbreitet. Das Weissagen (alias Hellsehen), Karten- 
schlagen ert'reut sich heute noch, wenigstens in München, einer fast 
ebenso großen Beliebtheit und einer ebenso großen Verbri itung, wie 
die U'"^etzlieh «jes^tattet»; KurpfiiM hei t i mit Sympathieniitteln, anima- 
lisrhfiii M.iL'iictiMüiKs etc. Selbst in ib r Weltanschauung der Gewohn- 
heitsvt i Im ri hi r sind abergläubische Sitten häufig anzutreffen. 

Aucli iiarh dieser Richtung hin kann ciui richtiire Erkenntuiß 
der Bedeiung suggestiver Faktortu im L'ublikum auikläreud wirken. 
Vorerst wird ailerdiugs bei Seosationsprozessen und psychischen Epi- 
demien, wenn sie zu Gericht8?erhandlungen führen, sich die gericbta- 
ärztliche Begutachtung des Geisteszustandes anscheioend normal« 
Persooeu, so unbequem dieselbe für die Zeugen auch sein mag, nicht 
umgehen lassen. 

Zusammenfkssung. 

.Sowohl die nenereu Krlahrungen des Keclitslebens , wie die theo- 
retischen l'>w;ii:iiii^''ii lehren, daß «las hvpnoti^'he und pn>t hypnotische 
Verbrechen einen seiteneu Ausnahmetaii von untergeordneter gerichi- 



Digitized by Google 



III. Die gerichtlich metlizimsche BeUeutung der Suggestion. 



125 



lieh medtzmischer Bedeutung dantelleo; dagegen bat die Suggestion 
im wachen Zustande eiue Terhältntsmäßig größere praktische 
Tragweite für unser Rechtsieben. 

Das Ergebnis meiner Ausftthrangen ist in folgenden Sätzen zu- 
sammengefaßt: 

I. Das Verbrechen an hypnotisierten Personen und das- 
jenige mit Hilfe hypnotisierter Personen (Posthypuose) ist 
fast ausschließlich beschränkt 

a) au f s e X u e ! 1 p Delikte {z. B. Fall C/.ynski 1 894), 

b) auf den fahrlässigen Mißbrauch hypnotisierter 
Personen (öffentliche Schaustellungen, Wunderkultus). 

II. Die Suggestion imwacheo Zustande hat eino bisher 
nielit in dem nötigen Umfange zugestandene gerichtlich-medizinische 
Bedeutuo;^, Denn 

I. Sic ist im stfinrle. auch geistig vollkommen nnrinnle 
P p r s ü u e n zu f a 1 s c in' n bona fide beschworenen Z " n e n a u s s a g e n 
/u veranlassen (z. B. IH lals« lie Zeufien im Prozeli Berchtold 1896, 
Einfluß der Presse, psycliische iOpidemien). 

2) Sie kann dem stig:gcstiven Kiiifluli beboutlers zu- 
gän^jHehe Persouen /nr Begehung verbrecherischer 
HuuUluugen hinreißen. (Fall JSauter 1899). 

III. Im allgemcineu sind kriminelle Kingebungen für nor- 
male Individualitäten mit wohl eDtwickeltei- moraUscher Wider- 
standsfähigkeit ungefährlich; dagegen verfallen ihr leicht: 
kindiichOf psychopathisch minderwertige, hysterische, 
psychisch schwache, ethisch defekte IndiTidualitäten, 
bei denen die Möglichkeit des Widerstandes durch eine schwache 
Ausbildung der moralischen GegenTorstellungen herabgemindert ist. 

Kadi den ▼orstehenden Darlegungen und manchen neueren Er- 
fahrungen gewinnt es den Anschein, als ob die Lehre von den sug- 
gestiTen Erscheinungen auch auf dem Gebiet der Kriminalpsychologte 
eine größere Aufgabe zu erfüllen habe, als man bisher angenommen 
hat. M<ig6 sie im stände seio, auch nach die r Uichtuog berechtigten 
Erwartungen im ToUeu Umfange zu entsprechen 1 



126 



XU. Die gerichtlicli meduinische Üecl^utung der Suggestion. 



Erster Nachtrag. 

Einige weitere Bemerkungen über die mifBbr&uolüiche 

Anwendung des Hypnotismus. 

Es möge gestattet seiu. in Furm dieses Nachtrages einige zwang- 
lose ErgänzuDgen der Arbeit hinzozafugen, auf die im Vortrage we^eii 
Zeitmangel nicht näher eingegangen wurde. Speziell konnte die miß- 
bräiif Ii liehe Anwendung des Hypootismus uicht SO ausführlich behan- 
delt uerd' ii. wie sie es verdipnt 

In L'inei' i^an/eu Jtt-ilie von Fallen wurden <lir üll'entlirhen IScIkiu- 
steilungfu Hypnotisierter Ursache zu hypnotisclii-n Epidmuen, so in 
Breslau, Pforzheim, Neuchatel, Ciiaux-de- Fonds nna :iiuit ren Städten. 
Familienväter versuchten &ick an ihren Kindern iu dieser Kunst und 
in den JCoabenschulen erfreute sieh das Hansen-Spiel einer großen 
Beliebtheit» 19- und 14jährige Knaben versetzten sich zum größten 
Gandium ihrer Mitschüler gegenseitig in den hjpnoUschen jSostand 
und die Opfer solcher Mißbrauche sind leider so zahlreich, daß das 
in Deutschland nunmehr fast überall bestehende polizeiliche Verbot 
öfTuiithrher hypnotischer Schaustellungen volle Berechtigung hat. Der 
Zweck solcher Schaustellungen, nämlich die Aufmerksamkeit der Wissen- 
schaft auf die hypnotischen Phänomene zu lenken, ist ja ohnehin heute 
längst erfüllt. 

Wünschenswert wär(> eint* Ubertraguncr drs Verl»otes auch auf 
Privntf?«'sellschatten und \'eieine. Leider biitn hirrzn bis jetzt 
\\(_Miii:siens (Ins pri'uliische \'«'reins- und VorsannnluniJMrclit ki-iiip ge- 
nügende Handhabe. So liiuU'n /,. B. auch laute nuch in Berlin unter 
dem Schutz von Vereinen Schaustellungen Hypnotischer statt, an denen 
unter der Form willkommener Gäste jedermann teilnehmen kann. 
Unter anderem befaßt sich die „Magnetische Gesellschafb" in 
Berlin, welche aus Dilettanten besteht, mit den hypnotischen Er- 
scheinungen. 

Andere Länder, so Belgien, Rußland, Ungarn, Frankreich u. a. 

haben /.war b« r"i*'^^ 'j-f^^^etzliche Bestimmungen, resp. Einschränkungen 
für das Hypnotisieren erl.isson ; indessen entsprechen dii si Iben nicht 
ganz dorn praktischen Bedürfnis; sie sind entweder zu drakonisch oder 

zu wenig unifassond. 

IUt c1i;irlatanisti^f!t"H und milibniucldichen Anwendung livfiiio- 
tiselin i'ro/rdureii wird ganz erheblich durch die In iitc weit ver- 
brcileteu Jichren vom animalischen Magnetismus ^ orschub geleistet. 
So trieben nach Gilles de la Touretto zui- Zeit, als er sein Werk 



Digitized by Google 



III. Die gerichtlich mediniiisehe Bedcatang^ dar Suggcstioo. 1S7 



schrieb, in Paris nicht weniger als lOOo Maguetisiure mit mehr oilor 
weniger Erfolg ihr Handweric (von denen natürlich kein • inzi^t r iUv-t- 
iiclie Examina gemacht hatte); 50U stüu-iige SümiiambultMikabiuettc 
stacdeu täglichen Besuchen offen, und 20 Zeitschriften vormittelteu 
den Verkehr und sorgten fUr gehörig« RekUme unter den 40000 An- 
hänge ro dieser fiichtaog. In meinem Besitz befindet sich der Prospekt 
eines solchen Heilmagnetiseurs aus Berlin, derselbe heißt Willy Beicliel 
und erklärt, um den Anschein geheimnisToller Kraft noch zu erhöhen: 
Keine hypnotische n Manipulationen oder Suggestivbehandlung. Diese 
an die „leidende Jienschheit*^ gerichtete Empfehlung schließt mit den 
Worten: „Diagnosen — gleichviel in welcher Entfernung — werden 
auf somnambulem ^Vc^ü go^tellt gegen ein Honorar von 10 Mark." 

.]eAf wi^senscbuftlichc Prüfung des animalischen Magnetismus als 
geheiiunisvollrr Kraft hat bib jetzt Fiasko geuiacbt. 

Siiiutlichf anij;el)lich auf diesem Wesre zu siaudo gekommenen 
Jleilungeu lassen sich zwanglos, wie schon erwähnt, durch Suggestion 
erklären. Daa hypothetische Agens sollte zuerst bewiesen werden, bo> 
vor man gestattet, mit diesem Kichts Patienten zu bebandeln. Es er- 
seheint mir als empfindliche Lttcke im Gesetze, daß man solchem 
groben Unfug, dessen Früchte der Prozeß Ozynski einmal deutlich 
gezeigt hat, nicht steuern kann, sondern in Deutschland jedem die 
Ausübung der Heilkunde in gewissen Grenzen gestattet, der sich dazu 
berufen füblt. 

Auch das magnetisierte Wasser, womit ein schwunghafter Handel 
betlieben wird, spielt in die^ser Lehre eine jrrof'e Rolle. Liebeault, 
dessen hypnotische Krlahniiiir -•ich anl' etwa lUUüU ^fen«ehen erstreekt, 
hat seit läiifierer Zeit »einen Patienten emfaches (^Uiellwasser gegeben, 
jedoch sie in d<'m Glauben gelassen, das Wasser sei inaL'netisiert. Die 
Heih'rfolü'e mit einfachem unl>erührteni Quelhvasser waieii gt iian die- 
selben, wie die mit wirklich magnctisiertem. Die Heilwirkung ist also 
le<iiglich auf den Glauben der Patienten, auf Suggestion zurückzu- 
führen. In gleicher Weise sind erklärbar: die HeUwunder durch das 
Wasser von Lourdes, das Auflegen Ton Metallplatten auf kranke 
Körperstellen, die Wirkungen des jet<t uberall spukenden Sonnenäther- 
strahl i j) i a I I tc - ; die Sus])ensiou. das Verfahren Ton B r o w n- S •'• «i u a r d , 
manche Anwendungen der Elektrizität und zahlreiche sonstige Heil- 
methoden wirk' n 'Hein oder hauptsächlich durch die Sugirestiou, welche 
eben wegi'U ihrer Einkleidung in ein greifbares Verfuhren, nament- 
lich iti religiösen) i^'^vande, vielfaeli wirksamer ist, als in der ein- 
f;u hen Fnrm des f4iapr<)chenen Wortes. Man würde geradezu seiner 
Logik Uewalt antun, wollte mau lür jede einzelne der oft sehr merk- 



Digitized by Google 



198 



IlL Di« ^eriäitlieh medizinische Bedeutung^ der Suggeetion. 



würdigen Prozeduren oinen bpsonderen Heilmechanismus, ciiip -ptvi- 
fische Wirkuiif:^ ariiioliiiiPii. Die Heilungen kommen sotrar oft \m\te- 
wußt für deu Heilkünstler, der den festen Glauben an seine Appli- 
kation in sich trägt, durch den von ihm angewandten Brusttun der 
Überzeugung^ m einer auf andere in Form von Suggestion sich über- 
tragende Weise zu stände; ob Wasser, Hob oder irgend ein merk« 
würdiges Lisiranient daza beiMgt, die HetlTorsteilung dareh Sinnen' 
vahmehmang sn Terstfirlnnr das ist Nebensache, wiewohl Heilkttnstler 
und Patient gerade in dem die VorsteRung Termittelndeo Agens das 
Wunder finden. 

Wenn wir auch die Frage der Tatsäcblichkeit gewisser bei 

Medien beobachteter Vorgänge nicht berühren wollen, da von nam« 
haften Forschern (Riebet. L o m b r o s o . L o d g e , W i 1 1 i a ni .1 a m e s 
u. n.) positive Erirpbnisse borichtet sind, so haltcf) wir es doch ennz 
besonders liir unsere Pflicht, auf das schändliche Treiben jener von 
Leicht ^länbiq-keit und Gewinnsucht geleiteten Menschenklasscti das 
Augenmerk /u lenken. Denn dieser grobe M ilil.iiiueli reciit fertigt nicht 
nur j(!des polizeiliche \ erl»ol. sondern macht iiuch den Widerstand be- 
greiflich, welcheu vorurt«lslose ehrliche P'orscher der Untersuchung 
soleher Probleme entgegenstellen, deren Vertreter vielfach tum Aus- 
wurf der Menschheit gehören. Auf die einzelnen mitgeteilten Fälle 
infamer fieutelschneiderei, auf die Ober« und Unter-Somnambulen, 
die Spezialisten für Schatzausgrahnngmi (bei Vorherbezahlnng toh 
1000 Francs), fiiT verlorene Gegenstände, anf die Kartenschlägennnen 
für Liebes- und Reise- Angelegenheiten, auf die Sibyllen für Eiweiß, 
für Krit^Vetrofifcn, für Bleigießeu, von denen eine in sielen Monaten 
nachweislich 22000 Francs verdient hatte, rmf die Massenfabrikation 
Tou <Teisterplu'tographien. auf den fjnn/en iiierzti cjphririjjen tnid bis in 
die Eiii/ellieiieii von G illes de la Toiirette geschilderten Mechanis- 
mus können wir an dieser Stell«^ nicht näher eincrehen. 

Die im \'urtrag erwähuleu seclib FitUe. in deaen icli Gesuudheit»- 
beschädiguügeu infolge von Beschäftigung mit spiritistischen Übungen 
beobachten konnte, sind folgende. 

In einem dieser Fälle bandelte es sich um einen Scbneidergesellen, 
in einem zweiten um einen Agenten, in einem dritten um einen Bild- 
haner. Alle drei Personen zeigten Erscheinungen ausgesprochener 
männlicher Hysterie, die jedoch erst durch die Versuche künstlich er- 
zeugt und bei dem Bildlianer bis zu Anfallen gesteigert wurden. Die 
drei übrigeji Fälle betrafen weibliche Personen. Eine Dame, welche 
die Fähigkeit ihrer Freundin, die schon als Medium gedient hatte, auf 
die Probe stellen wollte, rief durch ihre Manipulationen keine Hypnose, 



Digitized by Google 



Ilt. Die gerichtlich medisiniiche Bedeutung; der Suggestion. 



199 



irolil aber ein Delirium hervor. Eine andere Oame wollte die Geister 
befragen und bt-nützte als ^fediiim ein junges blutarmes Mädchen mit 
nervöser Anlage. Ihre Prozeduren riefen tatsächlich eine Hypnose 
hervor, allein es j^elang ihr nicht, die Freundin aus derselben zu er- 
wecken, und so blieb diese mehrere Tage in eiuem Zustande von 
SoauioK iiz , verbunden mit hochs:radigem Kopfschmerz und Wein- 
krämpt'eii. Der sechste Fall bezieht sich auf eine kleine spiritistische 
Hausepidemie in Mfioehen. Ein tSjähriges frtther geawicles Mädchen 
entpuppte sich zum Erstaunen der spiritistisch angehavchten Eltern 
als ^Ü^rance'Mediam'*. Dieselben stellten eifrige Versuche mit dem 
^Wonder'Kinde" an. Dieses wnrde Kennern vorgestellt, man be* 
hanptete sogar, historische Persönlichkeiten gäben sich durch sie kund, 
femer hätte sie im Schlaf die Gabe des Klavierspiels uud dergl. mehr. 
Die Holle der „interessanten Persönlichkeit" schien hei dem Kinde 
giinstigen Boden zu finden uud wirkte sogar ansteckend auf ihre ältere 
Schwester. Die Schlafzustände traten öfter ein, das Kind wurde stiller 
und bleicher, — begreiflicherweise, weil seine empfängliche Phantasie 
stets neue ungesunde Nahrung durch die \'ersuche und Erzählungen 
der Familie aufnahm. Das Erwecken gelang nur schwer, und so war 
es kein Wunder. daI3 das überreizte Nervensysttm endlich durch 
hysterische Anlalle heftig reagierte. Das Kind kouute wochenlang 
nicht zur Schule gehen und hatte an dem Tage, an dem ich es in 
Behandlung nahm, sogar zwölf hysterische Anfälle gehabt. In solchen 
PäUen sind die hypnotische Suggestivbehandlnng und strengstes Ver- 
bot aller derartigen Versuche vom besten, ja meist sicheren Erfolg. 
Auf diesem Wege gelang die Herstellung der systematisch behandelte» 
weiblichen Patienten in wenigen Sitzungen vollständig. 

Die Gesundheitsbeschädigungen . welche nun infolge Mißbrauchs 
hypnotischer Prozeduren , sei es in öflfentlichen hypnotischen Schau- 
atellungen, in Privatzirkeln oder spiritistischen Sitzungen beobachtet 
.wurden, sind in Kürze: Schwieriges Erwecken: gewöhnlich entsteht 
p^roße Restürzung. wenn in einem Salon das ()|)t'er der leichtfertigen 
Spielfrei irgend eines Anwesenden nicht anlwachen will trotz emsiger 
Bemühungen, ferner beol>!icht»t man Steigerung des Autoniatismus 
hy8teruepil('i)tische Anfälle. Xarhtwaudeln , Delirien und dan große 
Heer hysterischer Leiden, Iviilüuungen (z. B. Verlust der Sprachbe- 
wegungen), außerdem psychische Ansteckung ; so gibt es Personen mit 
lebhafter Einbildungskraft, die schon einschlafen, wenn sie einen Hyp- 
flotisierton ansehen, femer spontanes Auftreten hypnotischer Zustande, 
psychische StArnngen aller Art (Tobsucht etc.) und endlich tödlicher 
Aufgang. 

T. Sclirenek-Notiliig. Stadiftt. 9 



Digitized by Google 



130 HI- IK« fferichtlich medisinisrhe Bcdeuliing der Suggestion. 

Der hypnotisierende Laie kann nicht wissen, wie es mit den ge- 
swndhoitlirhen Verhältnissen seines Opf rs stfht , das viollfirlit «'in 
Herzleiden besitzt, virileicht auf (Irnnd erliliclier iielasniüi: lim Is^eim 
zu epileptischen Aulälieii, zu ( ieisteskranklifit oder m Hysterie IQ sich 
trägt, und läult Gefahr, diese latenten iStüruugen durch seine Unjje- 
schicklichkeit künstlich infolge der emotionellen Erregung seines 
Mediums zu wecken resp. in der Entwicklung zu beschleunigen ; selbst- 
redoid wird er in den meiilen PHlen - für von ihm produdoie St5* 
rangen auch dann Terantwortlich gemacht werden, wenn schon ein 
geheimes Leiden in unentwickeltem Stadium vorher bestand. Das 
möge sich jeder Torhalten, der den Mnt besitrt, ohne Kenntnb der 
hypnotischen Technik, ohne vorherige körpertiche üntersvefaang seines 
Mediums den hypnotischen Eingriff in die Gehirnmechanik des Neben* 
menschen zu unternehmen. 

£inige Beispiele mögen die vorstehenden Ausführungen erläutern. 

Prof. Lomhroso beobaolitete in Turin einen Artillerieoffizier, 
welcher von Dunato in iilfeutUrhcr Sitznn? hypnotisiert worden war. 
Derselbe acquirierte von Zeit zu Zeit bei dem Anblick des geriugsteu 
glänzenden Gegt ustandes Anfälle von spontanem Hypnotismus. So 
mußte er z. B. der Lfiterne einer Drnsehke folgen, als sei er davon 
bezaubert. Kndlich erlülgteu iieltige hysterische Krisen. 

Ein Angestellter der Eisenbahn bekam infolge von Donators Ver« 
soeben Konvulsionen und Anfalle von Irrsinn. 

In diesen Schaustellungen in Mailand und Tarin wurden mehrere 
Zuschauer ohnmächtig und litten später an Kopfschmerz und Schlaf- 
losigkeit. Viele schliefen unfreiwillig ein. 

Einen Fall von Hypnosomanie berichtet B e c Ii t s a m e r in Peters^ 
bürg: Eine S8 jährige Patientin wurd<> auf dem We^t^ hypnotiscber 
Suggestion von ihren nervösen Beschwerden befreit und dann aus der 
Behandlung entlassen : sie fühlte sich nun angeblich so wohl nach den 
Hypnosen. dnB sie ihr^ PVeundin instruierte, «ir einzuschläfern, was 
di'^se t:if,'lich besorgte. \\ aiirsrhrinlich triri) dirsellie mit ihr uUerhaud 
Kunststücke und als Dr. Ii e c h t s ;i m e i die ratieutiu wiedersah, 
niiiehte sie auf ihn einen geradezu stumpfsinnigen Eindruck. Er 
wi'iiiluio liuu das ii\i>notische Heilverfahren bei ihr uu und suggerierte 
ihr: !Nur der Arzt könne sie hypnotisieren, sie solle das mit der 
Freundin Vorgefallene vollständig vergessen und dürfe sich nicht mehr 
die Hypnotisieruug von Laien erbitten. Das Besultat war völlige Her- 
stellung der Patientin; daß aber der Erfolg anhielt, wurde von dem 
russischen Kollegen durch weitere Beobachtung der entlassenen Patientin 
nach Monaten bestätigt. 



Digrtized by Google 



UI. Die geriehtlieh medinniadie BedeuinDg^ der Su^'gt stion. 13| 

Eine tranrige Berühmtheit erhielt vor dDigen Jahren der darch die 

Ungeschicklichkeit eines Laienmagnetiseurs, des BmDnenmeisters N e ü - 
komm yersrhuldete Tod des Frl. Ella von 8alamon. Nach der sach- 
verständifren imd ausführlichen Darstellniif» von Min de fühlte sich 
der Bruunenma'li*^r Neukonim wie manclicr 1 ni°, df»m Ztijt seiner 
Zeit folgend, i»ernten, die Hypnose in oxpcniiitiitt ller und therapeu- 
tischer Weisf anzuwenden. Es wurde als Maguetiseur bekannt und 
trat uucl» iu dieser Hligenschatt iu Beziehung zu dem Großgrund- 
besitzer Salamon auf Schloß Tuscir bei jSyiregyhaza (Ungarn), hyp- 
notisierte desiea Tochter und beseitigte ihr dadurch wiederholt Kopf- 
weh. Sie erwies sieh als Torzügliches Medium nnd brachte auch auf 
dem Gebiete des Hellsehens Terblfiffende Dinge zu stände (?). So 
fand sie angeblich versteckte, verlorene .und gestohlene Gegenstände, 
erwies sieh als geeignetes Objekt fttr Versuche der Stigmatisation, der 
Objektivation des Typcs, Ihr Vater wurde glühender Anhänger der 
hypnotischen Lehren und behandelte sie fast mit religiöser Scheu. Zu 
den häuficren Sitzungen wurden regelmäßig zahlreiche Giiste aufs 
Schlol) fjchiden. Die unglückliche hypnotische Sitzung hatte den Zweck, 
dem zufällig anwesenden J)i. W, v. Vragassy, ehemaligem Chefarzt 
der Wiener ireiwilH^Pu Rettungsgesellschaft, die Phänomene vorzu- 
führen. Nenkomm schläferte die Somnambule auf suggestivem Wege 
lege artis (^'m. Angeblich ging die Hypnosn unter Zeichen von l^rregt- 
heit vor sich. ISieukomm befahl nun dem Medium, ihren kranken 
Bruder in Werschetz geistig anfzosucben und seine Krankheit anzu- 
geben. Nach Aussage des Dr. W. v. Vragassy soll sie nun die 
topographischen Verhältnisse der Lunge mit einer sonst bei Laien 
nicht vorhandenen Fachicenntnis beschrieben haben. Sie stellte die 
Diagnose: Tuberkulose. Erschöpft lallte sie schließlich die Worte: 
ffSeien sie auf das Schlimmste vorbereitet! Die Krankheit endet mit 
Oedema pnlmoinnn acutum hydropicnm suflbcativum." T^nmittelbar 
darauf sank sie mit einem Aufschrei zurück und fiel in tiefe Ohnmacht. 
Trotz aller erdenklichen Bemühungen ging dicsp Ohnmacht nach 
8 Minuten unter Erscheinung von Pulsmangel, tiefem In- untl Ivxspirium, 
sowie schließlichcr A?phyx!e in den Tod über. Die Sektion e rstreckte 
sich nur auf das (lehirn. da die Familie nicht gestatiete. den Körper 
zu sezieren. Es ergab sich hochgradige Anämie, beginnende seröse 
Durchfeuchtung, teigige, sehr weiche Hirnmasse und eine sehr starke 
Entwicklung der Hirnschale. Außerdem war das Gehirn normal auf- 
gebaut. Drei oder vier Tage nach der Beerdigung wurde auf ge- 
richtliche Anordnung die Leiche exhumiert und die Sektion des ganzen 
■Körpers vorgenommen. Das Ergebnis dieser Sektion ist nicht bekannt 

9* 



Digitized by Google 



ISS ILL Die garichUich medisinuche Bedeutooff der Suggestion. 

geworden, doch verlautet, daß Zirkulations- uiul Atuumi^sorgane intakt 
gewesen srion. Die Verstorbene litt au H^steroepiiepsie und der Tod 
soll unter Krämpfen eingetreteu sein. 

Otieubar siud in vorateLeudem Falk- vüii alleu Beteiligten Fehler 
gonacht worden, so daß der wirkliche Zusammenhang des Todes mit 
dem hypnotischen Zustande nicht ohne weiteres erhellt, wenn auch 
theoretisch der Beweis erbracht ist, daß durch Suggestion in der 
Hypnose Tod eintreten kann. Zweifellos wurde die infolge ihrer 
Hysteroepilepeie fttr den Eintritt unTorhergesehener ZwischenftUe hoch- 
gradig prädisponierte Patientin durch das Examen Nenkomm's außer* 
ordeutlich erregt und erschöpft. Diese Erregung mag den Anfall aus- 
gelöst haben, in welchem der Tod eintrat. Erst dieses traurige Vor' 
kommnis veranlußte deu ungarischen Minister zu einer Verordnung, 
nach wolclu-r die Vornahme von äypnotisierungen in Ungarn nur 
Arxteu erlaubt ist. 

Alx'i- pnst liuc ist niclit imjuer propti^r hoc. Nicht jeder Toiles- 
l'all. aer im zritlichcii Zusammenhang'' mit oiner Hypuose steht, liiHt 
sich kausal auf die ilypnotisierung zurück luiueu. So starb vor mehrereo 
Jahren im Hopital civil in Nancy ein Patient, den B e r u h e i m einige 
Stunden TOr seinem Tode noch hypnotisiert hatte. Der Fall war 
folgender: Bei einem an Phlebitis der linken Vena tibialis posterior 
Erkrankten trat nach iwanagtagiger erfolgreicher Behandlung eine 
unsweifelhafte Lungenembolie auf. Vierzehn Tage später versnchte 
Bernheim auf Wunsch des Patienten dessen Beinschmerzen durch 
Suggestion zu beseitigen. Kaum eingeschlafen, wurde derselbe Ton 
Beklemmungserscheinungen beängstigender Natur befallen, die weder 
auf Suggestion, noch nach dem Erwachen sich besserten. Drei Stunden 
später It taler Ausgang des Patienten, welcher noch kurz vor seinem 
Ende behauptete, der Hypnoti?:nnis töte ihn. Indessen widerlegt«* rlit- 
Sektion diese Behauptung: volhg. In beiden Lunireiitlüt(eln l";iiiil uiau 
zahlreiche voluminöse lutarkte. In dem Hau|>t^tamm und beiden 
Zweigen der Art. pulm. Thrombose, welche sich bis zur Valvula 
sigmoidoa verlängerte. Die Notwendigkeit einer Sektion der Leiche 
erscheint in solchen Fällen zur Aufhellung de» Tatbt .siaudes ak eine 
unabweisbare Pflicht. 

Diese wenigen Beispiele mögen als Typen fär zahlreiche ähnlidie 
Ereignisse gelten; sie illustrieren deutlich genug die traurigen Resultate 
der Hypnotisierungswut in den Gesellschaftszirkeln und die unter 
irgend einem anderen mystischen Deckmantel auftretenden Hißbräuche 
der Suggestion. Wenn bisher von „Unkundigen" und ^Laien*' ge- 
sprochen wurde, so soll damit nicht gesagt sein, daß jeder junge Arzt, 



Digrtized by Google 



m. Die gerichtficii mcdiiinbche Bedeutaog der Supfg^ostion. 



138 



der uin Examen bestandeu hat, nun auch ohne weiteres berechtigt 
wäre, mit hypnotischen Manipulationen auf die leidende Menschheit 
loszugehen. T/eider sind nicht selten auch durch Arzte, die sich wie 
Unkundige und Laien Ijf^i ihren hypnotischen Heilversuchen heuahmen, 
ernste Gesundheitsbeschädiguugen produziert worden. Sie haben aber 
in der Regel, wie sich das in jedem einzelnen Falle nachweisen läBt, 
und wie ich das speziell für die Versuche des Dr. Friedrich im 
Münchener Krankeuhause 1. der Isar in einer besonderen Broschüre 
anefthrlich nachwies, — infolge ihrer geringscbätdgen Itteinnng von 
der Sache, wenn ich so sagen darf, anfs Geratewohl experimentiert, 
ohne die notwendigen yorsichtBrnaBregeln einzahaltra. Immer also 
sind Fehler in der Technik des hypnotischen Verfahrens, das genan 
80 gelernt sein will und seine Indikationen besitzt, wie die Anwendung 
des Chloroforms und Morphiums, für die üblichen Folgen verantwort* 
lieh zu machen. Arztliche Anfänger mögen die Hypnotisierung in den 
Kliniken lernen und ihre Erstlingsversuche an gesunden Personen an- 
stellen. Sie dürten dagegen ihre Patienten nicht als hypnotisches 
Spielzeug betrachten und haben kein Kecht, andere Suggestionen zu 
geben, ab zum Zweck der Heiluug geboten sind. 

Die Gefahren des Hypnotismus haben also, wie sich aus dieser 
ganzen Darlegung ergibt, mit der zweckentsprechenden therapeutischen 
Anireodung der Soggestion bei Einhaltung der bekannten Kautelen 
nichts m tun! 

Sie entstehen bei der Hypnotiaiemng durch unvorsich- 
tige Herbeiführung emotioneller Erregungen und durch 

zu intensive Inanspruchnahme der physikalischen (und 
chemischen) Hilfsmittel, sind aber bei Einhaltung der Bernheim« 
sehen Regeln leicht zu vermeiden. 

Sit' entstehen in der Hypnose durch Vornahme aller mög- 
lichen psychologischen Ex]iprimente. welche dem Heilzweck 
zuwiderlaufen und vielfach erneu nicht unbedenklichen psychischen 
A'utomatismus proliziehen. 

Sie entstehen ferner durch künstliche Entwicklung 
aktiver Somnambuler, durch Produktion aller möglichen 
hysterischen Erscheinungen bei Disponierten, wie Schlaf- 
anfiUe, Er&mpfe, Delirien. Diese Symptome charakterisieren einen 
pathologischen Zustand und stellen das direkle Gegenteil der Ittr 
therapeutische Zwecke erforderlichen ruhigenpassiTen Hypnose dar. 

Sie entstehen durch die meist unterschätzte Bolleder 
Autosuggestion, deren Produkte insbesondere bei neurasthenischeny 
hysterischen und ängstlichen Personen den Arzt irrefuhren können. 



Digitized by Google 



JH. Die gerichtliohe medisuuiehe fiedeutUDg du SuaMtion. 



Sie entstebeu auikrdem durcii unrichtiges Erwecken, 
maugelhatte DesuggestioDieruug u. s. w. 

Sie entstehen bei zu ungenauer und obern&ohlicher 
Untersuchung und Kenntnia des NerTensyetems und der 
IndiTiduAlität, auf welche eingewirkt werden eoU. 

Si6,«nt8tehen ebjanso durch die Torgefafite Ueinnng der 
Experimentatoren, wenn sie z. B. von vornherein naeh patholo- 
gischen 'Merkzeichen suchen (Stellung der Bulbi, fibrilläre Mnskel- 
zuckiingeu), sowie durch die als psychische Infektion anggestiv wirkende 
antihypnotische Atmosphäre, in welcher sich der Patient befindet, 

Sie entstehen endlich und nicht zum miudesteu durch Un- 
wissenheit des Hypnotiseurs, wenn er sich nicht genügend über die 
Elemente des hypnotischen Heilverfahrens unterrichtet hat. 

Dagegen vermeidet die von der Nancyschule empfohlene Operations- 
methode die säiutlicheu Gefahren. Bei sachverständiger An- 
wendung, d. b. Einhaltung der bekannten Kantelen iet auch nach 
meiner Er&hrung hypnotische EinfluBnabme zum Zwecke therai»ea- 
tiscber Wirkung unschädlich, selbst wenn man denselben Patienten 
mehrere hundert Mal Jabre hindurch hypnotisiert 

Dazu gehört aber Anwendung der mildesten ICttel (Vermeidung 
stark einwirkender Sinnesreize bei Hypnotisisrung), völlige Verzicht* 
leistung auf alle psychologischen und sensationellen Kunststücke, Ein« 
schräukung der Suggestion auf Einschläferung, Feststellung des Tiefen- 
grades der Hypnose, auf die Heilvorstf^llung und das Envecken (also 
Vermeidung aller überflüssigen und durch den Heilzweck nicht direkt 
bedingten Eingeijungen). 

Zu behaupten , die Hypnose könne wohl schaden . aber nicht 
nützeni ist wiederum ein Nonsens; denn uat der Schädlichkeit wird 
audi die Wirksamkeit der Suggestion auf den Körper zugegeben. 
Bekanntlieh smd die st&rkstsn Gifte auch die besten Heilmittel Wie 
in allen anderen Zweigen der Heilkunde hängt auch bei bypaotiscbeii 
MaBnahmen die GefiÜirlicbkeit ab tdu der technischen Sicherheit» den 
Kenntnissen und Erfahrungen des Arztes. 



1 



IIL Die gerichtli«h tnediiiiitielie Bedeutung der Suggestion. 



135 



Zweiter Nachtrag. 

Das angebliehe SIttliehkeitavergehen des Dr. K» 

an einem hypnoüfiiertea Kinde. ') 



1. 



Sachdarstellung des angeschuldigten Arztes. 



Am Mi"'vn h. den 27. Juli (genau vermag ich nicht das Dutum anziijjiM)r>n) 
rief ich tiaä Kiiui 3Iagdalene S., geb. am 15. Juli 1885, iu mein Zimmer (Assistcnten- 
zimmer eines Uöncbeuer Kraukeuhauses). Als sie in demaelbeu war, scliloll ich die Tür, 
damit idi nieht, wie lehoo mehrere Male bei frflhereitHypnoaeversnehen, durch den 
plötzlichen Eintritt TOD Schweiteni oder Kollegen gestört würde. Ich sagte der Pai, 
sie möchte sich aufs Soj>ha setzen und den vorgehaltenen Gegenstand, es war mein 
FerkuMioDshämmerchen, »charf ansehen und an nichta anderes als aosSuhlafcn denken. 
Nach einiger Zeit, nachdem ich ihr suggeriert, dafi sie müde lei and ^nst fett schlafen 
wttrde, sagte ich ihr, sie sehlafe nun sehr tief, sie könne die Aupfcn nicht mehr öffnen, 
was ihr auch trotz Anstrengnnrr nicht mehr gclnnsr. Xachdciii ich das Kind somit in 
Schlaf viTsoiikt hatte, nahm ich einen der Arme meiner Fat. und hielt denselben 
borixoutttl, um zu sehen, ob der katelcptische Zustand der Muskeln eingetreten war. 
Ab ich dies bestStigt fand, als ieh sah, dafi die Arme nnd HKnde jede ihnen g^^ene 
passive Sti llung' beibehielten, sagte ich ihr, sie könne ihre von mir geschlossene 
Hand nii-h( mehr öffnen, was ihr such nicht mohr n^i lantr. Dann nahm ich eine 
Nadel und prüfte ihre Sensibilität, dieselbe war voilkommeu erloschen; Pat. xog 
die Hand, in die ieh stach, nicht surfick, nachdem ich ihr suggeriert, dafi sie nichts 
mehr fühle. Nun sagte ich ihr, sie solle aufstehen, was sie bereitwillig tat Dann 
ging sie auf mein GehciC hiii znr Tür, klopfte dort dreimal an uml kam. gfenau 
allen meinen Befehlen gehorchend, wieder zum Sopha zurück, wo sie sich wi.-der 
niederlegte. Aisdaun nahm ich den Qrilf meines Bartpinsels, welcher aus Höh 
gef(Nrtigfe war und entfernte Anlichkeit mit einem Gummidietsel = Qummisauger 
hatte, wie ihn auch hier in Mflnchen die kleinen Kinder noch bis zum dritten 
und vierten Jahre zur Beruhigung in den Mund gesteckt bekommen. Ich steckte 
diesen Holzgriff der Pat. in den Mund und suggerierte ilir, es sei ein Dietzel, sie 
möge nur daran nahen und lutschen. Die Suggestion des Sangena an einem Gummi» 
dietael sduen mir bei meiner Pat. deshalb sehr geeignet anr Piüfnng ihrer Sinnes- 
cmpfindungon. weil sie wie jedes Kind frenati einen Giimniisnuger kennt, und so 
konnte ich ilieaen Versuch genau in Parallele stellen zu jenem von Prof. Bernheim 
aogestellteu, welcher einem Manne in Hypnose den Bleistift in den Mund gab und 
ihm suggerierte, ee sei eine Cigarre, worauf dieser Pat. denn auch an dem Bleistift 
saugend rauchte uml Kauehwolken von sich blies. Bei meiner Pat. nahm ich ein- 
mal den Oriff aus dem Munde und fragte sie, ob der Griff ans Holz oder ob es 
ein wirklicher Dietzel sei, worauf sie schwieg. Daß der Ausdruck Dietzel hier iu 
Mündien in der ToUcsspraehe für das Membnim Tirile gebraucht wurde, war mir 
damals bei der Hyimutisierung meiner Pat. vollständig unbekannt, ich erfuhr dies 
erst spiiter von meinen Kollegen. Ich sagte meiner Pat. alsdunn, sie solle sich 
davon überzeagcu, daß ich ihr einen Dietzel m deu Mund gesteckt habe, sie möge 



1) VergL 8. 107 dieses Werkes. 




