Hermann Kurz
^ uji ,^ud by Google
fnahme vom Jahre 1863
I y Google
Hermann Kurz
Ein Beitrag zu seiner Lebensgeschichte
Isolde Kurz
Mit 9 Bildbeilagen und einem Gedichtfoksimile
München und Leipzig
bei Georg Mfilier
1906
^ kj i^ -o i.y Google
Google
IT
PAUL HEYSE
zngeeigoet
Google
Vorwort
Zwischen dem Anfang dieses Buches und sei*
Ber Vollendung liegen schwere persönliche Erleb-
nisse, die die Ausftthnmg über Gebühr verzögert
haben. Zwei Brüder, auf deren Mitwirkung und
Teilnahme an der Wiedererweckung der gemein-
samen Vergangenheit ich vor allem gerechnet
hatte» wurden rasch nacheinander gänzlich un-
erwartet vom Oipfel des Lebens weggerissen.
Die dadurch veranlassten äusseren Veränderun-
gen, mehrmaliger Ortswechsel und endliche Auf-
gabe eines langjährigen Wohnsitzes haben die
Arbeit wiederholt aufs einschneidendste unter-
brochen. Bei diesen jähen Umwälzimgen ging
von den seit lange gesammelten Notizen manches
Wertvolle verloren, während zugleich die Durch-
sicht alter Truhen und vergessener Schubfächer
unvermutet neues Iffaterial zu Tage brachte, das
die Umarbeitung der schon geschriebenen Kapi-
tel gebieterisch forderte. So wanderten diese
Aufzeichmmgen mit mir von Ort zu Ort, immer
verfolgt von den unerwartetsten äusseren Hinder-
nissen, dass es fast schien, als ob der Unstern,
— VIII —
der über meines Vaters Leben waltele^ noch dn-
mal aufgegangen sei um auch das Zustandekom-
men dieser Erinnerungen an ihn zu hintertreiben.
Erst auf einem einsamen Strandgebiet des tyrrhe-
nischen Meeres» abgeschnitten von den literari-
schen Hilfsmittehi mid fast gans auf mein
dächtnis angewiesen, gelang es mir schliesslich»
sie zu Ende zu führen mit einer Eile, die nur
noch darauf bedacht war, neuen Störungen su-
vorzukommen. Dies möge die von mir sdber
am stärksten empfundene Unvollständigkeit des
Buches erklären. Auch auf eine letzte Ausrun-
dung musste ich verzichten, da die erste Hälfte
sich schon im Druck befand» während die swette
geschrieben wurde.
Man suche auf diesen Blättern kdne erschöp-
fende literarische Biographie; eine solche lag
von vornherein nicht in meiner Absicht« sie ist
Aufgabe des Literarhistorikers« Mir lag es vor
allem ob, die menschliche Erscheinung des DiclK
ters festzuhalten, wie sie durch Erinnerung und
Überlieferung in meiner Seele haftet, und ich bin
auch den kleinsten Zügen nachgegangen» ein-
gedenk der Worte des alten Plutarch» dass oft
eine Anekdote, ein Wort, eine überlieferte Geste
für das Bild einer Persönlichkeit bezeichnender
ist, als eine Staatsaktion.
Auffallen dürfte es dem Leser, dass von dem.
Punkte an, wo meine dgene Erinnerung etnsetst,
die Gestalt meines Vaters nicht lebendiger her-
vortritt, vielmehr sich hinter der Famiiiengruppe
IX
teilweise fast verbirgt. Dies ist siim geringsten
Teile Schuld der Schreiberin. Gerade für die
Zeit, die ich mit erlebt habe, geht mir der greif-
bare Stoff der Danrtdlung aus. Es war die Zeit
nach seinem Rücktritt aus der Öffentlichkeit» wo
sein Wesen sich auf den innersten Brennpunkt
zusammenzog. Ein langer Monolog, das war
sein Leben, so lange ich ihn kannte, er unterbrach
ihn auch nicht um su uns su reden. Die schwei-
gende Macht seiner fast unpersönlichen Gegen-
wart aber konnte ich nicht anders zeichnen, als
in der Umgebung, auf die sie, wenn auch nur
leise, wirkte, vor allem in uns selbst, seinen Kin-
dern. Aus diesem stark vortretenden Rahmen, in
dem ich sein Bild tanzig gekannt habe, konnte
und wollte ich es nicht ablösen. Ein emporragen-
der Mensch steht ja nicht allein im Universum,
auch seine Angehörigen sind ein Teil von ihm*
Und wie man aufwärts in der Ahnenrdhe gerne
die Züge verfolgt, die sein Wesen gebildet haben,
ist es vielleicht nicht ohne Interesse, ihnen auch
einmal in der absteigenden Linie noch weiter
nacluEUgehen. An Hermann Kurz ist das land-
läufige Axiom, wonach ein bedeutender Vater un-
bedeutende Söhne haben muss, zu Schanden ge-
worden: den glänzendsten Gegenbeweis hat mein
Bruder Edgar geUefert. Ihn vor allem, der so-
viel begeisterte Liebe hinterlassen hat, wird man,
hoffe ich, nicht ungern in seiner Knabengestalt
hier wiederfinden; ich habe mich darum auch
nicht gescheut zu erzählen, wie sich der Most
._^ kj i^ -o i.y Google
zuweilen absurd gebärdet hat, der hernach emen
so edlen Wein ergeben sollte. Es war des Zu-
sammenhangs wegen tmvermddlich» dass man-
ches von mir anderswo erzählte hier wiederholt
und erweitert wurde.
Den grössten Dank für geleistete Hilfe
schulde idi der Güte des Herrn Prof. Hermann
Fischer in Tübingen, der mir ein reiches von ihm
gesammeltes Material an Briefen für meine
Zwecke zur Verfügung stellte. Ohne diese Pa-
piere wäre m^e Kenntnis vom Leben meines
Vaters unzusammenhängend geblieben. Einzdne
charakteristische Züge haben mir Jugendbekannte
von ihm geliefert, denen ich nicht mehr danken
kann. Für die späteren Jahre dienten mir dann
und wann Aufzeichnungen, die meine Mutter
noch zu seinen Lebzeiten gemacht hat. Von ihr,
die in ungetrübter Geistesfrische bei mir lebt,
konnte ich kein höheres Zeugnis ablegen, als,
indem ich überall die reine historische Wahrheit
eri^Uilte, auch wo ich in der Auffassung der
Dinge von ihr abweiche.
Das Leben eines Dichters zu schreiben ist
keine lohnende Aufgabe. Denn den Stoff, aus dem
der handelnde Mensch äusseres Leben auf-
baut, verwendet der Schaffende zu seinen geisti-
gen Gebilden. Was für den Biographen übrig
bleibt, ist dann meist nur ein für die Darstellung
wenig dankbarer Rest, der zudem weniger den
Dichter selbst, als die Zeit» in der er gelebt hat,
charakterisiert. Dies gilt in besonders hohem
._^ kj i^ -o i.y Google
— XI —
Grad von meinem Vater. Wen also der hier ge-
schilderte Lebensgang nicht befriedigt, der greife
zu des Dichters Werken. In ihnen findet er seine
wahre Welt, die Welt, für die er geboren war, mit
allem Glanz und aller Fülle, um die das Leben
ihn betrogen hat.
Forte dei Marrai, im Dezember 1905.
^ kj i^ -o i.y Google
Inhalt
Seite
Vorwort Vll
Einleitung 1
Des Dichters Jugendjahre 14
Nachlese aus den Gedichten der Maulbronner Zeit 42
Das blaue Genie 47
Erste Schaffensperiode 76
Beziehungen zu Mörike ftS
Der Dichterkreis um Alexander von Vflrttemberg » HO
Schwarz-rot-gold 120
Das Rninnnwftche Hau« 130
Hei rat IM
In der Frone der Freiheit 170
Nene Schaffensperiade 188
Unsere Kindersttihe 214
Oberesslingen 235
Der Fremdling 261
Treue, Gedicht 288
Letzte Lebensjahre 292
Personenverzeichnis 343
Hennann Kurz
Einleitung
Am lo. Oktober 1873 hat der Dichter Hermann
Kurz die Augen geschlossen. Seine Lebensge-
schichtc ist bis zur Stunde noch nicht geschrieben.
Die knapp umrissene, aber meisteriiche Portrit-
«kiasc die Paul Heyse in seinem Vorwort zu
der ersten Gesamtausgabe der Werke von
Hermann Kurz entworfen hat, ist noch immer
das einzig zuverlässige Büd, das von dem Dichter
existiert. Was von anderer Seite hinzukam, war
häufig eher dazu angetan, die Züge zu verwirren,
als sie deutlicher herauszuformen. Es gibt viel^
leicht kein Dichterlos, das einen grösseren Gegen-
satz zwischen innerer Anlage und äusserem
Lebensgang aufweist als das seinige. Da er ein
Freund astrologischer Studien, versteht sich zu
poetischen Zwecken, war, so verstösst es nicht
gegen seinen Geist, wenn ich von ihm sage, dass
er nach der Konstellation seiner Geburtsstunde
m den sonnigen Jupiterskindern gehörte, dass
aber böse saturnische Einflüsse frühe in sein
äusseres Geschick eingriffen und sein Dasem mit
Kampf und Not erfüUten. Daher steht sein per-
sonliches Leben in tiefem Schatten, während über
seinen Werken der Sonnenschein des siegreichen
«umors, der unzerstörbaren Weltfreudigkeit
• liQlde Kur«. Homaim Ka«, I
— 2
lacht. Dieses Gegensatzes zwischen Natordl und
Schicksal sich immer bewusst zu bleiben, ist für
den nachgeborenen Biographen nicht leicht, der
für des Dichters PcrsönUchkeit ganz auf die
schriftlichen Zeugnisse» vor allem auf seine eige-
nen Briefe, angewiesen ist. Hier findet er nur
den oft herzbrechenden Bericht über seine Kämpfe
mit der Aussenwelt, aber die Ergänzung fehlt»
die die Briefempfänger in Händen hatten: das
Bild der gemeinsam durchschwelgten hohen Stun-
den und des elMtischen Siegesmuts, mit dem der
Dichter nach jeder Enttäuschung sich wieder auf-
richtete; denn was sich von selbst versteht^ das
^Ütg% man in Briefen nicht auszusprechen. Wer
nun seine Laufbahn Schritt für Schritt an der
Hand dieser Zeugnisse verfolgt, um sie in den
schroffen Aussenlinien wiederzugeben, wie sie
sich etwa in dem Briefwechsel mit seinem Jugend-
freunde Rudolf Kausler darstellt, der ist in Ge-
fahr, sein Bild viel zu sehr grau, in grau zu malen,
wie es den meisten begegnet ist, die über ihn
schrieben.
Da kann es auch beim wärmsten Bemühen
nicht an Verzeichnungen fehlen: derselbe Iftann,
von dem Hejrse aus seinen trübsten Lebensjahren
berichtet, dass, wer sein Schicksal nicht kannte,
ihn nach dem Glänze seiner Augen, seiner freien
Haltung, der Milde und freudigen Kühnheit seines
Wesens für emen der Uebünge des Glückes halten
musste, erscheint in den Darstellungen der Sin-
teren nicht selten als ein düsterer, früh verbitter-
._^ kj o^ -o i.y Google
ter» knorriger» menachenf eindlicher Sonderling.
Es ist ihnen daraus kein Vorwurf «i machen« sie
kannten ja nur die Nöte, die ihn bedrängten, und
die wachsende Vereinsamung seiner Mannesjahre,
aber nicht die frischen Hilfsquellen, die fort und
fort in seinem Innern sprudelten* He7Se allein,
der aus dem unmittelbaren Austausch schöpfte,
besass noch die Mittel, dieser Etscheinung die
volle Lebenswahrheit zu geben* Aber seine un«
übertrefflich schöne Sciiüderung ist nur ein Um-
riss und beschribikt sich auf des Dichters letzte
Lebensjahre. Den späteren Darstellern Hegt es
ob, die von Heyse angelegte Skizze zum Gesamt-
bild zu erweitem. Das ist keine leichte Aufgabe.
Es braucht dam ausser dem nahen Vertrautsetn
mit demBoden Alt-Württembergs die eingehendste
Kenntnis der Uterarischen und politischen Ver-
hältnisse seiner Zeit. Beides steht mir nicht
SU Gebote. Und leider bin ich nicht einmal im-
stande diese Mängel durch eine Fülle lebendiger
Erinnerungen aufzuwiegen. Fiel doch meines
Vaters bestes Leben lange vor die 2eit meiner
Geburt, und der Mann, dem als Jüngling von
seiner dionysischen Tafelrunde (S. »»Das Wirts-
haus gegenüber^*) das beneidenswerteste Mund-
stück zuerkannt worden war, redete als Familien-
vater fast gar nicht mehr, am wenigsten in den
späteren Jahren, wo ich erst su einem Austausch
ISfaig wurde. Ich kann also auch meinersdts
incht den Anspruch erheben, die Lücke befriedi-
gend auszufüllen. Doch gibt mir der Besitz von
— 4 —
intiinen PamiUentiriefai und manche erfaaltctte
Überlieferung wenigstens einen Einblick in die
^eit seines Werdens, und der Vorteil des gemein-
samen Blutes lässt mich hoffen» manche Züge sei-
nes Wesens richtiger, als dem Fremden möglich
ist, zu deuten und so dem kOnftigen, hesser aus-
gerüsteten Biographen die Gesichtspunkte für die
Auffassung des Menscheu und des Dichters Her-
mann Kurs SU liefern.^
Als ich mein geistiges Auge su öffnen hegann,
lebte mein Vater schon wie ein lebendig Ver-
schollener. Ein Bannkreis umgab den schweigen-
den Mann, der ihn gleichsam von der Mitwelt ab-
sonderte. Es war» als wären alle übereingekom-
men, von dem, was er der Welt gegeben hatte, su
schweigen. Die mit ihm jung gewesen, seine
Freunde imd Mitstrebenden, hatte das Schicksal
frühe stumm gemacht. Das nachwachsende Ge-
schlecht besass in jener literarisch matten Zeit
nidit so viel selbständigen künstlerischen In-
stinkt, um sich ohne Hinweis von aussen für eine
echte Kunstschöpfung zu begeistern. Die poli-
tische Partei, der er sdne besten Mannesjahre ge-
opfert hat, stand seiner reinen tendenzlosen Kunst
kühl gegenüber. In der Literatur wurde er gar
mit Heinrich Kurz, dem Literarhistoriker, ver-
wechselt. Die Jugend sang seine Lieder nach den
Silcherschen Melodien und wusste nicht mehr,
wer der Veriasser war. VHr fühlten uns wie
Königskinder im ExU, deren Vater seine recht-
mässige Krone nicht tragen darf.
._^ kj i^ -o i.y Google
„Ich biii «wischen die Zeiten gefallen»" sagte
der Dichter seihst» wenn er in späteren Jahren
sich je einmal über seine literarische Laufbahn
äusserte. Ja, er war zu spät gekommen für die
Zeit, wo rein poetische Interessen im Vorder-
grund des deutschen Geisteslebens standen. In
den bald danach ausbrechenden politischen Stür-
men verstummte seine parteilose Muse, während
der Dichter selbst zum Kämpfer wurde und seine
ganze persönliche Existenz für seine Überzeugimg
einsetste. Nachdem der Sturm sich gelegt hatten
gab es kein literarisches Württemberg mdir, und
ein Deutschland, das dem Dichter hätte vergüten
und vergelten können, gab es überhaupt noch
nicht. Unter dieser bösen Konjunktur verfloss
sein Leben. Als er dann nach seinem Tode in
den Gesammelten Werken sum erstenmal in ge-
schlossener Gestalt vor das Publikum trat, da
wiederholte sich das „Zwischen die Zeiten fallen".
Nun gab es zwar ein Deutschland» aber dieses
Deutschland» das eben erst im grossen und groben
von dem gewaltigsten Werkmeister zurechtge-
zimmert war, hatte zunächst anderes zu tun, als
ästhetischen Interessen nachzugehen» imd als es
sich endlich auf diese wieder besann, da wollte
man in dem neuen Reiche alles neu haben» am
neuesten die Kunst; man lebte von der Erwartung
der Dinge die da kommen sollten und liess sich
nur sehr ungeme daran erinnern» dass es schon
vordem eme deutsche Dichtkunst gegeben hatte.
Übefdiea wurde jetzt das mit der politischen
Führerachaft verbundene Überwiegen des nord-
deutschen Gdstes auch in der Literatur der Ver*
breitung eines so spezifisch süddeutschen Dich-
ters, wie Hermann Kurz, hinderlich. Und als
schlimmster Gegner kam noch der rohe Naturalis-
mus dasu« der wieder für dne lange Zeit die W^e
der wahren Kunst verschüttete. Wenn zuvor
Hermann Kurz mit seinem kühnen und trotzigen
Wahrheitssinn für eine matte, durch flaue Schön-
färberei verzärtelte Periode zu mannlich und
stark gewesen war» so wusste «Uese» die die Fahne
eiines falschen Realismus schwang, wiederum
nichts mit ihm anzufangen, weil seine Wahrheits-
liebe auf die typische, inuner wiederkehrende
Wahrheit» nicht auf die zufäUige» einmalige ge-
richtet ist. Aber auch die schlimmste Konjunk-
tur nimmt einmal ein Ende. Zwar nur langsam,
wie Gletscher schieben, aber unaufhaltsam ver-
schiebt sich ein Kulturbild* So scheint nun end-
lich der Tag für Hermann Kurz anzubrechen.
Schon in den letzten Jahren stellten sich Zdchen
ein, dass die Erinnerung an ihn zu erwachen be-
ginne, die Reclamsche Universalbibliothek ver-
breitete seine kleinen feinen Erzählimgen, dann
mit Ablauf der literarischen Schutzfrist erschie-
nen als die ersten Schwalben die Neuauflagen der
grossen Romane, denen jetzt fort und fort weitere
Ausgaben folgen, imd endlich brachte als dan-
kenswertestes Unternehmen der Verlag von Max
Hesse die neue, von Hermann Fischer, dem Sohne
des Dichters J. G. Fischer, besorgte Ausgabe der
Sämtlichen Werke, die durch einige wertvolle, in
der früheren Gesamtausgabe fehlende Stücke er«
^aixt und mit gediegenen» von liebevollem Ver-
ständnis durclidrungenen Einleitungen zu jedem
Bande versehen ist. Wie ein Verschütteter aus
tiefem Schachte steigt der Dichter heute herauf,
in voller Frisch^ unberührt vom Pittich der Zeit,
die so viele seiner gefeierteren Zeitgenossen
unterdessen in Staub und Asche gewandelt hat.
Kein Rünzelchen auf der blühenden Wange sei-
ner Muse. Seine Gestalten sind noch lebendig
und menschlich wahr bis in die kleinste Neben-
figur herab, Sprache und Gedanken mnd unver-
altet, jede Zeile neu und blank, als wäre sie heute
geschrieben. So tritt der Dichter einem neuen
Geschlecht gegenüber, auf das der alte Unstern
nicht mehr wirkt: es gibt heute keine literarischen
Moden mehr, da in vmäem Tagen alles und nichts
Mode ist; der Zeitgeist wendet sich wieder den
ästhetischen Interessen^ wenn auch noch mit un-
genügenden Mitteln zu, die geistigen Zollschran-
ken mnerhalb Deutschlands smd gefallen, und
wenn der Süden sich des Vorrechts seiner älteren
Kultur begeben hat, um auf das bewegtere Gei-
stesleben seiner norddeutschen Brüder einzu-
gehen, wenn er sogar zu diesem Zweck das
Fremdartige der niederdeutschen Sprechwdse
überwindet, so darf er jetzt vom Norden das
gleiche Entgegenkommen für seine führenden
Geister erwarten. Damit ist dem Dichter, der
die Heimatkunst pflegte, lange bevor dieses neue
Wort für eine alte Sache geprägt war, endlich
der Weg aus der engeren Heimat, die für seine
ICaaie m klem war, in das grcNwe Gcaamtvater-
land eröffnet.
Um aber zu begreifen, wie es zuging, dass ein
Dichter von der Stärke und Bedeutung eines Her-
mann Kurz von seiner Zeit so unter Schutt be-
graben werden koimte, muas man aich den Boden
Alt-Württembergs, dem er entsprossen ist, und
die Zeit seines Wachstums vor Augen halten.
Die Schwaben gelten gewiss mit Recht für
einen reich begabten Volksstamm. Aber auf
engen Raum zusammengedrängt und von Natur
mit harten Köpfen begabt, haben sie sich von
jeher schlecht miteinander vertragen. Das Be-
streben, einander zu verkleinem, ja lieber einen
ganz Fremden, wäre er auch minder verdienst-
voll, anzuerkennen, als einen der Eigenen, ist ein
unverwischbares StammesmerkmaL Diese Sucht,
sich gegenseitig am Zeuge zu flicken, die durch
das angeborene kaustische Element verschärft
wird, ist so allgemein, dass der Schwabe sich der-
selben kaum bewttsst ist und häufig gar keinen
bösen Willen damit verbindet. Selbst in die
Klangfarbe des Dialekts hat sich diese Streitsucht
eingesclüiciien; denn wenn zwei Schwaben auf
der Strasse zusammen reden, scheint es dem un-
eingeweihten Ohre, als zankten sie sich« Erst
im Ausland kommt es ihnen zum Bewusstsein,
wie viel schonender andere Stämme unter sich
verkehren.
In diesem Lande gedeiht das Talent nicht
durch Fördenuig, sondern durch GegpaaBtiL und
Widerstand: das dickköpfige Philisterium ist dort
der Nährboden des Genius, der mit ihm m käm-
pfen hat. Das ist ein Krieg auf Tod und Leben,
wobei meistens der Genius auf die Dauer seiner
Erdentage unterliegt» um dann später in verklär-
ter Gestalt aufsuerst^en und den Kampf mit
besseren Aussichten fortzusetzen. Aller Ruhm
Alt-Württembergs geht von seinen Dissidenten
aus. Diese sind sämtlich Geschwister von Schil-
ler ab» zwar ungleich an Talent und Tempera-
ment, aber gleich an wetterfestem, not- und tod-
verachtendem Idealismus. Ein Familienzug, der
sie von weitem kenntlich macht» ist ihre trotzige
Gebärde; sie wollen stets mit dem Kopf durch die
Wand. Sie sind eben keine Olympier, sie sind
Titanenkinder. Eine Ausnahme bildet Mörike,
der die umgebende Welt sich anpasst, indem
er sie mit seiner spielenden Phantasie, fast ohne
es zu bemerken» vollkommen umgestaltet. Dieser
lebte denn auch unangefochten dahin, die Phili-
ster taten ihm nichts zuleide, er verkehrte mit
ihnen auf du und du, und sie bemerkten gar nicht,
dass er ein Genie war, sondern hielten ihn für
ihresgleichen.
Allein nicht nur der Philistw war in ^Wilrttem-
berg dem aufstrebenden Genius hinderlich, auch
seine Geistesverwandten verlegten ihm den Weg.
Das kleine Land war ja viel zu rHch an Talenten,
um ihnen allen Raum zur Entfaltung su geben ; an
den Grenzen aber war die Welt mit Brettern ver-
nagelt. Wer darüber hinausstfirmte» der konnte
im Elend zugrunde gehen wie Waibfinger, oder
wie Hölderlin als ein Schiffbrüchiger zurück-
kehren. Darum ging es, wie es oft in begabten
aber armen Familien zu gehen pflegt, wo tm
jeder aein Talent und seine Individualität zur
Geltung zu bringen sucht und keiner den andern
recht aufkommen lässt. Anderwärts ereignet sich
gerade das Umgekehrte; man bildet Cliquen zur
gegenseitigen Anpreisung und Förderung, dass
der Fremde glauben könnte, in eine ganze Pflanz-
schule von Genies geraten zu sein. In Württemberg
aber fehlte es dem Genius von vornherein an
Verkündigem. Sollte ein einheimisches Erzeug-
nis dort Anerkennung finden, so musste es zuvor
exportiert und mit einer auswärtigen Marke wie-
der eingeführt werden. Ein preussischer Haupt-
mann war es, der die erste Ausgabe von Hölder-
lins Gedichten veranlasst hat. In unsem Tagen hat
der Norden begonnen, den Ruhm des halbver-
schoUenen MÖrike zu machen, wie er zuvor den
Uhlands gemacht hatte. Von Schiller ganz zu
schweigen. Nicht umsonst singt Mörike von
diesem:
— der an Herz und Sitte
Ein Sokn der Heimat war,
Stellt sieh in unsrer Mitte
Ein hoher Fremdling dar.
Das war es, was ihm schliesslich seine Gel-,
tung gab, dass er als Fremdling wiederkam« In
echt schwäbischem Sinn hat einmal Theobald
Ziegler den Urspnmg der Redensart „er ist nicht
weit her'' untersucht. Dass er nicht weit her war,
liess auch Hermann Kurz nicht in seiner vollen
Bedeutung erscheinen, gerade sein starkes Hei-
matgefühl» das ihn hinderte, den Boden Württem-
bergs SU verlassen, ist ihm in der Heimat schäd-
lich geworden. Nicht als ob es den Schwaben
an Sinn für ihre heimischen Produkte gebräche,
sie tun sich vielmehr auf die grosse Menge üirer
schöpferischen Geister recht viel xugute; aber sie
haben nun einmal die Neigung, diesen bei Leb-
seiten den Brotkorb so hoch wie möglich zu
hängen. Das wunderliche Stammesselbstbewusst-
sein, das sie so oft getrieben hat, ihre Grossen als
quantite negligeable zu behandeln, findet semen
klassischen Ausdruck in dem köstlichen Vera von
Eduard Paulus:
Der Schcllin^^ und der Hegel,
Der Schiller und der Hauff,
Das ist bei uns die Regel,
Das fällt uns gur nicht auf.
Auf einem so sonderbaren Boden war die be-
rühmte alte „Schwabenkultur'' aufgebaut. Frei-
lich, es war ihr auch anzuseilen« Sie umf asste die
ganze Welt des Gedankens und besass doch nicht
das kidnste Fleckchen, auf dem sie sich sichtbar
niederlassen konnte. Das macht: sie war aus-
schliesslich Mämiersache; die Schwäbinnen,
wenigstens die des Mittelstandes^ taten nicht mit»
sie bdiarrten mit Überzeugung in der Unkultur,
— 12
Es gab keine gesellschaftliche und ästhetische £r-
xtdumg durch die Fmu; bei der Heirat brach ent-
weder die Entwiddunir des Mannes ab» oder ea
trat bei ihm eine völlige Teilung des inneren und
des äusseren Menschen ein. Daher blieb diese
Kultur eine rein literarische, die aus dem Studier-
zimmer der Poeten und Gelehrten nicht einmal
bis In die nächste Umgebung den Weg fand, so
dass, während das Pamilienhaupt zu den Sternen
am geistigen Himmel zählte, häufig die nächsten
Angehörigen in einer fast bäurischen Unwissen-
heit und Formlosigkeit dahin IdMen* Es hat
etwas Schauerliches, sich die Weltweite dieser
Geister und dazu die erdrückende Enge ihres leib-
lichen Daseins vorzustellen. Dazu kommt, dass
fast alle talentvollen jungen Leute durch die
Armut sum unentgeltlichen Studium der Theolo-
gie getrieben wurden und dass eine Landpfarrei
das gewöhnliche irdische Ziel der Titanensöhne
war. Der Weg dahin führte durch die Pforte des
MLandeacamens" in die klösterliche Zucht der nie-
deren Seminarien und von da in das bekannte
„Tübinger Stift". In diesem Stift, der wahren
Stiefmutter unserer grossen Geister, wurden sie
in den Entwicklungsjahren von allem äusseren
Leben ferngehalten und sjrstematiscfa zu jener
vielberufenen stifUerischen Unweltläufigkeit er-
zogen, die ihnen später das Weiterkommen auf
jedem anderen als dem von der Anstalt vorge-
schriebenen W^e so sehr erschweren musste.
Wenn es olmehin die Art der schöpferischen
._^ kj i^ -o i.y Google
— 13
Naturen is^ sich unter dem Eindruck ihrer inne-
ren Geaidite «chwerer in der Welt sureclitsulinden
als der gewöhnliche Menschenschlag, so hat Alt-
Württemberg seinen genialen Männern noch ge-
flissentlich Ketten um Ketten an die Füsse gelegt.
u^ kj i^ -o i.y Google
Des Dichters Jugendjahre
Hermaiin Kurz ist am 30. November 1813 zu
Reutlingen geboren, der ehemaligen freien R^chs-
Stadt, die ein Dezennium zuvor württembergisch
geworden war. Die Kindrücke, die er dort em-
pfing» iiaben all seinem späteren Dichten und
Schaffte die Grundfarbe gegeben« Ich sdber
kenne die altertümliche, von den Geistern der
Döffinger Schlacht umschwebte Jugendstadt mei-
nes Vaters nur aus seinen Dichtungen ; das Reut-
lingen, das ich später mit Augen sah» ist davon so
völlig verschieden, dass es mir niemals möglich
war, beide in e i n Bild zusammenzufassen. Seine
Eltern waren, als ich zur Welt kam, lange tot.
Überhaupt kannte ich keinen von seinen früheren
Angehörigen, als seinen einzigen Bruder, der ihn
inn wenige Jahre überlebte. In meiner Kinder-
phantasie spielte die mütterliche Familie, das alte
Freiherrngeschlecht von Brunnow, unter dessen
Reliquien wir heranwuchsen, eine grosse RoUe,
während der väterlichen Vorfahren nie von uns
gedacht wurde. Das war sehr begreiflich: mein
Vater sprach uns nicht von ihnen, und meine
Mutter hatte sie nicht gekannt. Sein Schweigen
rührte jedenfalls zum Teü davon her, dass er
diese Gestalten schon in Poesie verwandelt hatte
Des Dichters Geburtsbaus in Reutlingen
I y Google
Google
— IS —
imd dass es ihm gegen die Natur ging, das dich-
terische Gewebe i& aeinein Geiste wieder aufsu«
lösen und den nackten historischen Inhalt heraus*
2uholen. Für ihn waren sie nunmehr völlig das,
was seine Phantasie aus ihnen gemacht hatte. Ich
hielt also, bevor ich seine »»Familiengeschichten**
kannte^ nicht viel auf diese ehrsamen ReutUnger
Glockengiesser und Spritzenmeister» und nut der
Offenherzigkeit, die Kindern eigen ist, sagte ich
eines Tages zu meinem Vater: „Es ist eigentlich
doch recht schade» dass unsere Mama nicht lieber
einen Standesgenossen geheiratet hat» dann wäre
ich jetzt auch eine Geborene/* Er antwortete
lächelnd, aber doch mit einem gewissen Nach-
druck: „Du bist schief gewickelt, liebes Kind,
wenn du dir viel auf deine mütterlichen Ahnen
einbildest» die als Raubritter auf ihren festen Bur«
gen Sassen und harmlose Wanderer plünderten.
Da waren deine Ahnen väterlicherseits ganz
andere Leute: regierende Bürgermeister und
Senatoren einer kleinen Republik» die über Leben
und Tod» über Krieg und Frieden zu entscheiden
hatten." Diese Worte imponierten mir sehr,
und von da an betrachtete ich die Reutlinger Vor-
fahren mit ganz anderen Augen, obgleich ich mich
in ihre harte und enge Welt doch nicht hineinzu-
denken vermochte.
Sie reichen urkundlich bis ins fünfzehnte Jahr-
hundert zurückt wo sie als freie Bauern auf ihrem
eigenen Erb und Lehen sassen. Um 14S3 war
ein Hanns Kurts von Osterreich mit einem Grund-
._^ kj 1^ -0 i.y Google
i6 —
stück bei Kirchentellinsfurt belehnt woiden« Von
da an verschwindet der Name Kurts nicht mdir
aus den Annalen der freien Rdchsstadt. Bs wird
seinen Trägern nachgerühmt, sie hätten frühe das
Streben gezeigt, zur geistigen Aristokratie des
Landes aufsurücken. Jedenfalls erscheinen sie
schon in den ältesten Urkunden als ein frei-
mütiges, unternehmendes, wohl auch etwas hoch-
fahrendes, dabei aber kernhaftes und tüchtiges
Geschlecht, das alsbald mit persönlichen Zügen
hervortritt. Auch die Wander- und Abenteurer-
lust, die viele Glieder späterhin weit über die Erde
verstreut hat, zeigt sich zeitig : im i6. Jahrhundert
begleitet ein Sebastian Kurtz Kaiser Karl V. als
Fuggerscher Agent nach Italien und wird durch
seine Aufzeichnungen zur wichtigen Geschichts-
quelle für den Schmalksldischen Krieg. Die Fami-
lie schrieb sich abwechselnd Kurtz, Kurz und Cur-
tius; unser Zweig hielt an dem älteren „tz** fest,
bis im Jahre Achtundviersig mein Vater, seinem
sonst so ausgeprägten historischen Sinn entgegen,
das „t" aus dem Namen strich, weil jetzt jeder
Zopf fallen müsse. Die Nachkommen haben aus
Pietät die von ihm bestimmte Schreibart beibe-
halten, obwohl sie stets das Aufgeben der älteren
Form bedauerten. Unser Familienwappen, ein
goldener Löwe, der, auf grünem Dreiberg ste-
hend, eine schwarze Hausmarke in den Pranken
hält, wurde im Anfang des siebzehnten Jahrhun-
derts verliehen« Ein anderer Zweig, der bald aus-
starb, erhielt fQr die in Kriegszeiten dem Kaiser
._^ kj i^ -o i.y Google
17
geleisteten Dienste ein Wappen» worauf der
rämiache Ritter Cnrtiiit dargettdlt ist» wie er auf
weunem Rom in goldener Rüstung in den von
Flammen umzüngelten Abgrund sprengt. Unsern
Ast begründete ein Michael Kurtz, der zu Ende
des siebzehnten Jahrhunderts an der Spitze einer
grossen WerloMatt für Glocken und Feuerspritzen
stand und sme Erzeugnisse durch die Schweiz
und einen grossen Teil Deutschlands versandte.
Von ihm wird berichtet, er sei einmal auf vierzehn
Tage in den Turm gesetzt worden, weil er gegen
die vielen Steuern opponierte, und bei seiner Ftei*
lassung habe er dnen Schein ausstellen müssen,
dass er nicht, wie er gedroht, den einen oder
andern Ratsherrn, wenn sie bei seinem Haus vor-
über in die Kirche gingen, niederschiessen wihrde.
Man traute ihm zu, dass er der Mann wäre, seine
Drohung wahr zu machen, denn man hatte ein
mit zwei Kugehi geladenes Feuerrohr bei ihm ge-
funden. Auf diesen Feuerfcopf folgte sein ebenso
energischer Solm Joliannes, jener vielgewanderte
Ururahn mit dem spanischen Ldbfluch und dem
„bordierten Hütlein", bei dem meines Vaters
Familiengeschichten beginnen. Das „bordierte
Hütlein", das der wadcere Zunftmdster und Rats-
herr als Zeichen sdner Würde trug, wurde in der
Verwandtschaft sprichwördich bis auf unsere
Generation; denn so oft einer aus der Familie den
Kopf etwas hoch trug, hiess es von ihm: „er hat
das bordierte Hütlein auf". Dieser Johannes, der
sich im Audand in seiner Kunst sehr vervoll«
Isolde Kurz, Hennanii Kua. 2
._^ kj i^ -o i.y Google
— x8 —
konunnet hatte, brachte das väterliche Gewerbe
erst recht in Flor. Nach sdner Rückkehr heiratete
der stattliche junge Meteter jene lid>liche, durch
einen Vormund um ihr Vermögen geprellte Schaf-
hirtin, deren Geschichte in der ,,Reutlinger
Glockengiesserfamilie'* erzählt ist»
In Wirklichkeit hiess sie Magarete; der Dich-
ter hat ihr diesen Namen genommen, schwerlich
aus Irrtum, sondern weil er ihn für die im Wit-
wenstüblein** erzählte Geschichte seiner eigenen
Vatersschwester, der bekannten „Frau Dote"»
brauchte^ und hat ihn durch den gleichfalls poe-
tischen Namen einer andern Vatersschwester
Dorothea ersetzt. Herr Johannes war ein hef-
tiger und ehrsüchtiger Mann, der nicht die ge-
rii^e ihm zugefügte Unbill ertragen konnte;
aber als bd dem grossen Brande seiner Vater-
stadt, dem er als Spritzenmeister zu wehren hatte,
ein langjähriger Freund sein ganzes ihm anver-
trautes Hab und Gut veruntreute, nahm er diesen
Schlag geduldig als göttliche Schickung hin und
begann getrosten Muts sein Handwerk von
neuem. Was von ihm in der „Reichsstädtischen
Glockcngicsserfamilie*' erzählt wird, scheint
' durchweg auf Tatsachen zu beruhen, wogegen
bei der romantischen Liebesgeschichte sdnes
Sohnes Franz ebenso wie in der seines Enkels
„Wie der Grossvater die Grossmutter nahm** der
historische Zettel stark mit dichterischem Ein-
schlag verwebt ist. Dagegen sind die Persönlich-
keiten hier wie in den nachfolgenden Geschichten
._^ kj i^ -o i.y Google
— «9
getreu nach den Oberlieferungen und sum Teil'
nach der Erinnerung gezeichnet, besonders jener
letztgenannte Grossvater, der alte patriarchalische
Senator Johannes, der „Herr Ehni*' de» Dichters»
der als Stebenundachtsigjähriger wenige Tage
yor seinem Tod in Gregenwart seines Enkels Her-
mann beim Scheibenschiessen den Meisterschuss
tat. Diesem liebenswürdigen Greis wird eine an
den Jünger Johannes erinnernde Sanftmut nach-
gerühmt, w^che Eigenschaft bis dahin nicht zu
den vorwiegenden Stanunesmerkmalen gdbSrte.
Züge von ihm finden wir später in der heimeligen
Crestalt des alten glockengiessenden „Amtsbürgcr-
meisters'' der ,^eimatjahre'' wieder» dem sogar
ein verstecktes Kennseichen beigegdben ist: die
Zinnbecher, aus denen der Wackere seine Gäste
labt, tragen das Kurtzsche Familienwappen, den
Löwen, der auf dem Dreiberg steht. Es liegt ein
unwiderstehliclier» aus dem Gemüte fliessender
Zauber über der Schilderung seines Heimwesens
— „eine Heimstätte, wo wir ewig verweilen möch-
ten,*' nennt es der geistvolle Kitmberger in seinen
^Literarischen Herzenssachen^.
Vom Ururgrossvater bis sur unvergesslichen
„Frau Dote" hat der Dichter vier Generationen
seiner Familie in ihren Eigenheiten und ihrer Um-
gebung geschildert ; ihnen schliesst sich noch das
Bild vom alten Vaterhause seiner Mutter in Tü-
bingen aot das im ersten Buch der „I>enk- und
Glaubwürdigkeiten" so lebendig gezeichnet ist.
Über die eigenen, früh verlorenen Eltern aber geht
2*
._^ kj i^ -o i.y Google
— 90 —
der Dichter mit wenigen eingestreuten Worten
faach Idnweg ; woM ntcht, weil ilm sem Gedächtnui
auf diesem Punkt im Stiche Hess» sondern eus
einer Scheu des Gefühlslebens, die ihm gerade
über die Nächsten und Teuersten den Mund
verschioss. Es waren auch keine Erinnerungen so
hefier und freudiger Art» die ihn mit dem eigenen
Vateiliaus verknüpften«
Sein Vater Gottlieb David Kurtz, der schon
im dreiundvierzigsten Jahre an der Schwindsucht
Starb, war dn Mann von vorwiegend geistigen
Interessen, ein heller Kopf, dabei glühender Ver-
ehrer Schillers, der glückfich war, wenn sein be-
gabter Ältester schon als kleiner Junge Schille-
rische Balladen und andere Gedichte rezitierte.
Aber er hatte den kaufmännischen Beruf ohne
innere Neigung erwählt, und dieser brachte ihm
kein Glück ; da er nun obendrein selbst eine Fort-
schritts- und Dissidentennatur war, sich auch
durch einen Aufenthalt in der Schweiz grössere
Oeaichtspunkte angeeignet hatte, konnte es ihm
in der stockenden Enge seiner heimischen Ver-
hältnisse nicht allzuwohl sein. Er wurde ein
Parteigänger seines unglücklichen Landsmanns,
des „Weltverbesserers" List, und spann dal)ei
nach dem Zeugnis seiner Gattin , Jeeine Seide".
Wie der grosse Nationalökonom um jene Zeit in
seiner Heimatstadt angeschrieben war, beweist
des Dichters Bericht, dass, wenn er in der Knaben-
^t sich irgendwie nicht in den hergebrachten
Schlendrian fügen woUte, erschreckte Basen ihm
._^ kj i^ -o i.y Google
zu drohen pflegten : „Wart, dir wird es gehen wie
dem Listi'^ — Durch unglückliche Untemehmun«
gen kam mein Grostvater um den gröesten Teil
seines Vermögens. Der Kummer über dieses
Missgeschick, zu dem sich das körperliche Leiden
gesellte, verdüsterte seinen frühen Lebensabend
und trübte den Humor, der als Familiensug auch
Ihm nachgerühmt wird. Darunter hatte die
Jugend des Sohnes zu leiden. Die beiden waren
ganz geschaffen, sich zu verstehen, aber wie es
häufig zwischen einem reizbaren Vater und einem
lebhaften Sohne su gehen pflegt, sie fanden den
Weg nicht su einander. Zwischen dem kränk-
lichen, verstimmten Mann und dem begabten,
temperamentvollen Knaben kam es häufig zu
Missverständnissen, die noch in der Seele des
Sohnes schmerzlich nachzitterten, als er selber
ein gereifter Mann war. Als düsterster Schatten
aus seiner Jugendzeit begleitete ihn die Erinne-
rung an des Vaters Sterbestunde. £s war am
13* April z8a6, dass den Ladenden in Gegenwart
der Seinen der Tod ereilte. Man glaubte ihn
schon verschieden, und der zwölfjährige Sohn
Hermann hielt ihm ein Licht an den Mund, um
zu sehen, ob er noch atme. Da Öffnete der
Sterbende noch einmal die Augen und liess einen
grossen Blick über ihn himoUen, in dem das er-
schrockene Kind einen Vorwurf über diese letzte
Störung zu lesen glaubte. — Des Vaters unbe-
befriedigendes Schicksal muss dem jungen Her-
mann Kurz vor allem vorgeschwebt haben» als
— 22 —
er im Jahr 1841 einem neugeborenen Neffen die
Verse schrieb;^)
Dtt bist, 0 Kind, roa einem Stamme,
Dem es noch selten hier gelang»
Ein schOner Stern var seine Amme»
Doch leider stets im Untergang.
Die einen sind im Sand versunken,
Von dumpfem Missgeschick bedrängt,
Die andern sind im Schlund ertrunken.
Vom jähen Mut dahingesprengt
Stets unvollendete Geschicke,
Der Anfing gross, das Ende klein I
Wird das so hldhen mit dem Glficke?
Das Halbe nie ein Ganzes sein?
Sei du es denn, in dessen Leben
Vollendet ist der Väter Haus,
Dein, dein sei unser ernstes Streben,
Und fuhr es du ans Ziel hinaus.
Dir sei's, mein Uehling, sum Gewinne,
Was edel war an uns und echt,
Du unser Elte und beginne
Ein neues glficldlches Geschlecht
Dieselben Gedanken und Empfindungen hatte
er schon drei Jahre früher in einem Brief an
Eduard Mörike ausgesprocfaen:
„Dieses Missliiigen nämUch, von dem ich sagte,
scheint den Meinigen — von der gegenwärtigen
Generation lässt sich noch nichts sagen — an-
geboren : mein Vater hatte die grössten Ansprüche
auf ein gelungenes Leben und ist bitter getäuscht
worden ; und ebenso ist es mit Onkeln und Vettern
') Ungedrackt
._^ kj 1^ -0 i.y Google
— aa —
gegangen: die einen tangten gar nicht in die
Welt» die andern haben mit dem betten WiUen
und Verstand nichts Gescheites herausgebracht
(ich kann sagen just die, die den Familien Charak-
ter entschieden an sich trugen; an Indifferenten
hafs nicht gefehlt» die vorwflrts gekommen sind)»
80 dass i^ch einer, der das in sdnem Blute fOhlt»
oft fragen mag: wird dieser Typus so fortdauern
oder kommt zuletzt einer, dem Fortuna das gibt,
was sie seinen Vorfahren so oft hinhielt und wie-
der surückzog?'* — J en^ Neff^ dem er die un
selben Brief erwähnte» sauer zu verdienende „Voll-'
cndung" zugedacht hatte, sollte ihrer freilich nicht
teilhaft werden» denn er starb im frühen Kindes-
alter.
Ich gestehe» dass ich den auch sonst in der
Familie verbreiteten Aberglauben» als ob Ihre
Glieder zum Unheil prädestiniert seien, meiner-
seits nie begriffen habe. Ich weiss freilich nicht»
wer die »»im Schlund Versunkenen" sind« Die von
dem Dichter geschilderte Ahnengalerie sdgt lau-
ter Charakterköpfc, die sich mit ihren Eigenheiten
und ihrem Willen durchzusetzen wussten. Um
Hermann Kurz' dornenvolles Dichterlos zu er-
klären» bedarf es keines besonderen Familien-
unstems» die politischen und sozialen Konstellatio-
nen seiner Zeit und seines kleinen Vaterlandes
genügen dazu vollauf. Und wenn Goethe recht
hat, dass das höchste Glück der Erdenkinder die
Persönlichkeit ist» so darf sich dieses Geschlecht
sogar ein begünstigtes nennen» denn es hat mallen
._^ kj i^ -o i.y Google
«4 —
Zeiten starke Persönlichkeiten hervorgebracht*
Ich will von der späteren Generation* neben dem
Dichter «dbstt nur icinen Liebüngavetter» den
eldgenösflischen Obersten und Pfttsidenten des
Berner Grossrats, Albert Kurtz nennen, von dem
er uns Kindern gern das kühne Stück erzählte,
dass dieser; als einst in Bern ein Engländer sidi
in angetrunkenem Zustand in den städtischen
Bärenzwinger hinabgelassen hatte, den Unseligen
mit eigener höchster Lebensgefahr der fürchter-
lichen Gesellschaft entriss» freilich schon zer-
fleischt und als Leiche.
War die Stellung zum Vater eme schwierige
so stand der Knabe seiner Mutter um so inniger
nahe. Sie war eine Tochter des aus westfälischer
Familie stammenden akademischen Buchdrucker-
herm Schramm aus Tübingen» eine zarte^ stille»
sinnige Natur» von der nach den Aufzeichnungen
des jüngeren Sohnes der Dichter die feine Auf-
fassung menschlichen Wesens und Treibens und
die Milde des Charakters geerbt hat, während der
lioetische Sinn vom Vater stammen soll. Ob sich
das letztere so ohne weiteres behaupten lässt,
möchte ich jedoch bezweifeln. Dass mein Gross-
vater dem phantasievoUen Knaben die Romane»
die dieser wirr durcheinander las» aus den Hän«
den nahm oder vielmelir riss und ihm dafür Reise»
beschreibungen und dergleichen unterschob» zeugt
zwar von pädagogischer Weisheit und von gutem
Geschmack, und dass er den Aberglauben in jeder
Gestalt verfolgte» macht seinem Verstand £hre;
^ kj i.y Google
Der Buchdruckerherr Schramm mit Frau und Kindern,
worunter als Jüngstes die Mutter des Dichters
2$ —
dass er aber den Rationalismus so weit trieb»
auch mit den alten „Volksbüchern" in Fehde zu
li^^eot spricht gerade nicht für poetischen Sinn.
Dass das eigentlich Poetische dennoch von Seiten
der Schwertmagen stammt, glaube ich aber gerne,
denn die Pfarrerin Kenngott, bekannt unter dem
Namen der ^rau I>ote'', des Kaufmanns David
Kurts älteste Schwester, die die «weite Ersieherin
des Dichters wurde, war selbst dn lebendiges
Historienbuch und besass daneben eine so grosse
Pliantasie» dass dieser ihr im „Witwenstübchen"
sagen konnte: »Ich weiss, wie schnell du ein Mär*
chen susammenbringst, wenn man eins von dir
haben will." Von dieser köstlich frischen, tem-
peramentvollen Frau mit der imversiegbaren
Laune und dem drastischen Mutterwitz» deren
Wesen» freilich in vi^ engerem Rahmen und unter
viel bescheideneren Formen, mannigfach an die
berühmte „Frau Rat" erinnert, ist augenschein-
lich die Lust am Fabulieren in die Familie ge-
kommen und der flumor« der die Welt überwin*
det. Dagegen ist der sichere psychologische In-
stinkt, der sich oft in den Briefen der Mutter
Kurtz ausspricht, dem Romandichter als schätz-
bares KunkeUchen zugefallen. Hinter der kraft-
vollen Silhouette der Frau Dote tritt freilich die
Mutter des Dichters mit ihren zarten, fast hin-
gehauchten Linien etwas zurück, aber eine un-
bedeutende Frau ist sie darum keineswegs ge-
wesen. Bei aller Zartheit zeigen ilure Briefe eine
grosse Selbständigkeit des Denkens» so besonders»
._^ kj i^uo L.y Google
— a6 —
wenn sie ihren Henxiann wiederholt ermahnt, sich
auch der neueren Sprachen xa befleiasigen, da er
sie einmal nötig haben IcGmie» und vor allem den
Widerwillen gegen das Französische zu über-
winden, das nun einmal Weltsprache sei. So
weit dachte niemand in ihrer Umgebung. Auch
fSn empfindliches ästhetisches Gefühl ist ihr
eigen: einmal prasselt sie in helle Entrüstung auf,
als der ebenso fein geartete Sohn sich vorüber-
gehend in einer roheren Ausdrucksweise gefällt,
womit die Kameraden ihn angesteckt haben, und
vom Klarinettblasen x^t sie ihm ab aus demselben
Grunde, weshalb einst Alldbiades die Flöte ver-
warf.
Beide Söhne haben die Prühverstorbene als
ein stilles, rührendes Heiligenbild verehrt; von
ihr wurde in der Familie auch der aristokratische
Zug in der Natur des Dichters abgeleitet. Sie
hatte eine für ihre Zeit und ihren Stand durchaus
nicht gewöhnliche Bildung und schrieb mit
fliessender gleichmässiger Hand — im Gegensatz
zu den seltsamen Kratzfüssen und dem fossilen
„Gotisch" der Frau Dote — ein modernes, fast
reines Deutsch. Auch ihre jüngere Schwester, die
im Jahre 1863 verstorbene Pfarrerin Mohr, von der
noch eine Erinnenmg wie ein blasser Schein in
meine eigenen Kinderjahre fällt, hob sich durch
ein feineres und vornehmeres Wesen von ihrer
Umgebung ab, soll jedoch der Schwester nicht
gleichgekommen sdn. Von diesen Jugendein-
drücken schreibt sich jedenfalls des Dichters Vor-
._^ kj 1^ -0 i.y Google
— «7 —
liebe für zarte weibliche Naturen her, die in ge-
drückten VerliiltiiiiMn ihren angeborenen Adel
bcfwahren. Solche spürte er im Leben gerne auf
und hat ihren Typus auch im „Weihnachtsfund**
in der sanften und fast seherisch tief blickenden
Gestalt der Schusterin geseichnett die «wischen
den derben Figuren der Umgebung hervorschim-
mert wie eine in grobes Gestein eingesprengte
Goldader. Trotz der geringen Sorgfalt, die da-
mals auf die Mädchenerziehung verwendet wurde»
hatte der dvis academicus Schramm erUirt, dass
jede seiner sechs Töchter etwas lernen dürfe, ent«
weder Malen oder Musik ; meine Grossmutter mit
zwei andern Schwestern hatte das Malen gewählt,
was ihr denn als Witwe» freilich in bescheidenster
Form, sugute kommen soUte» da sie durch An«
malen von Bilderbogen (zu zwei Kreuzern pro
Stück?) einen kleinen Zuschuss erwarb, wobei ihr
der jüngere Sohn Emst, wenn er die Schulauf-
gabm fertig hatte, des Abends noch ein paar Stun-
den behilflich war. Es gibt ein rührendes, alt**
väterisches Familienbild, sich die beiden, Mutter
und Sohn, bei der Öllampe oder dem Talglicht
über ihren Bilderbogen zu denken, wie sie mühsam
ein paar Kreuzer zusammenverdienen, das
Taschengeld für den begabten Altesten, der
damals schon als Zögling in der Maulbronner
Klosterschule sich auf das theologische Studium
vorbereitete.
Der Dichter charakterisiert das Wesen seiner
Mutter in wenig Worten, indem er sagt, dass sie
._^ kj i^ -o i.y Google
— 38
alle Eigenschaften zur Führerin des heranwach-
senden Jünglings gehabt hätte» dass es ihr aber
bei ihrer Müde und Sanftmut i^inslich ita der
Schneide gebrach, die einem Knaben gegen«
über erforderlich ist. Deshalb rief die Witwe in
schwierigen Fällen, wo die mütterliche Autorität
nicht ausreichte, die im Nachbarhauae wohnende
Schwägerin Kenngott auhilfe» die das Regieren
von Grund aus verstand. Mit welch anmutiger
Überlegenheit die alte Frau dabei zuwege ging,
ist im „Witwenstüblein" zierlich dargestellt. Des
Autors auafölurliche Schilderung seiner Schulnöte
und wie schalkhaft klug die Frau Dote als
strickende Muse seinen lateinischen Pegasus zum
Wettlauf anfeuerte, hatte Heyse in seiner Aus-
gabe der Gesammelten Werke aus künstlerischen
Gründen geopfert, und es hätte vielleicht dabei
sein Bewenden haben dürfen« weil die Haupt-
geschichte, von diesem Gestrüppe befreit, sich
wirksamer abhebt. Fischer hat die gestrichenen
Stellen und damit die etwas beschnittene Gestalt
der Frau Dote wieder er^^hist ; was die Kunst da-
bei verliert, hat die Autobiographie gewonnen.
Vielleicht ist dieses Kapitel auch kuiturgeschicht*
lieh nicht ganz unwichtig; es zeigt, wie sauer
unsem Vätern der Weg zur Schule gemacht wurde
und was die gute alte Zeit, aus der Nähe gesehen,
für ein knochenhartes Gesicht hat. Mit Grausen
erinnere ich mich gewisser Massenexekutionen in
der Schuld von denen mein Vater in der Erinne-
rung selbst noch grausend erzählte.
._^ kj i^ -o i.y Google
— 99 —
In dem halb klösterlich, halb miUtärisch ein-
gterichteten Seminar dauerte die strenge Zucht»
wenn auch natürlich ohne köcperliche Strafen»
fort; wie ihr der Jugendübermnt an allen Ecken
und Enden Schnippchen schlug, ist in den
,Jugenderinnerungen*' ergötzlich zu lesen. Noch
ausführlicher &at der Dichter das Maulbronner
TMbcn in dem fritteren ScUnss der Jbeiden
Tubus" dargestellt. Manche der dort eingefloch-
tenen Anekdoten habe ich ihn als selbsterlebte
erzählen hören, wie überhaupt in allen seinen
Schriltent den einzigen 9»Sonnenwirt" vi^eicht
ausgenommen» ein gut Stück Autobiographie ver-
woben ist.