136 



IIL IKe gvriehtlick medisiDitehe Bedeutoog der SuggMtion. 



deu8«^lbt-ii nur aufuMeo. Darauf nahm sie erst eine, danu beide Hände, tastete 
an dem Oriff berom, lehwieg aber und sagte nicht, daß es ein Dietsel sei. Xud 
steckte der Pat. den HolsfrilF wieder in den Knnd und be&hl i|ir, weiter an 

deiiisi Iben zu ziehen. Ich giug alsdann einige Schritte vun ihr fort und legte 
ihr cm Ilamliuch lose über (]ie Aupcn. ihr saggeriorrnd. sie würde riihip tind lief 
\k'eiter schlafen und gar nichts mehr sehen. Ich fühlte das Bedürfnis zur Uriu' 
entleerang, ging infolgedessen au meinem Kaditgesehirr, welches in meiner Kadit- 
kommode einige Schritte vom Sopha entfernt stand und urinierte. Ich ging ana 
mehreren GrÜBden nicht aus dem Zimmer, einmal, weil ich aus den von mehreren 
Autoren beschriebenen Hypnoseversucheo wuütc, dali die hypnotischen PersooeUi 
sobald sie nicht mehr unmittelbar unter der Hacbt des Hypnotiseur« stehen, mit> 
unter sofort wieder erwachen ; dann aber wollte ick auek den Hergang der nno 
einmal von mir eingeleiteten Hypnose genau beobachten, und drittens kam es mir 
darauf an, meine Fat. nicht aiku oft zu hypnotisieren, womöglich gleich bei der 
ersten HN^inose, die ich gerade au jenem Tage an ihr Toruahm, therapeutisch 
mit aUer Enetgie erfolgreich auf sie Mniuwirken, und um dies an können, kitte 
ich noch längere Zeit die eingeleitete H>'puose fortsetzen müssen. Da mir selbst 
aber die Handlung des Urinierens peinlich war, legte ich der Pat, ein Hnndtuch 
über, durch welches sie, selbst wenn sie hätte erwachen sollen, uüch nicht sehen 
konnte. Als ich bald darauf wieder «u Magdalene S. trat, hatte dieselbe noch 
imiiK r den (iriflf meines Bartpinsels in dem stunde. Ich nahm denselben io meine 
Hand, warf das ihr übergelegte Tuch luif uuiu Butl uiul legte ihr etwas S:\lz auf 
die Zunge, iodem ich ilir suggerierte, es .sei Zucker, sie solle denselben nur hin- 
nnterscUncken, er sei sehr afiH. Als ich die« gesagt, acbrak Fat. plötzlich zusammen 
und sehlug die Angen auf; sie machte dn gana verstörtet Oeaidit und fing etwaa 
an zu weinen. Sie beruhigte bich jedoch bald wieder, als ich ihr gesagt, es sei 
ja nichts jiassiert. ich hätte ihr nur etwas Salz Repehen. Dann ließ ich sie au» 
dt-iu Zuikuiei- lu ihren Saal, in den ich mich ebeuialls nach einiger Zeit begab. 
Ich traf die Pat. im Bett liegend and sagte sie mir auf meine Frage, weshalb sie 
denn au Bett gegangen, datt sie nnwohl sei und Kopfsekmersen habe. 

Aua der Anamnese ergab sieh (cf. Krankengeschichte) Folgendes; 

Stit 3 Jahren litt Pat. an Bauehbeschwerden, ne bekam in Zwischenräumeu 

von einigen Wochen nnfnilsweise heftige Leibschmerzen, begleitet von Erbrechen 
und Durchfällen und starkem Aufgetriebensein des Abdomens. Vor einigen Tagen 
soll Pat. in einem solchen Anfall ohnmächtig hingefallen aein mit Schaum TOt 

dem 3Iunde. Die Ohnmacht hat angeblich 4 Stunden gedauert, die Leibschmeraen 

hielteti 4 Tapo an. es trat Erl*reelien und l in ..kolossales" Aufgetriebensein dcS 
Leiber ;iuf. Dit lirrb(i^:('ruffue Arzt kunstati'Ttr IJuuclifcllcntziindung. 

Ich konnte bei der objektiven Untersuchung (cf. Krankengeschichte), die 
natürlieh im Saal in Gegenwart von Kollegen nnd Schwestern Torgenommen wurde, 
ander einer starken, schon lange bestehenden Atrophie des rechten Beines absolut 

nicht«! pathologisches an ihren inneren Organen nai'hweisen, was mir nur einiger- 
raaüen die in der Anamnese erwähnten Krankheitssymptmue erklarte. Da nun 
auch hier im Hospital bis zu dem Tage, an welchen icii Put. hypnotisierte, absolut 
keine krankhaften Krscheinungen, inabesondere kein Erbreeken, Ohnmachtsanfall, 
Aufgetriebensein des Abdomens sidi aeigten, so ersdiienen mir diese in der 
Anamnese angepebenen Erscheinungen als Symptome einer Hysterie oder der 
Simulation. Deshalb glaubte ich auch mit vollstem Rechte, bei dieser Pat. Uyp- 



Digitized by Google 



III. Di« gericbtUok m«dizini«ehe Bedeutung der SuggeBtioiu IS7 



iiosc Hl Auweudung brinffen zu dürftu. um ihr in drrsplhon die SiiKp^'sfioa zu 
gubeu, dal] sie in Zukunft nie wieder <lt*rurtige Eräclieiiiungeu bekumiueti würde, 
wie sie dietelben vor ihrer Aufnahme ins Hospiuü gehabt hatte. 



M a •.*■<! a 1 (■ n « S,, u flcho um 11. Sept. auf wein Vcrlnngeu mir von deren 
Vater vorgestellt wurde, luaclit« auf luicii den Eindruck eines abgeuiagert«D, krän- 
lichen, zurflrkgebliehenen und verwahrlosten Xindes, Ihre iufiere Erscheinung' 
liSt nicht auf ihr Alter sehliefien, sondern aidit einer TJährigen ihnlich. Sie 
hinkte beim Betreten des Zimmers und zpitrto weder in ilircr Sprechweise noch 
in ihrer ganzen Art etwas Anziehendes. Du- nähfre J^rschreilniiig ihres körper- 
hcheu Status ergibt ihre den Akten beigelegte Kraukeugesclüchte. Vater und 
Tochter stellen das SittBehkeitsattentat so dar, wie es in den Akten deponiert 
wurde. Der Tagelöhner S. erwiderte auf Befragen, daß man unter „Dietzel" im 
Volksmund ebensowohl den Üommisangfer der Kinder als auch das männliche 
Oüed verstehe. 

Magdalene will wihrend der ganzen Handlung des Arztes TdJlig wach gewesen 
sein. Daher erinnere sie sich deutlich aller Einzelheiten. Sie habe ferner durch 

das ihr über den Kopf grlcrflc Haiullueh das Glied des Dr. K. pr'^ehrn. l"ber 
andere nicht mit dem Attentat zusauunenhängende Suggestionen des Dr. K. weiß 
sie nichts Näheres anzugeben. Die Mitteilung von dem Vorgefallenen habe sie 
der Pßegesehwester erst gemacht, als diese sie über die Vorgänge in der Hypnose 
befragte. 

Hei der Wichtigkeit der Anssape des Kindes und dm "NViderhprüfhen in der- 
selben erschien mir behufs möglichst genauer Feststellung des Vorgefallenen und 
Weckung der Erinnerung daran die Herbeiffihrnng einer neuen Hypnose 
(in Gegenwart eines Zeugen) nötig zu sein. Die theoretischen Darl^nngen 
ilieser Arbeit enthalten für die Berechtigung dieses Vorgehens die nötige Be- 
gründung. Ich feilte dies dem Kinde mit und versuchte es in eine liegende 
Stellung auf dem Soplia zu bringen. Magdalena S. zeigte sich widerspenstig, 
wollte durchaus nichts davon wissen, fing an an schreien und zu weinen und ge- 
berdete sich sehr unartig. Schließlich sddug sie wfltend mit Händen und Fnfien 
um sich. Ich rief den Vater herein. Dieser suchte auf sein Kind EinflnO zu ge- 
winnen, sie überzeugen durch gütliche Zurede. Aber ganz vergeblich. Sie 
setste anch dem Vater heftigen Widerstand entgegen, der sieh bei Drohungen 
and Schlagen des Vaters nur noch stdgerte. Sie warf Mch auf den Boden, hielt 
sich an der Tür fest. lärmte, sehri" und tobte in einer selir Loshaften und un- 
gezogenen Art. mehr der V:iu r in »ie drang, um so heftiger wurde der Anfall. 
Die S^eue dauerte länger als 20 Minuten und erweckte den Kindruck, daß dieses 
offenbar vielfach auf sich seihst angewiesene Kind einen eigenwilligen verstockten 
Charakter besitze, vielleicht einen gewissen moralischen Defekt, wie man ihn b<*i 
nervösen, hysterischen Kindern mit Hang znni Liipen und Sinmlierei» häufig findet. 
Die Patientin mußte also von mir ohne weitere Wiederholung des Versuches ent- 
lassen werden. 

Bemerkenswert ist noch die Mitteilung des Vaters, wonach das Kind 



Gutachten. 




138 III» Pi« geriebtUeh medisiniMhe Bedeatun^ der SuraMtioo. 



bereits einiual Gegenstaud eiues äittliclikeitsvergelieus geworden 
iit. Ein tltw MAnn fflkrto das KmA ma ^nm «iiuanien Ort und nxinierte ilim. in 
den Mund. Ee »pielte sieh «bo dunala genau das gleiche Vergelten an dem Kinde 

ab, wie OS iui vorliegenden Fall dorn Dr. K. zur Last gclept wird. 

T>ip orstp M fi pr ! i c h k e i t wäro dir, dali das Attentat auf die iSitlUchkeit 
des Madclioiis sieh no zugetragen hatte, wie sie es selbst daralt-iit. 

Jedeniüb ereeheinen dann ihre Mitteilungen Aber die sonstigen Suggestionen, 
die doch Dr. K. jedenfalls behufs Herbeiführung einer tieferen Hypnose vorge- 
nomiucn haben müßte, lürkciihuft uml die^si r Gcdiirhtnismangel auffällig. Nach 
ihren eigenen Angaben müilte sie das Büd des Schlafes simuliert haben, indem, sie 
in dem Arat den Glauben an das Vorhandensein eines hypnotiadiett Zustande« tu 
erwecicen wallte. Aber noch merkwUrdigor berührt iler Umstand, daß sie ohne 
sich zti widersetzen, obwohl sii" doch Zeugin der Vurhoreitunpen zu dem Attentat 
war und das entblößte Glied durch das Tuch hindurch vorher wahrgenommen 
haben will, willig den Wünschen des Dr. K. nachkam, indem sie. wirklich 
Saugbewegnngen und onaaistische Manipulationen an dem G-Uede des Antes vor- 
nahm. Erst als er seinen Urin in ihren Mund entleerte, also beim letzten Akt 
ihr bereits von früher in seinen Einzelheiten hekanjiton Dramas roaprierto sie im 
gegeuteiligeu Hiaul Ist es nun überhaupt psychologisch wahrscheinlich und denk- 
bar, daO ein Midchen Ton der hartniddgen EigenwilUgkeit und Selbständigkeit, 
wie sie Magdalene mir gegenüber bewies, trotz ihrer früheren ErCahrung auf 
sexuellem Golti'^t. trotz aller Warnungen und Bplehrtmgen ihres Vaters, in dorn 
TOD ilir selbst behaupteten Vollbesitz ihres freien Willens, sich ein zweites Mal 
einen so mffinirten und in seiner Ausführung umständlichen Angriff auf ihre Ge* 
schleehtsehre bitte geHsllen lassen, daO sie ein Opfer desselben worden konnte? 
Warum erhob sie sich nicht sofort bei den ersten Versuchen, entrüstet ü!>er die 
Zumutungen des Arztes, und verließ das Zimmer? Warum rirf sie nicht uiu Hülfp'' 
Warum schrie und weinte sie nicht, wie sie es suiist zu tun ptlegt, wenn ihr 
etwas Unangenehmes widerfihrt? Abgecehen Ton der in der Art der sexuellen 
Betätigung höchst auffälligen Übereinstimmung beider geschlechtlicher Vergehen 
lädt Magdalene S. durch ihre eigene SaehdarstoHonp doti Vtrdatlit der Simulation 
auf sich. Denn sie simulierte das Bild der Hypnose, erniedrigte sich zum Werk- 
nrnig der eigenartigen sezneOm Gelbrte des Ajntea, um dann mehtraglich gegen 
ihn die schwere Anklage wegen Sittlidikeitsdelikts zu veranlassen! 

Dio zweito Möglichkeit wiirn die, daC das Miidi-hen siili wirklich in 
einer Hypnose leichteren (irades befand, über deren Beistehen sie sich selbst 
täuschte. Indessen wäre bei einem so tiefen verbrecherischen Eingriff in ihre 
Selbatindigkeit, wie im theoretischen Teil gezeigt wurde, die IHhigkeit des 
Widerstandes kaum abhanden gekommen. Sic hätte aus der leichten Benommen- 
heit schon bei den ersten sexuellen 3Ianipulationr'n lic.s Arztes erwachen müssen. 

£s ist psychologisch nahezu ausgeschlossen, daß in Hypnosen leichteren Grades 
gegen den Willen der betreffenden VersuehqMrsonen tief greifende lunnineUe 
Suggestionen besonders bei erstmaliger Hypnotisierung angenommen und reati«ert 
werden. 

Die tiritte 3iöglichkeit ist diejenige des Bestehens einer tiefen Hypnose. 
Die Angaben des Dr. K., wonach die hypnotisierte Mi^dalene S. Handlungen 
automatisch ausföhrte und selbst SinnestÜusehungen zugänglich war, lassen auf 'das 

Vorhandensein einer solchen schließen. Aber auch in diesem Falle wäre ebenfalls 
in Anbetracht der entmaligeo Einschläferung der Erfolg für die Bealisierung rou 




IIL Die geriehtlidi ueduinisefai» Bedeutung der Suggestion. 189 



turayinpathisi'hoii Kingobungm mit soxnollcr Tcnrlptiz r.nm niimli sti ii zwpifplhaft 
gewesen. Beobachtungen, lu denen schon bei einer ersten Hypnose solche ver- 
t^eherisehen Suggeetionen gelingen, gehören zu den Seltenheiten, zu den Aua- 
Mhinen. 

Wenn hImt überhaupt eiru' II \ p u u se leichteren o »I r r t i o f o r e ii H r a d n s 
bestand, so stellt das £riuuerung8Teriiiögeu der betrefl'euden \'ersiich»- 
penon nMh dem Erwaeheti da gan« uinuverlässiges Mittel cur FeetiteUung der 
wiildiehen Vorginge im hypnottsehen Znetoode dar. Dasselbe ist, wie in dem 
ersten Toil aii«fTofnhrt wurde, allen möglichen Täuschungen und Fehlerquellen 
ausgesetzt und wird um so unzuverlüssiger und lückenhafter, je tiüfi r cHc H>-pnose 
war, bis zur roUigen Amnesie, läßt sich also, wie schon orwähut. abgesehen von 
•einer informatorischen Bedeutung, als juristisdies Beweismittel ebensowenig ver- 
wenden, wie die mehr oder minder vcrsdiwommenen Erinnemngsbrnehattteke aua 
den Träumen des normulrn Srhliifo«!. 

Die vierte Möglichkeit besteht bei dem wirklichen Vorhandenseiu einer 
Hypnose in einer traumhaften Verknüpfung lebhafter firinnerungsvorstellangen an 
das fi ülu-re sexuelle XSrIebnts mit den Suggestionen und sonstigeu Wahruehniuiigen 
in der Hy|)nnse zu rinrni ( ipsnmf bililc ans Dichtung und Wiilirlifit. ticssrn Inhalt 
nachträglich von der liagdalene 8. erinnert worden wäre. Für diese Annahme 
sprechen Terschiedene schwerwiegende Argumente. Es iat eine bekannte Tatsache, 
daft der hypnotisierte oder somnambule Träumer von den Produkten aetner Ein- 
bildungskraft autosuggestiv völlig beherrscht werden kann. Die Suggestion des 
Snti^ff'ns an einem „Guinniidif tzol" konnte srhr wohl di»» l^pniiniszonr an jf^ne« erste 
sexuelle Attentat in dem Kinde wachruten; beiden Erlebnissen war das Saugen 
an einem weichen Gegenstände sowie der sahdge Gesehmaek gemeinsam: das Wort 
,.Dutz<'l" als Bezeii liiuintf für das männliche Glied konnte imiffl icherweise auch 
dem Kinrio nicht utihekannt sein. Wenigstens lüflf hierauf das Verhalten der 
Patientin aui-h den Schilderungen von Dr. K.. schhelien; denn sie blieb trotz ilirer 
offenbar gesteigerten Empfänglichkeit fSr die Suggestion deaAnttes ihm auf seine 
Vrage, an waa sie sauge, die Antwort schuldig; dieses Verhalten wflrde sieh in 
dem prnnnnten Sinne durili Vorlf^penhrit oder Schnmhaftigkeit erklären lassen. 

Hatte sich aber einmal die Phantasie mit «ler autosuggestiven Verarbeitung 
jener für ihr kindliches Geistesleben tief einschneidenden Eriuncrungsvurgängc 
baaehifllgt, so war das ganse weitere Verhalten des Arztes dasu angetan, den 
Argwohn der H^-pnotisierten, es han<llc sich um eine Wiederholung des früheren 
sexuellen Attentats, zu licsfärken, d. h. item aufosuffporierien Triium neue Nahrung 
sazuführen. Durch das für das Versuchsobjekt bclremdliche Verhüllen der Augen 
mnfite dieser Verdaeht sieh atdgem; cur Gewifiheit wurde die Vermotung der 
OMumenden, als sie aus der rermeintlichen Geaiehtewahmehmnng oder aus dem 
Hören des HrTHnsches heim l'rinicren in da"? Xachtpeschirr schlofi, daD der Arzt 
sein Glied entblößt habe und ein Hcdürfnis verrichtete. Die phantastische Um- 
dautung oder illosionierende Übertragung der äußeren wirldichen Vorgänge (z. B. 
taeh dea Sabq^eadimadces) auf den Inhalt des herrsebenden Traumhildea wurde 
ergänzt durch die halluzinatorische Schöpfung der ohne Kritik und Hemmung 
tätigen Einbildungskraft. So wurden aus df»in suggerierten Giiminidietzel das 
männliche Glied, die Saugbewegung und das Ergreifen desselben zu onanistischen 
Manipulationen, das VerhfiUen der Augen ein Hollsmittel zur leichteren Ausf&hrung 
des Vorhabens, der Salzgeschmack zum Uringeschmaek; das Urinieren in den Hund 
der Patientin muO naeh ihrer Ansicht, wie beim ersten sexuellen Attentat dem 



Digitized by Google 



140 in. Die geriehtlick medisiniMhe Bedantany d«r SuggMtion. 



Arzte 2ur goschlechtlicben Befriedigung gedient haben; die nicht zu bestreitende 
Tatsache des UrioliiSBcus wurde aber in Besiehung auf die träumende PeraönUchkstft 
unter dem domioierendeo Einflafi der lebhaften Srinnening «n dai frShere MzueDe 

Delikt iimgedeuteif wozu der Geschmack des Salzes, welches ihr Dr. K. auf die 
Zvinp*» ^h\k heip»'tragen habt*» maß. Der Vorgang der Ejaktjlation als Mittel lur 
geschlechtlichen Befriedigung war dem Kinde vielleicht noch unbekannt. 

So entftsod durch eine TerbingnisroUe Terkettang' innerer nnd Kußereir 
Umitande gewissermaßen als letztes Glied der herrschenden Vorstellungsketie 
;i (1 1 et ü ti e <; t i V die Selbsttäuschung, der Arzt habe zum Zwecke geachlechfe* 
lieber Befriedigung der Magdaleae S. ia den Jiund uriniert. 

Die Erinnerung an diese Tteumerlebnisae kann onch dem Erwachen cial 
allmühlich eingetreten oder geweckt lein. So war Magdalene vielleioki bei Be» 
sprechung mit der Schwester trotz der aus der Hypnose ztirüfkf;ebliel)ene!i Spüren 
tiefer affektiver Erreptinp iuk-Ii niiht im stände, alles anzugeben und erst nach 
den L'nterreduugeu unt ihren ZiiumcrgcuossinDcn üeleu ihr die Einzelheiten dea 
Tmumee ein, die dwin sdblielUich cur Anzeige f&hrten. 

Oder aber die Vetaehmelzung der vielleicht teilweise undeutlichen Reminis- 
zenzen aus der Hypnose mit der lehhaften Erinnerung nn das frühere Erlebnis zu 
einem Gesamtbilde ist möglicherweise erst nach dem Erwachen erfolgt, als der 
Argwohn durch Oeiprache mit anderen Kindern erregt nnd die Aufmerkaamkoit 
anl das sexuelle (tebict hingelenkt war. In diesem Falle wäre die im wachca Zu- 
stande erfVil^i-to. uinvinkürliclie. rüekvs irkeiHlc EriiincninpsfiilsL-huii^j be^'iinsti^it durch 
lebhafte Phantasietätigkeit mit der Unfähigkeit und dem Streben, die Vorgänge 
in der Hypnose mögUehftt genau zu rekapitulieren. 

Wie im Schla&uatand, wären also audk hier die Ifiekenhaften Erinnernngi- 
Itilder durch Elemente der früher erlebten Situatioti unwillkürlich ern;;n/.t, Xach 
dieser Auffa^sunfr H.ncht die Magdalene S. noch nicht in dem Augenblick an den 
Aogrid auf ihre Geschlecht«ehre, als die barmherzige Schwester sie befragte. Viel" 
mehr bekam dieser Argwohn erst spKter den Wert einer autgektiven Überzengui^. 

Welche der 2 Variationen der vierten Möglichkeit pqrclld,OgiMll 
die rrrfiCte WnhrscheinUchkeit fär sich hat, das möge nach freiem Ermeaaen eittU 
-schieden werden. 

Für die vierte Möglichkeit einer autoanggeatiTen Erinnernngt* 
fälsehung in der Hypnose oder einer ret roaktiren Fseudo re mini szcns 
im wachen Zustande sprieht aber auch die ganze snnstitr<' Sachlage. Vor 
ollem kommt hier die Persönlichkeit des Arztes in Betracht, eines Mannes, 
der dos volle Vertrauen seiner Vorgesetzten gcnieOt und sich nie eine Pfliehtrer-^ 
letzung zu Schulden kommen liefi. Außerdem scheint derselbe seine bankan 
Kinder alle nach der gleichen Methode hypnotisiert zu haben und machte fast 
bei allen die gleichen Suggestionsexperimente, wie sich durch Zeugenaussagen 
erweisen läßt. 

Bekanntlich kommen sexuelle Handlungen, wie die in TVage stehenden, bei 

abgelebten Koues, deren in Abnahme begriffene geschlechtliche Poteu immar. 
neuer Reizniitti-1 bedarf, sowie bi'i krankhaften nnd senilen Personen vor. Pur 
das Vorhauueuscin einer solchen perversen Geschmacksrichtung 
lifit sidi bei Dr. K. nicht der geringste Anhaitapunkt finden. Es wSre psycho^ 
logiarh ganz unbegräflich, wie dieser sexuell normal empfindende und bemflieh. 
vertrauenswürdige Arzt dazu hätte kommen sollei,. eine vom Stiindiiunkte sexueller. 
Befriedigung ganz sinnlose und widerliche Handlung an einem derartig .verwahr^). 




III. Die g«riditlich »«disiniscfae B«deatuDg^ der Suggniioo. 



141 



losten. iltiHfrUch nicht aasiehcndeot hinkeadeu, körperlich zurückgebliebenen Kinde 

«1 vollziehen! 

Allerdings war sein Verkaltcu uiiudcstens sehr unvorsichtig; denu 
bei einem tieferen Eindringen in die Saggestionslehre hKtte er wissen müssen, daO 

die Hypnotisierten und spezit'll tiio So ni n a iii h u 1 o ii feine psychische 
Rparrp"ti''n darstHIen auf alle äußeren Eittdn'irkp. dalJ «ic rli(«oIlion im Sinnt' 
ihrer Träumereien und Suggestionen zu verarljeiteu j)riegon, dall es also für den 
Arst cur Sicherung seiner Standesehre ein Gebot des Selbstschutzes ist. in zweifel- 
haften Fällen Zeugen bcisuziehen. soweit das mit der Wahrung dos ärztlichen 
Anit«;L;< ln inmissp«: vcrf itihnr f-rscbeint. Al" r ilii^'^nr Punkt kommt in öffentlichen 
Küuik<'n wenigi-r in Betracht, als in der l'rivatpraxis. 

Dm wenig sorgsame und mit den Kegeln der Suggcstivbchaudlung 
nicht vereinbare Verhalten des Dr. K. bot allerdings die Veranlassung, 
daß eine so schw(>rc' Anschuldigung mit einem Schein von Recht gegen ihn er- 
hoben werden konnte. 

Diese Krlahrung lehrt aber von neuem, dali mau den zu ( lie r a ]ie n 1 1 seh c n 
Zwecken Hypnotisierten keine anderen Suggestionen eingeben 
aoll, als für seineHeiUing nötig sind, dafi man ferner die meist unter- 
sehiitzf e Bedeutung der Autosugestionen bei Hypnotisierten su beriick- 
sichtigen hat. 

Vor allem verlangt dieses Spezialgebiet, genau wie andere Speziairaeher, um- 
fassende Sachkenntnis nnd gründliches Vorstudium, damit der therapeutische 
Hypnotismus nicht für die Schulden aufzukommen hat. welche un- 
vorsichtiger iirzt licher Dilettantismus auf dem psychologischen Uebiete 
der Suggestion anhäuft. 

Nach der vorstehenden ausführlichen Begründuofr fasse ich also mein Gut- 
achten dahin zusammen: 

Dil' Au.ssage der IHj ä h r i e n :i <j il a J .■ n >■ S, iiietet. Wenn atifl're 
Beweisniittol für das dem Dr. K. zur Last gelegte Vergehen nicht vorliegen, 
keine hinreichende Gewähr für die Richtigkeit deü von ihr be- 
haupteten Vorfallos. Vielmehr erscheint dieselbe als Produkt 
falscher autoanggestiver T' i mg von Wahrnehmungen in der 
Hypnose und von r ii e k w i i k <• n d > r K r i n n o r u n gs v e r f ü I s c h u n g . in- 
sofern es sich nicht um bewuUte ."i^imulation iian<lelt. Keinesfalls kann eine 
solche durch Fehlerquellen getrübte Aussage psychologisch oder 
juristisch als B o w << i s m i 1 1 el dienen. Dagegen bietet der ganze 
T a t Im- s t :i II li kriiierloi Anlaß, an d^r meines Ernc Iltens t;!a un- 
würdigen Sachdarstellung des angeschuldigten Dr. K. zu zweit ein. 

In der Voruntersuchung wurden die von Dr. K.. hypnotisierten Kinder, das 
Wartepersonat des Krankenhauses, der Vorstand desselben vernommen, ohne daß 
andere für den Angeschuldigten nachteilige Homento sich ergaben, als die im 
Vorstehenden erwähnt 

Somit sahsich die StaatsanwalLschatt veraulaltt, das V erfahre ii 
gegen den Dr. K. einsustellen. 

Der TorsteheDd beschriebene Fall, aber lehrt von uenem eindringe 
lieb, daß die Anwendung des hypnotischen fleilrerfahrens ihre be- 
gtunmten Begeh ond Indikationen besitzt, welche auch von sonst noch 



Digrtized by Google 



148 in. Die g6ri«htU«h meduiDuehe Bedeutung der Suggestion. 



80 tüchtigen Ar/teii frlernt und mit grölker Sorgfalt berücksichtigt 
werden raüsseu, genau wie andere Metliodeu fl«T ärztlirhen Beliandlnng. 
Es wäre aber ganz falsch, für die unansretiehmea Folgen eines un- 
richtigen lind unvorf»irhti«:;:en Vorgehens die Sacbf selbst verantwortlich 
zu machen, wie das leider nur zu gern geschieht, und die Flinte ins 
Koru zu werfen I Mag das Lehrgeld, welches mitunter bezahlt werdra 
muß, auch teuer sein die Leistungsfähigkeit der suggestifen Heflnuethode 
in der Hsnd eines mit den Grundsätzen ihrer Anwendung hinreichend 
Tertrauten Antes wird dadurch nicht berührt! 



Dritter Nachtrag. 
Gutachten über den Fall Sauter. 

Die uacbüteheuden AusfübriinE^en stützen sich einmal auf das 
Studiuni der Akten, ff'rner auf eine nieliriimlige perstMiliclie Unter- 
suchung der Angeklagfeu in der AugerlVohnfeste, und endlich aut da« 
Ergebnis der heutigen Hauptverhandlung. 

Frau Katharina Sauter, Metzgerm«bitersgattin ist 44 Jahre alt 
Vater (Gastwirt) starb im Alter ron 64 Jahren angeblich an Nieren- 
leiden, ebenso die Mutter an Kierenerkrankung, 62 Jahre alt. Yaters- 
bmder köpf- und nierenleidend, Vatersschwester im Klimaktetinm, 
geistig nicht normal. Eine Schwester der Patientin starb infolge einer 
Frühgeburt. Die häutigen Xierenleiden in der Familie sind möglicher" 
weise auf Alkoholminbrauch zurückauführen. 

Frau Ö. will in der Schule nur mittelmäßig gelernt h-iben. Ihre 
Menstruation trat ungewöhnlich früh, schon mit 11 Jahren ein und 
/war unter SeIiiner/*'Ti. Mit 12 .lahren Oophoritis nnd Peritonitis. 
Den anormalen f]rs<'h< iLiun;:i*n in (b-n Rntwjekbmijsjalin'n entsprechen, 
wie das »itter zu beobachten i-^r, die ^^l•aukbatteu S^^^mjitiune im Klimak* 
t< rium. Mit 14 .labren (ji ienivrhtiumatismus. Mit lÖ «Jahreu trat die 
Angeklagte in den Dienst, mit 17 Jahren Detloration : 18 Jahre alt 
verehelichte sie sich. Schon damals waren die Menstruationen regeU 
mäßig Itegleitet von erbeblichen Störungen des Allgemeinbefindens. 

Im ganzen gebar Frau S. 7 Kinder, erlebte 1877 den ersten 



1) L'ber den TAtb^stand Tergl. miin S. 117 dieses Baches. 



Digitized by Google 



III. Die gerichtlich medinDieehe Bedeutung der SagtsfeitioD. 



143 



Abortus und mußte sich wegen srhwerer Unterleibsstönmgen einer 
2 Jahre dauernden ärztlichen Behandlnnir imterzioben. Trot/.deiii bei 
der dritt>^Ti Srliwangerschaft 1883 von ueuem Abortus. Endometritis. 
L'terinbl r uui,'f"n init Lebensfrefnbr. In den Jahren 1S84. 87, 91, 94 
wideniiii Sciiwaugerschalten, üterinblutungeu, Krampladern und andere 
Unterleibsstörungen. 

1893 auf 94. Sturz von einer Treppe mit daraulYoln;ender Fiüb- 
jjebiut. Patientin will bewuBtlos gewesen sein. OtVcubar Gehirn- 
erschütteruDg. Ein Kind der Frau 8. starb 1887 an Tuberkulose, 
ein zweites 1892 an Masern und Pneumonie. 

Daß die lorttresetzten Störungen der Unterleibsfunktionen bei einer 
schon durch erbliche Belastung reizbaren Frau einen nachhaltig schäd- 
icben Einfluß auf die Derröaen und psychischen Vorgänge ausüben 
muBtenf bedarf wohl keiner weiteren Begründung. So finden sieh aueb 
eine ganze Reihe von Anhaltspunicten, die bereits vor dem Klimak- 
terinm bestanden und sich mit dem Eintritt desselben erheblich 
steigerten. 

Seit etwa IVg Jahren ist Frau S. in das Klimakterium eingetreten, 
wie aus der X3nregelmSßigkeit der menstroalen Funktionen herrorgebL 
Bald Amenorrhoe während dreier Monate, bald minimaler Blutabgang 

in Abständen von 14 Tagen. Das Klimakterium ist bekiumtlich für 
r( i/.bar.' Fi auen eine gefährliche Zeit, weil vielfiEich bei dieser Ge- 
legenheit sclilummernde Dispositionen zu geistigen und sonstige Er- 
krankungen zum Ausdruck gelangen. 

Schon seit Jahren leidet Frau S.. wie auch der Hausarzt be- 
stätigt, an schweren Migränenntalleu mit Sehwindel, Erbrechen. Ge- 
fühlen Yon Betäubunir et«'. Z- itwei^e dadurch völlige Arbeitsunfähigkeit. 
In letzt- r Zrit Zunahme des Schwindel«?. s(> daß l^Vau S. genötigt war, 
sich fest/uhaken und an einem Sfockc /.u geh' n. Wiilnend der 
3Ienses Steigerung der ner?(isen Erregbarkeit, Emptindlichkeit gegen 
Geräusche. 

Hierzu traten besonders während der let/tt u Jahre eine auilalh nde 
geisdge Verstimmung, eine gemütliche Depression, die oft länger an- 
hielt, ohne daß äußere Veranlassung d&ZM vorhanden gewesen wäre. 
Dazu ein Gefühl der Unsicherheit, schwimmender Beweguugsempfindung, 
kutane Hyperästhesien, Empfindung von Jucken und Brennen auf der 
Haut) krankhafte lästige Empfindungen von Hitze, Kongestivzustände 
(besonders im Kopf). Erhebliehe Schlafstörungen, schwere Traume, 
hypnogogiscbe HaUuztnationeii mit dem Charakter der Verfolgung. So 
glaubt die Angeklagte z. B. daß sich jemand in ihr Schlafzimmer ein- 



Digrtized by Google 



144 lU* gerichtlich medisinisohe Bedeutung der Suggintioo. 



goschiichrn habe. Sie will sogar wachesd GesichtsballttzitiatioDen ge- 
habt hallen. 

HcrAlopt'en, An^;st, Bt'kleminuug. iu leUler Zeit Zunahme der 
melancholischen Verstimmunsr. J^ie if^t zerstreut, vergeßlich , wie (Irr 
Hausarzt auch beatätigi , inie Aut'met ksamkeit leidet. Man darl alstX 
mit Hecht anuehmea , daß infolge uervüser Aulage und schwerer 
Erkrankungen die psychisebe Widerstandsfähigkeit seit 
Eintritt der Wechseljahre erheblich herabgesetzt ist 

Dafür sprechen sowohl die aoamoestischen Angaben, wie auch der 
gegenwätige Befand der Untersuchung. 