Ein frischer, geistig angeregter Zug ging durch
die ganze Promotion,^) der Hermann Kurz an-
gehörte» und die weltabgeschiedene Lage des alten
schönen Klosters inmitten tiefdunkler Wälder»
seine herrlichen, damals etwas verfallenen Bau-
lormen, regten den Hang ztur Poesie und Roman-
tik mächtig auf . Nicht nur zu solchen nächtlichen
Abenteuern vne den Kletterpartien über die
Dächer und der Entdeckung des berüchtigten
Blutflecks an der Mauer in Dr. Fausti Gemach
(zu welchem Fund jedoch Mutter Kurtz ketzerisch
bemerkte: »»Ich glaub's gewiss nicht» dass den
Paust der Teufel geliolt hat**) taten sich die
^) Unter Promotion versteht man die Abiturienten
einer Altersklasse des niedrigen Seminars, die gemeinsam
snr Hochschule abgehen; auch diese Altersklasse
schlechtweg.
._^ kj i^ -o i.y Google
zusammen ; man pflegte auch
ganz in der Sülle ideale Interessen, die im Seminar
als Allotria verpönt waren» und mancher, der spä-
ter ein xahmer Philister werden sollte, hat da-
mals munter semen Pegasus mitgetummelt. Da
wurde ein MMauIbronner Musenalmanach'* geführt,
zu dem die mehr oder minder begabten Mitarbei-
ter ihr Bestes an Poesie oder Witz beigesteuert
haben. Von den darin verewigten Namen ist nur
der des „Primus^ Eduard Zeller, des nachmaligen
Berliner Philosophieprofessors, der Öffentlichkeit
bekannt geworden. An denselben Zeller ist ein
launiges Gedicht meines Vaters gerichtet, worin
sich die Strophe findet:
»Zeller, lieber ^Seiler, sage.
Was ich in dem Herzen trage,
Dean die Philosophen können
Alles was es gibt benennen.**
Beweis, das jeder von den beiden Siebzehn-
jährigen seinen künftigen Beruf vorausgenommen
hatte. Der Almanach ist zwar von meines Vaters
Hand geschrieben, aber die Kinder seiner eigenen
Muse enthalt er nicht; diese, die neben den dilet-
tantischen Versuchen der andern schon die
Löwenkralle zeigen, stehen in einem besonderen
Heft; darunter sogar einige seiner besten lyrischen
Sachen neben andrem ganz unreifem, wie es dem
Alter des Verfassers entsprach« Aus seinem spä-
teren rückblickenden Gedichte „Maulbronn" sidit
man, welcher Vorfrühling diese zeitigen Blüten
herausgelockt hat.
._^ kj i^ -o i.y Google
— 31 —
«Aber nachts, wenn alle schliefen, wacht' ich bei
der Lampe Licht
Forschend in des Lebens Tiefen, denn die Ruhe kannt'
ich nicht.
Doch es kam ein Frübgewitter über meinen Lebens-
traum,
Und ein Doppelregenbogen stand an meines Himmels
Saum.
Lieb und Freundschaft, wie erhellten sie mein dunkles
Herz zugleich!
Wie mit Leid und Freude machten sie mein armes
Leben reich!
Und in manchem leisen Liede löst' ich dunklen Herzens-
drang,
Das in scheuen Tönen zwischen fernem Waldgebüsch
verklang. — **
Der liebebedürftige Jüngling hatte sich nach
einigen vorangegangenen Entüluschungen mit
dauernder Neigung seinem gleichaltrigen Stu-
bengenossen Edmund Bilhuber angeschlossen, mit
dem er Bett an Bett schlief. Von dem Freunde,
der auf seine poetischen Interessen einging und
sich auch nachmals yeracMedentlich an sdnen
metrischen Ubersetzungen beteiligte, wurde Her-
mann Kurz je und je zum Maienfest oder über die
Weihnacht^erien in sein Elternhaus nach Vai-
^) Hier finden sich in der ersten Ausf sbe der Ge-
dichte vott 1836 die Zeilen:
Wenn ich denke, wie als Gast ich weilf in ihrem
lichten Htus,
Sprech' ich beide seufeend immer noch mit Einem
Namen aus.
Das slidile Hans'* der Lielie und Freundschaft war —
die hellfeib aagesnichene Apotheke von Vaifainfen,
._^ kj i^uo i.y Google
32
hingen mitgenommen, wo der Vater Apotheker
war. Dieser, ein Uterariach ang^uchter und
aehr iRrohlgelaunter Mann, pflegte den jungen
Dichter dadurch in Harnisch zu bringen, dass er
die im Literaturblatt abgedruckten Angriffe Men-
zels auf Goethe ^niederholte und eifrigst ver-
teidigte, was dann heftige Kontroversen hervor-
rief. Dort lernte er die drei Schwestern des
Freundes kennen, und der ältesten, Luise, widmete
er seine ersten und vielleicht emstesten poetischen
Huldigungen. Der Scha^plats dieses gans aus
Illumon gewohcnen Jugendglücks hat aich dem
Dichter tief ins Herz geprägt; die Enz, die jenes
Tal durchzieht, rauschte noch mächtig in seiner
Phantasie, als er die „Heimatjahre'' schrieb; das
Lottchen dihrf te die idealisierten Züge der Jugend-
geliebten tragen. Auch die Lieder, in denen sich
der „dunkle Herzensdrang*' löste, sind nicht alle
verklungen; die besten davon wie „Bei dem lieb-
lidisten Gesciiäfte" und „Stille^ stille'' finden sich
noch m der neuen Ausgabe. Ebenso wie die Un-
ruhe emer ersten Ceidenschaft trieb den Jüngling
das Gären und Wogen der Dichterphantasie um-
her und der Unmut, sich bei dem eisernen Stun-
denplan der produktiven Stimmung nicht hin<*
gehen zu dürfen. Einige ungedruckte Gedichte
aus dieser Zeit lasse ich als kldme Nachlese am
Schluss des Kapitels folgen, darunter der Merk-
würdigkeit halber ein schwäbisches Sonett, wohl
das erste» das in dieser Mundart gedichtet worden
ist, wie der Verfasser selbst v eimul e u Man er-
._^ kj i^ -o i.y Google
— 33 —
warte keine reingeschliffenen lyrischen Edel^
steine; nur als Zeugnisse des Werdens haben diese
Gedichte eines Siebsehnjährigen für die Nach-
lebenden ihre Bedeutung.
Der Freiheitskampf der Polen regte in der
politischen Stille jener Tage das Gemüt des deut-
schen Volkes mächtig auf. Unsre Maul bronner
Jugend spendete der unterliegenden Sache nicht
nur reichlichen poetischen Tribut^ sie verband
sich auch zur werktätigen Ünterstfitsung der
Flüchtigfen. Die Zöglinge veranstalteten Auk-
tionen, wo dieselben Gegenstände zwei- bis drei-
mal verkauft wurden; auch Konzerte und eine
Theateraufführung „zum Benefiz der edlen Po-
Ionen" fanden statt. Hermann Kurz, damals
ein schmächtiger, lang aufgeschossener junger
Mensch, spielte in Körners »»Banditenbraut" die
Titelrolle*
Aber das junge Talent mit seinem wühlenden
inneren Leben und seinem starken Unabhängig-
keitstrieb konnte sich in die starre Klosterdiszip-
lin nicht finden, und seine häufigen Verstösse
zogen ihm das Misswollen der Lehrer zu, ob-
gleich gegen seinen Fleiss und seine Fortschritte
nichts einzuwenden war. Insbesondere ein Re-
petent namens Hartmann« ein nicht unedler, aber
jähzorniger und nervös aufgeregter Bfann» war
ihm aufsässig, und es schien eine Zeitlang, als
habe es dieser „tiran", wie ihn die Frau Dote in
ihren Briefen nennt, darauf abgesehen, den Aus-
schluss des unbotmässigen Zöglings zu veran-
Isolde Kurs, HenMim Kun. %
._^ kj i^uo Google
— 34 —
Imssen. Es regnete auf den ObelangdBommenen
mit Noten und Karzerstrafen, die alsbald nach
Reutlingen berichtet wurden und beide Witwen-
stübchen in Angst und Aufruhr setzten«
Zu dem raschen Wesen des Jünglings stehen
die angstvoUen Mutterbriefe, die der Sohn pietät-
voll aufbewahrt hat, in wehmütigem Kontrast.
Wie quält sich die arme Frau um die Entwick-
lung und Zukunft des Wildlings^ wie glücklich
ist sie» wenn seine Briefe ihr die Hoffnung geben,
dass jetzt ein sanfterer Geist in ihn eingezogen
sei i Sie sucht ihm das Wesen seiner Lehrer zu-
rechtzulegen» die sie doch nur aus seinen Schü-
derungen kennt, sie rät dem Ungestümen vom
übereilten Preundscfaaftschliessen ab und warnt
vor falschen Kameraden, die sie mit feinem In-
stinkt aus der Feme durchschaut. Gewiss ist
das Gedicht:
JUlonika die bange Mutter
Afigiistins des Stolzen» Hoben
aus der Erinnerung an diese Ängste geboren. —
Einmal hat er sich gar eine Pfeife angeschafft!
Eine Pfeife» die unnützes Geld kcMitet, während
er weiss» dass das Rauchen im Seminar aufs
strengste verboten ist, ja mit Ausschluss aus der
Anstalt bestraft werden kann. Aber die Kame-
raden haben ein heimliches Rauchkonventikel
eingeführt» und wer sich entzieht» wird als Kopf-
hänger verspottet. Schweres Dilemma für ein
Jünglingshcrz I In einem vier Seiten langen,
tränenüberströmten Brief lässt die Mutter Hölle
._^ kj i^ -o i.y Google
— 35 —
und Himmel auf ihn einstürmen. Und damit nicht
genug; auch die Dote mit ihrem Ur- und Kem-
dcutich rückt diesmal zur Untenttttsimg d«:
Schwägerin heran. Mit ihrer erstaunlichen Pfote
und einer ganz unerhörten Orthographie schreibt
sie dem jungen Sünder:
»bei deinem ab' Schied war ich so vergnüt
und Sagte zu dir» ietz hab ich Iceine Sorgen mehr
über dich aber es hat nicht lang gewehrt, so
kommen sie mit Haufen. Warum bist du wie-
der ins Katzer ^) gekonnen, was hast du ge-
than um Gottes willen« wen du noch Einmal
darein fconns^ so vmrst du hin aus geworfen»
was wehre das for ein unglick for dich u. deine
1. Mutter u. 1. Ernst u, d. par Tag wo ich noch
leb. es ist doch zu arg was du uns for ianuner
Machst. Das hat viel tränen ver urschat') u.
noch eine Pfeife gekauft u. keine Eigenen i +
(Kreuzer) dar zu gehabt, u. eben das Hinaus
werffen dar auf gesetz ist, es Scheint mir bald
volP) als thaste^) du es dar auf. kein grösser
un glück läss sich denken vor dich u« deine so
zärtzlich Matter, die hlos vor Ihre Kinder
lebt u. für ihr wohl. — **
£in andermal bei ähnlichem Anlass fasst die
Dote sich kürzer und rät ihm nur aus ihrer
Ldienskenntnis heraus:
„Was andere thun das du ia Selber nicht
vor gut halst tu es ia nicht. Dir nimms man
vor übeler auf als die Reiche KerL"
0 Karzer *) venirsaeht ^ beinslie, titett
._^ kj i^uo Google
36 -
Uui A und O der mütterlichen Krmahniingeii
ist das Sparen. Sie empfteldt ihm, den Wadi»-
stock nicht unnütz zu verbrennen, denn er hat
vierundzwanzig Kreuzer gekostet! und auch das
Siegellack auf dc^ Briefen besser za sparen —
die »»verpetschirten Briefe'' ersümen sie ohne-
hin, weil sie nicht schnell genug zum Inhalt kom«
men kann. Diese Sorge für das Allerkleinste
darf man nicht mit Kleinlichkeit verwechseln;
bezeugt doch auch der in viel glücklicheren Ver-
hältnissen aufgewachsene Robert v. Mohl in
seinen „Lebenserinnerungen", dass man im alten
Württemberg nicht durch Einnahmen, sondern
durch Nichtausgaben wohlhabend wurde oder
wenigstens die Lebensforderungen befriedigen
konnte. Wenn dies von den Familien der Ge»
heimen Räte und Präsidenten gilt, so kann man
daraus den Rückschluss auf das Witwenstübchen
meiner Grossmutter ziehen. Sie kargt und
darbt denn auch, wie es nur dne Mutter fertig
bringt, sie „malt sich fast blind", um ein paar
Kreuzer für ihn zu erübrigen, der kleine Bruder
steuert gelegentlich sein eigenes Erspartes bei,
und dann beben beiden ob der Strudelkopf das
Geld auch richtig verwende. Dieser tut sein
Bestes, aber ein Spargenie wie die andern Fami-
lienglieder ist er nicht. Immer wieder lässt er
sich kleine Ausschreitungen zu schulden kom-
men» die er zwar reuig selbst bekennt, aber um-
sonst, die Versuchung zum Splendidsein über-
wältigt ihn stets aufs neue. Zuweileo droht die
._^ kj o^ -o i.y Google
arme Frau, ihm die kleinen Subsidien ganz zu
entziehen, aber sie bringt es nicht übers Herz,
und am Schlust des Briefes legt sie dann doch
wieder ihren Taler em. Dass der Jüngling eines
Tages solch einen sauer gesparten mütterlichen
Taler in einem Biergarten der aufwartenden
Hebe als scheue Huldigung unbemerkt ins
Schürzentaschchen gleiten Uess» das hat sie xam
Glück nie erfahren! Rasch sdirte der Druck des
Lebens diesen zarten Organismus auf. Zwar so-
bald ein Sonnenstrahl in ihr trübes Dasein fällt,
so bricht auch ihr jugendliches Gemüt wieder
durch, sie ist imstand» sich höchlich an einem
Seiltinser su ergötzen und wünscht «eh die
Freude, bei einer Hochzeit in der Verwandt-
schaft noch einmal mit ihrem Hermann zu tan-
zen» aber mit vierzig Jahren neigt sich schon ihr
Leben zu Ende.
In ihr letztes Jahr fiel die Hinrichtung des
Helfers Brehm,^) jene schauerliche B^ebenheit»
die F. Th. Vischer unterm Namen »Scharten-
maier'' im Bänkelsängerton besungen hat. Ihr
jüngerer Sohn wurde mit der Übrigen Schul-
jugend nach der wilden Sitte der Zeit zum Zu-
*) Der Prozess des HUfegeistlichen oder »Helfers*
Brebm war zu seiner Zeit eine ctuse c^ldbre^ von der
beute wohl nur noch wenige vissen. Der unglfieidlche
Vikar hatte das neugeborene Kind seiner Magd, mit der
er ein Uebesverbiltnis unterhielt^ belidte geacbafit und
wurde wegen Klndsmorda zum Tode yerurteilt. Als er-
schwerender Umstand fiel ins Gewicht dass er Geist-
lieber war.
._^ kj i^ -o i.y Google
3» -
achaucn konunandiert, woran er noch äli alter
Ifann mit Entsetzen dachte. Für die femfühlige
Frau, die viel humaner empfand als ihre Zeit,
war das ein fürchterlicher Tag, wie achon der
ganae Proaeaa» Über den aie ihren Altesten Im-
mer auf dem laufenden hielt, ihr mit der Mensch-
heit ganzem Jammer zugesetzt hatte. Und angst-
voll war ihr vor dieser schauerlichen Mahnung
der Zweifel aufgestiegen» ob ihr Sohn denn wirk-
lich zum Geistlichen auch den inneren 6eru£
habe. Als wire sie hellsehend geworden, wirft
sie schon jetzt die Frage auf, die den Jüngling
wenige Jahre später in so schwere innere Kämpfe
stürzen sollte.
Während Mutter und Sohn die Tage bis zu
den nächsten Ferien zählten, lauerte schon der
Tod, das Wiedersehen zu vereiteln. Am i6. Fe-
bruar 1830 wurde die Liebevolle ihren verwaisten
Söhnen entrissen.
Da sie nie von ihren Leiden sprach, und der
letzte Brief, der vierzehn Tage vor ihrem Tode
geschrieben ist, noch mit derselben Sorgfalt auf
alle kleinen Einzelheiten eingeht, muss der Schlag
den abwesenden Sohn ganz unvorbereitet getrof-
fen haben. Er überfiess sich der leidenschaft-
lichsten Verzweiflung, so dass der jüngere Bru-
der ihn trösten musste. Dieser, dem Verhält-
nisse und Anlagen eine vid bescheidenere Lauf-
bahn bestimmten» sah stets mit Bewunderung zu
den glänzenden Gaben des älteren auf, war aber
bei seinem gelassenen, gleichmässigen Tempera-
._^ kj 1^ -0 i.y Google
— 39 —
meat und aaiiMfii friedliclicn Lebenslang öfter in
der Lage, jenem eine Stütze zu sein. Ein
liebevolleres, neidloseres Bruderherz hat es nie
gegeben. Der Ältere erwiderte die brüderliche
Liebe nut der gleichen Anhänglichkeit und liess
den Jüngeren an seiner geistigen Fülle teO«
nehmen, so weit es die getrennten Lebenswege
gestatteten« Die Brüder sind sich denn auch
lebenslang in unwandelbarer Treue verbunden
geblieben; der Jüngere, der selbst ehi anmutiges
poetisches Formtalent besass und mit grösstcr
Leichtigkeit launige Gelegenheitsgedichte schrieb,
hat das Schaffen des Dichters, wie er selber sagt»
„mit Andacht'* verfolgt» er hat ihm in schweren
Zeiten ein Asyl in seinem Hause geboten und ist
später dessen Hinterbliebenen ein treubesorgter
Berater gewesen, bis den Hellen, Freundlichen sel-
ber unerwartet ein düsteres Verhängnis wegriss.
Nach dem Tode der Mutter trat die Frau
Dote mit ihrer ganzen Person in die Lücke. Sie
nahm den Knaben Emst unter ihre warmen Fit-
tiche, bis er etwa fünfzehnjährig bei seinem spä-
"teren Schwiegervater» dem Stabsamtmann Fa-
ber^) als Insipient die Notariatskarriere betrat.
Ihren Hermann, der ihr Augapfel war und blieb,
bemutterte sie aus der Entfernung, sorgte für all
seine kleinen Bedürfnisse und setzte ihm den
^) Dieser Faber tritt in den „Heimatjahren,* deren
Episodenreichtum ja vielfach auf Überlieferungen beruht^
als der Nürting^r Lateinachfiler mU^ der dem vom Herzog
geschossenen Hasen den kunstgerechten Genickfiuig gibt.
._^ kj i^ -o i.y Google
— 4Ö —
Kofi xurecht^ wenn er sich in die Menschen nicht
schicken wollte. Es lässt sich kein liebenswür-
digeres Verhältnis denken, als das zwischen der
einfachen alten Frau und dem genialen hoch-
strebenden Jüngling, zu dessen ihr kraus dünken-
den Wegen sie nie das Vertrauen verliert« dass
es die rechten seien, weil es ja die seinen sind, —
und der seinerseits mit den gärenden Welten
im Hirn doch immer den Respekt vor der schlich-
ten ungelehrten Menschlichkeit seiner alten Pfle-
gerin bewahrt. Übrigens kam er mit seinen Vor-
gesetsten besser surecht, sdt jener Hartmann»
der sich nach und nach mit der ganzen Promo-
tion verfeindet hatte, vom Schauplatz abgezogen
war» imd statt seiner der junge David Friedrich
Strauss als Repetent Kolleg las. Dieser ent-
zückte schon damals durch seinen geistvollen
und lebendigen Unterricht die jungen Leute, die
er ein Jahr später auf der Hochschule abermals
als begeisterte Zuhörer setner philosophischen
Vorträge um stcfi versammeln sollte.
Im Herbst 1831 fand die Schlussprüfung statt»
die dem Zögling die Pforten des höheren theolo-
gischen Seminars in Tübingen öffnete. Als der
Maulbronner Freundeskreis sich trennte, schrieb
der junge Hermann Kurz einem Kameraden mit
Namen Scherber auf das erste Blatt seines Stamm-
buchs:
Die wir Jung und lebensfrisch
Hier in Scherbers Album hausen,
Werden einst an seinem Tisch
Als bekreuzte Blätter schmausen«
._^ kj 1^ -0 i.y Google
— 41 —
Grflss' icli denn hiermit den Trapp
Der noch kommenden Genossen,
Denn dereinst Im stillen Klub
Bleibt der Mund mir lest verschlossen»
Scheibera snch» den edlen Virt^
Grüss ich namens sller Glste,
Venn er mit uns schmaust und Uirrt
An dem stummen Totenfeste.
Wie charakteristisch ist dieser Stamnibuch-
vers für die überstarke Jugendkraft, die in ihrer
Lust am Gegensatz so gerne mit dem Todes^
gedankea spielt!
^ kj i^ -o i.y Google
Nachlese aus den Gedichten der
Maulbronner Zeit
Noch weiss ich einen schönen Ausenblick^
Ob alles auch mich krlnke,
Wenn ich «n dich gedenke.
So ftthl' ich GIfickl
Gleich kurzem Strahl aus trüber Wolken Grunde
War mit^s als eine flüchtge Weile
Ein schdnes liebes Hauf» in Eile
Zum Gruss an meines sich gedrückt:
Warum, so hoch beglückt,
Ach warum starb ich nicht in jener Stunde?
Nichts hab' ich heute aus dem Schacht
Zu Tag gebracht,
Doch hab' ich stets an dich gedacht.
Ich blicke aufwärts zu dem Glanz der Sterae
Und flüstre in die Ferne:
Mein süsses Leben, gute Nacht I
Poetisches Ringen.
Wie braust das Herz, wie wogen die Gefühle!
Es flutet mir, ein stark bewegtes Meer,
Das innre Leben treibend hin und her.
Die Klarheit sinkt in diesem Weilenspieiei
— 43 —
Aus dieser Stfirme ungestfinieiii Heer,
Ans diesem heftig schwankenden Gewfihle
O lenke mich ein Gott xa einem Zielet
In diesem Dring fühP ich mich seihst nicht mehr.
Vergebens! Nicht in Worte kann !ch's greifira.
Die Hand erfasst ein dunkles Schattenwesen,
Wenn innen die Empfindungen sich hAufen«
Nur in ein Ahnen will's zuletzt sich lösen,
Und dann umweht mich friedlich stilles Sehnen,
Und aus dem Busen quellen sanfte Trinen.
Sitz* ich so da, von Träumerei'n gebunden,
Bewusstlos irrend auf der Dichtung Saiten^
Gespinnst zusammenrollend aller Zeiten,
Das Aug' ins Blau des Weltalls hingeschwunden. —
Des Herz, getroffen und geheilt von Kunden,
Usst Bilderreih'n zu holdem Weben gleiten, .
Ahnungen, die auf IcQnflge Schöpfung deuten:
Des shid des Klosterlebens schönste Stunden!
Ein Walten regt sich dunkelhell am Himmel,
Es ist, als wollte fUlen eine Hfille,
Da steigt ein schönes Bild vom Meer der Klippen,
Es dringt durch das verschwindende Gewimmel,
Die Arme weit, geschwellt des Busens Fülle,
Und immer näher schwebt es zu den Lippen.
Wie schön, o süsse Freundin, wenn im Schweben
Des Geistes wir auf einem Weg uns finden.
Wie in des edlen Schachtes tiefen Gründen
Sich grüssen zwei in Einer Ader Streben*
._^ kj i^ -o i.y Google
— 44 —
Schlug nieht detn Herz in einem sfissen Beben,
Venn ein verwandtes Vort uns könnt* entzünden
Zu Eines Strshles seligem Verbinden»
Auf dem die Seelen sich zum Ätiier heben?
Da sind die Augen aus dem Buch geflogen,
Die Blicke sind in Einen Blick geflossen,
Zusammeneilend auf der Liebe Flugeiny
Zusammenschwimmend auf der Liebe Wogen,
Es ist, als war* ein neuer Bund geschlossen.
Und diesen darf doch woUl ein Kuss besiegeln?
Einsam, verbannt in eine leere Wüste,
Nah* ich zu eurem Tempel, teure Musen,
Und werf in eure Arme liebend mich.
Ich habe niemand, i^eine treue Brust,
Aus der ich Trost und Freude saugen Icdnnte.
Mit der ich Gluck und Unglück teilen dürfte;
Wohl hab' ich Freunde, aber keinen Freund!
Kein Herz ist, das mein Herz verstehen möchte,
Kein Geist, der auf den Schwingen der Gedanken
Mit meinem Geist den Flug vereinen wollte.
Ich wohne still^ ein Fremder unter Fremden,
In mich gedrängt, die Pflanze, die kein Baum
In seine Arme fassend schützt und hält.
Vater und Mutter haben mich verlassen
Und ruhen tief von dieses Lebens Müh'n.
Ich habe keine Schwestern, die mein Herz
Mit treuer inniger Liebe fest umfassten.
Seid ihr, o Musen, meine lieben Schwestern,
Und helft mir tragen alles, was mich presst;
In euren stillen Busen lasst mich's legen,
Wenn Glück den meinen schwellt, in eure Brust
Lasst mich vertrauensvoll den Kummer schütten^
Der mir ein Erbteil war seit Jahren schon.
._^ kj i^ -o i.y Google
— 45 —
Ich mu88 ja jemand haben, dam ich nicht
Veiigeh% Terschmachf in dieser Einsamiceit
Ein Vesen lebt» zu dem mein Herz mich zieht.
Nah ist*s und doch so fom» denn ich bin SIdave,
Galeerensldare» der die Kette sprengt.
Und dieses Wesen» euch o teure Schwestern,
Euch weih' ich diese liebliche Gestalt
In eurem Tempel stell' ich auf ihr Bild
Und knie schweigend in dem Heiligtum,
Das Haupt gesenkt^ der Priesterwdhe wartend,
Die vom Gemeinen rettend mich erhebt
Nun sind des Tages Stunden voll.
Verklungen auch ein halber Sang;
Wie mir doch heut der Busen schwoll
Im heissen Liederdrangt
Die Töne sind ins Herz gedrückt,
Erloschen ist des Liedes Licht,
Ich habe keine Blum' gephückt,
Warum? Ich durfte nicht
O Nachtigill, ich Drage dich.
Wer Yon uns 1>eiden edler sei?
Doch was bist du, und was bin ich?
Gefangen ich, du freil
Schwäbisches Sonett.
A's send mer oftmMs schö Gedanke komme.
Ob net mei Sprich zue fremde Miss dit passe:
Frobire kann e s \i; wills net guet lasse.
Ha ndl s dent id net seile ProbS fromme^
Jetz dächt ond dö ! i han mei Feder gnomme,
1 setz me nä ond wills jetz zsammefasse:
._^ kj i^ -o i.y Google
— 4« -
G&t s iiet em Ernst^ so kftnn i )« mit spaase;
Wort flndt me gnueg» nft braocht me not zverstomm^
Ond wie-n-e guck, so han c schu was gschriebc»
Ond vi,'ie-n-es les, s duet net so übel kleng^
So ben e denn äU net beim Ä'fang bliebe.
D Vors fliossot fort: des Dong wir fast zom Senge»
Ond g Sonnet ists nich selm gaazo "West,
I stand derflr, s ists erst en Schwftbe gwese.
Digitized by Google
Das blaue Genie
Aus dem Umstandt dass ihr dretjähriger Her-
mann, wenn die Mutter ihn Sonntags mit sich
zur Kirche nahm, nachher zu Hause auf einen
Schemel stieg und im Predigerton Verslein und
Gebetlein herunterschnurrte, hatte die Familie
auf seine innere Berufung sum geistlichen Amt
geschlossen und danach über sein Los bestimmt.
Doch wäre vielleicht auch ohne diese Äusserung
des kindlichen Nachahmimgstriebs und ohne den
glühenden Wunsch der weiblichen Familien-
angdiörigen, ihren Liebling dermaleinst als wohl*
bestallten Pfarrherrn auf der Kanzel zu sehen,
der Würfel nicht anders gefallen. Denn die
Ausbildung an den theologischen Seminarien war
unentgeltlich, ein Vorteil» den su verschmähen
bei der bedrängten Vermögenslage der Familie
als ein Frevel gegolten hätte. So wurde der
Jüngling unausweichlich diesen Weg gezogen
und er betrieb im Tübinger Stift seine theologi-
schen Studien und was damit susammenhing,
pflichtgetreu, wie alles« was er tat, aber ohne
innere Befriedigung.
Doch neben der dürren unfruchtbaren Heide
seines Brotstudiums tat sich ihm auf der Univer-
sität das grüne Wunderland der Poesie wdt auf.
Durch Uhlands Vorlesungen wurde er in den Ur-
wald der deutschen Mythen eingeführt imd er
- 48 -
liatte das Glück, an den poetischen Stüübungen
teflstmehmen, die der Meister mit den begab-
testen seiner Schüler abhielt. Die jungen Leute
reichten Gedichte ein, die Uhland anonym vor-
las und kritisierte; so machte er sie nicht durch
öde Theorie sondern durch die Analyse ihrer
eigenen poetischen Versuche mit den Gesetzen
des Schönen vertraut und wirkte auis lebendigste
für die Kultur der Jugend. Wie manche Poe-
tasteres» die das Schöne im Schwulste suchte»
wurde durch dieses einschneidende und doch
persönlich schonende Verfahren zum Heil für
die Nation im Keime erstickt. — Hermann Kurz
legte seine MaulbrcHmer Erstlinge und «nige
spätere Produkte vor; die Uhlandsche Kritik hat
er treulich unter die Manuskripte eingetragen
und aufbewahrt. Bei einem Liedchen im Volks-
ton warnt der Meister vor Nachahmungen des
Volkslieds» »»weU sie leicht in einen tändelnden
Ton verfallen,** welche Klippe er übrigens selbst
in seinen Balladen nicht durchweg vermeiden
konnte. An der Pilgerfahrt*) rühmt er „die er-
freuliche Ausführung gemütlicher, mit lyrischer
Sicherheit ausgesprochener Gefühle und Ahnun-
gen*'. Die andern von Uhland rezensierten Ge-
dichte, darunter zwei mit besonderem Lob be-
dachte, das Sonett „An die flüchtigen Polen'' und
die ^Uhr** wurden in die erste bei Hallberger er-
*) S. Hermann Kurz* sämtliche Werke in zwölf Bände.
Herausgegeben und mit Einleitungen versehen von Her-
mann Fischer. Band 1, Seite 7.
._^ kj i^ -o i.y Google
— 49 —
schienene Cedichtsammlung aufgenommen, sind
aber aus den späteren Gesamtausgaben wegge-
blieben.
Von Uhland wurde der junge, aber damals
schon gefeierte Anfänger auch ausserhalb des
Hörsaals herangezogen und ausgezeichnet; im
Ufalandschen Hause knüpfte er vielfache Utera-
rische Beziehungen an, unter anderen mit Lenau»
der auf kurzen Besuch nach Tübingen gekommen
war. Als dieser beglückende Verkehr schon im
Jahre 1833 durch Uhlands Vertreibung von sei-
nem Lehrstuhl unterbrochen wurde, rief der
Schüler dem verehrten Meister ein schmerz-
bewegtes Sonett nach.^)
Auch zur dramatischen Muse trat die studen-
tische Jugend in Beziehung, denn einer der gdstig
bedeutendsten unter den Professoren, der origi-
nelle Morit2 Rapp, hatte in seinem Haus an der
Neckarhalde eine Liebhaberbühne eingerichtet,
wo klassische Stücke nebst seinen eigenen auf-
geführt wurden. Hermann Kurz war unter den
Mitspielern; er erinnerte sich noch in späteren
Jahren mit Belustigung^, wie er einst als Mont-
gomery in der Hitze des Kampfes sich nicht ent-
schliessen konntet von den Händen der Jungfrau
zu fallen, sondern den schwächeren Kommilitonen»
der diese Rolle spielte, grimmig fechtend zur
Bühne hinausdrängte.
Zu jener Zeit ging in Tübingen noch die Poesie
S. 30.
I»<»14« Kurz, Hermano Kun. 4
._^ kj 1^ -0 i.y Google
lebendig in der rührenden Gestalt des irrsinnigen
Hölderlin um* den eine Studentengeneratlon der
andern pietätvoll ans Hers legte. Auch Hermann
Kurz besuchte ihn zuweilen in seinem Erker-
türmchen am Neckar, das noch in meinen Tagen
als ein Wahrzeichen der Stadt mit Stolz und
Liebe betrachtet wurde» bis es in einer kalten
Winternacht, die ich nie vergesse, durch Brand-
stiftung in Rauch und Asche sank. — Hölderlin
soll bei solchen Besuchen still und freundlich ge-
wesen sein wie ein Kind; doch konnte er auch
unangenehm werden, wenn einer nicht das Glück
hatte, den rechten Ton zu treffen. Er war die
Höflichkeit selbst und überschüttete seine Be-
sucher mit den erstaunlichsten Titulaturen; er
selber wollte mit »»Majestät'* angeredet sein»
doch gab er sich auch mit dem Titel „Herr
Bibliothekar" zufrieden, denn die Hoffnung auf
einen Bibliothekarsposten war noch, kurz bevor
sein Leiden unheilbar wurd^ als letzter Licht-
blick in sdn zerrüttetes Dasein gefallen» und
dieser Lichtblick folgte ihm in die geistige Nacht
hinüber. Die kleinen Züge, die mein Vater von
jenen Besuchen erzahlte» hab' ich leider vergessen.
Dass der Unglückfiche seinen Namen nicht mehr
kennen wollte und sich auf den Blättchen» die er
den Besuchern auf ihre Bitten vollschrieb, Sgar-
tanelli unterzeichnete» ist bekannt. Durch die
innere Verfinsterung warf der Genius jene über-
irdischen Strahlen» die weite, gdieimnisvoUe Ge-
biete so vmndersam erleuchten; Gedichte voll
— 51 —
stammdindeii TiefainiiB» oft noch ergrdf endcr
als was er in gesunden Tagen gedichtet hat» flös-
sen aus seiner Feder. Mein Vater besass ver-
schiedene dieser Blättchen, hat sie aber im Lauf
der Jahre alle an Freunde verteilt. — Als er im
Juni 1843 die Nachricht vom Tode Hölderlins
orhielt, schrieb er einem jüngeren Kunstgenossen:
„Es ist mir nicht, als ob einer gestorben wäre,
sondern als ob ein Geist aufgehört hätte zu
wandeln/'
Abgesehen von seinem literarischen Umgang
fand der junge Mann in Tübingen keine Gesel-
ligkeit ausserhalb der studentischen Kreise. Das
alte Städtchen mit seinem seltenen landschaft-
lichen und baulichen Rdz lag abseits vom Ver-
kehr und befand sich in sehr surückgebliebenem
Zustand. War doch noch zu meiner Zeit, mehr
als ein Menschenalter später, die Pflasterung so
ungenügend, dass bei Regenwetter sich breite
gelbe Schlammströme die steilen Gassen herab-
wälzten. Von den Säulen des Museumssaals
pflegte ein witziger Spötter zu sagen, dass sie „auf
Stiftlershöhe" schwarz seien. Alle Lebensver-
hältnisse waren kleinlich und bäurisch, der Ton
plump, selbst in vielen Professorenfamilien hielt
man nichts auf gesellschaftlichen Schliff; die
Frauen als soziales Element fehlten ganz. Der
Student war die Hauptperson, er herrschte fast
schrankenlos» sah weltentief auf den »»Philister^*
herab und genoss auf seine Weise das Leben.
Aber Weltkenntnis konnte er keine gewinnen, er
4»
._^ kj 1^ -0 i.y Google
— s» —
konnte keine weitreichenden Verbindungen anr
knüpfen, sich von dort keinen Weg in dn grös-
seres Leben hinausbahnen. Deshalb fiel nach
durchschwärmten Universitäts jähren das Tor
des Paradieses hinter ihm 211« und er wurde selber
,,Phsfister'^ Doch auch an dieser kurzen Bur-
schenherrlichkeit hatte der „Stiftler" nur einen
sehr beschränkten Anteil, weil er durch die Re-
geln des Stifts an einen bestinunten Tagesplan
gebunden war.
In den Anfang der Universitätsjahre lällt der
erste, aber noch anonyme Schritt, den Hermann
Kurz in die Öffentlichkeit tat. £r hatte als ein
begeisterter Verehrer der englischen Poesie schon
in der Maulbronner Zdt, als er eben erst mit
einigen Kameraden durch Nebenstudium des
EngUschen etwas mächtig geworden war, unter
Mitwirkung seines Stubengenossen Eduard Zel-
ler und des schon genannten Edmund Bühuber
eine Anzahl Gedichte von Bsrron, Moore und an-
deren übersetzt und die Auswahl in Tübingen
noch ergänzt; ein gutmütiger Reutiinger Vet-
ter» der Dfruckereibesitzer war« fand sich willig»
das Bändchen unter dem Titel: »«Ausgewählte
englische Poesien in teutschen Übertragungen"
in Verlag zu nehmen. Der Misserfolg des ganz
unreifen Werkchens» das in seinem lösch-
papiemen Gewand auch nicht einmal die Augen
bestechen konnte, hat der Dichter in seinen
„Jugenderinnerungen" humoristisch dargestellt ;
aus der ersten Abrechnung des Verlegers stammt
._^ kj 1^ -0 i.y Google
— M —
das geflügelte Wort: „So stehet es mit den Poe-
sien.^' Die launige »»Epistel eines Autors an
den andern*'^) bezieht sich auf dasselbe Malör.
Aber das Pech, das diesem Bändchen anhaftete,
ging noch weiter als der Dichter erzählt hat. Als
er nämlich mit seinem Freund Bilhuber nach
Reutlingen ritt, um die Freiexemplare persönlich
in Empfang zu nehmen, hatten sie dort so lange
zu warten» dass sie auf dem Heimweg die »Phi-
listersgäule" fast immer galoppieren lassen muss*
ten» um die Stunde des Nachtessens im Stift nicht
2u versäumen. Da stürzte im ,3urgliolz'', einer
jetzt verschwundenen Waldpartie, als es schon
dämmerte, des Dichters Pferd; er konnte zwar
wieder aufsteigen, und auch das Stift wurde recht-
zeitig erreicht» aber» o Schmerz» nun zeigte nch^s^
dass ihm beim Sturz die Exemplare imbe-
merkt entfallen waren, und als nach dem Essen
die Unglücksstelle abgesucht wurde, waren sie
nicht mehr zu finden. Wohlmeinende Basen
suchten das Missgeschick des Reiters durch die
Vcrmutimg zu erklären, dass das Pferd wohl an
jener Stelle den gespenstischen Schimmelreiter
gewittert habe, der damals noch in dortiger
Gegend die Wanderer mit dem Kopf in der Hand
zu bekomplimentieren liebte. Wie der Dichter
bald danach den Verleger für den schlechten Ab-
satz der „Poesien" durch ein neues Volksbuch
entschädigte, zu dem er die Vorrede dem Setzer
)) S. Band I» S. 51.
._^ kj i^od by Google
— 54 —
aus dem Stegreif in die Letteni diktierte^ ist
gleichfalls in den Jugenderinneningen zu lesen.
Auf diesen Unfall besieht sich eine Stelle in
dem Danksonett, das Hermann Kurz am Schlüsse
seiner Übersetzung des Rasenden Roland seinen
Vor- und ICitarbeitem gewidmet hat» 2U wdch
letzteren in beschmdenem Grad auch jener Bü-
huber gehört:
Und dir, mein Haimonsbruder, Kampfgenosse,
Der sich mit mir zu den drei letzten Ritten
Auf den geflfigelten Bayard geschwungen,
Mit dem ich einst als Milchbart schon zu Rosse
Gesessen und manch lustigen Sturz erlitten —
Euch sei mein Danklied hier am Ziel gesungen.
Unter den Lehrern am Stift glänzte vor allen
David Friedrich Strauss, dessen Leben Jesu" noch
während Hermann Kurz* Studienjahren erschien«
Durch sdnen Umgang war der Jüngling vorüber-
gehend in die Philosophie hineingezogen worden»
der er sich eine Zeitlang mit grösstem Eifer hin-
gab, um doch in Bälde zu empfinden, dass dies
nicht sein eigentliches Lebenselement sei. Der
junge Lehrer selbst» der bald zu dem Schüler in
freundschaftliche Berührung trat, war unter den
ersten, die seinen wahren Beruf erkannten, und
Strauss wurde auch späterhin nicht müde, dem
Poeten zuzurufen: »Dichten müssen Sie» beileibe
nicht spekulieren."^) — Zu einem andern jugend-
Freilich konnte es nach dem einzigen, der Öffent-
lichkeit bekannt gewordenen Zeugnis, das Strauss über
meinen Vater ablegte» einem Brief an seinen Freund Rapp
._^ kj i^ -o i.y Google
— 55 —
liehen Gestirn unter seinen Lehricfiiy ddn dft*
maUgen Repetenten Friedrich Thecklor Vischer,
konnte der jnng^e Student keine Stellung gewin-
nen: Zwei Menschen von grossen Anlagen» aber
(herausgegeben von Zeller) scheinen, als ob er aus einer
kühlen fiberlegenen Höhe auf den Dichter herabgeblickt
hltte. Allein dieser ziemlich abßQlIg gehaltene Brief
stammt aus Strauss' letzten verbitterten Jahren, wo er die
Welt durch einen Schwarzspiegel ansah und die Er«
innerung ihm die Dinge verzeichnete. Sonst bitte er
nicht klagen können, die politischen Tendenzen bitten
den ,»Sonnenwirt* verpfüscht^ da es doch gerade die
Tendenzlosigkeit seiner Kunst war, die den Erfolg des
Dichters bei den Massen hinderte. Dagegen fanden sich
in meines Vaters Nachlass einige Briefe von Strauss aus
seiner besten Zeit^ worin er den Leistungen des Dichters
die freudigste, unbedingteste Anerkennung entgegenbringt
„Vor Ihren philosophischen und mythologischen Studien**,
schreibt er das eine Mal, „habe ich alle Achtung, auch
Ihre Ober- und Portsetzung von Tristan und Isolde mit
Vergnügen gelesen; Ihr eigentlicher Beruf aber is^ uns
zu erzihlen, wobei ich Ihnen immer zuhören möchte.** —
Und an einer andern Stelle heisst es: „Wie Sie sich
durch mythologische Studien angezogen fühlen, ist mir
sehr begreiflich, und ich kann mir auch denken, dass
dergleichen Zwischenbeschiftigungen auch wieder der
Poesie zugute kommen werden. Denn wire das nichts
wire vielleicht zu f&rchten, dass Sie durch gelehrte
Arbeiten von den poetischen abgezogen wurden ~: dann
mfisste ich Ihnen unerbittlich das Mercklsche zurufen:
• . ^ das können die andern auch! — Das wenigstens kann
ich Ihnen sagen, wenn ich imstande wäre wie Sie
Lebendiges zu schaffen, so Hesse ich die Toten ihre Toten
begraben." Auch die im Text zitierte Stelle ist einem
dieser Briefe entnommen.
._^ kj i^ -o i.y Google
56 -
grundverscfaicden in den Instinkten und bdde
jugendlich ttndnldsam, mnssten der herben Schwa-
bennatur den Zoll zahlen, sich bei nächster Nähe
innerlich fremd zu bleiben. Vischer verkannte»
wie er mir selbst einmal gestand, in dem jungen
Romantiker, der auch im Stift sein sondergänge»
risches Wesen fortsetzte, den mannhaften, pflicht-
bewussten Kern; der äusserst sensible Hermann
Kurz dagegen fühlte sich durch manche Äusserung
des damaligen Vischerschen Wesens befremdet»
besonders durch die Brduniade» deren trauriger
und schauriger Gegenstand ihm in den Briefen
seiner Mutter menschlich nahegerückt worden
war. Erst als reife Manner lernten sie sich gegen*
seitig hochschätzeut doch ohne die frühen Miss«
Verständnisse völlig verwischen zu können.
Vischer selbst, dessen grosse Natur sich bei zu-
nehmendem Alter immer ins Edlere und Schönere
entfaltete» hat mir einmal viele Jahre nach meines
Vaters Tode in der würdigsten Weise das Herz
darüber ausgeschüttet und er suchte das Ver-
säunmis, dessen Schuld er vielleicht mit Unrecht
sich allein beimass» durch' die herzlichste Güte und
Teilnahme an der Tochter gutzumachen«
Im Stift nannten sie Hermann Kurz »»das
blaue Genie'* oder kurzweg ,,den Blauen", welcher
Spitzname bis in seine Mannesjahre an ihm hän-
gen blieb. Er selber erklärt ihn im »»Wirtshaus
gegenüber^ scherzhaft durch emei von blauen
Schnupftüchern stets gefSrbte Nase» womit er
nicht nur sich selbst zu nahe tritt, sondern auch
._^ kj i^ -o i.y Google
— 57 —
der guten Tante Kenngott, die ihm damals noch
die Wäsche besorgte und die in der klassischen
Stadt der Färber nch besser auf waschechtes Zeug
verstanden haben rauss. Der wahre Grund soll
des Dichters Vorliebe für bläuliche Röcke ge-
wesen sein, mit denen er gegen das rigorose
Schwärs der Stiftstracht verstiess.
Im Tübinger Stift, dem ehemaligen Augustiner-
kloster, das hoch von der Neckarhalde'' aufs Tal
hemiederschaut und schon durch sein Äusseres
den Zwang seiner mittelalterlichen Einrichtung
ausdrückt, hat von je dn besonderer und ein
sonderbarer Ton geherrscht. Die äussere Ein-
schränkung und Absperrung von allem Weitwesen
bei einem mächtig vollen Schulsack gaben dem
schüchternen Mittelschlag der Zöglinge einen
Stempel fürs ganze Leben mit, ein unbeholfenes
und zugleich selb st genügsames Wesen, das man
eben nur mit dem Worte ,,stiftlerisch" bezeichnen
kann; bei den stark angelegten führten sie zur
Überspannung und inneren Revolte. Je grösser
der Zwang, desto schrankenloser der Freiheits-
trieb, je reizloser die äussere Welt, desto höher
der Flug der Phantasie. Auch war ja fast aller
geistige Adel des Landes aus dem Stift hervor-
gegangen, es gab also eine Genietradition, und
die Nachstrebenden verehrten die grossen Namen
der früheren Promotionen wie die Griechen ihre
Heroen. Was nun aber den Ruhm der Anstalt
ausmachte^ das war zugleich ihr Vorwurf; denn
eben jene Genies waren ja zumdst entlaufene
._^ kj i^ -o i.y Google
- ss
oder „hinausgeworfene" Stiftler, und der Kultus,
den die Nachfolger mit ihnen trieben^ verschärfte
noch die Opposition gegen das Stift und sdne eng-
herzige Regel. Man erbaute sich an ihren Taten,
ahmte sie nach, besang und dramatisierte sie und
sah diese Studentenstreiche gewissermasscn sym-
bolisch an als den Kampf des Lichts gegen die
Finsternis. Das gab natürlich ein hochgespanntes
Gefühl der dgenen Persönlichkeit, eine jauch-
zende Simsonsstimmung, die das Tor der Phi-
üsterstadt aus den Angeln heben oder sie und sich
unter ihren Trümmern begraben möchte. Her-
mann Kurz, der feurigste von allen, hat dieses
überreizte Geniewesen im „Wirtshaus gegenüber"
mit blendenden Farben dargestellt: eine kleine
Studentengenossenschaft, die sich im Gefühl ihrer
höheren Kultur und ihrer Fähigkeit zum künstle-
rischen Lebensgenuss vom eigentHchen Studen-
tenleben fernhält, um in geistigen Symposien zu
schwelgen. In dieser Novelle hat er seine Person
in zwei Hälften gespalten: die eine noch jugend-
lich gärende, unreife« stellt seinen damaligen
Menschen unter dem Cerevisnamen Caeruleus
dar, die andere geläuterte und menschlich ge-
reifte einer etwas späteren Zeit hat er in die Hülle
seines Freundes und Kommilitonen Rudolf Kaus-
1er gekleidet und zur Hauptperson der Erzählung
gemacht. Denn der wirkliche Rudolf Kausler
war nach allem, was ich von ihm weiss, eine viel
stillere und scheuere Natur als dieser gebietende
Ruwaldt in dem der Verfasser sich selbst so völUg
._^ kj i^ -o i.y Google
59 —
mit dem Freunde verschmolzen hat» dass er ihm
nicht nur seine eigenen Gesiammgca und die Art
aetnes Auftretens» sondern auch seine frOhen
Her^enserf ahrungen und sein erstes Liebesgedicht
unterschiebt. Doch zeigt die überlegene Rolle,
die er ihn hier spielen lässt, wie hoch er den
Preund schätzte und weiche inneren Kräfte er
ihm beimass. — Auch Rudolf Kausler, der Mann
mit dem feinen leidenden Schillerkopf, war ein
geborener Poet, aber eine Jener Naturen, die so
tief ins poetische Element versinken, dass sie
last unfällig werden, es su formen« Er hat später
als Nachzügler der Romantiker in einer von der
Romantik abgekehrten Zeit ein paar feine stille
Novellen geschrieben, die im Lärm des jungen
Deutschlands verhallt sind. Eine edle, ebenso
xarte wie feste ureigene Persänlichkeit» die ver-
dient hätte, als Vorbild weithin nchtbar dazu-
stehen und die nichts erreicht hat, als was sie in
sich selbst besass. Ihm ist das Lebenslos noch viel
karger gefallen als seinem Freunde HermannKurx»
denn ihm gelang es nicht, sein Wesen in dauern-
der Gestalt vor die Nachwelt zu bringen, und für
seine hohe Kultur hatte das arme Land keine
bessere Verwendung als eine Dorfpfarrei, wo er
tan einsames, fast schattenhaftes Dasein führte.
Es ist ein Mangel dieser Blätter, dass ich dem
"Freunde seiner Jugend, der meines Vaters zweites
Ich gewesen, nicht durch persönliche Erinnerung
besser gerecht werden kann. Ich habe Rud<df
JCausler nie mit Augen gesehen, obgleich er md-
._^ kj i^ -o i.y Google
— Co-
nen Vater um ein JaEr überlebte. So weltÜüchtig^
war der stille Weise geworden, dass er seia.
Stötten oder Kleia-BisUngen mcht mehr verliew,.
uns zu besuchen. Die vielen Enttäuschungen
seines Lebens hatten ihn zum Einsiedler gemacht;
besonders gegen Tübingen, wo wir in den letzten
cehn Lebensjahren mdnes Vaters wohnten» h^^
er einen unüberwindlichen Groll. Seine Briefe
sind aus dem Nachlass meines Vaters verschwun-
den, so kenne ich ihn eigentlich nur aus denen»,
die mein Vater an ihn gerichtet hat. Ich weiss»,
dass Hermann Kurs als Jüngling bei Kauslera
Mutter und Schwester einen Ersatz für die eieene^
frühe verlorene Heimstätte fand; den Tod der
ersteren hat er in einem schönen Gedichte be-
sungen» das» so vi^ ich weiss» nirgends gedruckt,
ist. An Kauslers Nichte, Marie Kaspert, ist das.
liebliche Märchen vom „Wald- und Gassenfeger-
lein" gerichtet. Kausler starb als pensionierter
Pfarrer im November 1874 zu Stuttgart; meine
Mutter war bei seinem Ende zugegen. Sie er-
röhlte von seiner Sterfoenacht, wie, als man nach
schwerem Kampfe schon den Frieden des Todes
gekommen glaubte und alles sich zurückzog»
plötzlich zum Schrecken der Anwesenden aus
dem Sterbezimmer noch ein langer, letzter Seufzer
ertSnte — es war der Epilog dnes gfossangeleg-
ten, in der Enge erdrückten Lebens.
Jetzt aber segelten die Freunde noch mit.
tausend Masten, und der stürmenden jungen
Schar schien die Zukunft zu gehören. Erstaun-
._^ kj 1^ -0 i.y Google
6i —
liehe Frühreife, Weite des Horizonts, Fertigkeit
lind Sicherheit des Geschmacks und Urteils und
eine «niveraelle literarische Bildung war die Sig-
natur des ganzen Kreises um Hermann Kurz.
Dazu gehörten neben Adalbert Keller, dem ge-
lehrten Germanisten, der Zeitlebens einer von des
Dichters Getreusten blieb, noch der rdchbegabte
Ludwig Seeger und der behäbige Reutlinger
Gottlieb Finckh, wegen seines grotesken Äussern
der „Ostjäck'* genannt; femer der geistvolle und
tiefangelegte Hermann Mögling, Kauslers Inti-
mus» der sich später der Religion in die Arme
warf imd als Missionar nach Indien ging, wohin
ihm der Benjamin des Kreises, der liebenswürdige
und allgeliebte Gottfried Weigle, nachfolgte, um
dort den Tod zu finden»
Zu diesen tritt noch eme verhüllte Gestalt»
vielleicht die anziehendste von allen, der „Ge-
rettete" aus den schönen Gedichten, die diesen
Titel führen.^) Das Wesen dieses Jünglings musstc
den Dichter tief berührt haben als em Stück
lebendiger Poesie, und sdn Tod griff ihm nahe
ans Herz. Ich weiss nichts von ihm, als dass er
Hermann Günzler hiess und dass er am 13. No-
vember 1835 starb; irgendwo äussert der Dichter
über ihn» dass er am Obergang vom Märchen ins
Leben sugruride gegangen sei. Eine kurze hand-
schriftliche Aufzeichnung^ in allemannischer
Mundart unter meines Vaters Papieren, die den
Initialen nach von diesem Unbekannten herrühren
S. Band i, Seite 35 ff.
^ kj, i^cd by Google
dürfte, lässt auf eine originelle und reizvolle Per*
flöfüichkeit achlienen. Ich habe immer bedauert»
dass das Gedicht ,»Der fiedrängte'^ aus dem
Zyklus des ,,Geretteten", das diese Gestalt so
schön in wenigen iinvergesslichen Strichen fest-
hält, aus beiden Gesamtauflagen weggeblieben ist.
Es möge deshalb hier stehen an Stelle der nicht
mehr aufzufindenden Personalien«
Der Bedrängte.
Die Götter haben
Dem Freunde verliehen
Des Gefühles tiefe Gewalt»
Und uns zu leben
Und an sich zu ziehen
Die reizende Gestalt. —
Und seine Gesellen
Die scharfott und hellen.
Die Seelenrichter,
Haben ihm erregt mit iduger Rede
Des Zwiespalts Wellen
Und innere Fehde
Und getrübt die braunen Augenlichter.
Aber die Wangen steh'n in Jugendblüte^
Und ins Reich des Klanges,
Wo sie verrauschen,
Die Mächte des feindlichen Dranges,
Ist er geflüchtet, mit stillem Gemüte
Selig zu lauschen.
So ist ihm der Kampf gelind,
Und er ist für die Feinde blind:
Er mag nicht kriegen,
Er mag nicht siegen.
Er mag nicht herrschen, er mag nicht dienen,
So steht er mitten unter ihnen.
Ein sinnendes, schmeizltch lichelndes Kind.
63 —
Dies war der kleine Menschenbund, mit dem
der Dichter damals nach seinen eigenen Worten
„ein ganzes volles Leben durchgelebt" hat. Rech-
net man nun auch noch den Verkehr mit Silcher
hinzUy für dessen schöne Volksweisen Hermann
Kurz um jene Zeit die Lieder dichtete» die gleich
an aUen Enden widerhallten, so muss man be-
kennen, dass die Jugend des Dichters trotz aller
Kämpfe und Entbehrungen doch eine unendlich
reiche und glückverheissende gewesen ist.
Das Bild der Universitätsseit wird noch ver-
vollkommnet durch das der Vakanzen, die nach
gastlich altschwäbischer Sitte meist auf dem
Land in verwandten und befreundeten Pfarrhäu-
sern verbracht wurden. Dort verkehrte männ*
liehe und weibliche Jugend auf unschuldig ver-
trautem Fuss, man las und musizierte zusammen
und machte gemeinsame Ausflüge, und da die
Verwandtschaften sich durchs ganze Land ver-
sweigten, war es nicht schwer» in jedem der hüb-
sehen Kinder eine nähere oder fernere Cousine
zu entdecken ; dem Vetter aber, zudem wenn er
hübsch und unterhaltend ist, kann das ,3äschen''
dn Küsslein in Ehren nicht abschlagen. So spin-
nen sich leicht fast gleichseit^^ eme Reihe kleiner
Verhältnisse an, die halb geschwisterlicher Natur
und halb mehr sind und neuen Reiz ins Leben
bringen. Zwar in den ersten Universitätsjahren
war das Hers des Dichters noch in festen Hän-
den. In der Familie Bilfauber wurde lange und
wird vielleicht noch eine zierliche Abschrift der
._^ kj i^ -o i.y Google
— 64 -
Fritjof sage in der Hclvigschcn Übersetzung auf-
bewahrt» die der junge Hermann Kurz für die
Schwestern Luise und Pauline anf ertigte» „rimt
Handarbeit so mühsam wie die kunstreichste
Stickerei''. Wie ernsthaft der Neunzehnjährige
diese Jugendliebe nahm» zeigen zwei Verse, die
er in den Osterfciertagen 183s in sein Taschen-
buch eintrug:
1.
Verhalten sei des Herzens Klage,
Ich wandre ruhig still von hier.
Wir scheiden freundlich und ich sage
Der Hoffnung Lebewohl und dir.
(20. April Nachts.)
2.
Süss im Arm der Liebe ruht sich's
Wie an Mutterbnist das Kind.
Noch in einem andern Arme
Lisst sich's schlummern sanft und lind.
O wer solches Glück gekostet^
Kehre nicht dem Leben zu,
Sinke mit gelösehter Fackel
In den Arm der ewgen Ruh.
(22. April Morgans.)
Was ihm das um mehrere Jahre ältere Mäd-
chen so teuer machtet war, dass er in ihr Zug für
Zug das Wesen seiner Mutter wiederzufinden
glaubte. Als die Freund nach einigen Jahren
gemeinsamen poetischen Schwärmens eine pro-
saische Verlobung einging, gab ihm diese Er-
fahrung schwer zu schaffen» obwohl er es ja nicht
anders hatte erwarten können» und als sie schon
Digitized by Google
- 65 -
1836 nach kurzer Ehe starb, traf ihn der Verlust
zum zweiten Male üef ins Herz. Nur seinem
Rudolf Kausler hat er sich darüber ausgespro-
chen ; später nannte er den Namen des Mädchens
niemals wieder. In jenen Tagen aber schloss er
ein Sonett über die Rose und die Nachtigall mit
den Strophen:
Der Sänger weint: Ob sie mir längst verloren,
So muss ich doch zum zweitenmal ertragen
Den Schmerz, der immer wieder wird geboren.
Denn immer werden süsse Rosen sterben.
Und ewig werden Nachtigallen kltgen,
Dass Schönheit^^Hüild und Liebe muss verderben.
Unterdessen hielt in der alten Vaterstadt die
Dote noch immer das Nest für den Ausgeflogenen
warnu Die bei aller Einfachheit grundgeschttte
Frau war jetzt aus ihrer vormundschaftlichen
Rolle in die einer Freundin und Vertrauten über-
gegangen und fuhr fort in mütterlicher Weise für
seine löblichen Bedürfnisse zu sorgen. Zwar fiel
es ihr schwer, sich zu überzeugen, dass der süsse
Mandelbrei, einst die Leibspeise des Knaben, die
sie jetzt auch dem Jüngling nach heissem Ritte
als Leckerbissen vorzusetzen pflegte^ nicht mehr
denselben Beifall fand; aber im übrigen war sie
elastisch genug, den Sprung in die neue Zeit reso-
lut mitzumachen und sich aus der altvaterischen
Frau Dote in die moderne Tante zu verwandeln.
Von ihren Briefen« die der Neffe an jedem Boten-
tag empfing und wie Liebesbriefe hütete, hat er
jeden Zettel aufbewahrt. Biese kleinen, perga-
Isolde Kurz, Hermann Kurz. 5
Digitized by Google
66
mentartigen Papierwische bleiben jedem» der sie
eiiimal in der Hand' gcbalten hat, iinvergeasliclu
Sie sehen aus wie Keilschrift und haben in ihrer
lapidaren Kürze, in der Direktheit des Ausdrucks,
die vor nichts zurückschreckt» und in ihrer ganaen
erhabenen Einfalt etwas geradezu Monumentales.
Da ihr unzerrdssHches Papier sie vor dem Unter-
gang schützt, werden sie vielleicht einmal einem
künftigen Sprachforscher als Fundgrube für jenes
,^t- und Urdeutsch einer altschwäbischen noch
halb gotisch redenden Stadf dienen, wenn er
nämlich diese Gehörshieroglyphen, wie der Dich-
ter sie nennt, weil die alte Frau nur dem Laute
nach schrieb, entziffern kann. Unterdessen wer-
den sie als kostbare FamiUenreliquie gehütet«
Meist handeln sie zwar von den einfachsten, all-
täglichsten Dingen, aber die tiefe Liebesmacht,
die darin waltet, gibt ihnen einen unvergänglichen
Zauber. Die alte Frau )>erichtet vom ausstdien-
den Gdd^ das ue für den Neffen zusammentreibt:
„Das Geld ist von 3 Personen bis wir es zu Samen
gebracht haben" — von seiner Wäsche, die sie ihm
besorgt tmd flickt: „Sick die schwarze Uenter/'O
Dazwischen gibt sie Familiennacfarichten, etwa
wie fölg^: ,,Leider ist der Gotthold wieder ge-
storben, die Eltern tauren mich sehr, es ist arg
alle jähr eim Kind die Augen zu trücken, der liebe
Gott wolle sie stärken» sie tauren mich Sehr/'
Oder: „Demmlers Kinder sind in einer Stund ge-
S. das Witwenstüblein.
Schick die schmutzigen Hemden«
Digitized by Google
- 67 -
ttorben, er Aut^) irgtr als sie* Jakobt Frau faab
ich glaubt, die Sterb an Halswdi» die ist redit
übel dran gewesen." — Sie ängstet sich für ihres
Lieblings Leben, wenn er ausreitet, und wenn er
des Nachts einen finstem Wald passiert, so fühlt
sie es aus der Feme. »^Die Waldangst»" schrdbt
sie einmal, „habe ich gehabt wen ich es gleich
nicht gewusst hab.'* Ein andermal: „Gottlob das
du so glücklich durch den Wald gekommen bist»
wissen hate ich es nicht dörf en» ich wälure ver-
gannen vor Blind. Der Johannes*) ist sehr ver-
gnüt kommen wie es so gut gegannen sey aber es
ist keine halbe Stund an gestanden ist ein Stun-
ten^) zu der Anamrei*) unter das Haus gekommen
bat nach dir gefragt» du seyst wider zurück ge^
können der Neckar sey aus geloffen da gein^
das Kreutz an. ach das vor meine Ohren keine
traurige Botschaft kommen.''
Und wieder in wachsender Angst um den ge-
fiebten VHldfang:
» Jieber Hermann H* Veter*) hat mir a Gedicht
geben ich soll es dir Sicken. u. gesagt du werstet
wie rum^) Von Pferd gestürt Scy. ich soll dir
jammert mehr.
•) Johannes Kurtz, ein Bruderssohn meines Vaters,
späterer Erzieher von Schillers Enkeln.
*) Student.
*) Annamareijdie alte Magd. Siehe Jugenderinnerungen
S. 97.
^) ging.
•) Offenbar der Verleger der „Poesien".
^ werdest wiederum.
Digrtized by Google
— «6 —
doch es Schreiben das du dein edles Leben nicht
auf einer so elend mer^) einbüsest, von den hast
du mir nidits gesagt, u doch hab ich so one
Angst gehabt bis ich einen Brief beiconnen hab
das du noch lebest, ich bite dich Reit nicht nach
Ehingen, was thust du so ein par Stund bey in^)
kon lieber Freitag Morgen zu mir da kan man
auch ein Wort mit einander reden wen man allein
ist, dane wasch u« alles was du wilst wiU ich an
Freitag Sicken, wen du gleich hier bist. Du kast
sie helfen packen ich bitc dich um alles
willen. Mach mir doch keine angst mehr wegen
Reiten, lauf, lauf,^) aber aber kon nicht so Spat,
Sonst mus ich vor Angst Sterben, wirklich*) bin
ich Gottlob recht gesund u. mag brot essen, konn
Ummer*) da wirst du es Sehen. Deine Dich liebete
tante Pfar. Kenngott/*
Das letztere ist ihr gewöhnlicher Schluss,
manchmal unterschreibt sie sich auch schlecht-
weg „Deine tante bis in tod**.
Doch nicht allein des Neffen leibliches Wohl
ist ihre Sorge, sie ahnt imd fühlt auch s^e
Seelenkämpfe mit, als er mehr und mehr mit dem
theologischen Studium in Zwiespalt gerät. Und
gerade ihre tiefe echte Frömmigkeit macht sie
gegen den Zweifelnden nachsichtig, da ne die
Mähre.
*) ihnen.
') Schwäbisch für „Geh zu Fusse.*
*) Schw. für gegenwärtig.
^) herüber.
Digrtized by Google
69 —
Redlichkeit seines Herzens kennt und ja in allem^
was geschieht, Gottes Finger sidbt. „Was du
nicht fasen kanst/* schreibt sie einmal, „das denke
Gott wolle dirs for jetz nicht auferlegen." Seine
innere Unruhe macht auch ihr schlaflose Nächte;
als er in einer Saulsstimmung dem jihigeren Bru-
der, der ihn darum angeht, seine geliebte Fföte
weggibt, die schon in den Wäldern Maulbronns
seine treue Begleiterin war, damit nun auch kein
Wohlklang den verstörten Sinn mehr beschwich-
tige, da fühlt sie den Riss in sdnem Wesen
schmerzlich mit.
Wenn aber die Nachricht kommt, dass er sich
befriedigter fühlt, jubiliert sie: „Das du
auch grose Männer lieb bist weil du mir so lieb
bist, so was macht mich so Rmh, u so ein inner
Fried, u so ein heisser Dank gegen Gott in
mir."
Ich kann es mir nicht versagen» noch eines
dieser Blättchen, der kritzligen Handschrift nach
eines der letzten, in seinem Wortlaut wiederzu-
geben. Der Empfänger, der damals auf eigene
Hand das Englische trieb, hat auf die Rückseite
geschrieben: »^ehold what a true and lovely
letterf'* Die arme Frau schreibt in ihrer unzu-
samraenhängenden Satzbildung: lieber Herman.
ich danke dir auch Vor das Buch, wo du den 1,
Emst gesick hast, es hat rechte gute Gedanken
die uns zur Wirklichen Zeit wo nichts als Pest
u. Kriesgeschrey ist, derfen wir unsere Herzen
von der Welt los reisen u zimi Hinunel er-
Digitized by Google
— 70 —
heben, er^) ist wol noch weit fon uns entfernt»
aber wir Sind auch nicht besser als andere» in
Gottes nahmen der Herr thue was ihn wol gefalt,
ich freu mich das du bald zu uns kennst, es gibt
bald gute trauben, der liebe Gott erhalte dich ge-
sund, lebwohl Ddne tante Pfar* Kenngott.
In ihren letsten Tagen» da der Husten» »,d^
bös Kerl," über den sie oft in den Briefen klagte,
immer mehr überhand nahm, ritt der Neffe bei-
nahe täglich nach dem nahen Reutlingen zu ihr
hinüber und »»sah mit verzweif ehider Gewissheit»
wie das teure Leben nach und nach erlosch'^
„Sie aber war heiter," erzählt er im „Witwen-
stübchen''» „das Meer des Irdischen rauschte tief
und unvemehmlich unter ihr, alle Sorgen vaa ihr
Schmerzensldnd hatte sie dem mederen Dunst-
kreis, dem sie sich schon zu entheben begann, zu-
rückgelassen. Nur wenn sie mich ungebärdig
sah, versprach sie mir» wieder gesund zu werden.
So schieden wir an einem Augustabend unter
tröstlichen Gesprächen» und noch einmal sass die
Hoffnung mit mir zu Pferde, aber am andern Mor-
gen hinkte mir die Todesbotschaft nach."')
Ihr letztes Brieflein» offenbar am Vorabend
des Todes liii^ekritzelt» ist nur noch ein wirres
Stammeln über Dinge, die ihren Liebling be-
treffen, und schliesst: „ietz will ich meine Hoff-
nung auf Gott Setzen» u der wird mich nicht
▼erlassen." Darunter steht von der Hand des
jüngeren Neffen: „O Gottf hab KiÜddr
') Der Krieg nämlicli. *) Sic starb am 9. August 1834.
Digrtized by Google
— 7* —
Das Gedicht an ihren Tod, von Heyse in der
i^äteren» geretfteren Form in die Vorrede ver-
setzt» ist von dem neuen Herausgeber wieder in
die Sammlung der Gedichte, und zwar in seiner
ursprünglichen, noch unvollkommeneren Gestalt
aufgenommen worden.
Mit dem Hingang dieser prächtigen Frau riss
das stärkste Band, das den Eigenwilligen mit dem
ordnungsmässigen Lebensgang, den die Seinigen
ihm zugedacht hatten, verknüpfte« Seit er nie-
mand mehr hatte» der ihn vor dem »»bordierten
Hütlein'* warnte» und nicht mehr fürchten musste»
mn liebendes Herz zu betrüben» verfdndete er
sich immer mehr mit der Anstalt, der er ange-
hörte und die auch ihre Ehre wollte. Ein Bänd-
chen satirischer Epigramme» das er unter dem
Titel „Fausts Mantelf ahrt^^ drucken Hess» soU im
Stift sehr böses Blut gemacht haben; eine mehr-
tägige Reise, die er ohne Urlaub im Interesse
eines andern unternahm» und deren Anlass er aus
Kitterlichkeit nicht bekennen wollte» wurde end-
lich der äussere Grund seiner Entlassung.^)
Jetzt war er frei, aber die Freiheit kostete ihn
den Rest seines kleinen väterlichen Erbteils.
Denn da er nicht in den Verdacht kommen wollte»
als habe er vor dem »4umpigen Examen^ Reissaus
genommen, musste er die Vollendung seiner Stu-
dien aus eigener Tasche bestreiten. Im Herbst
So erzählte mir Herr Prof. H. Fischer auf Grund
genauer Nachforschungen; in der Familie war nichts
davon bekannt
Digrtized by Google
z835 bestand er die Prüfung mit Ehren und trat
ciii paar Wochen später bei adnem Onkel Hohr,
einem philosqidiiach gebildeten und fireisinnigen
Manne, in Ehningen bei Böblingen als Vikar ein.
Aber der Widerspruch zwischen seinem Amt und
seiner Uberzeugung» der Zwang, dasjenige als
Dogma zu predigen, was er nur als sjrmbolische
Wahrheit anerkennen konnte, machte ihn tief un-
glücklich. Nicht als ob damals ein besonders
starrer dogmatischer Geist geherrscht hätte.
Schon der Umstand, dass so viele der Höchst«
begabten die theologische Laufbahn wählten,
musste einen freieren Zug in die württembergische
Geistlichkeit bringen. Konnte es doch vorkom-
men, dass der protestantische imd der katholische
Seelsorger ein und desselben Ortes auf kollegia-
lem Fusse verkehrten, dass sogar gelegentlich der
erstere die Funktionen des letzteren versah; ja in
einem Fall, den ich kenne, gii^g Toleranz so
weit, dass ein gebildeter Rabbiner der dritte im
Bunde war. Hermann Kurz hätte also ebensogut
wie manche seiner Kollegen, die in der gleichen
Lage waren, sich mit seinem Gewissen durch die
Erwägung abfinden können, dass jedes Bild des
Unendlichen nur ein Gleichnis ist, während doch
die Menge eine feste Form für ihre religiösen Be-
dürfnisse braucht. Aber in der Seele des Dich-
ters liegt ein unwiderstehlicher, rücksichtsloser
Wahrheitsdrang, und eine produktive Natur muss
ihren eigenen Gesetzen gehorchen. Er fühlte
sich ja nicht einmal äusserlich am rechten Platze,
Digrtized by Google
— 73
denn der Landaufenthalt, in dem ein Eduard
Mörike, der nur auf die inneren Stinmien lauschen
woUte, oder auch der zartgeatinimte Rudolf Kaua»
1er sich wohl fühlen konnte, wurde ihm auf die
Länge zur Qual. Seine feurige epische Muse
wäre in der Einöde verkommen» sie verlangte
ihre Nahrung aus dem Leben zu saugen, der
Dichter selber brauchte die Berührung mit der
Welt, wenn er sich nicht selbst verzehren
sollte.
Seine innere Stellung jnir Religion hat er, bald
nach seinem Bruch mit der Theologie, in einem
Brief an Rudolf Kausler ausgesprochen. In
diesem Schreiben aus dem Jahr 1836 heisst es:
„Ich glaube eine Vorsehung imd zwar
eine individuelle: lieber Gott, wer sorgte denn
sonst für uns Crenies, blaue und graue (aus dem
Lied: meine Mutter hat Gänse). Aber es ist ein
Instinkt, denn eine Intelligenz wäre erbärmhch,
es ist ein Instinkt, der einen gewissen Knaben vor
grossem Unglück bewahrte, der bei hohen Fällen
oder Stürzen ,seinen Engel gesandt hat» auf dass
sein Fuss an keinen Stein stiesse', der ihn einmal
vor wilden Pferden durch die Hand eines furcht-
samen und wahrhaft feigen Mädchens gerettet
hat«^) Ich glaube, es ist keiner was, der nicht
*) Der Vorfall, auf den hier angespielt wird, ereignete
sich in Reutlingen während der frühesten Ktnderjahre
meines Vaters, als er einmal mit andern Knaben auf der
Strasse spielte und durch wild daher rasende Pferde in
iusserste Lebensgefahr gebracht wurde.
Digitized by Google
— 74 —
diesen Glauben hat, und dieser Glaube hat mir oft
geholfen. So auch jetzt und ich bin's zufrieden,
dass Ich mdnem Gesicht gegenüber eine Wand
und keine Gemeinde habe/*
Kürzere Predigten sind wohl selten gehalten
worden als die des Vikars Hermann Kurz. Eines
Morgens ging er von Hause weg, während der
alte Pfarrer sich noch ankleidet^ und als dieser
fertig war und ihm folgen wollte, fand erden Neffen
auf dem Rückweg von der Kirche. — „Hast du
deine Aufzeichnungen vergessen?** fragt er be-
stürzt» »bieiby bleib, ich bringe sie dir gleich." —
,,Nein» Onkel,'' Ist die Antwort, ,4ch bm schon
fertig."
Vorzugsweise predigte er über die Liebe; wie
die Gemeinde erbaut war« weiss ich nicht. Der
freundliche alte Vorstand des Predigerinstituts
sagte ihm als Kritik über dne seiner sonntäg-
lichen Leistungen: „Recht hübsch — blühend —
man könnte sagen edel — fehlt leider nur das
spezifische Christentum/'
Als heitere Erinnerung an sdne Vikariatszeit
pflegte er die Anekdote zu erzählen, wie er einst
mit einem andern Vikar eine ausgelassene Wette
einging. Jener sollte seine Braut Sophie (schwä-
bisch im Dimunitiv „Sophiele") von der Kanzel
rufen und begann die Predigt mit den Worten:
„So viele, ach so viele sind es, welche** — wo-
gegen Hermann Kurz übernommen hatte, die
«einige nut »sondern" zu beginnen, und dem-
gemäss auf der Kanzel anhob: „Sondern wir.
Digrtized by Google
— 75 —
meine geliebten Zuhörer, die christliche Religion
von allen andern Religionen ab/'
Doch der Galgenhumor half ihm ao wenig wie
die Sophistik weltMügerer KoU^en über den
iSwiespalt hinweg. Mehr als emmal trat die Ver-
suchung, seinem Leben ein Ende zu machen» die
ihn schon im Stift in leidenschaftlichen Momenten
befallen hatte, an ihn heran. Als er diese Pein
•einige Wochen mit sich herumgeschleppt hatte,
erklärte er eines Tages dem Onkel entschlossen:
„Lieber tot sein, als Vikar!'* und der Theologie
^uf immer Valet sagend, wagte er den Sprung ins
Unbekannte^ indem er za Anfang des Jahres 1836
nach Stuttgart übersiedelte, um dort als freier
Schriftsteller zu leben.
Dig'itized by Google
Erste Schaffensperiode
Nackt und bloss W19 ein aus dsm Neste
fallener junger VogfA war Hermann Kurz aus dent
Ehninger Vikariat in die Welt hinausgetreten,
und nun galt es, aus nichts sich eine Existenz za
schaffen. Welch ein Glück, hätten seine härter
gearteten Vorfahren das für ihn besorg^. Der
seelisch verfeinerte Sprössling eines alten Ge-
schlechts besass dafür nicht mehr die nötige Un-
empfindlichkeit und die harten Ellbogen» noch
weniger hatte er gelernt, sich zu ducken und zu
schmiegen. Von ritterlichem Naturell» höchst im-
pulsiv, aber eben so leicht zurückgestossen, inner-
lich weich und äusserlich spröde, ohne alle Welt-
Idugheit stand der protektionslose Jüngling der
Welt gegenüber, mit keinem andern Rückhalt als
einem Häuflein guter junger Gesellen, zwar be-
reit, einer für den andern durchs Feuer zu gehen,,
aber alle gleich mittellos und unerfahren.
Zwar zuerst sah ihn dieses neue Leben sehr
verhossungsvoll an. Noch in Ehningen, wo er
die geheizte Stube mit dem alten Onkel teilen
musste, luid in der ersten Zeit seines Stuttgarter
Aufenthalts war in rascher Folge dne Reihe
jener frischen, klaasisch abgerundeten Novellen,
erachiencn* die von je die Bewunderung der Ken-
Digrtized by Google
— 77 —
Her gewesen sind. Der Dichter, der sie mit flie-
:gender Feder nur so hingeworfen hatte, las sie
jetzt Tag für Tag im „Morgenblatt*' und staunte
selbst über ihre Kunstreife. Nirgends ist hier
«ine Unsicherheit» ein Tasten oder Straucheln zu
bemerken. Der Anfänger trat als geborener £r-
s^hler auf den Plan* Sie wurden noch im selben
Jahr in Buchform gedruckt, leider in dnem klei-
nen Stuttgarter Verlag und unter dem nicht gut
gewählten Titel „Genzianen", was ihren Erfolg
beeinträchtigte» Nicht lang suvor war bei Hall-
beiger ein kleines Bändchen Gedichte erschienen,
zwar als Sammlung etwas verfrüht, weil es die
lyrischen Züge des Autors noch nicht klar genug
ausprägte, aber schon einige sdner schönsten
St^e enthaltend. Indessen hatte der ungestüm
V orwärts drängende bereits nach breiteren Auf-
gaben gegriffen. Der Plan zu dem ersten grossen
Roman Heinrich Roller'' war gefasst und die
Studien dazu schon begonnen* Der Dichter ar-
beitete in jenen heiteren Tagen so Imht, dass er
im Vollgefühl seiner Schaffenskraft dieses Werk
nur als Vorstufe ansah, bei der er sich nicht lange
aufzuhalten gedachte, denn heimlich stand sein
Sinn nach den dramatischen Lorbeem; em „Kon-
ra<Un'^ für den er seine beste Kraft einsetzen
wollte, schwebte ihm damals vor der Seele. Ob
er sich hierin täuschte, wer darf das zu entschei-
den wagen? Jedenfalls wird niemand, der sich
gewisser Szenen der „Heimatjahre** oder des
„Sonnen wirts" erinnert, dem Verfasser die tra-
Digrtized by Google
-Ta-
fische Gewalt absprechen, wenn auch diese Ro*
nane sonst gerade den geborenen Epiker kenn-
seichnen. Unterdessen aber wollte er mit sdnem
ersten Roman nur rasch der engeren Heimat einen
Tribut im Geiste des von ihm hochverehrten Wal-
ter Scott darbringen» bevor er welterginge. £r
ahnte damals noch nicht die innere Tragweite der
Aufgabe, die er sich gestellt hatte; noch weniger
ahnte er, was dieser Tribut ihn kosten, wie lang
diese Stufe ihn durch elende rein äussere, aber
schidcsalsvolle Hemmungen festhalten sollte. Ifit
dem „H^nch Roller^, der unter seinem sinteren
Titel „Schillers Heimatjahre" bekannt ist, be-
gann des Dichters Passionsweg. Hätte er vor-
aussehen Icönnen» dasa ihm das Manuskript des
ersten Bandes im Schreibtisch vergilben sollte»
bevor das Buch nach sechs vollen Jahren die
Presse sah, er hätte nie die Feder dafür einge-
taucht, und freilich wäre dann der Genius des
Scfawabenlandes um sein schönstes sonnigstes
Stück Heimatpoesie ärmer. Die Schmersens-
geschichte dieses Romans ist oft genug erzählt
worden, denn sie ist zugleich selber ein Stück
schwäbischer Kulturgeschichte» freilich ein trau-
riges, und ich liesse am liebsten den Schleier dar-
über fallen, läge nicht gerade hier der Schlüssel
zum ganzen späteren Leben meines Vaters. Denn
was sich nachmals von Misslingen und äusserem
Unheil an seine Fersen heftete» hat hier seinen
Anfang und Ursprung.
Herr von Cotta, der damalige Monarch des
Digrtized by Google
— 79 —
Buchhandels» hatte aich durch Gustav Schwab
um das interessante Uanuskript selber beworben;
er billigte den ihm vorgelegten Plan des Ganzen
und gewährte dem jungen Autor eine halbjährige
Pension als Vorschuss. In dem hochgelegenen
reizendenBuoch» angesichts der geliebten Albkette»
wo Rudolf Kausler bei seinem Onke!» dem Pfarrer
Reinf eider, das Vikariat versah, Hess Hermann
Kurz sich mit seiner Arbeit nieder. Abwechselnd
dort und in Stuttgart oder auch in dem nahe von
Buoch gelegenen Winnenden bei Kauslers An-*
gehörigen schrieb er mit Feuer die ersten Kapitel
seines Romans, die gleich probeweise im „Mor-
genblatt*' gedruckt vmrden und lebhafte Erwar-
tungen erregten« Der Roman brauchte nur fertig
ru erscheinen» und die Tafel des Lebens war für
den jungen Autor aufs glänzendste gedeckt. Al-
lein sein böser Genius hatte es anders beschlossen*
Als das erste Buch des .«Heinrich Roller" voll-
endet war, geschah das Unglaubliche, dass Cotta
den Verlag nachträglich ablehnte; einen schrift-
lichen Kontrakt besass der weltunerfahrene Dich-
ter nicht. Der Grund der Weigerung lag in einem
Höflingsbedenken: der freiherrUche Verleger, der
noch mehr Hofmann als Buchhändler war, fürch-
tete, dass das Buch allerhöchsten Orts Anstoss
erregen könnte, weil König Wilhelm I. seine Vor-
fahren nur im panegyrischen Ton besprochen
hören wolle. Eine Konmiisnon von Hofherm sollte
fiber das Schicksal des Werkes entscheiden, und
ihr Urteil fiel zu Ungunsten des Dichters aus. Und
Digitized by Google
8o —
doch konnte die Gestalt des geistreichen „Karl
Herzogs*', die die Widersprüche einer werdenden
Zeit in sich vereinigt, mit ihrem Licht und ihren
Schatten nicht liebevoller gezeichnet werden, als
es hier geschehen war. Dies erkannte später
König Karl ausdrücklich an, der mit diesem Vor-
gänger einen besondem Kultus trieb und dem
die „Heimatjahre'' darum nachmals geradezu ein
LiebHngsbuch wurden; zu späte Sühne für den
toten Dichter, den byzantinischer Übereifer zur
Unzeit aus seiner raschen Ruhmesbahn gcstossen
hatte.
Was nun beginnen? Ober dn Jahr hatte die
Arbeit schon gedauert, und was mit leichtem Mut
begonnen war, das hatte unter des Dichters Hän-
den inuner wachsende Bedeutung angenommen.
Immer tiefer hatten die Studien ihn hineinge-
zogen, ein ungeheures» damals noch völlig neues
Material, grossenteils aus mündlichen Überliefe-
rungen, war bewältigt, und eine ganze versunkene
Welt, die Welt* in die Schillers Jugendentwick-
lung fällt, war aus dem Grab beschworen; sollte
sie nicht ins Dunkel zurücksinken, so musste das
Werk auf gut Glück, auch ohne Verleger, fort-
gesetzt werden. So wurde der Roman, der nur
die Lebensbasis für das weitere Schaffen her-
stellen sollte, zum Selbstzweck, der die schmerz-
lichsten Opfer forderte. Hätte der Autor zu
leben gehabt, so wäre der Sieg schnell entschie-
den gewesen. Aber er war nuttellos, und noch
schlimmer als das» er musste jetzt auch noch Cot-
Digitized by Google
— 8x
las Vorschüsse, die ihn bisher über Wasser ge-
ludten hatten, durch nachträgliche Arbeit abver-
dienen. Natürlich rückte dabei der Roman nur
langsam mit unendlichen Unterbrechungen vor-
wärts, während der fertige erste Teil um einen
Verleger hausieren ging. Aber Cottas Weige-
rung war ruchbar geworden und hatte den ganzen
württembergischen Buchhandel kopfscheu ge-
macht; die auswärtigen Firmen aber wie Brock-
haus in Leipzig und Sauerländer in Frankfurt
wollten sich auf das unvollendete Werk eines
noch namenlosen schwäbischen Autors nicht ein-
lassen. Und nun begann der Kampf mit der
eisernen Not.
Sein geliebtes Buoch, wo er mit dem Förster
und dessen Tochter halbe Tage lang jagend im
Wald umherstreifen und den Kopf erfrischen
konnte, hatte er gleich nach Cottas Rücktritt ver-
lassen müssen, weil er die ausstehende Miete und
andre Rechnungen nicht mehr zu bezahlen ver-
mochte. Er hielt sich in den verborgensten Win-
kefai der Hauptstadt auf, um vor den Gläubigem
sicher zu sein, und fristete durch mühselige und
zeitraubende Brotarbeit sein Leben, wobei ihm
nun die früh erworbene Kenntnis fremder Spra-
chen zustatten kam. Eine lange Reihe metrischer
Übersetzungen aus dem Englischen, Italienischen,
Portugiesischen, Spanischen und dem Mittelhoch-
deutschen, ich nenne davon nur die drei Bände
des „Rasenden Roland'* und Gottfrieds »»Tristan'V
sind das Ergebnis jener ersten Stuttgarter Jahre,
Isolde Kurz, Hermann Kuni. 6
Digrtized by Google
— 82 —
die die fruchtbarsten für seine eigne Muse hätten
sein sollen. So mdsterlich diese Übersetsungen
geraten sind, sie waren doch dne Vergeudung der
edelsten, eben reif gewordenen Kräfte, denn auch
andre konnten diesen Aufgaben gerecht werden
— Deutschland hat ja Übersetzergenies hervor-
gebracht» die» ohne mit Produktionskraft begabt
zu sein, in der Wiedergabe des Fremden das
Wort „unmöglich" zuschanden machten — was
Hermann Kurz an Eigenem der Welt zu geben
hatte» konnte kein andrer an seiner Stelle geben*
Hätte wenigstens die Brotarbeit immer ihrenllann
ernährt, aber auch hier wurde ihm der materielle
Ertrag streitig gemacht : der Verleger Hollmann»
für den er den »»Rasenden Roland" übersetzte»
stdlte eines Tages plötzlich die laufenden Zah-
lungen ein, weil ihm über die Gangbarkeit des
von ihm selbst gewählten Artikels 2weiiel auf-
stiegen» und auch hier war der Dichter genötigt»
die Arbeit» die schon bis zum vierzigsten Bogen
gediehen war» auf eigenes Rinko fortzuführen
und sich für die beiden letzten Bände einen an-
dern Verleger zu suchen.
Seine Arbeitskraft war in diesen Jahren un-
geheuer. Im Winter 1838 übersetzte er bis zu
vierzig Oktaven Ariost im Tag. Man sieht es
diesen mit kecker Grazie hingeworfenen» in leich-
ter ReimfiUle tändelnden Strophen» die mit dem
Obermut des Originals wetteifern» wahrlich nicht
an» dass der Obersetzer sie oft genug zu Bette
liegend schmieden musste» weil das Holz zum
Digitized by Google
— S3 -
Binlieiseii fdilte und wefl bdun Liegen die Leere
des Magens minder fühlbar war. Jene Stelle in
den »»Heimatjahren", wo der junge Verfasser der
Räuber für die ersten Lorbeem» die ihm an einem
frühen Morgen in seine dürftige Stube fallen» dem
Bri e fträger das Porto schuldig bleiben mtiss, ist
einem eigenen Erlebnis aus jener Zeit nach-
erzählt.
Dagegen ging es dann auch gelegentlich wie-
der hoch her, wenn von irgendeiner Seite Bezah-
lung eintraf; denn in Zeiten der Fülle das Geld
ängstlich zurückzulegen, war nicht des jungen
Dichters Art. Er wollte wohl arbeiten» bis ihm
das Blut aus den Nägeln spritzte» aber er wollte
auch wieder aus dem Vollen leben, geniessen, sich
selber fühlen. Reiten und jagend durch die Wäl-
der streifen war seine Leidenschaft. Er brauchte
solche Erfrischung« um sich von dem mnern
Druck zu erholen und wieder an seinen Stern zu
glauben. So kam er eines Tages nach Buoch ins
Pfarrhaus geritten und sagte triumphierend, jetzt
habe er Geld genug imd könne alle Rechnungen
bezahlen, er stecke voll von Geld, und nun begann
er, Rollen und Päckchen voll Geld aus der Tasche
zu ziehen,
„Nach einer Weile", so er^hlt ein jüngeres
Familienmitglied, das als Kind zugegen war,
„ging er zu Freund Rudolf in der Grossmutter
hintere Stube, weil er auch in die Juchtenstiefel,
die er als Reiter gerne trug. Geldrollen gesteckt
hatt^ die aufgegangen waren. Die Stiefel woll-
en
Digrtized by Google
^ 84 -
ten aber nicfit vom Fuss» wal die Guldenstücke
sich festgekeilt hatten, und endlich musste mch
der Dichter auf den Rücken legen und, die Füssc
in die Höhe streckend, so lange schütteln, his
unter dem Gelächter des Freundest der zum Ab-
zlehen der Stiefel gerufenen Magd und der her-
beigeeilten fünf Kinder Gulden und Taler Stück
für Stück aus den Stiefeln sprangen und über den
Fussboden rollt«a» worauf am Ende die abge-
zogenen Stiefel auch den Rest des Geldes her-
gaben."
Die kleine Szene ist charakteristisch für die
ganze Lebenshaltung des jungen Genies. Wenn
er Geld hatten behandelte er es von oben herab
und freute sich, es so verachten zu können; trat
dann wieder Ebbe ein, so biss er die Zähne zu-
sammen, und sein Stolz, der nicht zu beugen war,
wurde zur Schroffheit, an der auch die teuersten
Freunde sich zuweilen schmerzhaft sttessen.
Denn es ist freilich wahr, dass seine eigene Natur
gleichfalls zur Verwirrimg seines Schicksals-
fadens beitrug — in welchem Dichter steckte
nicht mn Stück Tasso? — » aber die Bitterkeit
war trotz alledem nur ein vorübergehender
äusserer Anflug, und ein einziger Sonnenstrahl
des Glücks genügte, um alle Herbigkeit zu
schmelzen.
Zu Ende der dreissiger Jahre erschien eine
neue Serie jener kleinen Novellen, die der Mehr-
zahl nach zu den künstlerisch reinsten und voll-
kommensten ihrer Gattung gehören. Da aber die
Digrtized by Google
- 85 -
Not ihn drängte» das Büchlein schnell hinaus zu
geben» so kam es wiedenm, wie schon bei den
„Gensianen'S su keiner glücklichen Zusammen-
stellung, ja der neue Band, der diesmal in Pforx-
heim erschien, wurde noch kunterbunter als der
erste» denn er enthielt nicht nur Erzählungen in
Versen neben den Prosageschichten» sondern noch
überdies lyrische und dramatische Proben» alles
in seiner Art reich und saftig, aber nicht ein-
heitlich genug, um auf ein unvorbereitetes Publi-
kum zu wirken. Erst Jahre si>äter wurden die
serstreuten Edelsteine in einem richtigen Novel-
lenband zum Geschmeide zusammengefügt.
Dass der Dichter in jenen Jahren der höchsten
Leistungsfähigkeit mit seiner Arbeitskraft nicht
besser haushalten konnte» hat sich später furcht-
bar an ihm gerächt. Schon damals spürte er
über dem Ariost zuweilen eine „gelinde innere
Verzehrung'S doch hatte er ihrer nicht weiter acht,
sie wich auch schnell» sobald eine frische Aufgabe
an ihn herantrat. Aber später, in den Mannes-
jahren, zeigten sich die Folgen semer zerreibenden
Tätigkeit, die nicht durch geregelte Ruhepausen
abgelöst, noch durch kräftige gieichmässige Er-
nährung aufgewogen wurde.
Ihn seinem unsichem Dasdn m entreissen»
traten die Freunde zusammen und suchten ihn
in einer Hofmeisterstelle unterzubringen. Er
selbst war» von Not gedrängt, jetzt mit allem ein-
verstanden« nur stellte er die Bedin^^ung, dass er
das Land nicht zu verlassen brauche. Aber die
Digrtized by Google
9
einheimischen Aussichten zerschlugen sich» und
als die Freunde ihn nun rar Annahme emes
Postens in Russland drängen wollten* bäumte er
rieh entschlossen auf; denn das empfand er als
eine Verdrängjung aus seinem eigensten Selbst.
£r hatte kein Verlangen nach der Fremde, ilin
lockt; die noch ungeborenen Kinder seiner Muse
bedurften zu ihrem Entstehen der Heimatluft.
Das Fernweh, das sonst eine begabte Jugend so
gewaltig fasst» kannte er nur in poetischer Ge-
stalt: in der «»Reise nach dem Meer^' hat er es
unwiderstehlich dargestellt, aber er hat es nicht
als Schicksalsmacht an sich selber erfahren. Er
besass ein magisches Lämpchen, unter dessen
Scheine sich jeder Winkel seiner Heimat in einen
Paradiesgarten verwandelte; auf fremdem Boden
war er nicht sicher, dass es seine Zauberkraft be-
wahrt hatte. Ähnlich erging es ja auch Mörike.
Als dieser einmal den Grafen Schack in sein ge-
liebtes Uracher Tal führte» um ihm dort „den
schlinsten Fleck der Erde'* su zeigen, da machte
der Weltwanderer, der eben vom Goldenen Horn
zurückgekehrt war, ein etwas langes Gesicht, denn
er sah nichts als emen grünbewachsenen Felsen;
Mörike aber hätte den grünen Fdsen gewiss nicht
für die Ufer des Bosporus hingegeben, so eigens
waren seine Augen auf die „urbemoosten Wasser-
zellen" und die ,,alten Wolkenstühle*' seiner
Jugend Ungerichtet
Um zu begreifen« warum mein Vater so hart-
Digitized by Google
- 87 -
nackig an seiner undankbaren Heimat festhielt,
muas man seine Werke mit verstehender Seele
lesen. Von frühester Jugend an hatte er mit
umtn hellen offenen Augen, leiblichen und gei-
stigen, „Milieustudien" getrieben — Lokalstudien
nannte man's zu jener Zeit» aber die Sache war
dieselbe — ; er hatte zuerst seine Vaterstadt mit
ihrer Umgebung, dann, immer wdter greifend,
allmählich das ganze Schwabenland sich aufs
intimste zu eigen gemacht. Hier wusste er in der
Struktur des Bodens ebenso genau Bescheid, wie
in den Sitten und Sagen; jeder Bergrücken, jeder
Wasserlauf, jedes verborgene Tilchen, jede Aus-
sicht mit ihren wechselnden Beleuchtungen war
ihm vertraut, er kannte alle die altertümlichen
Städtchen, die stillen heimeligen Pfarrdörfer, die
er schon als Knabe geliebt hatte, wenn er die
Vakanz bei Verwandten auf dem Lande ver-
brachte oder sein Freund Bilhuber ihn zum
Maienfest mit nach Hause nahm. Und ebenso
genau kannte er die Menschen, die dieses Land
erzeugt: die „H^matjahre" md eine grandiose
Galerie schwäbischer Charakterköpfe von dem
liberalen Despoten Karl und den unsterblichen
Opfern seiner Ersiehungswut, Schiller und Schu-
bart, durch alle Schichten der damaligen Gesell-
schaft bis herab zu den rechtlosen Vaganten; sie
alle sind so porträthaft gehalten, als hätte der
Dichter jeden einzelnen persönlich gekannt. Wie
sollte ihm das Ausland jemals diese Vorteile er-
setzen? Und seine Sprache tsdt dem seltsamen
Digitized by Google
— 88 —
ahnungsreichen Zauber, die, ohne in den Dialekt
zu fallen* vom Kolorit der Landschaft unsertrenn-»
lieh ist^ aus der es wie von alten Sagen redet und
raunt und die deshalb immer noch hinter den
Worten selbst eine Perspektive in unergründliche
Fernen eröffnet, diese Sprache war nur den hei^
mischen Gegenständen völlig angemessen. Her-
mann Kmz war nicht verblendet über sein Land
und seinen Stamm; er hat ihm die Meinung in
seinen Werken oft deutlich genug gesagt, und die
„fanatische Prosa*' im Durchschnitt der Schwa-
bengesichter konnte ihn im Leben oft genug wild
machen; aber die ganze Art seiner Begabung ver-
bot ihm, den Staub von den Füssen zu schütteln.
Und so sehen wir das qualvolle Schauspiel weiter*
gehen, dass der Dichter von der Heimat nicht
lassen kann und die Heimat sich nicht um ihn
bekümmert. Was lag dem Lande zu jener Zeit
an einem Dichter mehr oder weniger; es hatte
deren so viele gehabt und die meisten im Elend
verkümmern lassen.
Unterdessen setzte der ,,Heinrich Roller'*
seinen Leidensweg fort. Zunächst übernahm im
Jahre 1841 der Tübinger Buchhändler Fucs den
Verlag des Romans, und zwar beschloss man die
vorläufige Ausgabe des ersten Bandes, während
der Dichter sich verpflichtete, so schnell ^e mög-
lich den Rest zu liefern. Aber als der Druck be-
ginnen sollte, liess Fues sich durch die hämische
Kritik eines ganz grünen Studenten abschrecken
und trat zurttck. Der Dichter verklagte ihn wegen
Digrtized by Google
- 89 -
Kontraktbruch und gewann, doch wurde der Pro-
zess in zweiter Instanz verschleppt, und ^ kam
2tt kesnein Resultat» so dass der Autor verzweifelt
seiii Manuskript zurückzog. Dennoch spann er
den wieder aufgenommenen Faden der Erzählung
unentmutigt weiter, obgleich ihm oft, wie er an
einen jüngeren Freund und Kunstgenossen
schrieb, dabei zumute war, als hätte er den Nach«
lass eines jungen Poeten übemonunen, den er
nun widerwillig zu Ende führe.
Inrwischen war ihm noch einmal ein trüge-
rischer Hoffnungsstrahl aufgegangen, denn Herr
V. Cotta interessierte sich jetzt plötzlich aufs
neue für das Werk, das er sich abermals vorlegen
Hess, und es hatte den Anschein, als sollte der
Roman nun doch unter der Cottaschen Flagge in
die Welt gehen. Weshalb es nicht geschah, wes-
halb Cotta nach einigem Schwanken aufs neue ab-
lehnte, darüber sind alle, die sich mit den selt-
samen Geschicken dieses Buches befassten, im Zwei-
fel geblieben. Man glaubte schliesslich zum Teil,
den Grund in einem buchhandlerischen Bedenken
über die Zugkraft des Werkes finden zu müssen.
Dem war ganz und gar nicht so. Ich bin imstande,
diese Zweifel vollkommen aufzuklären, und
zwar mit des frdherrlichen Verlegers ^enen
Worten, denn der Brief, der die Rücksendung des
Manuskriptes begleitete, befindet sich in meinen
Händen. Dieser Brief, der in nichts an die kon-
ventionellen Ablehnungsphrasen der Verleger er-
innert, verdient es seiner Merkwürdigkeit halber.
Digrtized by Google
— 90 —
im Wortlaut wiedergegeben zu werden.') Er be-
weist, wie hoch Herr v. Cotta und seine Um-
gebung den Wert des Buches einschätsten und
Der Brief lautet:
„Euer Wohlgeboren
beehre ich mich anliegend das mir gütigst übersandte
Manuskript wieder zurückgehen zu lassen, aber nicht ohne
das Gefühl wahren Bedauerns, denn das Ganze Ihres
Romanes, den ich bis jetzt nnr aus kleineren Bruchstucken
kannte hat meine Erwartungen weit übertroffen.
Man sieht daraus, welche Masse von Studien Sie zu
diesem Zweck gemach^ und mit welchem Talent Sie Jahre
lang daran gearbeitet haben müssen.
Die glückliche und sinnreiche Verwebung der merk-
würdigsten Erdgnisse und Personen der siebenziger und
achziger Jahre in Ihre Geschichte hat mich Überrascht^
ebenso wie die wahre Schilderung der Geister der vor-
revolutionären deutsehen Zustände, die Sie am Beispiele
der schwibischen meisterhaft darstellen. Kein Faden ist
müssig angesponnen und die Geschichte sehr spannend:
sie muss Bejrfall finden.
Der philosophische und politische Standpunct auf den
Sie sich stellen erlaubt Ihnen die Vorzüge und Gebrechen
jener Zeiten und Menschen in gerechter Wage zu wägen,
und Sie thun dies so geschickt, indem Sie fost nie
ein Resultat ausspredien^ sondern die Urtheüe aus
den Charakteren der handelnden Personen selbst ent-
wickeln.
Darf ein Buchhändler es wagen zu sagen, dass sein
Auge auch Schwächen entdeckt hat, so fordert die Ge-
wissenhaftigkeit doch zu bemerken, dass die Vorzüge und
schönen Stellen dieselben weit und glänzend überwiegen.
Wie grossartig ist Schubarts Fluch 1
Dass die JG. Cottasche Buchhandlung diesen vor«
trefflichen Artikel (denn das ist er und Ihr Buch wird
Digrtized by Google
— 91
welche Wirkung sie ihm auch auf die Massen zu-
trauten; dabei stellt er dem literarischen Ver-
ständnis des Brief Schreibers ein (plinsendes Zeug«
nis aus. Freilich klingt die Vorhersage, die Ver-
leger würden sich um diesen Artikel schlagen, wie
bitterer Hohn angesichts der trostlosen Schick-
sale» die das Buch gehabt hat» sie war aber ohne
grosses Glück machen, reissend gelesen werden) gleich-
wohl nicht nimmt, liegt einzig in der persönlichen Stellung
ihres Eigentümers.
Die Verleger werden sich um denselben schlagen.
Ich hoffe, sie werden Ihnen auch das Honorar zahlen, das
Ihr Werk verdient, das mit f 50 pro Bogen nicht zu teuer
erkauft ist.
Ist es Ihnen möglich den Vorschuss früherer Jahre
bey dieser Gelegenheit ganz oder theilweise zu tflgen» so
soll es mich freuen.
Am leichtesten geschiebt es» wenigstens zum Theil,
wenn der Verleger» zu dessen Vortheil es auch dienen mag
Ihnen vor dem Druck noch geststtet eine Reihe von Ab-
schnitten im Moigenblatt geben» und damit auf das Verk
•aufmerksam machen zu dflrfen.
Wo Sie sich auch hinwenden» so wünsche ich, dass
•Sie mich und die Journale der J. G. Cottaschen Buch-
handlung nicht vei^essen und mir die Geneigtheit erhalten
machten auf welche ich so viel grösseren Werth lege, als
meine Hochachtung für sie durch Ihr Werk gestiegen Ist.
In ausgezeichnetster Hochachtung
Stgdt 9/XlI 42 Georg v. Cotta*«*
Zur Steuer der Wahrheit soll nicht unerwähnt bleiben,
tlass der letzte Rest des in dem Briefe beregten Vor-
schusses, dessen Tilgung dem jungen mittellosen Autor
sehr schwer fiel, am Ende von Cotta gelöscht worden ist.
Digitized by Google
^ ^ —
Frage aufrichtig gemeint, und aufrichtig ist auch
die Versicherung, dass das Nein nur aus persön-
lichea Gründen erfolge* Kein Zweifel, es warea
auch jetzt nur die alten Loyalitätsbedenken, die
den Alieinherrscher des württembergischen Buch-
handels bewogen, dieses Prachtstück definitiv
fallen au lassen und dadurch — unabsichtlich —
dem Buch und seineni Autor den Weg des Er-
folges zu verschliessen. Denn durch den Um-
stand, dass der „Heinrich Roller" nicht in die rich-
tigen Hände kam, ist das Lebensschiff meines.
Vaters» das so stolz vpm Stapel gegangen war»,
zuerst auf die Sandbank getrieben worden.
Als nach sechs langen Jahren des Suchens
und Harrens das Werk endlich unter dem Titel
^Schillers Heimatjahre*' im Franckschen Verlag^
zu Stuttgart erschien und in drei Bänden vor ihm
lag, da war es dem Verfasser wie ein Traum, denn
er hatte nicht mehr gehofft, die Herausgabe zu
erleben.
Aber die Freude war von kurzer Dauer» denn
als es ans Bezahlen ging, fehlten die Gdder, ea
kam abermals zu einem nutzlosen Prozess, neben
dem mein Vater noch eine Injurienklage führen
musste, so eigentümlich war die geschäftliche Ver--
kehrsform des damaligen Inhabers der Firma.
Vlare ja sogar unser sanftmütiger Onkel Emst,
der sich bei diesem Herrn zu mündlicher Ver-
ständigung einfand, beinahe in Tätlichkeiten ver-^
wickelt worden. Ob eine Einigung erzielt wurde,,
wdss ich nicht, ich weiss nur, dass noch durch
Digrtized by Google
— 93 —
Jahre in memes Vaters Briefen an Kaualer ym
dem ausgebliebenen Honorar für die „Heimat-
Jahre" die Rede ist. Nichts hatte dieses hoff-
nungsreiche Werk ihm eingetragen als endlose
Kümmemisse und die Aufregungen dreier Pro-
zesse. Und von nun an waltete durch alle Zeit
der Unstern über den „H^niatjahren" weiter.
Unter den Werken meines Vaters trug gerade
dieses, das in so eminentem Sinne unterhaltend
ist» alle Garantien eines glänzenden Erfolges in
sich; hätten ja sogar seine kleinen Schwächettt die
der Zeit angehörten, ihm die Gunst der Zeit
sichern müssen. Aber der kleine Stuttgarter
Verlag besass gar nicht die Mittel» es über die
Landesgrenze hinaus zu verbretten. In Württem-
berg wurde es bewundert, gelesen — aber nicht
gekauft; dreizehn Jahre sollten vergehen, bevor
die erste Auüage erschöpft war. Hauffs Lichten-
stdn» der mit seiner kindlichen Romantik heute
nur noch als Jugendschrift im Ganzen geniessbar
ist, sättigte damals auch den reiferen Leser und
deckte die Bedürfnisse des bücherkaufenden Publi-
kums vollauf. Es war ein Fall, wo das bekannte
Sprichwort sich umkehrte: hier wurde das Gute
des Besseren Feind, denn der Schwabe ist von
Natur langsam und ausschliesslich, hat er einmal
einen Dichter in sein Herz geschlossen, so besinnt
er sich lange, ehe er einem andern dieselbe Gunst
crweisst. Zudem, was den Hauffschen Roman
so populär machte, waren nicht allein seine Vor-
züge, die prächtigen Figuren der Ulmer Rats-
Digitized by Google
— 94 —
herm ynd das lebendige Landschaftskolorit, mm»-
dem in noch höherem Grad die sentimentale
Liebesgeschichte; denn wo das Starke sich mit
dem Süsslichen paart, da gibt es eine Mischimg,
die jedesmal ihre Zeit eroberL
Digrtized by Google
Hermann Kurz um die Wende des 30. Jahres
Beziehungen zu Mörike
Was verstehende und anerkennende Freund-
schaft von den Unbilden des Schicksals vergüten
kann, das ist Hermann Kurz zu jener Zeit in rei-
cher Fülle vergütet worden. Allen voran war
ihm schon das Herz des Grössten zugeflogen: seit
dem ersten schönen Buocher Sommer verband
ihn innige Freundschaft mit Eduard Mörike, den
der jüngere Dichter bereits im ^Wirtshaus
gegenüber^' als den neuen Heros der Poene ge-
feiert hatte, darin der ganzen Kritik weit vor-
angehend; Mörikes Opemtext »,Die Regenbrü-
der" wurde der Gnmd zur persönlichen An-
näherung. Krankheit hatte den Verfasser ge-
hindert, die Hebliche Dichtung zu vollenden, da
ergänzte Hermann Kurz auf die Bitte des Kom-
ponisten Ignaz Lachner die fehlenden letzten Sze-
nen mit so geschickter Hand, dass niemand
die Bruchstellen erkennen wird. So leicht und
elastisch war damals seine Muse, dass er das
fremde Werk, an das der Verfasser auch in der
Rekonvaleszenz sich nicht zu rühren getraut^ in
vier Stunden XU Ende brachte. Mörike war hoch-
erfreut, und es begann der beglückendste brief-
liche Austausch zwischen beiden. Der dreiand-
Digitized by Google
zwanzigjährige Hermann Kurz erhielt den
Vertrauensauftrag, des älteren Freundes Ge-
dichte für die erste Buchausgabe zu ordnen,
unterbreitete dagegen jenem sein eigenes Bänd-
chen zur Zensur und nahm jeden Wink des
Gereifteren mit Freuden an. Denn auf diesem
Boden herrschte Mörike mit seinem rein lytu
sehen Instinkte unumschränkt. Hermann Kurz,
dem schon damals reizende I^ieder gelungen
mren und der später in seinem f rden ScUuss des
»»Tristan^ eine so nüichtige lyrische Kraft aus-
strömte, sollte doch sdne vollsten Loffieem auf
einem andern Gebiete pflücken, wo er in der deut-
schen Literatur keinen Meister über sich er-
kannte.