'Frau S. macht auf mich den Eindruck einer Hysteropathin» 
d. h. einer Person, die im Sinne der Hysterie mit ihrem Nervensystem 
auf Schädlichkeiten reagiert. Diese Art der Heaktiun ist ja auch hei 
weiblichen Uuterleibsstörungen eine ungemein häufige nervöse £r- 
krankuugsform. 

In Bezug auf ihren ( harakttT war Frau S. eitip aufgeweckte, 
fi'i^^ti;,' regsame Frau, tüchtig in ihrem (iescli.itt, iui Haushalt, eine 
jiii>(>rf,'liiho Mutter utid (i.ittin. Sie zeigte /citwiise große Energie 
uud SelbstüberwiuJuug. Andererseits war sie ebcusu heftig, aufbrausend 
uud zu Affekten geneigt, wie sie gutmütig und mitleidig sein kouute. 
^ ließ sie sich hinreißen su Tätlichkeiten gegen ihre Kinder: — aber 
während der Krankheit war sie ihnen die hiogebendste aufopferndste 
Pflegerin. So half sie der Frau Koch in der Not mit 2000 Mark, 
ohne, sie je au ihre Schuld zu mahnen. 

Wie die meisten Hysterischen, war auch sie dem Stimmungswechsel 
sehr unterworfen; unmotivierte Lustigkeit wechselte mit AiiiT.illen trau- 
riger Stimmung;. "Wenn in letzter Zeit die depressive Verstimmung 
die Oherhand behielt, so war wohl dnran das häusliche Unglück mit 
Schuld. Ferner sind weitere charakteristische Züge ihres Ciiarakters: 
Impulsives Verhalten, überschwängliche Phanta«ipt;iti!?keit . Putzsucht, 
Coquettciio. ..Kleider." sairte sie tnir, ..sind m«'ine einzige Freude" 

Wie sie seihst /.ugibi . ist sie :iurh durchaus nicht l'rei von hyst*>- 
rischer Lügtuhaltigkeit. Xehea der gesteigerten Embildungskralt. einer 
großen Lebendigkeit psychischer Vorgänge bestehen völlige Urteils- 
losigkeit, Mangel an Kritik, Geschwätzigkeit und Kühraeligkeit. 

Hysterische Personen dieser Art sind in der Bogel krankhaft 
suggestibel und werden leicht das < )pier irgend welcher äußeren Eln- 
drttcke, ^on Verführungen vollsioniger Verbrecher etc. Ihr Uemmnogs* 
▼ermögen ist eben geschwächt. So können ihre Einbildungen auch 
das ganze Denken und Handeln beherrschen und sind stärker als alle 
ßegenrorstellnngen und sittlichen Grundsätze, Ohne erkennbare Beweg* 



Digitized by Google 



III. Die greriefatlieh medizinische Bedeutung der Sugg^estion. 145 



gründe gelangen sokhe Kranke zu monströsen, läppischen. j:i auch zu 
kriminellen Hanrlhiugen. Es fehlt ihnen die verslandesmäHii^e Ver- 
arbeitung der Jjt'benserfahrungen. Plötzliche Gefühlswirkungen künncn 
uiaHgehend sein. Mitunter zeigt sich auch bei ihnen ein träumerisches 
Gebaren, eine ^tiijuug zur Vortauschuug von irgend welchen Ver- 
brechen (dramatische Selbstmordszenen, Diebstähle, fingierte sexuelle 
Attentate etc.). Sie werden auch zum Spielbali ihrer momentanen 
Einbildungen, so daß die Unterscheidungafthigkeit Ton Recht und Un- 
recht mitunter Terloren geht. So erklären sich manche Kätsel und 
Widersprüche in der hysterischen Gharakteraolage. Die hochgradige 
Snggestibilität betätigt sich auch in der großen ZugängUchkeit für 
religiöse Bräuche und abergläubische Ceremouien. 

Zu diesem ganzen Verhalten paßt auch die Art wie die Sauter 

ihre Liebe bestiiti^'te, Sie war ebenso sehr die geistige Sklavin ihres 
Liebhaliera, wie sie diejenige der Kartenschlägerin wurde. Für ihn 

hätte sie jedes Veihrerhen begangen^ ihm Vermögen und Leben ge- 
opfert, wenn er m verlangt hätte. Während in der ilegel im Klimak- 
terium eine Abnahme der gfschlechtlichen Anspruchsfähigkeit zu be- 
obachten iat, sich bei der Angeklagten eine Zunahme, eine Art 
sexueller Hyi)erasthesie (häufiger leicht aushisliarer Orgasmus. Imch- 
gradig gesteigerte Wollustempfinduug, Neigung zu perverser sexueller 
Betätigung). 

Auch bei der körperlichen Untersuchung fanden 8ieh Symptome 
vor, die für Hysterie sprechen; so fand sich beiderseits eine konzen- 
trische Einengung des Gedchtsfeldes. Gehör beiderseits abgeschwächt. 
Uhrticken wird links 26 cm weit, rechts 37 cm weit gehört Kugel- 
gefühl im Hals, Uyperalgesie, aoonnal starke Reaktion auf Nadelstiche. 
Temperatursinn normal. Tastempfindung eingeschränkt; sie nimmt 
auf dem linken Handrücken eine Entfernung der Zirkelspitzen von 

cm, rechts eine solche von P/, cm als eine einzige Empfindung 
wahr. Daneben motorischer Ruhetremor namentlich in den Armen, der 
sich bei Intention steigert. Konvulsivische Zuckungen. Kjiigastrium 
druckempfindlich. Neigung zu Her/klopfen Puls üö). Uvarie, häutige 
Rückenschmerzen. Dynamometrisciie Kraft recht-* M5. links 25. 

Versuche, die Suggestibilität in dem Lut- rsnchungszimmer des 
Gelaugiiisses zu prüfen, fielen negativ aus, was wohl durch die lioch- 
grndiiie Hrregung und Spannung der Gefangeneu, also durch die anor- 
male Situation erklärlich erscheint. 

Kechenvermögen normal. Gedächtnis ohne erhebliche Sir»rnng 
(soweit sich das bei einer flüchtigen Untersuchung feststellen ließ). 

V. äcbronck- Notzing, Stadien. It) 



Digitized by Google 



146 



III, Bie gehchtUck mediziuiache Bedeutung der Suggestion. 



Ki'iue typischeu hysterischeu Aulalle. i'brigeüis lehlen dieselheu be- 
kanntlich bei ',4 weiblicher und bei ^ männlicher Hysterischer (B r i q ue t). 

Nach diesem Befunde leidet Frau Suuter au einer 
neryösen und psychischen Widerstandsunfähigkeit im 
Sinne der Hysterie infolge einer offenbar auf erblicher 
Anlage beruhenden neuropathischen Diapoeition, sowie 
infolge zahlreicher schwerer (Jnterleibsleiden und des 
seit IVs Jahren eingetretenen Klimakteriums. 

Mit dieser FeststelluDg ist aber die Frage derZurechoungsfahigkeit 
TOtt Frau Sauter noch nicht genügend beantwortet; vielmehr erscheint 
dazu die Prüfung des yorliegenden Saclivcrhaltes sowie (nne Würdigung 
der Einwirkungen uot\veudig, welche abergläubische Zeremonien und 
Handlungen auf ungebildete und geistig widerstandsunfähige Meuschen 
auszuüben vermögen. 

Die in der heutigen Hauptverhaudlung aufgedeeicte Tätigkeit der 
Frau G iinzbauer in München deckt sich ganz mit ihren Pariser Vor- 
bildern.') Auch sie zeicrt dieselbe staniipnfrrpgende Sicherheit in der 
Behand)uiii^ ihrer Klimten. auch sie verstatnl es F^indrnck, aut" die 
Aiii;^^klayte zu machen und deren Privatverhältuisse au^;/.u spüren. Diese 
Münchner Pythia wußte ihr harmloses, betörtes Oplt-r gauz in den 
Netzen des Aberglaubens zu Terstricken und den seelischen Zustand 
desselben für ihre Interessen auszubeuten. 

^iuu ist jedoch Aberglauben au sich keine Geisteskrankheit, kann 
also auch nicht ohne weiteres zur Anwendung von § 51 des Reichs- 
strafgesetzbuches führen. Denn den abergläubischen Handlungen fehlt 
nicht das Merkmal, daß sie bewußt sind und bewußt ausgeführt werden. 
Dagegen sind abergläubische Vorstellungen Suggestionen im eminenten 
Sinn des Wortes. Sie können wie ein Zwang wirken, alle Gogen?or- 
Stellungen, jede psychische Hemmung aufheben und ein Individuum so 
▼ollkommen beherrschen, daft Rhre, Familie, Vermögen, kurz alles den- 
selben geopfert wird. Das Charakteristische krimineller Handlungen 
durch Aberglauben ist das sch«'inl)are Fehlen sonst meist nnfznHnd' iider 
Motive für die Tiitor. So katin mich der vnllii^ «jeistiu (if-uiide aus 
abergliiubisehen \ oibiollubgen heraus /.u (Tesel/rsverletzungeii gelangen. 
Natürlich wird der ^reistiir Bescliränkte , Unge))ildete, Urteils- und 
charakterschwache Mcum h mii verkiuumerter Moral und ohne religiösen 
Glauben dem verhäuguisvollen Zauber solcher aborgläu bischeu Vor- 
stellungen eher verfallen, als eine intelligente gebildete und religiöse 



1) Verpl. S. 126—128 dioscs Buches. 



III. Di« gerichdich mcdiximBcbc Bedeatung der Sns^gostton. 



147 



Per?rvnlichkpit mit l'esteu Moralbe?nfl'(Mi Die Unwissenheit allein ist 
also noch kein hiureichender Gruud tür Beheiung von Strafe. 

Das gemoinsamr^ Motiv für abergläubische Handlungen, welches wir 
auch bei der Frau Sauter autreflFeu, ist häutig? der Wunsch das Be- 
strebefl, aas eiaer bestimmten Situation befreit zu werden; diese 
Situation kann ein aeeliaeber Zwang, ein Kammer aein; sie kann aber 
eb«isowobl in der Notlage äußerer YerhältDisse (Armut u. s. w.) be- 
eteben. 

Weno nun scbon der Aberglaabe aaf geiatesgesunde urteilsschwache 

Menschen einen v. rhäogoisvollen Einfluß auszuüben vermag, so weV' 
fallen ihm Psychopathen und geistig geschwächte Individuen um so 
leichter. Dieser Umstand fällt mildernd ins Gewicht bei ßeurteiloog 
der Angeklagten, die. wie ich ^laiibc. im Vollbesitz ihrer trHstiijjpn Ge- 
suTtdheit wolil kaiiin in dieser W eise das üpler abergläubischer Bräuche 
und Zcrriiidiiitii urworden wäre. 

Oti'eiibur üuchte die Mot?:<;er«gattiu die Sonmunibulo zunächst aus 
purer Neugier auf; »laun aber» als sie einmal i,'efangen uud geküdert 
war, wirkten diese abergläubischen Vorstellungen wie ein psychischer 
Zvaog, aus dem sie sich nicht mehr losmachen konnte, auch wenn sie 
gewollt hätte. Sie fühlte sich, wie sie selbst sagt, unfrei wie unter 
einem suggestiven Bann. 

Das ganze Verfahren der Fran Gänsbaner war auch danach an- 
getan, die Einbildungskraft der hysterischen Patieotin zu erhit/.en. 
Ich erinnere nur an <li*> Turteltauben, die weile u Mäuse, die Lichter 
und den sonstigen I Ii >kus^- Fokus der Hellseherin. Genug, die Ange- 
klagte erblickte in der Wahrsagerin eine Prophetin mit übernatürlichen 
Kr:irt«>n. dor iii»'iiia[i(l, auch die weltlirhe (4prerhti:;k<'it niclit. etwas 
anhahtiu köuiKv Su' ü'lanhir tr-t driran, dal» Frau ( iiiu/.imuer im -tande 
sei, einen gt'heimnisvnllcn Kiulhdl aul" da< S'-!iii-k>al der Meiisclirn aus- 
zuüben. Aus diesem liliuilen Glaub» n < i klart ^ich auch ihre naive 
Bitte: „Ilichten Sie es doch, daß der Schorchl kommt." 

Wie andere psychisch bekümmerte Personen ihren Trost in reli- 
giösem Zusprach finden, so fand sie Erleicbterang in der Aussprache 
mit Frau Gänzbauer; sie folgte darin dem inneren Bedürfiiis, Trost 
zu erhalten und Belehrung. Schon das Unerlaubte ihrer außerehelichen 
Beziebnngen und der Wunsch, die Liebe ihres Schauspielers nicht zu 
verlieren, macht i-u ihr die Aussprache mit einem GeistliriK ti unmöglich. 
Sie erwartete also. — das geht aus allem hervor — durch Schicksals- 
fäguugeu Erleichterung ihrer Situation. 

Die Schicksalsfügungen, welch«* Frau Gänzbauer hellsehend voraus- 
sagen und herbeilühren zu können vorgab, waren natürlich dem Fall, 

10* 



i^'iyui^uu Ly VjOOQle 



14B 



IIL Die gerichtlicb medizinitehe Bedetitnng der Suggettiott. 



d. h. den Wünschen dt-r Klientin angemessen; aie konnten also li ir 
bestehen in einem Verschwinden der unbequemen Personou von der 
Bildfläche. Diese Lobuug sollte entsprechend der Vonuissas'p in harm- 
loser Weise durch eine natürliche Todesart (Schlaganfall. Kraulvheit etc.) 
erfolgen. Nun war die einzige Person, welche das hauptsächlichste 
fliudeniia ßkt die veiliebte Eheftau darstellte, deren Gatte, der Metiger- 
meister Santer. Die echoa beim ersten Besuch ans dem tropfenden 
Eiweiß unbestimmt prophezeiten Sterbefalle in der Familie Sanier 
nahmen später eine konkrete Gestalt an. Die Hoffnung, daß sie 
dnreh seinen Tod aus ihrer Sitnation erlöst werde und zwar baldigst, 
blieb ihr einziger Trost und wurde allmählich infolge ihrer ürteDs- 
schwäche zu einem festeu nnersclmtterlichen Glauben, so daß sie seiDdn 
baldigen Tod selbstverständlich fand. Schließlich sprach sie. wenn 
man den eidlichen Depfteitionen der Prophetin Glanl)en schenkea darf, 
ganz unverblümt von dem „Verrecken des Hundshäuternen". 

AVie »ind ol» sicli nun aus diesen rdeonj^UngeD, welche eine Er- 
lösung au* der traurifjrn "Tja^e durch Tudostalle in Aussicht stflUnn. 
der Wunsch entwickelte, diMn Schicksal ein wenig /u Hilfe zu komnieü. 
das^ji'lbe zu iicsclilciiui^cn durch .VuNvendunt^ niagisclicr iiod sympathe- 
tischer Mittel, das nat'liuagücli aus deu GespriiGhcu der zwei Frauen 
festzustellen und somit die Schaldanteile für beide genau abzumessen, 
erscheint besonders mit Hinblick auf die Unzurerlässigkeit und Frivolität 
der eidlich deponierten ^tteilnngen der Gänzbaner ganz unmöglich. 

Sicher ist aber, daß die Wahrsagerin die Dummheit der Frau 
Sauter systematisch ausbeutete, die Angeklagte durch ihren Hokus- 
Fokus völlig verwirrte, was um so leichter gelang bei dem bestehenden 
psychischen Schwächezustand der Klientin. 

Diese Verwirrang zeigt sich auch in dem ganzen Verhalten, in den 
Widersprüchen ihres Handelns. Sie sagt ja selbst, wie festgestellt 
wurde, von dem Schreiheu des Zettels, „da könnte man ganz dappi 

(=dunim) werden." Offenbar faßte sie. wenn sie überhaupt etwas 
dabei gedacht hat. das Aufschreiben der Opfer als einfache magische 
Manipulation auf. Die Frau Gänzbauer brauchte einen solchen Zettel 
etwa in der irlcichen WVise , wie sie die weißen Mäuse benötigte. 
JJalicr ist ihr ganzes Verhalten anders zu bpurtrilen als das einer 
plannuiBi^ vorgehenden Mörderin. Der Zustand eisiger iiuhe, den der 
Komuiiäsur Bossert in der Schreibszeno btuhachteto, ist etwa vergleich- 
bar mit dem stoischen Gleichmut eiues Hypnotisiei ien, der automatisch 
ein suggeriertes Verbrechen ausführt, ohne aber zur Begehung eiues 
wirklichen Verbrechens befähigt zu sein. 



Digiiized by Google 



III. Die geriditUeh mcdbiDische Bedeutmif der Suggeftion. 149 

Auch die Schrift des Zettels weicht von der Dormalen Schrift der 
Frau JSauter etwas ab. Auffallend ist die Stärke der (irundstriche. 

Der Tragweile dessen, was sie mit der Aufstellung der Proskrip- 
tionsliste beging, war sie sit:h offenbar nicht im mindesten bewußt. 
Nur beherrscht von der einzigon Idee der Ju'lösung. die von der Wahr- 
sagerin kommen sollte, befolgte sie blind jeden Wink dieser Person; 
und die Keiguug zur Dissoziation der Vorstellungsverbinduiigeii im hjBte- 
risehen Geistesleben läßt es TollkommeD erklärlich erscheinen, daß 
jene psycbiscben Komplexe, welche sonst in ihr die Mutter-, die Nächsten- 
liebe, die RttdEsicht auf Nebenmenschen, die Ehre und Pflicht repr&sf»* 
tierten , in jenem Augenblick eine hemmende oder korrigierende Wir> 
knug nicht aussttfiben vermochten. Ja das Phantastisch- Läppische ihrer 
Handlung war sie nicht mehr im stände zu erkennen. Vielleicht auch 
handelte es sich, wie bei Hypnotisierten und Hysterischen im Zustande 
partiellen Rchlit^'es , um eine Art träumerischer Ausmalung einer un- 
wirklichen Situation, während doch das Gefühl dabei bestand, daÜ ja 
doch nur alles Traum und deswegen unmö^^iich sei. 

Die gauze Art, wie sie zu Werke ging, spricht gegen ein überlebtes 
Verbrechen. Mit stoischer liuhe schrieb sie den Zettel nicdt r nach 
dem Diktat ihrer Herrin ; sie war sich ganz und gar nicht klar da- 
rüber, aus welchem Ghnmde diese nenn Personen, darunter die drei 
Kinder, aus dem Leben geschafft werden sollten; auch ttber die Art 
und Weise, wie das geschehen sollte, wurde kein Wort verloren. Nach 
Aufttellung des Zettels und den Yeräbredungen über die Entlohnung 
ihrer Helferin ging sie ruhig ihren Tagesgeschäften nach und auch ein 
geftbter Psychologe hätte nichts von dem fürchterlichen Mordplan be- 
merken können, den sie soeben entworfen hatte. Die liügUchkeit 
Trost zu 6nden und die Hoffnung auf eine baldige Erlösung waren 
meines Erachtens ihre einzigen Leitmotive, die sie veraulaßten, jeden 
auch den widersinnigsten Wunsch ihr* r Herrin zu erfüllen. 

Xnr so werden ihre scheinbar sinnlosen Handlungen psychologisch 
begreiflich. 

Sie war von Frau Gäuzbauer so fasziniert, daii sie in dem Zu- 
stande suggestiTer Abhängigkeit deren Ideen zur Ausführung hraehte 

Trotsdem aber kann Ftan Santer nicht als fällig unaurechnangs- 
fthig im Sinne des Gesetiee angesehen werden. Denn weder bestand 
eine sichtbare Geisteserkrankong noch ein ausgesprochener Dämmer* 
sustand des Bewußtseins. Denn in den Pausen zwischen den einzelnen 
Besuchen der Kartenschlägerin machte ihr Verhalten in* n iznuz ver- 
nünftigen Eindrack. Auch wäre eine Terstandesmäßige Verarbeitung 
der Erlebnisse bei ihrer Prophetin nachträglich wohl möglich gewesen. 



i^'iyui^uu Ly VjOOQle 



160 in. Die gerichtlich medizinische Bedeatung der Suggestion. 



Sie hat abfr Tiellcicht aus innerf^r 'Re']iipmlichkeit, aus Dummheit ofler 
aus Liebestorheit diese Korrektur mclit aa^ewpiulet, — die antisozialen 
Antriebe, da^ Resultet ihrer Yfrbindung mit der Gänzbaucr nicht 
bekämpft. jJariu liegt ihre Huuptschuld I Wenn iiir das Stratl>ark*'its- 
bewußtsein wohl fehlte — das geht aus ihrem ganzen V^erhalten 
hervor — so war ihr doch die Möglichkeit, sich fUr Ausführaug oder 
üntedasBimg der ihr nur Last gelegten Hftndluugeu zn entsobetdeB 
dnrch die allefdinge bestehende krankliBlle StSrong der Oeistestätigkeit 
nicht TöUig ahgeaehnitteo. 

Wohl aber erscheint ihre ZurechnnngsfUhigkeit infolge hjateto- 
pathiscber psychischer Schwftche und ihres Klimakteriums suwie iu- 
folge der suggestiTen Wirkung abergl&nbiscber Vorstelltugen erheblich 
herabgemindert 

Oh nun der Grad ihrer krankhaften Ursachen entstandenen Willens- 
einschränkung genügend ist, um sie im Sinne des Gesetzes willensunfrei 
erscheinen zu lassen, diese Entscheidung liegt in dem freien Ermessen 
der Herreu Geschwürenen! 

Das Urteil lautete auf Freisprechung. 



Literatur* 

Wnndi: „Hypnotbmns und Suggestion.*' Leipadg, Engelnwnn. 188S. 

William Hirach: ^Was ist Sugf^estion und Hypnotisnnis';:"' Berlin, Karger. 1896i. 
Derselbe: „Die men^ehliehc Verantwortlichkeit und die moderne äoggiestioni- 

lehre." Berlin, Karger. 1896. 
Ton Sehrenek-Noiiing: Uber Suggestion und suggestive Zustinde." Hflnchen, 

Lehiiiutin. 1893. 

Derselbe; ,.!)!<" Hi deutung narkoti«?ch<*r Mitlcf für den Hypuotisnius."' Leipiig» 
Abel. Idä'd. (Schrifteu der tiesellschaft f. ps^chol. Forschung.) 

GroflmsnD: «DI« Bedeutung der Suggestion als Heilnittei, Out echten und Heil- 
beriehte." Berlin, Bong. 1894. S. 90. 

TOn Seh r e n ek -N o t z T n : „Suggestion. Siippestivthi»rapir, psvcliischi' T^ehiuid- 
lung." Artikel iiul jührlicheni Literaturhorioht iti den Eneykiopädischea 
Jahrbüchern, hing, von Eulenburg. Bd. III, V, Vil. 

Derselbe: Artikel: „Psychotherapie und Suggestion." Bnlenburg^s Eeelen^klo« 
pidie." 3. AuB. 

von Lilientha): „Der Hypnotismos und dos Strafrecht.^ Berlin und Leipoig, 
üuttcntag, 1887. 

0111 es deUTourette: „Der Hypootismas nnd die verwandten Zustinde vom 
Standpunkte der gerichtlichen Aledizin/ autorisierte deutsche Übenetaang. 
JHambnrg (vorm. J. F. Btchter). 1889.. 



üigiiized by Google 



m. Die greriebtiicli uediziniseh« Bedeutung der Suggestion. 151 

forel: ^Der HypnotiKtt ns nrn\ seine fiftndhabuug.*' 3. Aufl. Stuttgart, £ake. 

1895. Kap. iX und X. 

Moll: JDer Hypnotismu«.*' 8. Aufl. Berlin, Fisefaer. 1805. Kap. VIII. 
Bernheim: JDie Suggestion und ihre HeilwiriLung," deutsch tob Freud. Wien 
und Leipzig, Deuticke. 1888. Kapu IX. 

Heberlc: „Hypnose und Suggestion im deutschen Strafredit**. Kilnchen, 

Sthweitzcr. 1893. 

von Krafft-Ebiog: „Eine exporimentelle Studio auf <iein Ciebiete des Hypuo- 

titmus." Stuttgart, Enke. 1699. 
Derselbe: „Lehrbuch der gerichtlichen Psyehopethologle." 3. Aufl. Stuttgart, 

Guke. 1888. Kap. XII und XIII. 

Laurent: ^Lf^s ««uggi'stions criminelles.*' Archives de l'anthropologie criminelle 

V. lö. Nov. 1890. 

Licgcois: „De la Suggestion et da «omntmbiilisme dans leurt rapporta »Tee Im 
jurisprudenoe et la midecine Mgale.*' Paris, Dotn. 1880. 

Li^beault: ^Du sommeil et des i'tats analogues.'' 

Sehapira: .Oer H vjiiu tistuus \u scinor psychologischen und forensischen Be> 

dpntr)ug." Berlin, Stomitz. 18y3. 
Fuchü: „iber die Bedeutung der Hypnose in forensischer Hinsicht." Berlin. 
Cohen. 1896. 

Dnncker: »Die Si^gestioa und ihre forensische Bedeutung." Wien, Mauz. 18^. 

Liöbeault: „Kriminelle hypnotisdie Suggestionen.'* Zeitsehr. f. Hjpn. 1895. 

Heft VII, VIII und IX. 
D e 1 b o o u {; „Die verbrecherischen Suggestionen." Zeitsehr. f. Hypu. März 1894 fiC 

Der ProzeÜ Czynski: Tatbestand und Gutachten von Orashey, Hirt, von 
Sehrenck-Notiing, Preyer. Stuttgart, Enke. 1886. 

Preyer: „Ein merkwürdiger Fall von Faszination." Stuttgart. Enkf. 1895. 

Reißig: „Liebe, eine hj-pnotische Suggestion?" Leipzig. Barsdori. 1896. 

TOD Schrenck-Notziog: „Zum Fall Czyuski." Eine Entgegnung. Zeitächr. f. 

Hypn. 1894/W. Heft 5 nnd 6. 
Der Prozeß Czynski und die Faszination. Beilage zur Allgem. Zeitung 

1896. Nr. 51 uihI 52. 

von Bentivegni: „Die Hypnose und ihre civilrechtliche Bedeutung." Leipzig, 
Günther. 1890. 

Bernheim: „Neue Studien fiber Hjrpnotismus, Suggestion und P^rdiotherapie.* 

Wien, Deuticke. 18B8. (Deutsch von Freud.) 8. Vorlesung S. 100. 
Kinde: „Der Hj-pnotisiiuis." 3IUnchen, Diepolder. 1891. S. 18 und 69. 
von Seh r enck -X (> t z i n ^: „Uber fijpnotismus und Suggestion.** Vortrag. 

Augsburg, Wirlh. 1889. 
Derselbe: ^Dic gerichtliche Bedeutung und mißbräuchliche Anwendung des 

HypnotiBmus.'' Vortrag. Mfiodien. 1889. 
Moll: „Hypnotische Schaustellungen in Berlin.** Deutwhe med. Wochenaehriffc 

1891. Nr. 12. 

Gerling: „Der praktische Hvpnotiseur." Horiin, 3lüller's Nachf. 1895. 

Prospekt des Heilmagnetiscurs Willy Keichcl, vom Xov. 1883. (Beilage zur Zeit- 
•chrilt Sphinx.) Den abgedruckten CStaten von Ndlbanm and du Frei 
bt die Honorartaxe hinzugefügt (fOr einen MtgoetisatlonsakC in der 



Digrtized by Google 



lüfS III. Die gerichtlidi mediäniadi« Bedeotang der Soggettioo. 

Sprechstunde 5 Mark, auUer dem iiausc» 10 Hark, für Minderbemittelte 

du entere 3^ des letetere 6 Mark). 
Björnstroin: „D< r llypnutismus, seine Entwicklung ond leiD jetriger Sieild* 

punkt." TV iesbaden, Sedowaki. S. 173-193. 
BechtfiaTnor: „Du- ITypnose in der Therepie." Wiener med. Blätter Nr. 29 

und m. mö. 

Looe: „Der Hypnotismai und die Suggestion in gertehtlieh-uediz. Bedentung." 
Ineugtuttl-Ditt. Berlin. 1686. 

Hinde: «Tod in der Hypnose. Mediainliehe Neuigkeiten für pnktiadie Ante. 

Xr. 39 und 40. 1894. 
Bernheiiu: „Sur ua cas d'hypnotisme mortel: post hoe non propter hoc.*' Her. 

m6d. de VE»t 1 Febr. 95. 
vonZiemssni: _Dio Gefahren des Hypnotifmaa." Häneh. med. Woelienieitr. 

.Hhrg. XXXVl 31 S. 531. 1889. 
Forel: „Zu den Gefahren und dem NuUeu des Hypaotisiuus." Münch, med. 
Wocbenschr. Jahrg. XXXVI 38 S. 646. 1889 

Friedrich: „Die Hypnose ab Heilmittel." Anmden der itadt. aUgemeiBen 
Krankenhäuser in München. Bd. VI. München, Lehmann. 1^4. 

Ton Sch r p I) c k - X u t /. i n p : ,.Der Tlyjiiiutisnius im MiinfluK-r Kiaiikfiiliaus link« 
der isar." eine kritische Studie über die Gefahren der Suggestiv behend- 
luDg. Leipzig, Abel. 1894. 
For elt „Zur Hypnoee ab Heilniittol.** Münchner med. Wochensehr. 1894. Nr. 8, 
▼on Schrenck-Notsiag: „Über Suggestion und Ertnnemngefiiliehung im 
RpnhtoUI|irozr'U." Leipzig, Barth, 18il7. 

Theodor Lipps: „Zur Psychologie flcr Suggestion." Vortrag. Leipzig, Barth. 

1897. ^Auch i. Zeitsehr. f. Hypii. 1897.) Vgl. aiigehüugle Diskussion. 
Stell: „Hypnotiamui und Suggeation in der Yölkerpaychologie." XiNpaig, Köhler* 

1894. 

Moritz: „Die Suggestion im Prozefi Berchtold." Mfinchner med. Wocheosohr« 

Xr. 43. 1896. 

Aodrieu: „Lee daogers de l'hypnotiame extraadentifiqne." Rct. de lliypn. 

Bd. U S. 1». 1887. 
Char c 0 1 : „Des seances publiques d'hypnotisme.'' Freese med. Jahrg. XV S. 172. 

Paris. 1887. 

Briand: „Accte de d4lire mdaaeolique avee exdfaüoir eons^eutif k de« praCi- 
qnes d'hypnotisme trait^ par nn magnetiaeur." Rev. de l'hypn. Bd. II 

S. 292. 1888. 

Pf mal; „De l'utilite et ilis tiangers de rhypnotisme.** Bruxelles. 188^^. 
Berillon: „Hypnotisme utile et hypuotisnjc daogereux." Ect. de l'hypn. Bd. 

m, 1 a 1. 

Guermonpres: „De la neeesiiM d'interdire les sianees pohtiqnes de I'hypno» 

tismr." Rev. de l'hypn. Bd. III S. 9. 
-Xiebeault: ^< onffssion d'un medecin hypnotiseur.^ Ect. de l'hypn. Bd. I 
S. lOö und 143. 

Lwoff: „ObeerratioD d'nne lemme alienie i 1» suite de pratiques d'hypno- 
«ime.« Ann. m^. psydioL Bd. XLXn 3 S. 466. Paris. 1889. 

Tokarsky: „Zur Frage von dem schädlichen ^nfloH des Hypnotisierens.** Oen- 
tralbl. f. Nervenheilk. Bd. XU 8. 10& 



üigiiized by Google 



III. Die gericlitlieh nediADiiebe Bedeutung der Suggeation, 153 

Konrad: ..Suß^^^ostionsliypnoso und Wahuinn." Internat. klin. Rundeeheu. Bd.IU 

S. 62i>, 67Ü. \\iv\i. lK8;i. 
C barcot: „AccidcntJi liyätiTUiueä graves äurvenua clicz uue ieiuuic 4 lu suite 
d'hypnotieations pertiqu^es per un magnitiaeur deae ane baraqne fete 

publique." Rcv. de Thypn. Bd. IV 1 S. 3. 1889. 
Cfhanbard: „Prcijof do discussiun siir Ics danpers do l'hypnotianie oxperimental 
et de la Suggestion." Ana. med. psychul. Bd. XL VII Xr. 2 S. 292. 
Pari«. 1888. 

San eliez H e r r e r o : ^L'hypnottsation Idreee et eontre la TolontA du anuet." Ber. 

de I hypu. Bd. IV 7 S. 193. 1890. 
Caru»: ^The datiffors of hypnotisni. Open Court.«* Bd. IV iU ü. 216a Chi- 
cago. 1890. 

Benedikt: „Hypnotismus und Suggestion." Wien. 18M. 

Jolly: f.Vber Hypnotisiiuis und Geistesatörung." Areh. f. Faychiat. und Xeiren- 

krankhriten XXV Heft 3. 
Derselbe: „Hypnoti«mus und Hysterie." Müucbner med. ' Wuchcuschr. 1894. 
Xr. la 

Forel: „Zur Hypnoae als HeUinittel.-' Münchoor med. Wochenschr. 1894. Nr. & 

D r « 0 1 h r : ..TTypnotisinus und Hysterie." ^lüiu luicr iii«'<l."\V(n-h('n.schr. 1874. Nr. 22. 
Ballet: _l>ie hypnotische Suggestion vom .SlaiidpiinktLi dos Gfriclitsai/t<'s." Gaz 

hebdoDi. de med. et chir. Xr. 45 ref. i. Zeitschr. f. ilypn. 1893. Heft 14. 
Kornfeld undBikelea: Ȇber die Geneae und die anatomiaelie Grandlage 

des (irößenwahus bei der progreaairen Paralyse." Zeitaehr. f. Vtych, 

isri2. Xr. 49 Heft 2 
Delbrück; „(.»erichtliche Psychopathologie." Leipzig. 1897. S. Ißö. 
Kirn: „Über geminderte Zureehnungsfühigkeit.* Vierte^ahrsachr. f. gericlitl. 

Medicin. 3. Folge. Bd. XVI Heft 2. 
Wollenberg: „T'if' Groti/.en der strafrrchtlichea Zurcchmit L' -fühipkeit boi jtsy- 

chischen Kra.ikh« itsznständeii. Zeitschr. f. Ps\ eli. IHUÜ. Bd. 56 Heft 4. 
A. Voisiu: „Suggestions friniiiielles." Revue de l'hypn. 1894. S. 216. 

WilliamLeeHovard: „Hypnotism its uses, abuaea and its inedieolegal relationa. 
Baltimore, Firiederwald. I8861. 

Horner: ..HyiiimfisTn as an exercise for crime." Xew-York med. Record. Felir. 1895. 
Liegeois: „Der lall Chaiiibigo vor dem Schwurgericht iu Constautine 1888." 

Zeitaehr. f. Hypa. I. Jalirg. a 812. 
Birillon: f,Lcs auggestiona criminelles au point de ^*ue dea faux t^moignagea." 

R< vue de l'hypn. 18*lß. Nr. H. 
Atibry: „liiriiu nco t\p ]tros<50 sur la criminalite." Revue de rhy])u. 1^96. Xr. 4. 
Croeq: „Conane la lui »ur l interdiction des representations publiques d'hypno- 

tiame derrait etre modjfiie." Journ. de neuroL et d'hypnot. 1696. Nr. 1& 
8i gliel e : .. Psychologie dea Auflaufs und der Kaaaenverbredien.'' Leipaig, BeiAner. 

1H<»T. 

Berillon: „Les suggestious crimiuelles." Revue de l'hj'puotisme. 1897. S. 70, 
Joire: „Etüde mediool^ale de l'hypnotiame et de la auggeation." Berue de 

l'hypn. 1897. S. 168. 
Xriägeois: „Suggestions hypnotiques criminelles, dangers et remides.*' BoTUe 

do l'hyim. 1W»7. "s. DH. 236. 292. 324. 
Bernheim: „L hypiiutisme et lu siugge»iion dant« leurs rapports avec la medeciue 
legale.« Berne de l'hypn. 1607. S. 66. 



Digitized by Google 



9 



164 UI. Die gerichtlieh inedisiniMbe BedeutaDg der Suggestion. 

Maschke: „Kriininaliriit und Suggestion/' ZcitHtrhr. f. Krimioaüiothropologieu 
Berlin, Lamiuors. 1897. Bd. 1 Uoit 4 uuci 5. 

Lentner: „Zur Frage der getetitichett Stellungnahme gegen mtBbriiiicUiehe An- 
wendung des H.vpnotiamna." Beriet des m. intern. Kongr. I. Pkyehol» 

Milnch.'n. 1897. 

Delboeuf: ,.Les Suggostions crimineUes.^ Bericht des III. intern. Kougr. £• 

Psychol. München. 1887. 
P I a e z e k : „Suggection und ErinnerungafSIsdiang.'' Arch. t Kriminalanthropologie 

Bd. II Heft 3. Leipzig, Vogel. 
Derselbe: ^L'h} pnotisme der^nt les tribunaux anglais.'* itevue de l'hypo. 