Abgesehen von dieser direkten Zensur vermag ich
übrigens keinen Einfluss Mörikes auf die Lyrik
meines Vaters wahrzunehmen, dafür war schon
ihr Naturell zu verschieden. Auch wäre ein
solcher chronolc^sch schwer zu erklären, da
meines Vaters erstes und einziges Bändchen Ge-
dichte früher erschien als die Gedichtsamm-
lung Mörikes. Dagegen höre ich in Hermann
Kurz* Jugendliedem zuweilen Töne heraus, die
mich an Thomas Moore erinnem, mit dem er
frühe vertraut war, wie denn auch von den
englischen Dichtem, die er übersetzte, keiner
so völlig restlos in seinen Versen aufgegangen ist
wie dieser. Ich vermisse schmerzlich in der neuen
Sanrmilung „Das Paradies und die Pcri", denn auf
dieser Übersetzung liegt ein Glänzen und
Digrtized by Google
— «r —
Flimmern der Sprache, das sie 2U einer vittlig
eigenen Schöpfung macht«
Mit Mörikes Freundschaft war dem jungen
Dichter eine neue Welt aufgegangen. So nah die
Jugendgenossen seinem Herzen standen, er haUe
doch Saiten* auf denen sie nicht spielen konnten»
deren Töne erst gegen Mörike laut wurden. Wer
sehen wiU, was die zwei an Humor und Phantasie
ebenbürtigen Freunde einander mit vollen Hän-
den gaben, der lese den von J. Bachtel d heraus-
gegebenen Kurz-Mörikebriefwechsel.^) Ich habe
m diesen köstlichen von Geistes- und Lebensfülle
sprudelnden Briefen noch einen kleinen Nachtrag
2U liefern, der eine Lücke zwischen No. i8 und
19 ausfüllen und verschiedene unverständliche
Stellen, besonders das auf ein Petschaft meines
Vaters bezügliche Wortspiel en vain und en vin
erklären soll. Zum Verständnis der Situation ist
es nötig zu wissen, dass Mörike und Hermann
Kurz sich persönlich noch nicht kannten» als schon
der wärmste Austausch zwischen ihnen im Gange
war. Man nahm damals selbst eine so kleine
Reise wie zwischen Cleversulzbach und Stuttgart
umständlich; besonders der empfindsame Mörike
scheute nicht nur einen gdstigen Luftwechsel»
sondern auch jeden fremden sdüirferen Luftzug,
der ihm in sein stilles Haus wehen konnte. Des-
halb war die von beiden Teilen ersehnte Zu-
sammenkunft wieder und wieder verschoben wor-
*) Stuttgart, Kröner 1885.
Isolde Kurz, Hermann Kurx.
Digitized by Google
- fS -
dm. Unterdmen hatt« Hennaim Kttrs* jiliigmr
Bruder Emst» der die B^eletenuig für deaDieliter
des ,,Maler Nolten*' teilte, ihn auf einer Reise in
seinem Pfarrhaus aufgesucht und war gleichfalls
mit ihm in Zusammenhang geblieben. Mörike
schrieb dem jungen Mann einen Brief nach Heil-
bronn, wo dieser am Oberamtsgericht (Polisei-
haus) als Revisionsassistent angestellt war» um
ihm zu erzählen, wie ein Traum ihn kürzlich auf
schersfaaf te Weise durch Vermittlung des Adres-
saten mit sdnem Bruder Hermann persönlich be-
kannt gemacht habe. Dieser Traum hat so ganz
das schnurrig-märchenhafte, das Mörikes Phanta-
sie eigen war, und ist dabei so konsequent durch-
geführt, dass er, wie dieser selbst bemerkt, ebenso
gut sme wache Erfindung sein könnte* Ich
glaube daher, allen Verehrern Mörikes eine Freude
zu machen, indem ich den Brief mit Auslassung
dniger unwichtiger Notisen am Schluss wort-
getreu hersetse. Er lautet:
Mein Lieberl
Ich war die ganze Zeit teils unpässlich teils
mit so mancherlei Halbgeschäften behängt, daas
ich nun freilich etwas spät, doch nichts desto
weniger herzlich Ihnen mein Vergnügen dar-
über ausspreche, dass Sie in hiesiger Nachbar-
schaft bleiben* £s lässt sich in Heilbronn ge-
wiss behaglich leben, und wenn die Leute auch
sehr irdisch daselbst denlm, man kann doch
bleiben, was man ist.
Digitized by Google
99
Ich habe Ihaen vor einiger Zeit einen Be-
.flich.abgestattet, wiewohl nur im Traum« Weil
er SU den lustigen und sinnreichen gehört» kann
ich nicht umhin ihn zu erzählen.
Ich kam mit meinem Bruder Louis in Ihr
Zimmer» statt Ihrer war aber Ihr Herr Bruder
Hermann im Zimmer. Er kaimte mich nicht
und ich ihn ebenso wenig. Er sagte endlich:
Ich weiss nicht, wen ich die Ehre habe usw.
worauf ich halb im Scherz antwortete» wir seien
zwar hier auf dem Polizeihause» allein ich
könnte ihn verdchem, wir seien ganz unver-
dächtige Personen. Sofort sprach man gleich-
gültige Dinge» vom Heilbronner Theater u. dgU
und sass einander ziemUch steif gegenüber« Ein
Hausknecht kam herein und sagte: es ist jetzt
angespannt, meine Herrn! Da fiel mir ein, wir
waren nicht sowohl auf der Polizei als vielmehr
auf der Post; wir gingen alle drei hinaus und
stiegen in die Diligence. Es sass bereits ein
Herr darin» der eine Kappe mit sehr breitem
Stülp und einen abgetragenen grauen Mantel
trug. Die Unterhaltung war gering. Er drehte
den Kopf hin und her» ganz leise schnüffelnd»
als wäre was Unheimliches im Wagen» welches
wohl gar von einem oder dem andern der Passa-
giere ausgehen könnte. Man lächelte und hätte
sich beinahe beleidigt finden können. Ich über-
zeugte mich jedoch» dass dieser Ängstlichkeit
etwas Krankhaftes und I<&synkrati8ches zu-
grunde liegen müsse» imd fing an, im stillen ihn
7*
Dig'itized by Google
— lOO —
aufrichtig m bedauern. Auf einmal nalim er
einen herzhaften Anlauf und sagte: Verzeihen
Sie, meine Herrn, ich bin Korrektor und Fak-
tor in der J. G. Cottaschen Offizin und habe
diese einträgliche Stellung einer sonderbaren
Eigenschaft zu danken, die mir zuweilen sehr
beschwerlich fällt. Sobald sich irgendwo ein
Druckfehler oder dergleichen in meiner Nähe
befindet» so fühle ich es und bin dadurch aufs
unangenehmste affiziert, bis ich ihn aufgedeckt
und allenfalls beseitigt habe. Haben Sie daher
doch die Güte» ein wenig bei sich nachzusehen,
ob Sie nicht irgendein Erratum bei sich tragen.
Sie werden mich dadurch äusserst erldchtem.
Auf dieses zog jeder von ims aus der Tasche,
was er etwa Gedrucktes haben mochte; er nahm
die Papiere in die Hand, gab sie jedoch nach
einem oberflächlichen Befühlen mit dem Be-
dauern mrück, dass hierin der Fehler nicht ent-
halten sei. Nun hatte ich zufällig ein Brief-
kouvert Ihres Herrn Bruders mit hervorge-
sogen. Sogleich gerieten die Finger des Kor-
rektors in eine zitternde Bewegung» und ich
gab ihm das Papier. Er drehte es um, besah
das Siegel, und seine Gesichtszüge erheiterten
sich plötzlich. Nim sehen Sie, meine Herrn,
da stehen über dem Amor» der einen Vogel
lockt» die Worte: Cest r^sister in ▼ain;^ es
^ Die Inschrift des Petschafts hatte wirUich dieses
Fehler.
Digitized by Google
wird jedoch wohl en v in heissen müssen. Wir
wunderten uns alle sehr, am meisten aber schien
Ihr Herr Bruder erstaunt, nicht sowohl über
diese Entdeckung als vielmehr wie ich zu die-
sem Briefe gekommen. Er fasste sich jedoch sehr
schnell und fragte lächelnd den Korrektor» ob
er nun gans befriedigt sei? Ich könnte es nicht
sagen, versetzte jener, es ist noch was xurück.
— Womit ich Ihnen vielleicht dienen kann, er-
widerte Ihr Herr Bruder und reichte seinen
Siegelring hin, dessen graviertes Stahlplätt-
chen vollkommen jenem Briefpetschaft ent*
sprach. Ich sah ihn an, er lachte, rief meinen
Namen aus und wir umarmten uns aufs fröh-
lichste. Zugleich warf der Korrektor seinen
Mantel surück, und als ich ihm recht ins Ge-
sicht sah, waren Sie's, der diese Komödie
spielte, um mich und Ihren Hermann auf diese
lustige Art einander zu entdecken.
Ist das nicht ein musterhafter Traum? Man
sollte meinen, er wäre wachend gemacht.
Schicken Sie ihn gelegentlich Ihrem Herrn Bru-
der. Ich habe ihm vor ein paar Tagen auch
eine Siegelringsgeschichte aufgetischt, und er
ynrd denken, ich gehe recht drauf aus, die
Leute zu petschieren.
Wir sind durch den Sdinee neuerdings wie-
der so tief in den Januar surfickversetst, dass
es immer noch nicht ttberseitig scheint, wenn
— 103 —
ich Ihnen den Glückwunich mm Neujahr jetit
noch heimgebe. Bleiben Sie nur gesund. Das
übrige kann man für lauter Segen nehmen. Viel
Grüsse.
Der Ihrige
IL
Klevers. d. i8. Feb* 1838.
Man hat oft von einer Ähnlichkeit der beiden
Dichterphjfsiognomien gesprochen; ich muss ge-
stehen, dass ich nicht recht weiss, worin ich sie
suchen soll, wenn es nicht in der blossen Stam-
mesgenossenschaft ist. Mörikes Dichtung ent-
springt dem Traumleben, nur d^s seine Visionen
so deutlich smd wie Bilder der Wirldichkeit* Her-
mann Kurz dagegen wurzelt im Leben, das ihm
seine ewig-typischen Wahrheiten zukehrt. Dar-
um sucht er auch, wie er einmal Mörike bekannte,
„aus dem Wald des Märchens immer gleich wie-
der euie Strasse ins Leben hinauszubrechen''.
Denn dort lag seine wahre Kraft, wogegen bei
Mörike der Schritt aus der Märchenwelt ins Le-
ben fast immer einen Schritt vom Wege bedeu-
tete. In Mörike herrscht das musikalische Ele-
ment vor, in meinem Vater das plastische. Auch
an Temperament sind sie so verschieden wie mög-
lich. Mörike lebte ausschliesslich mit den In-
stinkten; alles Untersuchen, Erörtern geht ihm
gegen die Natur, kaum, dass er es Über sich gewin-
nen kann, ein bestunmtes Urt«l auszusprechen,
das dann freilich, weil rein aus dem Instinkte ge-
Digrtized by Google
flössen, unwiderstehlich ist. Auch den »»cngtn
Roacnbanden der Dichtimg*' entfliegt er, wie er
selbst einmal gest^t, nur ^su gern, um nur noch
in ihrem reinen Dufte „als im Elemente** zu
leben, — seine Faulheit nannte sein Freund und
Altersgenosse Friedrich Vischer diesen Zug un-»
umwunden, aber er gehörte zu ihm, man möchte
den Dichter beileibe nicht anders haben. Diese
nsive Freude 3m Dasein und So-sein, das Hin-
spinnen der Tage in Traum und Märchen war
von Hause aus nicht des feurigen Hermann Kurs
Sache, den die Sicherhdt und Gegenwirtigkeit
des Urteils und die Kampfbereitschaft kennzeich-
nen. Freilich wurde er so gut wie jeder andre,
der in Mörikes Bannkreis trat, von der Zauber-
stphire magisch festgehalten, dass auch er »ch als
Bewohner von Orplid fühlte oder in den Wäldern
Buochs mit dem Sichern Mann und dem närri-
schen Wispel Versteckens spielte. Ein betrieb-
samer Schriftsteller von heute, der gewohnt ist,
jedes Goldkömcfaen für die Offcntilichkeit auszu-
miSnzen, müsste schaudern, wenn er sähe, wieviel
Zeit und Laune die beiden Dichter an ein nur dem
Eingeweihten verständliches Spiel und andres
poetisches Privatgaudium rückten« Die Mittei-
lung, dass Mörike auf das Grab von Schillers
Mutter in Clcvcrsulzbach ein Steinkreuz mit
eigenhändig gemeisselter Inschrift gesetzt hatte,
beantwortete Hermann Kurz durch einen Schwank
in „barfüssigen** Hexametern (diese Versart, die
sich in der dramatischen Form sehr überraschend
Digrtized by Göogle
— 104
amnimmt, war ihm durch Mörike neuerdings wie*
der besonders lieb geworden). Darin wird die
Wiederaufflndung dieses Kreuzes nach dreihun- *
dert Jahren in einem Deutschen Reich unter
hohenstaufischer Kaiserkrone und Mörikes künf-
tige Herrlidikeit als des anerkannten rechtmässi-
gen Erben Goethes dargestellt.^) Morike diente
dem Freunde dagegen in müssigen Stunden mit
scherzhaft-phantastischen Zeichnungen und mit
drastischen, stark gepfefferten Gedichten, die
ihres Inhalts wegen nicht mitteilbar sind, — er
liebte nämlich unter Freunden das Derb-Natür-
liche, das ihm ein notwendiges Gegengewicht
gegen die traumhafte Zartheit seiner Poesie war.
Im Gegensatz zu den leichten graziösen Bewe-
gungen seiner ernsten Muse kleidete er diese
possenhaften Urwüchsigkeiten gern in dn streng
klassisches Gewand, so dass sie durch den Gegen-
satz doppelt komisch wirken. Sie gehören, so
wenig sie für die Öffentlichkeit taugen, zur in-
timeren Physiognomie des Dichters mit.
Zweimal kam ein Riss in diese schöne Freund-
schaft: der erste, wobei man sich vorübergehend
das ^Du* aufkündigte, war schnell geheilt, wie
der Streit zweier Liebenden« und machte den
Bund nur fester. Der zweite, der in die Mannes-
Jakob Bachtold scheint diesen Schwank, dessen
Kenntnis ich der Güte des Herrn Professors H. Fischer
verdanke, nicht gekannt zu haben, sonst hätte er ihn ge-
wiss dem von ihm herausgegebenen Kurz-Mörike-Brief-
Wechsel als ergänzenden Bestandteil einverleibt.
Digitized by Google
— 105 —
jähre fiel» entsprang aus dem Unterschied der
Naturen und wurde su einer Kluft, die sich erst
kurz vor dem Tode der beiden Dichter wieder
schliessen sollte. In beiden Fällen war es der
Jüngere, Aufbrausendere, der das Trennungswort
sprach» aber beide Male hat Mörike sich brüder-
lich zum gleichen Teil der Schuld bekannt. Wohl
nicht mit Unrecht; vielleicht war im Freund-
schaftsverkehr der milde Mörike sogar der
Schwierigere von beiden. Liess er doch nach der
schriftlichen Annäherung genau ein Jahr ver-
streichen, bevor er den mit so warmer Liebe um-
fassten Freund von Angesicht zu sehen sich ge-
traute. Seine Reizbarkeit war so gross, dass er
oft die Stimme seiner liebsten Freunde nicht er-
tragen konnte« und an solchen Tagen tat man gut»
ihm aus dem Wege zu bleiben. Auch konnte er
sich plötzlich in unberechenbare Launen ver-
steifen. Als der allgefeierte Ludwig Tieck im
Anfang der vierziger Jahre zu Justinus Kemer
nach Wdnsberg kam» hatte er sich eine Zusam-
menkunft mit Mörike, den er sehr hochstellte, in
dem gastlichen Hause ausgebeten; an diese sollte
sich auch eine Begegnung des berühmten Gastes
mit den jüngeren Dichtem Hermann Kurz und
Rudolf Kausler (dem grossen Tieck-Verehrerl)
knüpfen, die für die weltfremden schwäbischen
Poeten von den wichtigsten Folgen sein konnte.
In letzter Stunde weigerte sich Mörike zu kom-
men, »weil ja Tieck auch zu ihm kommen könnte'%
und alles fiel ins Wasser. Der gute Kemer war
Diglized by Google
9» verzweifelt über den Querstrich, den ihm der
Freund madtte^ dass er in einem Briefe viermal
schrieb: „Es ist entsetzlich l** Ganz unrecht hatte
er nicht« wcna auch die Freunde über sein Pathos
lachten.
Der definitive Bruch fand bei einer politischen
Debatte in dem stürmevollen Jahr Achtundvierzig
statt und verkürzte beide für den Rest ihres Le-
bens um den schönsten Verkehr. Darum hat
Mörikes Sonne nicht über mdner Kindheit ge-
schienen; kaum dass mein Vater» der in sinteren
Jahren so schweigsam geworden war, seinen
Namen nannte. Aber im Herzen dauerte die alte
Liebe fort, und endlich» zwei Jahre vor seinem
Tode» brach Hermann Kurz den Bann» indem er
bei der Veröffentlichung von MÖrikes »»Mozart
auf der Reise nach Prag" im „Deutschen Novel-
lenschatz" dem Freund und Dichter seine unver-
änderte Gesinnung öffentlich aussprach. Mörike
kam ihm mit gleicher Herslichkdt entgegen» aber
ein Wiedersehen war ihnen nicht mehr vergönnt.
Im Winter nach meines Vaters Tod — ich trat
eben ins zwanzigste Jahr — führte mich bei
einem Besuch in Stuttgart der gute Onkel Emst
zu Mörike. Die Persönlichkeit des Dichters, der
sich den Siebzigen näherte» hatte etwas unend-
lich Harmonisches, Zartes und zugleich Welt-
fremdes, man sah ihm an, dass er nur in der länd-
lichen Idylle, nicht in der modernen Welt des
Dampfes heimisch war. Mich begrüsste er mit
den überraschenden Worten, dass er jetzt zum
Digrtized by Google
— 107 —
«ntenmal eine Atnerikanecin vor lidi aehe.
Als Onk^ Emst ibm erldSrt^ wer Ich sc!» miter«
drückte er eine tiefe Bewegung. Beim Abschied
zog Mörike mich zur Seite und trug mir mit
tiefem Emst seine Grüsse ^»Dorthin'' auf. Ich
konnte sehen, wie die alte Zeit mächtig in ihm
emporgequollen war.
Nur einmal sollte ich noch das Glück haben»
Mörike wiedersosehen, als er sich un Sommer
1874 mit sdner Schwester Klärchen smn letzten
Ii ale in seinem frühgeliebten Bebenhaosen auf-
hielt, dessen romantische Lage und edler Kloster-
bau es ihm angetan hatten. Ich besuchte ihn mit
meiner Mutter von dem nahen Tübingen aus. Er
war jenes Tages in der besten Laime, mitteilsam
und voll schalkhaften Humors, der in vielfar-
bigen Lichtern spielte. Von den drolligen Ge-
schichten, die er über sich selbst zum besten
gab» ist mir die Anekdote unvergesslich, wie
•er einstmsls als Lehrer am Katharinenstift m
Stuttgart seinen jugendlichen Zuhörerinnen über
Goethes Iphigenie sprach imd gerade beim Vor-
trag des Monologs »»Heraus in eure Schatten^'»
vom Bedürfnis nach seinem Schnupftuch getrie-
ben, rückwärts nach der Tasche griff, etwas
Weisses, Langes herauszog und 2ur Nase führte,
wobei ihm die ungewohnte Rauheit und Härte
des Stoffes auffiel. Aber unbeirrt im Sprechen
fortfahrend, wollte er das Tuch wieder in die
Tasche stecken, doch nun schien es ihm wie ver-
hext; er stopfte imd stopfte und konnte nicht da-
Digitized by Google
— xo8 —
mit zu Bnde konunen, je mehr er binemschob».
desto länger wurde es» bis er siüetzt den Kampf
aufgab und das Tuch hängen Hess. Als er es
nach einiger Zeit von neuem langte, kam es eben-
so lang aus der Tasche wieder heraus und nun
sah er — o Schrecken ! — , dass es eine Fenster-
gardine war« was er bearbeitet hatte« »»Aber den-
ken Sie sich,^' setste er am Schluss der Geschichte
mit Befriedigung hinzu, „ein ganzer Saal voll
mutwilliger junger Mädchen und auch nicht eine»
die zu ihres Lehrers Nöten den Mund verzogt
Sie Sassen sämtlich in hercMScfaer Fassung da» ala
ob sie nichts gesehen hätten.** — In der Tat war
die Verehrung der weiblichen Jugend für den ein-
zigen Mann eine ausserordentliche. — Während
wir so im Grünen auf Bänken und Stühlen um
einen verwitterten Holztisch sassen» und ich mir
die Physiognomie des Dichters beim Sprechen
betrachtete» kam über mich die absurde, aber un-
abweisliche Vorstellung, dass dieser grosse Kopf
eines schwäbischen Landpfarrers mit den etwas
schlaffen Zügen imd den stehenden grämlichen.
Falten nur eine scherzhafte oder schützende Maske
sei, imter der jeden Augenblick ein feiner jugend-
licher Griechenkopf oder ein lächelnder Ariel zum.
Vorschein kommen könnte. Die beiden alten Ge-
schwister begleiteten uns auf dem Rückweg ein
Stück weit durch Wiesen und Wald, Schwester Klär-
chen» die auf dem schmalen Fussweg mit meiner
Mutter vorangii^» erzählte ihr» während Mörike-
und ich unter andern Gesprächen folgten, von ge-
Digrtized by Google
— X09 —
heimnisvoUen jenseitigen Manifestationen, woran
beide Geschwister glaubten; soll ja sogar bei
Mörikes BrautwaU die Mystik eine Rolle gespielt
haben. Indes mochte doch die Schwester diese
Dinge buchstäblicher nehmen als der Dichter
selbst, denn wenn Mörike geheimnisvolle Töne
anschlug; so gingen de aus dem feierlichen leicht
ins spielende über» und man fühlte, dass er selbst
die Grenze nicht festhielt.
Beim Abschied wurde mit den Geschwistern
ein Wiedersehen verabredet, aber übers Jahr um
die gleiche Zeit, als ich mit meiner Mutter und
einer Freundin von einer mehrtägigen Schwarz-
waldwanderung zurückkam, empfing uns auf der
Schwelle des Hauses die Nachricht vom Tode
Es war mir, als sd mit diesem Liebling seiner
Jugend die Zeit meines Vaters nun erst ganz zu
Grabe gegangen.
Digrtized by Google
Der .Dichterkreis um Alexander von
Württemberg
Ich eriiinere mich, einmal dnen aus den vier-
ziger Jahren stammenden Stich gesehen zu haben,
der den Dichterkreis des Grafen Alexander von
Württemberg darstellt. Diese Gesellschaft, die
sich in des Grafen reisendem Schläsachen See-
racfa bei Esslingen zu versammeln pflegte, dar-
unter Uhland, Schwab, Lenau, Justinus Kemer
und viele andre, ist sitzend und stehend um den
fürstlichen Freund gruppiert» der in seiner ritter-
lichen Schönheit den Mittelpunkt einnimmt. In
der rechten Ecke des Bildes, nur mit halbem
Leibe sichtbar, steht Hermann Kurz, eine
gebietende männliche Erscheinung mit klaren
regelmässigen Zügen und dichtem Haar und
Bart. Das Porträt entspricht, obwohl es ihn
bedeutend jünger darstellt, ziemlich genau mei-
nen eigenen frühesten Erinnerungen an meinen
Vater. Nur dass in jenen späteren Jahren die
Züge und die ganse Erscheinung noch bestimmter
und imposanter geworden waren. Ich glaube,
dass er zu jenen Gestalten gehörte, die sich erst
bei völlig erlangter geistiger Reife zu harmoni-
scher körperlicher Schönheit entwickeln. Aus
seinem dritten Lebensjahre stammt ein in der
Digitized by Google
— tu —
Familie bewahrtes Bild, das sehr ähnlich gewesen
sein muss, weil mehrere Familienglieder aus den
Jüngern Generadoiicii eine Zeitlang auffallend
diesem Bilde glichen: ein rundes trotziges Kin-
dergesicht mit grossen blauen Augen, das bräun-
liche Haar in die Stirn gekämmt* Eine Zeich-
nung aus den Jünglingsjahren entspricht den von
ihm selbst und andern entworfenen Schilderungen
seines noch unreifen Aussem aus jener Zeit» Srst
in den Mannes jähren wurde er ganz er selbst,
wozu der späte, aber alsdann reiche und regel-
mässige Bartwuchs viel bettrug* Die Gestalt war
hoch» die Brust breit und mächtig, der etwas
kurze Hals gedrungen. Die frühere Schwächlich-
keit hatten die Jahre und körperliche Übungen
überwunden. Bekannt von je waren die unge-
wöhnlich glänzenden Augen; Hörike hatte sie
besungen» noch ehe der mündliche Austausch der
beiden Dichter begann; sie behielten ihren Glanz
und ihr tiefes Blau auch im nahenden Alter.
Jener literarische Stuttgarter Zirkel stand mit
den gdbildetsten Elementen der aristokratischen
Gesellschaft in nahem Zusammenhang, wodurch
die in Württemberg so weit verbreitete Stickluft
des Kleinbürgertums hinausgetrieben wiurde und
grösseren» freieren Lebensauffassungen Platz
machte« In solcher Atmosphäre, wo auch die
aristokratische Weiblichkeit eine Rolle spielte,
konnte sich der Dichter behagen, der mit dem ge-
winnenden Aussem und seinem jungen Ruhm da-
mals eine von den Damen sehr bevorzugte £r-
Digitized by Göogle
— zza —
schemung war. Er ging in Hinsicht auf die
Frauen seinerzeit weit voran, indem er die Gleich-
berechtigtu^: der Geschlechter vertrat. Erfreute
sich immer, wenn er Frauen mit geistigem Streben
traf, statt wie es damals noch üblich war, hoch-
mütig auf sie herabzusehen; seine ritterliche Zu-
neigung für das ganze Geschlecht liess ihn sogst
leicht dnselne Individuen desselben überschätsen.
Eine am weiblichen Geschlecht begangene Roheit
war ihm etwas unfassbar Abscheuliches; er ging
in seiner chevaleresken Rücksicht soweit, dass er
sich nicht einmal von einem wäblichen Dienst-
boten bedienen lassen wollte. Sinter als Ehe-
mann konnte er sich nicht entschliessen, von der
Gattin die kleinste Dienstleistung zu fordern. Er
pflegte zu sagen: »»Bitte» gib mir eine Nadel, denn
ich habe einen Knopf anzunähen,'' und zur Diene-
rin: „Haben Sie die Güte, mir Holz zu bringen,
damit ich einheizen kann." — Die Frauen aller
Stände haben das auch stets mit feinem Instinkt
erkannt» denn sie pflegten seine zarte Aufmerk-
samkeit mit sch^rmerischer Verehrung zu er-
widern. — Wenn er im Hause des Grafen Alexan-
der mit seinen Eroberungen unter der adligen
Damenwelt geneckt wurde» so wies er es immer
weit von sich; dann sagte die schöne Gräfin
lächelnd: „Wo Sie sich am meisten wehren« darf
man sicher sein, dass etwas dahinter steckt." Nie
liess er merken, dass er gefiel, und das Prahlen
anderer mit Liebeserfolgen setzte ihn in solche
Empörung» dass er» wo es auch vorfiel, äugen-
Digitized by Google
— 113 —
blicklich dagegen einschritt. Eitelkeit war ihm
überhaupt in jeder Hinsicht fremd; das Gefühl
seines Wertes gab ihm in guten wie in widrigen
TTmständen jene feinfühlige und stolze Zurück-
haltung, die unter dem falschen Prädikat
„Bescheidenheit" ihm nachgerühmt zu werden
pflegte. Nur banausischem Geschäftsgeist gegen-
über, der künstlerische Erzeugnisse nach ihrem
Erfolg bdi der Masse bewertet, fiel er gelegentlich
in einen hohen und gereizten Ton. — Rasch und
freudig in der Anerkennung der andern, hilfreich
und wohlwollend ganz besonders gegen jüngere
Talente, hatte er vor allem gar nichts von der
so verbrateten Eigenheit desNergelns an sich; wo
er nicht unbedingt loben konnte, da schwieg er
lieber.
Für einen genauen Kenner der Zeit müsste
es eine lockende und lohnende Aufgabe sein»
die Mitglieder jener schwäbischen Tafelrunde
in ihrem gegenseitigen Verkehr zu zeichnen;
meine Mittel reichen hiefür nicht aus. Auch die
Beziehungen zwischen Hermann Kurz und den
übrigen kenne ich nur bruchstückweise. Des
Verhältnisses zu Uhland und Schwab ist schon
gedacht worden; den Briefwechsel mit letzterem
hat Professor Fischer im „Staatsanzeiger für
Württemberg** veröffentlicht. Mit Lenau sch^
die Berührung eine oberflächliche gebheben zu
sein, dagegen stand mein Vater eine Zeitlang zu
Justinus Keraer auf sehr freundschaftlichem
Fusse. Das gastliche Kemerhaus in Weinsberg
laolde Kurs, Bcnwum Rats. 8
Digrtized by Google
— XI4 —
befaerberj^te ihn des öfteren. Aber trots einem
g«äieimen mystischen Zuge^ der wohl allen Poeten
gemeinsam Ist, waren es weder die Poltergeister
von Weinsberg noch die Seherin von Prcvorst,
vieUeicht war es nicht einmal der joviale Kemer
selbst» was den jungen Dichter so mächtig nach
dem Fuss der Weibertreu 20g» sondern Kemers
jüngere Tochter Emma, der die in den „Heimat-
jahren'' stehenden Strophen: „Der Mond ist hell
und kalt die Nacht'* gewidmet sein sollen. Da-
gegen ist das in die neue Sammlung aufgenom-
mene Gedicht: »Jch habe dich im Traum gesehen^
für deren ältere Schwester Marie gedichtet« der
er gleichfalls huldigte.
Die Gewohnheit, spät aufzustehen, die der bei
Nacht arbeitende Dichter sein Leben lang bei-
behielt» veranlasste Kemer, in meines Vaters Ge-
dichtsammlung von 1836 unter das tief elegische
Gedicht „Mein Bette'* im selben Versmass die
neckische Strophe zu schreiben:
Veil du der erste Dichter, der gesungen
Dem Bette hst eis warmes Liebeslied,
So hllt zam Dank, wenn Ungst der Mittag glüht.
Das Bett dich oft noch warm und lieb umschlungen.
Das Exemplar, worin dieser Zusatz steht, er«
hidt mein Bruder Erwin im Herbste 1874 von
Mörike zum Geschenk.
An das Kerner haus und das gastliche Turm-
zimmer in Weinsberg, wo er logierte, samt dem
dort spukenden mönchischen Poltergdst, der sich
ihm als eine grosse Eule entlarvte — was freilich
Digrtized by Google
— 115 —
Justimu nicht gdt«n liess — , pflegte mem Vater»
der flcmst selten von aemer Jugend sprach» sich
immer gern su erinnern. In einem seiner
Taschenbücher steht ein noch ungednicktcs
Sonett an Justinus Kerner zu seinem Geburtstag»
durch dessen scherzhaften Ton die gleiche ver-
haltene Wehmut zittert wie durch das den.
„Heimat jähren'* eingefügte Gedicht an die
Tochter:
Ein Geist, nicht eben gut, doch auch nicht böse,
Schwebt Nachts wohl an den hellen Fenstern hin»
Wo wohnt die Milde, wo ein frommer Sinn?
Er seufzt und harrt, ob niemand ihn erldse.
So sass ich jüngst, und machte kein Getftse^
Auf deiner Galerie — vie traulich drin
Beim Kerzenschein! Da fühlt ich, was ich bin:
Ein anner Geist in seiner ganzen Blasse.
Was darf ein solcher dir zu geben glauben?
Du bist gesegnet, bist unnahbar reich.
Sieh nur nicht scheel, als wollt ich dir was rauben.
Kann mein Gebet den hohen Himmel meistern?
Ich weiss es nicht. Sein Friede sei mit euch!
Und ich? Gott helfe allen armen Geistern*
Die treuherzig schlaue» woiüwollende Art des
alten Justinus hatte einen mildernden Einfluss
auf mdnes Vaters brausende JuRendkraft, bis
später die politischen Strömungen und Gegen-
strömungen, in denen Justinus eine schwankende
Haltimg zeigte, auch in dieses Freundscliafts-
Verhältnis zerreissend eingriffen.
Den liebenswürdigen fürstlichen Dichter, der
zwar nicht der poetische, aber der gesellschaft-
8*
Digitized by Google
— ii6 —
liebe Mittelpunkt des Kreises war, kenne ich
mehr aus den Schilderungen meiner Mutter, mit
deren Familie er gleichfalls verkehrte. Er ge-
hörte zu jenen Dichtern, bei welchen der persön-
liche Zauber für die Zeitgenossen eine mangel-
hafte Kunst ergänzt* Seine »Lieder des Sturms'%
einst hoch gefeiert» sind heute fast verschollen,
während das Andenken an die Schönheit und ge-
winnende Persönlichkeit des Verfassers noch in
der Überlieferung fortlebt. Vor langen Jahren wurde
mir einmal auf dem Schlösschen Lichtenstein sein
Portrat gezeigt, dessen hrunette, melancholische
Schönheit mir in der Erinnerung haftet. Graf
Alexander kam häufig von seinem Seerach in das
nahe Oberesslingen za mdnem Grossvater» dem
alten Freiherm von Brunnow» geritten, mit dem
ihn eine gemeinsame Liebhaberei eigentümlicher
Art verband. Sie waren beide geschickte Drechs-
ler und pflegten sich mit Stolz gegenseitig ihre
Arbeiten vorzuweisen. Der Graf brachte wohl
auch die seinigen mit und schenkte sie mdner
Mutter, die damals im Backfischalter stand und
den schönen fürstlichen Dichter schwärmerisch
verehrte. Sie war selig, wenn sie ihren Vater
nach Seerach begleiten durfte und dort von dem
Grafen, dem die Bewunderung der Ffinfzehnjäh-
rigen schmeichelte, in Haus und Garten herum-
geführt wurde. Seine an die Lenausche Muse
sich anlehnenden Dichtungen» die damals vielfach
mit dem Vorbild für ebenbürtig gehalten wurden,
trug sie immer mit sich. Um jene Zeit ahnte sie
Digitized by Google
— 117 —
noch nicht» dass in demadben Seerach derjenige
aus» und einging, dem später ihr gances Leben
gehören sollte.
In einem von meines Vaters Heftchen finde
ich noch ein ungedrucktea Gedicht: „Gebet bei
emer Flasche Wein»*' das dem Dichter der
Sturmlieder gewi dm et ist und als Zeuge dner
heitern Geselligkeit hier stehen mag:
Von meiner Grotte traulicli still umgeben,
Hei] angefacht Ton deines Trankes Gluten,
Ruf ich zu dir — und schftme mich des Guten —
Der da die Seelen schufest und die Reben.
Pör die Verstfinnten mögen andre beben.
Mir muss das Herz um jene Schiffe bluten»
Die draussen auf den grenzenlosen Fluten
Windstill, vermodernd, Plank' um Planke schweben.
Vor allem bet' ich für den Alexander,
Er ist ein edles Scblif mit starlcen Masten,
Zwar von dem Sturm in etwas sngegrilfen«
Ja, gchfs nicht anders, schick ihm einen Blander,^)
Der ihn heraussprengt aus dem Wasserkasten.^
Barmhen'ger Gott, sei mit den armen Schiffen.
Das Sonett trägt keine Jahressahl, es dürfte
aher, nach den Daten der danehen stehenden Ge-
dichte zu schiiessen, aus dem Ende des Jahres
184X stammen. Im Juli 1844 starb der edle Fürst,
der schon längere Zeit gekränkelt hatte, noch
keine vollen dreiundvierzig Jahre alt. Am la« Sep-
0 Brander zuweilen ron meinem Vater gebraucht
f&r Rausch.
Die Wasserheilanstalt zu Kennenburg, wo der Graf
sich damals zur Kur aufhielt.
Digitized by G<Ä)gIe
— 1x8 —
tember schrieb eine dem Verstorbenen befreim*
dete Dame an Hermann Kurs» der sich eben xar
Überaiedlung nach Karlsruhe rüstete:
„Sie haben wie ich einen Freund verloren an dem
Grafen Alexander. Kurze Zeit vor seinem Tode
war ich einen ganzen Tag bei ihm in Seerach, und
wir waren in der Erinnerung unsrer frohen
Jugendtage vergnügt. Da kamen wir auch auf
Sie zu sprechen, ich sagte : der Hermann Kurz ist
mir lieber als alle die andern, die so viel und so
schön sprechen. — Sie haben auch ganz recht»
liebe Ida» antwortete der Graf, er ist auch mehr
wert alsdiealle miteinander; er ist dn ganser
Kerl, ein Mann^ an dem etwas ist — es tut nur
leid, das8 er mich nicht besucht. — Welch schönes
Dasein wurde in dem Geschiedenen zerstört! Und
wahrend wir seinen Tod beklagen» können wir
kaimi sein Leben wünschen.
„Alles Gute begleite Sie nach Karlsruhe I Ich
hoffe, Sie sind dem Vaterlande nicht verloren.
Ida.*'
In einer Nachschrift heisst es: „Sie wissen
vielleicht gar nicht, wer die Ida ist, das ist auch
nicht einmal nötig. Ein Roman von d*Arlincourt
endet mit den Worten qu'ü y a des Ida pari"
tout."*)
•) Die Persönlichkeit der liebenswürdigen Schreiberin
ist nicht vergessen; es war Frau Ida v. Mittnacht, die
Mutter des nachmaligen württembergischen Staatsministers,
die nebst den Damen Pappenheim und Sukkow zu dem
nahen Freundeskreis des Fürsten geiiöne.
Digitized by Google
So lebte sich's unter der schwäbischen Dich-
tergilde in der geriihsamen vormärzlichen Zeit.
Bei dem Mangel eines grossen allgemeinesi Hin-
tergrundes nahmen» wie wir gesehen haben, per-
sönliche Scherze, Schnurren, kleine Anzüglich-
keiten einen ungebührlichen Raiun ein, wie denn
das schwäbische Leben von dazumal überhaupt
nur ein erweitertes Familienleben war« Das sollte
in den nächsten Jahren alles anders werden.
Dig'itized by Google
1
Schwarz-rot-gold
Alle Ausdchten des Dichters auf eine ge-
sicherte Existenz innerhalb der schwarz-roten
Grenzpfähle hatten sich nunmehr zerschlagen. Da
ward er endlich des Darbens und Harrens satt»
und im Herbst 1844 sagte der treueste Sohn des
Schwabenlandes seiner stiefmütterlichen Hdmat
Valet, einem Ruf nach Karlsruhe folgend. Ob-
gleich mit der Redaktion eines tendenzlosen Fami-
lienblattes beschäftigt, geriet er dort in die schon
hochgehenden Wellen des badischen Liberalis*
mus, dessen Führer Hecker, Mathy, Bassermann
ihm persönlich nahetraten. Sein demokratischer
Landsmann Ludwig Pfau arbeitete Pult an Pult
mit ihm im gleichen Redaktionslokal. Die poli-
tisch bewegte, schon mit allen Keimen der Revo-
lution geschwängerte Atmosphäre war der poeti-
schen Stimmung dort nicht günstig. Im gleichen
Jahre 1844 erschien noch seine ,Tri8tan'-Uber-
setzung mit der gewaltigen L]rrik des frei hinzu-
gedichteten Schlusses, dann sahen ihn für lange
die Musen nur in seltenen Pausen wieder. Ohne-
hin Hessen ihm die Redaktiongeschäfte fast nur
für kürzere f euilletonistische Arbeiten Zeit. Eine
derselben galt Hebels Vreneli, mit der ihn em Zu-
fall zusammengeführt hatte, und er war so glück-
Digitized by Google
— Zfll —
lieh, die hochbetagte Frau» die in tiefster Armut
lebten durch seiiie Feder aus dem Dunkel m
liehen und in eine bessere Lage za bringen. In
die Karlsruher Zeit fällt auch eine Wallfahrt nach
Sesenheim* wo noch ein alter blinder Mann am
Leben war, der als Knabe dem jungen Goethe und
seiner Geliebten das Frühstück nach Friederiken»*
ruh trug. Das Plätschen selbst war in einen
Kartoffelacker verwandelt. Der Führer erinnerte
sich deutlich des jungen Goethe, wie er atif An-
rufen mit. seinem schnellen: ^Was is?" herum-
gefahren sei; die Biädchen dagegen hätten dsäs-
sisch gesprochen. Das alte Pfarrhaus war damals
schon umgebaut, der Garten aber im ganzen noch
derselbe, die Laube noch am alten Orte. Auch
der edite alte Jasmin« unter dem Goethe sein
Märchen erzählt, blühte noch» von der Laube an
die Gartenmauer verpflanzt.
Drei Jahre brachte Hermann Kurz in der badi-
schen Hauptstadt 2U. Durch zufällige Abwesend
heit entging er dort einem grossen Theaterbrand»
der viele Opfer forderte. Persdnlich mochte es
ihm in den grösseren, freieren Verhältnissen wohl
behagen, allein auf die Länge konnte er sich doch
die poetische Ader nicht unterbinden lassen. Und
wenn er es dne Zeitlang für unmöglich hielt» aus
dieser Atmosphäre jemals wieder, wie er sich
ausdrückte, in das „Drucksen und Mucksen, das
Ächzen und Krächzen und die fuchsfalsche Ge-
mütlichkeit" seiner engeren Heimat surttckzu*
kehren, so duschte er sich gründlich, denn seine
Digrtized by Google
— zsa —
poetische Mission war an den Heimatboden ge-
knüpft und miisste Um imauswetchlich dahin
mrackführen« Noch war er ja der Welt sein
grösstes Werk schuldig, den „Sonnenwirt'S m
dem ihm schon, während er die „Heimat jähre**
schrieb, der Plan aufgestiegen war. Einige Kapitel
waren auch schon fertig und sogar gedruckt, und
die Vollendung brannte ihm in der Seele. So gab
er 1847 die gesicherte Existenz in Karlsruhe wie-
der auf und kam nach der Heimat, um die Fäden
des wSonnenwirts'' weiterzuspinnen.
Aber als die WeUe der Februarrevolution
auch in Württemberg anrauschte, da geschah
etwas Seltsames, aus der Zeitenferne schwer Ver-
ständliches: der Dichter überliess seinen tragi-
schen Lieblingssohn bis auf weiteres abermals
dem Limbo der Ungeborenen und sprang kopfüber
in die Wogen der Politik. Die völlige Umge-
staltung einer Welt, in der den Besten kaum die
LiUft 2um Atmen gegönnt war, schien ihm jetzt
eine noch nähere und dringendere Aufgabe, als
poetische Gebilde ins Leben zu rufen.
*
Schwarz-rot-goldne Banner wallen
Nach der alten Stadt am Main.
Wo das Reich in Staub zerfallen,
SoU es neu geboren sein.
Hermann Kurz.
Der Lebensabschnitt» über den ich dieses
Motto zu setzen habe, würde euie andre Feder
Dig'itized by Google
X23
m semer DarsteUims fordern. Die Schreiberiii
•dieses, die von Kindesbeinen an mit einer Idioiqfn'
Inraaie gegen das Jahr Achtundvierzig behaftet
war, kann die Stimmung jener Tage zwar be-
greifen» aber nicht nachfühlend wieder hervor-
bringen; auf tlurer Palette sind nicht die richtigen
Parben für dieses Bild. Um den Idealen von Acht-
undvierzig gerecht zu werden, darf man sie jeden-
falls nicht nach den Versteinerungen beurteilen,
in denen ich sie kennen lernte. Ich glaube es den
Uberlebenden gern, wenn sie sagen, wer jene
Zeit nicht erlebt habe, könne sie nicht verstehen.
"Es schien damals, als ob ein neuer Weltenmorgen
angebrochen sei, etwas festlich-friUüingshaftes
.giI^^ durch die Lüfte, alle Zöpfe fielen mit einem
Schlag,^) es gab auf einmal keine Bureaukratie
und keine gesellschaftlichen Vorurteile, keine
Schranken des geselligen Verkehrs zwischen den
Geschlechtem mehr. Als die Grundrechte
verkündigt wurden« da umarmten sich die Men-
4Khen auf den Strassen, und auch die korrekte-
sten Staatsbürger hielten eine Rückkehr zum
Alten für unmöglich. Dass die bedeutendsten
Männer» die edelsten Talente sich alle zumal in
den Sturm der Zeit stürzten» das gab der Be-
wegung erst ihre Wdhe. Kein Wunder, dass
•dieser neue Geist» der auch die zahmsten Ge-
^) Dem grossen Rassiermesser fiel auch ein un-
schuldiges Opfer, das historische t in unsrem Namen, das
Hermann Kurz, der sonst so pietätvolle Hüter der FamiUen-
traditionen, jetzt als veralteten Schnörkel ausmerzte«
Digitized by Google
— 124 —
mttter erfastt hatl^ den Dichter wie mit Natur«
gewalt hinriaaiy der von dem grossen weltge-
schichtlichen Hauche die Kulissen des schwäbi-
schen Kleinwesens, das ihn erstickt hatte, ein-
fallen und im Hintergrund ein mächtiges» brüder-
lich geeintes Alldeutscbland aufsteigen sah:
„Wo sich Brüder feindlich grollen^
Gilt dein Wort im Friedenssaal,
Wo die Würfel blutig rollen,
Führt Entscheidung deinen Stahl,
Wo die kecksten Kiele schwanken
In dem fernsten Wogenbraus,
Halten deine Eichenplanken,
Deine Eichenherzen aus.^
Es vrar im März 1848, dass er diese propheti-
schen Strophen an das Vaterland sang, gan« als
ob er das Deutsche Reich in seinem Siegesglanze
und seiner Friedensmacht, die deutsche Flotte mit
Welthandel und Kolonialbesitz schon mit Augen
geschaut hätte. Wäre es doch bei solcher Dich-
ter- und Prophetenpolitik geblieben! Nun aber
wollte es der Dämon seines Lebens, dass er sich
von seinem eigenen ritterlichen Gemüt und von
drängenden Freunden im Augenblick der Gefahr
zur Teilnahme an der praktischen politischen
Arbeit treiben Hess. Im April 1848 trat er in die
Redaktion des oppositionellen Volksblattes »Der
Beobachter*' dn*
So sehr dieser Entschluss ihm zum Unheil
gereichte und auch noch auf das Leben seiner
erst später geborenen Kinder verhängnisvoll nach-
Digitized by Google
— las
wirkte, muss ich doch den oft erhobenen Vor-
wurf zurückweisen, als ob der Dichter damit sei-
ner innersten Poetennatur untreu geworden wäre.
Mein Vater war kdn weltfremdes, rein lyrisches
jjvasdei" wie sein Freund Mörike, ich habe es schon
an andrer Stelle gesagt; er war mit allen seinen
Organen dem Leben zugewendet; wie Schiller
lagen ihm die sozialen, die politischen, die philo-
sophischen Tendenzen seiner Zeit, unbeschadet
der Poesie, im Blute. Wie sollte er der stärksten
Lebensbetätigung seiner Nation, jener mächtigen
revolutionären Strömung, die allem Zwan^ unter
dem er mit geschmachtet hatte, dn Ende zu
machen verhiess, gleichgültig gegenüberstehen?
Dem Zwiespalt zwischen den Rechten seiner rei-
nen, hohen Kunst und dem, was er als Mann sd-
ner Überzeugung schuldig zu sein glaubte, hat er
in seiner klangvollen Übersetzung des Victor
Hugoschen Gedichtes „Der Dichter im Sturm der
Zeit"^) Worte gegeben. Man hört es diesen mit
SO unmittelbarem Pathos hervorbrechenden Stro-
phen wohl an, dass dieselbe Stimmen, denen er
die sonorsten Laute seiner Muttersprache lieh,
auch in seiner eigenen Brust geklungen haben
müssen. Nur dass er für sich selber den Streit
nicht ganz so entschied wie der französische Dich-
ter: ihm war seine Laer doch zu heilig, um me
„als Schwert" zu erheben, er legte sie im Heilig-
tum der Kunst nieder bis auf bessere Tage und
>) Band I, S. 48.
Digitized by Google
— za6 —
ging als schlichter Khegsmann in den Kampf
der Zeit.
Es war dne gefährdete Stellung, die er über-
nahm; er übernahm sie nur, weil sie gefährdet
war, weil sich nicht leicht ein anderer dafür fand*
Als im folgenden Jahr sein Mitredakteur Adolf
iWetsaer nach der Schwei« entfloh, harrte tt
allein auf dem verlorenen Posten aus mit jener
hartnäckigen Grossmut, die er immer übte und
die ihm nie gedankt ward. Neben den politischen
Ldtartikehi, die ihm Verfolgung und Pestungs-
haft zuzogen, neben den Kammerberichten, die
seine edelste Zeit aufzehrten, schrieb er die
schön wissenschaftlichen Feuilletons und fütterte
die gefrässige Tagespresse mit Früchten edelster
Kultur und höchster philosophischer Erkennt-
nisse, die sich gldehwohl mit glücklichem Takte
dem Gesichtskreis des gemeinen Mannes an-
passen« Diese populären Aufsätze kann man
noch heute mit Genuss lesen, ja sie machen jene
Jahrgänge des kleinen wttrttembergischen Tage-
blättchens zu einer Fundgrube gehaltvoller Ge-
danken und Mitteilungen. Wahrlich, zu kostbare
Gaben für den beschränkten Leserkreis, der nur
einen geringen Bruchteil Gebildeter aählte. Aber
gerade hier war mein Vater in seinem demente,
der es als höchsten Dichterberuf empfand, der
Erwecker und geistige Erzieher seines Volkes zu
sein. Lag doch für ihn Deutschlands edelster
Ruhm trotz der geahnten Weltmacht immer in
sein« geistigen Grösse, in den Opfern» die es —
Digitized by Google
— xa7 —
bis zu völliger materieller Entkräftung — für die
Freiheit des Gedankens gebracht hatte«
„Lauschend nach des Geistes Sonnen
Sankst du hin zum Sterben wund»
Aber Flut vom Lebensbronnen
Quoll dir aus des Todes Schlund.
Keine Freiheit ohne diese.
Bleiche Welthefreierin,
Deine kühne Wahrheit giesse
Ober aUe Völker hin/'
In diesen Strophen aus dem mehrlach zitierten
MVaterlandslied*' ist seine Überzeugung von
Deutschlands grösster historischer Mission und
zugleich .des Dichters wahres politisches Pro-
gramm enthalten.
JSm adligerer Demokrat, em vornehmer den*
kender Freund des gemeinen Mannes, ein mit
stolzerer Seele sich den demütigsten Bürgerpflich-
ten opfernder Weltbürger hat niemals an einem
Redaktionstisch gesessen und fih: den Tagesbe-
darf sdner Parteigenossen sub specie aetemi
Sorge getragen." In diesen Worten Paul Heyses
über meinen Vater ist die ganze politische Stel-
lung und Wirksamkeit des Dichters zusanunen-
gefasst; es liegt darin auch die geheime Ursache
angedeutet, weshalb er innerhalb seiner Partei,
der er das ungeheure Opfer brachte, dennoch als
Mensch und Dichter unverstanden und einsam
blieb, weshalb er niemals die begeisterte Pietät
fand, die s. B. seinem Kampfgenossen Ludwig
Pfau in so rttchem Masse suteil ward« Ein
DigitizeQ by Google
adliger Demokrat, das war's, was ihn von der
Mehrzahl der Parteimitglieder heimlich trennte:
bei aller Treue und Opf erwiUigkeit witterte man
doch in ihm den ästhetischen Aristokraten.
Ein echter Dichter, wie sehr er seiner Natur
Gewalt antun möge, kann innerlich nie ein Partei-
mann sein. Da er gezwungen ist, dne Sache von
allen Seiten zu sehen« so kann er das dnseitige
Parteidogma nicht annehmen lind sich nicht emst-
lich der Parteidisziplin unterwerfen. Das fühlen
ihm die Parteimitglieder an, deshalb wird ihr
Vertrauen immer nur ein halbes sein. Wenn er
gar als verf emerter Sohn einer höheren Kultur die
Sache der Enterbten zu der seinigen macht, so
können die schmerzhaftesten Reibungen nicht
ausbleiben, denn die Kluft zwischen ihm und
denen» für die er das Schwert gezogen hat, ist
unausfüllhar* Zu der schwäbischen Volkspartei
gehörte natürlich, wie es in revolutionären Zeiten
immer der Fall ist, ein grosser, ja der grösste
Teil vom geistigen Adel des Landes; aber die
banausischen Elemente waren doch in der Mehr-
zahl, und mit ihnen musste eine aktive politische
Rolle den feingearteten Dichter fort und fort in
Konflikt bringen. Und auch unter den Gebildeten
waren die künstlerischen Instinkte nicht durchweg
sostarkentwickdt, umsieganzerkennen zu lassen,
wieviel der Dichter sich's kosten Hess, an ihrer
Seite zu kämpfen. Nur allein Karl Mayer, selber
der Sohn eines Poeten, hat es viele Jahre später,
nach dem Tode meines Vaters, in emem würdigen
Digrtized by Google
— 129 —
Nachruf, der noch wirksamer gewesen wäre» wenn
der gef aerte Volkstribim ihm statt der Verse seine
zündende Prosa geliehen hätte, der Partei ins
Ohr gerufen, was es für den Dichter heissen
wollte^ „Eintägiges statt Dauerndem zu schaffen'%
und sich mit unwikdigen Gegnern täglich neu
herumzuschlagen, statt im Wettkampf mit den
höchsten Geistern seiner Zeit zu ringen.
Wälurend das Leben des Dichters diese Wen-
dung nahm, war in demselben Ideinen Lande»
aber in völlig verschiedener Umgebung, ein andres
Schicksal herangereift, das sich dem seinigen aufs
innigste verbinden und einen bestimmenden £in-
lluss auf seinen ganzen ferneren Lebensgang ge-
winnen sollte.
I$old« Kttr«, H«niiain Km.
Dig'itized by Google
Das Brunnowsche Haus
J>ic Familie meines Grossvaters von mütter*
Ucher Sett^ des Freiherm Anton August v* Brun-
now, stammt aus Kurland und hatte sich von da
nach Russland verbreitet. Sein Vater Siegfried
jedoch wanderte nach Deutschland aus und liess
sich in Sachsen-Meiningen nieder; ein Bruder des-
selben ging nach Prankreich und änderte seinen
Nansen in de Bruneau ; ein andrer lebte in Peters-
burg in diplomatischer Stellung. So wurde
die Familie Brunnow wdt ausdnandergesprengt*
Mein Grossvater» der noch zw» Brüder besass»
wurde in der Kadettenanstalt zu Berlin erzogen
und kam als junger Leutnant nach Württemberg,
wo ihn König Friedrich seines alten Adels wegen
in die Garde einreihte. Er war ein grosser Be-
wunderer Napoleons und machte mit Freuden den
Feldzug gegen Russland, das er nicht liebte, mit.
Lebenslang war es ihm eine heilige Erinnerung,
dass er einmal Aug in Auge vor dem grossen
^ Kaiser gestanden hatte, als dieser ihm penönUch
den Befdü gab, ein russisches Dörflein zu be-
setzen. Nach erfolgter Einnahme trat er in das
Haus des Popen und kam gerade dazu, wie seine
dgenen Leute den Popen» weil er nicht mit dem
Digitized by Google
— X3I —
Tcdangten Geld, das er vielldcht gar nicht be-
eass, herausrücken wollte, auf eine Bank gebun-
den hatten und Miene machten, Stroh darunter
ansuatinden. Er hieb mit dem Degen auf die
achnapatrunkeneii Soldaten ein und befreite das
unglückliche Opfer ihrer Brutalität. Im Verlauf
des Feldzugs geriet er in russische Gefangen-
schaft luid wurde samt seinem Diener nach
Sibirien verschleppt. Beim Auswechseln der Ge-
fangenen wurden die beiden vergessen und hatten
eine ziemliche Zeit dort zu verbringen. Da aber
die Gouvemeurstochter an dem jungen Franzosen
Gefallen fand — der Gefangene galt dort als Fran«
sose — fiel die Gefangenschaft nicht allau hart
aus. Er konnte frei im Hause des Gouverneurs
verkehren und lernte von seiner Dame das Rus-
sische. Sie war schön, aber wenig von europäi-
scher Kultur beleckt» und in ihrem Haar soll zu-
w^en auch noch andres sum Vorschein gekom-
men sein als die Diamanten, mit denen sie am
hellen Tag primkte. Sie hielt ihren Gefangenen
für ^en grossen Künstler, weil er sie mit dem
Storchschnabel abkonterfeit hatte» und wollte nun
auch von ihm gemalt sein. Er versprach, ihr
Bild auf Goldgrund in den schönsten Farben an-
zufertigen, nur müsse er die Farben in der näch-
sten, ziemlich weit entlegenen Stadt holen, Sie
verschaffte ihm au diesem Zweck einen Pass von
ihrem Vater, er reiste ab, indem er seinen Diener
mitnahm, und beide kamen nicht wieder. InBauem-
Ideidem, die sie sich statt der Farben kauften,
9*
Dig'itized by Google
132 —
legten sie die ungeheure Strecke bis zur pceosti-
sehen Grenze teils in irgendeiner elenden Telega,
wo sie gelegentlich aufsassen, teils auf einem ge-
liehenen Klepper, meist aber zu Fusse zurück.
Auch eine Ziege führten sie mit und waren durch
die Ifilch ihrer Begleiterin besser genährt als auf
ihren militärischen Märschen in Russland, wo es
vorkam, dass sie sich an „Wasserriebele" aus
ganz scijwarzem Mehl sättigen mussten, die mit
Pulver gesalzen und mit Talg „geschmälzt"'
waren. So kamen die beiden Wanderer nach
Württemberg zurück ; der junge Offizier avan-
cierte sogleich und erhielt Auszeichnungen aller
Art» darunter einen hohen» geldtragenden Orden»
sfSter auch den KammerfaermscUilsseL Jetzt
heiratete er meine tjrossmutter, ein Fräulein Wil«*
hclmine v. Oetinger, die Nichte des allmächtigen
Staatsministers, Grafen v. Dillen. Dieser Dillen
hat in der Geschichte des Landes wie im Leben
der Familie eine zu wichtige Rolle gestielt» um
ihn hier mit Schweigen zu übergehen. Der Viel-
berufene, der sich ursprünglich Dillenius schrieb,
studierte in Tübingen die Medizin» als König
Friedrich bei einem Besuche daselbst den bild-
schönen, hochgewachsenen Studenten ert>lickte»
ihn, wie es seiner Laune gefiel, aufgreifen Hess
und den Widerstrebenden mit sich nach Stuttgart
nahm» wo er ihn erst in den MarstalL dann ins
Militär steckte. Hier durchflog der junge Mann
alle Chargen bis zum General; dann wurde er
Staatsminister und der Mächtigste im Lande nach
Digrtized by Google
133 —
dem König. £r soll ein kluger und tatkräftiger
Mann gewesen sein wie sein Monarch; den Dank
des Landes jedoch hat sich keuier von heiden er*
worben. Der König erhob seinen Günstling zum
Baron imd gleich darauf zum Grafen von Dillen,
wobei er ihm die Dörfer und Schlösser von Dätzin-
gen und Rübgarten zum Geschenk machte. Es
heisst» die Dillenius, one aus Belgien eingewan-
derte Hugenottenfamilie, seien in früheren Zeiten
adlig gewesen und hätten erst in Württemberg
dttk Adel abgelegt und» da alle Mitglieder dem
Gdehrten- und Theologenstand angehörten, die
lateinische Namensendung angenommen; der Kö-
nig habe somit nur ihren alten Adel aufgefrischt.
Ich weiss nicht, wie es sich damit verhält; jeden*
falls erkannte das Land diese Renovierung nicht
an» denn der Volkswitz sang:
Der König ist kein Freund von jus.
Er liebt nur seinen Willen,
Drum macht er aus Dillenius
Den Herrn Baron von Dillen.
Die war der Gewaltige, den das Land nur mit
unterdrückter Empörung als das Geschöpf und
Werkzeug der Despotenlaune nannte, der aber
den Zauber einer bezwingenden persönlichen Lie-
benswürdigkeit besass, daher er in der Familie
ebenso geliebt wie anderwärts gehasst und ge-
fürchtet war. Nicht nur meine Grossmutter, die
in seinen glänzenden Zirkeln aufwuchs, hing mit
grösster Liebe und Verehrung an ihm. sondern
auch meine nachmals so radikale Mutter
Digrtized by Google
— 134 —
schwärmte in ihrer Jugend für diesen GrossonkeL
Später ireiUch» als sie im GescMchtsunterricbt
durch ihren Lehrer erfuhr, welch verderbliche
Rolle dieser Mann im Lande gespielt hatte, weinte
sie bittere Tränen« und das Gefühl« dass sie etwas
am Volke gutzumachen habe, wurde ein Haupt-
anstoss zu ihrer späteren ultrademofcratischen
Gesinnung.
Meine Gross mutter war die einzige Tochter
des Oberstleutnants v. Oetinger; ein Bruder von
ihr liess als junger Offizier auf der Beresina-
brücke sein Leben. Ihr Vater hatte mit neunzehn
Jahren die noch nicht fünfzehnjährige Schwester
des Günstlings geheiratet, und das junge Pärchen,
das noch wie Kinder zusammen tollte und
schmollte, führte ein sehr lustiges Leben. Sie
hielten sich für unerschöpflich rmch, well er der
Elbe zweier von seiner Mutter verwalteter Ritter-
güter, Hollach und Archshofen, war, daher der
noch unmündige Ehemann, den die eigene Mutter
knapp hielt, um selber zu verschwenden, es lücht
schwer fand. Gelder aufzunehmen. Als diese
starb, waren die Güter zerronnen; der Sohn sah
sich am Abgrund, und da des Königs Strenge
gegen Schuldenmacher unerbittlich war und der
Schwager ihm nicht zu Hilfe kam, gab er sich
durch eine Kugel selbst den Tod — diese Kugel
lag noch als düsteres Wahrzeichen in einer Fami-
lienschatulle, als ich ein Kind war« Die Witwe,^)
Ihre Büste, von der Hand Dan neckers, beendet
jsich in der Akademie der Künste zu ötungart
Digitized by Google
— X3S —
eine pikante, feurige Erscheinung, deren BÜd»
von der Simanowitz gemalt, sich noch bis vor
wenigen Jahren in unserm Hause befand« nahm
nun ihrerseits von dem reichen* mächtigen Bru-
der keine Unterstützung an, sondern lebte von
ihrer kleinen Pension in engten Verhältnissen und
Stickte Fahnen für die napoleonischen Regimen-
ter. Als sie aber noch in jungen Jahren starb,
setste der Bruder ihr auf dem Ludwigsburger
Friedhof ein kostbares Denkmal
Ihre Tochter, die meine Grossmutter war,
wurde bei diesem Onkel erzogen und entsagte auf
«einen Befehl einer Jugendneigung» um meinen
Grossvater zu heiraten, der in sehr geordneten
Verhältnissen lebte und einiges Vermögen besass.
Die Ehe fiel glücklich aus und wurde nur ge-
trübt durch das Wegsterben der ganzen männ-
lichen Nachkommenschaf t. Von sechs Kindern
blieb nur meine Mutter am Leben, die am
(5. August 1S26 zur Welt kam und Eva Maria ge-
tauft wurde. Ein jüngeres Schwesterchen, Ot-
tilie, ein stilles» sanftes» ganz aufs Häusliche ge-
richtetes Kind» das völlige V^derspiel mdner
Mutter» erreichte nur das elfte Lebensjahr.
Nachdem König Wilhelm die Garde als ein
zu aristokratisches (oder zu kostspieliges?) Korps
aufgehoben hatte» wurde mein Grossvater sur In-
fanterie versetzt und nahm nach verschiedenen
Gamisonswechseln als Oberst seinen Abschied.
Man kann diesen Mann in Anbetracht seines
Standes und der Stellung» die er bekleidete» ein
Digitized by Google
— I3ß —
Original nennen. Er tioU M seinen Untergebenen
im höchsten Grade beliebt gewesen sein, bei den
Kameraden nur teilweise und ganz und gar nicht
bei den Vorgesetzten, denen sein unbefangener
Freimut schlecht behagte. Bei Hofe aber war er
geradezu das enfant terrible, denn er sagte jedem,
selbst dem despotischen Landesherrn, mit der ge-
lassensten Miene die Wahrheit ins Gesicht. Fiir
die äusseren Dinge hatte er gar kein Auge, eine
Eigenschaft, die auch auf meine Mutter über-
ging, wie diese denn überhaupt ganz nach dem
Vater artete. Nach seiner Pensionierung kaufte
er ein Landgut in Oberesslingen bei Esslingen, das
er selbst bewirtschaftete. Da er von Landwirt-
schaft und Gärtnerei, die er mit Leidenschaft be-
trieb» nicht viel verstand, so hatte er manches
Lehrgeld zu zahlen; es wird ihm sogar nach-
eraählt, er habe die Blumenswiebeln verkehrt in
den Boden gesteckt und sich gewundert, dass sie
nicht wachsen wollten. Er war von äusserst
heiterem Humor und hatte einen unendlichen
Tätigkeitstrieb: er drechselte, schreinerte^ bas-
telte; mit dem Hahnenschrei stand er auf und
war emsig beschäftigt bis zum Nachtessen. Auf
Weihnachten verfertigte er für alle Schulkinder
des Ortes kunstgerecht broschierte Schreibhefte.
Seine Hauptliebhaberei aber war die Medizin:
er war nie so glücklich, als wenn die Bauern
kamen, sich von ihm ein Pflaster schmieren,
einen Arnikaverband anlegen zu lassen. Den
Schwererkranl^en, an die er sich mit seiner Kunst
Digrtized by Google
— 137
nicht wagen konnte, wurde Fleischbrühe und
Wem ins Haus geschickt. Er lebte selbst sehr
^nf ach« hielt wenig auf das Äussere, pflegte aber
in seinem Haus eine ausgedehnte Gastfreund-
schaft. Wenn er Gäste hatte, floss der Cham-
pagner; war er allein, so trank er ein selbstge-
brautes Bier aus Zucker und Cybeben, bei dessen
Herstellung ihm eine Jugenderinnenmg an
„Braunschweiger Munrnie" vorgeschwebt haben
soll. Ihm selber mundete dieses Bier vortreff-
lich ; andre fanden, dass es ein abscheuliches Pro-
dukt sei Ich vermute, dass mein Vater, der als
Verlobter noch die Reste des schwiegen^ter-
lichen Kellers kennen lernte, aus diesem Gebräu
die Inspiration zu dem berühmten „Korruptions-
gesöff' in den „bdden Tubus" geholt hat, von
dem Ach aber meines Grossvaters Mischung da-
durch unterschied, dass sie alles eher als eine Er-
sparnis war.
Meine Grossmutter Brunnow muss eine pom-
pöse Erscheinung gewesen sein. Zwei Miniatur-
bildchen in Empiretracht stellen sie in der Zeit
ihrer höchsten Blüte dar : ein sanft lächelndes und
zugleich pikantes Rokokogesichtchen vom zar-
testen Blondinenkolorit und eine Büste von voll-
endeter Schönheit. An Charakter erinnert sie an
meine Grossmutter väterlichersdts, freilich inner-
halb viel grösserer Lebensformen: sie war eine
sanfte, selbstlose, duldende Natur, die nur für
andere lebte und ihr frühes Siechtum m verbergen
suchte, um die Jugend der Tochter nicht za trüben.
Digrtized by Google
Sic war eine geschickte Blumenmalerin, machte
kunstvolle Stickereien» besass überhaupt sehr viel
Sinn und Handfertigkeit für jede Art von Nadel*
arbeit. Da aber ihr ganzes Leben ausgefüllt war
von Kummer um die schnell wegsterbenden
Söhne, und Kränklichkeit sie schon in jungen
Jahren befiel, wurde stille Resignation der Grund-
ton ihres ganzen Wesens. Alle, die sie kannten»
schätzten und liebten sie, ihre Jugendfreundinnen
hielten unverbrüchlich an ihr fest, und auch der
einstige Verlobte, ein Baron Moltke, der nun in
treuer Freundschaft an ihr hing, kam oft sie zu
besuchen und wurde von meinem Grossvater stets
aufs freundlichste und kameradschaftlichste em-
pfangen. Sie hatte eine Vorliebe für italienische
Literatur, die sie auf meine Mutter übertrug, denn
ne schenkte ihr schon zu ihrem zwölften Geburts-
tag die „Göttliche Komödie" und das „Befreite
Jerusalem'*, wie denn die Damen der adligen
Kreise damals eine viel höhere Bildung besassen,
als die der bürgerlichen. Um sich zu zerstreuen,
arbeitete sie das ganze Jahr hindurch für die Kin-
der von Oberesslingen; Hauben, Schürzen, Röcke
lind Strümpfe wurden verfertigt; bei der Puppen-
fabrikation half ihr das Töchterchen, während der
Vater Schulhefte broschierte oder Federröhren
drechselte. Jahr um Jahr, solange die edle Frau
lebte, wurde der Schule mn fröhliches Weih-
nachtsfest bereitet, wozu die gute Josephine, das
Faktotum des Hauses, ganze Waschkörbe voll
Lebkuchen buk. Im Andenken an die früh Da-
Digitized by Google
139 —
liingegangene fuhr ihre völlig anders geartete
Tochter noch lange fort» Kinderkleider für die
dörfUchen Bedürfnisse anmfertigen, obgleich ihr
die Werke deij Nadel eigentlich ein Greuel waren.
Wilhelmine von Brunnow starb schon am
3* September 1842 während eines Besuchs bei
ihren Verwandten in Dätsingen und liegt dort
auf dem ländlichen Friedhöfchen an der Seite
ihres Onkels Dillen begraben.
Solange das Temperament meiner Mutter
4urch diese sanfte Macht gefesselt war. trat die
Oppomtion gegen die Welt, der sie dürcfa ihre Ge-
burt angehörte, noch nicht so stark hervor: wie
die junge Baronesse ihrem Stand entsprechend
gekleidet ging, fühlte ne sich ihm auch. innerlich
verbunden; ja bei ihrer Neigung 2um Extremen
gab es sogar dne Zeit, wo sie die Adligen für die
einzig berechtigften Lebewesen ansah; eine Mei-
nung, an der ihre liberalen Eltern gänzlich un-
schuldig waren. Freilich zeigten sich auch schon
im Kindesalter die sozialistischen Regungen«
denn als sie zum erstenmal Arme sah, wurde sie
von der ungleichen Verteilung der Glücksgiiter
so erschüttert, dass sie in den Keller lief und un-
gesäumt die feinsten Bordeauxflaschen ihres Va-
ters den Bettlern schenkte. Überhaupt war sie
von frühster Kindheit an anders als andre Kinder.
Sie nahm nie von einem Menschen ein Geschenk,
ausser von ihren Eltern« Geld hielt sie für das
Allergemeinste und Beschimpf endste; mit Geld
konnte sogar ihre heissgeliebte Josephine sie in
Digrtized by Google
«
— 140 —
die Flucht treiben, wenn die Kleine ihr in der
Küche lästig fiel. NiemaU mochte sie mit rnidem
Kindern spielen; wenn solche zu Besuch kamen»
so gab sie ihnen schnell ihr sämtliches Spielzeug
hin und versteckte sich dann im entlegenstea
Zimmer» um nichts mit ihnen zu tun 2U haben^
Das grosse Mitleid mit den Tieren lag gleich-
falls von Kindheit an in ihr; sah sie ein Kalb zur
Schlachtbank führen, so wurde sie den ganzen
Tag nicht mehr froh. Als sie einmal von einem
Hasen gegessen hatte» träumte ihr des Nachts»,
dass das Tier sie in grauenhafter Gestalt als ab-
genagtes Gerippe verfolge imd sein Fleisch von
ihr zurückverlange. Von da an wies sie alles>
Wild mit Abscheu zurück und f asste einen Wider-^
Villen gegen Fleischnahrung überhaupt» der sich
mit der Zeit zu völligem Vegetarianismus ent-
wickelte. Da niemand ihr wehrte, wuchsen alle
diese Eigentümlichkeiten mit ihr und machten sie^
zu einer ureigenen» mit niemand sonst zu ver-
gleichenden Persönlichkeit. Sie lebte ganz und.
gar in dner phantastischen Welt. Auf Bällen er-
regten ihre Partner ihr nicht einmal den Ein-
drucky dass sie Menschen, geschweige dass sie
andern Geschlechts seien* Sie schienen ihr nur
angezogene Tanzbeine, kostümierte Besenstiele»
während sie selbst in lange geheimnisvolle Lrie-
besgeschichten mit gefangenen Rittern verwickelt
war» die im Verliess ihres Schlosses schmachte-
ten. Eigentlich waren diese Liebesritter Giess-
kannen und andres Gerümpel, das in einer Kam-
Digitized by Google
— X4I —
mer des Brdgeschosses lag und bei ihrer höchsten
Ungnade von niemand berührt werden durfte.
Überhaupt gewöhnte sie sich daran, die Realität
der Dinge nicht anzuerkennen, wofür dann frei-
lich die Dinge sie auch beständig mit ihrer Rache
verfolgten, was aber weniger von ihr selbst als
von ihrer Umgebung empfunden wurde.
Von klein auf war es ihr ein zwingendes Be-
dürfnis, ihre Gedanken und Empfindungen in
Versen auszudrücken, mit denen sie im Umsehen
ganxe Hefte vollschrieb« Meist wurden sie noch
in der frischen Begeisterung ihrer Josephine vor-
gelesen, und diese verbreitete ihren Ruhm weiter.
Sie fanden in Freundeskreisen eine unbegrenzte Be-
wunderung. £in Klagegesang, den sie auf den Tod
der von Württemberg gedichtet hatte, sirkolierte
in Abschriften bei Hofe und trug ihr den Namen
einer Sappho ein. Besonders der alte Freiherr
glaubte» dass es nichts Erhabeneres geben könne,
als die Poesien seiner Tochter. Dafür bedachte
sie auch ihn einmal mit einer poetischen Huldi-
gung. Sie verfasste zu seinem Geburtstag zwei
Sonette, wovon das eine seine Kriegstaten feierte
und ihm den Lorbeer zuerkannte^ das andre sein
ländliches Friedenswirken in einem Feldblumen-
kranz symbolisierte. Zum Feste hüllte sie sich
selbst in Helm und Harnisch als Viktoria* eine
m Besuch anwesende junge Freundin wurde als
Flora angetan, und in mntm mit Laubwerk ausge-
geschmückten Zimmerchen vor einem kerzenflam-
Diglized by Qi)0^e
— 143 —
mendcn Hausaltar bcgrüssten die bddcn Ciott»
heitea dcnüberrasditen jede mit ihremSonett» das
sie ihm hieraiif geschrieben nebst dem dazu ge-
hörigen Kranz überreichten. Der Lorbeer war
freilich vom Oleanderbaum gepflückt» was aber
der Feierlichkeit keinen Abbruch tat. Der alte
Herr weinte Freudentranen, indem er die jungen
Mädchen in die Arme schloss. Die Sonette steckte
er voll Wonne in die Westentasche; er glaubte
in ihnen den höchsten Gipfel der Poesie erstiegen
und teilte sie in glücklichem Vaterstolz allen
seinen Freunden mit. Es wurde ihm sogar nach-
gesagt, dass er einmal auf einem Spazierritt eine
vorbeifahrende Equipage angehalten habe, indem
er vom Pferd herab sich auf das Trittbrett
schwang, um den überraschten Insassen die So*
nette seiner Tochter vorzulesen. Diese selbst
war die einzige, die ihren poetischen Erzeugnissen
mit Kritik gegenüberstand, ja in späteren Jahren
pflegte sie sogar ihr Talent unter seinem wahren
Werte «nzuschätzen.
Obgleich sie in den grossen Werken der Dicht-
kunst schwelgte, vermochte doch bei ihrer
mehr rationalistischen als künstlerischen Anlage
die Poesie ihr Inneres nicht ganz auszufüllen.
Quälende Fragen nach dem letzten Grund der
Dinge verfolgten sie von Kindheit auf. Das
religiöse Dogma, dem sie sich nie hatte hingeben
können, wurde unter heftigem innerem Ringen
abgeworfen, worin ihr übrigens merkwürdiger-
weise das jüngere, völlig anders geartete Schwc-
Digitized by Google
— 143 —
sterchcn ganz selbständig yorahgegangen war:
em Zdchen» dass die Zeitstrümungen auf gdidm*
nisvoUen Wegen wirksam sind. Mit brennender
Gier warf meine Mutter sich auf die Lektüre der
Philosophen, die ihr aber das innere Ungenügen
auch nicht hoben» bis schliesslich die Achtund-
viersiger Ideale mit solcher Gewalt von ifiär Besita
nahmen, dass sie fortan die Welt nur von diesem
Standpunkt aus begreifen konnte.
Ihre sorglosesten Jugendtage verlebte sie auf
euiem benachbarten Edelsitz, dem Schlösschen
Boihhigen,bdl der Familie von Thumb» die su den
historischen Geschlechtem des Landes gehört. In
Boihingen herrschte ein sehr munteres und an-
regendes Treiben: dort fand der jimge Adel des
Landes sich zusammen; man ritt und tollte in den
grossen Wäldern umher, man dilettierte in Poesie,
wie man heutzutage in den bildenden Künsten
dilettiert, man war romantisch und zugleich libe-
ral» was ebenfalls zum Ton der Zeit gehörte. Die
jungen Edeldamen, an die sich noch die gebildete
bürgerliche Frauenwelt anschloss, schwärmten im
Hyperion und lasen zusanmien den Homer; die
Kavaliere schwelgten in Lenau und Heine und
kokettierten sogar mit der herannahenden Revo-
lution. Bei meiner Mutter fielen die Lehren des
neuen Evangeliums auf den fruchtbarsten Boden.
Sie soll der Stern dieses Kreises gewesen sein»
wie mir andre erzählten. Sie besass zwar nicht
die imposante Gestalt, noch die milde, herrschende
Anmut, durch die meine Grossmutter geglänzt
Digitized by Google
— 144 —
hatte» aber ihre pikante und äuflserst bewegliche
Erscheinung, das Gef unkel ihrer „Fixatemaagtn^f
wie mein Vater sie nachmahi nannte, fand nodi
mehr Bewunderung als wirkliche Schönheit.
Sie wurde vom männlichen Geschlecht sehr
ausgezeichnet imd verstand es» sich die ab-
gewiesenen Bewerber zu Freunden zu machen.
Dabei hatte sie das seltene Glück, beim
eigenen Geschlechte keinen Neid zu erwecken,
was sie ausser ihrer grossen Güte gegen die
Freundinnen zum Teil dem Umstand verdanken
mochte» dass sie bei ihrer vÖlHgen Gleicligültig-
keit gegen die Toilette auf äussere Ansprüche
ganz zu verzichten schien. Sie war in jungen
Jahren sehr unternehmend und kannte keine
Furcht: um nach Boihingen zu gelangen, musste
sie drei Stunden Wegs zu Fusse durch Wälder
zurücklegen und watete wohl auch durch den
dort nicht tiefen Neckar. Als einzige Waffe
trug sie eine Schnupftabaksdose bei sich» mit
deren Inhalt sie sich im Notfall zu verteilen
gedachte; zum Glück kam sie nie in diese
Lage, denn es gab dazumal keine Stromer.
Dabei ging sie gerne in Bauenüdeidung, nicht
aus Koketterie, sondern der Bequemlichkeit
halber; denn seit dem Tode ihrer Mutter war nie-
mand mehr, der über ihren Anzug wachte; ge-
legentlich aber legte sie auch für ihre Wande-
rungen irgendeine ganz phantastische Tracht an,
wie die einer Neapolitanerin oder gar der Jung-
frau von Orleans. In ihren Kreisen liess man sie
Digrtized by Google
— 145 —
vöUig gewähren, die bÜrgcrHchcn Freundinnen
ahmten wohl auch die junge Baronesse nach, das
Landvolk aber meinte^ es müsse so sein. Sie fand
bei Männern und Frauen glühendste Verehrung
und treueste Freundschaft, die sie lebenslang
durch alle Wandlungen der Zeit begleitet haben
und noch begleiten.
Zu den Freundoi meiner Mutter gehörten auch
verschiedene junge Studenten bürgerlicher Ab-
kunft, die ihre Ferien in Oberesslingen verbrach-
ten. Diese revolutionär gefärbte Jugend sang
das junge Freifräulein als die Muse ihrer politi-
sehen Lieder an. Mein Grossvater, der, obgleich
liberal, doch für seine Person ganz als Edehnann
fühlte, liess sich diesen demokratischen Umgang
seiner Tochter gefaUen; er zog ihn sogar der
Gesellschaft der jungen Kavaliere vor, denen er
als Weltmann und Menschenkenner weniger
traute. Unbehindert konnte sie mit diesem oder
jenem ihrer bürgerUchen Verehrer halbe Nächte
allein auf dem Neckar rudern, in Träumen von
Volksbeglückung und Menschheitsverbrüderunc
schwelgend. *
Tn jene Zeit fiel auch die tolle Episode des
Franzosenschrecks, die ich als Kind oft von unsrer
Josephine era^len hörte. Es war an einem
Feiertag im Frühjahr 1848, als plötzlich vom
Schwarzwald her wie ein Lauffeuer die Kunde
dr.ng die Franzosen seien mit bewaffneter Hand
^Z^'^ ""r^'"^^^' "Sie kom-
men! flog von Ort m Ort, überaU einen wilden
Isolde Kurz, Hermanu Ku«.
Digitized by Google
Aufruhr erweckend. Vor dem Tübinger Rathaus
kam der Oberamtarichter von Sula in voller
Karriere angesprengt, um bewaffnete Hilfe za
holen, weil in der Stadt Sulz schon der Feind
stehe: bei seinem Ausritt seien die Franzosen
eben von der andern Seite eingezogen. Bürger-
schaft und Studenten bewaffneten sich in Hast
und wurden von den nicht Wehrhaften, worunter
viele Frauen, unter Abschiedstränen eine weite
Strecke begleitet. Unterwegs stiessen sie auf
andre bewaffnete Scharen, die von anderswo alar-
miert worden waren« denn die Panik, die sich weit
ins Badische hinein verbreitete, hatte in Württem-
berg nicht nur den ganzen Schwarzwaldkreis, son-
dern auch einen Teil des Neckarkreises ergriffen.
Allerorten spielten sich die wunderlichsten Szenen
ab« Auch in Esslingen rauschte die Welle des
Unsinns an und brachte sogar das stille Ober-
esslingen auf die Beine. Zwei Söhne benachbar-
ter Häuser, sonst ergrimmte Rivalen, die der
Witz Josephines in einer nahelegenden Verketze-
rung ihrer Namen Romulus und Remus nannte»
beide bildschöne stattliche junge Männer, er-
schienen des Nachts einer um den andern in
der kleidsamen Uniform der Bihrgerwehr und bis
an die Zähne bewaffnet vor der Tür des Fräuleins
und erklärten sich einmütig bereit, ihr Leben für
sie zu lassen. Von Josephine mit den grossväter-
lichen Weinen gelabt, zogen sie wieder ab» um den
Feind» der schon auf Esslingen sumarschieren
sollte» zu rekognoszieren. Aber des andern Tags
Digitized by Google
— X47 —
war der Wahiurinn verflogen; von allen Seiten
kam die Nachricht, dass man sich durch emen
blinden Lärm hatte täuschen lassen, und Romulus
und Remus legten mit dem ganzen Landsturm
beschämt die Waffen nieder. Wie die Panik ent-
standen war» ist niemals aufgeklärt worden. Viele
glaubt«!, irgendein Spassmacher habe die ganse
Geschichte angezettelt, dafür war aber die Er-
regung viel zu elementar und zu allgemein; es
scheint vielmehr» dass die Gärung, die damals
durch die bdden Länder gmg, von selbst diese
seltsame Form der Entladung gefunden habe.
Denn, wenn ich meiner Chronistin glauben darf,
SO war gleichzeitig jenseits der Rheingrenze der-
selbe Schrecken ausgebrochen, und die Bevölke-
rung flüchtete im Glauben, von den Deutschen
angegriffen zu sein, in wilder Hast landeinwärts.
Noch his heute ist im Schwabenland dieser Tag
mit seinen Schwabenstreichen unter dem Namen
des Franzosenfeiertags bekannt, und F. Th. Vi-
scher hat das lustige Motiv in sdne dramatische
Posse „Nicht I A'' verflochten.
Als die Revolution ausbrach, gehörte Marie
V. Brunnow 2U ihren feurigsten Aposteln. Der
Vorzug ihrer Geburt erschien ihr als ein Unrecht,
das sie durch Einsetzung ihrer ganzen Person für
die Sache des Volkes zu sühnen strebte. Sie stürzte
sich in den Strom ohne zu fragen, wohin er sie
tn^en würde; sie besuchte Volksversammlungen,
verteilte Manifeste und Wahlzettel, und die gleich-
gesinnte Jugend scharte sich um sie wie um eine
lO*
Digrtized by Google
— 14» —
Fahne. Es lief freilich viel Spielerei und Mum-
menschanz bei diesen schwarz-rot-goldenen Be-
geisterungen mit unter. Ich kenne ein gewisses,
für die Zeit höchst charakteristisches Büchelchen,
das „Rote Album'', das meiner Mutter von Ge-
sinnungsgenossen im Jahre 1849 bei einem häus-
lichen Fest überreicht wurde: in Rot gebunden,
mit roter Tinte auf rote Blätter geschrieben, voll
von Karikaturen und Knittelversen, auf jeder
Seite von Tyrannenblut triefend, die tollste Selbst-
persiflage der Revolution. Etwas Kinderei scheint
durchweg zum Jahr Achtondvierzig gehört zu
haben; doch bedeutete diese Bewegung für ihre
Zeit gewiss die Spitze des Wachstums, und jeder
Fortschritt ging damals denselben Weg, wenn
auch die Keime, die der Prfihlingssturm durch die
Lüfte trug, erst viel später und in ganz andrer
Gestalt reifen sollten. Bei vielen, die in jener Zeit
mitliefen, war es Modesache, und die ersten Nie«
derlagen vertrieben ihnen schnell die revolutio-
nären Gelüste. Meiner Mutter aber waren die
Ideen von Achtundvierzig eingeboren und hatten
nur auf den äusseren Anstoss gewartet, um her-
auszutreten und sich ihrer Person zu bemäch-
tigen. Ich darf hier an tmt andre deutsche Frau
ennnem, die, aus ähnlicher Atmosphäre stam-
mend, dieselbe Entwicklung nahm: Malwida von
Meysenbug. Das Schicksal beider Frauen hat
viel Analoges, wie es sie denn auch schliesslich
hl späten Jahren auf italienischem Boden noch
zusammenführte. Nur war Malwidas Bruch mit
Digrtized by Google
— 149 —
Ihren Traditionell mühseliger und schmerzlicher.
Er war das Resultat einer unter Kämpfen ge-
wonnenen Erkenntnis; bei meiner viel feurigeren
Mutter war er gleichsam ein Naturereignis, eine
blitzschnell sich vollziehende „Wahlverwandt«
Schaft" zwischen ihrer eigenen Natur und den
neuen Elementen der Zeitströmung. Auch zog
in der milderen süddeutschen Luft der Ubertritt
einer jungen Aristokratin in die Reihen der Volks-
kämpfer keine grausamen Familienkonflikte nach
sich; mein Grossvater Hess der einzigen Toch-
ter» die sein Abgott war, freie Hand, ohne
sich für oder wider in die Sache zu mischen.
Als ihr eines Abends der Liederkranz des
Esslinger Volksvereins zum Dank für ihre Pro-
paganda mit wehenden Fahnen tan Standchen
brachte und die junge Revolutionärin in den
Garten hinaustrat« um eine Ansprache zu halten,
was damals bdm weiblichen Geschlecht noch
etwas sehr Ungewöhnliches war, hlSrte der gute
Vater hinter einem Baum versteckt zu und wdnte
helle Tränen der Rührung über die seiner Tochter
dargebrachten Huldigungen. Die gleiche Tole-
ranz fand sie in ihrem elterlichen Freundeskreis»
Wenn sie in Stuttgart bei der zu den Hofkreisen
gehörigen Familie v. R. zu Besuch war und von
dort aus die demokratischen Versammlungen be-
suchte, gab ihr der alte Baron den Bedienten zur
Begleitung mit, obgleich er recht gut wusste, dass
ne unterwegs den Burschen, der sich verlegen be-
mühte, die vorgeschriebene Distanz einzuhalten.
Digrtized by Google
— ISO —
für die Propaganda bearbeitete und ihn, um keine
Gd^enheit m venäumeii, gleich mit in den Saal
nahm. — Ich muaa es dieaer Aristokratie nach-
rühmen, dass sie auch späterhin ihr entsprungenes
Schäfchen, wenn es ihr zufällig wieder begegnete,
stets mit Pietät und Courtoisie behandelt hat» im
Gegensatz zu den bürgerlichen Partden, bei denen
der politische Hass gegenseitig kein billiges Urteil
aufkommen Hess.
Mein Grossvater Brunnow starb am 20. Januar
185O9 bevor er das siebzigste Lebensjahr erreicht
hatte. Sein Vermögen war durch unglückliche Ver-
waltung sehr vermindert; noch mehr sollte es in
den nachfolgenden Jahren durch die Freigebigkeit
der Tochter für politische Zwecke zusammen-
schmelzen. Ihre erste Handlung nach seinem Tode
war etwas für ihren Charakter sehr Kennzeichnen-
des: sie nahm einen illegitimen Sprössling ihres
Vaters, dessen Dasein er ihr verheimlicht hatte»
zu sich ins Haus und liess durch die treue Jose-
phine das kl«ne Brüderchen aufs zärtlichste pfle-
gen, ohne nach den erstaunten Augen der Leute
zu fragen. Den Vorschlag reicher Verwandten,
sie ganz zu sich zu nehmen, wies sie ab und
hauste mit der Getreuen allein auf ihrem Dörf-
chen in der väterlichen Wohnung weiter.
Das Bild meines grosselterlichen Hauses und
später ebenso das des elterlichen wäre unvoll-
ständig, wenn ich nicht auch der Gestalt Josephi-
nens» die darin eine so wichtige Rolle spielte, hier
einen Platz vergönnte. "Es war dieser Guten
Digrtized by Google
251 —
nicht an der Wi^ gesungen» daas sie dnmal
unter florentinischcn Zypressen ihren letzten
Schlaf schlafen sollte. Von der bayrischen Grenze
gebürtig, als Tochter eines Gärtners auf den gräf-
lich Fttggerachen Gütern, war sie mit zwanzig
Jahren in den Dienst meiner Grosseltem gekom-
men, als meine Mutter eben geboren war. Der
ideale Zug, der durch ihr ganzes Leben ging,
äusserte «ich in der Jugend in einem Drang nach
der Bühne; die wenigen Theaterstücke, die sie zu
sehen Gelegenheit hatte, brausten ihr im Kopfe
wie junger Wein. Da sie keine Mittel hatte, sich
auszubilden, musste sie sich mit der Lektüre der
klassischen Dramen, die sie sich verschaffen
konnte, begnügen. Daher ihr höherer Sprechstl!
und die gereinigte Ausdrucksweise, die sie gänz-
lich von ihrem eigenen Stande trennten. Nicht
als ob ihr Reden etwas Gespreiztes gehabt hätte
— sie sticht vielm^r unter den vielen Gestalten
meiner Kindheit, die häufig zur Karikatur neigten,
durch das Gehaltene, Massvollc, Harmonische
ihres Wesens ab — nur klang alles, was sie sagte,
SO gebildet, dass ein Fremder es schwer mit ihrer
Aschenbröddbeschäftigung in Einklang bringen
konnte.
Ihr taktvolles Benehmen, ihr reger, aufge-
weckter Geist, vor allem ihre ungeheure Brauch-
barkeit wandelten ihre Stellung in meinem gross-
elterlichen Hause bald in die einer Vertrauten.
Sie soll eine regelmässige Schönheit gewesen sein,
mit tiefleuchtenden Augen, die auch im Greisen-
Digitized by Google
alter, als schon ihre Sehkraft gelitten hatte, den
Glanz nicht verloren. Sie wurde von den Unter-
offizieren, die aus dienstlichen Gründen das Brun-
nowsche Haus betraten, sehr umworben, aber sie
schlug alle Freier aus, „denn/' sagte sie zu meiner
GnMsmutter, »die meines Standes sind» die fühle
ich geistig unter mar, und die Gebildeten, die mir
gefallen» nehmen mich doch nicht, wenn sie mir
auch hofieren; also bleibe ich ledig." So beglei-
tete sie ihre Herrschaft von Garnison zu Garnison»
bis sie mit in Oberesslingen landete. Sie pflegte
die Kinder, die nacheinander kamen und wieder
verschwanden, und wurde später die besorgte
Wärterin meiner leidenden Grossmutter. Da-
neben versah sie die Küche, den Garten, den
Hühner- und Ziegenstall und kochte auch noch
mit der grössten Bereitwilligkeit für die Kranken
des Dorfes, fiäufig kam sie nach der schweren
Arbeit nicht einmal zu Bette, da sie Nächte hin-
durch meine nach Atem ringende Grossmutter
frottierte. Meiner Mutter verschwieg sie so viel
wie möglich diese traurigen Nächte, um das junge
Mädchen nicht vor der Zeit aus dem sorglosen
Jugendtraum zu reissen. Dafür wurde sie auch
mit zur Familie gerechnet und von den Freunden
des Hauses gMchfalls mit grösster Anerkennung
behandelt. Nach dem Tode meiner beiden Gross-
eltem (die kleine Ottilie, ihren Augapfel» hatte
sie schon vorher begraben müssen) wurde ihr von
IMUenscher Seite der Posten einer Verwalteria
von Dätzingen angetragen, wo sie die ange-
Digitized by Google
— 153
nebmste» unabhängigste Stdlung bei hohem Ge-
balt gehabt hätte. Aber sie zog es vor, bei ihrer
Baronesse» die jetzt allein stand» weiterzudienen,
auch ohne Lohn in Zeiten» wo dieser das Geld aus-
ging. Sie wandte nun ihre ganze Liebeskraft auf
das verwaiste Mädchen, indem sie nicht nur für
ihr körperliches Wohl sorgte, sondern sich in ihr
ganzes Wesen einlebte. Sie nahm teil an ihrer
Lektüre, und als meine Mutter das Lateinische
zu treiben begann, lernte sie die Vokabeln, sowie
Deklinationen und Konjugationen mit, ebenso wie
sie im Jahr Achtundvierzig an der politischen
Ekstase ihrer jungen Herrin teilgenommen und
sich die neuen Ideen anzueignen gesucht hatte.
Ihre ausserordentliche Frugalität kann nur mit
der meiner Mutter selbst verglichen werden, die
auf diesem Punkt mit ihr wetteiferte. Oft bestand
ihre gemeinsame Nahrung nur aus einem Topf
Kaffee mit Zichorie zugesetzt. Nichts für sich
selber zu gebrauchen, war lebenslang das Prinzip
beider; was das junge Mädchen damals erübrigen
konnte, das schenkte sie der Propaganda oder
wandte es den politischen Flüchtlingen zu, die
durch die Reaktion brotlos wurden. Es versteht
sich, dass später, als Marie v. Brunnow sich ver-
heiratete, die Getreue ihr in das neue Haus folgte,
um auch an ihren Kindern all das Gute zu tun
und dort dieselben Lasten auf sich zu nehmen wie
zuvor im Brunnowschen Hause. Sie blieb, so-
lange sie lebte, ein Glied der Familie, von ims fast
wie eme Grossmutter angesehen* wenn auch lei-
Dig'itized by Google
— X54 —
der der kindliche Unveratand iini diet nicht
immer richtig zum Ausdruck bringen Hess. In
ihren Armen ist mein Vater gestorben. In meinen
Erinnerungen an das eiterliche Haus wird noch
oft von ihr, die sein tinscfaeinharer Schutzgeist war,
die Rede sein. Sie war schon siebzig, als sie das
letzte grosse Opfer ihres Lebens brachte, indem
ne sich vom Heimatboden losriss, für immer von
ihrer Schwester und deren Familie Abschied
nahm und mit uns m dxi fremdes Land auswan*
dcrte, wo sie niemand kannte und dessen Sprache
sie nicht verstand. Als aber dort nach ein paar
Jahren ihre eigene, schmerslich langsame Auf-
lösung begann, da hat ihr meine Mutter die lange
Hingabe vergolten, durch eine Pflege, wie man
sie sonst nur den allernächsten Blutsverwandten
suteü werden lässt» Die Getreue starb am so. No-
vember Z883 2U Florenz in unserm Hause,
Dig'itized by Google
Heirat
"Es war am 44. Februar 1848, dem Geburtstag
der Revolution, dass Hermann Kurz und Marie
^. Bruimow auf einem Maskenball im Saale des
Museums za Esslingen sich zum erstenmal sahen.
Die Begegnung war keine zufällige: eine Freun-
din hatte es dem jungen Mädchen verraten» dass
der Verfasser der „Heimatjahre", der sich da-
mals, von Karlsruhe zurückgekehrt, zu kurzem
Besuch bei seinem Bruder in Esslingen aufhielt,
mit mehreren sdner Freunde von der badischen
Opposition den Ball besuchen werde, und diese
Nachricht weckte in ihr den glühenden Wunsch»
den seit lange verehrten Dichter persönlich ken-
nen zu lernen*
Die „Heimatjahre" hatten trotz des schlechten
buchhändlerischen Erfolges im ganzen Lande ge-
zündet, und zwar geschah es», wie es oft geschieht,
dass gerade die schwächeren Stellen des Buchs»
die romantischen Lauraszenen, am stärksten auf
die Phantasie der am Stofflichen hängenden Leser
wirkten. Die ganze Jugend schwärmte für Laura
und ihre Zigeuner. Meine Mutter hatte den
Roman erst wenige Monate zuvor gelesen oder»
'hesser gesagt» verschlungen; das stille Plätzchen
Dig'itized by Google
156 -
unter ihren Bäumen in Oberesslingen, wo sie sich
mit dem Buche versteckt hielt, bis sie unter Herz-
klopfen damit xa Ende war, blieb ihr für immer
tmvergesslich. Bei Ihr kam noch die innere Ver-
wandtschaft mit der Heldin hinzu, um den Ein-
druck zu verstärken. Gehörte sie doch von Ge-
burt derselben Kaste an» deren Konvenienzen und
Vorurtdle jene launenhafte Schöne mit Ffissen
trat, und wie Laura hasste aucli sie den Zwang^
und hätte gerne in den Schluchten des Schwarz-
walds lebendige Zigeunerromantik getrieben, auf
die Gefahr hin» sich den leibhaften Hannikel auf
den Hals m «iehen. Ihr Jubel über die Möglich-
keit einer Begegnung mit dem Dichter war ohne
Grenzen, und sie beschloss, ihm unter der Maske
seiner Heldin eine Huldigung darzubringen. Aus.
einem pompösen roten Samtmantel» den ihr Gross-
onkel Dillen als Maltheserritter getragen und
später ihrer Mutter geschenkt hatte, fertigte sie
sich ein kleidsames Laurakostüm von halb weib-
lichem, halb knabenhaftem Schnitt, wie es zu ihrer
kleinen beweglichen Gestalt passte. Ein hüb-
scher, wohlgewachsener Student aus benachbar-
tem Hause wurde veranlasst, sie in der Maske^
des Zigeuners Tony zu begldten. Fast hätte im.
letzten Augenblick ein tragikomischer Zwischen-
fall die ganse Anstalt veratdt. Das junge Mäd-
chen hatte nämlich am Morgen des Balltages im
Übereifer, sich schön zu machen, und gänzlich un*
erfahren in der Kosmetik, ihr blendend weisses:
Gesicht mit Soda gewaschen» weil sie gesehen.
Digrtized by Google
— 157 —
batte^ class die gute Josephine dieses Mittel zum
Bleichen der \^8clie verwandte^ Das hatte cur
Folge, dass ihre zarte Haut aufschwoll und sich
hässlich rötete, so dass die Entzündung mit kalten
Umschlägen bekämpft werden musste. Jede andre
hätte sich durch einen so widrigen Umstand vom
Besuche des Balles ahschrecken lassen. Nicht
so meine Mutter, die genau wusstc, dass der
Kindruck ihres Wesens nicht von Einzelheiten
der Erscheinung abhing, sondern von ihrer gesam-
ten Persänlichkeit. Ebensowenig liess sie nch
durch die ihr zugeraunte Mitteilung irremachen,
dass das Herz des Dichters bereits in festen Hän-
den sei, und dass der Gegenstand seiner Neigung
den Ball gleichfalls besuchen werde, denn ihre
Bewunderung hatte noch mit persönlichen Wün-
schen und Hoffnungen nichts zu tun.
Als sie im Geleite ihres Morgenländers imd
unter der Ägide eines würdigen Ballvaters —
ihr eigener Vater kränkelte damals schon — den
Saal betrat, zo^ ein hochgewachsener schlanker
Mann mit braunem Haar und Bart» die ein blasses
Gesicht mit tiefglänzenden Augen umrahmten,
ihre Aufmerksamkeit auf sich, und sie vernahm
mit freudigem Erstaunen, dass es der Gesuchte
war, der nun auch äusserlich ihrem Ideal der
Männlichkeit entsprach. Sie wusste es einzurich-
ten» dass sie ihm im Vorüberschlüpfen ein auf
rosa Papier geschriebenes Sonett in die Hand
drückte, worin der Dichter als ,,Hdnrich Roller^
angeredet und aufgefordert wurde, seiner Dame
Dig'itized by Google
— 1S8 —
in den Schwarxwaid zu folgen* Er eilte ihr ina
Maskengewiilil nach und hatte sie auch bald an
den nickenden roten Federn ihres Baretts wieder
ausfindig gemacht. Als sie dann in eine lange
Unterhaltung verwickelt nebeneinander sassen,
kam Toni eifersuchtentflanunt herangestürzt»
^Wo brennfs?'* fragte ihn Laura ärgerlich über
die Störung. „Bei Ihnen!" zischte er ihr in die
Ohren und wandte sich voll Grimm ins Tanzge-
wühl zurück. Das Auge der Eifersucht hatte
richtig gesehen; es war der bekannte Blitzstrahl»
der auf den ersten Blick bei ihr gezündet hatte»
Dem Dichter seinerseits konnte der Eindruck, den
er auf ein so pikantes und aussergewolmliches
junges Mädchen gemacht hatte, auch nicht
gleichgültig sein, und ebenso zog ihn ihr feuriges
Eintreten für die gemeinsamen politischen Ideale
an. Noch hallten die Sturmglocken, die eben,
jetzt Frankreich erschütterten, nicht bis über
den Rhein, aber schon vibrierte es in den
Lüften, und eine Erregung ging durch alle Ge-
müter. In dieser gespannten Atmosphäre, in der
gemeinsamen Erwartung des Neuen, Ausser-
ordentlichen fanden die beiden sich innerlich
schnell zusammen. Beim Souper stellte er ihr
seine badischen Freunde vor, und sie tranken ein-
ander in Champagner das Wohl der heranbrau-
senden Revolution zu. Von Liebe war nicht zwi-
schen ihnen die Rede, aber sie blieben für den
Rest des Abends unzertrennlich und verabredeten
noch auf den folgenden Tag ein Wiedersehen in
Digitized by Google
— Z59 —
befreundeter Familie. Danach aber gingen ihre
Wege auf lange Zeit wieder auaeinaiider. Mein
Vater sieddte nach Stuttgart über und trat dort
in die Redaktion des »»Beobachters** ein. Meine
Mutter wurde durch das Leiden des Gross-
vaters» das ihn nach Jahresfrist zum Tode führen
sollte^ ans Haus gefesselt. Doch blieb der Ein-
druck jenes BaUabends so mächtig in ihr haften»
dass sie noch Wochen später wie im Traume um-
herging. Wenn sie in den Strassen von Esslingen
des Dichters Bruder Emst begegnete» der ihm
an Gang und Gestalt ähnlich war» so klopfte ihr
das Herz, und sie liess sich unzählige Male täu-
schen, obwohl die Brüder sich nur aus der Ent-
fernung glichen. Mit den Kindern ihres späteren
Schwagers luiüpfte sie Freundschaft an und lud
sie nach Oberesslingen zu ihren Obstbäumen und
Johannisbeerhecken ein, um ab und zu aus dem
Munde der Unschuld den Namen des Onkels Her-
mann hören zu können. Ohnehin fühlte sich alles»
was an der grossen Zeitbewegung teilnahm» wie
von einem gemeinsamen Familienbande um-
schlungen; so brauchte sie in den Angehörigen,
meines Vaters keine Fremden zu sehen, denn auch
sein Bruder . Emst, nachmals die Friedensliebe
selbst» war damals von dem allgemeinen Sturme
miterfasst und trug bei den Festen die schwarz-
rot-goldene Fahne der Bürgerwehr durch die
Strassen.
War ihr nun auch der Gegenstand ihrer
Schwärmeret räumlich entrückt» so trat sie doch
Digrtized by Google
— x6o —
in eme stille, aber eifrige Bezidiung zu ihm, in-
dem sie seine täglich erschdnenden politischen
und ästhetischen Aufsätze im ,3Mhachter" las.
Jeder brachte ihr einen Hauch seines Geistes, und
sie lebte mit ihm fort^ als wären alle diese Worte
an sie gerichtet. Das mehrfach zitierte Vater-
landslied: »»Sammle die zerbrochnen Glieder''»
das in den kurzen Esslinger Tagen gedichtet war
und jetzt im „Beobachter" erschien, erfüllte sie
mit Entzücken. Dennoch fiel es ihr niemals ein»
TO bedauern» dass dn solcher Genius sanem
eigentlichen Berufe entrissen war, und die Klage
seiner Freunde, dass der gewaltige „Sonnenwirt'*,
dessen erste Kapitel das „Morgenblatt*' gedruckt
hatte» jetzt auf lange Zeit unvollendet bleiben
müsse» fand bei ihr kdn Echo» denn ihr schien der
unmittelbare praktische Dienst der Freiheit und
des Menschentums noch preisen s wert er als der
Umweg über das künstlerische Schaffen.
Die lange Pause» die in ihrem äusseren Ver-
kehr mit dem Dichter eintrat» und der Tod ihres
Vaters dämpften doch allmählich die Stärke jener
ersten Empfindung. Sie hielt sich vor» dass sie
nichts zu hoffen hatte« da ja der Gegenstand ihrer
Neigung schon gebunden war. Einem aussichts-
losen Träume nachzuhängen, sich den Stachel einer
unerwiderten Liebe tiefer und tiefer in die Seele
zu drücken» das lag nicht in ihrer raschen Natur.
Als sie im nachfolgenden Frühjahr eine Rdse
nach dem Elsass und der Schweiz antrat und
Hermann Kurz sie in Stuttgart freundschaftlich
Digrtized by Google
— i6i —
ruhig an den Eüwagcn begleitete, ohne ein Wort
XVi sprechen, das wie eine Aufforderung zum Blei-
ben klang, da nahm sie sich fest vor, ihre persön-
lichen Gefühle zu ertöten, sich nicht die Begeiste-
rung für ihn» wohl aber den Traum, dass er ein-
mal ihr gehören könne» aus der Seele sni reissen.
Ihre bewegliche Natur und die neuen Ein-
drücke, die ihrer auf fremdem Boden warteten,
machten ihr die Erfüllung dieses Gelübdes nicht
schwer. Sie hatte ja bisher von der Welt fast
nichts gekannt als ihr väterliches Landgut mit
seiner Umgebung, und auch ihre gesellschaft-
lichen Beziehungen reichten nicht über die Kreise
der nahe gelegenen Reudenz hinaus. Jetzt sah
sie den Rhein und die Vogesen, erfreute sich an
den feineren Formen und der munteren Lebendig-
keit der französischen Gesellschaft in Colmar, be-
suchte die Schweiz und fand bei den dort leben-
den deutschen Flüchtlingen, die ihr als der Ver-
körperung ihres Freiheitsideals huldigten, be-
wundernde Freundschaft und eine Fülle neuer
Anregungen, die sie mit Feuer ergriff. Das lieb-
liche Zürich mit seinem von bunten Wimpehi
durchzogenen See erschien ihr als das Paradies
auf Erden. Mächtig wirkte auf sie der Anblick
des Rigi und der gewaltigen Häupter des Bemer
Oberlandes, das sie mit den neuen Freunden zu
Fuss durchwanderte. Sie erstieg die Grimsel und
Furka, besuchte den Rhonegletscher und sandte
vom Gotthardpass sehnsüchtige Blicke ins Land
Italien hinunter. -
Isolde Kurs, Hovaiiii Karr. II
Dig'itized by Google
x6a —
Eine solche Reise war in jener Zeit primitiver
Verkehrsmittel für eine alleinstehende junge
Dame kein i^eringes Unterfangen, und es gehörte
der ganze Wagemut und unerschöpfliche Humor
meiner Mutter dazu, um bei den geringen Mitteln,
die sie aufzubieten hatte, die Flügel so weit aus-
zuspannen. Um nur mit ihrem Gelde ein mög-
lichst grosses Stück Welt zu sehen, fuhr sie auf
der Eisenbahn (wo es eine solche gab) am liebsten
in der vierten Wagenklasse, deren freien Rund-
blick sie nie genug rühmen konnte; auf dem
Schiff benutzte sie das Zwischendeck, das ihr
obendrein erwünschte Gelegenheit bot, sich mit
der von ihr im idealsten Lichte gesehenen nie-
deren Volksschicht zu unterhalten. Ihre Un-
empfindlichk^t gegen jede Art von Witterung»
ihre absolute Bedürfnislosigkeit, die kaum das
Recht des Korpers auf Nahrung gelten Hess und
jede Bequemlichkeit verschmähte, machten es ihr
möglich, auch da noch zu gemessen, wo andre nur
die Stacheln empfunden hätten. Diese Reise blieb
denn auch immerdar ein Glanzpunkt in ihrer Er-
innerung. Doch fand sie sich nach der Heimkehr
auch wieder mit derselben Genügsamkeit in ihrem
stillen Oberesslingen zurecht, wo sie mit dem
kleinen Brüderchen und ihrer Josephine «nsam
weiter hauste, die Leere der Tage durch Kor-
respondenz mit den abwesenden Freunden und
mit eifrigem Anteil an den öffentlichen Dingen
ausfüllend. Trotz ihrer leidenschaftlichen Partei*
nähme für die Sache des Volkes Mrar sie aber
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
keineswegs gesonnen» wie das »»Fdliilein v<m Mal-
peire" zu endigen. Denn als einer ihrer Partei-
genossen, der weiter keinen Ruhmestitel für sich
hatte, als ein Proletarier zusein, ihr zumutete, von
der Theorie sur Praxis su schreiten wid ihm ihre
Hand zu reichen, da wies sie das Ansinnen doch
sehr erstaunt zurück und gab zu verstehen, dass
sie zwar den Adel der Geburt für nichtig halte,
aber auf den der Bildung nimmermdir verzichten
könne.