1898. S. 27. 

Ton Beehterev: „Die Suggestion und ihre soaale Bedeutung.* Leipag, Oeoi^ 

1899. 

•loiri': „Los faux tf'moignages suggeres." Rcmu- do l'hypn. 1900. S. 11)6 u, 299. 
Loh sing: „Betrachtungen über das Geständnis." Archiv f. KriminalauthropoL, 
Bd. 4 Heft 1 nod 2. S. 1S3. 1900. 



Digitized by Google 



IV. 



Der Fall Malnone. 

Verbrecheu gegen die Sittlichkeit an einer Hypnotisierten, verhandelt 
vor dem Schwurgericht in Köln am 7. und ti. Mai 1901. 



Tatbestftnct.') 

Ein gewisser Carl 31aiuoue, 22 Jahre alt, bis dato als Schlosser, Spez«rei- 
häudler und Oetchäftsreiseitder der Kölner Eau do CoIogi»««F«brik tätig, ver» 
heiratet, Vater von 4 Kindern, nahm im Jahre 1900 bei dem MagnetopAthen 

Robert Müseier in Köln einen sechsstündigen Kursus (sechs Kurse zu je ',2 Stunde), 
um dessen Heilmetho<lf zti erlerneu. Am 1. Dezember 1900 mietete dorsflbo sich 
in der Konditorei von U. in Mühlheini u. lt. ein Warte- und Sprech/.! nuner, un» 
eine Prazu als Hagnetopath amzaiiben, da tein Terdtenst ab Reisender infolge 
niederer Prorisionssütze zu gering war. In ilin Zeitungsannoncen, tlie ihn bekannt 
macheu sollten, bezeichnete er sich n\s ..Ma>;tietopath und Xaturheilkundiger*' 
and versprach überraschende Heilerfolge durch Magnet isniuskriiuter und Waaser. 

Bei dem Konditor H. wohnte au dieser Zeit die 20jährige Schwester von 
dessen Frau, Maria R., welche naeh irttlichen Feststellungen an hodigradiger 
Kurzsichti^ktil litt. Das MiidclKii war erblich nicht belastet, dnpopen streng 
religiös erzogen und hatte bis vor kurzer Zeit in einem kleinen schlesischen Ort 
gelebt, ohne von der Welt etwas zu kennen und über geschlechtliche Dinge belehrt 
Sa aein. In ihrer Familie galt Maria für etwas besehriinkt und ungescbiekt bei 

. der Arbeit, was man aber /um Teil mif Kosten ihr^ r schlechten Au^'cn setzte. 
Mit Rücksicht darauf. daG tler bei dtr Familie woliin iulc Magnetüj»atli Mainone 
die Heilung solc;h^r Augenleiden als seine Spezialität bezeichnete und den von 
ihm als „Anaata sum grauen Star* diagnostlsierton Zustand bei Maria in &^ 
Sitzungen heilen zn können Torgabf besddoD Frau H., an ihrer Schwester einen 
solchen Heilversnch vornehmen au lassen. 



1) Au« dem Archiv fttr Eriminalanthropologie, Bd. VQ S. 13S. 



Digitized by Google 



m 



IV. Der Fall Hmdod«. 



Zu diesem Zwfik rief der Beschuldigte wenige Xage, uuihdem er die Woh- 
nung b«zog«a htAte^ du Haddien auf aeio Ziminer. Beim enten und sweiteo 
Vernich hielt er nach der glaubwürdigen Darstellung der Patientin ihr einen Stift 
vor die Auprn. an dessen Spitze sich ciin'^ Ktipr-I in ErliscrigröRo bffancl. und ließ 
eie diesen angeblich magnetischen Stift zehn 31inuten mit den Augen tixicren, 
was Maria sehr anstrengte und schläfrig machte. Er fügte hinzu: ^Da werden 
Sie gut seUafen können nach dem Magnetisieren.'* Beim dritten Hai am 10. Da- 
xeml)er 1900 wiederholte er das Verfahren uth! xii<,'te des öfteren: y,Vcrsuchen Sie 
JEU schlafen, verspüren Sie keinf>n Schhif " Kr falit-' dann di»« Hände der Patientin, 
fühlte ihren Puls, strich ihr mit seint-n ii.uuien über die Augenlider. Durch diese 
Manipulationen wurde sie schlftfrig und niöde; ^cs war ihr acUaam an Hute*. Br 
forderte sie dann auf, sich auszuziehen, sie brauche sieb nicht zu genieren. Trotl 
nnfänplichcii Sträiilx ns ]<-g\i' Pafioiititi all«' Klticiunpsstürke ab und behielt nur 
Schuhe und Strümpfe an. Der Beschuldigte erldärtc, das sei zur Untersuchung 
notwendige er mttas« den Unterleib nntemeheD, weil Ton hier ein Harr mit den 
Augen in Verbindung stehe. Auf Anordnung des Angeklagten setzte sich Maria 
luiii auf einen Stuhl. Der Beschuldigte fing an, ilir mit beiden näiHlfn unter den 
AriiK'ti. über die Hrüst» und über den Rücken zu htreiehrn, mi^'ofiihr 10 Miiuiten 
lang, was die Patientiu in groUc Erregung versetzte. Dünn begann er den Loter^ 
leib xu streichen und au drBcken, wobei Maria auf der einen Seite geringe Sehmenten 
spürte. Der 3Iagnetopath erklirto non, sie hütt<- ein Harnleiden, es habe sieh 
links eine HurnWaso gebildet, in welcher sclilechtfr Harn zurückgeblieben sei, 
dieser müsse heraus, soust würden die Augen nicht gut, weil dadurch die Augen 
angegriffen seien. Sodann legte der Beachnldigte einen Finger in den Geschlechts" 
teil der Krauken und bewegte deuelben auf und ab, was ihr Schmerzen vcr- 
ursacbtr. lU-im Aufstclu n ^var sie so schwiM<iIi^<^. dun sie sich an einem Stuhl 
feslhalteu inultte. Er gebot ihr zu schweigen über die Untersuchung. 

Am folgenden Tage Wiederholung desselben Verfaiireus: 10 Jüouteo lange 
Fixierung des Stiftes, bis ihr schwarz vor den Augen wnrde. Sie mußte sich er- 
heben, schwankte, wurde von ihm gestQtzt. Er hob nun ihre Bocke in die Höhe, 
fuhr mit iWin Finp^r in <lif Scheide und legte die in einem trauniUhnüchen Zu- 
stund betiudlicbe Kranke aut das Sopha (der Lüuge nachj, so dali ein Beiu auf 
der Sophalehne lag, das andere herunter hing. Patientin war zu müde und 
schläfrig, als daß iie sich weiterer Ein/C' Iheiten erinnert, sie weiü nur noch, daß 
Mainoin dfivon sprach, „der schlechte Harn mnssc lu raus" nnd ihr mil fnnrm 
iuu-teu Uegeustand in den Geschlechtsteil fuhr, wodurch sie starke Schmerzen 
bekam. Aufgeweckt spürte sie, daO eine Flfisaigkeit an den Brinen herabliel 
Munone kflOle dann Maria und entließ ne. Nadb dicaem Eriebnis war rie noch 
so benommen, dali sie schwankte und auf der Straße bei fJclegenheit einer Be- 
sorcfunfr tinifirl. Kinc Frau half ihr uutslehen. Atich um folffrndrn Tnjre vorsetzte 
Mttiuoue mit Hülfu des Stiftes <lie Patientin in einen schlafartigen Zustand uud 
fuhr wieder mit „einem harten Gegenstand" in den Ocaehleehtsteil der B., naeh- * 
dem er beide Arme um ihre Taille gelegt hatte. Befragt über die an den Beinen 
nach diesem Vorfall heral>fli<-I!eiide Flnssipkeit erklärte Mainone. das sei schlechter 
Harn, der heraus müsse. Maria kam erst jetzt die Sache verdachtig vor, sie er- 
zählte das Ganse ihrer Schwester, die sie s<^i»rt au einem Arst filhrte. Dieser 
konstatierte Zerreißung des Hymens infolge von Manipulationen am 11. und 
13. DezeudxT. 

Die Schwester der Geschädigten, Erau H., ergänzt die Angaben der Go- 




IV. Der Fftll Htinooe. 



157 



gcliiidiplen dahin, »laÜ 3Iuna nach den Sitziin{f»"n sich in «'iiMMu konfusen, taumoligcii 
Zustand befunden hal»e. der eine Stunde andauerte. Aber auch sonst sei sie seit 
ihrem Verkehr mit Jiaiuoue äuUerst vergeßlich und wirr ge\yordeu. Dieser Zu- 
stand der Erregnag dauerte oocli ca. 14 Tage nach Abbruch der Besiehungen au. 

Der .\ni;i^schuldijrto leuornot, das Madchen hypnotisiert zu haben. Vielmehr 
hätte ihn die K. pi-rcWf und zu drrn zweimaligen geschlechtlichen Verkehr ihn» 
ausdrückliche Zustiuimung gegeben. <>eßeu die Kichtigkcit dieser Aussage spricht 
jedoch die Deposition des Zeuge», Magnetopathcn Mnseler, dem Xsinone selbst 
von seinen hypnotischen Versuchen mit dem jungen Mädchen erzählte. Die 
Keimtiiis dazu jfewntiii rv ans dem Werke des Dr. Sturm: HypMriliMMni> und 
Magnetismus. Auf lirund dieser durch die Jte\vcis«ufuuhnie in vollem 1 nifango 
bestätigten Ermittelungen kam die Anklage zu der Überzeugung, daO Mainoue, 
welcher wohl wufite, daß er durch seine Manipulationen das Augenleiden der R. 
Dicht heilen könne, durch Anwendung der Hypnose sich das Mädchen zum Ge- 
schlechtsverk' hr <r<^fitiTig machen wollte, und auch diese« Ziel durch aoine unlauteren 
Mittel erreicht iiatie. 

Demnach wurde der Reisende Osrl )Iainone angeklagt zu Mählheim a. Rh. 
durch drei selltstandige Handhingen. 

1 Aiu 10. Dezember 1900 die Mana K. beleidigt zu haben und zwar mittelst 
einer iiitlichkeit, 

2. am 11. Dezember 1900 und 

8. MIM 13, Dezember 1900 die Maria ]{., eine in einem w illeulosen Zu.standc 
bcfiiiiirtciie Frautnisj»(<rs()ii. zum aul!< i i In lirliiu Heischlafe iniUbraiichl ZU haben 
(Vergehen bezw. Verbrechen gegen IKy. 176 Abs. 2 des K.Sl.ti.Il.^. 

Die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung am 7. und 8. Mai vor dem 
K61ner Schwurgericht ergab die Richtigkeit rorstehender Saehdarstellung in allen 
Einzelheiten, f's fanden sich keinerlei Anhiilts]ninkte. welche zu Zv.eifelii an der 
Unschuld il<*r Marin }{. !ierfchtigt< n <u\fv nuf ihre ZustimnuitiL' zu den it' Krn'jre 
kommenden Handlungen hätten schiietfen lassen. Die ärztlichen Sachverst»ndi);;er 
der Stadt pbvsikus Dr. Longard') (Köln), (teKeimrat Pelmann (Bonn) und Referent 
gaben einstimmig ihr Outachten dahin ab, daß Maria R. im willenlosen Zustande 
zum Heischlnf mißbraucht \vor'!i^!i -^im 

Der ala Zeuge und Sachverständiger ^eruomme^e Mugnetoputh und Hyp- 
notiseur Mfiseler (Köln), Lehrmeister des Angeklagten, erklärte unter seinem 
Side, alle Krankheiten durch Magnetismus heilen zu können, mit 
Ausnahme solch«' r. in denen organische Fehler v > r 1 ri c n. Sein Ver- 
such, durch Vorlepung von Krankenffeschichter, dem tiencht diese Hehauptunjj 
zu illustrieren, fand gebührende Zurechtweisung durch den Vorsitzenden. Zum 
Schluß gab dieser Heilkundige seiner Uberzeugung dahin Ausdruck. Maria R. 
habe sich freiwillig aus Liebe dem Mainone hingegeben. 

Gutachten des Verfassers. 

Nach der Darstellung der Zeugenaussagen hat der Magnetopath 
Mainooe ohne den Besitz irgend welcher zulänglichen medizinischen 
Vorbildung eine ärztliche Praxis in Mülheim am Rhein eröffnet. 

1) Das sehr ausführliche Gutachten des Dr. Longard ist in der VierCel- 
jahrschrirt für gerichtliche Medizin erschienen. 



i^'iyui^uu Ly VjOOQle 



168 



IV. Der Fall Mainone. 



TJntpr dem Vorgehen, er kiinno die 2ujabrige Mnria R.. die Scliwester 
seiuer Hauswirtin, der Frau Kouditor H. iu lüul" bis sechs magne- 
tischen Sitzuiigei> vou ihrer Kurzsichtigkeit; die nach seiner Auffassung 
durch „AnsAti zum grauen Star^ bedingt sei» befreien, wußte er daa 
junge Mädchen an sich xa locken und zu einer magnetischen Behand- 
Inng zu gewinnen. Die Manipulationen, welche der Angeschuldigte 
▼ornahm, sind jedoch weder ärztliche, noch magnetische, wie sie 
eventuell bei einem Augenleiden in Anwendung gelangen könuleo. 
Vielmehr war die ganze Art seines Vorgehens in brutaler und durch- 
sichtiger Weise von vornherein auf den geschlechtlichen Mißbrauch 
des unschuldigen Mädchens gerichtet. Ks hestcht nicht der geringste 
Zweifel darüber, daB ^rainonp sein Opfer wirklich hypnotisiert hat, 
um es soiiion A\'iinsch»'n gefügig zu machen. Dif zu diesem Zwecke 
aijgeweiideteu Mittel bestaudeu iu ilvm Austarreulassen einer auf einem 
Stift befindlichen Metallkugel, in Streichungen mit den Händen über 
die Augen, das Gesicht uoil später, als Maria sich i-iitkleidet hatte, 
in Streichungen des nackten Körpers. Daneben suggerierte er das 
Eintreten tob Schlaf oder schlafartiger Zustände. Die Fixation wurde 
mindestens mehrere Minuten nach der Sachdarstelluog der R. sogar 
zehn Minuten lang fortgesetzt, bis Mana schläfrig und schwindlig 
wurde. Gerade die Fixationsmethode, das älteste nnd bekannteste 
Verfahren beim Hypnotisieren ist bei ärztlicher Behandlung mit Hypnose, 
wie sie ja vielfach mit Rrfolg geschiebt, durchaus verpönt, wegen der 
unangenehmen Folgezuständt« für das Versuchsobjekt. Ein Arzt, 
welcher nach der Art des Augeklagten verführe, würde sich eines 
K.unstf»'hlers schuldig ma<'hen. 

Weiju der Ü* s( liul<ligte behauptet, die von ihm gebrauchten Mitiei 
srieü magnetopathisclit', nicht aber hypnotische MnBnahmen, so ist 
das eine der bekauiiteston Phrasen, mit denen die Anhänger des 
animalischen Magnetismus die rein suggestive Wirkung ihrer Heil- 
erfolge bestreiten. Diese Behauptung ist zudem vollkommen unbe* 
wiesen, da bis jetzt die Lehre vom animalischen Magnetismus nicht 
auf fehlerfreie Yersacbe basiert, bei deren Anstellung die Möglichkeit 
suggestiver Einwirkung durch die Versachsanordnung ausgeschlossen 
sein müßte. Der aDimallBche Magnettsrnns schmückt sich, wie so 
manches andere Verfahren der Kurpfuscher, mit fn nulen Federn, denn 
die ganzen mesmerischen oder magnetischen Prozeduren sind im 
Grunde nichts anderes, als ein larviertes, mit Mystik verhrämtes 
Snggostivverfahren ; d. h. die sogenrinnten !Tiagn<'Hschen Heilwirkungen 
kommen rhirch den (nlaubcn (l<r Patienten, ilurch dir Inansjiruch- 
ualmie ihrer psychischen Tätigkeit für die Heilung, nicht aber durch 



Digitized by Google 



IV. Der FftU MaiDone. 



169 



ein»- wnndi rh:',r<' Kraft zu stände. Denn das angeoomineue Fluidum 
des auimaijscheu Alagnetismus bedarf erst selbst eines Beweises. 

L'brigeus bieten die unerhörten Einzelheiten des vorliegenden 
Falles ein neues lehrreiches Beispiel liir die Tu verfrorenheit und Ge- 
wisseulusigkeit, mit der sogenannte Magueto|>atlieu, als^ Tersoueu ohne 
irgend eine SrztUche Yorbildung die UnwiMenheit ihrer Klientaa für 
sich aasbenteo. Sowohl im Interesse der Patienten wie der ärztlichen 
Wissenschaft erscheint es als Pflicht, an dieser Stelle nachdrücklichst 
zu protestieren gegen diesen Unfug und auch besonders gegen die 
leichtfertige Art, mit welcher hier heute ein flauptvertreter dieser Sichtung 
ttber Behandlung und Heilung von Krankheiten gesprodien hat. 

Gesetzt den Fall, Mainoae hätte keiue Fixation angewendet (wie 
er behauptet) sondern nur Streichungen und die auf Eintritt von 
Schlaf tind j^chlafartifjon Svmptomen hinzielenden Worte, so wäre 
doch das ebenfalls als ein Suggestions verfuhren zur Erzeugung hypno- 
tischer Zustände anzusehen. 

Nach meiner Auffassung aber hat Mainone in der Tat sich der 
Fixation des Stiftes bedient, wahrscheinlich beUuts Kiziuluug einer 
tiefereu Hypnose. Das geht auch aus seiner eigenen Auffassung Uber 
den Unterschied ron Magnetismus und Hypnottsmus hervor. Denn 
nach der Ueinuug der Magnetopatiben gehört zum Hypnotisieren die 
Fixation, zum Hagnetieteren aber nicht Wie nun der Magnetopath 
Müseier bezeugt, hat ihm Mainone xagegeben, an der Maria R, 
hypnotische, nicht etwa nur magnetische Versuche vorgenommen za 
haben, d. h. also, es wird der Gebrauch eines von dem magnetischen 
unterschiedenen Verfahren zugestanden. Der Unterschied besteht aber 
lediglich in dem Anstarrenlassen der ^lotallkugel. Hierzu kommen 
noch in Erwägung die völlig glaubwürdig klingenden Angaben der 
R. selbst. 

D< III juni,'iMi Mädchen kann allerdings nicht die Kritik erspart 
bleiben, daß sie unwissend und beschriinki yeiiug war, trotz ihrer 
Unkeuntnis der geschlechtlichen Diuge, einen so plumpen Schwindel 
nicht zu durchschauen. Schon die erste Entkleidungsszene, deren 
Eiinzelheiten sie zwar nicht genau anzugeben vermag, hatte einem 
jungen Mädchen mit dem Durchschnittsverstand einer 20jährigen die 
Augen über die Pläne des Verführers vollkommen geofinet Sie hätte 
sich dann zu einer Fortsetzung dieser eigenartigen Metbode gewiß 
nicht hergegeben. 

l^nd damals war ihr moralischer Widerstand noch nicht völlig 
gel>rochen. NVenu sie den T^t fehlen des Kurpfuschers folgend anfangs 
.'brer Schwester nichts anvertraute über die Behaodiungsweise, so mag 



üiyiiized by Google 



160 



lY. Der Fall Mainone. 



eif möß;li('hf'rweise noch uuter dem suggestiven Baun des Augeklagien 
gestaudeu liabeu. In diesem Fall hätte sie nicht sprechen können, 
auch wenn sie es gewollt hätte, weil er es veibotea hatte. 

Die moralische und intellektuelle Widerstandsfähigkeit der B. war 
jedenfalls tod vomhereiii eine geringe. Weno auch uicht im Sinne 
der Fsychiatik sehwacheinnig, war «ie doch geistig in hohem Grade 
unreif, kindlich nat? und intellektuell sehr sehwach begabt, so 
Mainone leichtes Spiel mit ihr hatte. Es ist deswegen auch durchaus 
unwahrscheinlich, daß Maria den Angeklagten an sich gelockt, ihn 
sexuell aufgeregt oder gar ihre vorherige Zustimmung zu dem Bei- 
schlaf gegeben haben sollte. In diesem Falle wären ja auch die 
ganzen hypnotischen oder magoetiacheu Manipulationen überflüssig ge- 
wesen. Thr Zweck konnte doch nur der sein, den Willen der Wider- 
strebenden künstlich /u brechen. 

Der allerdings noch in den (irenzen des Normalen vorhandene 
Mango! nn Begabung der Gpschädigten. ihre Verstandesschwäch»*, 
lieüeu sie uicht dazu komnieu, den verbrechcrischeu Plao des Maiuone 
zeitig genug zu durchschauen. Ihre totale Unwissenheit in sexuellen 
Dingen begünstigte das Gelingen des geschlechtlicben Vergehens. 

Der psychische Zustand, in welchen die Patientin durch die hyp- 
notischeo Manipulationen des Mainone geriet, war nach der Beobachtung 
der Zeugen sowie ihren eigenen Angaben ofifenbar ein schlafartiger 
Dusel, eine Schlaft ruDkenheit, eine Benommenheit, d. h. also, ein im 
Vergleich zum Wachsein veräuderter Bcwußtseinszustand. 

Derselbe ist aber als eiue echte Hypnose anzusprechen. Denn 
zu den Konnzoichen der Hypnose gehört uicht etwa, wie vielfach ge- 
glaubt wird, volle BewnRtlosifrkeit oder Bewußtseinstrübung mit nach- 
heriger völliger Erimieriingsl<i>ij^kpit. Dir meisten Hypnotisierleu er- 
innern üioh ganz oder teil\v(Msc der Vorgiin^:? in der Hypnose. Außer- 
dem läßt sich die Erinnenino; nachträglich wecken. Schon die ganze 
Art, wie die R. ihren Zustand beschreibt, der automatische Gehor- 
sam ^ den sie den Befehlen des Hypnotiseurs gegenüber kundgab, 
sprechen für das Vorhandensein der Hypnose. Der Begriff eines 
hypnotischen Zustandes umfaßt die leichtesten schlafartigen Ver- 
änderungen des Bewußtseins ebensowohl, wie den tieferen Somnam- 
bulismus mit posthypnotischer Amnesie. Übrigens zeigte die R. für 
die eigentlichen Vorgänge bei der Defloration nachträglich nur eine 
summarische JOrinnerungan die Schmerzen und den ,,harten Gegenstand**. 

Einzelheiten wußte sie nicht anzugehen. Eben dieser kleine Um- 
stand spricht für da>' Vorhandensein oinnr tiefen Hypnofte. einer weit- 
gehenden Veränderung des Bewußtseins (wenn dieselbe auch uicht als 



Digitized by Google 



IV. Der FaU HainoD«. 



161 



eine Howiißtlo!?if;keit im Sinno des Gesetzes atr/ust-hen ist). Es ist 
auch kaum denkbar, daß ein so hü wissendes und unbegabtes ^fädclien. 
wie Maria, im stände wäre, eine in allen Details überemstimmeude 
uod den Kenntxiiäseu der hypnotischen Bewußtseiusänderuiigeo ent- 
sprechende Darstellung in Protukoll zu gebeu. 

Wie stark und nachhaltig der frevelhafte hypnotische Eingriff in 
die Gehirameehanik des aimen Veranchsobjektes gewirkt hat, das be- 
weist ihr Verhalten nacsh den Sitzungen. Sie machte einen konfusen, 
wirren Eindruck, zeigte SehwindelanflUle, fiel auf der Straße um, war 
TergsBUch und brauchte zwei Wochen, bis die letzten Spuren dieser 
Einflußnahme auf ihr psychisches Leben verschwanden. 

Es gibt hypnotische Zustände, in deurti das Bewußtsein intakt 
und in denen noch ein geringer Grad von Willensfreiheit, oder auch 
die ganze Willensfreiheit vorhanden ist. Ein solrber hypnotischer Zu- 
stand w;h nluT bei der durch ihre Unwissenheit und geistige Unreife 
zu ^luguerieruugen prädestinierten R. nicht vorhanden. Denn sie war 
einerseits durch die angeblich tut Heilung nötigen und von ihr nicht 
richtig erkauiiteu unlauteren Mittel, dcreu hieb Mainone bediente, 
(Vorspiegelung eines Harnleidens etc.) andererseits durch die hypno- 
tischen Manipulationen kfinstlieb unfähig gemacht, ihren, möglicher- 
weise im normalen Dasein schwachen Willen frei zu betätigen, sittliche, 
im gesunden Geisteslehen wirksame Grond^tze (z. B. diejenigen ihrer 
fieligion) zur Geltung zu bringen, d. h. sich frdi zu entscheiden für 
oder gegen die Vollziehung des Beischlafs. 

Das Gutachten ist also dahin abzugeben: Carl Mainone hat die 
durch ihre intellektuelle Widerstandsarmut und ihre völlige Unwissen- 
heit in geschbrlitlirlien Idingen zur Verführung und Suggerierung 
prädestinierte Maria J{. mittels livpnntisrher ^lanipnlationen in einen 
tiefen schlat'arti^en Zustand ¥t r>>eizt, durcii welchen iliro freie VVillens- 
betätiguug, die Möglichkeit, Widerstand lu Icisleu, völlif^ aulgehohen 
wurde. In diesem Zustande künstlich hervorgerufener Wiiienslosigkeit 
hat er sein Opfer geschlechtlich mißbraucht. 

Urteil: Die Geschworenen bejahten die erste auf tätliche 
Beleidigung lautende Hauptfrage (§ 185 des B.-St-G.-B.s), verneinten 
dagegen die sämtlichen anderen Haupt- und Nebeulragen, betreffend 
den Mißbrauch der Maria R. zum außerehelichen Beischlafe in einem 
willenlosen Zustande (g 176 Abs. 9) oder nach VersetzuDg derselben 
in einen willenlosen Zustand zum Zwecke des geschlechtlichen Miß- 
brauchs 177). 

Der Angeklagte wurde zu 18 Monaten Geßuignis sowie in die 

Kosten des Verfahrens verurteilt. 

T. Schreack-Notting, ätadien. 11 



Digitized by Google 



162 



IV, Der FaU Mmnone. 



Schluß be merkungen. 

lu dem vorstehend kurz geschilderten Prozess Mainone wurde 
meines Wissens zum erstenmal nach dem Fall Czyuski (L894) den 
deutschen Geschworenen die Frage der hypuotisdheii Willensberaubung 
zum Zwecke eines sexuellen Attentats vorgelegt. Obwohl die Beweift- 
aufnähme in dem Kölner FaU lückenlos erschien, obwohl far einen 
freien Willen oder for ein Einverständnis der Maria B. mit den Mani- 
pulationen des Mainone sich keine Anhaltspunkte finden ließen, konnten 
die Geschworenen dennoch nicht genügciu] ihs rzeugt werden von einem 
Verbrechen gegen 176, Ahs. 2, resp. § 177 des R.-St.-(i.-B.s. 

Der Gerichtshof teilte oflcnhar die Mrinini? <]? r GesTliworenen 
nicht, vielmehr schi*'n er d^n Fehler derselben durch ein reichltchf^. 
man kann sagen, abuortii hohes StraiausmaB korrigieron zu \v(*llen. 
Ihuu das Strafrnaximum lür Beleidigung durch Tätlichkeit ist zwei 
Jahre Geliinguis. 

Die Erwägungen, welche die Geschworenen zu einer Freisprechung 
gegenüber der Frage § 176 Abs. 2 veranlaßten, sind schwer zu ver^ 
stehen. Allerdings hatte die Zeugin am 11. Dezember nach Vornahme 
der Defloration einen Kuß von dem Angeklagten erhalten, als sie aus 
dem Schlaf erwachte. Trotz ihrer Unwissenheit und Beschränktheit 
mußte sie in dem Kuß eine Unziemlichkeit erblicken, für welche jeder 
Vorwaud fehlte, auch wenn sie den Vorspiet^ehiimi n des Mainone im 
übrigen Glauben geschenkt liätto. Nichtsdestoweniger schwieg sie 
ihrer Schwester gegenüber und bot dem Angeklagten noch ein zweites 
]\Ial G( logeiihrit, seine geschlechtlichen Neigungen an ihr zu befriedigen. 
f>( mnach ist es verständlich, wenn mair Fall 8 f;im IM. Dezember) 
ausscheidet, da inuuerhin die Möglichkeit einer schweigenden passiven 
Zustimmung ans dem ^ eilialten der Maria abgeleitet werden könnte, 
d. h. von einlachen Laieu, denen das Wesen der posthypnotischen 
Einflußnahme auf das Verhalten des Opfers sehwer begreiflich gemadit 
werden kann. 

Dagegen ist die Frei^rechung von der Tat am 11. Dezember 
fast unglaublich. Entweder scheuten die Geschworenen davor zurttck, 
die fr^e der hypnotischen Willenlosigkeit prinzipiell zu entscheiden 
oder aber sie erblickten in einer wesentlich auf die Aussage und Kr^ 
inuerungen der Geschädigten sich stützenden Anklage keine hinreichende 
Beweisführung , um eine schwere Zuchthausstrafe eventuell Ins zu 10 
Jahren oder 15 .fahren (§ 1771 verantwort(»n m können. Indem sie 
den sich ilmen bietenden Ausweg der Bejahung der ersten ächuldlrage 



IV. Der Fall Mainoue. 



163 



(tätUohe BeleidigoDg) ergriffen, mögen sie darch die müdere Anf&sstmg 
geleitet sein, daß das genannte rechtswidrige Verhalten der An* 
geklagten durch eine höhere Bestrafong fUr Punkt 1 hinreichend ge- 
sühnt sei. 

Damit entzogen sie sieh in geschickter Weise der Beantwortung 
mehrerer juristisch interessanter Fragen, so z. B. derjenigen, ob eine 
hypnotisierte Frauensperson eine hinreichende Zeugin für ihren eigenen 
Zustand ist, ferner, ob rlip hypnotische VVillenlosigkeit eino Wiljpn- 
losif^keit nach jeder Kichtuiij; durstellt, wie sie da«? Ot'st t/ vnraus^ietzt, 
oder aber ol> die Willoulosigkrit nur p;f'^eu dru Hypuotiseur existiert. 
Beide Fälli' wären denkbar, und auch für dm Sachverständigen 
düilte es hierbei schwer sein, eine sich lediglich aui 1 atsachen, nicht 
auf bloße subjektive Auffassung stützendo Unterscheidung zu treffen. 

Endlich mösron die Geschworenen den personlichen Eindruck ge- 
wonnen haben, daß eine 20jährige, weün iiuch schwach begabte 
Frauensperson, wie Maria R., die nachträglich iu der Voruntersuchung 
und Hauptrerhandlung ihre Angaben in geordneter zusammenhangender 
Weise ohne Widerspruch vorzubringen mißte, auch trotz ihrer Un- 
kenntnis der geschlechtlichen Vorgänge das Unziemliche oder wenigstens 
AuffSUige der sexuellen Manipulationen des Angeklagten am 10. De* 
zember hätte erkennen können. Sie sprach aber weder mit ihrer 
Schwester darüber, noch zog sio dii'selbe bei Fortsetzung des Verfahrens 
als Zeugin bei. Aus dieser möglicherweise von Neugier und sexu«'ller 
Errpfjnng begleiteten Passivität dos Opfers ließe sich vielleicht eine 
Art schw.ieher Wülensbetätigung, ein gewisses unklares Entgegen, 
kommen ableiten. 

Nur so wird t\m dorn ( Jodankrn{»atv?p prfiktif?ch denkender Männer 
des Volkes hieraus ' ine I leurtrihiii^: d« s 'ratbcsiaiidcs bf^rreifüch. die 
sich mit der Bejahung lier ^erinffsteii Schuhllragr* be^^uügte und den 
Angeklagten vor einer schwtMüii Zuchthausstrafe bewahrte. 

Vom juristischrn Standpunkte aus hätte mau mit Hücksieht auf 
die Durchl'ülirharkeit der Anklage vor einem Geschworene ngericht auf 
Frage I (tätliche Beleidigunsr^ Vt rziehr leisten, dagegen die drei reehts- 
widrigen Handlungen als eine am lU. vorbereitete, am 11. Dezember 
perfekt gewordene und am 13. Dezember fortgesetzte Straftat dar* 
stellen können. Auch die für den Angeklagten wohlwollendste Auf- 
£u8ung wäre trotz des oben erwähnten passiven Verhaltens der R. kaum 
im Stande gewesen, hieraus eine förmlidie Einwilligung zu dem ihr bis 
dato ganz unbekannten sexuellen Eingriff des Angeklagten Mainone 
abzuleiten. In diesem Sinne hätte sich die Handlung des Mainone als 

11* 



164 



IV. Der Fdl Mainone. 



ein fortgesetztos Verhrechen der Notzucht (i; 177 des R.-St.-G.-B.s) 
durtrestellt (Eiubcitüflikcit des Entschlusses, ersichtlu-h aus der Vor- 
spiegelung der HeüuDg lu 5 — 6 Sitzungt n. Iiitjutität des verletzten 
Rechtsgutes: Geschlechtsehre der Zeugiu, Gleichheit der verwendeten 
Mittel) dargestellt Die Tat vom 10. Dezember war bereits ein Ver- 
sach| mindestens aber eiue Vorbereitungshandluug, die üaudluugeu am 
11. und 13. Tollendete Verbrechen. Allerdings war auch in der flanpt* 
Verhandlung die Frage auf Verletzung des § 177 gestellt» aber eist, 
nachdem die Handlungen am 10. Dezember fttr den Tatbestand einer 
tätlichen Beleidigung in Anspruch genommen waren (erentuette doppelte 
Bestrafung fHi dieselbe Handlung). 

Wie Ton juristischer Seite bemerkt wird, empfahl sich fUrsoi^lich 
auch die Stellung einer Hauptfrage auf Körperverletzung (§ 9S3). Der 
Tatbestand derselben (Zerstörung der Jungfemhaut unter starkem 
Schmerzgefilhl) wäre ebenfalls vorhanden gewesen. Der Strafrahmen 
dieses Paragraphen ist um 1 Jahr weiter der des § 185. 

Die Anklage hätte sich mit ^ 177 (Notzucht» efentuell an einer 
zu diesem Zweck in einen willenlosen Zustand versetzten Person) und 
eventuell mit § 223 (Körperverletzung) begnügen können ohne Zurück- 
gehen auf die § 17f), Ziffer 2 ffniBprchplichcn Brischlaf mit einer im 
willenlosen Zustande behudlicheu J^Vauenspersou) oder § 185 (tätliche 
Beleidigung). 

Mit dieser Anklagepolitik wäre wahrscheinlich ein höheres Straf- 
maß erzielt worden. 

Vom .StHiidpunkt der forensischen Psyehiatrie betrachtet, ohne 
Rücksicht auf die Aiiwendiin«T der Hi '-ltt^formeo und die aus rein 
praktischen Krwii^niiigeii getrotrtjuü Hntj?«heidiing der Geschworenen 
bietet der Fall Mainimo ein typisches, man kann sagm klassisches Bei- 
spiel für dcü gesciilecLtlicheu Miß brauch einer Hypuutisierten. Hätte 
der Angeklagte jene unter dem Yorwaude ärztlicher Behandlung am 
10. Dezemher an der ausgeübten sexuelloi Manipulationen ohne An- 
wendung der Hypnose vorgenommen, so wäre auch zweifellos dadurch 
der Tatbestand einer tatlichen Beleidigung gegeben gewesen. 

Der springende Punkt für die Beurteilung des Prozesses ist aber 
jedenfalls die Frage» ob überhaupt die Hypnose angewendet wurde oder 
nicht. Wenn die Verteidigung auch in einem vierstündigen Plaidoyer 
mit großem Geschick sich gegen den Mißbrauch der Hypnose aus- 
sprach, 80 bleiben doch bei dieser Auffassung mehrere Punkte un- 
erklärli( h. so das Zugeständnis des Mainone au Müselcr. daß er die 
Maria B. hypnotisiert habe; femer das ganze Verhalten derK selbsti 



Digitized by Google 



IV. Der F&U Hainone. 



166 



ihr gestörtes psychisches Gleichgewicht nach den Sitznngen, welches 
mehrere Wochen andauerte und von nnfthhän^if^en Zeuc^on heobnchtot 
wurde. T'nd ist es überhaupt denkbar, daß eine so weni/; iutelligeute 
beschränkte Person, wie die R. ein Bild von den psychischen Er- 
scheinungen der Hypnose auf Grund von Selbstbeobachtung entrollen 
könnte, welches in allen Zügen richtig ist, zu dessen Darstellung ein 
Simulant sich eingehende Spezialkeuuinisse über die hypuotischeu Er- 
sdieimmgen zuvor venchaffen müßte! Ist es denkbar, daß sie wäh- 
rend der VonmteisachuDg, der ärztliehen Emninft, und auch in der 
Hanptrerbandlnng alle fieteüigten, ihre Umgebung ebensowohl wie die 
Ante, Sachverst&ndigeo und lÜohter fortgesetzt su täuschen TermSehte, 
ohne sieh jemals in Widerspräche zu Terwickehi! Eine solche Vorans- 
setsong scheint nach der ganzen Sachlage unhaltbar zu sein! 

Werde Dun aber von Mainone die Hypnose überhaupt angewendet, 
dann diente sie sicherlich seinen rechtswidrigen Absichten, indem sie 
das Opfer betäubte und künstlich des freien. Willens beraubte. War 

die Patientin schon hypnotisch willenlos im Augenblicke der ersten 
sexuellen Manipulation am 10., dann war sie es mit absoluter Sicher- 
heit auch bei der Defloration am 11. Dezember! Dann erklärt sich 
auch zwanglos , warum sie erst nach der zweiten Entehrung ihrer 
Schwester Mitteiluiif; maelite, warum sie den KuH nicht als Heh idigung 
empfand! Sie war eben auch während des Wachseins iu den Zwischen- 
pausen unter dem suggestiven Bann ihres in derselben Wohnung bo- 
findlichen H y])notiseurs ; ihre HemmungsvorsJlelluugeu wareu einge- 
schränkt und kamen erst nach dem zweiten Geschlechtsverkehr wieder 
zur Geltung! Trotz des schmbaren Wachseins lebte ue wie im 
Taumel, und die klare Selbsterkenntnis trug erst am 13. über die 
mächtigen suggestiven und sexuellen Einwirkungen ihres Verfuhren 
den Sieg davon. 

Vom logischen Standpunkt aus ist also mit der Bejahung der 
ersten Schuldfrage auch die Bejahung der zweiten Sohuldfrage (Ver- 
brechen gegen § 176 Abs. 2) gegeben. Das Strafmaß wäre wohl kaum 
so hoch bemessen worden, wenn die Bichter nicht auch fttr die Frage I 
die künstliche Willensberaubung durch hypnotische Einwirkung mit- 
berflcksichtigt hätten. 

•s 

Uber die rechtswidrigen Absichten des Mainone, bei denen jeden- 
falls der Mißbrauch der hjpnot^chen Suggestion eine mehr oder 
minder große, nachträglich schwer festzustellende Rolle gespielt hat, 
kann also nach den vorstehenden Darlegungen kaum ein Zweifel ob- 
walten. Der Fall Mainone lehrt von neuem, daß die für Urteile der 



Digitized by Google 



166 



IV. Der B»U Mainou«. 



GeschworeDengerichte oft genug aJJeia maßgebeuden praktischen Er- 
wägungoQ des sogeuaniiteii gesandan HensdMmTentaiideB in direktem 
logischen Widersi^ch stehen Iconnen mit den feineren Bechtsbegriffen 
der Gteaetseskonde und forensen P^chologie. Ein Kollegium juristisch 
gebildeter Richter hätte nach den grarierenden Umständen der ge- 
BchÜderten Sachlage den Angeklagten gewiß nicht von dem Verbrechen 
g^en § 176 Abs. 2 freigesprochen. 



Digitized by Google 



V. 

Eine Freisprechung naeh dem Tode.') 

Gutach teo 

über 

deu Li eiateazustand des am 17. .M.ii 1900 verstorbeuen Postexpeditors W. 

(i^ugg^^riuruug eines Morphinomaueu.^ 



Am 27. Juüi 1899 wurde der Postexpeditor Johann W. durch 
die Strafkammer des k. Laodgerichts St. für schuldig erklärt eines 
Vergehens im Amte und zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaton 
und arht Tagen, sowie zu den Kosten des Strafverfahrens inid des 
StratvollzujTcs vcrurtrilt. W. hatte, wie durch oijic Kassenvisitation 
am 10. April und durch das Hniiptvcrfahreii »rwieseii wurde, der 
Ämtskasse ungefähr 900 Mark entnommen zur Begleichung von Privat- 
verbindlichkeiten. 

Auf Gruud ärztlicher Zeugnisse wurde die Vollstreckung der Ge* 
fänguisstrafe zweimal verschoben, das erste Hai bis zum L Februar 
1900, das zweite Mal bis zum 1. April IdOO. Schon am 17. Mai 1900 
verstarb Johann W. infolge der Erkrankung, welche den Strafauf- 
schub veranlaßte. 

Obwohl der Verurteilte schon vor der Zeit jenes Vergehens und 
wahrsi'lieinlich auch zur Zeit der inkriminierten Handlung in einer 
Weis« erkrankt war, daß seine freie Willensbestimmuug hätte in Zweifel 
gezog» n werden können, wurde dennoch die Beiziehuog ärztlicher Sach- 
verständiger zur Haupt\ crliniidliuief unterlassen. 

Durch die Vertcidii^aiiig zur iiuchträi^liclien Alfi^nbe eines (4ut- 
achtens über deu Geisteszustand des W . zur Zeit der Tut aulgelordurt, 
betiiidet nicli der Sachverständige in ähnlicher Lage, wio bei Beur- 
teilung eines zweifelhaften Zustandes geistiger Integrität zur Zeit einer 

1) Archiv für KniuioaUnthropologie. Bd. YIU, S. 177. 



Digrtized by Google 



168 



y. Eine freUprechaog nmdh dem Tode. 



Ttstameütgerrichtung nach bereits erfolgtem Tode des Testators. Em 
solcher Fall stellt also prinzipiell für das Gesetz kein norum dar. 
Allerdings kann sich ein solches Gutaditen bei der ünmöglichkdt der 
persönlichen Untersachnng des Verurteilten lediglich auf Aussagen 
und Wahrnehmungen stützen, weldie von den behandehiden Arsten, 
▼on der Gattin und anderen Personen im Verkehr mit dem W* ge- 
macht worden sind. Der Wert eines solche Benrteiluugsniat«'ri:ils 
würde erst durch die eidliche Zeugenvemehmnng der beteiligten Per- 
sonen seine richtige Bedeutung erhalten. 

Tiiflessen bestoht für dm Referenten keiuerlei Veranlassung, die 
Glaubwürdigkeit der diesem Gutachten v.n Grunde gelegten Berichte, 
zumal dieselben sich gegenseitig er^iiinzeu, zu bezweifeln. Es darf 
hiernach schon im voraus bemerkt werden, daß A\ . an chronischem 
Mor|)liinismns litt. Die neuere gerichtliche Psychopathologie stellt die 
Forderung, daß jeder dem AlorphiummiÜbraucb ergebene Augeschuldigte 
auf seinen Greisteszustand hin untersucht werde (TergL Kr äff t- 
Ebing: Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie, 3. Auflage. 
1900. 9. 268). Die damaU unterlassene Begutachtung muß nun nach 
dem Tode des Beschuldigten so weit als möglich nachgeholt werden. 

Den vorstehenden Ausführungen sind zu Grunde gelegt: 1. Ab- 
BchriftUche Notizen aus den Akten, welche von der Verteidigung 
eingesendet wurden : 2. Die schriftliche und mündliche Aussage der 
"Witwe W., Gattin des Verstorbenen (Besuch der Frau W. im Februar 
r.tOo): :], Zwei ärztliche Zeugnisse vom Bezirksar/t Dr. H. in A. und 
vom Bezirksarzt Dr. K. in L. ; i. Die briet'liehen Antworten dieser 
beideu Arzte auf die über den Geisteszustand des W. vom Gutachter 
gestellten Fragen, 

Hiernach ergibt sich folgendos Gesaratbild : 

W. starb 55 Jahre alt. Seine Mutter erlag einer Tuberkulose, als 
W. 12 Jahre alt war. Der Vater beendete sein Dasein 60 — 70 Jahre 
alt. Zwei Vatersgeschwister sollen nach Angabe der FrauW. geistes- 
gestört gewesen sein. Vatersmutter soll ebenfalls an Geisteskrankheit 
gelitten haben. Ein Bruder W.s starb 20 Jahre alt an Tuberkulose. 
^Vie Frau W. bekundet, ist der pensionierte k. Oberanitsrichter K. in 
£. in der Lage, über die Familienverhältnisse und erbUche Belastung 
des W. Angaben zu macheu. W. heiratete seine Frau nach einem 
17jährigeo Verhältnis im Alter von 52 Jahren. Vnn 4 Kindern, die 
dieser Verbiiiiluiif^ entsprangen, leben zwei. W. machte im 2'>. Lebens- 
jahre den l'\ l(l/ui: l '^T"?! mit und soll nach Aussage seiner Frau seit 
dieser Ztnt herz- und uierenleideud gewesen sein. Wenigstens wurde 
er seit dieser Zeit ärztlich behandelt, 



üigiiized by Google 



V. SÜD« F^eiiprechiing Dtxh dem Tod«. 



Wie Frau W. und Dr. E. uiuibhäiij^it: von ••inunder mitteilen, i;riti' 
Patient 1897 zur Tiiiideninp: seiner Kranklieitss\ mj)tome zum Morphium 
und ergab sich seitdem voilkoimiitn Hnu Mißbrauch dieses Giftes. 
Schon zur Zeit seiner Eheschließung war er so h'idend, daß er an den 
Tod dachte nnd daß die kirchliche Trauung verschoben werden mußte. 
Nach seinem Ableben sollten die Kmder wenigntens seinen Namen 
tragen 1 Dieses Motiv veranlaBte den Patienten zur Heirat. 

Nach den Schilderungen der Ärzte litt W. schon mehrere Jahre 
▼or der ihm zur Last gelegten Handlung an chronischer, fettiger Ent- 
artung von Herz und Leber mit konsekntiTer Wassersucht und chro- 
nischem Darmkatarrh. Hiergegen wurden zur Linderung Morphium- 
und Atherinjektionen angewendet. 3Iit der Entwicklung des Leidens 
steigerten sich auch die nervösen Symptome des Patienten in Form 
von Kopftlrnrk. hoehfjradiger Reizbarkeit, hypochondri.srhen Errcp^nnps- 
zust.-inden und cifif-r völlif^en Veränderuiifj des Charakters, so daß er 
zur nuiclitührung einer MorphiumabstiueniÄ nicht mehr föhig war. 

Zu (iiefjpn sclion vor dem April 1900 von den ArztHii festge- 
stellten Ivrauklieitss) inptumeu trat die tiefe physische uad psychische 
Degeneration des Horphiummißbrauches , welcher Patient allmählich 
ganz Terfallen war. W. spritzte sich, wie Dr. E. bemerkt, täglich 
mehrmals ein, um seine Unruhe zu bemeistem. „Er, der energievoUe 
Hann, ließ sich** — so föhrt E. in seinem Bericht fort, — j,$B,nz von 
seiner Frau beherrsebeo. Er wurde zaghaft, unentschlossen, 
zeigte zunehmende Gedächtnisschwürho . war unpünktlich, nachlässig 
im Dienst, vernachlässigte sich in der Kleidung, kannte den Wert 
(It s Geldes nicht mehr; femer ließ er sich von allen Leuten 
3tl»'(likanit iitc kommen, um sio wrt^/nwerten : it war hald heiter. Iioff- 
nuugsvoll. wninte ff wie ein Kind, lii'irte undi iiianchinal Stinimeu. 

AuRerdrni scl/Ae er nicht seken den Austaud bei stite, urinierte in meiner 
(le^'euwart ; endlieh klagt«« er über Verwirrtheit, Sausen im Kopf und 
ich war bestanilig iu Angst, er könne einen Selbstmord begehen." 

Am 18. März, also gerade 3 Wodien vor der Kassenvisitation 
hidt Dr. E. wegen des bedenklichen Zustandes, in dem W. sich be- 
fand, mit Dr. H. ein Konsilinm. Sein Morphiumrerbrauch war so 
groß durch die häufigen, nicht mehr kontrollierten Injektionen, die 
er sieh selbst machte, daß Dr. E. kein Rezept mehr schreiben wollte 
und au Friiu die Frage richtete, ob ihr Jlann sich vergiften wolle. 

Dr. E. schließt seine AnsitÜlmngen mit den Worten : „W, war 

1) Ebenao erklärt Dr. R., LaDdgericht««rxt in L., drr den Postexpcditor W. 

nach seiner Verurteilang vom .lahre 1899 \>h /u iucin im 3Iai 1900 erfolgten 
Tode behandelte, denselben für dicie g«nze Zeiti>enodo als unxureehnnni^Brdhtg. 



i^'iyui^uu Ly VjOOQle 



170 



V. £iDe f reispreehung nach dem Tode. 



damals nicht nur körperlich. soiultTn auch geistig krank, sciu psy- 
chischer ZusiiiuJ war autangs April ein getrübter." 

Als Zeugen für die Richtigkeit dieser AufsteliuDgen benennt Dr. £. 
den Postboten B., der oftmals wachen mußte. 

In demselben Sinne spricht sich der zweite Arjct Dr. H. aus, so 
daß seine Angaben den Bericht des Dr. '^E. xu einem Gesamtbilde 
ergänzen. Von den typischen Symptomen der Horphinomanie beob- 
achtete Dr. H. fol^ciidc Erscheinungen bei AV. : Willeusscbwächey be- 
einträchtigte rrteilstuhigkeity l'iu ntschiossenlieit, hochgradige Er- 
inneruDgsscbwäcbe und Unztiverlässigkeit. leichte BeoiDtiuIiharkeit im 
Geldausg^chen. ausnrepnip^te Nei«rnng zu impulsiven Handlungen. Wider- 
standslüsigkeit fielen iiiiHer»' l'>indrücke, peinliclii' Si-lilal'lusi^^keit, Stiui- 
mungsanomaiien, dehrÖse Zustiiiule, Apathie, similo^t* Haudiungeu, tiefe 
Bewußtseinsstörungen. H. hält W. /iitweise tür völlig unzurech- 
nungsfähig uud nimmt lür deu Anlang April liJOO das Bestehen 
einer geminderten Zurechnungslähigkeit au. 

Die Uittcilnngen der Witwe W. bestätigen und ergänzen die ein* 
zelnen Beobachtungen der behandelnden Arzte und erscheinen daher 
glaubhaft. Hiemach soll W. seit dem Jahre 1898 mindesteos 40 Narben 
an beiden Armen gehabt haben, die zum Teil eiterten, als Folge der 
Injektionen. Frau W. konstatierte ebenfalls die erwähnte Selbstmord- 
neigung ihres Gatten, ferner Depressiuuszustände, Weinkrämpr- tihne 
äußere Veranlassnog. Oft gab der Kranke irre, unzaaanunenhängende 
Antworten in scheinbar wachem Zustande, Er halluzinierte, fühlte 
sich vorfoljjt und sprach mit den Plmtocrrnphion. die an der Wand 
hiiiL'' ii. I-'r li.»rtc birii auslachen i ' i rhiWshalluzmatiun i uud Ijezog das 
aul die i'diträt-' au der Waud : mau mußte die Bilder unuli ehrn. so 
daß die Riicks>eite zum Vorschein kam. Außerdem liürte er Kanonou- 
gerassel; ferner will Frau W. Zeuge von Fieberaufälleu ihres Maunes 
gewesen sein. Stundenlang soll W. apathisch und stumpf Tor sich 
hingestiert haben. Daneben Neigung zu impulsiTen Handtungen und 
Affekten. So warf er ihr an tbrem Geburtstage einen Wasserkrug 
nach. Als Bismarck starb, war er, wie Frau W. deponierte, nfSß^ 
weg'*, behauptete, daß es Krieg gäbe, und ließ alle Telegraphen- 
apparate herrichten, ein Feldbett aufstellen, um auf alles vorbereitet 
zu sein. 

Auch seine ethischen Gefühle stumpften j;ich nach und nach ab. 
Obwohl er in gesunden Tagen mir Liebe an seinen Kindern hinj:^, 
wurden die^e ihm im Foitffange seines geistigen V'erlailes gauz gluich- 
gUltig. Scldielilich duilte das jüngste Kind nicht einmal mehr in 
seiner Gegenwart essen, sondern mußte vor den Alahkeiten in der 



Digitized by Google 



V. Eine Preisprechung nach dem Tode. 



171 



Küche speisen. Gewisse Kinbildun^m hflicrrschten ihn zwangsartig; 
so saß er z. B. sluiKlcnlaiif; solclien Eingebungen folgend auf dem 
^Nachtstuhl. Ebenso iichwüchie sich auch sein Gedüchtuis. Er fand 
die Sachen des tUglichen Gebrauches, seine Akten u. s. w. nicht mehr, 
obwohl sie neben ihm lagen. Auch der Zeitsinn schwand» so daß er 
schließlich oft nicht wußte, ob Tag oder Nacht sei. 

Hit dem ateigenden Mangel des Orientierungsrermdgens, dem Nach- 
laß der ethischen und intellektaellea Funktionen ging die zunehmende 
Unfähigkeit, seinen Berufspflichten nachzukommen. Oft mußte man 
ihn vom Bureau in seine Privatwohnung bringen, und schließlich 
wurde eine Verbindung der Die&strüunie mit dem Krankenzimmer 
durch ein Sprachrolir hergestellt, so daß Patient im Bette arbeiten 
konnte. Nach Angabe seiner Frnn war W. mehrere Momite vor der 
inkriminierten Handlung nicht mehr im stände, seine Abrechnungen 
richtifj abzuschließen. 8ie srlbst mußte ihm helfen oder zu diesem 
Zwioke Pui^ttjehiiieu herbeiholen. Als Zeugon tut Bestätigung der 
Tatsache benennt Frnn AV. die Gehilfen .lakub und Ernst K., von 
denen der letztere noch m L. bedienstet ist. Ebenso hatte VV, einen 
Aufzug, mit dem die Akten ins Krankenzimmer und zurück befördert 
wurden. Nur mit Hilfe dieser Einrichtungen und seiner Erau gelang 
es ihm, den Anforderungen des Dienstes notdürftig nachzukommen. 

Er wurde auch allmählich unreinlicher, wollte keine Wäsche mehr 
wechseln. Mit Geld konnte er erfahrungsgemäß nicht umgehen und 
Terlor bei der zunehmenden Geistesschwäche auch hierfür das Vei^ 
stäudnis immer mehr. Daher verwaltete Frau W. die Einkünfte. 
Energie und Willenskraft und selbständige Urteilstahi;;keit schwanden 
80 völlig, daß Patient „wie weiches Wachs in der Hand seiner 
Gattin** wurde, die mit ihm machen konnte, was sie wolltf. 

Die vorstehenden, nab<*zu erdrückenden BewcismuiiKiiti' /lif^en 
mit /w in^jcnder TiOgik. dali W. schon melircre Monate vor tler in- 
kriminierten Handlung sich in einem Zustande tiefster mora- 
lischer Haltlosigkeit und totaler Zerrüttung der Geistes- 
kräfte bt'l'and, wie vr die notwendige Folge des mehrjährigen 
Horphiumahusus darstellt. Wenn auch Stunden und Tage soheinbwer 
Buhe und relativer geistiger Luzidität mit Zuständen vollkommenen 
Irreseins, totaler Bewußtseinstrübung gewechselt haben m5gen, so darf 
doch nicht vergessen werden, daß auch in den Stunden relatiTer 
Besserung und scheinbarer Klarheit die psychischen Grundlagen des 
gesamten Charakters, seines Denkens und Wollens durch die chronische 
Morphiumintoxikation derartig gesi h Idigt waren, daß von einer recht- 
lichen Verantwortung nicht mehr die Bede sein konnte. 



Digrtized by Google 



178 



V. Eine Freiiprediniig nabh dem Tode. 



Unter den Symptomen dpr Morphinomanie ist besouders charak- 
teristisch die fast bei allen ^lorphinisten zu beol »achtende Schlaffheit 
und Willenschwäche. Ihre sittliche Widerstandski au ist gebrochen, 
resp. erloschen. Diese Erschemung war bei W. nach Angabe des 
Dr. E. und aemer Gattin in so hohem Qrade Torhanden, daß er ein 
willenloses Werkzeug in den Händen seiner Frau geworden war. 

Nun ve^egenwartige man sich in BerCicksichtiguDg dieses Punktes 
die liotiTe niid Ursachen, welche zn dem Eingriffe in die Amtskasse 
geführt haben. 

Die materiellen Verhältnisse der Ebelente waren, wenn auch das 
Kranksein ihnen teuer genug zu stehen kam, geordnete. 700 Mark 
steckten in dem Geschäfte d^r Frau W., 600 Mark waren alsKeserve« 
fonds hei Kechtsanwalt S. zur Zeit der Tat dt pouiert. 

Die schwere Erkrankun;^' leaselte den W. ans Zimmer und Bett, 
jedenfalls fehlte die Anregung, größere Summen zu seinem Verernügen 
auszugeben, vollständig. Bei dem V erhör gab er au, die der Amts- 
kasse entnommenen 900 Mark zur Sicherung seiner Kaution verwendet 
zu haben, d. h. um seine Obligation bei Bankler H. auszuldsen! 
Dieser Verpflichtung konnte er aneh ohne Eingriff in die Postkasse 
nachkommen, wenn er seiner Frm anvertraut hätte, daß er in früheren, 
gesunden Tagen seine Kantktn Terp^det und das emp&ngene Geld 
Terbraucht habet Über die Motive, welche ihn von einer derartigen 
einfachen Lösung der Angelegenheit abgehalten haben, lauen sich 
höchstens Vermutungen aufstellen. Aber wahrscheinlich waren auch 
diese Motive ein Produkt snine« krankliafton Denkens, wodurch ihm 
die Möglichkeit cim r klaren Überlegung getrübt wurde. Er sah nur 
das Nächstliegende, 8rham und Furcht vor seiner Frau beeinflußten 
vielleicht, wie bei solcher psychischer Degeneration erklärlich, seine 
Hamllungeil stärker, als logische Erwägungen. 

Frau W. drängte aber immer wieder iu ihren kranken Mann, 
sich seine Kaution von der Post zurQckzahlen zu lassen. So trieb 
sie ihn, ohne zu wissen, was sie tat» in sein Unglück. So wurde er 
das Opfer einer absichtslosen, unbewußten Suggerierung 
von Miten seiner eigenen Gattin. Er war das blinde, automatische 
"Werkzeug ihres Willens und wollte i\ tout prix sich Ruhe vor ihren 
quälenden Fragen Schäften. Offenbar war W. intellektuell bereits 
durch die psychische Erkrankung soweit geschwächt, daß er, unfähig 
7MT Bildung normaler sittlichf r (irt,'t*nvorstellun;?en , sich nicht mehr 
aus iVriem Willen für BcLrehuiiu' (mUm- l uterla'^suntj: der Tat entscheiden 
konnte. Er wurde d;is ( )j>t'er eines iinpulsiven Antriebe.';, den er aus 
krankhaften Ursachen nicht mehr zu beherrschen im stände war. 



Digitized by Google 



V. Eia« FreiBpredniDg nmä. dem Tode. 



173 



Sowohl fler gesamte Geisteszustaud des W. im Anfange April 
1900, wie die ganze Art der Ausführung des Vergehens, liesouders 
die un/.ulä.ngliche Motorierung desselben, sprechen gegen eiae £reie 
W illen sbeslimmuiig des Inkulpaten bei Begehung der Tat. 

In Berücksichtigung der vorstehenden Darlegungen ist das Gut- 
achten in folgender Weise zusamtuenzufasseu: 

W. endLeint als ein erblich belasteter Nearopatb mit 
schweren körperlichen En tartungs zuständen von selten des 
Herzens nod der Leber. Außerdem litt er mehrere Jahre Tor der 
Tat nnd znr Zeit der Strafbandlung an Morphinomanie, die hei 
seiner konstitutionellen Schwäche in besonders schwerer Form zum 
Ausbruch kam und eine andauerode Charakter-, WiUens- und Denk- 
schwäche hervorrief. 

W. befand sich also zur Zeit der Begehung der ihm zur Last 
gelegten Handlung in einem Zustande krankhafter Störung 
der Geistestätigkeit, durch welche seine freie Willensbe- 
stim muug ausgeschlossen war. 

Infolge der gerichtlichen Verurteilung des W. wurde derselbe im 
Diszipliiiarveriahreji seines Amtes entsetzt und verlor damit für sich 
und seine Gattin das Recht zum Bezug einer Pension, resp. eines 
Witwengehaltes durch den Staat Dieser Umstand und der Wunsch, 
den Makel zu löschen, welchen die Verurteilung des Terstorbeneo W. 
auf seine Familie geheftet hatte, Teranlaßten die hinterbliebene Witwe, 
die Wicdeianfnahme des Verfahrens durch den Bechtsanwalt Bernstein 
in München anzustreben. Dieser ttberwies dem Verfasser das Akten- 
material zur Ausarbeitung des vorstehend mitgeteilten Gutachtens. 
Auf Grund desselben beschloß das Gericht, dem Antrage auf Wieder- 
aufnahme des Verfahrens Folge zu sehen, vern.'ihm di<' in dem Gut- 
achten namhaft gemachten Arzte, Krankenwärter u. s. w, al-> Z-Mit'en 
und ließ darauf den N erfasser auf sein Gutarliten vereuligeu. Die 
Depositionen der Zeugen wichen in keinem wesentlichen Punkte von 
dem lüLaltu des Gutachtens ah. 

Das Urteil des Gerichts in zweiter Instanz lautete auf Frei- 
sprechung und hob die frühere Enfsobeidnng des Landgerichts in 
St Tom Juni 1899 auf. 

Die Folge dieses Rechtspruches muß Annullierung der auf dis- 
ziplinarem Wege erfolgten Amtsenthebung und Auszahlung des 
Witwengehaltes an die hinterbliebene Gattin des Verstorbenen sein. 

Da eine Freisprechung post mortem in den juristischen Annalen 
7u den Seltenheiten zählt, so dürfte der vorstehend geschilderte Fall 
immerhin einiges Interesse beanspruchen. 



Digitized by Google 



über sexuelle Abstinenz. 



Die Frage ob völlige geschlechtliche Eothaltsamkeit ▼Olk noimAlen 
geschlechtsreifeo Mäuneni ohne Schaden für die Geatiiidheit durchgeführt 
werden kann, ist neuerdings durch den Aufruf einer Anzahl deutscher 
XJniversitätslehrer an die studierende Jugend wieder in den Vordergrund 

des Interesses getreten. Zahlreiche namhafte Forscher, so die englischen 
Gelehrten A sto n,') Beall,*) Paget,'*) G o wers,*) ferner Iii h hing ^) 
Rulenburg") stehen auf dem Standpunkte, daß mau durch sexaelle 
Abstinenz hei sonst vernünftiger Lebt'nswfisp keine nprvjispn oder 
nenras'tKenischen Hrsclieinungen prworbcn kimne. Rfiiiior") hrhauptet 
sogar in diesi iu Sinuc : Nicht (.iiinKil der Scluitten eines lieweises liegt 
dafür vor. diiii ein nervöser M« ii^ch durch sittonroinfs Leben (d. h. 
durch völlige Abstinenz vom Geschlechtsverkehr) etwa nerven- oder 
gemütslcidend wird. Anderer Ansicht sind: v. Krafft-Ebing,^) 
Tarnowsky/) Rohleder,'") Siebert,»') Pürbringer,»-) Gyur- 



1) Aston: Oo the reprodactive Organa. Ged. London. 

2\ Uiiilv: Our morality niul the nioral question. London 1887. 

Hl Paget: Citieit Ix-i R.>al<>. 

4) G Overs: Loudon Laucct 1889, 16. Febr. S. 316. 

6) Ribbing: Sexnelt« Hygiene und ihre ethischen KoQwqaeoseD. 

6) Siebert: Sexuelle Uoral und sexuelle Hygiene. Frankfure 1901. (Joh. Ali.) 

S. 164 fr. 

7) KTMuer: Die Sitteureiohi.'it vor dem Hichlerstuhl der ärztU Autoritüt. 
Berlin 18U2. 

8) T. Krafft- Ebing: Jahrb. ffir Psychiatrie VIII 1 u. 2. 

91 Tnriiowsky: Pnistitution und AliolHionistnus. 
lOi K o h 1 e (I (. r : «st urbation. lierün liKtt. (2. Aufl.) 
11 j JSiebert; lue. eil. 

12) Fflrbringor: Die Störungen der Geschlechtafunhtionen des Hannea. 
Wien 1901. 



VI. über sexuelle ALsliiicuz. 



175 



koTechky*) und Verfasser*). Nach ihrer Meinung aiiid Kraft 

und Inteusität de» GescMeohtstriehes ebenso wie die moralische und 
physische Individualität, b* i verschiedenen Menschen äußerst m&nmg- 
faltig; allerdinf!;> sind Rohleder"') und Fürbringer*) gegen die 
Aneinpfi hlimp; des anneieliplichen (Ie<?chb*chts Verkehrs, v. Krafft- 
Ebiug'') wnr einer der ersten welcher nachwies, daß als Folc;e der 
Untertlriirkuni,' clups der mächtigsten Triebe fin allgemeiner nervöser 
Erregm);,'s/.ustand eintreten könne. Auch nueii G v u rk o v ech ky ®) 
kann eine ubermäßige Enthallsamkeit den Körper und die sexuelle 
Kraft schädigen. Xuch Tarnowsky*) wird geschlechtliche Ent- 
haltnog von dem einem dank- den angeborenen Eigenschaften gut- 
vertragen, während ein anderer dadurch veranlaßt wird, Befriedigung 
der ihn verzehrenden Glut in weiblicher Umarmung su suchen oder 
Sinnestäuschungen, wie denjenigen des heiligen Antonius oder dämono- 
manischen Halluzinationen unterliegt^ oder endlich durch Onanismus 
unrettbar I?) 711 n runde geht. 

Wie von mir au anderer Stelle *) ausgeführt wurde, l)esit7,on die 
wenigsten Menschen die Willensstärke, in dem Kampfe /wischen Sinn- 
lichkeit und Verminf't Sieircr rn blfihen: die überwiegende Mebr/ahl 
l?»'rät. wenn die tiele.t:«'nli< it zu normalmi Verkehr Jiiehl geboten ist 
od* r \\ ( III) dersell)e aus priii/.ipiellt ii (iriiiuleii verniiedeu wird, auf den 
Ab\ieg der Selbstbefriedigung oder perverser BetUtigung des Gcschlechts- 
dranges ; er wählt also, wenn ein unehelicher, aber normaler Verkehr 
als ein Übel bezeichnet werden darf, von zwei Übeln das größere. 

Bei den großen Meinungsverschiedenheiten, welche heute noch 
über die BVage der sexuellen Abstinenz in den Kreisen der Fach- 
gelehrten herrscht, ist es angezeigt, solche Fälle zu publizieren, in 
denen sich scliiidliche Folgen für das Nervensystem aus der Abstinenz 
entwickelt haben. Das war der Grund für die Mitteilung der nach- 
folgenden zwei Beobachtungen. In dem ersten Falle handelt es sich 
um eine in einer jungen Ehe fast ein .Talir licstchnide psychische Im- 
potenz als Folge prinzipieller Abstinenz vor der Ehe. Patient wurde 



1] f! yu r k o V c 0 hk \ : IniiKttm?:. Wien 1889. 
- Sn<.'L"^tion.sihorai)i(' loi- rit. 

Hj Kohl, der: „Masturbtttiou". lioilin 11)02. (2. lieft.) 
4) Fürbringer: Di« StÖnmfren der GescUeehtsfunktionen des Mannes. 
Wien \m. 

b) V. K; it'tr.E!)inp: Jahrb. lär Pi^chiatrie VIJU 1 u. 2. 
ti) Uyur kovcchky: loc, cit.. 

7) Tarnowsky: Prostitution and Abolitionismos. 

8) Suggestionstherapie loc. dt. 



Digitized by Google 



176 



VL Über BemieÜe Abstinent. 



inzwischen durch den Verfasser frebpüt und Vater eines Kindes. In 
dem zweiten Falle treten als Folge einer 20 Jahre konsequent durch- 
geführten sexuellen Abstinenz anfallsweiser Priapismus amatorius, Zu- 
stände sexueller Hyperästhesie mu unlrei willigen .Sauieiieigießuugeu 
am Tage ein; die Erscheinungen hatten sich seit 9 Jahren langsam 
entwickelt und in letzterer Zeit ble zur UnertrSglichkeit gesteigert 

Beobachtung 1: Psychische Impotenz in der £he. 

A., Gelehrter, 8ß Jahre alt. Seit 8 Monaten Tcrheiratet. Vater 62 Jahre 

alter hrrzkrankor Diabetiker. Mutd r miniia]. Vatorsvater und Vatersschwoster 
, herzleidLiiiI, 4 pi smuli' (l. sili\\ isti r. Iiis auf leichte Anfälle von Podagra völlig 
gesuud. Gemtulieu normal, krallig entwickelt (ohoe Phimosis). 

Keine Onanie weder als Knabe noch ala Student. Dagegen regelniällige 
nSehtliehe Pollotionen. In der Zeit (l(>r Pubertät schwhrraerische Knnbenfreund« 
Schäften und Noicfung, Kameraden beim Buflrm zu li- oliacht*-n. Die iial'ere An- 
regung, weibliche nackte Körper zu sehen, und die Höglichkett , irgend welche 
Erfahrungen auf heteroaezuellem Gebiet so «mmmeln, fehlte vüUig ; daher spielten 
die Vontelhingen nadcter Knabenkörper bei den TraumpoUiitionen eine gewiase 

Rull<-, wechselten aber später, namentlich vor und in der Ehe, mit heterosexuelloQ 
Bildern. Dil die Neigungen des I^nti» hIcti nach der homosexuellen Kichtung nie 
weiter gingen, iiiugcgcu ein lebhalle» Verlangen nach normalem Geschlechtsver- 
kehr und wirkliche Liebe aar Gattin (einer hflbachen temperaroentTolleo, 22jährigen 
Dame) denselben TOlHg beherrschten, so kann der Patient nicht als konträr sexaal 
erachtet werden. Streng moralische und n Iit;ii"st^ Cnnidsätze hielten ihn* von 
jeher ab, den auCerehelicheu (ieschlechtsverkehr ?u versuchen, trotz normal ent- 
wickelter Libido, häufigen 31orgenerektionen und regelmiilligen Pollutionen. 
Keine nervtiseti. neura«thenisehen oder psychopathischen Heschwerden. Patient ist 
tüchtig im Beruf. tAwio aus'j-c^jprnchf^np Symptnnio i rblirlior Belastung. 

Obwohl nun die (iattin an Liebkosungen und Umarmungen nichts unversucht 
lieO, obwohl beim Patienten die libido scxualis völlig cutwickelt ist, leidet der- 
selbe an Impotenz aus psychischer Ursache (Mangel an Erfahrung); alle die sah!» 
reichen in den 8 Monaten vorgenommenen I?('isr]ilaf\ ersuche blieben resultatlos. 
Di»' (»attin ist heute virifo und Patient 1cid« t an Iiis ji i/.t nicht jri hfilter psychischer 
Impotenz. Nach den Antccedentien des.selbeu kann es gar keinem Zweifel unter- 
liegen, daß diese Impotenz lediglich als Folge der konsequent bis aur Ehe 
durchgeführten Abstinenz aufzufassen ist. Der Fall bietet eine gfinstige 
Prognose für die psychotherapeutische Behandlung. 

Beobachtung S: Sexuelle Hyperästhesie mit 
Priapismus amatorius. 