Um diese Zeit hatte sich Hermann Kurz wegen
eines Pressreats vor dem Esslinger Schwurgericht
zu verantworten. Der Prozess endigte mit Ver-
urteilung zu sechswöchentlicher Festungshaft.
Beim Austritt aus dem Sitzungssaale überreichte
ihm Marie v. Brunnow. die an allen Verhand-
lungen teilgenommen hatte, einen Blumenstrauss,
und während die Freunde den Verurteilten um-
ringten, ging sie in ihrer explosiven Art auf den
Staatsanwalt zu, der seinerzeit selber an der Acht-
undvierziger Bewegung teilgenommen hatte, und
nannte ihn ohne weiteres einen Verräter — ein
Zwischenfall« der übrigens, trotzdem er öffentlich
stattfand, keine Folgen nach sich zog» ein Zeichen,
wie wenig die Reaktion in Württemberg zum
Terrorismus neigte. Diese stürmische Partei-
nahme galt aber nur noch dem Glaubensgenossen,
der für seine Überzeugung stritt, nicht mehr dem
Mann ihrer Träume. Während mein Vater auf
dem Asberg seine Strafzeit absass, wechselten sie
ein paar freundschaftliche Briefe, doch seiner Auf-
— i64 —
lordenmg» ihn emmal oben m besuchen» leistete
die „Bürgerin Bninnow", wie er sie acherzweiee
nannte, keine Folge.
Auf dem einst so gefürchteten „Berg der Seuf-
zer'*, wo einige der glänzendsten Kapitel der
^»Heimatjalire" spielen, wurde übrigens mdnem
Vater die Haft nicht schwer gemacht. Seit den
Tagen Schubarts war es auf dem Asberg gründ-
lich anders geworden, kein feuchtes Kerkerloch
erwartete den Dichter dort» kein Oberst Rieger
▼erfolgte ihn mit lästigen Bekdirungsversuchen«
er genoss vielmehr volle Festungsfreiheit, konnte
sich nach Belieben auf den Wällen ergehen und
den weiten Ausblick auf sein geliebtes Schwaben-
land gemessen oder ungestört in seinem wohl-
eingerichteten Zimmer bei der Arbeit sitzen;
auch hatte er einen Soldaten zur Bedienung, der
ihm die Postsendungen besorgte. So war es ihm
möglich, in der Gefangenschaft die Redaktion des
»Beobachters** fortzusetzen und der Druckerei
täglich seine Artikel zu liefern. Ein freundlicher
Genius hatte es zudem gefügt, dass sein Bruder
um jene Zeit Vorstand des Arbeitshauses in
Markgröningen war, in welcher Eigenschaft ihm
auch die Verwaltung von Hohenasberg unter-
stand ; und wenn mein Vater auch auf der Festung
nicht so liebevolle Wurzeln schlug", wie später in
den siebziger Jahren der behagliche Ludwig Pfau
in seinem HeUbronner Gefängnis» aus dem er
nach Ablauf der Strafzeit mit List herausgelockt
werden musste, weil er es aus freien Stücken gar
L/iyiu<.Lu üy Google
- i65 -
nicht mehr verlassen hätte, so fand er doch keinen
Grund, über seine unfreiwillige Sommerfriache
zu ktagen.
Drei Jahre waren seit der ersten Begegnung
verflossen, und noch immer waren die beiden
Menschen, die das Geschick für einander be-
stimmt hattet sich nicht näher gerückt. Endlich
im Frühjahr 1851 fand in einem Wirtsgarten bei
Esslingen eine neues, entscheidendes Zusammen-
treffen statt, und zwar diesmal auf Antrieb des
männlichen Teils, der eine in Esslingen lebende
Verwandte» die zugleich mit meiner Mutter be-
freundet war, um Vermittlung angegangen hatte.
Meine Mutter war nicht wenig erstaunt, als ihr
dort unter dem Blätterdach statt der Freundin
suerst eine männliche Gestalt entgegentrat und
sie nach langer Zeit wieder .einmal in die wohl-
bekannten glänsenden Augen blickte. Er er-
zählte ihr auf dem Nachhauseweg, dass seine Ver-
lobung aufgelöst sei» und dass ihn sein Herz nun
wieder jni seiner lAura ziehie; sie meinte aber, es
sei mm doch seit jenen Tagen one su lange Zeit
verstrichen und der erste Zauber verflogen. Das
Verhältnis hatte sich zwischen den beiden um-
gekehrt : er wurde jetzt der beflissene, sie der zu-
rückhaltende Teil. Er fuhr nun häufig nach
Schluss der Redaktion noch nach Esslingen» um
den Abend bei ihr auf dem Lande zu verbringen.
Da erwachten auch bei ihr allmählich die alten
Empfindungen wieder« und als er ihr einmal von
den Opfern und Gefahren sprach, die dne Frau
an seiner Seite erwarteten, flog sie ihm jauchzend
an den Hala» und unter Blumen und Leuchtkäfern
wurde der Bund fürs Leben geachloasen.
Durch die Reihe von Liebeserfahrungen, die
mein Vater nunmehr hinter sich hatte, war ihm
der etwas spiessbürgerliche Typus des „Lott-
chen*' — ehedem sein Frauenideal — gründlich
verlddet worden. Teils vor» tdls nach dem Karhh
ruher Aufenthalt und einmal während desselben
hatte er Herzensbündnisse eingegangen, die jedes-
mal an seinen ungünstigen Glücksumständen ge-
scheitert waren. Es haben sich nachmals so viele
gemeldet, die einen Platz in seiner Herzens^
geschichte beanspruchten, dass es mir nicht mög-
lich gewesen ist, eine chronologische Ordnung in
diese Ansprüche zu bringen. Aber durchgängig
scheint sich wiederholt 2u haben» was ihm schon
als Studenten bei seiner ersten Liebe widerfahren
war, dass die wohlerzogene Tochter auf väter-
lichen Befehl entsagte, um einen andern zu heira-
ten. Er selber hätte bei seiner ritterlichen Natur
nie mit einem Mädchen« das ein Recht auf ihn be-
sass, gebrochen; aber in mehr als einem Falle
mochte er die Lösung des Verhältnisses mit stiller
Erleichterung hinnehmen. Jetzt endlich fand er
weibliche Kraft und woblichen Opfermut» nicht
jenen duldenden, entsagenden, der auf ein väter«
liches Machtwort hin verzichtet, sondern die wdt-
überwindende Hingabe einer starken Seele.
Das erkannte er freudig an, als er in Marie von
Brunnow das völlige Widerspiel dessen» was er
sonst an der Weiblichkeit gepriesen hatte» m sein
Haus ftttirte, und er hing ihr trotz grosser innerer
Verschiedenheiten dankbar an bis zu seiner letz-
ten Stunde.
Die Trauung fand am 20. November desselben
Jahres in dem Dorfkirchlein von Oberesslingen
im Beisein weniger Freunde statt. In Stuttgart
stieg die junge Frau zuerst in der Junggesellen-
wohnung ihres Mannes ab, bis die gute Josephine
tnit der fahrenden Habe aus Oberesslingen nach-
kam und die neue Wohnung in der Sophienstrasse
einrichtete. Am ersten Abend, den das neue Paar
im eigenen Heim verbrachte, überraschte sie der
Männerchor des Liederkranzes durch eine schöne
Serenade, die trotz der wirbelnden Schneeflocken
mit dem Lied meines Vaters „Der Himmel lacht
vmd heitre Lüfte spielen" begann.
Der Himmel lachte nun wirklich über dem
neuen Paar. Die ersten Jahre, die folgten, stehen
in der Erinnerung meiner Mutter als die schön-
sten, ungetrübtesten ihrer Ehe. Denn solange
mein Vater ausschliesslich mit der redaktionellen
Tätigkeit beschäftigt war, wurde der Zwiespalt
zwischen den Ablenkungen des Familienlebens
und dem Stimmungsbedürfnis des Dichters noch
gar nicht fühlbar. Er war heiter und voll Zu-
kunftsmut und hielt auch in der veränderten Zeit-
strömung seine Fahne vertrauensvoll aufrecht.
Meine Mutter, gläubig und überschwenglich,
teilte smne Hoffnungen und nahm seine politische
Mission vielleicht ernster, als gut war. Sie lebte
— i68 —
ganz für ihn ; völlig bedürfnislos und völlig ichlos
wünschte und brauchte sie nie das geringste für
Bich seU»t* Es bedurfte einer Verschwörung» um
sie zur Annahme eines neuen Kleides su bewegen,
wenn das alte abgenutzt war, und man musste es
alsdann rot wählen, um sie durch die „Farbe der
Freiheit" mit der für sie gemachten Ausgabe zu
versöhnen. Unterhaltung und äussere Anregung
suchte und wollte sie trotz ihrer geselligen Natur
nicht; seine Gegenwart war ihr ein beständiges
Fest, dass er auch andern Frauen gefiel, ihr höch-
ster^ Stolz. Nur wo ihre Überzeugungen und
Prinzipien in Frage kamen, liess sie sich auch von
ihm nicht beeinflussen, denn sie stand immer ein
paar Schritte weiter links als er. Ihre Ehe wurde
deshalb von den Freunden des Hauses die »vio-
lette Republik" genannt, um sowohl die frdheit*
liehe Konstitution des neuen Hausstandes, als die
merkwürdige Mischung der ultraradikalen „blut-
roten" Gesinnung der Gattin mit der gemässigten
9 »blauen** des Mannes zu bezeichnen.
Frölich von den berühmten schwäbischen
Frauentugenden hatte sie nur die einer exemplari-
schen Sparsamkeit ins Haus gebracht ; eine eifrige
Wirtschafterin war die junge Frau nicht und
sollte es niemals werden» denn die Natur hatte sie
mehr für die grossen Schicksalsstunden als für
die Anforderungen des Alltags ausgerüstet. Eine
komfortable, wohleingerichtete Häuslichkeit übte
nie einen Reiz auf ne; wäre es nach ihr gegangen»
so hätte sie am liebsten in einem Nomadenzelte
L/iyiu<.Lu üy Google
üy Google
169
gewohnt. Mein Vater pflegte sie daher mit ihrer
russischen Abkunft m necken, die er für diese
Eigenheit verantwortlich machte, und in der
Tat, ich habe einen ähnlichen, sich über alle
äusseren Dinge wegsetzenden Drang ins Grosse
später nur noch bei den Damen der russischen
hl^eren Stände wiedergefunden; auch das Fami-
fieninteresse hinter das öffentliche zurückzu-
stellen, ist nicht deutsche Frauenart. Doch zum
Glück besass sie an ihrer Josephine einen guten
Geist» der nicht nur eine Schar von Dienstboten,
sondern auch das immer wachsame Auge der
Herrin selbst ersetzte.
Es versteht sich, dass das Halbbrüderchen
Otto sie in das neue Leben begleitete und bei ihr
blieb» bis seine Mutter, ein Mädchen aus dienen-
dem Stande, sich verheiratete und das Kind zum
grössten Leid Josephinens nach Amerika mit-
nahm, wo die beiden mit der Zeit verschollen sind.
Doch bald blühte jetzt der treuen Pflegerin mn
reicher Ersatz, denn am 16. Januar 1853 kam als
Erstling der jungen Ehe ein bildschöner, adlig
feiner Knabe, mein Bruder Edgar Konrad, zur
Welt. Die Ankündigung des freudigen Ereig-
nisses druckte jenes Tages der „Beobachter*' mit
goldenen Leitern*
In der Frone der Freiheit
Paul Hey9€ hat die Züt, die mein Vater am
„Beobachter" verbrachte, die „sieben mageren
Jahre" genannt: sie waren es nicht nur wegen
des dürftigen Jahrgehalts von achthundert Gul-
den» der zum Teil den flüchtigen KoUegen mit er-
nähren musste, sie waren es vor allem im Sinne
seiner wahren Bestimmung. Dass er in der ge-
meinen Bedeutung des Wortes keine Seide spann,
ist man schon an ihm gewohnt, jetzt aber spann
er auch die Seide der Poesie nicht mehr, sondern
den dürren Hanf der Tagespolitik. Sdne redak-
tionelle Tätigkeit an dem „Deutschen Familien-
buch'* in Karlsruh hatte ihm doch noch die Zeit
gelassen, die vier ersten Kapitel des MSonnen-
wirts", die tiefsinnige Einleitung zum „Tristan",
den satyrischen „Kampf mit dem Drachen" und
eine Reihe kleinerer Erzählungen zu schreiben.
Dass mhrend der Tätigkeit am „Beobachter"
etwas Poetisches zustande gekommen ware^ ist
mir nicht bekannti
Es war ein schlechtes Omen, dass gleich der
erste Schritt auf der neuen Laufbahn ihn um
seinen alten Herzensfreund Mörike, die Verkörpe-
rung der Poesie, brachte. Freilich hatte sich
schon in den Jahren« die unterdessen vergangen
waren» der Unterschied der beiden Naturen viel
stärker entwickelt. Mörike weilte noch immer in
Orplid, mein Vater aber» der mit sdner Zeit lebte»
konnte diesen Quietismus des Freundes nicht
mehr verstehen. Zwar wo er den seltenen neuen
Spuren von Mörikes Genius begegnete, da be-
grüsste er sie stets mit demselben freudigen £nt-
sticken, aber persönlich waren beide mander
ferne gerückt. Es war auch ein starkes Stück
von Mörike» dass er seit ihrem zärtlichen Ab-
schied im Walde von Cleversulzbach im Oktober
1840 dem mit solcher Liebe umfassten jüngeren
Freund aus reiner Bequemlichkeit keine Z^e
mehr gesandt hatte, und als er gelegentlich an
dessen Bruder Ernst über den Entfernten schrieb :
»Karlsruhe ist mir einmal genannt worden, wo-
selbst er eine Zeitung dirigiere,'* und „ich habe
diese lange Zeit her tausendmal gewünscht, ihm
ein Zeichen zu geben" „ich werde dies un-
mittelbar auch denmächst tun'' (was natürlich
nie geschah), so ärgerte mein Vater sich über
diesen Ton, den er den „slten romantischen Kanz-
leistil" nannte.
Auf der Königsstrasse in Stuttgart führte
jetzt der Zufall die beiden einst so brüderlich ver-
trauten Dichter nach fast zehnjähriger Trennung
wieder zusammen. Hermann Kurz im ersten
Feuer seiner politischen Tätigkeit begrüsste jenen
mit den Gedanken der neuen Zeit auf den Lippen,
Mörike^ der Unpolitische, Zeitlose, äusserte sich
kühl und ablehnend, und es scheint sich nun zwi-
sehen der jugendlichen Begeisterung und der
Skepsis des kühleren Alters eine Szene entspon-
nen zu haben, wie xwiichen Tasso und Antonio»
nur ohne persönliches Motiv. Nach einer unver-
bürgten Überlieferung hätte Mörikes Verstockt-
heit endlich meinen Vater zu dem fassungslosen
Ausruf getrieben: „Wer heute keine Partei er-
greif^ von dem heisst es: Pfui über dich Buben
hinter dem Ofen,*' wobei ich jedoch Anstand
nehme, mir meinen Vater, den ich als
die Selbstbeherrschung in Person gekannt habe,
so masslos za denken* £r selber scheint sich
später an die Form ihres Bruches nicht mehr er-
innert zu haben, denn im Jahr 1870 schrieb er an
Heyse darüber: „Wie wir auseinander gekommen
sind, das ist in keiner Metaphysik, geschweige in
Mythen oder Mären zu finden«" — Wie die beiden
Dichter lebenslang um ihre Freundschaft stille
Trauer getragen haben und wie der überlebende
Mörike einmal dieser Trauer mir gegenüber er-
greifenden Ausdruck gab, habe ich schon erzählt.
Den Kreis politischer Glaubensgenossen» der
damals meine Eltern umgab, kenne ich teilwdse
noch aus eigener Erinnenmg. Ich war zwar erst
drei Jahre alt, als wir definitiv von Stuttgart weg-
zogen, doch blieben ja die hervorragendsten unter
ihnen meinen Eltern auch fernerhin verbunden.
Da war vor allem „der alte Tafel", der Nestor
der Volkspartei und Patriarch nicht nur im Kreise
seiner weitverzweigten Familie, sondern auch
der Vater seiner jüngeren Freunde. Ihn habe icli
— 173 —
nicht selber gekannt, weiss aber, dass er dem
Dichter in väterlicher Liebe anhing. Dann der
Rechtskonsulent und ehemalige „Reichsregent**
Becher, der glänzendste Redner der Partei und
einer der wenigen, die, mit ästhetischen Organen
begabt, meinem Vater auch als Künstler gerecht
werden konnten. Wenn ich ihn charakterisieren
will, so kommt mir als erstes das Wort Gentle-
man in den Mund« schon weil er sich gerne an
die englische Kultur anlehnte. Bei distinguiertem
Ausseren besass er künstlerische Bildung tmd
einen Blick, der über die Kleinstadt er ei und Klein-
staaterei des damaligen Schwabentums hinaus
ins Weltgetriebe ging, nicht nur theoretisch und
literarisch, sondern auch praktisch und sozial.
Jahrzehntelang sass er auf der Linken des Land-
tags, obgleich er als ästhetischer Aristokrat nicht
so recht dahin passte, was ihn denn auch mit der
Zeit notwendig in eine etwas schiefe Stellung
brachte. Dass er zu den Gemässigten der Partei
gehörte, versteht sich bei solchen Eigenschaften
von selbst. Gefeiert war er vor allem als Ver-
teidiger. Man wusste von ihm^ dass er, wenn die
Rechtsgründe versagten, unmittelbar auf die Her-
zen der Geschworenen zielte, um seine Klienten
zu retten, und dass er hierin starker Wirkimg
fähig war, eine Gabe^ die verfeinerte psycholo-
gische Organe voraussetzt und daher in Deutsch-
land seltener als in den Ländern lateinischer Rasse
gefunden wird. Auch im Privatleben spürte man
ihm den Redner an« und eine gewisse Feierlich-
kett war von seiiiem Auftreten unzertrennlich*
Meinem Vater war Becher lebenslang «n treuer,
immer bereiter Freund, und die beiden gleich-
zeitig gegründeten Familien haben später die
Freundschaft der Väter fortgesetzt. Von ganz
anderm Schlage war Julius Hausmann» einer der
Ultras der sch^bischen Demokratie, Parteimann
vom Wirbel bis zur Sohle, das politische Interesse
über jedes andere stellend« von energischer und
imposanter Persönlichkeit, ein schöner Mann noch
im Alter, dem die scharfausgeprägten Züge» die
gebietenden blauen Augen und der starke Schnurr-
bart das Aussehen eines Offiziers in Zivil gaben.
£r war der Intimus des um jene Zeit flüchtigen
Ludwig Pfau, des ewig Heimatlosen und doch so
Heimatbedürftigen, der in Hausmanns gemüt-
voller Häuslichkeit jederzeit seine Heimstätte
fand. Während unsrer Stuttgarter Zeit lebte
Pfau als Flüchtling in Paris, doch kam er vor der
Amnestie einmal heimlich ins Vaterland und hielt
sich acht Tage lang in meinem Elternhause ver-
steckt. Er war ein untersetzter, etwas beleibter
Mann mit rotem Haar und stark vortretenden
blauen Augen, nach Erscheinung und Aussprache
ein Stockschwabe, dem man äussertich den langen
Aufenthalt in Frankreich^, dessen Kultur er gründ-
lich studiert hatte, nicht ansah. Bekannt war
seine Unergiebigkeit im Gespräch» das er meist
bloss mit einem dumpfen Knurren begleitete oder
ab und zu durch ein Kraftwort vom schwersten
Kaliber bereicherte« um gleich wieder in tiefes
— X75 —
Schweigen zu versinken. Was er an angesam-
melten Gedanken in sich trug, brachte er nur mit
seiner geistreichen Feder zutage. Überhaupt war
sein Wesen voll von Widersprüchen. Von höchst
revolutionärer Gesinnung, hielt er doch die
grössten Stücke auf seine persönliche Ruhe« Ein
grosser Freund materieller Genüsse opferte er
alles dem Ideal. Von äusserst sesshafter Natur
schweifte er ewig ruhelos durch die Welt. Die
Form war ihm heilig in der Kunst, aber im Lieben
verachtete er sie. Er stand mit meinem Vater
auf keinem sehr intimen Fusse; bd aller gegen-
seitigen Anerkennung waren sie zu verschieden
in den Instinkten. Sehr gut verstand er sich da-
gegen mit meiner Mutter, die ihn von Zürich her
kannte und die ohnehin für alles* was zur Päftei
gehörte, Feuer und Flamme war. Mit jener Un-
beweglichkeit, die alle seine Freunde an ihm
kannten, sass er als Peter in der Fremde nach-
mittagelang in der Sofaecke langsam seinen
Kaffee schlürfend« während mtm Vater auf der
Studierstube war, oder er ging mit meiner Mutter
eifrig politisierend im Zimmer auf und ab, wobei
ihm meine damals noch sehr kleine und unruhige
Wenigkeit beständig überquer kam und den poU-
tischen Spaziergang störte, was er mir noch vor-
zuwerfen pflegte, als ich schon erwachsen war. •
Mit Pfau und Hausmann bildete Karl Mayer,
der Sohn des gleichnamigen^ zur Zeit der Schwä-
bischen Dichterschule viel genanntenLjrrikers» das
Triumvirat der Volkspartei. Er war der typische
L/iyiu<.Lu üy Google
— 176
Agitator und Volksthbun, sogar im Äusseren, ein
Inrettachultriger, untersetster ICaiin von starkem*
bew^lichem Temperament und kündender» auf
die Menge wirkender Rhetorik. Daneben besass
er umfassende literarische Kenntnisse und galt
im Freundeskreise für einen brillanten schlag-
fertigen GeseUschafter. Von seiner l3nn8Ghen Be*
gabung sind nur wenige Proben an die öffentlich*
keit gedrungen; sie wecken aber die Vermutung,
dass er auf diesem Punkte seinem Vater^ der mehr
durch seine Nachbargestime Uhland und Schwab
als durch eigenes Licht geglänzt hatte» bedeutend
überlegen gewesen sei. Dagegen war Karl
Schnitzer, der klassische Philologe, eine richtige
Celehrtennatur von altschwäbischem Schlage, zah
und .tiefgründig, auch er einer der Getreusten
mmes Vaters. Von unsrem intransigenten
Freunde Hopf, dem Verrina der schwäbischen
Volkspartei, wird bei späterer Gelegenheit die
Rede sein. Jener dicke Gottiieb Finkh, genannt
»«der Ostjäck% den die Leser meines Vaters aus
dem „Wirtshaus gegenüber" kennen, war gleich-
falls unter die „Roten" geraten imd gehörte zu
den Intimen unsres Hauses, desgleichen Ludwig
Seeger, dessen Ruhm als L3rriker und Ubersetzer
jetzt mit Unrecht halbverkitmgen ist. Seine Per-
sönlichkeit steht nur noch in ganz dämmernden
Umrissen am fernsten Horizonte meiner Kind-
heitserinnerungen; er muss nach meinem Vater
die bedeutendste Erscheinung dieses Kreises ge-
wesen sein: dne breitangelegte Natur voll Kraft
und Feuer, derb und saftstrotzend, ein Sohn des
Volks, dabei mehr glühender Patriot als eigent-
licher Parteimanii» so schilderten ihn später die
Überlebenden* Mein Vater hat ihm zur Hochzeit
ein Gedicht gewidmet, das an gemeinsam durch-
schwärmte, brausende Jugendtage mahnt, eine
Erinnerung, die auf die Universitätszeit zurück-
zuweisen schdnt« wo Seeger mit Finkh dem
Kauslerschen Freundeskr^s angehörte.
Dieses war der politische Zirkel, der in den
fünfziger Jahren den früheren literarischen ab-
gelöst hatte und der dem geistigen Leben des
Landes ein völlig anderes Gepräge gab. Jetzt war
es mit der patriarchalischen Gemütlichkeit gründ*
hch vorbei: ein Riss ging mitten durch das Land,
alte Freunde mieden sich oder waren Todfeinde
geworden, und manche» die sich innerlich wider-
strebten, wurden durch ttn Parteiprogramm zu*
sammengebunden.
Im Juni 1849, unmittelbar nach der Sprengung
des „Rumpfparlaments", hatte mein Vater den
Beobachter, an dem er seit einem Jahre beschäf-
tigt war, zum erstenmal als verantwortlicher
Stellvertreter neben dem eigentlichen Redakteur
Adolf Weisser unterzeichnet« Nachdem dieser
schon im Juli desselben Jahres, politisch schwer
kompromittiert, in die Schweiz entflohen war,
führte Hermann Kurz die Redaktion allein weiter,
obgleich er erst vom Tanuar 1851 ab, nach
Weissers Tode^ als Redakteur zeichnete. Doch
hatte er schon die ganze Zeit her die Last allein
Isolde Kurs» HcrmM» Kurs. la
— 178 —
getragen. Er schrieb, wie ich vcm meiner Mutter
weiss, fast das ganze Blatt: Leitartikel und Kam-
merberichte, zum grossen Teile auch das Feuille-
ton; Beiträge für das letztere bezahlte er noch
von seinem eignen mageren Grehalt* Er machte
sich's zur Ehrensache, seine Leser auch kulturell
an sich heranzuziehen und hob daher das Feuille-
ton des kleinen Volksblattes auf eine literarische
Höhe, die den Ansprüchen einer grossen Zeitung
gv^nügt hätte, indem er dab^ doch immer den
populären Standpunkt festhielt. Oft hörte ich
ihn später sagen, für das Volk wie für die Kinder
sei nur die beste geistige Kost gut genug.
Als mit zunehmender Bedrückung das freie
Wort immer gefährlicher wurde und auch die
Reihen der Kampfgenossen sich durch Exil und
Übertritt lichteten, liess er sich niemals ent-
mutigen und harrte unbeirrt in seinem Redak-
tionslokal aus, jeden Augenblick darauf gefasst,
von Frau und Kindern weggerissen und ins Ge-
fängnis geführt zu werden. Der Beobachter, der
als Oppositionsblatt die Pflicht hatte, jeden Miss-
brauch, jedes Unrecht ans Licht zu ziehen, war
IQ immerwährende Kämpfe verwickelt. Die
Konfiskationen jagten sich; häufig wurde nicht
einmal der Grund der Beschlagnahme angegeben«
Tag für Tag welch ein Verbrauch der edelsten
Kraft. Und dabei hatte der Dichter ja nicht die
derben Organe seiner Parteigenossen, er fühlte
alle Aufregungen und Bittemisse, allen Ekel dieses
Bingens mit einer verknöcherten Bureaukratie,
L/iyiu<.Lu üy Google
einem gewalttätigen Reaktionsregiment. Eine
ganze Mustersammlung von beleidigenden pri-
vaten Zuschriften, die dem Redakteur des Be-
obachters galten, habe ich noch jüngst in seinem
Nachlass entdeckt. Der ,,Märzminister" Ronaer
sandte ihm eines Tages eine Herausforderung auf
Säbel» worauf mein Vater die Antwort gab, er sei
kein Korpsstudent und stehe nur auf Pistolen bei
fünf Schritten Distanz zu Diensten, was dann die
Folge hatte« dass das Duell unterblieb. Ein ander-
mal erhielt er von anonymer Seite die Zeichnung
einer russischen Knute zugesandt mit der
Drohung, der Einsender würde sich nächster Tage
mit diesem Instrument bei ihm einfinden, um ihn
selbst und seine Frau und Kinder (die damals im
Wickelkissen lagen!) für seine Artikel gegen den
Kaiser Nikolaus zu züchtigen. Mein Vater druckte
den ganzen Brief nebst der Knute im Beobachter
ab und fügte die Aufforderung hinzu, der edle
Anonymus möge doch so bald wie möglich kom-
men, um aus dem Lauf seiner Pistole die einzige
Antwort entgegenzunehmen, die auf eine so
bestialische Drohung möglich sei. Es brauchte
die ungeheure Spannkraft meiner Mutter» ihre bis
zum Fanatismus gehende Hingebung an die
Sache, der er diente, um ihn als Frau in dieser
Lage nicht durch Kleinmut herabzuziehen, ja ihn
noch länger izum politischen Märtyrertum zu
spornen, als es sich mit seiner höheren Sendung
vertrug.
Im Herbst 18^3 stand er zum zweiten Male
wegen Pressvergehens vor dem Esslinger Schwur-
gericht, aber diesmal entriss ihn Bechers glän-
zende Beredtsamkeit einer Verurteilung.
Jetzt kam die Reihe auch an meine Mutter.
In dem Bureau einer kleinen demokratischen Zei-
tung zu Dresden, deren Redakteur verhaftet war,
wurde ein politisches Gedicht gefunden, das keine
Unterschrift trug. Es war an Gottfried Kinkel
gerichtet, der zur Zeit der Abfassung im Span-
dauer Zuchthaus am Spinnrocken sass, und schloss
mit einem vehementen Ausfall auf das herr-
schende Regiment. Das Gedicht war ungedruckt^
somit wäre eine gerichtliche Verfolgung zu ver-
meiden gewesen, wenn nicht die Frau des Redak-
teurs, die zuvor von meiner Mutter viele Unter-
stützimgen empfangen, sie sogleich und ohne Not
als Verfasserin angegeben hätte. Ein Verfahren
musste eingeleitet werden, ganz gegen den Ge-
schmack der württembergischen Regierung, die
gerne imnötigen Skandal vermied. Mein Vater
war ausser sich und fest entschlossen, lieber aus-
zuwandern als seine Frau eine Strafe absitzen zu
lassen. Mit einer ganzen Schar befreundeter
Advokaten begleitete er sie, die sehr munter und
gutes Mutes war, denn sie hätte gerne auch ein
bischen Märtyrertum gehabt, vpr das Schöffen-
gericht in Stuttgart, und unterwegs suchte ihr
Becher noch genau einzuprägen, wie sie sich ver-
halten solle. Der Richter stellte auch seine
Fragen auf eine Weisen dass es ihr ein leichtes ge-
wesen wäre sich herauszuwinden« aber ihr rasches
— i8i —
Temperament ging mit ihr durcii. Auf die Frage»
ob sie das inkriminierte Gedicht geschrieben habe,
antwortete sie nicht nur mit Ja, sondern setzte
aus freien Stücken hinzu, die darin ausgesprochen
nen Ansichten seien noch jetzt die ihrigen. Der
wohlwollende Richter, der um keinen Preis eine
Märtyrerin machen wollte, verstand es dennoch,
zu einem freisprechenden Erkenntnis zu gelangen.
Nach Verkündigung des Urteils sagte er heim-
lich zu meiner Mutter: „Ich muss Ihnen mein
Kompliment machen: das Gedicht ist gut/'
Einige Wochen nach diesem Vorfall kam ich zur
Welt; meine stillschweigende Anwesenheit bei
der Sitzung mag den Freispruch mit beeinflusst
haben. Wer weiss, ob nicht meine angeborene
und schoif ganz frühe ausgeprägte Abneigung
gegen jede Art von politischer Dichtung dem Um-
Stande zuzuschreiben ist, dass ich schon im Mut-
terleib durch einen Prozess wegen politischer
Verse inkommodiert worden bin.
Die in der Frone der Freiheit verbrachten
Jahre sind derjenige Abschnitt im Leben meines
Vaters, über den ich die wenigsten Nachrichten
habe. Er selber berührte diese Kämpfe, deren
Wunden ihn wohl noch lange schmerzten, nie-
mals. Auch schriftliche Belege sind darüber so
gut wie gar nicht vorhanden, seine sonst so leben-
dige Korrespondenz mit den Jugendfreunden
Rudolf Kausler und Adalbert Keller stockte da-
mals ganz ; sie standen seinen politischen Idealen
nicht feindselig aber gleichgültig gegenüber.
l82
Sdne Waffengefäbrten sind alle tot und haben»
so viel ich weiss, keine Aufzeichnungen über jene
Tage hinterlassen. Wie mannhaft und aufopfe-
rungsvoll er in der schwersten Zeit der Reaktion
auf seinem bedrängten Posten standhielt» da-
für habe ich ausser den Erinnerungen meiner
Mutter nur das poetische Zeugnis, das Kart
Mayer, einer seiner Nachfolger am Beobachter,
viele Jahre später an dem frischen Grabe des
Dichters niedergelegt hat; es war die einzige
Stimme der Dankbarkeit und Anerkennung, die
sich damals für den Geschiedenen aus den Reihen
seiner einstmaligen Kampfgenossen erhob, und
ein um so wertvolleres Zeugnis« als Karl Mayer
nicht zu den intimeren Freunden unsres Hauses
gehörte.
Ohne Dank, ohne Freude, selbst ohne das
tröstliche Gefühl einen inneren Beruf zu erfüllen,
harrte der Dichter aus« nur um seinem Gewissen
zu genügen. Ob er ihm volle Genüge tat, ob nicht
zuweilen eine heimliche Stimme ihn mahnte, dass
er einer höheren Gottheit gehören sollte, die über
den Zeitkämpfen schwebt, ich weiss es nicht. Ich
weiss nur, dass diese Vergeudung seines Talents
noch verhängnisvoller war als das drangvotte
Ubersetzerhandwerk, dem er zur Zeit seines ersten
Stuttgarter Aufenthalts hatte frönen müssen.
Damals war er ja noch jung, und Selbstver-
schwendung gehört zum Wesen der Jugend. Jetzt
aber trat er in das Alter, wo die Zeit immer kost-
barer wird und wo jedes der waiiren Bestimmung
entzogene Lebensjahr einen unersetzlichen, ewig
peinigenden Verlust bedeutet. Und wenn er auch
im Feuilleton sich einen Ausweg ins Zeitlose»
Geistige offen hielt, so blieb doch immer der Ab-
stand zwischen ihm und seinem Publikum viel
zu g^ross, um ihn hier die genügende Entschädi-
gung finden zu lassen»
Auch die Geldsorgen hatten sich zeitig in der
Ehe Angestellt. Das Brunnowsche Vermögen
war schon beim Tode meines Grossvaters sehr
zusammengeschmolzen, denn der alte Kriegsmann,
der mit der Verwaltung nichts zu tun haben
mochte, hatte es grösstenteils in Sparkassen an-
ge]egt, die eine um die andere fallierten. Das
Haus in Oberesslingen mit Garten und Wiesen-
gründen hatte meine Mutter, weil es nicht ver-
mietet werden konnte, bei der Heirat in Eile um
einen Spottpreis verkauft. Da beide Eltern sich
bewusst waren, von Geschäften nichts zu ver-
stehen, Hessen sie sich durch den Kat gleichfalls
unpraktischer Freunde leiten, und so ward ein
Besitz, in den mdn Grossvater Brunnow ein fttr
jene Zeit nicht unbeträchtliches Kapital gesteckt
hatte, für wenige tausend Gulden verschleudert,
die in den ersten Jahren aufgezehrt wurden. In
einem Geheimfach seiner Schatulle hatte der alte
Herr vor seinem Tode noch eine stattliche An-
zahl von Goldstücken versteckt, hoffend, seine
Marie werde einmal gerade im rechten Augen-
blick, wenn sie des Geldes bedürftig sei, den
Schatz entdecken« was denn auch richtig einge-
troffen ist — ich vermute, dieser Augenblick war
bei ihr immer. Einen ähnlichen Glücksfund und
zu ähnlich gelegener Stunde tat übrigens auch
einmal mein Vater; allerdings hatte er das Gold
selber versteckt* Er besass ein Kunstblatt, den
„Verhungerten Dichter** darstellend, eine abge-
zehrte, im Lehnstuhl zusammengebrochene Ge-
stalt, neben der ein trauerndes Weib in dürftigem
Aufzug stand« Das Bild hatte ihn einmal noch in
seiner brausenden Junggesellenxdt als plötzliches
Memento erschüttert, und da er zufällig gerade
bei Kasse war, hatte er in eine umgebogene Ecke des
Blattes einGoldstück geklebt, um esspäterbeiwie-
derkehrender Ebbe da zu finden. Allein, obglach
die Ebbe jedenfalls früh genug eintrat, blieb die
Existenz des Goldstücks doch vergessen, bis er
eines Tages, schon als Familienvater, den weg-
geworfenen Holzschnitt wieder aus dem Papier-
korb holte» etwas Hartes zu fühlen bekam und
Gern „Verhungerten Dichter** dankbar seinen
wohibehüteten Sparpfennig abnahm. — Die Reste
des grossväterlichen Vermögens waren um jene
Zeit auch noch bei Privaten angelegt, besonders
bei Untertürkheimer Bauern« die regelmässig am
Termin den Zins nicht zahlen konnten. Der
Schultheiss des Ortes, ein politischer Gegner, er-
klärte mdnem Vater eines Tages, dass man bei
der Armut der Leute kein anderes Mittel hätte,
den Zins oder die Summe selbst wieder einzu-
treiben, als indem man ihre Äcker pfänden hesse.
Meine Eltern erliessen hierauf den Ärmsten
^ 185 —
ihrer Gläubiger den Zins zusamt der Schuld. Dies
machte solchen Eindruck auf den Schulzen, dass
er die Partei wechselte und auf den Beobachter
abonniertet denn, sagte er, eine Partei, zu der
solche Menschen gehörten» müsse es wirklich mit
dem Volke gut meinen.
Noch einer anderen merkwürdigeren mora-
lischen Eroberung meines Vaters soll hier gedacht
werden. Eines Tages trat in sein Redaktions-
lokal ein sehr unheimlicher Besucher, der Scharf-
richter. Er erzählte meinem Vater, er habe seine
Artikel gegen die Todesstrafe gelesen, und klagte
bitter» dass er« der selbst ein prinzipieller Gegner
der Todesstrafe sei» sich zu diesem fürchterlichen
Kandweric gezwungen sehe. Er sei blutarm, jeder
andere Beruf sei ihm verschlossen; was er tun
solle? Mein Vater antwortete, wenn er die
Mittel hätte» würde er ihm gerne helfen» so aber
könne er ihm nicht einmal raten, denn es handle
sich hier nicht um das Wohl der Menschheit, son-
dern lediglich um sein eigenes. So lange die
Todesstrafe bestehe» würden sich immer wieder
Leute finden» sein Amt zu übernehmen. Die kleine
Begebenheit mag als Beispiel dafür dienen» was
nach Karl Mayers Zeugnis
— „dieses Dichters Rat und Spruch im Land
In Häusern und in Hütten damals galten".
Die Wege des Geistes sind geheimnisvoll. Ein
schärferes Auge als das unsrige könnte vielleicht
heute noch die verwischten Lichtspuren wahr-
nehmen, die von ihm zu seinem Volke hinunter-
fuhren und von da wieder hinaus ins Crosse und
Allgemeine.
Gegen Mitte der fünfziger Jahre begann sich
die demokratische Partei in Württemberg zu spal-
ten. Ein Teil neigte sich den Ansichten des
späteren Nationalvereins zu« indem er unter Bei-
behaltung der Forderungen von Achtundvierzig
einen engerm Anschluss an Preussen verlangte.
Die Brüder Ludwig und Adolf Seeger und der
feinsinnige Fetzer, gleichfalls eine Poetennatur,
standen an der Spitze der Sezessionisten. Mein
Vater dagegen war Anhänger der grossdeatschen
Idee. Er hatte in einer im Beobachter erschiene-
nen Schrift über die deutsche Trias einen Bund
der Kleinstaaten mit gesondertem Parlament und
ein Schutz- und Trutzbündnis mit Preussen und
Österreich befürwortet; zu ihm standen Becher,
Schnitzer, Hopf und Hausmann mit dem Kern
der Partei. Ich erinnere mich noch aus einer
etwas späteren Zeit, dass ich oft meine Mutter
den Namen ,,Trias'* mit Sehnsucht und Ehrfurcht
aussprechen hörte, und bei dem sonoren Klang
dieses Wortes schwebte mir ein am fernsten
Horizont befindliches Wunderland, eine Art
glückseliger Insel vor. — Diese Entzweiung
innerhalb der Partei reifte in meinem Vater, den
der Genius in Gestalt des Sonnenwirts immer ge-
bieterischer drängte, den Entschluss, die Redak-
tion des Beobachters niederzulegen. Natürlich
stiess er auf heftigen Widerstand, und die Freunde
suchten vor allem durch seine Frau auf ihn ein-
— i87
2uwirken* Ich habe €8 meiner Mutter immer
hoch angerechnet, dass sie diesem Drangen gegen-
über zu meinem Vater stand und die Besucher
mit dem Bescheid entliess, ihr Mann habe nun
genug für die Partei getan ; die Redaktion des Be-
obachters könne auch ein anderer führen, den
»iSomienwirt'' schreiben könne k^er als er.
Neue Schaffensperiode
Dem düsteren „Sonnenwirt" fiel ein freund-
licheres Los als den sonnigen „Heimatjahren*'.
Der rührige Frankfurter Verleger Meidinger hatte
den Roman zu günstigen Bedingungen für seine
,,Deut8che Bibliothek'* erworben. Im Frühjahr
1854 nahm Hermann Kurz den seit zehn Jahren
unterbrochenen Faden wieder auf. Es scheint,
dass er zunächst nur einen Teil seiner Redaktions-
geschäfte provisorisch einem Stellvertreter über-
gab, denn er zeichnete noch das ganze Jahr hin-
durch den Beobachter" mit seinem Namen. Die
Zeit war knapp, bis zum Herbst musste das Buch
im Handel erscheinen. Das Material war schon
früher zusammengestellt, sonst wäre die Vollen-
düng innerhalb acht Monaten eine Unmöglichkeit
gewesen. Man hat dem Verfasser oft von befreun-
deter Seite seine Gründlichkeit und Umständlich-
keit in den Vorstudien als Fehler vorgeworfen —
mit Unrecht, wie mir dünkt, denn wer historische
Schatten mit Blut beleben will, der muss, wie
weiland Odysseus, seine Grube tief graben. Dass
wenigstens die Raschheit der Ausführung nichts
zu wünschen übrig liess, wird niemand bezweifeln,
der erkemit, wie der Verfasser an die Grenzen
seines Stoffs gebunden war und wie er mit jedem
Federstrich das aufgerollte KulturbUd noch be-
reicherte und vertiefte. Wenn er in den „Hdmat-
Jahren" noch vielfach seiner Phantasie freien
Spielraum Hess, so waren ihm hier durch die un-
erbittliche tragische Folgerichtigkeit der Ent-
wicklung wie durch die Lebenskreise» in denen
das Schicksal seines Helden verläuft, die streng-
sten Schranken gezogen, und es brauchte die
Feuerströme der gereiitesten Kraft, um innerhalb
dieser Schranken das zu vollbringen, wozu er
von der Natur ausersehen war: die voll-
kommene Verschmelzung des kul-
turhistorischen mit dem psycho-
logischen Koman. Def ältere kultur-
historische Roman war fast nur ein mehr oder
minder bewegtes Schattenspiel gewesen; sein
Verfasser hatte das mögliche getan, wenn er ihn
mit lebendigen Lokalfarben, mit „MiÜeu", wie
man heute sagt, umgab. Hermann Kurz brachte
ein Neues hinzu in der schrittweisen unausweich-
lichen psychologischen Entwicklimg, die erst
eine viel spätere literarische Periode zu ihren
Forderungen schrieb.
Der „Sonnenwirt*' ist ebenso wie die »,Heimat-
jahre'^ eine Sammlung schwäbischer Charakter-
typen, nur innerhalb einer niedrigeren Lebens-
sphäre, was ihre Mannigfaltigkeit fast noch be-
wundernswerter macht. Aber der Verfasser
selbst ist unterdessen ein anderer geworden» er
sieht seine Gestalten nicht mehr im „goldenen
Duft der Morgenröte'', sondern im scharfen Licht
100 —
|des Tages, Weich ein Unterschied zwischen
dem Hannikel und semen Gesellen« um die noch
trotz ihrer schaurigen Tat am Gaisbühl und
ihrem ebenso schaurigen Ende alle Lichter des
Humors aufzucken, und der unerbittlich realen
Zigeunergesellschaft» in die der Sonnenwirt ge-
rät! Nicht nur die geistige, auch die seelische
Anspannung muss eine übergrosse gewes^ sein
an diesem Werke, werden ja schon beim Lesen
die Saiten des Gefühls bis zum Zerreissen ge-
spannt. Es sei ein finsteres Geschäft, hatte der
Verfasser noch über den helleren ersten Kapitehi
an einen Freund geschrieben. Man könnte ver-
sucht sein zu fragen, wie gerade er mit seinem
weichen Gemüt sich einen Stoff von solcher
Härte wählen mochte. Ein ähnlich grausames
Motiv, das ihn lange verfolgte, 'die Geschichte
der Afra, die, wie er mir einmal schaudernd und
im Flüsterton erzählte, unter dem Regiment
eines Urahns in Reutlingen als letzte Hexe leben-
dig verbrannt wurdet was ihm wie eine vererbte
^Schuld auf der Seele lastete, gab er trotz dem
persönlichen Drang einer Sühne auf, denn bei der
Realistik, zu der seine Muse sich entwickelt
hatte, waren dem Grausen eines Hexenprozesses
auch seine Nerven schliesslich nicht gewachsen,
und der Schatten des armen „Aferle** blieb un-
gesühnt. Vielleicht vnd erstrebte auch das
Passive, das blosse Leiden ohne Schuld, das den
Hexenprozessen anhaftet, seiner männlichen
Feder» Im „SonnenwtLrt'^ gab es Stoss und
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
— 191 —
Gegenatoss» da werden den Verbrechen des Ge*
setxes die einer gesetzlosen Welt entgegenge-
stellt, und wenn ihn das Schicksal seines Helden
um Sühnung und tragische Gerechtigkeit anrief»
80 konnte er in diesem trotzigen Schwabensohn
sogar einen verwandten Zug erkennen: war er
doch selbst in ständigem Kampfe mit einer über»
mächtigen, bald bureaukratisch engen, bald spiess-
bürgerlich stupiden Umgebung herangereift ; diese
Welt der Beschränktheit, des kleinlichen £igen-
niitzes, der starren Vorurteile zur Monumentalitat
gesteigert und in ein härteres Jahrhundert, in
ländliche Umgebung versetzt, ergab jene typi-
schen Gestalten des Amtmanns, des Pfarrers, die
nicht einmal Personennamen führen, so sehr sind
sie Vertreter ihrer Klasse» und jene kleinlich bos-
haften Weiber, wie die Sonnenwirtin und die
Amtmännin, die wie unpassierbare Klippen den
verlorenen Kurs des Helden umstarren. An
jedem Zuge neht man, wie ganz der Dichter hier
auf eigenem wohlbekanntem Boden stand. So
himmelweit der „Sonnenwirt" von einem Ten-
denzwerk entfernt ist, lässt sich doch in gewissem
Sinne von ihm sagen, dass er innerlich mit des
Dichters politischem Wirken zusammenhangt:
das versteinerte Beamtenwesen mit dessen Über-
resten er am Beobachter" den langen Krieg ge-
führt hatte, stellte er hier noch einmal in seiner
empörenden Missgestalt hin, und obgleich diese
Typen heute nicht mehr existieren können, weil
die Einrichtungen völlig andere geworden sind,
— 19^ —
ist doch ihre Lebenswahrheit so gross, dass man
sie noch persönlich zu kennen glaubt.
Es ist ein stehender Brauch geworden» den
tfSonnenwirt'' mit dem ^Michael Kohlfaaas*' su
vergleichen. Meines Erachtens reicht aber die
Parallele nicht weit. Den tragischen Rosskamm
macht doch das Auf diespitzetreiben seines Rechts,
das an die fixe Idee streift* zu einem ganz beson-
deren, bizarren Menschentypus. Sein Fall ist ein
Spezialfall, den nicht der Menschheit Jammer
durchzittert; er erlief, wie alle Helden Kleists,
seinem eigenen Dämon. Bei dem unseligen
Friedrich Schwahn aber sind es die nächsten, hei-
ligsten Gefühle der Menschenbrust, die ihn den
schwarzen Pfad hinunterreissen. Es ist mir
immer als ein besonders feiner Zug erschienen,
dass all sein Übermut, sein Schwadronieren, seine
Gewalttätigkeit dem Wildling gar nicht sonder-
lieh schaden: erst als das Beste und Edelste in ihm
erwacht, als er dem Weib seiner Liebe Wort
halten und seinen Kindern Vater sein will, er-
greift und zermalmt ihn die erbarmungslose Ma-
schine der Gesellschaftsordnung. Aber nicht nur
in dem Furchtbar-tragischen, auch in dem Heim-
lich-trostlosen, dem inneren Welken und Ab-
sterben zeigt uns der Künstler das Walten der
unentrinnbaren Notwendigkeit. Wie die blonde
Christine allmählich mit dem Schmdz der Jugend
auch den inneren Schmelz verliert und in eine
nüchterne Alltäglichkeit fällt, die erst im Augen-
blick des letzten tragischen Wiedersehens auf der
— 193
Richtstätte wieder einem Strahl des früheren
liebetglaiises Raum gibt» das ist ein aus den
innersten Naturgesetsen geborener Meistersug,
Alles wirkte zusammen, den Guss des gewal-
tigen Werkes rasch zu fördern. Das Manuskript
wanderte bogenweise, wie es aus der Feder kam,
in die Presse;, und der Setser jagte den
Verfasser wdter. In gleichmässiger FüHe
der Erfindung, wie ein Strom, der nirgends
schwächer wird« eilte so die Arbeit vor-
wärts bis SU jenem ungeheuren Wendepunkt»
wo die herzgebrochene Umlcefar des Hdden be-
ginnt, der sich aus den Greudn seiner Räuber-
gcmeinschaft zur Sühnung dem Gesetz in die
Arme wirft, und wo die nunmehr »»gerettete" Ge-
sellschaft seiner inneren Läuterung nichts Bes-
seres ehtgegenzubring^i hat» als das Rad des
Henkers. Aber gerade an dieser Stelle, wo es
eines neuen, mächtigen Zusammenfassens aller
dichterischen Mittel bedurft hätte, lauerte der Un-
stern» um das Gelingen sum Tdl zu hemmen.
Eine Himentzlhidung befiel den Erstgebore-
nen, der damals anderthalb Jahre alt war, und
stürzte das Haus in Schreck und Jammer. Die
zarte Konstitution des Kindes gab wenig Hoff-
nung auf Rettung. Der Dichter verbrachte die
Nächte am Sette des Knaben neben der verzwei-
felnden Mutter, die unter solchen Umständen
nicht mehr daran denken konnte» sein Schaffen
zu behüten; die Tage teilte er zwischen dem
Schrctbepult und dem Krankenzimmer« Jenen
liolde Kurz. H«nnann Kurz. I3
künstlerischen Egoismus» der sich die Stönmgen
um jeden Preis vom Halse hält» kannte er nicht»
auch erlaubte ihm die Enge der Wohnung kaum*
sich zu isolieren, imd seine angstvolle Zärtlichkeit
für den Knaben stand der der Mutter wenig nach.
In dieser Aufregung stockte der Strom der Erfin-
dung» die Gesichte verschwanden. Welcher Dich-
ter hätte nicht schon jenen Sturz aus Wolken-
höhe erlebt, wo die umgebende Wirklichkeit, die
vor der Intensität des inneren Schau ens völlig
versunken war» plötzlich mit Gewalt ihre Rechte
zurücknimmt und die Visionen verscheucht» dass»
wo vorher eme ganze lebendige Welt gewesen»
auf einmal nichts mehr da ist als ein leeres
weisses Papier? Auf die Rückkehr der Stim-
mung zu warten» war dem Verfasser des »»Son-
nenwirta*' nicht vergönnt» der Verleger drängte»
die Setzer klopften stürmisch an die Tür, die
Bogen mussten abgeliefert werden; so griff er zu
einem verzweifelten Auskimftsmittel» indem er
auf die freie Darstellung, verzichtete und von der
Muse Abschied nahm» um an ihrer Stelle die Ge-
schichtsschreibung im Aktenstaube wühlen zu
lassen. Das 38. Kapitel gibt in der Tat den Roh-
stoff in fast unbearbeiteter Gestalt und sogar mit
tetlweisen Auszügen aus den Gerichtsakten» was
die Kritik von jeher, und mit Recht, gerügt hat.
Die psychologische Wichtigkeit des hier massen-
haft gehäuften Materials, das er bei dichterischer
Darsteliung zum grossen Teile hätte über Bord
werfen müsaenu mochte ihn zu diesem Ausweg
L/iyiu<.Lu üy Google
mit verleitet liabcn. Aber man hat doch dem
Dichter die Fiktion von der Muse» die nicht m die
Höhle des Verbrechens und über die Schwelle
des Gerichtssaals mitkönne, allzu willig geglaubt,
indem man annahm, dass ihm an dieser Stelle der
StoH schlechtweg über den Kopf gewachsen sei
und die Gestaltungskraft lahmgelegt habe. Nach
der ganzen Ökonomie des Romans konnte es nie
in der Absicht des Verfassers gelegen haben, nach
dem Rachemord am Fischerhanne» womit der
Held seinem Schicksal verfällt, das Gewebe der
blutigen Taten noch w^ter zu spinnen. Vidmehr
war es hier ganz augenscheinlich von vornherein
auf das Überspringen eines langen Zeitraums
und auf eine wahrscheinlich grossenteils im Dia-
log zu gebende knappe Rückschau über die dem
Morde folgenden Ereignisse abgesehen, woran
sich unmittelbar die letzte Peripetie schliessen
musste. Dass beides zu einem dürren urkund-
lichen Bericht geworden ist» war, wie gesagt, eine
Wirkung äusserer, unabwendbarer Umstände.