36 Jahre alter unverheirateter Beamter. Vater starb 69 .Jahre alt au Caxci- 
nom, Mutter an Magenleiden. Schwester leidet an erworbener Geisteskrankheit, • 
4 gesunde Geschwister. Patient ist völlig normal, von robustem Korperbau mit 
ausgesprochener Entwicklung der männlichen Sexualcharaktere. Onanierte mäßig 



Digiiized by Google 



VI. Ober sexuelle Abetioens. 



177 



bis zum 16. Loltffisjahr. wunio datiiuls ühcr Hio Fnlt'^ti iI«ts*»Uk<ii Im-IcIu". uud blieb 
bis heute (also 2i) Jahre hindurchj aus luoralischeu Orundon abstinent. Gclügeut- 
Kch yerliebte er sicli, ohne üeh su erklKren und litt unter den seelischen Auf* 
regungen. K. ist eine vollkonmieu inTiiKilt" lVrs<">nliehkeit von kräftiger, blut« 
rciilu r Kunstitiitiuti : ii; Trifhlchon hrMiml- r^ das (Jeschleohtsgcfülil lebhaft ent- 
wickelt. Oenitalien wohl ausgebildet. Ehrgeizig uud eifrig im Beruf ist er bis 
jetzt seinem Grundsätze, keusch io die Ehe zu treten, treu geblieben, obwohl er 
seit etwa 10 Jahren unter der Heftigkeit seiner sexuellen Erregungen seelisch 
leidet und zeitweise d.ulnrch vollkommen arbeitsunfähig wird. Während der Arbeit 
(am Schreibtisch) wirii i r (iurdi 7.\vaiig«jartig auftreteiidt Krektifnen und sexuelle 
Phaiitasieu gepeinigt. Die Erektionen sind in der letzten Zeit verlmndeu mit 
konvulsivischen schmerdiaften Krämpfen der Muskeln des Dammes und der Schwell* 
köi pc I . l)!(>sr schon seit t) Jahren andauernden und vergeblich mit allen mög« 
liehen hydrotheraiieutisohen , diiitiscli»'!! um! iin iiikain' iitiix'n Kiirm Vk käinpftnn 
Anfälle treten in letzter Zeit reaelinüßig luit groüer Heltigki-it während d«'r Arbeit 
auf, SU daü ii. auUer stände ist, mehrere Stunden ununterbrochen am Schreibtisch 
za sitsen. In seinem Berufsleben glaubt er dadurch so sehr geschSdigt zu 
sein, daU er um etwa 2 Jahre gegenüber seinen gesunden Kollegen zurückgeblieben 
ist. Es fällt ihm immer schworer. seine Aufmerksamkeit von d< n si xucllt ti Vor- 
gängen iu seinem Körper abzulenken. IVblcu aller üoustigen nervösen oder 
neurasthenisehen S> niptome. Er sagt selbst aber diese AufSUc: „9* 4 Jahre lang, 
eine Zeit furchtliarer «;> srjjli chtlicher Erregungen, die mir oft den To«l als 
wiiii.'^t'henswert erschein«'ii lii'lH'H. uml (]!>' icli imt X;k'.i'iii. Alk^ilm! mni T^^''Ii£^ioIl 
bekämpfte. Ab und zu übermannte mich die He>;ier uwi ii Ii land durch Pollutionen 
infolge von Berührungen au Kellnerinnen (Uäudedruck, Pressen der Arme in 
offentlieken Lokalen, ohne je den Beischlaf auszuüben) einige Erleichterung, erkauft 
durch bitterst(> Heue. Über die Schlafpollutionen fahrte ich 4- .'> .Tuhre lang 
Buch. Danach hnite ich nüe 3 — 4 Tage eine sulch««. Im Aii!:»u.st löW waren die 
Aufälle eines Tages so stark, »ial{ ich wachend ohne Anwesenheit eines Weibe» 
«ine unfreiwillige Pollution hatte. Für Frauenspersonen ungemein empfänglich. 
Schon der Anblick eines Bildes mit weiblichen Figuren regt uüch auf. In jeder 
LaiTf beim Strhnü. rrflv n. Sitzen. Lieireii. licim Arb' !(• ii. Kssen, Kühen, zu jeder 
Tages- und Nachtzeit quälen mich die Zuckungen. .Teuer Arger, jede JliUstimmuug 
ruft diese Anfälle herror; ebenso schon der bloUe (icdaukc, au eine schwierige 
Arbeit heranzutreten.** 

Die häutigen Pollutionen wirken auf da.s Allgemeinberuiden des Patienten 
•chwächetid und beeinträchtigen ihrerseits die Arbeitsfähigkeit nrx h n . hr. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dali die hier gesuhilderten Symptome sexueller 
Hyperästhesie lediglich die Folge der mit rücksichtsloser Energie 30 Jahre konsequent 
durchgeführten geschlechtlichen Abstinenz darstellen. 

Tr.-t:^ seiner quälenden Beschwerden kann Piit-fMit sich nicht zum auCer- 
ehelichen < »eschlechtsvorkehr verstehen. Es wird daher bahlige Eheschließung 
angeraten. Die sofort eingeleitete psychotherapeulischo Behandlung (^hypnotischer 
Suggestion, Katschläge pädagogischer Selbstbehandhing) hatte das günstige Resultat, 
daB Patient vom Tage der Kur un von den .\nfällen vorschont Idieb. Indessen 
bleibt der weitere F.i foljr nl.;'in\ «rten. Inzwischen ist ein .Inhr vorstrichen. 
Seltene schwächere Kückfäile bei konstanter Einhaltung der Abstinenz. Patient 
beabsichtigte zu heiraten und dürfte durch die Ehe völlig geheilt werden. 

T. Sebrenck-Netzing, Studien. 12 



Digitized by Google 



178 



YL Über •exuelle Abstinent. 



Die beiden hier erwähnten Fälle sind durch das Fehlen irgend 
welcher anderweitiger Störungen im Gebiete des centralen nnd spinalen 
Nervensystems iiiltressaLit. Trotz der htiredititreu Aiitecedentieu in 
den beiden FamiUen lassen sich bei beiden Personen keine Stigmata 
erblicher Belastung nachweiaen, so daß man wohl berechtigt ist, 
im aUgemeinen die beiden Abstinenten ak normale Individuen sn 
bezeichnen. 



Digitized by Google 



4 



VII. 

Ein experiiueiit^'Hor uuü kritiselier Eeiti as: zur f i'age 
der foiggestiTen Hervomiftang cirenm^kiipter Taso- 
motoriiächer Terändemngeii auf der Saferen Hanf) 



Eine Physiologie der suggestiven Erschpiminfj;en hat mit der für 
unsere »Sinne zugänglichen, ti. h. objektiven Feststellung anatoEiischer 
Eti'ekte zu beginnen, die mit Ausschluß andersartiger F^inwirkungen 
allein durch psychische Erregung zu stände gekuuinieu siud. Wenn 
die Tatsache der Abhängigkeit sämtlicher KörperfuDktionen vom Ge- 
hirn und der gegenseitigo fiinfliiB dieser beiden wichtigen GxQJBen anf 
einander im allgemeinen keinem Zweifel unterliegen kann, so muß es 
doch die Aufgabe der Forschung sein, diese Beziehungen dem Ex-- 
periment zugftoglicb zu machen. Mit dem Gelinge solcher Versuche 
gewinnt die suggestive Therapie eioe unumstöBliche Basis. Das Ex- 
periment der Blasenbildung durch Suggestion bezeichnet, wie Beannis 
mit Recht bemerkt, einen Markstein in der Gi sehicbte des künstlichen 
Somnambulismus. Hinlänglich bekannt ist die Bedeutung fördernder 
und hemmender cerebraler und spinaler Centren für die Blutzirkulation 
bestimmter durch ih»-»' funktionelle Sf^lbständigkeit abgegrenzter Teile 
und Organe des KuijuT.'?; so die rit /iclnuit,' der Vorstt llungen zu den 
Ersclifinuiigen de» Errötens (Schamrote i. der Er» l<tioii, der Men- 
struation ete. Wenn nun auch ein Zusamnienliung jeih r. auch der 
kleinsten Zelle unseres (Organismus mit dem Centralorgau postuliert 
werden muß, so ist doch im Vergleich zu jenen einer b^timmteo 
Arbeitsleistung dienenden ineinandergreifenden ilechanismen des Körpers 

1) Aus der „ZeiUchrift für Hypaotismus «tc.« Bd. IV S. 215. 

12* 



Digrtized by Google 



180 VII. UervorrufuDg circumakripter Tuomotorischer Veräaderuagea etc. 

uüd Gelums au den durch saggestireD Yorstellungsreiz augeblich auf 
der ftaßeren Haut hervorgebrachten Erythemen, entzflndlichen Ödemen 
und Yedkationen neu, die willkürlich Torgezeiebnete Abgrenzung Ton 
den Nachbartefleti, oli^leich diese von denselben Nerven und Geflißen 
versorgt werden. Ist es überhaupt miigtich, daß die centrifngalen 
Neurokyme bei entsprechender Stärke — unter sorgfältli^etn Ausschluß 
jeder äußeren Eiowirkung auf der Haut — ganz beliebige circumskripte 
Partien der Epidermis zur Kongestion und Kntzüudung bringen können? 
Nach den in der Literatur mitgeteilten und weiter unten berück- 
sichtigten Verbuchen. L i e b e a ul t * s . K r ;i t'ft - E b i n ' s . Forel's 
u. a. könnte mau grueigt seiu, diese Fraj^e zu bejaht-n! Aber einer- 
seits wurden in der Reprcl Hysterische als W-rsuchsobjektr angewendet, 
andf-rersfiis ist die Zahl derartiger wirklich einwandfreier B<'f)ba( htuiigen 
eiue zu geringe und die Möglichkeit der Selbsttäuschung gerade in 
diesem Falle besonders naheliegend. Um so mehr erscheint es als eine 
Pflicht der sich mit Suggestion beschäftigenden Kollegen, jeden Fall 
sogenannter Stigmatisation auf das Sorgfältigste nachzuprüfen und 
darüber tu referieren. Erwägungen dieser Art führten auch zur An- 
stellung jener Versuche, die in nachfolgender Krankengeschichte be« 
richtet sind. In positiver und negativer Beziehung bietet dieselbe 
manche Anregung für den Fachmann, so daß ihre Wiedergabe in 
dieser Sammlung zweckmäßig erscheint. 

Die Yenuehsperson Eva St., Of«naot2erstochter, ist ab Kochin bedienitet 

in Aschaffenban? boi dem praki, Arzte Dr. Fla eh, der in dankenswerter Weise 
dit' Aiiretriinir vm ili ii Kxiierinjeiiten gal) und uurli für liu' vjcitni- U< isi A-r St. 
UÄch Müaclieu Soi-gc trug. AuUer ihrem Brotherrn untersuchten dieselbe iolgendc 
Ärzte: Dr. GoOmann, Frauenant, Dr. Uirschbergerf Augenarzt, Dr. Kaller, 
Nervenarzt und Verfaaser diese« Berichte«; die vier genanntoa Ärzte sind aamtlieh 
in München. Das Resultat ihrer von einander unabhiingigeii Beobachtungen ist 

Folgendes : 

Eva St., 20jähng. krultig gebaut, siumnii von eiucr Mutter, die an Cnrciuuma 
veDtrie9)i starb. Vater und vier Geschwister lebend und gesund. Menses traten 

mit 15 Jahren ein, sind 4tagig, mitunter schinerxhui't. Vor 9 Jahren überstand 
die St. Blinddurnifiifzündiing. Der pyniikolociseln H'-riclit des Herrn Dr. (JdÜ- 
luaxiQ lautet: ^Scheide gut durdigäugig, Corvi.x kuuiscli. Gebüriuutterkürper iu 
steiler KetroTrrsion, die binanucll leicht zu korrigieren ist, Parametrien frei, 
Eierstöcke beide gut an normaler Stelle taatbar. Dagegen kann die Patientin in 
aiifn cliter Stellung tien Urin nieli; li.ilvn. Boi näherer Hesiohtigiing jindet niau 
die Harnröhre bis zur Fmgerdureli-.ii ^iijkeit erweitert, die Khtoris in der Glari.s 
und dem Präputium gespalten, dalt uiuu ^iwisehen den beiden Hälften gut ciueu 
Finger einlegen kann ; die Spaltung geht vom Hons veueris in einer Flucht bis in 
<lie Harnröhre hinein, ein seltener Fall von weiblicher Epispadie. WieWohl Schott 
ein vergeblicher < >|»eration.sver.sneh gemacht w urde, wäre ein weiterer operativer 
Knignti zur Beseitiguug der lustigeu lukoiitintMU entäckiedeu augezeigt. 



Digitized'by Google 



V'II. Uervorrufuug circuuiskripter vasomotorischer Vcräudcruugeu etc. 

Von sciton dos Herzens, der Ltinfifoii und des Darmes liegen keinerlei 
Stiirun^eii vor. Schluf >fu( (ohne sjumtane»! StiTrinnnihtilisnius). Das Mädchen ist 
vüllstäudig berufsftthig. Die Hautdecken prall elastisch, stellenweise derb, Schmerz*, 
Bertthrungt- und Tempenttoremfifindung zeifj^en irots genauer Prttfong nieht* 
P»tholupisches. Dapepen besteht offenbar eine pesteiporte vtisomotoriRchc Erreg- 
barkeit in «1er Epi^li-nnis: auf verhiiltiiisiuiißiLr siliw.uhf Reizunp iHerührunp orler 
leichten Druck mit dem Finger, Streichen mii dem stumpfeo £ude eiuea Bleistifts) 
tr«t nMsli wenig Sekunden devtUche Rötung der bernhrten Teile ein (ohne 
SAwellnng). Die dynamonietriscli gemessene £nft der linken Hand betragt 46, 
der rechten 65. In <len Armen leichter Tremor l>fmfrk-bar. der, wie i-s scheint, auf 
die psychische Aufrejrnnp bei der Untersuchung zurüduuführen ist. Hysterische 
Stigmata sind nicht nachzuweisen. 

Aueh die Untertnchnng der Angen dnreh Herrn Dr. Hirsehberger ergab 
einen völlig normalen Zustand beide r S* horpane. abgesehen von einer mäCigen 
lTyp*>rfTie»r<>p(e (c. 1.5() Diopt. IkI^^. . I>ic f^röO'' der l'upillcn. ihrr Ii- aktions- 
fühigkeit völlig normal, desgl. Sehscharfe, sowie Farben* und Lichtsinn. Daa 
0encht«feld zeigt keinerlei EinsehrSnkang weder für Weiß noch für Blau oder 
Rot. Augenhintergrund und Sehnervenpapille nurmal. 

Das psychische Verhaltm dir Patientin, dii' nur ^.rliiicliti^rn Antworten cribt. 
zeigt nichts Auffälliges, MiiUige intellektuelle Hegnbung. Doch machte die Art 
ihres Sprechens und ihrer Ausdrucksbcwegungcu wohl den subjektiven Eindruck 
anl den Autor, als ob eine Disposition sum spateren Eintritt hjrsterischer Symptome, 
also ein hysterisches Temjierament bestünde. 

Nach dem .Status praesens aber vom 6. Januar 1896 ist Patientin int ganzen 
nicht als hysterisch xu be/eichnca. 

» 

Eva St. ist seit 5'/« Jahren bei Herrn Dr. Flach im Dienst, war wihrend 

dies*'r Zeit nie - rnsllich krank, Sie ist nach «lern Bericht ihres Herrn gutmütig 
und willig. Si' liatit (^ehceuheit im Hause des Arztes hypnotische Behandlang 
der i'atieuten mit anzusehen. 

Schon bei d«ni ersten Versuch vor 2*lt Jahren erwies si« sich als leicht hjp- 
notisierbnr. In einem Bericht führt mm Dr. Flach fort: 

..Damals gelang e« mir und dem lals Psychologen bekannten' Gymnnsiull' lirer 
Dr. Offuer, mit einem kalten Schlüssel, der angeblich glühend gemacht war, 
dnreh Berührung lim Halse für den nichsten Tag einen sichtbaren Fleck an er- 
'/engen. An dem betreffenden Morgen war genau an der berührten Stelle ein 
stricbförnutf. s Er ytl'.' m aufgetreten, das 3 Wochen sichtbar blieb und unter (d>er- 
fllächlicher Abschilfernng der Epidermis heilte und gelang es uns wiederholt in 
ca. 5 Minuten durch Berührung mit stumpfen üegensläuden Urticariaquaddcln 
SU erzeugen. Eva litt spontan nie an Nesselsncht." Diese Berichte erklären sieh 
durch die angioneurotische Keizbarkeit ihrer Haut, ohne daO dasu Suggerierung 
nötig •."•w< «<'ii wäre. 

in \ erbindung nun mit dem durchsein Werk „Uber die Trugwahruehmung" 
in der Psychologie bekannten Herrn Parlsh setzte Dr. Flach die Versnehe fort 

und wollte feststeilen, ob ohne gleichzeitigen Hantreizaaf einfache Verbalsuggcttion 
drr«;i Iho Erfolg rinfr.te. _\ach energischer, lange und <.ff w i.ilrrlif^lt<»r Suggestion 
von Seiten des Herrn Parish. die Hyjinotisiertc m<">ge zuerst lu-liigen Schmerz, 
dann starkes und später leichtes Jucken an dem fraglichen Fleck verspüren; bis 
cum nächsten Sorgen werde eine Blase entstehen, w^arde die gewählte Stelle 



Digitized by Google 



189 'Vn. HeiTorruliaiig dreumakripter vHomotonidier Verinderungea ete. 



am linkon Arniriickrn iihpr der Handwurzel mit einer Gazebindf 1)Ci1r->ckt. Am 
folgeoden Morgen Uua sich wirklich genau in der gewünschten Ausdehnung eine 
wMMwheUe Bbuw Ton der Gröfi« eiik«t Mariutfleke«, omIx auOen langebeo ron 
«inem toharf bagreastea roten Hof.* (Sahere Angaben über die Kontrolle fehlen.) 

DicMr Brfolg bewog die Experimentatoren, den Versuch unter strengeren 
Katitclcn am 14. Oktober 1885 au wiederholen. Daa besUgUche Versuduprotokoll 

lautet wie folgt: 

▲schaffen bürg, Montag am 14. Oktober. 

Anwesend: Edmund Parish, Dr. Ptaeh, Dr. Offner. 

Um 4 Uhr 16 Min. wurde mit dem Yersuehe begonnen. Daa Versuchsobjekt, 

welchem vor Beginn des Experimentes ein Thalerstück unter besonderem Hinweis 
auf dessen Guil'x' gezeigt worden war, wurde auf ein Sopha gesetzt und konnte 
sich bequem anlehnen. 

Alsdann rief Herr Parish durch einfache Verbalsuggestion in etwa 1—2 Min. 

tiefen Schlaf hervor. In diesem Zustand wurde dem Versuchsobjekt auf der 
ObiTScitc (Ii s linki ti l'nt crarnins untrrhalli <Ies Elllioy^onpcli-iikcs zwei breite, über 
1 cm hohe Wattebauschen in einer gegenseitigen Entfernung von gut 2'/* cm 
aulgoh'gt und mit Kollodium befestigt. P. suggerierte nun, dali die zwischen den 
Bauschen freigelassene Stelle sehr krank sei and nur geheilt werden fcSnne, wenn 
sie mit einem Thermokautergebliise — ein Instrument, dessen Handhabung das 
Versnchsobjokt rltirdi sciiio Hilf<-lfistuiig bei Behandlung von Patienten cur (j^nüge 
kennen geiemi iiatte — genügend ausgebrannt würde. 

Das Thermokautergebfise wurde nun unter leichtem Drflcken der Oummi- 
blase in die Nähe der durch Worte genau bezeichneten Stelle g>'ha1ton, jedoch 
ohne die Haut mir im geringsten zu berühren. Dabfi suggerierte V. fortwährend 
lebhaften Brandschuierz. Ea erfolgten häuhg schmerzhafte Reaktionen mit zu« 
nehmender Heftigkeit, weldie aehliettlidi au ausgesprochener HyperSsthesie de« 
gansen linken Unterarmes fUirten. Nachdem neben der Suggestion kraftigen 
Brennens und hefti-^eii .hiekens auch wiederholt lebhaftes un«l ständigfes Daran- 
denkeu für Abend und Nacht und für den anderen (rechten) Arm hinderndes 
Stechen, falls er nach der juckeuden Stelle greifen sollte, suggeriert worden war, 
wurde Aber die Wattebaoseiien ein kriftiges Pappedaeh gelegt, so daß die 
„kranke" Hautstelle von jeder Berührung oder Reibung absolut frei bleiben mulite. 
Darüber befestijTte F. wieder Watte mit Kollodium, wickelte einen langen Verband- 
atreiten darum, band das Ganze zuaamiueu und siegelte schließlich mit dem Fet« 
Bchaft des Herrn Parish über den Knoten ein Papierblatt rierfaeh an, sowie' die 
heraushängenden finden nochmal: über das Qonae worden dann kreuz und quer 
Heftpflaster «>ele)Tt und scblicßlieh auch auf diese noch ein Siegel gedrü kt Nach 
Wiederholung der Befehle weckte mau das Versuchsobjekt, dem zum iSckluU noch 
in üblicher Weise Wohlbefinden suggeriert war, um 4 Uhr 55 3Iio. 

Dr. Flach revidierte nun Abends 8 Uhr am 14. Z. den Verband und fsnd 
das Ganze intakt und keinerlei Veränderung. „Eva klagte über Schmerzen und 
starkes Jucken. In der Xacht träumte sie viel und zwar elnnial. dali sie am 
Anue gebraunt werde, sonst aber nach ihrer Aussage nur Angenehmes. Doch 
stöhnte sie die ganie Nacht hindurch. So oft sie mit ihrer rechten Hand nach 
dem Verband fassen wollte, empfand sie einen Stich, der die Bewegung unmöglich 
machte." 



Digitized by Google 



Vn. HerYOrrafua^ circnmikripter y«soiiiotorifcher TerttoderungeD etc. 183 



Der BefuDd bei Eroffnungr wird durch das noch folgende Protokoll wieder^ 
Bflgoben : 

Dienstag, 15. Oktober 1895. 
Anwesend: Prof. Dr. Dinfrlpr. T>r. Streiter, Dr. Fla eh und Dr. Offner. 

Arn näclisten Tage Iii L'hr ^ Min. V. fanden sich die oben bezeichneten 
Herren in der Wohnung des Dr. Flach ein. Nachdem das Versuchsobjekt wieder 
io die Sophaecke gesetzt und durch ein pnar Worte des Dr. Flach in hjrpno« 
* tischen Schlaf Tcrsetzt worden war, wurde der Verbund besichtigt. 

Das Iftzte, oberste Siegel, sowie alles, wbü vi>ni Vorbanile sichtbar war, war 
ToUküuimen intakt, ebensowenig zeigten die nächsten zwei Siegel auch nur die 
geringsten Spuren irgend einer Verletiung. Angenehts der lebhaften SehmerB* 
reaktioncn des V( rsiK-hsnbjektes and gegenüber der offensichtigen Unrerlctdichkeit 
des übrigoii Vorbandes im p'anzen hielton die Anwesenden v'm weiteres lanp^amM 
Lösen des Verbandes für überflüssig uud lieUeu Dr. Flach den durch das 
Kollodium sehr starr gewordenen Verband bis auf die Wattebauschen mit der 
Schere durchschneiden. 

Zwischen den Wattebauschen erblickte man an der bezeichneten Stelle einen 
stumpf und unregelmäßipr rechteckigen, peröteten Flecken, der über die Fläche 
eines Thalers erheblich hinaufging und etwas unter die Bauschen sich erstreckte. 
Die lÄnge — in der Bichtung de« Armes — betrug 5 cm, die Breite SVt bis 4 cm. 
Das Erythem zeigte deutlich sahireiche Blasen von Terschiedener Ausdehnung; 
eine davon hatte sogar etwas über ErbscnfjröÜe bei einer Höhe von 1 — 2 mm. 
Wie die übrigen Blasen wur am gelblich gefärbt und um einer gelbiicheo, toIU 
sündig durdisiohtigcn Flüssigkeit gefüllt. Die ErseheinoDg trug ganz den Charakter 
von Pemphigus. 

"Während der Abnahme des Verbandes und des Me-^^ens wunle ibm s> hr auf- 
geregten Versuchsobjekt wiederholt Analgesie suggeriert, aber ohne dauernden 
Erfolg. Besonders die Ablösung der durch das Kollodium festgehaltenen Verband- 
teile rief oft lebhafte Zudmngen hervor. Nachdem der Befund von simtlichen 
Anwesenden konstatiert war, suggeriert*' mun dein Versnchsobjekt nochmals Wohl'* 
befinden und Schmcrzlosigkeit und lieU es nucli kurze Zeit im Schlafe. 

Am 16. X. Eva ist ganz munter, klagt über geringe Empfindlichkeit der 
heeiollnSten Stellen; glaubt , sie sei tou uns Terbrannt worden, gibt aber auf 
Befragen an, sie habe sich in der Kfiehe Terbrannt. Sie verlangt in weinerlichem 
Tone nach Herrn P a r i s h. 

18. X. Herr Parish gibt ihr die Suggestion, nicht mehr an ihn zu denken. 
Die Verbrennui^ sei mit siedendem Wasser geacheheOf wm de von jetct an glaubt. 
Leises Jucken. Blasen am Vertrocknen. 

BO. X. Die Wunden sind mit üintcrlassun;? roter dünn fiberhittteter Stdien 
geheilt. Keinerlei Schmers oder Jucken mehr vorhanden. 

Auf Anregung des VeriHMrs UUIt Herr Paris h die Somnambule nach 
M4nehen kommen und hier wird suniohst jene körperliche Untersuchung vor* 

genommen, dcri n Ergebnis oben uiit^n teilt ist. Ein neuer Versuch, organische 
VerÜDdenint^'en durch Siiq-jj-pstion willkürlich hervf>r/urufou, wird in der Woiinuog 
des ilerrn Parish am i. Januar lH\hi vorgeuommcu. 

Anwesend sind folgende Personen: der Herr Parish, die Professoren der 
Xediaini Dr. RSdinger, Dr. Clansner, Dr. Horits, die Nervenänte 



Digitized by Google 



164 Vii. Uer?orriifaag circumskripier TaMmotomcIier Verinderungen etc. 

Dr. Loweuf eld,Br.l[fill«r^ Dr. Höflmeyr, Dr. v.Schrenek-Notxing, der 
Privatdoient Dr. Kopp, die Amte Dr. Hinde, Dr. Bil Hoger, Dr. Hirsoh- 

berger, Dr. Albrtchf. 

Uni n Vhr 45 Min. wird Eva St. von Parish hypnoti«irrt. Sii- ist imruliig, 
fröstelt, Tremor in den Armen. Offenbare Aufregiiiijf. Die Hvpuoise aolcUe 
macht nidit den Eiodrnek eines tiefen Sehlafinttandes, denn Et» öffnet wiederboli 
die Augen, vrirft sich herum und ein UÜC den hypnotischen Erscheinungen nicht 
genügend Vcrt rauf r-r künnto annehmen, sie »chlnfe ü>H'rliiia|it nicht, äie gibt 
Antwort auf Fragen und steht iu keinem Isolierrapport mit Parisli. 

Sie wird entkleidet. Prot Clan an er wischt ihren rechten Unterarm ab, 
wahrend Parish lieiniiht ist. <]aro}i beruhigende Suggestionen die Aufmerksamkeit 
der Somnimibiilr- !i!izulcnk< n. Die Ünterarmflächr wird mit gelbem und blauem 
Reagenspupier berührt, um lestitustellen, ob irgend welche ätzende Medikamente 
auf die Haut gebracht seien. Negatives Resultat. Die Haut ist ganz intakt. £■ 
wird nun von den Anwesenden etwa die Mitte awudien Handgelenk und Bllbogen- 
^M'Ionk des rechten Armes auf der Dorsalaeite als Ort der zu suggerierenden Vesi- 
kation gewühlt. Die Suggerierung wird in der Art rrm Hrrrn l'urish ausgeführt, 
daß er mit einein einfachen GummibaUon die betr. Stelle anbläst und dabei die 
YorsteUnng eintnredeu sucht, die Patientin werde mit einem glfihenden Gegen- 
stand gebrannt, es werde Jucken, Schmers, Rötung und Bhwenbilduog an der, 
betrefiendeo Stelle eintreten. 




Um nun den betreflenden Hantfleek vor mechanischen Insulten zu seh&tsen, 

war ein sattelnrtigcr Kasten konstruiert worden, wie ihn <]i>^ obige Figur veran- 
schaulicht. Derselbe bestand ans drei im rechten ^N'inkil aneinanderpfefügten 
Brettern und seine Höhlung war weit und bequem genug für den Unterarm der 
Patientin. In das mittlere Stfiek war ein rundes Fenster eingeschaltet, dureb 
welches man den Vorgang beobachten wollte. 

Professor Clausner legte nun den weiter unten hei der Wf%'iiiihme penan 
geschilderten Verband in der Weise an, daß zunächst die Haut mit Stücken von 
Lackmuspapier bedeckt wurde. Nur der für die Stigmatisieruitg gewählte Haut- 
besirk blieb frei und kam direkt unter dem Fenster des Kastens xu liegen. Der 
übrige Hohlraum des Kastens wurde mit dicken "Wattebauschen ausgepolstert. 
Das Gan^f> \vur(lr> mit Gazs lninii n befestigt. .Tcdoch werden mehrere Lnpcii Papier 
in den Verband eingefügt ; das Papier wird sorgfältigst vorlier untersucht und 
xeigt keinerlei Lücken oder Löcher. Rings um den Xastenrand laufen Papier- 
sduchten, damit eine etwaige Durchbohrung mit Nadeln und dergl. sichtbar g»t 
macht werileii k'"'>nn'- 

Dos mittlere Kasteubrett mit dem Fenster stand auf der Dursalscite, die 



Digiiized by Google 



VII. HerroiTufung eireumskripter vasoraotomcher VeränderuDgen et«. 185 

beideu Seitenbrettw waren auf der Hadial- utid Uluarscite c-äiigi>rügt. Jiaud uud 
HandgeleDk waren ebenfalb mit eingebunden. 

Die linke Hand wird andi in einen Verband von &ase mit Watte verpackt. 

Alle woitercu den Verband botreflfeDden Angaben «nd am der Sduldening 
,der Abtiahnu- dfsüclbr-n zu r-nlnehmen. 

Jivu wird nun nach Beendigung des Verbandes von 7 Lhr 30 Min. an bis 
Sur Abnahme denelben ohne Unterlaß Ten Arsten bewacht und war keinen 
Augenblick allein im Zimmer. 

Von > (8 Uhr an sind zu (!i('S( m Zwecke anwesend: Dr. Hinde, Dr. UiiHer, 

Herr Sehttiauß und Hrrr Pürisli. 

7 Lbr 4ä Min. Patn iitin waciit. Itliigt uhvr SciuiuTzen. 

8 Uhr 5 Miu. hmer der Beobachter will durch das Fenster am oberen 
rechten ncd unteren linken Rande je einen kleinen leicht gerdteten Fleck be- 
merken, was ober von den anderen Beobachtern bestritten wird. 

9 Uhr lö Min. Pationtin trink! eine Tasse Thee. 

9 Uhr 30 Min. Die ^»li' ii L;( >i"hiI<I< rton 'jf-rfitoten Stollni zfifron sich als 
Schattenbilder einiger Wassertroj»fen, die auf dem Ülase durch Wasserverduustung 
▼on der Haut entstanden sind. 

9 Uhr 33 Min. Parlsh suggeriert von neuem Schmenen und Blasenbildung. 

10 Uhr lö Min. Eva wird unruhig, klagt und jammert über starkes Jucken 
in dem rechten Unterarm und sucht mit dem linken Arm Kratzbewegungen su 
machen. 

10 Uhr 3U 3iin, Dr. Minde wird durch L)r. HirscLbergcr abgelost. 
Eva ist sehr unruhig. Untersuchung tnit dem Sjtiegel ergibt, daK die Hautpartie 
nirgends verändert ist. 

1 Uhr 30 Min. Klagen Aber Jucken und Brennen. Der Verband «ier rechten 
Hand hat sich durch Bewegungen der Patientin gelockert, so daß drei Finger 
fast Irci üiod. 

2 Uhr nachts: tleit 12 Uhr wesentlich ruhiger, klagt hin und wieder 
über Judcen, Brennen und Schmers am rechten Arm unter dem Verband. Um 
2 Uhr übernehmen die Kontrolle die Herren Dr. Albrecht und Stabsarst 

Dr. ch ini d t. 

2 Lhr 30 31in. Kva unruhiger. Durst. Trinkt eine Tasse Milch. 

4 Uhr 40 Min. Seit länger als 1 Stunde schläft Eva ruhig und macht voll- 
kommen den Eindruck einer im natürlichen tiefen Schlafe liegenden Person. Nur 

stöhnt sie von Zeit /.u Zeit leise. AVach geworden behaui)tet sie. von Dr. Flach 
gpfrfliiitit und ihm geklafft /u haben, daß sie Steh verbrannt hätte; er habe ihr 
aber t;ts,agt. daß es wieder li- ili n würde. 

5 Uhr 30 Min. Erneuerung der Suggestion durch Parish wie oben, schiäit 
bis 6 Uhr 45 Min. Wacht auf, klagt, wie oben, Über Jucken und Brennen. Das 
Glosfcnsti»' ist ganz von innen durch Wasserdampf beschlagen, so daO die Be- 
obachtung unmöglich ist. 

Upi 7 riir 15 Min. übcni'*hiHoti Herr Parish und Dr. Billinger die Wache. 

8 Uhr. Frühstück. !>> i Sclinn iv. wird mehr auf der Innenseite de» Armes 
lokalisiert. Bis Mittags nicbi» neues. 

12 Uhr nimmt Eva Nahrung zu sich. 

Um 1 Uhr Wache des caod. med. Anschüta. 



Digitized by Google 



186 ^'U. Hervomifang cireuniskripter vMomotorwdier Vennderaagen et«. 



Um 2 Uhr 20 Miu. 3Iitt-agessen. Patientin ist besorgt, es innchtc sich eiue 
Bitte gebildet haben. Yerlangi Öffnung des Terbaades. 

Um 5 Uhr, Starker SchweiC. Puls 102, Temperatur 37,4. Der Verband au 
der linken Hand hat lich gelockert, so dafi die Finger au sehen sind. 

6 Uhr 16 Min. Öff uuug des Verbandes durch Herru Professor Muri tz. 
Anwesend sind die Herren Parish, Dr. Billinger, Dr. Minde, Dr. tod 
Sehrenek-Notzing, Herr Anschütz. 

Der Verband an der litikm Hand hat %ich derart gelockert, daß Daumen, 
Zeige- und Mittelfinger herausgestreckt werden können. 

Am Unken Unterarm, der noch die Sparen der früheren vernarbten Wunde 
zeigt, der gestern zur Kontrolle ebenfidb angeblasen wurde, keine Verinderung. 

„Der Verband am rochton Arm hat sich verschoben und gelockert, so 
daC die fünf Finpor bis zum zweiten Gliede herausgestreckt werdfn könnoti. Der 
Holzkasten mit dem anliegenden Verbände hat sich gegen die Hand zu und gegen 
die Dorsalflioho des Unterarms etwas medialwSrts renchobeo. Durch diese Ver- 
schiebung haben sich die Wattebauschen, wel^e in einem Abstand von 5 — 6 cm 
das Versuchsfeld begrenzten, otwas ciiiatulfr genährt, bcsundors tltncli Herab- 
rückea des ceutralwärts gelegenen Bausches. Das Uhrglas, welches in die Holz- 
sdüene so eingefügt war, daO es nur nach unten entfernt werden konntai, ist un- 
rerletzt nnd zeigt steh mit Waaaertropfen beschlagen. Der Verband wird geöffnet, 
in(l<'!ii die Binden langsam ontfcrnt werdi-n. Dit YcrTniiul hrstf^lif nach außen 
hin aus Stärkebinden, welche den Hokkasten und die zur Polsteruug dienende 
Watte und iitu*) lixicren. 

Der Hobfcasten war dnreh Lagen von Papier, welche teilweise auf ihm und 
teilweise auf der Polsterung lagen, ganz bedeckt worden. Dieselben kommen naoh 
Entfernung der Binden zum Vorschein. Dio frstc Papierlage, centrahvärts zum 
geriugeu Teil auf der Dorsalseite, zum gröUeren auf der Kadialseite liegend, ist 
unTCfindert Ein «weites Papier, welches nach der Hand zu li^end und zum 
kleineren Teile die Radialseite und zum grötteren Teile die Volarseite bedeckt, 
zeigt sich «»twas zrrknittert und eingerissen. Daß-ejTon iM'fnult t sich iti th-r Xühe 
derjenigen Kante des Holzschirmes, welche nach der Volarseite gelegen ist. der 
Lage des Daimiens entsprechend, eine stecknadelkopfgroße Perforationsöffuuug ; zu 
bemerken ist, daß die Umgebung der Öffnung wenig serknittort ist, daO femer 
eine derartige Perforation durch die Ecke des Kastens unmöglich erscheint. Son- 
dern die Offnunp zeigt nach außen aufgeworfene Ränder, wie wenn sif» vfranlaCt 
wäre durch ein perforierendes Instrument, das beim Zurückziehen jene Händer er- 
seugt. In der folgenden Oasebindenlage ist ebenfalls eine der PapierSffnung ent- 
sprechende Stelle zu bemerkt' II, in welcher die 3Iascheu der Gase erweitert sind, 
wie es beim Durehstickcn tinrs Instnnnfnt«"? geschehen s< in könnte. Auch in 
der nächsten Lage zeigt sich eine ähnliche weniger deutliche Erweiterung der 
Maschen. Ein weiteres nicht mehr auf die Hand übergreifendes rolarwarts ge> 
If^enes Papier ist gftnzlich unverletst, ebenso dasjenige Stttok, weldies die dorsal 
gelegene Spalte zwischen Verband und Holzgehäuse bedeckt. 