Auch ist dieser Bericht nur für solche Leser
gänzlich dürre, denen die Phantasie nicht über
die Schulter mitliest» weil der Gang» wichen die
Dichtung nehmen sollte^ unter der akten-
mSssigen Darstellung sich» wenn auch verschüt-
tet, durchfühlen lässt. Bei der Begegnung des
verfemten Mannes mit dem württembergischen
Deserteur an der badischen Grenze» der ihm das
verderbenbringende Pferd aufdrängt, bis za sei-
nem traumverlorenen Einritt in das verhäng-
13*
iiisvolle Vaihingen» hört man deutlich das Schreib
tan der tragischen Muae. Sollte ea wirldich für
den Dichter in seiner Vollkraft eine unübersteig-
Uche Schwierigkeit gewesen sein» von hier aus die
Menge des zwischen dem vorhergehenden und
diesem Kapitel liegenden Stoffea» die Gematn-
achaft mit dem wirklichen Verhrechertum, au--
sammenfassend zu bewältigen? Ich glaube es nun
und nimmermehr. Meint man doch da und dort
die Punkte durchzufühlen, wo das Gewebe dich
befeatigen Hess» wie denn an aua ao tiefen Wur-
zeln gewachsenes Dichterwerk das Greaetz a^er
Entwicklung in sich selber trägt. Freilich bleibt
danun das Auskunftsmittel, zu dem der Verfasser
gezwungen war, nicht minder zu bedauern; ea lag
mir hier nur daran, dnmal den wahren Hergang,
wie er in der Familie bekannt ist, klarzulegen.
„Sechs Setzer hat Meidinger hinter mir her-
gejagt,** schrieb mein Vater nach Vollendung der
Arbeit aufatmend an aeinen Freund Kaualer. Ala
das Kind aus der Gefahr und das häusliche Leben
wieder im Gleise war, hatte ihm die zurückge-
kehrte Muse noch das kiurze ergreifende Schluss-
kapitel geschenkt, in dem ea ihm gelang, die dich-
terische Höhe wieder zu erreichen.
Ihm selber blieb das vielberufene 38. Kafutel
lebenslang ein Pfahl im Fleische, und dass es um-
gearbeitet werden müsse, stand ihm fest. Wäre
ea raach zu einer neuen Auflage gekommen, ao*
lange die Fülle dea Stoffes ihm noch gegen^R^Mg
war und die Stimmung vorhielt» so wäre der Um-
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
guM dtr vctfehlten Partien ucher voUsogen wor-
den. Aber nach dem ersten bocfahändlerieclien
Erfolg — binnen acht Monaten waren laut Ifiit-
tcilung Meidingers mehr als dreitausend Exem-
plare abgesetzt — kam der Vertrieb ins Stocken,
der Unatem trat wieder ins Spiel* der treffliche
Verleger starb unversehens weg, das Buch geriet
in fremde Hände, das Interesse für den „Sonnen-
wirt" erkaltete, und zwar nicht nur beim Publi-
kum, sondern schliesslich beim Verfasser selbst.
£r8t in den sechziger Jahren» als das von Janke
in Berlin unterdessen erworbene Verlagsrecht zu
Ende ging, trat die Frage der Neubearbeitung
emstlich an ihn heran. Aber ein Jahrzehnt war
unterdessen vergangen, die unmittelbare Be*
geisterung für den Gegenstand war in ihm ver-
dampft, ja, er fühlte eine Art von Grausen, sich
aufs neue in die Wogen dieses blutigen Stoffes
tauchen zu sollen.
M Was du vom Sonnenwirüe sagst, findet mich
gepanzert", schrieb er damals in seiner humo-
ristischen Art an Paul Heyse, der nicht abliess,
ihm den hohen Wert dieses Werkes und die Not-
wendigkeit einer Retouche vor Augen zu halten.
»Frieder, mir gruselt vor dir*, muss ich mir immer
sagen, wenn ich denke, dass er in drei Jahren aus
dem Zuchthaus (Janke) kommt und von seinem
unglücklichen Vater versorgt, gewaschen, ge-
kämmt usw. sein will. Mit Domhandschuhen
will ich ihn empfangen.'*
Um jene Zeit hatte ohnehin das Nervenleiden.
- i«8 -
I
schon begonnen, das ihm die frei schaffende, dich-
teriflche Tätigkeit lähmte obwohl er sich desaea
noch nicht bewusst war, und es kam niemals aiich
nur zum Versuch. So ist der „Sonnenwirt" einem
edlen antiken Torso zu vergleichen, dem ein nicht
entsprechender Arm oder Fuss angestückt ist.
Man sollte sich» meine ich, endlich damit abfinden
können.
Als das Buch im Oktober fertig war, rächte
sich das misshandelte Nervensystem durch die
ersten vorübergehenden Anzeichen jener Über-
reizung, die sich si^ter zu einem chronischen
Leiden entwickeln sollte. Diesmal trug das Übel
noch seine Heilung in sich selbst. Die Unruhe
trieb ihn gleich zu einem neuen dichterischen
Entwurf» dessen Stoff er der Vorbewegung des
Bauernkriegs entnehmen wollte. Er durchwan-
derte zu Fuss das Remstal, um in Kapellenberg
und Schorndorf die Spuren des „Armen Konrad"
aufzusuchen und kam schon nach wenigen Tagen
von der Bewegung in freier Luft erfrischt und
neugeboren nach Hause; so wenig bedurfte es da-
mals noch, um seine Konstitution von einer
Riesenanstrengung wieder herzustellen. Wes-
halb der tpAxmt Konrad'% auf dessen Entstehen
Meidinger mit Eifer drang, am Ende doch nicht
geschrieben wurde, wdss ich nicht; der Dichter
mochte es wohl auch satt sein, im Blute zu waten.
Jedenfalls war die nächste Arbeit, die er in An-
griff nahm, idyllischer Natur* üeidinger
wünschte für 1855 eine Weihnachtsnovelle. So
entstand wäbnsnd dncs Sommeraufcnthalts in
dem Schwanwaldbad Liebenzell der „Wdh-
fiachtsfund". Die Fabel dazu oder vielmehr das
wirkliche Ereignis» worauf sie beruht, war dem
Autor zur rechten Stunde durch den Stadt-
pforrer Buttersack geliefert worden, bei dem wir
dort zur Miete wohnten — ich sage „wir", denn
die kleine Familie war im Winter durch meine
schreiende Wenigkdit vermehrt worden. Der
Landaufenthalt war der Arbeit sehr günstig: am
frühen Morgen ging der Dichter mit Papier und
Bleistift in den Wald und brachte dort auf Rasen
und Nadelstreu liegend, mit einem Stein als
Unterlage, sdne erste Niederschrift aufs Blatt;
der frische Harzduft ist der Erzählung noch an-
zuspüren. Der Form nach ist sie ein Meiner
Roman geworden. Ihr Stoff lag dem Verfasser
insofern sehr glücklich, als er ihm Gelegenheit
gab» aus seiner unerschöpflichen Kenntnis der
Sitten, Bräuche und Anschauungen des Volkes
heraus wieder einen seiner farbensatten Kultur-
hintergründe für die einfache Herzensgeschichte
aufzubauen. Die Kritik hat den ^Weihnachts-
fund" immer sehr hoch gestellt — zum Teil so-
gar höher als des Dichters andere Werke» wobei
ich nicht zustimmen kann — aber buchhändle-
risch hat er erst recht kein Glück gemacht.
Denn um die Zeit seines Erscheinens hatten die
Auerbachschen Dorfgeschichten den Geschmack
für l^uerliche Stoffe zwar in den weit e sten
Kreisen geweckt, ihn aber auch auf Jahrzehnte
200
fainatis veidorben* £ia licnachcnahar später
hftttm flowold der «»Sonnemnrt** wie der «»Weili-
nachtsfuiid** dnem netterwachten literarischen
Bedürfnis entsprochen und das äussere Glück
ihres Autors begründet«
Die ersten Jahre nach dem Rücktritt vom
^Beobachter" gehören zu den dichterisch fruclit*
barsten meines Vaters. Wenn sein Schaffen vor-
her und nachher immer ein stossweises war, so
lag das nicht an einer Ungleichheit der Inspira-
tiotty wie es dem Uneingeweihten acheinen, muas»
sondern lediglich an den äusseren Verhaltnissen,
die ihn so oft zur Zersplitterung seiner Kraft
zwangen ; der Genius war immer willig, wenn der
Dichter ihm nur gehören durfte. Jetzt gehörte
er ihm einmal gans* und zugleich war ihm» zum
ersten und letzten Male, das Glück wiederfahren,
einen Verleger zu finden, der ihn durch freudigen
Glauben und opferwillige Begeisterung auf seinem
Wege förderte und vorwärtsdrängte. Der treff-
liche Mann gab sich auch alle Mühe» meinen
Vater zur Übersiedelung nach Frankfurt zu be-
reden, was vielleicht sein Heil gewesen wäre,
wie alles» was ilm der heimischen Enge entrissen
hätte. Aber er konnte ihm nicht die für die
Familie genügenden Bffittel bieten, und schliess-
lich kam die Zeitschrift, in deren Redaktion mein
Vater eintreten sollte, überhaupt nicht zustande.
Wenige Jahre später wurde dann das schöne
Verhältnis zwischen Autor und Verleger durch
den frühen Tod des letzteren zersprengt.
üy Google
Unter den Projeklent die den Dichter in jener
Zeit des neuen Auficliwongs beidiäftigten, wer
auch die Dramatisierung des Sonnenwirte.
Schon hatte ein gewisser Walburg Krämer den
Versuch gemacht, den JSrzböswichf' auf die
Bühne m bringen» und hatte ein höchst lächer-
liches Machwerk zustande gebracht, das der
grässlichen hi$toi*ischen Wahrheit und aller
poetischen Möglichkeit in die Zähne dem Trauer-
spiel einen rührenden Versöhnungsschluss gab.
Da musste» nachdem durch drei Akte die Dialoge
des Romans nicht ohne dne gewisse Geschi^»
lichkeit zusammengestellt waren, im vierten, ge-
rade im Augenblick der Katastrophe, der Herzog
Karl in eigener durchlauchtiger Persim auf den
Brettern erscheinen, um den Verbrecher zu retten
und ihn samt seiner Christine glücklich nach
Amerika zu spedieren. Ob die vieraktige Miss-
gebiut jemals über die Bühne ging, weiss ich
nicht. Nun wollte Hermann Kurz, um ähnlichen
Verballhomisierungen vorzubeugen, die Bühnen-
bearbeitung selbst übernehmen. Der Verleger
war Feuer und Flamme für den Plan, weil er
nicht nur der Sache selbst einen glänzenden Er-
folg, sondern auch dne günstige Rückwirkung
auf den Absatz des Romans erhoffte. Es wurden
auch wirklich einige Szenen geschrieben, die, wie
ich glaube, noch existieren. Aber der Stoff
widerstrebte der dramatischen Behandlung, denn
mit Entfernung der zweiten Christine musste dna
der reizvollsten Motive imd zugleich ein psycho-
202
logWGher Hauptfaktor auafalkn» und dodi war
diese Bntfennmg unerUMliclit denn die Spaltung
seiner Seele zwischen zwei Frauen hätte dem
Helden als Bühnencharakter erst recht den Hals
gebrochen. Mein Vater sah dies jedenfalla aeitig
ein» wie ich aus dem raschen Abbredien des Ver-
suchs schliesse.
Der „Weihnachtsfund" war das letzte, was
Hermann Kurz im breiten epischen Stil geschrie-
ben hat. Die andern Romanentwürfe, die seit-
samerwciae alle auf den Namen »»Kottrad'' gingen*
denn ausser dem „Armen Konrad", der zwar frei-
lich keinen Personennamen bedeutet, war noch
ein ««Konrad Breunings und ein »»Konrad
Wiederhold'' geplant, kamen nicht mehr zur
Ausführung. Vielmehr kehrte der Dichter in
jener Periode verjüngter Schaffenslust nunmehr
auf das Gebiet der Novelle zurück, wo er sich die
ersten Sporen verdient hatte und wo^ wie ich
glaube, seine Kunst sich am rdnsten und freu-
digst«! ausspricht. Es versteht sich ja von
selbst, dass ein so gewaltiger Bau wie der
«,Sonnenwirt'' und selbst die jugendlicheren
„Heimatjahre'' grössere Anforderungen an die
Kraft ihres Autors stellen, aber den ungetrfibte-
sten künstlerischen Genuss gewähren doch die
kürzeren Erzählungen. Ein so berufener Kritiker
wie Ludwig Pfau pflegte das »^kanum*'
schlechtweg die beste deutsche Novelle m
nennen« Ich hatte von Jugend auf unter diesen
Novellen eine stille Liebe» „Die blasse Apol-
— ao3 —
lonia"» deren Reis ich mir früher nicht mit
Gründen erklären konnte» die ich aher 8f>äter mit
gereifteren Augen als ein Juwel von höchster
künstlerischer Schönheit erkennen lernte. Denn
hier ist ein tiefes psychologisches Problem, das
den Stoff su oaem gansen Romanband enthiOt,
auf wenige Seiten zusammengedrängt, und
ebenso grosse Bewunderung verdient die ge-
radezu einzige Form der Einkleidung: wie aus
dem Munde zweier Berichterstatter von ver'-
schiedenem Temperament und Bildungsgrad,
die sich gegenseitig widersprechen und ergänzen,
gleichsam zwischen zwei Spiegel gerückt, die er-
greifende Gestalt des seltsamen Mädchens er-
steht und wie der Schluss poeaievoll das Grauen
der Richtstätte wieder wegwischt durch das fried-
liche Wiesengrün einer lichteren, menschlicheren
Zeit. Auch die Apollonia kann man noch ge-
wissermassen su den Stoffen aus der Familien-
tradition rechnen, denn bei der Verurteilung der
vierzehnjährigen Mörderin hatte ein Ahnherr ein-
gegriffen, indem er den grausamen Spruch, der
auf den Scheiterhaufen lautete, in den Tod durchs
Schwert milderte. Dieses Prachtstück der neuen
Novdlensammlung war übrigens schon in den
Karlsruher Tagen entstanden. Aus Briefstellen
meines Vaters geht hervor, dass damals Auer-
bach, dem er die Erzählung frisch aus dem Ma-
nuskript vorlas» das Urteil abgab, die Geschichte
sei recht hübsch, aber es fehle etwas daran, wes-
halb ihn der Autor verschiedentlich um Belehrung
angingt was dam fehle» bis er im Herbste des>
sdben Jahrs in Auerbachs »Gevattersmami'* die
Entdeckung machte, dass dieser sich unterdessen
selber des Motivs bemächtigt und es für eine
seiner Tendenztiraden zurechtgeschneidert hatte.
So wenig wurde die sdiüdite wundervolle Fas^
sang dieses novdüstischen Edelsteins verstanden.
Dieselbe künstlerische Meisterschaft, die mit
jedem Stoffe die Form wechselt, geht durch fast
sämtlidie Novellen von Hermann Kurz bis herab
SU dem unscheinbaren, aber innerEch liedeut-
samen „Donn erw eite r im Homung*^ Es zeigt
sich in ihnen der reine Grundtypus der Novelle
als erweiterte und ganz mit Kunst durchtränkte
Anekdote» wie sie die grossen Künstler latei-
nischer Rasse von Bocacdo bis auf Haupassant
gepflegt haben, deutlich ausgeprägt. Der Gaumen
des deutschen Lesers ist nur leider im Durch-
schnitt auf die Feinheit solcher Kost nicht ein-^
gerichtet» er zieht meist eine tüchtige Menge
Stoff und eine Handvoll grobes Gewürse vor.
Und auch dem feinsinnigeren Kritiker entgeht
es nur allzuleicht, wieviel dazu gehört, eine Ge-
schichte zu formen» die ganz aus der Tiefe des^
Menschenlebens und der geUuften ^Erfahrung
geholt ist» fem von jeder Willkür» dann wieder-
geboren im Geist, um und um losgelöst vom
grobstofflichen, ganz durchleuchtet von der
ewigen Wahrheit imd dabei doch sinnlich greif-
bar bis in die kleinste Einzelheit. Man schätzt
den Geist des Dichters» man wärmt sich au
adaem Gemüt» aber die ctgeotltclie Kunst wifd
kaum beachtet, ja man könnte sagen, am Nicht*
Verstandensein kennt man bei uns den feineren
Künstler. Doch darf man den deutschen Leser
nicht allsuhart verklaigen» denn auch die Na-
tionen von älterer Kultur machen es in dieser
Hinsicht kaum besser. Der feinste Künstler, den
Prankreich in der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts hervorgebracht hat, Guy de Mau-
passant, musste die Aufmerksamkeit der Welt
durch eine Reihe dickflüsttger, gequälter, höchst
gepfefferter und doch so langweiliger Romane
auf sich ziehen, während seine wundervollen
kleinen Contes, Juwelen, die für die Ewigkeit ge-
scMiff en sind» mit lächerlich geringen Auflage-
ziffem neben den z6o oder mehr Auflagen des
Beiami stehen. Seit die Massen lesen können
und lesen wollen, musste die Literatur um so viel
herabsteigen, als das mittlere Bildungsniveau ge-
sunken ist. In hundert Jahren, wenn, so Gott
will, unsre Kolonien in Blüte gekommen sind,
wird der deutsche Buchhandel auch mit dem
Geschmack des Kamerunnegers zu rechnen
haben.
Bei der in den fünfziger Jahren entworfenen
dreibändigen Sammlung der „Erzählungen" legte
Hermann Kurz, seiner früheren Neigimg zum
novellistischen Potpourri entgegen, einen fest-
geschlossenen Zyklus an, worin altes und neues
in bestimmter Ordnung zusanunengestellt wer-
den und ein Stück dem andern gewissermassen
die Hand reichen sollte. Ldder war auch diesmal
dafür gesorgt» dass nicht idle Blütentriimie reif-
tcn, denn mehrere der geplanten Erzählungen
blieben ungeschrieben, wesshalb sich jenes innere
Ineinanderschliessen nicht durchführen liess.
£r verstand es» diesen kleinen bodenwfichsigen
' Geschichten die ganxe altschwäbiscfae Intimität
zu geben ohne die im Leben davon unzertrenn-
liche Kleinlichkeit. Sein Stil machte alles, womit
er sich beschäftigte» gross, denn über dem klein-
sten Stoff steht er mit der Weltweite seines Ge-
dankens: uuuier öffnet er Fenster ins Universum
hinaus. Erst in späteren Jahren, als seine innere
Vereinsamung zunahm, in der Oberesslinger und
Tübinger Zeit, begegnet es ihm dann und wann»
dass er ein Schiebf ensterchen aufzieht» das nicht
ins Weite, sondern in ein Gevmkel von kleinen
Innenhöfen führt, wo es zwar ganz heimeUg aus-
sieht, aber weil wir nicht als Kinder mit ihm dort
gespielt haben» finden wir uns nicht darin zurecht*
Damals aber ging sein Blick noch in lauter
grünes sonniges Gelände. Man fühlt es diesen
Novellen ordentlich an, wie der Autor sich über
der Arbeit verjüngte. Er legt seinen im Roman
schon fast zu herbe gewordenen Realismus wie-
der ab und taucht aufs neue seine Gegenstände
in die Farbe des Morgenrots. Der wundervolle
Humor, der über den Erzählungen schwebt, ver-
anlasste den feinsinnigen Kausler auf die Über»
Sendung des ersten Bändchens zu der Frage»
wesshalb der Autor nicht einen humoristiachea
Roman aus der deutschen Geschichte schreibe.
Der köstliche Schwank »»Den Galgen» sagt der
Eadaid»**, hatte die Luat nach mehr von dieser
Sorte geweckt. Die Antwort» die Hermann Kurz
auf diesen Vorschlag gab, wirft auf ihn selbst und
auf die Dinge ein so helles Licht, dass ich es mir
nicht versagen kann, die besügliche Briefstelle
wjedersugeben*
»»An einen humorisUsdi^-historischen Roman
habe ich gerade früher oft gedacht," schreibt er
zurück. »»Seit ich aber die deutsche Geschichte
näher m kennen anfange, ist mir das Ding ver-
gangen* Sie hat freilich politische Schellenkappen
genug, womit man einen Don Quichote imd
einen Sancho aufputzen könnte, dabei aber ein so
echtes und herzbrechendes Pathos, dass ich kein
Stück von ihr» nicht einmal 184S» vorzunehmen
wiisste» das nicht weit über den Don Quichote
hinausginge. Bis zur lächelnden Rührung zwar
bringt's dieser auch, aber in unserer Geschichte
ist immer mindestens soviel Stoff zum Weinen
und zur Erschütterung als zum Lachen» und das
sprengt die Form des komischen oder auch ntur
bloss-humoristi sehen Romans. Ich habe mich
desshalb mit dem Eichele auf den Standpimkt
emes mittelalterlichen Faschings gestellt» an wel-
chem ein politischer Fastnachtsschwank vorge-
tragen wird» der als blosser Schwank so kurz als
möglich sein muss, d. h. ein »unsinniglicher*
historischer Roman, aber auf einem halben
Bogen. Historisch sind die Begebenheiten
— so8 —
grossenteils, selbst bis zum wollenen Kappen-
zipfeP) inklusive/'
£me Icmere Stelle dieses Briefes ist für den
aufmerksamen Leser der ,»Bnililungen'* gleicb-
falla von Reiz, weil sie zeigt, wie dem Verfasser
der innere Zusammenhang der Geschichten unter
einander vorschwebte.
„In der Zaubemacht sollte nur scheinbar dem
mit der Reformation aufgegangenen Lichte ein
Morgenlied angestimmt werden, denn die christ-
liche Reaktion* die mit Luther dem italienischen
Heidentum bereitet wurde» tat den christlichen
HöUenrachen weiter auf, als er je in den ver-
gangenen Jahrhunderten geöffnet war, und beide
Konfessionen, die lutherische voraus, verbrann-
ten in ihrem durch die Trennung gestachelten
Wetteifer im x6. und 17. Jalirhundert mdu: Hexen
als das ganse Mittelalter, wohl sehnmal mehr und
drüber. Dass bei dem ,Riesenfeuerteufer ein
Nachkomme eines alten malleus maleficarum be-
teiligt war, erfährt der Leser freilich erst aus dem
zweiten Band«0 Diesmal aber fürchte ich» würde
dir's ein Pietist im Verständnis suvorgetsn haben,
und zwar mit unaussprechlichem Brummen. Eher
^) Diese historische Grundlage hat der Verftisser
in viel spitersn Jahren in dem AofiBatz «Der Kappen-
zipfiel** attffedeckt Erschienen In der Gennanis» Viertel*
jahrsschrift für deutsche Altertumskunde. XV. jahrgsnc*
vrittk 1870. s. dsr.
^ Nimlich aus der Geschichte der als Hexe ver-
brannten Afrs, die mein Vater damals schreiben wollte,
IQr die aber nie die Feder elngetandit wurde.
L/iyiu<.Lu üy Google
909
noch werde ich den Katholiken mit dieser Zu-
sammenstellung gewinnen, und dies ist audi
nötig, da ich ihn im zweiten Band samt einer ge-
mischten Ehe per Pulvenntthle m die Luft fliegen
lassen will. Dies natürlich sub rosa, wie sich's
bei jeder Pulververschwörung von selbst ver-
steht.''
Mit der letzteren Stelle ist die Novdle »»Der
heilige Florian" gemeint, die gleichfalls un-
ausgeführt geblieben ist. Das Motiv von der
katholisch-protestantischen Brautschaft und von
dem Schutzheiligen des katholischen Teils, der auf
Glas gemalt und in ^ner Pulverfabrik unbedacht
als Fensterscheibe eingesetzt, durch eine kleine
Linse Braut und Bräutigam mitsamt dem ganzen
Konfessionsstreit in die Luft sprengt, war äus^
serst verführerisch, aber das Werk wurde nicht
zur guten Stunde begonnen, die Exposition war
augenscheinlich zu breit, und der Ton hat auch
nicht die den Erzählungen sonst fast durchw^
eigene bezaubernde Frisch^ weshalb es weg-
gelegt und nie wieder aufgenommen wurde.
Dagegen hatte der Dichter mittlerweile seinen
allerglücklichsten Griff getan mit jener von Hu-
mor sprudelnden Erzählung, die unter ihrem spä-
teren Titel „Die beiden Tubus" aligemein bekannt
ist. Es hiesse Eulen nach Athen tragen, wenn ich
von dieser Novelle weiter sprechen wollte, da sie
von allen Werken meines Vaters weitaus die
grösste Verbreittmg gefunden hat, wenn auch
leider erst nach dem Tode des Verfassers« Auch
Isolde Kursi Heztmin Kim. xa
aio
diese Erzählung stützt sich auf eine wirkliche Be-
gebenheit, wie es oft bei solchen Motiven der Fall
ist» die der Leser für die aUerwillkürlichste Er-
findung des Dichters hält» denn das Leben selbst
ist der barockste aller Humoristen. In einem
Taschenbuch meines Vaters steht darüber die
kurse Notis: ,,Die beiden Pfarrer, (Rechberg und
Frickenhausen) die einander durch den Tubus
kennen lernen, als Anknüpfung einer Novelle.''
Niemand würde es dieser gesundheitsprühen-
den, von siegreichstem Humor wahrhaft durch-
sonnten Brzäiüung ansehen, dass sie ihren Ver-
fasser nach der Vollendung im traurigsten Zu-
stand zurückliess. Seit lange ohne alle Aus-
spannung und Erholung und stündlich gehetzt
durch die Sorge um die Erhaltung der wachsen-
den Familie, hatte er sich bei der freudigsten
Arbeit derart übernommen, dass sein vorher
schon empfindliches Nervensystem in völligen
Aufruhr geriet und eine gefährliche Krankheit zu
drohen schien. Ein schlimmer Zufall vermehrte
noch das Übel: er hatte zwei ganx gleiche niedere
Steinkrüge auf seinem Tischchen stehen, wovon
der eine ein Mineralwasser, der andere Arak
enthielt. Von heftigem Durst gepeinigt, goss
er eines Tages ein Glas voll und trank die farb-
lose Flüssigkeit, im Glauben, dass es Wasser sei,
auf einen Zug aus. Er hatte sich in der Aufregung
geirrt und den Arak ergriffen. Die Wirkung war
schrecklich, er glaubte innerlich m verbrennen.
Er konnte keinen Laut mehr ertragen und schloss
an
sich in «einem Zimmer ein; das Essen musste
ilmi durch ein Schiebfenster hineingestellt wer-
den und blieb gewöhnlich unberührt. Durch
mehrere Tage liess er keine Seele vor sich, nicht
einmal seine Frau» die Tag und Nacht spähend
an seinem Schlüsselloch stand* immer in Furcht
vor einer Elatastrophe. Da sah sie ihn stunden-
lang am Waschtisch stehen, wie er mit einem
grossen Schwamm die Stirn kühlte oder die
Haare, deren Fülle ihn belästigt^ fort und fort
mit dem Kamm nach oben strich. Endlich ge-
lang es unsrem Hausarzt, dem trefflichen
Dr. Stockmayer, sich durch List, indem er ein
wichtiges Geldgeschäft vorschützte, Einlass zu
verschaffen; unter dem Vorgeben, dass man im
Freien mch besser unterreden könne» lockte er
ihn zu einem Spaziergang hinaus und schleppte
ihn durch Wälder und Dörfer, immer weiter, bis
der Kranke physisch völlig ermattet war. Bei
sinkender Nacht brachte er ihn todmüde, aber ge-
nesen zurück. Ein tiefer Schlaf folgte, der erste
seit Wochen, und am Morgen waren die Ge-
spenster verchwunden.
Ähnliche Zustände, nur von geringerer Heftig-
kdt und Dauer, waren auch schon nach der Ober-
anstrengung am „Sonnenwirt'' eingetreten und
sollten fortan jeden Aufschwung zu dauernder,
rein produktiver Tätigkeit begleiten als tragische
Busse für die Misshandlung des Genius» der seme
frischesten Krüfte in der Frone einer Zeitungs-
redaktion eingesetzt hatte. Als sein Leben zur
14*
— ax3 —
0
verfrühten Neige ging, spielten „Die beiden
Tubus'* noch einmal eine ominöse Rolle» deui
bei einem unteraommeneii «weiten Teile dieser
Arbeit war es, dass ihn der letzte und schwerste
dieser Anfälle traf.
Die drei Bände Erzählungen« unter die auch
einige der älteren Stücke aus den „Gensianen**
und den Dichtungen^ in teilweiser Oberarbei-
tung herübergenommen wurden, erschienen in
den Jahren 1858 — 60 bei Franckh in Stuttgart;
— der treffliche Meidinger war unterdessen zum
grössten Unheil mdnes Vaters gestorben. Sie
machten von allen Arbeiten des Dichters noch
das schlechteste Glück. So unüberwindlich war
die Stumpfheit des Publikums» dass jene Auflage»
wie man mir versicherte, vor wenigen Jahren
noch nicht völlig vei^f fen war.
Unterdessen war es gegen Schluss des Jahres
1856 endlich auch zu einer Neuauflage der
»yHcimat jähre'' gekommen — dreizehn Jahre hatten
seit ihrem ersten Erscheinen« zwanzig seit der
Vollendung des Manuskripts verfliessen müssen,
zwei Zahlen, die ebenso die Ungunst des Glückes
anklagten, wie sie für die innere Lebenskraft des
Werkes Gewährgaben. In völlig durchgearbeiteter,
straff zusammengezogener Gestalt» wobei es nichts
von seinem Jugendreiz eingebüsst hatte, trat es jetzt
aufs neue ans Licht. Aber der alte Unstern wollte
nicht weichen. Das Buch musste abermals im
selben kleinen Verlag wie das erstemal ersehe-
nen» denn alle Versuche Mddingers, es für sich
L/iyiu<.Lu üy Google
— 3Z3 —
zu erwerben, waren an der Weigerung des neuen
Eigentümers der Franckhschen Buchhandlung,
Leins, gescheitert. So drang es auch diesmal
nicht mit Flugkraft über die schwarzroten Grenz-
pfähle hinaus, (obschon es ins Französische
Übersetzt wurde und unter den „Meilleurs romans
contemporains** erschien); innerhalb des Landes
aber erhielt sich sein Ruhm nur wie eine dunkle
Sage, ohne den Vertrieb in Gang zu bringen.
Auf Wunsch des Autors, dem daran lag, sich
von einer parteilosen Feder bestätigen zu lassen,
dass sdne politische Tätigkeit nicht auf die Neu-
gestaltung des Romans abgefärbt hatte, über-
nahm Kausler die Anzeige des Buchs ; sein Lob
war 90 fein und so leise, dass Autor und Verleger
sich an dem diskreten Ton freuten. (»»Der Mann
heisst Leins^) und mnss es wissen»'^ schrieb der
Autor an den Rezensenten) dass aber das Publi-
kum gar nicht aufhorchte. Meines Vaters
Freunde waren ihm innerlich viel zu sehr ver-
wandt^ um laut für ihn ins Horn su stossen»
und konnten darum die breite Masse» unter der
sie selbst als Fremdlinge lebten, nicht nachziehen.
Kauslers Mahnung, jetzt endlich die alte Sünde
an dem Verfasser gut zu machen, verhallte un-
gehdrt. Und noch jahrsehntdang sollten nch
die glänzendsten Federn Deutschlands vergebens
für dieses Werk regen; das Auge der Menge
blieb mit Blindheit geschlagen: den Geist sieht»
den Schatz hebt nur das Sonntagskind.
Schwäbisch für leise.
Unsere Kinderstube
In den letzten Tagen desselben Jahres, das
bei seinem Aufgang meinen Eltern ihren Erstling
Edgar beschert hatten zu Stuttgart erblickte
ich das Licht der Welt. Es ist mir oft erzShlt
worden, dass ich wie im Märchen durch den
glühenden Wunsch der Eltern nach einer Tochter
dem Schicksal abgedrungen worden stt und dass
ich schon vor der Geburt mit Geschlecht, Namen
und persönlichen Zügen in ihrer Phantasie ge-
lebt hätte. Da die Mutter gleich unter die Sterne
der Poesie gegriffen und für mich den Namen
Isolde heruntergeholt hatte» der ihr aus der
Tristan-Bearbeitung ihres Gatten teuer war, so
gab der Vater mir noch die Namen Clara Maria
mit, für den Fall, dass die Romantik sich später-
hin mit der Wirklichkeit nicht vertrüge« Unter
den Julien, Luisen und Amalien, die damals die
Welt bevölkerten, befand sich eine Isolde von
vornherein in einer Ausnahmestellung, und wer
eine solche einnahm, konnte auf dem Boden
mdner Heimat seines Lebens nicht froh werden.
Dies hatte mdn Vater wohl bedacht, als er mir
— 215 —
durch die Nebennamen Clara und Maria einen
Notatisgang öf&iete, doch das Ungestüm memer
Mutter Hess solche Rücksichten nicht gelten, und
CS blieb allein mein Rufname an mir haften,
der späterhin in der kleinstädtischen Umgebung»
wo ich heranwuchs» mir vieles Ungemach
zusog.
Da meine Geburt der Welt nicht mit goldenen
Lettern angekündigt wurde wie die des Bruders,
so sorgte ich nun selbst dafür, dass mein Dasein
nicht unbeachtet blieb» indem ich mich durch das
ganze erste Lebensjahr durchschrie, ja, ich soll so-
gar schon geschrien haben, bevor ich in die Er-
scheinung trat. Mein Bruder Edgar war um jene
Zeit nach den Schilderungen der Mutter ein schö-
nes blasses grossäugiges Kind» das wenig Urm
machte, dem aber schon die ganze Intensität seiner
Seele aus den durchdringenden Augen blickte.
Doch sollte er seine ganze Knabenzeit hindurch
körperlich zart und psychisch reizbar bleiben, bis
er sich im Heranwachsen durch frawillige Ab-
härtung eine dauernde Gesundheit erzwang. Die
Mutter pflegte jedem der Kinder ein Schicksais-
liedchen an der Wiege zu singen, worin ihm
seine Art und Zukunft gedeutet wurde. Das an
Edgar lautete:
Ich bin ein kleiner Tfiumer,
Ein Erdengutveratttoier,
Ein Dichter nnd ein Denlcer,
Wohl nie ein Schlachtenlenker,
Doch in des Geistes Reichen
Dt werd* ich keinem weichen.
— ai6
Von diesem Vers, der auf das sinnende W»en
des Knaben genau zu passen schien, sollten jedoch
wpäUr nur die xwci letiten Zeilen in ErfttUung
gehen^ denn gerade ihn fahrten Naturell und Um-
stände in ein höchst aktives und verantwortungs-
reiches Leben, während die Poesie« die ihm
gleichfalls im Blute lag» nur eine liebe Neben-
beKhüftigung für ihn blieb. Die Verac^ die mir
auf den Lebensweg mitgegeben wurden, h^
gannen:
Ich bin ein kleines Mädchen,
Hab' Augen wie Feuerrädchen
und veranlassten den besonnenen Vater gleich-
falls poetisch einzugreifen imd
Der kleinen Feuerwerkerin
Ein wenig Vicar-of-Wakefield-Sinn
mit allerlei häuslichen Tugenden hinzusuwün-
sehen, was aber der Mama keineswegs einleuch-
tete, denn ihr war das Goldsmithsche Idyll, das
der Dichter damals mit grossem Wohlgefallen
las» viel zu hausbacken.
Solch ein leises Mahnen durch die Blume war
die einzige Form, unter der er suweüen mässigend
in ihre Leitung eingriff, wenn es gar zu stürmisch
über Stock und Stein dahinging. Denn im
Gänsen Hess er ihr völlig freie Hand. Er sei für
das Mutterrecht der alten Naturvölker, pflegte
er scherzend zu sagen. Es blieb ihm auch nichts
übrig als abzudanken, da er gar keine Zeit für
uns hatte, während die Mutter sich einzig und
ausschliesslich mit uns beschäftigte und eifrig
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
bestrebt war^ uns nach Ihrem Sinne su
modebL
Ich war des Bruders völliges Widerspiel, ein
rundes kerngesundes Stück Natur, das seinen
£mst durch jauchzende Daseinslust erhellte; wir
entwickelten uns gegenseitig aneinander und
sahen jedes im andern das Mass der Dinge. Ich
sprach schon im ersten Jahre ganz geläufig; er,
der durch Kränklichkeit etwas aufgehalten worden,
war, lernte es erst im Wettstreit mit mir. Da-
gegen blickte ich mit inniger Bewunderung su
ihm auf, als er seinen ersten Gehübungen oblag,
und pflegte ihm auf dem Boden sitzend mit gros-
ser Geschwindigkeit von einer Zimmerecke in
die andere nachsurutschen, was mir freilich nur
durch die Erzählungen der Erwachsenen be»
kannt ist.
Dem zarten wachsbleichen Knaben, der von
einer Kinderkrankheit in die andere fiel, verord-
nete der Arst su sdner Stärkung die tichwars-
waldlnft. Man mietete einen Omnibus, der mit
Hausrat vollgepackt wurde, Eltern und Kinder
nebst der getreuen Josephinc, die jetzt Fina hiess,
stiegen dazu ein, und fort ging es, dem anmutigen
kleinen Badeort Liebenzell entgegen. In Ehnin-
gen wurde ein paar Stunden Rast gemacht, die
stolze Equipage fuhr vor dem Pfarrhaus vor, wo
das Mohrsche Ehepaar die junge Familie be-
grüsste und gastlich bewirtete. Der alte Pfarrer
wurde ein warmer Verehrer meiner Mutter, und
die Tante Mohr, in der die Seele ihrer Schwester
fortlebt«» bemühte sich» uns Kindern die groei-
mütterliche Liebe, die das Schicksal uns vorent-
halten hattCj zu ersetzen.
In Liebenzell bezogen wir eine Wohnung im
Städtchen bei dem meinem Vater befreundeten
Stadtpfarrer, doch kcmiten wir Kinder den gröss-
ten Teil des Tages in den wfirzigen Tannen-
wäldern spielen, denn das Wetter war trotz der
frühen Jahreszeit mild und sonnig. Der Vater
schrieb währenddessen seinen Weilmachtsfund
gleichfalls im Crimen. Keines seiner Werke ist
ihm so leicht geworden wie dieses, das er, erlöst
vom Stadtlärm und mitten in der ländUchen Welt,
die ihm den Stoff geliefert hatten in einem Zuge
aufs Papier warf. Die Liebenzcller Tage ge-
hörten später zu seinen liebsten Erinnerui^en:
das freudige Gelingen der Arbeit, das Wiederauf-
blühen des kranken Knaben, die hoffnungsreiche
Verbindung mit dem neuen Verleger, die leider
so bald ihr Ende finden sollte« das alles hatte
m seinem Gemüt eine Sonnenspur surückgelassen,
dass er sogar auf unsren Kinderspielen mit Ver-
gnügen in der Krinnerung weilte. Besonders gerne
ersählte er mir, "wit wir des Morgens mit swei
Id^en Hämmerchen bewaffnet nach einer nahe-
gelegenen Töpferwerkstatt auszogen, um dort
glühend von Pflichteifer, der sich durch nichts
beirren Hess» halbe Tage lang die auf der Strasse
herumliegenden Scherben kleinzuschlagen.
Noch wonniger genoss meine Mutter diese
Tage der Erquickung und das Glück, ihren von
219
den Ärzten schon aufgegebenen Liebling dem
Leben entgegenblühen zu sehen.^) Seit der Stunde
seiner Geburt füllte dieses Kind, dessen zartes
Leben immerdar an einem Faden schwebte» all
ihre Gedanken aus; selbst der Vater» der einem
solchen Rivalen nicht grollen konnte, musste vor
ihm zurücktreten. Er wurde wie ein kleiner Prinz
behandelt und ging stets mit kostbaren Stoffen und
Spitsen aus der Brunnowschen Garderobe phan*
tastisch angetan. Kaum war sdne Heilung vollendet
und auch das Werk des Dichters zu gutem Ende
gediehen, als die bevorstehende Ankunft des drit-
ten Kindes die Familie zu schleunigem Aufbruch
trieb. Zwei Tage i&ich unserer Rückkehr, am
^) Zwei Sonette, die sie in Liebenzell auf seine Ge-
nesung scbrieb, mdgen bier ihren Platz finden.
I.
Die Sonne siegt; die schlanken Tannen heben
Das dunkle Haupt aus grauem Nebelmeer,
Der Kühe Glöcklein tönet ringsumher,
Und es beginnt im Walde reges Leben,
Tautröpflein hängen dort wie Perlen schwer
Im dunklen Moose, und es zieht daneben
Der Waldbach murmelnd durch das Tal einher,
Den Wiesen sein befruchtend Nass zu geben.
Hieher, mein ztrter Knabe, Itss dich bringen,
Wo Morg^nlfifte kosend dich nmweh'n,
Der Tannen Düfte stirkend zu dir dringen.
Hier lass ich dich des Waides Wunder seh'n,
Indess die BSchlcin dich in Schlummer singen
Und holde Blumen nickend dich umsteh'n.
4« August 1855, mein Bruder Hermaim
Alfred gm W^t. £r war du sdir kräftiges und
schönes Kind» das seine ersten Lebensmonate
ganz mit Trinken und Schlafen ausfüllte und
seiner Umgebung wenig Mühe machte. Viel-
leicht beginnen gerade deshalb meine deutlichen
Erinnerungen an ihn erst später» in der Zeit» wo
er durch seine unbändige Kraftnatur den Frieden
der Kinderstube zu erschüttern anfing. XJm
seiner putzigen Streiche willen und weil er im
Jahr nach der Vollendung des Sonnenwirts ge-
boren war» gab Ludwig Pfau» als er unter unsrem
Dach verweilte» ihm den Namen »»Sonnenwirtle'*»
was aber der kleine Dicke sich nicht gefallen Hess,
denn er selber nannte sich „Butte*' oder „Butzel**.
Zunächst blieb noch für lange Zeit der Bruder
Edgar mein einziges Gegenüber. Er hiess damals^
II.
Schon liegt er schlafend jetzt in meinem Schosse»
Leis atmend und die Augen halb geschlossen»
Von sanftem Rot die Wangen übergössen,
Mit seinen Härchen spielt der Westwind lose.
Ein Zauber seheint auf alles ausgegossen.
Und knisterad regt sichs neben mir im Moose>
Als hörte man die ideinen Bifiten sprossen:
Erdmännlein sinds im traulichen Gekose.
Sie schlingen um mein Kind den Elfenreigen»
Sie küssen es auf Wange, Stirn und Mund
Und flüstern» wie sie sacht sicli zu ihm neigen:
»Wir kfissten dich» o holdes Kind, gesund f*
Verschwunden sind sie» wieder tiefes Schweigen,
Und danicend stand Ich auf vom Waldesgrund.
— 221 —
in lanserer Kinderspraclie» die auch Ton den
Gro88«n adoptiert wurde, der Sninke und idi die
Meta. Edgar soll ein frühreifes, ganz besonderes
Kind gewesen sein mit ausgesprochenen Zu- und
Ahndgungen, die sich besonders gegen die Be>
Sucher des Hauses äusserten. AUi einmal dne
Bekannte zu seiner Mutter kam imd dem Knaben
der Besuch länger als billig zu dauern schien,
ging er aus der Ecke« wo er still für sich gespielt
hatt^ ruhig nach der Tttr und rief dem iituben«
mädchen, sie solle einen Besen bringen und den
Unrat hinauskehren. Diese kam eiligst mit dem
Besen gelaufen imd sah sich um, welchen Unrat
er meinem da sagte der Kleine laut und nachdrück-
lich: „den, der b« Mama auf dem Sofa sit^t'^
Am Schwersterchen hing er ^brtlich, wir hatten
alles gemeinsam und wurden jeden Tag im grün-
angestrichenen Kinderwägelchen zusammen spä-
teren geführt» wobei das Prinzchen den Vorder-
sitz inne hatte« ich als die Jüngere rückwärts
fuhr. Auf einer dieser Ausfahrten sahen wir zum
erstenmal den Schnee. Der Anblick der grossen,
weissschimmemden Fläche entlockte mir ein
Jubelgeschreiy wir waren beide einig» dass es
Zucker sei, aber über die Aussprache dieses
Wortes gerieten wir sofort in Streit, denn als ich
begeistert «,Didde!" rief, belehrte mich der
Bruder» dass man „Zidde!'* zu sprechen habe.
Ich wollte mir die Zurechtweisung nicht gefallen
lassen, demi da die Crrossen» wenn sie mit mir
sprachen, sich meiner Sprechweise anbequemten»
musste ich glauben, im Rechte zu sein. Wir
Strampelteil voll Entrüstung mit den Beinen
gegeneinander unter den vergeblichen Beschwich-
tigungsversuchen der guten Josephine; „Es
heisst Zidde!" — „Nein, Didde! Didde! Didde!"
das8 die Vorübergehenden stehen blieben und
grollend sagten: «^Was für unartige Kinderl"
Eine so lebhafte Meinungsverschiedenheit
zwischen ihm und mir gehörte jedoch zu den
Seltenheiten, gewöhnlich lebten, wir in inniger
Harmonie, da sein reiferes Alter und sein ge-
messenes Wesen ebenso wie die besonderen
Rücksichten, die ihm von den Erwachsenen er*
wiesen wurden, mir eine tiefe Eiirfurcht ein-
flössten.
Deutlich erinnere ich mich einer Phantasie-
geburt, die wir gemeinsam ausgeheckt hatten
und der wir Tag für Tag mit leidenschaftlicher
Schöpferfreude nachhingen. Es waren zwei von
uns erfundene Fabeltiere» das Schnoffeltier und
das Buffeltier« die wir uns am Anfang der Zeiten
auf ^er noch unbewohnten Erde hdmisch
dächten und deren Taten wir jeden Morgen in
unsere Chronik, ein uns zu diesem Zweck über-
lassenes ungeheures Rechenbuch, eintrugen in
einer Bilderschrift, die ihren Sinn nur unsem
eigenen Augen offenbarte, denn die Erwachsenen
konnten nichts sehen als ein Gewirr kühnschwei-
fender Striche, in denen sich mit einigem gutem
Willen etwa das Horn des Buffeltiers oder die
lange Schnause des Schnuffeltiers erkennen
liess. Bei diesem Spiele schieden sich schon
deutlich die Geschlechter^ denn das aggressive»
alles £Qr sich b^dirende Bulf eltier war männltclie
Erfindung, das friedliche» aber höchst naseweise
Schnüffeltier dagegen war das Werk meiner
Phantasie.
Sehr frühe wurden ¥rir in die Buchstabenwelt
eingeführt. Als meine Mutter den inerjährigen
Knaben im Lesen und Schrdben su unterrichten
begann, fand sie es rätlich, das dreijährige Mäd-
chen gleich zuzuziehen, teils um ihr Lehramt da-
durch zu vereinfachen, teils auch, um den g^en-
seitigen Wetteifer anzustacheln. An 'einem
kleinen Tischchen sitzend, wurde buchstabiert;
auf jedes der Kinder kam eine halbe Stunde,
und wer sich besonders auszeichnete, erhielt eine
Belohnung. Diese bestand in einer kleinen, bunt-
farbigen Schachtel, deren die Mutter eine Serie
auf dem Schrank vor unsern Augen aufgestellt
hatte, immer eine in der andern steckend, bis
herab zum LiUputformat« Aber auch ohne die
Prämien, die uns sehr ergötzten« gab das gemein-
same Lernen schon an sich eine köstliche Unter-
haltung ab, denn was waren die Buchstaben da-
mals für eine amüsante Gesellschaft! Ein jeder
hatte, besonders wenn er beim Schreiben etwas
abnorm ausfiel, sein eigenes Gesicht. Bin i, dem
das Tüpfelchen fehlte, war ein Blinder, das d,
wenn seine Schleife zu lang ward, ein Major mit
gezogenem Degen; da gab es ferner Knie-
scMotterer, Dickbäuche, Kropfige und mit an-
dem Geschwülsten Behaftete. Blitiinter g^Uch so
«ine geachriebene Seite einem Siecfaenfaaiw. Beld
stellte sich aber auch der Kinwttrieb dn und
half dieser bresthaften Gesellschaft auf die Beine.
Im Handumdrehen konnten wir kleine Uhlandsche
Gedichte diktiert schreiben und behielten dabei
die Verse gleich auawendig, denn beide hatten
wir für alles Metrische von klein auf ein sehr
glückliches Gedächtnis. Auch brachten wir den
Gedichten, die man uns jetzt in grosser Anzahl
lesen und lernen Hess* mit unsem drd und vier
Jahren schon die ausgesprochenste Zu- oder Ab*
neigung entgegen, wobei unser Geschmack durch-
aus nicht inuner übereinstimmte. Wenn die gute
Fina uns eins von Edgars damaligen Leibliedem
»»Der Winter ist ein harter Hann** vorsang» ein
Lied, das mich in der Seele ve i d ross» so suchte
ich ihr den Mund zuzuhalten und verlangte
flehentlich ein anderes, wobei man sich gewöhn-
lich nach einigem Streit auf den Rinaldo Ri-
naldtni einigte» der uns beiden teuer war. Darin
kam eine Stelle vor, die den Knaben, dessen Sinn
früh auf die Ergründung technischer Schwierig-
keiten gerichtet war« durch ihre Unverständlich*
keit lange tuntrieb» ohne dass ihm seine ver*
schlossene und selbständige Natur gestattet
hätte, bei anderen Aufklärung zu suchen. Bei
dem Verse: „Er lad't doppelt sein Gewehr" zog
nämlich sein Ohr awei Worte in eins ausanmien«
das »Jadoppelt" lautete» und jahrelang verfolgte
ihn das Problem, was das »»Ladoppeln^ eines 6e-
— aa5 —
wehrs für eine Manipulation sein möchte. Ich
dagegen verfuhr mit den unverständlichen
Stellen in Joiephinens Liedern sehr leichtfertig
imd kümmerte mich nie um den wahren Simi>
weil mir gerade die verstümmelten oder inein-
andergezogenen Worte die zauberhaftesten Bilder
vor die Augen führten. Ein durch Josephinens
Aussprache veranlasstes Missverständnis hat sich
mir sogar erst in reifen Jahren aufgddärt. Zu
ihren und unsem Leibstücken gehörte ,,6crtrand8
Abschied", ein in ihrer Jugend von jedem Leier-
kasten gespieltes Lied, das aber damals schon
im Verhallen war. Wenn sie nun sang:
Ich war in Riibm und Glück stets sein Gefihrte,
so vernahm mein Ohr regelmässig :
Ich war in Rom und Glückstadt sein Gefährte,
worauf sich dann ganz natürlich anschloss:
Ich will nun auch in Leyden bei ihm sein.
Doch stammt diese geographische Phan-
tasmagorie, die mich durch mächtige Raura-
vorstellungen erbaute, aus einer etwas späteren
Zeit. Alle Lieder unserer Fina wurden übrigens
so ziemlich nach der nämlichen Mdiodie gesun-
gen» die mit geringen Variationen dem jeweiligen
Versmass angepasst war und uns durchaus be-
friedigte, Etwas anderes war es freilich, wenn
mweilen des Abends der Vater mit seiner Flöte
in unser Schlaf stmmer kam, um uns durch Musik
zur Ruhe zu bringen. Er war sehr musikalisch,
und es war eine Lust, ihm zuzuhören, wenn er
auch nicht eigentlich sang, sondern nur mit ge-
[solde Kur«, HcrmHiiii Kurz. is
3^6 —
dämpfter Stimme in einer Art Rezitativ die
Irieder vortrug» deren Melodie er uns danach
auf der Flöte in den schmeichelndaten Nachti-
gallentönen blies. Wie ging uns das Geschick
des armen „Häsulein"' zu Herzen, wenn er so er-
greifend sang:
Ich Dresse ja nur die Blitterchen
Um mich daran zu aittigen
und dann den Vorwurf des guten geschundenen
Tierchens in langgezogenen Klagelauten auf der
Flöte austönte. Noch schöner aber war es» wenn
er uns das auf Mozarts Namen getaufte Schlum-
merliedchen blies: ,3chlafe mein Kindchen, schlaf
ein." Die holdselige Weise dieses Liedchens hat
sich mir so tief in die Seele geprägt, dass ich
noch jetzt zuwdlen ganz plötzlich seine Stim-
mung beim Einschlafen empfinde, jenen imbe-
schreiblich süssen Frieden der nächtlichen
Kinderstube, wenn das Nachtlicht prasselnd aus-
zugehen beginnt und mit dem Gefühl der treuen
Hut und sichern Geborgenheit die tiefe Ruh sich
medersenkt*
Mein Vater soll in jungen Jahren ein grosser
Kinderfreund gewesen sein- und sich wunderbar
mit dem kleinen VöUdein verstanden haben. Als
er selber Familienvater geworden war» kam ihm
diese Gabe mehr und mehr abhanden. Er hing
mit unendlicher Zärtlichkeit an uns, trug uns
auch, solange wir klein waren, im Wettstreit mit
der Mutter und der guten Fina, halbe Nächte um-
her» aber sein emstgewordener Sinn konnte nicht
L.iyui<.LU Oy VjQOQle
— 227 —
mehr so recht auf die kindliche Welt eingehen,
auch pflegte ihn der Länn aus dem Kinderzimmer
XU vertreiben« Daher lernten wir schon früh,
mi8 vor ihm zusammen zu nehmen, und dieser
Zwang, der einzige, der uns auferlegt war, liess
iLein so vertrautes Verliältnis wie mit der Mutter
zu. Diese mit ihrem explosiven Temperament
erschien uns immer wie eine Gleichaltrige» mit
der man sich mitunter stark entzweite und dann
wieder aufs innigste vertrug, denn Autorität ver-
langte sie keine. Den Vater aber, der nur zärtliche
und gute Worte für uns hatte, verehrten vnr wie
ein höheres Wesen, dem man sich nicht mit
seinen kleinen Wünschen und Klagen zu nahen
hat. Und so blieb es auch späterhin: so stür-
misch es im Hause zuging, vor der Studierstube
des Vaters legten sich die wilden Wellen. Es
versteht sich, dass man sie nie unaufgefordert
betrat und dass keine Aufregung dorthin mit-
genommen werden durfte; nur des Abends wur-
den wir hineingerufen. Ihm dnzeln gute Nacht
zu sagen, während er langsam seine Pfeife
rauchte, zu der er sich aus alter Gewohnheit noch
immer xnit dem Zündstein das Feuer schlug.
Ab und zu brach wohl auch der alte Humor wie-
der bei ihm durch, dann erirählte er tms Ideine
Schnurren und Eulenspiegelden aus alten
Historien, deren ich mich nicht entsinne; nur ihr
urdeutsches Schrot und Korn ist mir als etwas
Charakteristisches im Gedächtnis geblieben.
Von der äusseren Szenerie, die uns in Stutt«
15*
228
gart umgab, weiss ich wenig za sagen. Die
schöne Gartenwohnimg in der Paiilinenatr. Nr. 5,
wo wir drei Ältesten geboren sind, ist völlig für
mich im Nebel versunken. Das umgebende Grrün
machte dieses Haus meinen Eltern sehr lieb, bis
ein pensionierter Offizier, der in dem oberen
Stockwerk einzog, sie durch fortgesetztes Ge*
hämmer auf dem Klavier zum Auszug nötigte.