Den Ecken des Holzgehäuses entsprechend zeigen sich fi^tfijrp Flocken am 
Papier (durch den Anstrich des Holzes erklärlich). Ein weiteres ceutralwärts ge- 
legenes Papier ist unverletzt, ebenso das letzte centralwSrts dorsal liegende Stftck. 

In den weiteren Oaselagon keine derart in-en Erweiterungen mehr zu kon- 
statieren wie oben. Die seitlichen Bretter des Holskastens sind durch Feuchtigkeit 



Digitized by Google 



VII. Hervorrufuug circuiuskripter vasomotorischer Verätidcrungeu etc. 187 

'gequollen und tpringrn nach auUon konkav vor. Der Schirm wird ahgcnomaien 
Qnd b«;rührt nirgends dir« Hiuit. An den nach d«>r Tlaiul zu fji'lpirenen Teilen 

Wattebausche behnden sich obeo uud au den beiden Seiten uass« uud ge- 
biiiaot« Stellen (»uf die Einvirkungf des Hobes surfidatuftthren). Die tiefen Legen 
find davon ^i. Die weiteren Ligen des Verbandes die der ' ru iihiuoii Pcrrorfttion 
entsprechen mfissen, /eicen keine derartigen Mffninic^en. Di'' Wattebausche tind 
Stärkebindeo an der Haud werden cutferut. Am Kuckcu der Haml finden sich 
M der ersten Lage des L«ekmuq>ftpiers Öffnungen von SteduMdeUcopfgrüße mit 
nach nnfien aufgeworfenen Bindern. Zwei derselben entsprechen ebensoielien 
Öffnungen (nher etwas mehr zerfetzt) anf der darunter gelegenen Stelle des 
Papiers und zwar sowohl in dem hlawn wie in doni (larunter liependon gelben 
Heagenspapier. Auf der weiteren Lage befindet sich keine Öffnung mehr. 

Naeh vollstündiger Entfernung des Verbandes migt sieh swiscfaen mittlerem 
und iinti rrm Drittel der Volarseite dea Unterarms eine «juergestellte 3 cni lange 
und 2 cm breite abgegrenTit'' St pIIo von ovaler Form mit leicht gerötetem Kande, 
dereu innere Partien weiUlich, wie leicht vcrschorft, ausseheu. 

Die Öffnungen der Haarbilge treten sehr dentlieh leicht gerötet hervor. 
Das ganze Bild erinnert an eine Verbrennung ersten Orades mit drohender Blfsen« 
bUdung." (Soweit Prof. }l o r i t z.) 

Entsprechend den Perforationsöffuungeo finden sich in der (tegend der 
Danmenwursel dorsalwärt« uehrere gerötete Punkte auf der Haut, wie veranUOt 
durch Nadelstiehe. Dr. t. Sehrenck findet neben dem Bett eine Hsamadel. 
Ätif näheres Befragen der Herren, welche die Wache hielten, wurde konstatiert, 
daß Eva den rechten Arm seitweise ührr ihren Knpf auf das Ki«»!»eri p»-lt^gl hatte 
und überhaupt sehr viel mit ihren Annen sich bewegte. Uftenbar rühren jene 
Perforationen von einer Hearnadel her, wobei es unentschieden bleibt, ob die 
Haarnadel bei Berührung des Verbandes mit dem Ko^ lurällig sich • inpf Qte 
(sehr unwahrscheinlich), od< r ob ratit ntin die freigewnrd»Mi»"M Fiiii,'LT di'r liiik<>n 
Hand dazu benutzte, die Nadel durcluu^itechea und jene zwei sichtbaren Verände- 
rungen Btif der Haut zu stände zu bringen. 

Ks muß ferner betont werden, daß des Stigma auf der Volarseite^ — also 
gcrad«' niif di r n i c h t dun h rii i Holzdecke geschützten Seite des Armes, — eintrat, 
während es für die DorsalHache suggeriert war. Die Möglichkeit durch den Ver- 
band hindurch in irgend einer Weise einen länger wirkenden Druck auf die Haut 
ansgeSbt m haben vermittelst der anderen Hand, der Kastenecke oder durch 
einen Teil des Bettgestells bleibt offen, und dann erscheint es noch fraglich, ob 
auf derartige Heizung eine solche circtimikripte, entzündliche V< rauderung der 
Haut entstehen kann — ohne Verletzung der darauf liegenden Papierscliicht. 

Küttraueo erweckend ist die Hanipnlatiou mit der Haarnadel; daher konnte 
nach dem ühcreinstimmendeii Urteil di r Tt ihu-hmer dieser deonoch immerhin 
in Beini'in Kcsnltat in<M-kwiinllt,n' Versuch niclit als entscheidend angesehen werden. 

Die scharf abgeränderte, in den oberHücblicheu Schichten infiltrierte und leicht 
gesehwellte Hautpartie bestand noch am folgenden Tage und konnte mehreren 
Qelehrten gezeigt werden. Sie verursachte scheinbar starkes Jucken und ich ver- 
mute, (!aC Eva durch mechanische Heizuug, durch Reiben mit der linken Hand, 
alles getan hat, um womöglich den entzündlichen Zustand noch zu steigern oder 
ihn wenigstens auf dem Status quo so lange wie mügUch zu erhalten. Verfasset 
war mehmmla Zeuge soldier Bestrebongen. 

Das iweifelhafte Resultat des letzten Venuches bot die Veranlassung, das 



188 VII. Herrorrufung circumikrtptcr TMomotoritdier Verinderuttifen ete. 

Kx|iehui(*ut uuch fuiiiial iintor Änderung «ier VersuciubediDguugeu xu wieder- 
holcD. Zur Erzielung eiues ciuwaadfreieii Kesultatea erscliien uns ein« Eimchrinkung 
der Bewegtingimogliehkeit för die Arme, sowie ▼öUige Sicherung der gewiUton 
Hautpartie vor incchaitisi-bcu Insulten notwendig zu sein. Auf den Vorschlag 
d«"8 Vorfassf'rs wiirrN daht r für Anlppunt; f^inf^ ropuliiren (tipsvorbaiid- s ln .vrhlo'isrn. 
Das ufue Exporinu'ut land am 11. Juuuur 1896 um 6Vt Uhr wjcdorum in der 
Wohnung des in dieser Sache unennttdlichen und sehr entgegenkommenden Herrn 
Parish statt. 

Aiiwosond sind dir Herren: Professor Clausner, Prnfissor Moritz, Pro- 
fessor Lipps. Dr. H i 1 1 i ng e r, Dr. A I b r e ch t , Dr. von Sehr cnck - Notxiug, 
Parish, Schmauß, Anschütz, Jiusnir. 

Der Ton den Anwesenden für den Ver»udi erwählte Haatheurk befindet ndi 
auf der Volarseite des linken Unterarmes, 9 cm unterhalb der BUbogcnbeuga. 
Dieselbe wird gewaschen. Hypnotisierang und Saggeriening durch Uenm Parieli, 

wie oben. 

Iii dem Augenblick, als der Verban«! angelegt «erden soll, benn tkt Dr. von 
Schrenck'Kotzing einen roten Streifen iu der Nähe des linken Uan<lgelenks auf 
der Volarseite. Dieser Streifen war kurssoTor oidbt vorhanden und ist offenbar durah 

die Somnambule niechmii^. h hervorgerufen. Uberhaupt zeigt dieselbe die TendoM 
mit i\fr rechten Ilarul an den linken Lnterarm zu urfifofi. woran sie gehindert 
wird. Um die nuirkierlc SteUc legt Prof, Clausuer eine iTazebinde, auf denselben 
wird mit Blaustift jener Fleck eingezeichnet, an welchem das Stigma zu stände 
kommen soll. 

K« erfnltjt nun Anlegunff des Gipsverbandes nm il> n linken in der Kllbogen- 
bcuge fixierten Arm. Ders<'lbe uni.schließt die pun/.e linke Hund. <len ganzen 
Unterarm und endigt erst in der Mitte des Oberarms. Während der Anlegung 
des Verbandes Fortsetzung der Soggerierung. Laute Schmerseninßernngen der 
Somnambulen. Ebenso wird die rechte Hand bis fiber das Handgelenk in Oipe gelegt. 

In beiden Verbänden Ivefindet sich überall unter dem Gij^s eine Watteschicht. 

Es erfolj;» nun die l ber^vni'huntr 'i' r P.itieiitin ilurch »iie m hon früher br- 
teiligten J'ersüuc-u bis zur Eröffnung. Eva befand sich keinen Augenblick allein. 
Wegen groOer motorisdier Unruhe wurde der in Gips gelegte Arm von den Wach- 
habenden gehalten. Zunächst wachen abwechselnd Dr. Minde, Dr. Albreeht, 
Au schütz. Parish. Gegen 10 Uhr fibernehmen Dr. Billinger und 
Dr. Schmidt die Wjk'Iu'. 

Patientin ist seitr erre(,>t, wimmert, gerät ullmählich io einen apathischen Zo- 
stand und schläft erst ge{,'eu 2 Uhr nachts ein. 

Nachts 3 Uhr 12 Min. wird Dr. Billinger durch Dr. Schmidt abgelost. 
Eva liegt in tiefem Schlaf. 

Um 7 Uhr 20 Min. am Xolgciideo Morgen nochmalige Wiederholung der 
Suggeütiou durch Parish. 

Patientin wimmert und bricht in Thranen aus. 

Um 8 Uhr morgens fibernimmt Herr Anschatx die Wache. Schmers- 
äuSerungen wie frfiher. 

10 Uhr morgens. Überwachung durch Dr. Fogt. Puls 84— DO (mehrmals 
gem<.*sseui. , , 

Um '6 Uhr 45 3Ii». AbloMing der Wache dordi Herrn Anschfitz. 

W^eitere Mitteilungen aus dem Protokoll über Evas Xahlseiten und ihre 



Digrtized by Google 



VU. Hervomtfuiig cireuaskripter TMomotoriseher Veränderungen etc. 189 

Wiedprlioltt n Sihninrzäußonnifjf n, sowio sor.stige belaiiglosi^ I)<"!nt>rkun«jtMi sind 
liier mit Hinblick auf das Kesuttat des Versuches als überfiiissip wopfjelassen. 
I , Um 6 ühr abeutis aui 17. Jauum* 1896 Erütfuuug des (jiipäverbaDdes durch 
l^errn Prof. Glaamer. 

Anwesend: Prof.Lipps, Prof. 31nritz, Prof. M u t h in a n n , Dr. AI b r echt , 
Dr. Skhmiilt. Dr. Billinper, Dr. Fogt. Dr. von SclireacIcNotzicg, 
Dr. Mindc, sowie Parish, Rosncr und Auschütz. 

Der Verband wird auf der Beugesette mit einer Schere angeschnitten. Die 
eingelegten Pupienchichten zerreißen zum Teil beim AbnehueD des Verbandes an 
der Di>i-snl>. ■!!<•. 

Die Besichtiguug des Arme:$ ergibt ein völlig negatives Hesult«t. 

Wenn berOcksichtigt wird, daß eine geregelte und zuverlässige 
Kontrolle der Versochsperson bei dem in seinem Ergebnis allem An- 
scheine nach klassisch gelungenem Ezpenment in Aschaffenburg während 
der Entstehung des Stigmas nicht ausgeübt wurde, so ist doch die 

Möglichkeit irgend einer mechanischen oder cht inischon Einwirkung 
auf die Haut (z. B. mit einer durch den Verband eingestocheneu 
längeren Nadel), nicht ausppsclilossen. Demnach kann auch der 
AschafTenbnrger Versuch nicht als hinreichend beweiskräftig aogesehen 
werden. 

Gegen ein tadrllosfs Resultat htn Wiedcrlioluiii^ dieser H\perimeute 
in München sprnl r. wie ^chon erwähnt, der 1' instand, daß die be- 
schriebene entzüinlli« 1h- Veränderung auf der Haut nicht gemiili der 
Suggestion auf der Dorsaltiäche, soudern an der relativ am wenigsten 
^en äußere Einflüsse geschützten Volarseite entstand. 

Zu diesen Bedenken kommt der TOilig negative Eriolg bei An- 
wendung des Gipsverbandes und zuverlässiger ununterbrochener Kon- 
trolle. Wenn aus diesen wenigen Beobachtungen ein Schluß gezogen 
werden darf, so ist zuzugeben, daß die Chancen eines Erfolges in dem- 
selben Grade abgenommen haben, indem die Versuchsanordnung strenger 
wurde. Endlich ist aus unseren Erfahrungen zu erkennen . wie leicht 
auch dieses Gebiet suggestiver Erscheinungen zu Selbsttäuschungen 
führen kann. Das Bestreben, mechanisch auf die Haut einzuwirken, 
um so das Resultat zu beschien nijjcn ofler ;\ tnut prix wenigstens mm 
Scheine die Snjr;?estifm zu realiüieren. ist bei Eva kh\r bewiesen; erst 
wenn durch eine neue durchaus einwandfreie und mit voller Ben'ick- 
aichtigung uusert^T obigen Ertahrunjjen anirestellte Versuchsreihe ein 
unzweideutiger Erfolg erzielt würde, könnte man wenigstens bei dieser 
Versuchsperson die Frage der suggestiven Hervorrufung circumskripter 
vasomotorischer Veränderungen auf der äußeren Haut zur Diskussion 
Strien. Unsere in negativer Beziehung lehrreichen Erfahrungen zeigen, 
daß man nicht skeptisch und vorsichtig genug sein kann bei allen Be- 



Digitized by Google 



190 VIJ. Henrornifaiig cirenmikripter ▼«■oniotorMcher VeräDd«niDgeQ etc. 

richten über X'rrsuche dieser Art; sie mögen die Anroj^ung bieten, 
daß Forscher, dtmen geeignete Versuchsobjekte zur Vertü^niiig stehen, 
diese wichtige Klasse vou Krscheinungen von lieiiem uachprüfeu, jedoch 
mit Biniialtimg der strengsten ECautelen (am besten Gipsverband und 
nxumterbrocheae Beaufsichtigung durch Arzte). 

An dieser Stelle dürften einige Bemerkungen xweclon&Big ^- 
«chetnen über die bis jetKt in der Literatur bekannten Fälle soge- 
nannter Stigmatisation. 

Schon Hack-Tucke*) macht anf die mögliche Mitwirkuüg mecha- 
nischer Reizniii,' dn- Huut bei Besprechung der Blutungen Louise Lateaus 
aufinerksam. £r sagt darüber: ,.Ein nervöses Mädchen befindet sich 
in einem seit lange vorbereiteten Zustande des l>eständigeu Ven^eilcns 
bei einer Gruppe von Tdi^on und zwar solcher, welche zu gewissen 
Körperteilen in bestimmtfr |}r/.ichmi;r stehen. Anf die dcrartiq: örtlich 
bestimmte KoLzt'Ltraüon des Geistes lolj^te an elit-seii Stellen vasomo- 
torische Störung und Blutandrang. So konnte nicht liloli schlicIUich 
ein passives Auatreten vuu l>lut erlolgen, suudtru uuleblbar führte 
der Reiz dazu, die Haut zu reiben und begünstigte so erheblich 
die Neigung zu Blntanstritten." 

Die eisten diesbezüglichen Experimente der Gelehrtenschule in 
Nancy (Li6beaalt, Focachon, Bernheim) wurden ebenfalls an 
einer Hysterischen*) angestellt. Auf Veranlassung von Bemheim 
suggerierte maft ihr Blasenbildung zwischen den Schulterblättern und 
bezeichnete deren Ausdehnung auf den Kleidern. Die Ton Li^beault 
und Focachon überwachte Somnambule gab von Beginn des 
Schlafes ein Wärmegefühl zwischen den Schultern au und klagte 
ilber ein breuueudes Jucken, das sie roelirmals zu dem Versuch 
bewogen hatte, ihren Rücken an einem Möbel za reiben^ woran sie 
gebindert wurde. 

Über die Tasomotori^che Erregbarkeit der Haut und ob dieselbe 
vorher geprüft war. sagt der Bericht kein Wort. I>ie wirklich ein- 
tretende Kötuug konnte also auch durch traumaartige Einwirkung zu 
Stande jrf^knmm^'n sein. 

Bei lirni weiteren, ehenfiills celungeuen Versuch mit derselben 
Person (gummKi tes Postmarkenpapier wurde als BlasenpHaster zwischen 
ihre Schultern geklebt) blieb dieselbe während der ganzen kri- 
tischen Xacht allein im Zimmer! Das dürfte für die. Erfindungs- 



1; 11.U k-Tucke: Geist und Kürjier. doiitsvh V. Komfcld. Jena 1^. S. 67. 
2j Liebeault: „Der knnatliche Schlaf-*, deutsch v. Dorablfith. Wien im. 
S. 199. 



Digitized by Google 



VII. Herrorrufnrig dreunukripter momotoriacber VerBDderaiig«n etc. 191 

gäbe einer Hystcrisclien vollständig geDÜgen, um bei einigermaßen er- 
höhter Reizbarkeit der Haut auch schwierigere Aufgaben zur Lösung 
m briogen, als die vonLiebeault undBeaunis gestellte! Das Bern- 
heim'scho Experiment dessen Protokoll von Liebeault, Beaunis, 
Bfrnlieim, Liegeois, Simon, Brullard, Laurent u. a. 
unterzeichnet wurde, gehört so ziemlich zu den best^elungensten und 
findet dch auch in den bezüglichen Schrifter; vielfach citiert. Fo- 
cachou machte dann mit derselben Person den sinnreichen Ge^jen- 
▼ersuch, ein wirklich aufgelegtes BlaseapliasLer aU wirkuugslus üu 
Bnggerieroi, vas ebenfalls gelang! Aber auch hier berücksichtigt die 
Beschreibung der Versuchsanordnung nicht die Möglichkeit, daß die 
schlaue Hysterische sich durch Abheben des Pflasters von der Haut 
helfen konnte. Der Bericht ist viel zu oberflächlich, um äberseugend 
SU wirken. Da die hier genannten Beobachtungen — sie finden eich 
als H a n p t versuche von Beaunis und Bernheim ottiert — ein 
wichtiger Baustein, man kann sagen Stützen der Lehre von der Bnt> 
stehung kutaner Augioueurosen durch Suggestion geworden sind, so 
ist man besonders mit Rücksicht auf die Münchener Erfahrungen be- 
rechtigt, sie in Bezug auf die Versuchsanordoung als unvollkommen, 
als nicht genügend beweiskräftig zu betrachten, sowie ihre Wiederiioiung 
unter den strengsten Bedingungtn . mit genauer Protokollführung an- 
zuempfehlen. Wenn der von jenen i'urscheru erzielte Erfolg aiicli 
möglicherweise richtig gedeutet ist, so würde eine geriebene Hysterisehe 
unter den gegebenen Verhältnissen doch wohl im stände gewesen sein, 
den gewünschten Effekt faetrOger&Kih zu produaderen! Mitunter genügt 
ein unbewachter Augenblick, eine unbemerkte Pause in der «aufmerk- 
samen Beobachtung; der eminent gesteigerte Spürsinn solcher Patieu' 
tinnen weiß aus jeder BlölSe, die sich der Beobachter gibt, Kapital 
zu schlagen. 

Verfasser hatte selbst Gelegenheit, im Jahre 1889 in Kancy bei 
Liebeault einen Vorsuch suggerierter Verbrennung mit anzusehen. 

Als Versuchsobjekt dient«* eine hübsche, 18jährige Französin 
„Camille*'. Liebeault versetzte sie durch einige Worte in titten 
Somnambulismus und ersuchte mich, eiu Zeichen auf ihren Arm zu 
machen. Ich zeichnete mit meinem Finger aui die Volarseite des 
rechten Unterarms ein elsä-ssischej» Kreuz d. h. eine Linie, die durch 
zwei authre geschnitten wird. Dr. Liebeault suggoriorte ihr nun 
Frost. ( "amilh' verfällt sofort in heftiges Zittern, libnlläre Zuckungen 
der Oberextremitäten treten ein, die Zähne klappern. Dr. Liebeault: 
„Nicht wahr Fräulein, es ist recht kalt, Sie frieren heftig , der Frost 
wird den Schlaf überdauern , nach dem £rwachen werden Sie Fenster 



Digitized by Google 



198 VII. Herrorrufung eireamskrtpter TMomotoriseher Veriladcruog«tt etc. 

und TüreQ schiieüen. sich au deui Ofen wärmen! Sic werden mit dem 
rechten Uoterarm der glühenden Phitte zu nahe lionimen und infol£?e- 
desseii ein rotes Brandmal an dt r von deoi iVenulHii Doktor bezeich- 
neten Stelle und iu der von ilim uDgegebenen Form davontragen." 
Erweckt ging die Französin frierend herum, bei einer Temperatur von 
ca. 20^ Blamnnr Sonnenwärme und fragte die anwesenden fremden 
Arzte und den Professer Li^geois, ob sie nicht auch Kälte empfanden. 
SorgfUtig schloß sie Tfiren und Fenster; sie blies sich in die Hände, . 
rieb sich die Arme, trat dann zum Ofen, um siob zu wärmen. Hit 
drastischer Lebhaftigkeit, wie sie fast nur bei hysterischen Somnambulen 
zu finden ist, gab sie in jedem Wort, in jeder Bewegung das natür- 
liche Bild einer heftig frierenden Person wieder. Zuerst erwärmte sie 
ihre H.'inde an den oberen Ofenkacheln, darauf lehnte sie ihren Rücken 
an ( wie wir beobachteten, wat dn^ f^ewünschtf Zeiclien nun noch nicht 
erschienen) und endlich niilicrtt' sie ihre Händt^ der Ofentür mit der 
8elltst\ ertiiudlichen Natürlichkeit eiuei frierenden Person. Sie bi rüiirte 
das Eisen und sprang, wie von einem plötzlichen Schmerz betrullen, 
vom Ofen weg, uud rief Dr. Liebeault zu: Ich habe mich verbrannt. 
Sie zeigte uns dann die schmerzende Stelle am rechten Unterarm. Die 
durch meine Finger angedeuteten Linien traten jetzt als rote scharf 
abgegrenzte Streifen auf der Haut hervor, die eine obere Querlinie 
mit etwas schiefem Verlauf. 

Zweifellos wnr die Entstehung des Erjrthems von Camille äußerst 
geschickt in die Verbrennungsscene eingefügt worden ; indessen erfuhren 
wir nichts über den ohnehin vorhandenen Erregbarkeitsgrad der Vaso- 
motoren in der äußeren Haut: aber selbst bei mittlerer Erregbarkeit 
hätte die Hysterische wiilirend ihrer dramatischen Darstellunir Zeit und 
Gelegenheit genug gehabt, mit dem Finger der anderen Hand (beide 
Hände lagen zum Teil auf dem Rücken beim Erwärint n an dem Ofen) 
oder mit dem Griff der Ofentür das Kreuz noch einmal kräftigst auf 
der Haut zu markieren. Die mechanische Insceuieruug deä augeblicheu 
Stigmas war also sehr wohl möglich! Unbefriedigt durch dieses Re- 
sultat beschlossen der ebenfalls bei dem Versuche anwesende Pri?at- 
dozent der Neurologie Dr. Kybalkin (aus Petersburg) und Verfasser, 
ohne Wissen des Experimentators Camille in ihrer FriTatwohnung zu 
besuchen; dort stellten wir eiu von uns sorgföltig verabredetes Ex- 
periment an; kurz nach der Begrüßung suggerierte Verfasser in folgen- 
der Weise: 

Verfasser: ^Fräulein, was haben Sie denn dort unter ihrem 
linken (>\\r (neben dem Ohrlä])jichciil ?*' 

Kybalkin: (näher hinsehend mit Erstauueu): „Dort scheint aicii 



VJJ. Herrorrafung cireuuakriptor vaiomotorUcher Yeriind«rniigen e(c. 193 

ja eine Hauten tzünduDg za bilden ; wenigstens sieht man schon deutlich 

einen roten Kleek." 

Verfasser: „Ein Insekt hat Sie wobl gestoeheu; die iiutuug 

ist iDtensiv und nimmt zu.^ 

Bybalkin: „Habeo Sie an dimer Stelle Schmerzen?** 

Das in dieser Weise eingeleitete Gespräch wird Ton uns fortgesetzt, 

nm die Aufmerksamkeit der Französin auf den von uns gewählten 

flantfieck hinzuleiten. Camille war roUständig wach, wurde bei 

unseren Worten sehr unruhig und. war offenbar überrascht und 

ängstlich ! 

Wir fesselten durch die Unterhaltung ihre Aufmerksamkeit, um zu 
verhindern, daß sie in einen Spiegel sehe und beobachteten beide, un- 
ausgesetzt die linke Halsgegend unter dem Ohr : merkwürdigiTweise 
begann nun alsbald auf der vorher normalen und weißen Haut in 
vielleicht 3 Minuten sich ein Erythem zu bilden mit deutlichen Kändero, 
von runder Form etwa in der Größe eiueä Füulpfennigstücks. Eine 
Berührung ist, soweit ich mich erinnern kann, weder durch uns 
noch durch die Hysterische in dieser kurzen Zeit ausgeübt worden. 
Wir TerlieOen bald darauf die Wohnung und konnten den weiteren Ver- 
lauf des Erythems nicht verfolgen. 

Das vorstehende Experiment, welches fdr die Tatsache des lokalen 
Errötens spricht, ist in mehrfacher Beziehung lehrreich. Zunächst 
war Oamille nicht hypnotisiert, wenn auch die Dressur durch frühere 
Hypnosen auf ihr Verhalten im Wachzustände Einfluß gehabt haben mag. 

Die TESOmotorische Erregbarkeit ihrer Epidermis durch psychische 
Beize war jedenfalls in dem Augenblick unserer Beobachtung abnorm 
gesteigert. Mechanische Mithilfe beim Zustandekommen des Eryt!i<"ni8 
scheint ausgeschlossen zw sein. Bei Wiederholung solcher Versuche 
sind also drei Punkte zu berücksichtigen . 

1. Existiert die vasomotorische Erregbarkeit durch 'S'orstelliingeu 
für circumskripte Hautpartien bei manchen Personen überhaupt, als 
neuropsychisches Symptom unabhängig von einer hypnotischen Dressur? 

2« Weil dieses Phänomen bisher fast nur bei Hysterischeu be- 
obachtet wurde, so scheint weiterhin die Frage berechtigt: Ist dasselbe 
lediglich eine Teilerscheinung des hysterischen Sjmptomenkompleses, 
eventuell der pathologisch gesteigerten Suggestibilität — also kein 
eigentlich suggesüres Artefakt, sondern ein wirkliches Krankhetts- 
Symptom? Manche Beobachtungen an Hysterischen (halbseitige Hyper- 
hidrosis) und die hysterischen Angioneurosen sprechen dafUr. 

3. "Welchen Eiutiuß besitzt das künstlich gesteigerte Vorstelluu^s- 
leben Hypnotisierter auf diese Erscheinung i:' Ist sie der Suggestion im 

T. Sehrenek-Kotsing. Studien. 13 



Digitized by Google 



194 VII. HerrornifuDg circumakripter Tuomotorisclier Yerilnderangen etc. 

wachen Zustand weniger /iigauglicli, als derjenigen in der Hypnose? 
Läßt sich diese vasoinotorisclir Erregbarkeit hei nicht disponierten 
Personen mit nurnialem V erhalten der kuiaueu Nerven und (ieiaße 
überhaupt künstlich durch Suggestion produzieren ? 

Die bisher verüüentlichten Beubachtuugen reichen zur Beantwortung 
keiner der hier gestellten Fragen aus. 

Das voD f oreP) erwähnte Herrorrufeii Ton Quaddeln mit einer 
Btampfen Spitze spricht für die ErBcbeioiiDg des Dermographismus, 
beweist aher noch durcbaos kein aaggestiTes Produkt. Und wenn es 
wirklich Personen gibt, die als Symptom nervöser Hautkrankheit 
Erytheme willkürlich produzieren, so ist daTon die wirkliehe Dermatitis 
und Vesikation (Urticaria vesiculosa) nur ein höherer Grad, also an 
sich nicht wunderbarer, wie der Eintritt des circumskripten Erythems. 
Trotz der hier gewÜDBchten schärferen jFormulierung der Fragestellung 
oder eben deswegen kann es dorn Verfasser in'cht beifallen, die emi- 
nente Bedoutunir dieser Tntv.'iche im Falle ihr» r Kealität. auch wenn 
sie nur lvraukheit^»produkt w-ne. für den EiuÜuß des Psychischen auf 
kür])erlictie Prozesse zu untersciiälzen. 

Die letzten Stützen suggestiver anatomischer Veränderunj^en auf 
der Haut, soweit solche iu der neueren J^iltratur von glaubwürdigen 
Autoreu berichtet sind, stellen die von Moll und Krafft- Ebing 
berichteten Experimente dar. Die ersten von HoU^ in Verbindung 
mit Forel beobachteten Versuche hält der fierichterstatter selbst 
nicht für beweisend, weil keine strenge Beaufsichtigung der Versuchs» 
person stattfand. „Wenige Tage später machte Forel an derselben 
Person (in ßegeuwart MolTs) zwei ganz leichte Kreuze mit der 
Spitze eines stumpfen Messers, die aber nicht bluteten und je eines 
auf der Beugeseite beider Vorderarme. Kechts wurde Blasenbildung 
suggeriert. Nach ca. 5 Minuten bildete sich rechts eine kreuzförmige 
Quaddel. Auf der linken Seite war nichts zu sehen, als das künstlich 
gemachte Kreuz ohne jede Veränderung.** 

Kür die Beantwortung einer so wichtigen Kraue, ui*- dir vorliegende, 
scliemt uiib auch dieser Versuch keine geiiügeude Beweiakratt zu be- 
sitzen. w»'nn auch immerhin manche positive Momente dniiei für die 
KcatheiL uprechen. Denn die Erzeugung von (Quaddeln durch stumpfe 
Berührung der Haut i'^t eine zu oft vorkommende Erscheinung, als 
daß sie bemerkenswert wäre; vielleicht ist bei dem rechten Kreuz 
vom Experimentator eiu stärkerer Druck ausgeübt worden, als links, 

1) Porel: „Dtr ll.vitiiotiMuus-. Stuttgart. 3. ÄuH. 1895. S. 70. 

2) Moll: J}vT Hypootisimis''. Uerlio. 3. AuH. 8. IUI ff. 



Digitized by Google 



YJI. HenrorrufuDg cireunukripter ▼«Mtmotomeher Veränderungen ete. 195 



wodurch Rötung und Quaddelbildung erfolgte. Die weitpren unter 
strtni^'erer Kontrolle ;^iii;rst*'llten Versuche sind bis auf leichte Hautr 
rütuugen (erklärlich durch Berührung?) bei derselbeD Person miß- 
lungen. Dieses Mil^liui^eu schiebi Forel eiuer ungünsti^'en psychischen 
Disposition des Versuchsobjekts zu, die ms (b in Militraueo der Be- 
obachter sich erkläre. \ erfasser dagegen kunu in Berücksichtigung 
dieser gaozea Versuchsreibe mit positiTen und uegativeu Kesultateu 
soweU sie sich auf die genannte Wärterin beziehen, sowie in Erwägung 
der ausgeübten fierährung resp. Hantreizung (wie Holl sieh aus- 
drückt, bat „Forel der Suggestion nur durch einen leichten Strich 
den Weg gezeigt* ) nicht finden, daß die Experimente Ton einer 
für das vnrli- rrendc Problem entscheidenden Bedeutung sind. 

Schließlich bleiben nur noch die bekannten Beobachtungen Krafft- 
Ebing's in der Grazer Klinik an der berühmten Hysterischen, llma S. 

Als Hauptversuch dart" wohl das von v. Krafft-Ebing ') und 
Lipp amr''Stc!lfe Experiment mit dem Metallbuchstnhen K. gelten. Der 
lei/rt Tu wurde aber „nach innen Toni linken Scliulterljhitt u u i' die 
Haut gedrückt**. An der suggerierten iStelle Inliloft' sich bis zum 
folgenden Tage eiü» Dermatitis in Form eines K. 1 heser verhältnis- 
mSßig am besten kontrolierte Versuch leidet lu «einer Beweiskral't 
wegen des auf die Haut ausgeübten Druckes an der Suggestionastelle 
(traumatische Reizung einer empfindlichen Haut). Auftreten von fUr 
die linke Seite suggerierten Erydianen an der rechten, die pünktlich 
sich auf Suggestion einstellenden Temperaturveränderungen, stehen so 
sehr ohne analoge Erscheinungen auf physiologischem Gebiet, daß im 
Interesse der Wissenschaft eine Nachprüfung der Resultate unter den 
sorgfälligsten Kautelen dringend erforderlich erscheint. Wenn bei 
diesen Versuclien alles mit rechten Dingen zugegangen ist ohne be- 
trügerische Mitwirkung der überaus schlauen und raftinierten Patientin, 
so Htellen sie .rewiB die stärksten körperlichen Veräoderuugcu dar, die 
in neuerer Zeit durch Suggestion erreicht wurden. 

Zeiut nun schon eine kritische Beleuchtung des sonstigen Mjiterials, 
daii die Frage der sugeuunnleu Stigmatisation, bicli noch nicht mit 
definitivem „Ja*' beantworten läßt, so können sicherlich diese äußerst 
merkwürdigen Beobachtungen Krafft'Ebing's für sich allein eben- 
falls nicht die Frage zur Entscheidung bringeo. Gewiß ist vorauS' 
zusetzen, daß ein so gewiegter Forscher, wie Krafft- Ebing, die 
Überwachung Ilma's in sorgfältigster Weise ausführen ließ, daß 



1) Vcrgl. V. Krafft -Ebing: „Bitte experimentelle Studie auf dem Gebiete 
des Hypnotismus**. Stattgart IVSA. 

Ii** 



196 VIL Herronrufung eirewmskriptvr Taaomotoriiclier VeritnderuoKen etc. 



z. B. dif zur Teinpf^raturmps^img vorwendeten Thennomet''r vor und 
während des Versuchs furtwährend durch Arzte koiitroüiert wurden, 
düR ferner di«* Putieutin von dem Moment der Siif^f^ttierung vaso- 
motorischer Wirkungen auf die Haut bis zum Kiiitritt dürseibeo auf 
der entpe^eiiL'esc^tzten Klirperseite von aufmerksamen Ärzten ohne 
Unterbrechung beobachtet wurde. Aber der genauere Bericht aller 
dieser — vrie unsere £rfahraogen lehren — notwendigen Eautelen 
fehll leider in den Ernnkeiyonroabkizien , welche die bertthmte 
Broschüre £rnfft-Ebing*s mitteilt. Anch die Außernng des 
Prof. Lipp (8. 54 des Werkes) daß der (für links suggerierte) und 
rechts (an der Skapula) erst nach 24 Stunden in Form eines Erythems 
eingetretene Kreis ^ weder mit Kadeln noch durch sonstige chemische 
oder mechanische Mittel erzeugt sein könne", erscheint keineswegs 
überzeugend und entkräftet nirht des Verfassers Aufstellungen. 

Tiber die angioneurotische Irrititabilität der Haut bei der h>8te- 
Tischen Ilma S. finden sich kein»» Bemerkungen. Aber dieselbe brauchte 
auch durrliaus nicht geradr hervorra^*"nd grsteij,n«rt zu sein! Denn in 
der Zeitdauer von 24 Stunden bot sich der Patientin genügend Ge- 
legenheit, daß sie durch leichte mechanisciie Kei/untr an der rechten 
Schulter das gewünschte Erythem erzeugen konnte. Warum dasselbe 
unmÜKlicherweise mecbauisch zu stunde gekommen sei, dafür bleibt 
Prof. Lipp uns den Beweis schuldig. 

Einer der einwandfreiesten Versuche wurde , wie L5wenfeld^) 
erwähnt, Ton Charcot angestellt Allerdings handelt es sich nicht 
um eine willkürlich umgrenzte, also zirkulatorisch unselbständige Haut- 
iläche, sondern um ein Glied, nämlich die Hand eines Hysterischen. 
Charcot suggerierte ihn an 5 aufeinanderfolgenden Tagen, daß ihm 
die rechte Hand anschwelle, daß sie blau und roth. ferner kalt und 
hart und größer werde, als die andere. Die Hand schwoll so an, daß 
si»^ nahezu den dnpp<>Iten l^mfang der anderen erreichte ; sie wurde 
cvanotisch hart, die Temperatur sank um etwa '.i Grade. Das (Jelingen 
dieses Versuches widerspricht den Anfstpllungfn dieser Arbeit nicht, 
sondern bestätigt nur di»- in tler Einh-itung liervorgehobeue und durch 
zahlreiche iM ispiclc aus der Pathologie zu erliiirtende Tatsache, daß 
gewisse zirkuhilt^risch abgegrenzte und funktiuuell selbständige Körper- 
bezirice und Teile unter dem Eiulluß der Gehirutätigkeit ihre Blut- 
zuftthr verilndem können. 

Eines der jüngsten Stigmatisationsexperimente berichtet Pierre 
Jan et.*) Es handelte sich um eine Hysterische mit den Wundmalen 

*) Lövrenf«ld: Der HypttotMinus. Wieabodon 19ül. S. 201. 

^ Jauct: ,,Une exstatique". Bullet in de Hnatitut p»ychotogique 1902, S. 225. 



Digitized by Google 



VII. Hcrvorrufang circamakripter Tasomotoritdier Verindenrngea ete. 197 

des Erlösers. Verfasser dieser Zeilen hatte Gelegenheit, diese Patientin 
am Karfreitag 1901 in der Salpetri^re za beoliachten und zu 
konstatieren, daß die in der H'-rzE^egead befindliche Hiiiitwnnde ;m 
diesem kirchlichen Gedenlctage blutete. Um einen einwandfreien 
Versuch anzustellen, ließ Jan et für den rechten völlig intakten 
l uinücken eine demselben wie ein Schuhstück angepaßte Kupi'erplatle 
anfertigen und in der Hitte der Platte eiii Uhrglas eiDschmelzeo, durch 
welches bequem die zirkidatorische VerandeniDg, die in Form eines 
Stigmas ton ihm saggeriert wurde, zu beobachten war. Der Ap{»arat 
wurde mit Bändern und Siegeln befestigt^ so daß es nach Jan et der 
Hysterischen unmöglich gewesen wäre, mechanisch auf jene Haut« 
stelle einzuwirken. Unter diesen Bedingungen entstand zweimal unter 
dem Uhrglase Bötung, Blasenbildung und Abheilung durch Schorf. 

Janets Experiment« mehrere Jahre nach der ursprünglichen 
Abfassung dieser Arbeit angestellt, scheint den Anforderungen exakter 

wissenschaftlicher Kontrolle zu genügen, wenn in dem Bericht auch 
nähere Angaben über die Art der Überwaclmng und die Zeitdauer 
der £nt\vi( k1nng des Stigmas wünschenswert erscheinen würden. 

Wie wichtig es ist, bei Anstellung solcher Versuche womöglich 
den Grad der kutanen vasomotorischen Krregbarkeit im voraus zu 
prüfen. 5^eigrn die Rx}>erimente Grützner's und II *' i d e n hain 's , 
welche l'cststelUen, daß schon ei in' pinfachr ßfrührnng der 
Haut odtT ein Luftzug, welch e r d ie de 1 l>e streift«" eine sehr 
erhebliche Steigerung des Blutdriukes zur Folge hatte. Ähnlich 
zeigten die Versuche von Istomuw und Tarchanow. Hinreichend 
bekannt ist das Hervortreten ganzer Quaddelzeichnungen auf der Haut 
bei gewissen IndiTiduen auf einfache Berthrung (Dermographismus); 
bei Ansammlung größerer Serummengen in der Epidermis durch 
mehrere zusammentreffende Quaddeln kann es sogar zur Blasenbildung 
(Urticaria vesiculosa) kommen. 

Der Zustand der kutanen Beizbarkeit braucht zudem nicht einmal 
auf der Hand allgemein verbreitet zu sein; denn es gibt auch akute 
umschriebene ( )deme, flQchtige seröse Infiltrationen, die als Produkt 
angioneurotiscber Störungen in "»rllicher Begrenzung auftreten (z. B. 
bei gastrischen und nervösen Zufällen). Die Ursachen dieser Krank- 
heitserscheinung sind noch nicht geniigcnd bekannt; es wäre denkbar, 
daß diese Form der Hauterkraukuug zu einer Fehlerquelle werden 
könntr hei Hervorrufung der suggestiven Vesikation. 

Dalj ab'T auch psychisch^' Erregungen an sich mitunter im Stande 
sind, auf der Haut Veräuderuugen hurvorzurufeu, dafür spricht die von 



i^'iyui^uu Ly VjOOQle 



198 HerTorrtafung «ireamakripter TMomotckcischer V«riliideraog«n «tc. 



Stillpr^) beschriebene Beobachtung. Diesflh*^ hotrifft einen merk- 
würiiirfen Fall von Herpes naso- labialis, der bei eint r Hysterischen als- 
bald infolge jeder depriinien-nden wie freudigen Erregung fz. B. Eio- 
laduug zum Ball) aui'trat. Em psychlücher Impuls erzeugte hier eine 
umschriebene HautenUttndung mit einer Häufigkdt und Sicherheit, die 
Dach der Meinung des fieobaditan den Zufall auseohiieOt. 

Trotz bereitwilligster Änerkennung einiger positirer Momoite, wdche 
für die Möglichkeit der Entstehnng circumskripter seröser Infiltrationen 
auf Suggestion sprechen, hält doch im ganten das bisher gesammelte 
Material an fizperimenten dieser Art einer eingehenden Kritik nicht 
Stand; entweder läßt die ungenaue und unzureichende Berichterstnttimg 
auf ungenaue, nicht einwandfreie Beobachtung schließen, oder das 
scheinbar positive Resultat der Suggestion vermindert sich bis zum 
völligen Verschwinden in demselben Grade, iu welchem die Versuchs- 
bediuguügeu immer strenger werden. Es empfiehlt sich in Zukunft, 
Sülclu! Versuche nur an deu Extremitäten und nur unter Gipsverband 
bei dauernder Überwachung der Versuchsperson anzustellen. 

Die Behauptuug sogenannter suggestiv erzeugter 
Vesikation istalso bis jetit keineswegs mit wissenschaft- 
licher Gründlichkeit erwiesen; sie gehört in das Gebiet 
jener Übertreibungen, ron denen leiderdie hypnotische 
Literatur mehr heimgesucht ist, wie andere Wissens- 
zweig e. 

Neben vorurteilsloser Anerkennung wohl konstatierter, wenn a :i Ii 
anfänglich unverständlicher Tatsachen, ist sorgfältige objektive Kritik 
der experimentellen Beobachtungen eine unerläßliche Vorbedingung 
für die tbrtschreiteiide Erkenntnis. 

1) Wieuer med. Wocheiisciinft. laSl. No. ö. 



vm. 

Über den Yoga-Schlaf/) 



Wenu die Tatsache, daß die Anweudung hypnotischer Prozeduren 
weit zurück reicht bis in die priesterliche Medizin der Indier und. 
heute nncli an dor I 'rspnmj^sstätte abendländischer Kultur eiupn 
wichtigen Bestandteil n liijjr.ser Zeremonien ausmacht, auch last üljer.ill 
in der (Teschiclito des Uypnoti^'mus angeführt wird . so findet man 
doch fast nirgends iüerzu die erford'Tlichen Quellenbelei^e oder eino 
nähere P'rlänterung des indischen Verfahrens. Diesem Maugel lullt 
Hermann \\ alter'-) ab mit einer aus dem Sanskrit übersetzten 
Stndie, die sich betitelt: ^Srftiii&rfttiiia*s Hathayoga Pradlpik&.'' (Die 
Leuchte des Hathayoga.) Die Arbeit des Verfassen behandelt die 
Übungen des Yogins, in den sogenannten Yogaschlaf an kommen und 
lebendig begraben m «erden, und stützt sich auf das im Titel ge- 
nannte Werk, sowie auf zwei von BhudaTanacandra Vasuka 
herausgegebene Schrifteti; ..Guralcshasataka" (Calicut 1901) und 
^Gheraiida Samhita" (Calicut 1817). 

Als Baupterfordernis. um in den augestrebten Zustand zu geraten, 
gilt dauernde einseitige Konzentration des Denkvermfigens. In der 
Sprache des uKMlernen Hypnotismns würde das die iM'krtnnte Rin- 
engung des iH'uuI^Jstiii^- sein. W ie di-r suL'ueriertMide Ar/t durch 
Nebenumstiinde . Jüihe. Zinimeivviirme, be<iueujes Lager etc. den 
Patienieii miizubeeiutiusseu sucht, ebenso soll die 1 bung des Yogin 
durch dem indischen Klima augepaßte äußere lutstäude begünstigt 

1) Zeitschr. für HTpnotUiiiuB. Jmhrf;. 1894- 

2) 3tfinchen 1898. Dissertation. Im Buchhandel nicht au besi«hen. 



Digltized by Google 



900 



Tin. über den Yogft-Sehlal. 



werden. Nach den Vorschriften der Hathayogaprädipika muß der 
Yogin sich in einom wohlregierten Lande befinden, ferner zum Zwecke 
der iTbting in einer Zelle, die mit »'iiier kleint^n Tür versehen ist, 
reguiigslüs aui" einem Platze verweilen. Eine ^^iaiier soll die Zelle 
umgeben. Diese Regeln beabsichtigen, den Andächtigen vor Klima, 
Menschen und Tiereu zu schützen. Das Innere der Zelle darf nur 
mit dem AUerDOtwendigsteu ausgestattet sein, und es muß alles ver- 
niieden werden, was die Anfinerkiamkeit abzieht Die Tür soll 
achriftsmäßig mit Kuhmist dick bestrichen sein nnd frei von jeglichem 
Ungeziefer. Um stets «ne gleiohnulBige Temperatur zu erzielen, ist 
es als Ausnahme gestattet, Fener zu machen. 

Die NahrungSTorscbriften empfehlen dem Togin das Einfachste 
als zuträglich, und davon nur so Tiel, daß das Leben gefristet wird. 
Als passende Lebensmittel sind bezeichnet: Gute Speisen aus Reis, 
Weizen, Gerste, Shäshtika (indische Getreideart), Milch, frische und 
zerlassene Butter, Sandzucker, Honig, Ingwer und einige Gt niüsearten. 
Besonders zuträglich ist nach dieser Anschauung eine bestimmte Speise 
aus nährender. süUer, iVtter Milch. 

Verboten sind : berauschende Getränke, alle beiiieudeu, sauren, 
scharfen, salzigen Speisen, Fische, Fleischsorten, geronnene Milch etc. 

Inigang mit Menschen, starke Anstrengungen, Geschwätzigkeit 
sind zu vermeiden, der Aspirant muß aller Sinnlichkeit entzogen sein, 
wovon jedoch Ausnahmen gestattet sii^. 

Die Hauptgebote der Entsagung, die von ihm gefordert werden, 
sind: Wahrheitsliebe, Keuschheit, Armut, Beinheit, Mäßigkeit, Zu* 
ixiedenheit, Freigebigkeit, Gläubigkeit, Askese, Studium und Gk>tt> 
eigebenheit (Yama und Niyama). 

Wer sich hiermit vertraut gemacht hat, schreitet zur Übung der 
Asana, d. h. des regungslosen Yerweilens in einer Stellung. Aus den 
84 wichtigsten Vorschriften dazu hat Svamaratma die 15 hauptsäch- 
lichsten niitgrti ilt. Das in diesen Regeln angestre1)te Niclitlunktionieren 
des Atniens soll ein Kichtfunktionieren des Geistes herbeiführen. 
Das It t/t. TO heißt: RAjayoga und ist eine Vorstufe zur höchsten 
Glückseligkeit lvuival}a. 

Das in diesen I'bungen zur Anwendung kommende hypnotische 
Verfahren wurde Träkala genannt. 

Die Lehre von der Hemmung des Atmeus, welche eine Haupt- 
rolle in der Askese des Yogi spielt, ist erst Terständlich, wenn man 
die altindischen Vorstellungen über die Funktionsweise der einzelnen 
körperlichen Organe dabei berücksichtigt. Nach dieser Anschauung 
gelangt der Atem durch drei Öffnungen (das rechte, linke Nasenloch 



Digitized by Google 



VIIL Über den Yoga-Schlrf, 



201 



und die Trachea) iu den Körper (d. i. Ida. Pingala und Su8huinn&). 
Ida und Piugala fähren den Atem in die Nabelgegend (Kanda), von 
wo er durch die 72 Adero im Körper verteilt wird, und münden 
in die Sushumna. welche Kopf und Nabel vorbindet, durch die Trachea, 
als deren direkte Fort^etziuig man sich die Aorta abdominalis dachte. 
Nach der Anschauung anderer Überset/cr bo^tobt die Sushumna in 
sämtlichen Nädi iu der Mitte des Körpers, ^ierveu, Blutgefäße und 
BroiK hien werden durcheinander geworfen und heißen Nadi (Röhren). 
Wenu der indische Mediziner den Puls fühlte, so wollte i r untersuchen, 
ob die Luft sich normal im Körper bewege. Zu diesem Zweck berührte 
man auch die Halsschlagadero. Näheres ersehe man ans Walter's Dar- 
stellnng. Auf solche rervorrene und dem kindlichen GeistesnlTean 
eines Naturvolkes entsprechendCi vom Standpunkte des hentigen Wissens 
aber geradem lidierliche anatomische Vorstellungen stiitzt sich die 
Methode des Hathayoga, welche heute in den mystisdien Übungen der 
Theosophen ihre Auferstehung feiert. 

Vorbereitende l'bungen des Yogin zur Beiniguug des Körpers 
sind 7. B. die Neti. welche darin besteht, eine glatte Schnur durch 
Nasenloch und Mund zu fiihreu. ..Neti reinigt den Kopf, verleiht einen 
scharfen Blick und bewältigt eine Menge Krankheiten, die oberhalb 
des Schlüssen MMDs stecken." 

Die Dhauiiubuni,' schreibt das lanüjsame Verschlucken fines vier 
Daumen breiten uud fünfzehn Haud iaugeu augeleuchteten Stück Zeuges 
vor. Dann wird dasselbe wieder herausgezogen. Neben anderen Vor- 
teilen wird dieser Procedur auch die Fähigkeit sugeschriebeu, daß sie 
80 MPhlegmakrankheiten** beseitige. 

Bei Ausführung der Basti wird ein Bohr in das Bektum eingeführt 
während man bis zum Nabel im Waaser verweiU. Diese Übung ver- 
leiht Buhe der Körperelemente, helles Aufflackern des Verdauungsfeuers, 
Schönheit etc. 

Alle drei Übungen haben moderne ParaUeien in der Mediain 
Neti stellt die ursprünglichste Form dar zur Reinigung des Nasenrachen- 
raums. Aus der Dantbi ist heut die Mucrenspöluog geworden und der 
Basti erinnert au »'inen primitiven Irrigator. 

Eine gan/.t' besondere Rt-ihe von Vorschi iti -ii bezweckt den Still- 
stand der Tätigkeit des Atmens. Um die Nädi i^Kühreni m reinigen, 
muß der Yogin üben, zuerst die Atmung zu beherrschen. Dabei soll 
eine gewisse Fertigkeit erworben werden im Verschlucken von Luft; 
Druck auf den Unterleib durch eine Binde facht das Verdauungsfeuer 
an und treibt die Unreinigkeiten aus dem Körper. Auch über die 
hierbei notwendigen Körperhaltungen und Bewegungen sind zahlreiche. 



Digrtized by Google 



SOS VIII. über den Yog«-Schkf. 

mitunter seltsame Regeln mitg. (.eilt, die immer die altindische Anatomie, 
Yoraussetzen. Eine derselben verlangt z. B., der Adept solle sich mit 
beiden Händen flacb auf den Boden atUtsen nnd langsam die beiden 
Hinterbacken mit der Verse schlagen. 

Ein nnerl&Bliches G^bot für jeden, der den Yogascblaf erreichen 
will, entb&lt die Kbecar!. Sie Terlangt, dnicb melkende Bewegungen, 
die Zunge zu verlängern. Erst wenn sie so lang ist, daß man damit 
die Stelle zwischen den Augenbrauen berühren kann, hat die Khecart 
ihren Zweck erfüllt. Das Zungenbändchen ist durch Schnitt vorher 
zu durchtrennen. Die verlängerte Zunge wird nun in den Nasenrachen- 
raum hinaufgesteckt, um so der Luft jeden weiteren Z«{rang in den 
Körper zu versperren. Auch das Hrrunterdrücken des IsLinus auf die 
Brust (.Jalandharabandha) kommt oft zur Verwendung. 

Dazu tritt nun als echt hypnosigenes Mittel dif Tnlkata, man 
würde heute sagen dif Fixutionsmethode (nach B r a i d ,. „Mit unbewegtem 
Auge fixiere man aufmerksam einen recht kleinen Gegenstand (oder auch 
die Nasenspitze), bis Tränen kommen. Sorgfältig wird das Ti&kata 
Terheimlicht, gleich einem Korb der Gold enthält." 

Werden nun die Schleimhäute durch das Verweilen der Zunge 
im oberen Teil des Nasenrachenraums mechanisch zu stärkerer Schleim- 
absonderung oder auch entzündlich gereizt, so soll das herabfließende 
Sekret, welches Sorna genannt wird und als Lebenssaft gilt, nicht 
verloren gehen, sondern in den Magen f^olangen. „Der Yogakundige, 
welcher mit der Zuncrp nach oben gerichtet unbewefitich bleibt und den 
Sorna trinkt, der wird ohne Zweifel den Tod einen halben ilionat lang 
besiegen." 

Zablreiche Repeiii über monotone Beweguiigeu. welche lauge Zeit 
fortzusetzen sind, eriuijem an die Ekstase der tanzenden Derwische. 

Schließlich wird die Vernichtung des Atems — und nach der 
Meinung Svamaratma's gleichzeitig des Vorstellungsvermögeos herbei- 
gefiihrt. „Wo der Atem Ternichtet wird, da wird auch das Bewußtsein 
▼ernichtef* 

Auf dem angegebenem Wege autohypnotischer Selbsterziehnng 
gelangt der Jünger auch aur Erzielung suggerierter GehörshaHuzinationen. 
Zu diesem Behuf hält der Yogin sich Nase, Mund und Ohren zu und 
lauscht gesp.annt auf einen im Inneren seines Körpers (in der Sushumna) 
hörbaren Laut, den Aniihatadhvani. Derselbe erklingt znorst im Äther 
des Herzens, dann d( Hals^^s als trommelartiger Laut, darauf zwischen 
den Aus'Mibranen uml schlieHlich als tlntenartifjor T^aut im Braiiniarandbra 
(Vorderhauptfontaneliei. Audi dii.' Laute einer Glocke, einer Muschel, 
eines Rohres, einer Biene werden gehört. Mit der inneren Versenkung 



VIII. über den Yogft-Schtaf. 



803 



in eioen bestimmteu Laut (Nadu) hat man di« letzte Stufe zur Krldsuog 

erreicht. ^Wer mit halbgeöffnett^n Augen, unbeweglichem Geist und 
auf die Nasenspitze jjerichteten Augen durch seine vollkommene Ruhe 
Candra uud Sürya zur Veniichtuug bringt, der gelan^'t zur leuchtendeu, 
einzigen T^rsnehe. zur volktändigen. strahleudi n. höchsten Wahrheit, 
zum Ort dfs Brahma, zur höchsten Wirklichkeit." 

„Von allen Zuständen befreit, von allen Gedanken verlassen, ist 
er nun (im Zustande der Samadhi) gleich einem Toten, aber erlöst. 
Er wird 70in Tode nicht verzehrt, Tom Karma nicht gequält und tod 
keinem anderen eirdcht Der'^ogin, deräamftdbi erreicht hat, kennt 
weder Geruch, noch Farbe, noch Tastgefttbl, noch Laut» noch sich 
eelbst» noch einen anderen. Sein Geist schläft nicht, auch wacht er 
nicht, er ist von Erinnerung und Vergessen befreit; er kennt weder 
Külte noch Wärme, weder Glück noch Unglück, weder Ehre noch 
Verachtung. Wer gesund und im wachen Zustande gleich einem 
Schlafenden verweilt und weder ein noch ausatmet, der ist sicher erlöst; 
der Yogin, der SamAdhi erreicht hat, ist unverletzlich für alle Waffen, 
▼on Sterblichen nicht zu überwältigen, unangreifbar für alle Zauberei." 

..Solange der umherziehende Atem sich nicht in der Sushumna 
bewegt, solange man nicht durch das feste Hemmen des Atems der 
Nada ertönt, solange nicht ln-i der Meditation die der eigenen Natur 
gleiche Wesenheit entsteht, .solange spricht man vom Wissen, uud alles 
ist trügerisches eitles Geschwätz." 

Diese Schlußworte von Svamaratma'8Hathayogapradipik& 
besehreiben töllig xutreffend einen Zustand, der die suggestiven und 
kataleptischen Erscheinungen in gewissen Fällen von hysterischem 
Somnambulismus umfaßt. Genau wie im Yogaschlaf finden wir in 
dieser Form der Katalepsie totenähnliche Starre, Respirationsstörungen 
(Apnde), halbgeseblossene Augenlider, völlige Anästhesie derSinnesnerren, 
Fehlen der Beakticm bei Reizung der Riechkolben, der Retina, der 
Gefühlsnerven (Tast-, Schmerz- und Temperatnrempfindung). Auch im 
hysterischen Somnamhulismus sind Halluzinationen (nicht nur des Gehörs) 
ein gewöhnliches Vorkommnis. 

Die Mittel /nr llorbeitüiinnig des Yogaschlafes sind teilweise 
diese] (>f'Ti wie die zur Er/.fuguiig eint-i- Hypno<;e: so finden wir in beiden 
Fällen : vürl)ereiteiide l'rozcdnren i Rnlie und Znriickgezt*geidieit j, Fem« 
haltuug aller Gemütsb^wef^ungen und Ablenkung der Aufmerksamkeit, 
einseitige Konzentration dis iJeukuns, Abschlull der Sinne gegen Reize 
der Außenwelt und eventuell artitizielle Ermüdung eines Sinnes (Fixation). 
Das Resultat ist in beiden Fällen Schlaf (oder Halbschlaf) und gesteigerte 
Suggestibilität. Nur werden die besprochenen Mittel von den indischen 



Digitized by Google 



204 



Vm. über den Yoga-8eU«f. 



Ekstatikern im Superlativ aogewendet, währocd das hypnotische Ver- 
fahren sich in der Kegel (wenigateDS bei therapeutischer Anwendung) 
uiclit aus ileu Grenzen der normalen physiologischen Suggestibilitat 
entfernen soll. 

Spedfiseh für die Ekstase der Indier und anderer Völker rind die 
asketischen ÜbuDgen, die Überwindung der sinnlichen fiedfirfnisie 
und Triebe, sowie die Veisenkiing in religidee Torstellongen. Zweifel- 
los wird schließlich dnreh solche Gewaltprozednren eine psychische 
Hyperiisthesie. eine krankhafte AutoMin:<(estibilität geschaffen; dazu ist 
auch das gesteigerte Geftthl des Wohlseins (Glückseligkeit i y.u f ebnen, 
bei welchem es sich vermutlich um eine Übertragung sexueller Empfin- 
dnngen auf ein religiöses Gebiet handelt. 

Bei Beurteilnn? des Yo;»a<?rblal"es ist auch zu berücksichtigen die 
reiche. Begabmif,' der indischen Bevölkernn^ für Mirakel und suRf];estive 
Phänomene alier Art uiii ihrer nur wenigen zugänglichen uralten 
Literatur, sowie ihr Hang zur Kuhe und Beschaulichkeit. Das System 
der Yogaübungen hat nun allerdings Leistungen hervorgebracht, hinter 
denen die Phftnomene der Stigmatisation nnd die snggestiTe £2rseogiing 
von Brandblasen — das höchste durch Suggestion in Europa Erreichte — 
weit zurückbleiben, nämlich eine Herabsetzung der Lebensfunktionen, 
einen menschliehen Wintersdilaf, in dem .die Fakire ohne Nahrunga- 
znfuhr und Luftemeuerung wochenlang verharren. Kiue erneute Untei^ 
suchuug dieser gut beglaubigten Beeinflussung des Lebensprozesses an 
(3rt und Stelle durch Ethnologen, welche auch die genügende Kenntnis 
der Sugge5tir)nslelire Ijesitzen. würde voraussichtlich eine reiche Ernte 
auf psychophysiolugisckem Gel)ieti' ergt hcn. 

Weitere vergleichende Ausführungen über die anthropologische 
Bedeutung der hypnosigenen >Miitel findet man in der Arbeit des 
Verfassers y.Sugßestiün uud suggestive Zustande" (Miiüchen, Lebmano, 
i89'i) ; historisches Material dagegen bietet die reichhaltige und durch- 
aus empfehlenswerte Schrift tou Stell: „Suggestion und Hypuotismua 
in der Völkerpsychologie." (Leipzig 1894.) 



IX. 



Eine Gebart In der Hypnose.') 



H., Knufnia 1 • liter, 25 Jahre alt, besuchte am 17. Xov. 1891 meine Sprech- 
stunde. Sie sielit in 8—10 Tagen ihrer Niederkunft entgej^en und wünscht, daü 
di« eigentliche Ueburi in der Hypnose vor sich gehe, d. h. für ihr BewuÜtfieiu 
ohne Schmerzen. B. ist Erstgebärende, stammt Ton gesunden Eltern, KbetBUnd 
snQer den Kinderkrankheiten im 14. Lebensjahre einen T,v])hus. Seitdem hit sie 
nicht nif'lii- krank ^fr'Wf'^rn Kriiflit; j^'enährt, reichliches Fi t t pulstor. starke Ent- 
wicklung der Mammae mit groLieni. lebhaft pigmentiertem Warzeniiof. Die Brust- 
warzen selbst sind wohl ausgebildet und entleeren auf den L>ruck einen Tropfen 
Milch. Die UnterBOchnng des Unterleibes ergibt Schwangerschaft im 9. Monat bei 
2. Srliiiiiellage. Die B. macht im gan/*'ii eiti. t; äutierst gesunden n»l>usten Ein- 
druck. Sie wurde Ton ihrem jetsigeu (ieliebttiu deÜoriert aud gleichzeitig in die 
Hoffnung gebracht. 

Ich erteile der B. den Rat, sich mehrmals vor Eintritt der Geburt hypnoti- 
sieren zu lassen, einmal, um ihre Empfänglichkeit festzustellen, und ferner, um 
durch mehrfache HypDotisieruog den Eintritt der Hypnose für den Qeburtsatweck 

zu erleichtern. 

Die B. wird 7 mal am 17., 1»., 19., 20., 23., 2ö., 2G. November 1891 hypnotisiert, 
und Terßllt bereits beim ersten Versuch in tiefen Somnambulismus mit posthyp- 
notischer Amnesie. 

Am 27. NnvrPib* r alt^nfis 7 I hr rrmi ii die ersten leichten Wehen ein, 
setzen jedoch zeitweise, namentlich am Vonnittag des 28. Nov., wieder ganz aus; 
sie werden gegen 4 Uhr nachmittags stSrker, so daD man mich rufen liül 
Um 6 rhr abenda befindet sich die Gravida noch auGer Bett, der Kopf steht 
noch ini I'eckeneingang. Die Enitl'nung erfolHt Iir langsam; um 11' < Uhr 
nachts 2. Besuch, Muttermund nicht ganz ein Dreimarkstück groli. glatt und ge- 
spannt. Die Wehen vrerdca nun häufiger und schmerzhafter. Die Hebamiue, bei 
der Pattentin wohnte, erhielt den Auftrag, mich so zeitig in Kenntnis zu setzen, 
daß ich noch Tor Eintritt der 2. (ieburtsperioile anwts«-,«l sein könne. Um 
2 Uhr 45 M i n u t e n nachts werde ich wieder gerufen und treffe einige Minuten 
vor S Uhr ein. Der Muttermund iüt volbtäudig erweitert, die Wehen sind kräftig 
nnd sehr schmer^aft. Patientin schreit und stöhnt, so daO die Insassen der Neben- 
simmcr im Schlaf gestört werden. 

Präzis T'lii- llv|iiiii(ivicrung der pari utirus Tu i[ilu lnj>' lii Mi th'"l" . Hin 
B. verfallt in etwa 2 — 3 Minuten in Schlaf, die SchuierzUuüeruugeu verschwinden 



1) Vergl. Zeltschr. für Hypnotismus. 1892. 




S06 



IX. £ine Qeburt in der Hypttoae. 



bis auf eiu leises Stühneu. AiUXallende Beruhigung. SuggestiTkatalepsie und 
Anmlgeflie auf N«delstiehe. Der BUsensprung gebt 8 Uhr 5 Min., Beginn 
der 2:. Geburtsporiocie. iu der Uvpn<)S(> vor sich, der Kopf ragt mit dem 

giT»0«'ren .S«'gincnt in »lio Bt'< kcm« - it . Wclu ii kräftig, etwa alle 3 Minuten, 
dauern 4ö Sekunden. Bei joder neuen schmerzhaften Wehe lege ich meine Hand 
auf die Stirn der parturiens und suggeriere Fortdauer des Schlafes und Schmerz* 
lofligkeit Diese Methode warde trührend des ganzen Gebortaaktes dorehgefilhrt, 
um das Erwachen zu verhindern. Als ich 3 Uhr 10 Min. bei einer dauerhaften 
Wehe einmal vr rsuchswoise (lein Bette fern blieb, < rfolgten sofort lebhaftere und 
lautere Schnierziiuüeruugeu uutur grußer Unruhe und Uuiherwerfeu. In deiu 
Hiall»eh1af, der hierdurch proToziert wurde, rief die B. — jedoch bei gesdUossenen 
Angen — ■ „Ich l 'iii < i wacht y- Sofortige Vertiefung des Schlafes durch Suggestion 
in einer halben Muriti Di.- B. wird wieder ganz ruhiir und nur ein leises 
•Stöhnen Uegicitet das Mitpressen während der Wehen, der Kiirper behalt die 
ihm gegebene huge bei und ei erfolgt uuauiehr kein spontanes iilrwachen mehr 
bei neuem Weheneintritt. Dagegen wird immer bei jeder Wehe Sdhmersloaigkeit 
suggeriert. 3 Uhr 15 Min. jiassiert der Kopf die Beckenenge. 3 Uhr 20 Min. 
Irefrn die Weh<Mi f^rbnti i» schnellerer Aufeinanderfolge jede Mintit»' ein. sind 
aber nur von einer iiaibeu Minute Dauer. Von neuem wird Analgesie auf Nadel- 
■tiehe konstatiert und suggerierte Katalepsie. Der Kopf wird nunmehr bereita 
wfthrend der Wehen in der Sehamspalte siehtbar.* 

('in 3 Uhr 3<> Min. wiederum XachlaB der Wehen; dieselben folgen sich 

weniger häufig und f»ind schwächer. 

Um 3 Uhr 40 Min. schreitet der Kopf vor. steht noch einen halben Cenfi- 
mcter über dem Beckenausgang. Eine Wehe dauert 2ö Sekunden, die Wehen- 
pause 2 Minuten. Wiederum kräftigere Wcheu. 3 Uhr 48 Min. steht der Kopf 
in Beckenausgang. Xunmehr beginnt die Au^t reibungsperiode. Die Ge- 
barende verhält sich unverärMlf-rt, liegt ruhig schlafend da. nur ein leises Stöhnen 
begleitet die Wirkung der Bauchpresse. Um 3 Uhr Ö8 Min. dauert eine Wehe 
nur 8 Sekunden, ist schwach. Ich suggeriere nun der paturiens, sie m6ge leb» 
hafter und krüftigi r ilie Wehen durch stärkeres Mitpresscn uiiterstiitzeii. Soforl 
werden die Wehen länger und so stark, daü ein Danimril» zu befürchten stand. 
Daher ziehe ich vnr, lieber die (ieburt durch mehrere Wehen ein wenig lang- 
samer zu £nde zu führcu. Jedenfalls zeigte dieser VersucJi, dal> auch die 
Wehentätigkeit durch Suggestion verstärkt werden kann. 

Üm 4 Uhr 12 3[ii). achneidet der Ko]*f durch mit der Pfeilnaht in an- 
nähernd peradein Diirchiiie.NSir. Das (Besicht gleitet iilur den Damm. Mit der 
nächsten Wehe schneidet der Kuinpf durch. Es folgt eine mkltige 3Ienge Frucht- 
Wasser mit 3IekoniuDi. 

Die Gebärende schläft während dieses ganzen Vorganges ruhig weiter, ohne 
stärkere Erregung und ohne zu erwachen. 

4 l'hr 15 M in. wird mit einer neuen Wehe die Nachgeburt herausbefordert 

(daneben etwa lOü (iramm Blut . 

4 Uhr Iti Min. suggeriere ich von neuem crlolgreich Katalepsie, konstatiere 
Analgesie. Der Schlaf ist nach Beemligung der Geburt liefer und ruhiger ge- 
worden, da auch das leise Stöhnen aufgehört hat. 

Um 4 I hr 20 31 i n. weck<- ich die Kreißende durch Zählen bis 4, nachdem 
Euphorie für d»s Erwachen anbei'oblen war. 



IX. Eine Geburt in der Hypnose. 



207 



Di<- B. schlügt (iie Aagen auf, kommt aUmählich zu sieh, blickt Terwuadert 

um Sick. 

Sie gibt nun «n, keinerlei Sehmerz vihrend des ganzen Gebartsprocesse« 
ciuitfuiulon ■/.» haben. Wohl aber orinuere sie sieh, datt ihr „etwas Bundes und 

WariiH"^'' a1 ii.'-»"^':infr'''n si'i. 

31eiiie 8iipp«>stioii Ix-tral nur die S r h in c rz v in |i f i ini u n g, um so inlcr- 
esjuanter ist diese Angabe über die erhalt eueTast- und Wärmecuipfiudung, 
Hitunter ist die B., ihrer Aussage gemSß, aus dem tiefen Somnambulismus in 
einen Zustand von Halbschlaf i^'eratOnt jedoch bei Yilllijrer Bonomnienheit und 
ganz ilunkler nachträglicher Erinnernn<j Sie will aUi r iinter dem Einlluß der 
auf der Stiru liegenden Huud immer wieder iu Tietscblaf geraten sein. Aber 
auch während dieser kurzen Perioden des Halbschlafes will sie niemals eine Spur 
TOn Sclinierz tunpfuciden haben. 

1)10 Wiichnerin ist iibergliicklich. dal! der ganze ProzelJ ohne Schineiz, ohne 
Daininrili un«l so schnell T(tr sich gegangen sei. Sie preist die Hypnotisiernng 
als groüe Wohltut ; denn bei erhaltenem Jicwulitseiu hätte sie nicht gowuUt, wie 
sie die Sehmerzen hatte ertragen sollen. 

Die B. gc))ur ein ge.suiHb-s Mädchen, da$ laut sdirie. naclKh in es das Licht 
der Weit erblickt !i;itt<\ '^i" orholff «-ich vi«ii i]'n: Wochenlirf t»^ in f;nj.:f»ti 
Wochen, ütellte sich mir dann als gesund vor und w urde dauu nach einem halben 
Jahre wiederholt bei Demonstrationen Kollegen vorgestellt. 

Auffalleu muß in vorliegender Betiliaclitung ilie Kürze der Zeit, 
in welcher die 2. und 3. ( K^-luirtsperiodo ablieieu, Dämlich von 3 Uhr 
5 Min. bi<« 4 übt 12 — d 2 uud 3 Miu. und dazu noch bei einer 
Primipara. 

Aus dem Verlaul' des beschnebeueii Gt t'uitsjiruzesses liilit sich 
vermuten. (htlJ das durch Suggestion geregelte Verhaiteu der Kreiliendeu 
hierau eiiitu lordernden Auteil hat. 

Dieser Fall — einer der wecigeu, wo nicht der einzige der bis 
jetet in Deutschland beobachteten — lehrt ebenso« wie ähnliche Er- 
fahrungen in Frankreich, daß es möglich iet^ bei geoQgend vertiefter 
Hypnose : 

a) den Weheoschmerz fär das Bewußtsein der Kreißenden per 
iSuggestion zu beseitigen; 

b) das Verlialten derselben, die Körperlage. Haltung der Glieder etc. 
in einer für den Geburtsverlauf zweckmäßigen Weise zu re- 

jjeln. und 

c) die Wehentiitigkeit suggestiv zu verstärke!! oder abzusclnvächeu 
dllrc}^ KinwirkuT ir nuf dif Aktion der wiiikiirlicheu Mti"<kelu. 

Müye diese in jeder ii«'/.iehung jL'iinsti^e F^rfnhruug deut^elien 
Arztrn die Anrcgting bieten zu weiteren l ntei>uchungeu über die 
prtiktiscbe Hedeulung der Suggestion für die Geburtshilfe! 



Digrtized by Google 



Lippert ä Co. (0. Pits'teb« Bachdr.), Nanmbuis üS. 



Digrtized by Google 



Digitized by Goc^^^lc 



Digitized by Goog