In der Militärstrasse, wo sie sich mm einmieteten,
kam der Dichter vom Regen in die Traufe, denn
kaum war die Einrichtung vollendet, so wurde ein
Nebenhaus abgebrochen und umgebaut, und vor
dem Krachen und Poltern musste man abermals
flüchten. Zum Glück fand sich nun in dem so-
genannten „Königsbad'', einem zwischen Stuttgart
undBerg gelegenen, ehemals königlichen Anwesen
mit grossen, hohen Zimmern imd parkähnlichem
Garten der rechte Ort. Hier gab es Stille für
das schaffende Dichterhirn und prächtige Spiel-
plätze für uns Kinder; ich kann sie in nebelhaften
Umrissen gerade noch erblicken. Der berühmte
Nesenbach — eines der Wahr^reichen des da-
maligen Stuttgart — der heute völlig überbaut
imd sogar aus der Phantasie der Kindheit ver«
schwunden ist, wälzte sich trübe und übelriechend
am Haus vorüber. Gleichwohl war er die Wonne
unsrer Jugend. Es war uns freilich verboten,
an dem Bach zu spielen, sowohl um seiner Mias-
men willen als wegen der Gefahr des Hinein-
fallens, aber dieses Verbot machte uns seine mit
Scherben und anderem Unrat stets beworfcnen
L.iyui<.LU Oy VjQOQle
— aag —
Gestade erst recht aiudehend. Und wie herr-
lich tollte sich*s in dem grossen, abwechslungs-
reichen Garten mit den steilen, g^nen Hängen,
die man eins hinter dem andern hinabkugelte.
Die gute Fina stand dabei und wusch hernach
geduldig die Grasflecken aus den Kleidern. Eines
Tages war über dem Spielen und Jagen unver-
merkt ein schweres Gewitter aufgezogen ; als der
erste Donner krachte, riss Josephine erschrocken
den kleinen Alfred auf den Arm, ihren Liebling
Edgar nahm sie an die andere Hand und lief, so
schnell sie konnte, den langen Kiesweg nach
dem Hause hinab, während ich schreiend nach-
folgte. Da schlug ein greller Blitzstrahl mit
mächtigem Zischen hart neben mir in den Boden,
dass von der Erschütterung alle Scheiben im
Hause klirrten. Das riss den Vater aus seiner
Studierstube; entsetzt rannte er in den Garten
und trug sein Töchterchen den andern nach ins
Haus. Diesem Blit2 verdanke ich% dass mir die
Lokalität im Gedächtnis geblieben ist, er steht
als ein flammendes Ausruf un^szeichen über dem
Kiesweg mit seinen niedern Buchsbaumhecken.
Die Itmenräume unserer Wohnung waren mit
den Resten einer einst kostbaren Einrichtung,
teils im Stil des Empire, teils in dem der Bieder-
meierperiode angefüllt: den alten Oberesslingfer
Herrlichkeiten, soweit sie nicht schon zu Oelde
gemacht waren. Diesen aristokratischen Erb-
stücken aus dem eigenen Hause mochte es
schlecht in den engen Räumen der Mietwohnung
230
gen» durch die sie sich jetzt schleppen lassen
mussten» behagen» aber bald sollten sie ihrer im-
ebenbürtigen Umgebung nur zu ähnlich werden,
als wir Kinder anfingen, unsere Kräfte an ihnen
• zu erproben. Die Mutter war der Meinung, dass
man den kindlichen Zerstörungstrieb austoben
lassen müsse um ihn unschädlich zu machen und
gab uns die schönen Geräte preis» auf deren Er-
haltung sie bei ihrer wahrhaft asketischen, allen
Komfort und Luxus verachtenden Sinnesart
keinen Wert legte. Wenn der Geist der Tollheit
über uns kam, sprangen wir von den eingelegten
Tischen auf den Flügel, dass es hoch aufrauschte,
und wieder vom Klavier in die damastenen Pol-
ster des Divans hinab; nach Bildern und Gips-
büsten schössen wir mit der Armbrust. So gab es
bald kaum ein Möbel m^ im Hause^ das seinen
ursprünglichen Glanz bewahrt hätte, und nur die
ausserordentliche Gediegenheit und Dauerhaftig-
keit dieser Geräte machte, dass sie uns doch noch
durch eine lange Reihe von Jahren, freilich in fast
unkenntlicher Gestalt, begleitet haben.
Nur ein Möbel gab es im Hause, das heiHg:
und unverletzlich war wie die Bundeslade der
Hebräer und von ebenso geheimnisvollen
l^chauem umschwebt: die Kommode Josephinens.
Sie barg die merkwürdigsten Gegenstände, alle
vom unschätzbarsten Affektionswert, lauter Er-
innerungen an die Grosseltem Brunnow, teils
direkt von ihnen geerbt, teils meiner Mutter ab-
gebettelt und dadurch unsem verderblichen Hän*
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
den entrückt. Da gab es Armbänder und Ringe
aus Haaren, gemalte Blumen» unvollendete Stik-
kereien, kleine Schmucksachen und Miniaturbild-
chen der Grossmutter. Eine zerdrückte Schachtel
enthielt eine unendliche Auswahl von Bändern in
allen erdenklichen Schattierungen, weiche Atlas-
bSnder in hinsterbenden Rokofeofarben, vielfarbig
geflammte und gewässerte Bänder: die ganzePoe-
sie der Schäferzeit samt dem kalten Prunk des Em-
pire barg sich in dieser Bänderschachtel. Dann
kamen die Basteleien meines Grossvaters, ge-
schnitzte und gedrechselte Sächelchen, selbstfabri-
zierte Seifen, der schwarzrotgoldenen Tochter zu-
lieb e in diese Farben gehüllt, und andere Spielereien.
Solche aufgespeicherten Schätze nehmen mit der
Zeit völlig die Natur ihrer Besutser an. Wie hat
Gottfried Keller das öde nüchtern barocke Wesen
der Jungfer Züs durch ihre abgeschmackten Rari-
täten charakterisiert. Die unserer Fina waren
im Gegentdl ganz Gemüt und Seele geworden.
Da war nicht ein Cregenstand, der sich gleich-
gültig verhielt, wenn man ihn berührte. Mit
diesem Spitzentüchlein hatte sie einst der toten
Ottilie» um die sie ewig trauerte» das Gesichtchen
sugedecktt in jener angefangenen Straminarbeit
war noch das letzte Geschenk erhalten» womit
das kranke Kind seine Pflegerin hatte erfreuen
wollen, das Nadelbüchschen aus geschnitztem
Elfenbein erzählte von den kunstgeübten weissen
Fingern unserer Grossmutter. An einem Bande
waren verkleinerte goldene Nachbildungen der
— 33* —
Onkiissterae und -Kreose des Grogsvaters auf-
gereiht und erweckten mir phantastlsclie Bilder
von Kriegszügen und Abenteuern in fernen Län-
dern. Edgar dagegen erbaute sich am liebsten
an Ghrossvaters Hausapotheke» einem Holsgestell
mit niedlichen verkorlEten und etikettierten
Fläschchen, die ihn vielleicht den künftigen ärzt-
lichen Beruf voraus empfinden Hessen. Wollte
Josephine auf ein paar Stunden Ruhe vor uns
haben» so hob sie einfach den Deckel von der
Konunode ab und setzte uns in das tiefe obere
Fach mitten unter ihre Sachen hinein, und die
Heiligkeit dieser Gegenstände redete dann so ver-
nehmlich zu uns» dass wir ängstlich, bedadht
waren nichts zu beschädigen.
Mit eben solcher Treue pflegte de die histo-
rischen Erinnerungen des Brunnowschen Hauses.
Sie war es, die uns immer wieder des Gross-
vaters Erlebnisse aus dem russischen Fddzug
erzählte, vor allem den unvergesslichen Augen-
blick, wo der junge Offizier aus Napoleons
eigenem Munde die Instruktion zur Besetzung
eines Dorfes empfing — das »Oui, Sire*' des
Grossvaters sprach sie immer mit grösster Feier-
lichkeit nach, und der Wert, den sie auf das Er-
eignis legte, Hess uns lange Z6it glauben, dass
jenes Dorf in Russland durch die militärische Be-
setzimg des Grossvaters unser Eigentum gewor-
den sei. Dann von abenteuerlichen Einquartie-
rungen, von der sibirischen Gefangenschaft und
der kühnen Flucht, die er in Gesellschaft seines
L/iyiu<.Lu üy Google
treuen Burschen quer durch Rusaland bewerk-
stellii^e. Viele Jahre später lernte ich jenen
Burschen als ehrsamen Familienvater in Weil-
heim unter Teck, wo ich ihn mit meiner Mutter
von Kirchheim aus besuchte, kennen; da ver-
nahmen wir aus seinem Hunde die Bestätigung
aller dieser Geschichten und freuten uns, wie das
Gesicht des Mannes sich belebte und verjüngte,
wenn er seines Herrn gedachte.
Im Kdnigsbad «rermehrte sich die Familie
noch um einen zarten goldhaarigen Knaben, der
die Namen Erwin Dietbald erhielt. Er wurde
am 13. April 1857 geboren. Wir waren nun unser
viere geworden, und das wachsende Häuflein
mochte wohl euiigen Stoff zum Nachdenken
geben, da des Vaters rastloses künstlerisches
Schaffen so ganz ohne materiellen Erfolg blieb.
Doch liess man sich die gute Laune noch nicht
durch Sorgen trüben. Wir teilten damals das
Haus mit einer nahe befreundeten Familie^ die
sich in ähnlichen GlücksumstSnden befand. Wenn
der Steuereinnehmer kam, so versteckten sich
die beiden jungen Frauen hinter den Bäumen des
Gartens und liessen ihm durch die Dienstmäd-
chen sagen» sie seien ausgegangen. Der Mann
verstand und entfernte sich wohlwollend mit dem
Versprechen, gelegentlich wieder einmal nachzu-
fragen. Es war aligemeiner Lebensstil, derglei-
chen nicht schwer zu nehmen; dass solche Ver-
hältnisse in der geistig bevorzugten Klasse häufig
vorkamen, machte sie für die Betroffenen ertrag*
lieh. Man nahm es mit dem Schicksal auf, das
daim immer nach eimger Zeit auch wieder nach-
gab. Im Optimismtts waren meine beiden Eltern
sich völlig gleich. Was auch für Enttäuschun-
gen kommen mochten, nie wurde in meiner
Mutter der Glaube schwankend, dass ihr Dichter
endlich durchdringen, sein Volk su sich heran-*
ziehen werde, tmd ihre Begeisterung war es, was
ihm in den schwersten Zeiten den Glauben an
sich selbst nicht sinken liess. , Ebenso wetteifer-
ten sie in der persimlichen Bedürfnislostgkett.
In den zweiundzwanzig Jahren ihrer Ehe hat sie
sich nur ein einzigesmal, auf acht Tage, von
Hause entfernt, von einer Freundin fast gewalt-
sam weggeschleppt und auf jedem Schritt sich
die Erholung missgönnend, weil er ne nötiger
gehabt hätte. Dagegen konnte sie es auch nur
mit Mühe durchsetzen, dass er sich zuweilen auf
eine kleine Erholungstour begab oder den Abend
mit Freunden zubrachte. Sie selber wollte nie
dabei sein trotz ihrer geselligen Natur; ihr ein-
ziger Umgang waren ihre Kinder. Im Königs-
bad wurde ihr Glück zum erstenmal ernstlich ge-
trübt durch jene schwere Nervenattacke, die
memen Vater nach der Vollendung der „beiden
Tubus** befiel. Es war idie St^gestion ihrer
Liebe, die uns wildem Heere trotz unserer zarten
Jahre und unserer völligen Disziplinlosigkeit da-
mals die Einsicht gab, uns viele Tage lang
musterhaft zu verhalten und durch keinen Laut
den Fortgang der Genesung zu beeinträchtigen.
Oberesslingen
Im Frühjahr 1859 nahmen meine Sltem den
Vorschlag ihres alten Freundes, des Expfarrers
und Landtagsabgeordneten Hopf, der lange Zeit
in den inneren politischen Kämpfen Württem-
bergs eine Rolle gespielt hat, an mid sogen su
ihm nach Oberesslingen, in die alte Heimat
meiner Mutter. Dieser Entschluss, aus der Not
geboren, sollte für Hermann Kurz verhängnisvoll
werden, da er ihn dem freilich schon längst stag-
nierenden literarischen Leben der Hauptstadt ent-
rückte, um ihn der tiefsten Vereinsamung ent-
gegenzuführen: uns Kindern hat er freilich eine
Reihe idyllisch schöner Jugendjahre gesichert*
Zunächst wirkte die ländliche StUle und die stete
Berührung mit der Natur sowie der tägliche Um-
gang des zuverlässigen, gleichmässig gestimmten
Freundes wohltätig auf des Vaters reizbar ge-
wordenes Nervensystem. Meine Mutter war selig
die Orte wiedersusehen, wo sie ihre Jugend und
die ersten Monde einer glücklichen Liebe ver-
bracht hatte. Noch war das Dörflein ganz das
alte; der Neckar floss still und klar zwischen
flachen Weidenuf em vorüber. Dorthin wanderten
wir an den Sommerabenden gross und klein um
im Freien zu baden, und ich erinnere mich gut,
wie eiiimal mein Vater an tieferer Stelle auf
einem mosigen Steine ausglitt und mich vom
Arme fallen lies«, dass ich untersank und be*
wusstlos wieder aufgefischt wurde. Das Hopfsche
Haus, das wir bewoiinten, lag nur wenige Schritte
von dem ehemaligen Besitz memer Mutter ent-
fernt in emer grossen Obstwiese, die von Hühnern
und Pfauen bevölkert und von einer Mauer ein-
gefasst war; es sollte das Paradies unserer Kind-
heit werden. Wir hatten zwar nur eine kleine
Mansardenwohnung; dafür konnten wir Kinder
aber fast die ganze Zeit im Freien verbringen,
daher ich mich auf die Innenräiune nicht mehr
deutlich besinne. Meines Vaters Zimmer war
ziemlich geräumig» aber niedrig und hatte nur
kleine Mansardenfenster, doch lag es zum Glück
vom Lärm des Haushalts abgesondert. Wir
kleines Volk hatten Garten und Wiese zur fast
unbeschränkten Benutzung und erhielten von
dem Hausherrn, der em grosser Kinderfreund
war, noch jedes seine eigene Rabatte zugeteilt,
die wir bebauen durften, auch gingen wir seinen
jugendlichen Töchtern in der Gartenarbeit zur
Hand oder glaubten es wenigstens zu tun, da wir
ihnen woM mehr im Wege standen als halfen.
Freund Hopf hatte damals die Redaktion des
„Beobachters" inne, die seit meines Vaters Rück-
tritt schon durch verschiedene Hände gegangen
war, und fuhr jeden Abend von Stuttgart nach
Oberesslingen heim* Der kleine bewegliche Mann
mit der rötlichen Löwenmähne und eben solchem
— 237 —
Bart widmete sein ganzes Leben den Interessen
der unteren Volkaschiclit« Eine Feueraeele mit
praktisch-nüchtemer Richtung und ausgesprochen
pädagogischer Anlage, war er von der Natur zum
direkten Erzieher imd Lehrer der niederen Klas-
sen geschaffen. Er gehörte der Generation von
Moerike und Bauer, Strauss und Vischer an, war
seinerzeit wegen burschenschaftlicher Tendenzen
aus dem Stift ausgev/iesen worden, hatte dann
später als Pfarrer sich die dürftigste Gemeinde
ausgesucht, um recht ein Helfer und Schirmer
semer 'Herde sein zu können« Er pflegte das
Landvolk auf der Kanzel über alles was ihm nütz-
lich sein konnte bis herab zur besten Düngerbe-
reitung aufzuklären. Als er zur Strafe für die
Befreiung politisch Verurteilter, darunter des
bekannten „Reichskanarienvogels^^ Rössler von
Öls, von der ihm liebgewordenen Gemeinde weg
zu einer anderen versetzt wurde, liess er sich
nicht beirren, sondern begann an dem neuen Orte
gleich sein Liebeswerk von vom. Er speiste und
kleidete die Armen, liess die Mädchen in Hand-
arbeiten unterrichten und sorgte praktisch für
seine Schafe« Durch grobe Reohtsverletzung,
die zu späterer Revision führte^ von der Kanzel
vertrieben, kaufte er sich dann ein Gut im
Schwarzwald um als Bauer zu leben, und seine
dankbaren Anhänger sandten ihm einen Wagen
voll Saatkorn sum Einstand in sein neues Leben
nach* Aber lange duldete es den tätigen Mann
nidit in der Stille« er gab seinen Besitz wieder
— 338 —
auf und übernahm die Führung des Beobachters,
die ihm noch die Zeit liess, das kleine Gütchen
in Oberesslingen za bebauen. Nachdem der
württembergische Landtag gegründet war, ver-
trat er dort durch allen Wechsel d^ Zotstrümun-
gen in seiner Person die äusserste Linke. ,,Dieser
Rote, dieser Hopf,'' so übersetzte einmal ein auf-
geräumter Politiker das Sprichwort Hic RIvkIus,
hic salta. Für die bruchlose Ganzhdt und Eui-
fachheit seines Wesens lEann man nur unter den
Gestalten des Teil einen Vergleich suchen.
Furchtlos wie sein Wahlspruch „Gradaus*', den
er später cum Titel einer mit Opfern gegründeten
und lange aufrecht erhaltenen kldnen Volkszei-
tung machte, ging er ohne rechts und links zu
sehen, seinen Weg; an seiner absoluten Uneigen-
nützigkeit haben auch seine Gegner nie gezweifelt.
Seine Wähler hielten denn auch durch sidiien-
undzwanzig Jahre an ihm fest, sogar sein glän-
zender Mitbewerber um das Vaihinger Mandat,
F. Th. Vischer, musste vor ihm die Segel strei*
chen. Hopf war auch philosophisch und huma-
nistisch gründlich tmterrichtet, ein Verehrer der
alten Literatur, doch ohne künstlerisches Bedürf-
nis, ganz aufs Moralische gerichtet. Es gehörte
zu den Eigentümlichkeiten der Achtundvierziger,
dass sie abweichende Meinung als einen Flecken
im Charakter betrachteten« davon hat Hopf eine
rühmliche Ausnahme gemacht und sich in den
politischen Kämpfen, die so oft in persönliche
ausarteten, seuie Toleranz iund Menschenliebe
— 239 —
XU bewahren gewusst. An meinem Vater wie
an allem, was er liebte» hing er mit einer Kraft
der Treae und Aufopferung, die ihresgldchen
selten findet. In allen Schwierigkeiten wusste
er einen Ausweg. In Zeiten der Überreizung ver-
stand er es liebevoll klug auf die Stimmungen des
Dichten einzugehen und ablenkend zu wirken.
Seih Auge war immer wachsam über dem Schick-
sal meiner Eltern, und wir Kinder hatten in
seinem Haus für alle Zeit eine Heimstätte.
Als wir in Oberesslingen einzogen, waren die
alten Freunde und Nachbarn meiner Mutter noch
alle am Leben ; auch die Dorfleute, die der Gross*
Vater Brunnow sich einst verpflichtet hatte,
kamen herzu, und alles überschüttete uns mit
Freundschaftsbeweisen. Das Kindergemttt meiner
Mutter jubelte, als ihr beim Einzug eine Nach-
bildung des Asbergs aus Zucker geformt, die Wälle
mit Kaffeebohnen aufgefüllt, überreicht wurde.
Die Geberin des sinnigen Geschenks, das auf die
dort verfaüsste Festungsstrafe meines Vaters an-
spidte» war ein altes Fräulein aus der Nachbar*
Schaft, von uns wie von aller Welt die „Tante
Bertha*' genannt. Hier steht sie wieder vor mir,
die unvergessüche Freundin unserer Kindheit mit
dem weissen Scheitel» worauf ein schwarzes
Fransentttcfalein gefühlvoll schwankte, den leb-
haften blauen Augen und den schmalen, von Be-
geisterung stets geröteten Wangen. Sie war die
Hilfe der Bedrängten, der Trost der Klagenden»
ein Feueihrand gegen alle Tyrannen» eine llat-
— a40 —
tcmde Fahne der Freiheit. Noch ganz erfüllt
von den Achtundvierziger Idealeiif machte sie
sich xiir Age&tiii der Volkspartei und verstand
eil geschickt» die demokratischen Wahlsettel in
dem Bezirk unterzubringen. In ihrem Kopf
thronten die erhabensten Vorstellungen von Frei-
heit und Völkerglück; dabei vernachlässigte sie
aber auch ihren kleinen Kramladen an der unteren
Borfstrasse nicht. Jedem Bauern, der sich eine
Cigarre kaufte, legte sie seine Bürgerpflicht, frei-
sinnig zu wählen und den , »Beobachter*' zu lesen,
ans Hers. Sie hatte die Gewohnheit, jede Steck-»
Näh- und Haarnadel vom Boden aufsuheben» und
wenn ein Häuflein beisammen war, zu sortieren,
zu polieren und wieder zu verkaufen. Die
Fadentrümmchen, die da und dort hängen bliebe»
wickdte sie sorgfältig auf ein Kärtchen und nähte
damit ihren eigenen Bedarf. Wer sie so zusam-
menklauben sah, musste sie für die geizigste
Person von der Welt halten, und doch war sie
gerade das Gegenteil. Sie sparte bloss an sich
selbst» gönnte äch nur das Schlechteste, be-
rührte, wenn sie zu Gaste war, die Speisen kaum,
nahm keinen Zucker in den Kaffee, aber für
andere wusste sie immer etwas zurückzidegen,
und kern Armer ging unbeschenkt aus ihrem
Hause. Das seltsamste war, dass sie aus un-
widerstehlichem Triebe jedem Leichenzug folgen
musste, gleichviel ob sie den Verstorbenen ge-
kannt hatte oder nicht; auch an fremden Orten,
wo sie sich nur vorübergehend aufhielt, befolgte
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
siediesen Brauch, ja sogar den politischen Gegnern,
die sie sonst grimmig hasste, weihte sie am
Grab ihre Zäfare» und man konnte wirklich von
ihr sagen:
Ob heilig^ ob er böse,
Jammert sie der Unglficlcsinftnn.
Überhaupt war sie in immerwährender Be-
wegung« Hatte sie politische Geschäfte in Stutt-
gart, so übergab sie den Kramladen ^er ihrer
Nichten, marschierte nach Esslingen und dampfte
von dort in die Kesidenz. Sie half bei jedem
Umzug» und war irgendwo in befreundeter Fa-
milie eine Krankheit ausgebrochen, so erschien
sie als Pflegerin. Trotzdem fand sie immer noch
Zeit zum Lesen und beschäftigte sich besonders
gerne mit geschichtlicher Lektüre» durch die sie
sich wie durch etwas Gegenwärtiges aufregen
Hess. Ich habe sie einmal gans unvermittelt bei
Tische in Tränen ausbrechen sehen über den Tod
des Sokrates. Uns Kindern pflegte sie auf Spa-
^iergängen» zu denen sie uns häufig mitnahm,
mit hohler» von Bewegung zitternder Stimme die
Polenlieder vorzutragen, die in der Zeit ihrer
Jugend allenthalben verbreitet gewesen waren.
Der „tapfere Lagienka"' und der »»sterbende Kos-
dusko" wurden durch »ie unser täglicher Um-
gang» und wenn sie gar die »letzten Zehn vom
vierten Regiment'' aufmarschieren liess, so war
es unmöglich, nicht mit ihr an den Ufern der
blutgeröteten Weichsel zu jubeln und zu trauern.
Unter den Gliedern ihrer eigenen Familie teilte
Isolde Knrz, Hannaim Kurs. z6
— 94^ —
nur ihre jüngste Nichte, ein blasses herzkrankes
Mädchen» ihren Schwung. Diese war als Kind
von meiner Mutter, die stets das Bedürfnis hatten
andere an ihrer geistigen Welt teihidunen sa
lassen, in Geschichte, Mythologie, Literatur und
auch ein wenig im Französischen unterrichtet
worden und hatte darin einen Ersatz für die
versagten Jugendfreuden gefunden* so dass sie
ihre kurze Lebenspanne h^ter verbrachte» sehr
viel las, auch Verse und Komödien schrieb, was
ihr in ihrem eigenen Kreise Bewunderung und
Überschätzung eintrug» meiner Mutter aber die
rührendste Anhänglichkeit und Dankbarkeit von
ihrer S^te.
In dem ehemalig Brunnowschen Hause
wohnte um jene Zeit ein ganz merkwürdiges
Paar» der alte Baron von Rieger mit seiner geist-
reichen, ihm in allem unähnlichen Gemahlin. Er
war ein später Abkömmling jenes Ob ersten Riegcr,
berufenen Andenkens aus „Schillers Heimat-
jahren", ein sehr gelehrter Herr, der in seiner
Jugend als Gesandtschaftsattach6 weite Reisen
gemacht hatte und den Hafis und Tausend und
Eine Nacht in der Ursprache las. Aber im Kopfe
war es bei ihm nicht ganz richtig« In seinem
niegelüfteten Zimmer hielt er eine grosse Anzahl
Papageien» die ihminden verschiedensten Sprachen
entgegenkrdschten; noch meine ich sone durch-
dringende Stimme zu hören, wie er seinem Lieb-
ling, einem grossen weissen Kakadu Achillel
Achillel rief« In jungen Jahren hatte er durch
Spid und Vcrachweiidiiiig eiii imgehcures» von
«einer englischen Mutter stammendes Vermögen
durciigebracht; er soll ein so schlechter Haus-
hälter gewesen sein, dass er Kapitalscheine und
Banknoten haufenweise am Boden liegen liess,
wo i^e von den freilebenden Papageien zerbissen
oder auch vom verschütteten Badewasser der
Vögel eingeweicht wurden. Jetzt lebte er mit
seiner Frau in tiefster Armut. Man sah ihn oft
im grauen» schlotternden Schlafrock, ein kleines
schmieriges Mützchen auf dem Kopf und rote
Pantoffel an den Füssen durch die Felder
schweifen; dass ihm dabei die Gassenjungen nach-
liefen, beachtete er nicht, denn er sprach ara-
bische Verse vor sich hin. Nach vier bis fünf
Schritten blieb er jedesmal stehen und betrachtete
über die Schulter seine aufgehobene Sohle; wegen
dieser Gewohnheit hiess er im Dorfe der „Absatz-
baron''» und man behauptete, er sehe sich noch
immer um» ob ihm nicht eine Banknote am Schuh
hange. Ich stand als kleines Kind dnmal dabei»
wie er in den Laden der Tante Bertha trat und
für einen Kreuzer rot und weisses Baumwollband
kaufte um seinen Schlafrock damit zu gürten.
Die Elle wollte um seinen hageren Leib doch
nicht reichen» deshalb schnitt ihm die Tante
Bertha noch um einen zweiten Kreuzer ab und
knüpfte die Stücke zusammen, worauf er mit
xwei Knoten um den Leib versehen abzog. Dass
die Tante Bertha ihn „Gnädiger Herr" titulierte^
sich aber doch nicht dasu verstand» für sdne swel
i6*
Kreuzer ihm ein neues, ganzes Stück abzu-
schneiden, verfolj^e mich lange mit peinlicher
Kontrastwirkung* Die befreundeten Familien
sorgten für die Küche des verarmten Hauses» in-
dem sie Speisen und Vorräte hinüber schickten.
Doch hinderte die Not ihn nicht« von Zeit zu
Zeit nach der Stadt zu gehen» und m emem be-
kannten Spielwarenladen teunes und für jene
Zeit sehr kompliziertes Kinderspielzeug einzu-
kaufen, an dessen Mechanik er sich einsam ver-
gnügte. Da gab es grünlackierte Brunnen, aus
denen man Wasser pumpte und Mühlwerke, die
unter Gerassel das oben eingegossene Mdil an
anderer Stelle wieder von sich gaben. Wir Kinder
durften zuweilen, wenn wir krank waren, hinter
dem Rücken des Besitzers mit diesen Herrlich-
keiten spteleUt und einmal führte uns Frau von
Rieger heimlich auf ihren Speicher» wo die
Schätze des Barons aufbewahrt lagen, und liess
uns da in einen ganzen Himmel blicken. Das
Hauptstück war ein rot- und wdssgestrichenes
blechernes Schifflein, das Idcht uns Kinder
selbst hätte fassen können; es einmal heimlich
herabzuholen und auf dem Neckar schwimmen
zu lassen, bUeb für Edgar und mich ein unerreich-
barer Herzenswunsch. .
Frau von Rieger war die intimste Jugend-
freundin meiner Grossmutter gewesen und hatte
nach deren frühem Tod ihre Liebe auf meine
Mutter übertragen« Ausserlich glich sie einer
Nippesfigur» Alles an ihr war klein und zierUcht
L/iyiu<.Lu üy Google
— «4$ —
der Anzttgr ' äusserst sorgfältig gehalten; die
braunen Haare in Löckchen geringelt. Von Zeit
zu Zeit zog sie eine niedliche blaue Dose hervor
und führte mit einein kleinen goldenen LöHel-
chen etwas Tabak an die Nase; eine Marquise
vom Hofstaat Ludmgs des Fünf zdmten konnte
sich dabei nicht stilvoller bewegen.' Überhaupt
war sie in ihrem ganzen Wesen eine Nachzüglerin
des graziösen, leichtlebigen und tapfem acht-
zdmten Jahrhunderts» an dessen Ausgang sie das
Licht erblickte. Aus grossem Reichtum in die
äusserste Dürftigkeit versetzt, schien sie unter
ihrer Verarmung nicht zu leiden, denn sie war
immerzu geistig beschäftigt, lesend und schrei-
bend oder auf langen, einsamen SfMiziergängen
durch die Gegend streifend, wobei sie sich in die
vergangene Zeit versenkte. Meinen Vater, der der
winzigen, etwas tauben Dame stets mit zartester
Ritterlichkeit begegnete^ liebte sie ausnehmend
und nannte ihn den „schönen Herkules'\ Wie der
französische Emigrantenadel wusste sie sich in
die beschränkteste Lage zu finden, ohne von
der Vornehmheit ihres Auftretens das geringste
einzubüssen« Sie ass nur wie «n kleiner Vogel
und trank niemals Wein, aber jeden Morgen er-
hob sie sich vor Sonnenaufgang und wanderte
nach dem eine Stunde entlegenen „Zeller Brünn-
lein'% um dort ein grosses Glas frisches Wasser
zu trinken« Nur ihre ästhetischen Zirkel konnte
sie nicht verschmerzen. Des Abends deckte sie
sich jetzt selbst den Teetisch mit der gewohnten
— a4<^ —
Bilanz und PünktUchkei^ denn ihr Süberseu;
hatte sie gerettet; die silberne Zuckerdose ent-
hielt auch noch Zucker, aber Tee und Rahm
fehlten, doch die Gäste, die sich einfanden, mach-
ten keine Ansprüche: bei jeder Tasse lag eine
Visitenkarte ids Repräsentant irgendeiner ab-
wesenden oder wohl auch schon verstorbenen
Persönlichkeit, und sie soll abendelang mit der
stillen Gesellschaft die angeregteste französische
Konversation geführt haben. Ob sie dieses Aus-
konftsmittel von dem berühmten „Justizrat Hasen-
treffer" entlehnt hatte oder ob sie selbständig dar-
auf verfallen war, weiss ich nicht. Tatsache ist,
dass sie sich auf diese Weise für die verlorenen
geselligen Genüsse schadlos hielt, und ich er-
innere mich genau, dass eines Abends meine
Mutter von einem Besuch bei ihr nach Hause kam
und erzählte, wie soeben die alte Dame sie mit
einem wehmütigen Lächeln entlassen habe, weil
sie ihre stillen Gäste erwartete. Dies geschah
jedoch ohne eine Spur von Mystizismus, denn
Frau von Rieger huldigte einer Aufklärung im
Sinne Voltaires und seiner Zeitgenossen. Ihre
Kultur war eine französische^ obwohl reines
deutsches Blut in ihren Adern floss, und sie soll
sich erst vom Jahre Achtundvierzig an, als sie an
eine Zukunft Deutschlands glauben lernte, zu
der deutschen Sprache bequemt haben. Die
feine Aristokratin las sogar mit grossem Wohl-
gefallen die derben Schriften eines Johannes
Scherr, weil sie darin die Verherrlichung des
Vaterlandes fand. Im Jahre Siebzig loderte aie
in Flammen der Begeisterang auf» allein wie aehr
aie nun auch jeden Etnflusa des „Erbfdndes" ab-
schwor, das Gepräge ihres Geistes, die Art ihrer
Konversation und ihr ganzer Lebensstil war
und blieb fransösiscb» doch ein Fransösisch des
achtsehnten Jahrhunderts. Es hat mir immer an
ihr gefehlt, dass sie nicht einen schnupfenden
Abbe mit Schnallenschuhen zur Begleitung hatte.
Ein freundliches Geschick wollte^ dass sie
kurs nach imserm Wegzug von Oberesslingen
von Seiten der englischen Verwandten ihres
unterdessen verstorbenen Mannes die Nutz-
nicssung eines Nabob-Vermögens erbte. Sie be-
nutzte das Geld fast ausschliesslich zum Wohl-
tun» zur Linderung von Armut» deren Druck sie
selbst empfunden hatte» und zur Förderung ge-
meinnütziger Interessen, indem sie für sich selbst
nur wenig verbrauchte. Die Zeit erschien macht-
los dieser seltsamen Persönlichkeit gegenüber;
als ich sie fünfzehn Jahre nach den Esslinger
Tagen inCannstadt wiedersah, hatte sie noch die-
selbe schlanke, zierliche Gestalt, denselben aristo-
kratischen Kopf mit den braunen, vollen Locken,
und auch das goldene Löffelchen in der blauen
Tabati^e war noch in Tätigkeit. Sie sollte ein
nahezu biblisches Alter erreichen, ohne dessen
Trübsal zu kosten« denn ihre Seele schien im
Genuss des Wohlstandes nur inuner noch frischer
und jugendlicher zu werden« In den 8oer Jahren
plante sie noch einen Besuch bd uns in Floren^
— 24S — *
der aber nicht mehr zustande kam. In ihren
letsten Briefen an meme Mutter erzählte «e ia
Makamenform, wdche Dichtart ihr bei der rdoi
verstandesmässigen Anlage ihres Geistes offenbar
besonders zusagte, drollige Erlebnisse einer
Schweizerreise und ergoss über einen »unreifen
Springinsfeld von siebzig Jahren'% der der rdfen
Neunzigerin seine Hand angeboten hatte, noch
einmal die Fülle ihres französischen Esprits.
Zu den originellen Gestalten, von denen das
kleine Oberesslingen wimmelte, gehörte auch
ihre Nachbarin und Freundin, das alte Fraulein
von Bär. Auch diese war eine von den Intimen
meiner Grossmutter gewesen und hatte ihre
Neigung auf die nachwachsenden Generationen ver-
erbt. Obgleich nicht gross, war sie von impo-
santer Erscheinung, brünett, ein wenig beleibt
und trug sich immer weiss mit einem grossen,
nickenden Gartenhut nach einer längst ver-
schollenen, aber mit dem idyllischen Charakter
des Ortes harmonierenden Mode. Aus einer ver-
armten Adelsfamilie stammend, war sie in ihrer
Jugend als Gouvernante in ein vornehmes Haus
nach Italien gekommen; von dort hatte sie wohl
die anmutige Grandesza ihres Wesens mitge-
bracht. Nach ihrer Rückkehr erhielt sie ihrer
aussergewöhnlichen Bildung wegen den Posten
einer Vorsteherin am „Katharinenstift" in Stutt-
gart, wo sie sich grosser Beliebtheit erfreute, aber
ein zunehmender Mystizismus, mit dem sie auch
die Schule za förben suchte, machte ihre Stellung
L/iyiu<.Lu üy Google
— 249 —
imlialtbar. Nach ihrer Pensionienuig lieu sie
sich von mdnem Orossvater, der nach allen
Richtungen dile^erte, das kleine, niedliche,
einem Spielzeug gleichende Schweizerhäuschen
hauen, das sie noch zu unserer Zeit mit ihrer
schwachsinnigen Schwester hewohnte; auch die
Tannen, die es ringsum beschatteten, waren von
seiner Hand gepflanzt. Wieviel sie aber auch
auf den alten Herrn hielt, in ihrem Geisterglauben,
der seinem Rationalismus sehr zuwider war, Hess
sie sich nicht von ihm irre machen. Sie geriet
vielmehr mit den Jahren immer tiefer in den
Bann der „Seherin von Prevorst". Unter ihren
Tannen ging sie oft gestikulierend auf und nieder
und nnterredete sich auf italienisch mit der
Geisterwelt, weU dies die Sprache ihres früh-
verstorbenen Jugendgeliebten war. Den sdctire-
rischen Rciseprediger Gustav Werner liess sie
Vorträge in ihrem Gartensalon halten. Das
hinderte sie aber durchaus nicht» feine Weltdame
mit politisch-fortschrittlicher Gesinnung za sein«
In ihrem Zimmer hing ein lebensgrosses Bildnis
Garibaldis, für den sie schwärmte. Von ihr war
die Vorliebe für alles Italienische auf meine
Mutter übergegangen» die wiederum uns schon
in den frühsten Jahren auf italienische Sprache
imd Literatur hinwies.
Auch unseres Nachbars sei hier gedacht, des
schönen Nimrods Rommel mit den gewaltigen
Hunden» für den alle Dorfmadehen glühten» und
der von früher Jugend an meine Mutter schwär-
meriflch verein hatte. Jetst ttbertrug er adne
Liebe auf die Kinder, besonders auf das Töchter-
chen, das er zu ihrer höchsten Wonne bisweilen
im Hofe auf seinem hochbeinigen Rappen reiten
Hess. — All diesen originellen Menschen war eins
gemeinsam : sie lebten in einer Enge» die man sich
heute kaum mehr vorstellen kann, und trugen die
Weite der ganzen Welt in ihren Herzen.
Äussere Ereignisse gab es in dem kleinen
Dorf keine; die Zeit stand vollkommen still*
Höchstens, dass ab und zu ein Zigeunertrupp
durchzog und die Zigeunerwdber 2sum Betteln
und Wahrsagen im Haus erschienen. Waren sie
jung und schön, so eilte meine freigebige Mutter
an einen grossen Schlaf diwan» dessen als Truhe
dienender Hohlraum die Reste verschwundener
Pracht^ Hofkleider der Grossmutter, gewirkte
Schals und Schärpen, Spitzen und Stickereien
barg. Da holte sie irgendein rot- oder gelb-
seidenes Prunkstück hervor, um den braunen
Zigeunemacken damit zu schmttcken* Dann wurde
mein Vater gerufen, damit er sich mit der Be-
schenkten auf Rotwelsch unterhalte. Ihm war
der Zigeunerjargon geläufig aus den Zeiten,
wo er wegen der Studien zu den »Heimatjahren*'
und zum ,»Sonnenwirt'' mit dem fahrenden Volk
im Lande herumgezogen war, um ihre Sprache,
ihre Gebräuche und Anschauungsweise kennen
zu lernen, vor allem» um die mündlichen Uber-
lieferungen vom Hannikel zu sammeln. Die
Zigeuner sind bekanntlich sehr zurückhaltend
251 —
vaat allem» was ihren Stamm imd seine £rinnenm<*
cen betrifft ; gegen meinen Vater aber waren säe
nicht karg gewesen, wie die zwei grossen Romane
bezeugen, und meine Mutter suchte jeder durch-
ziehenden Zigeimertruppe den Dank dafür durch
Geschenke abautragen» die bei dem dauernden
Geldmangel des Hauses nur in solchen vererbten
Putzstücken bestehen konnten. Da der Inhalt
besagter Truhe mich immer lebhaft beschäftigte,
wollte mein Vater mich einmal hinter dem Rücken
der Mutter damit erfreuen; er 20g den schweren
Deckel in die Höhe, aber im Augenblick, wo ich
mich nicderbeugter*blieb ihm der lederne Griff in
der Hand, und der Deckel fuhr schmetternd zu,
dass ich gerade noch den Kopf zurückziehen
konnte. Der namenlose, versteinernde Schrecken,
den ich in seinem völlig erbleichten Gesichte las,
gab mir für diesen Tag in meinen eigenen Augen
eine nicht unbehagliche Wichtigkeit.
Um jene Ztit schrieb er den Text zu Weissers
^,Bilderatlas zur V/eltgeschichte*^« Die m seinem
Zimmer aufgestellten Stiche und Zeichnungen
nach den schönsten Antiken, nach Statuen luid
Reliefs, nach Vasen und Gemmen machten auf
imsere Kinderseelen tmen unauslöschlichen Ein-
druck. Wir mühten uns sie ohne Anleitung
nachzuzeichnen und liebten sie auch noch in den
Ungestalten, die wir selbst hervorbrachten.
Die Mutter kam diesem Interesse entgegen, in«
dem sie uns mit der homerischen Gotter- und
Heroenwelt bekannt machte, die schon ihre eigene
üy Google
2^3
Jugend durdileuclitet hatte* Meiii GroBSvater
Brunnow mit teineiii Sinn für drastische Komik
hatte dereinst der Tochter die Blumauersche Tra-
vestie der Aeneide in die Hände gegeben, aus der
sie, den niedrigen Ton ignorierendt das reinste
Entzücken am Gegenstande sog: sie gab uns
dafür die IHas. Alsbald wurden die schönen Ge-
stalten des Bilderatlasses lebendig, sie stiegen aus
den Blättern herunter und lebten mit uns selb-
ständig weiter» in viel höherem Masse, als die
Erwachsenen wussten. Wir führten in unseren
Spielen ihre Taten auf und verwuchsen gans mit
ihnen. Es gab eine Zeit, wo wir schlechtweg
an die griechischen Mythen glaubten, und die
schönen, stmnmen Götterbilder gewannen mehr
Binfluss auf uns» als die ganze lebende Um-
gebung, die ja häufig einen Stich ins Groteske
hatte. Wie oft wurde in unserem Grasgarten die
heilige Troja mit ihren Mauern aus Lehm auf*
geführt, dann verteidigt und gestürmt und
schliesslich dem Brdboden gleich gemacht. Die
Mutter Hess uns Helme und Schilde aus Pappe
und Goldpapier sowie hölzerne Lanzen anfertigen;
Pfeile tmd Bogen machten wir uns selbst» dazu
bekamen wir noch Sandalen an die Füsse, und
ich erhielt ausserdem ein Panzerhemd» worauf
ein goldenes Medusenhaupt leuchtete, denn ich
hatte nichts geringeres als die Gestalt der Athene
gewählt, um sie in meiner Person darzustellen —
vielmehr war sie mir ganz von selber zugefallen»
weil Edgar, der überall der Erste sein musste»
«53
sofort in die RoUe des Achilleus gefahren war,
und unser zsrtes gegenseitiges Verliäitnis es mit
sieh beachte« dass ich ihm ahi Helferin zur Seite
trat. Wir hatten auch vereinte Kräfte nötig, um
unsrem Alfred, genannt „Butzel", zu widerstehen,
der gerade damals ein Stadium unbezälmibarer
Wildheit durchmachte. Er» der an natürlicher
Oüte uns alle weit übertraf, war zu jener Zeit und
noch lange danach in seinen Kraftausbrüchen fast
unnahbar. Da ihm am wohlsten war, wenn er
wie ein Eber daherremien oder sich brüllend am
Boden wälzen konnte, so gab es nur einen Gott»
dessen Züge ihm passten, den tobenden Kriegs-
gott, und er hat auch seine Aresrolle stets mit
der tiefsten Überzeugung gespielt. Auch unsem
kleinen Erwin nötigten wir, sich mit Pfeil und
Bogen an den wilden Kriegsspielen zu beteiligen,
woran er aber bei seinem zarten Alter weniger
Gefallen fand« Er war übrigens jetzt nicht mehr
der Jimgste; am i8. Mai x86o war noch tm Nach-
zügler erschienen, ein vierter Knabe, zwar un-
gerufen, aber nicht minder willkommen. Da
meine Mutter sich um jene Zeit für die Befreiung
Italiens begeisterte, verlangte sie, ihm den Namen
Garibaldi zu geben. Mein Vater willigte em, weil
er sich erinnerte» dass irgenddn alter Langobar-
denherzog Garibald geheissen, weshalb er den
Namen als einen deutschen ansprach; er stiftete
aber noch den zweiten, Winfried, hinzu, denn
dieses Reservatrecht hatte er sich gewahrt, V^r
Geschwister aber nannten ihn Balde, und diesen
— 354 —
Namen behielt er fortan; so fehlte ihm nur einer
zu dem jugendlichen Sonnengott der Germanen,
an den er später durch seine atrablend^ von
keinem Leiden je zu trübende Hdterkdt und
durch seinen jugendtod nur allzusehr erinnern
sollte.
Wie auf einer weltfernen Insel hausten wir
hinter unserer Gartenmauer, die zwar nicht hoch
aber doch bedeutend höher war als wir selbst,
auf den Raum eines Obstgartens angewiesen, den
wir für ein Stück Griechenland hielten, und wuss-
ten nichts, rein gar nichts von der Aussenw^t,
noch von dem Jahrhundert, in dem wir lebten. Ein
Besucher verdarb es einmal schwer mit uns, in-
dem er uns dem Kostüm nach für Perser hielt,
welches doch tmsere Erbfeinde waren. Im Dorf«
lein aber erregte unser Tteiben, von dem man
nichts begriff, Kopfschütteln tmd Ärgernis. Die
Welt war nicht mehr so harmlos wie in der
Jugendzeit des Fräuleins von Brunnow, das un-
behelligt als Jungfrau von Orleans durch die
Felder spazieren konnte; uns war die Dorfjugend
aufsässig, die das Blinken unsrer goldenen Waffen
für eine Herausforderung ansah, und sobald wir
den Fuss aus den Mauern setzten« waren wir in
Feindealand. Dies nahm uns auch nicht wunder;
denn in den groben Bauemjungen, die uns
Schimpfwörter und Steine in den Garten warfen,
sahen wir feindliche Barbarenvölker, als was sie
nch schon durch ihre rauhe Aussprache darstell-*
ten. Der Edle von der Mancha hat nicht über-
L/iyiu<.Lu üy Google
zeugter für seine Irrende Ritterschaft gestritten
als wir für unser eingebildetes Griechentum. Wir
gaben ihre Würfe tapfer zurückt wozu die Ross-
kastanien unterm Haus die Geschosse lieferten»
und wagten auch gelegentlich einen Ausfall durch
ein Seitenpförtchen» wenn so ein Trupp vorüber-
kam« Doch nicht alle warea uns feindgesinnt» es
gab auch solche^ die unser Zustand erbarmte, und
unvergesslich ist das zwölfjährige Bauern-
mädchen, das einst zu einer Missionsreise über
die Nachbarmauer stieg, glühend von Nächsten-
liebe und mit einem grossen Korb voll Birnen von
der feinsten Sorte ausgerüstet, um uns durch
wohlgemeinte aber ganz unverdaute Brocken aus
der Kinderlehre von der Nacht des Götzen-
dienstes» der sie uns verfallen wähnte, zu erlösen.
Das alles hatte die Beschäftigung unsres Vaters
mit dem Weisserschen BUderatlas in folgen-
schwerer Verkettung nach sich gezogen.
Unter den Geschwistern standen Edgar imd
ich uns immer noch am nächsten; wir hatten ja
schon ein Menschenleben in verkleinertem Mass»
Stab zusammen durchlebt, bis die andern uns
nachkamen. Er war das anerkannte junge Ober-
haupt des Hauses und hielt darauf, in seinen Vor-
rechten nicht verkürzt zu werden. Mit seinen
Sachen, auf die er bei seinem staricen Ichgeffih!
grossen Wert legte, durfte nur ich spielen, und
auch ich nur, wenn er bei Laune war ; er forderte
mich dann wohl einmal schriftlich dazu auf* Wir
beide pflegten aus der lauten Ausgelassenbett
L/iyiu<.Lu üy Google
ganz tief in uns selbst zurückzukehren, wobei ein
jedes seinen eigenen Weg ging; er beobachtete
alsdaxin stille die Natur, fing Salamander» Wasser-
spinnen, Kaulquappen» während ich von f emen»
raunenden Rhythmen rastlos umher getrieben
war. Dabei griff er alles anders an als andere und
führte es auf seine Weise hartnäckig ans ZieL £r
lernte spielend, man kann es kaum lernen nennen,
denn womit er in Berührung kam, das fasste er
imd hielt es fest. Auch mir fielen die Dinge von
selber zu, allein sie fielen ebenso leicht wieder
von mir ab^ während er das seinige nicht mehr
los liess. Aber seine nervöse Reizbarkeit und ein
Mangel an derberer Lebenslust, der ihm noch von
den kränklichen Kinder jähren anhaftete, schuf
dem Hause viele Not. Beim Anblick des gedeck-
ten Tisches entlief er gewöhnlich in den Garten;
seine Fina, die ihn anbetete» lief ihm dann mit dem
Suppenteller die kreuz und quer nach und suchte
ihn durch das Versprechen eines Sechsers zum
Essen zu verführen. Solche Freiheit konnte er
sich erlauben, weil das wirkliche Familienhaupt
an der Mahlzeit keinen Teil nahm. Dem Vater
musste das Essen aufs Zimmer gebracht werden»
wo er stehend und gehend ein paar Bissen zu sich
nahm» Er kam wohl zuweilen zur Mittagsstunde
herüber um einen raschen Bück auf unsre blonden
Köpfe zu werten und sich an unserer Esslust zu
freuen, denn wir andern waren keine Kostveräch-
ter, aber das Gewirr jugendlicher Stimmen konnte
er schon damals nicht auf längere Zeit ertragen.
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
Unser Unterricht lag nach wie vor in den
Händen der Mutter» nachdem ein Dorf achullehrer
vorübergehend sugesogen und bald wieder ent-
lassen worden war, weil er den lebhaften Alfred
nicht zu behandeln verstand. Sie weihte uns
jetzt in die lateinische Grammatik ein, die sie sich
selber «nstmals aum grössten Teil auf autodidafc*
tischem Wege angeeignet hatte. Gewiftmlich
musste aber der Unterricht unter dem Drang
der Umstände noch mit irgend einer häuslichen
Verrichtung verbunden werden, so dass die Auf-
merksamkeit der Schüler wie der Lehrerin eine
sehr geteilte war. Mir brachte sie noch überdies
des Morgens die Anfangsgründe des Französi-
schen und Italicnischen bei und strählte dazu
meine langen unbezähmbaren Haare» wesshalb
dieser Teil des Stundenplans meist mit Geschrei
und Tränen endigte. — Als ich später Goldonis
Locandiera, die wir so zusammen lasen, auf italie-
nischen Bühnen wiedersah, da wunderte ich mich
über die lachende Grazie dieses Stücks — aus
unsrer Kämm- und Sprachstunde war es mir nicht
in so sonniger Erinnerung geblieben. Unser
Unterricht war also ein sehr sprunghaitor, da-
gegen aeichnete er sich durch ausserordentliche
Vielseitigkeit aus; ein bisschen Ordnung imd Zu-
sammenhang musste ich mir später mit Mühe
dazu erwerben, was den Brüdern durch die Schule
leichter gemacht wurde*
Vollkommen verboten waren mir dagegen die
weiblichen Handarbeiten, für die ich ^e von der
Isolde Kurs, HermanD Kurz. I7
— sjS —
Grossmutter Bruimow ererbte Neigung hatte : mein
Mütterlein verachtete sie tief und wollte sie des-
balb» wenn nötig, eher selber tun» als gestatten,
dass ihre Tochter sich damit bef asste« Ich musste
also dieser Vorliebe, die mir auf keine Weise aus-
zutreiben war, heimlich frönen, wodurch sie sich
erst recht in mir befestigte. Wie oft sass ich mit
Nadel und Scheere in irgend einem Winkel ver-
steckt um mir aus dem Inhalt der alten Tttihen
und Schränke irgendein Gewandstück zurecht-
zuschneidern, ja ich erinnere mich, einmal mit
dem schlechtesten Gewissen von der Welt heim-
lich Alfreds zerrissene Höschen geflickt zu haben,
denn wenn ich mich über der Arbeit ertappen
liess, so wurde sie mir unnachsichtUch wegge-
nommen und durch eine lateinische Grammatik er-
setzt* Nicht einmal bei Josephinen, sonst der
Vertreterin des juste tnilieu, fand ich in solchen
Fällen Unterstützung: so ganz war sie eins ge-
worden mit ihrer Herrin, dass sie mich immer
schleunigst aus der Küche entfernte, wenn ich ilir
etwas von ihren Künsten ablernen wollte.
Besonders eine Heimlichkeit gab es im Hause,
von der ich strenge fem gehalten wurde und die
mit dem Reiz einer verborgenen Kulthandlung
auf mich wirkte. — In später Nachmittemachts-
atunde kamen je und je nnhcindiche, nomenhaft
aussehende Weiber mit Laternen aus dem Dorfe
angerückt» um sich unter Josephinens Leitung in
der Waschküche zu versammeln. Es war das
Mjfsterium der Monatswäsche, die nach uraltem
Brauch, wovon Josephine nicht lassen wollte» in
tiefer Stille der Nacht vor sich ging, denn am Tag
wäre nach ihrer Überzeugung kein Segen bei dem
Werke gewesen* In solchen Zeiten war der
Morgenkaffee dtinner als sonst, dn Seifei^^ruch
ging durchs gance Haus, und die Reissuppe, die
es alsdann am Mittag gab (auch das gehörte zum
Ritus), schmeckte gleichfalls nach Seife. Da mir
trotz aller Bitten das Zusehen nie gestattet wurde^
schlich ich mich einmal heimlich ein mit dem
Schauer des Uneingeweihten der sich zur Isisfeier
drängt. Ich wohnte der heiligen Handlung des
Laugebereitens bei, sah die Schicksalsfrauen
reibend und spritzend am Waschtrog stehen, wo
der Seifenschaum klatschte, und hörte, wie sie
ihre intimen Erfahrungen über die Vorgänge in
den Nachbarhäusern austauschten. Josephine
stand ernst und edelmilde unter ihnen und sprach
nur um die Sdfenschlacht zu dirigieren. Es war
das Schöne an ihr, dass sie gegen die Angehörigen
ihres eigenen Standes gar keinen Hochmut zeigte,
sondern ihre höhere Kultur bloss durch das schwei-
gende Ablehnen des Klatsches und der Kleinlich-
keit an den Tag legte. Erst als eine der Wasch-
frauen die besorgte Frage stellte, ob wohl der
Morgen gutes Aufhängewetter bringen werde,
öffnete sie den Mund und antwortete mit ihrem
tiefen wohlklingenden Organ: „Das wissen die
Götter!'' — Die Gute ohne es zu bemerken,
gleichfalls in den homerischen Stil geraten.
Dieses edle Herz, dessen HüUe damals zu
17»
schrumpfen begann, diente nicht nur in jener
kargen Zeit ganz ohne Lohn weiter» sondern ver-
wendete noch ihr Erspartes zur Ausbesserung
häuslicher Schäden und zu Geschenken für die
Kinder,
Der Fremdling
Mit dem Umzug nach Oberesslingen beginnt
in meines Vaters Leben deutlich die absteigende
Kurve. Der Aufenthalt war zuerst nur provi-
sorisch gemeint« bis sich m Stuttgart» aus dem
wir durch den Verkauf des ^^KÖnigsbads'^ ver-
trieben worden waren, eine neue passende Woh-
nung gefunden hätte, aber man blieb, und dieses
Bleiben wurde dem Dichter verhängnisvoll^ denn
das Landleben ist fttr den Schaffenden nur als Er-
holung, nicht als dauernder Zustand günstig.
Hier traf es noch mit einer Zeit der tiefsten
Enttäuschung zusammen. Seine Schöpferkraft,
di^ so lange er noch durchzudringen hoffte,
auch in den schlimmsten Drangsalen immer
neue Blüten getrieben hatte, begann angesichts
der völligen Hoffnungslosigkeit zu versagen.
Er wusste jetzt, die lilasse der Leser war für
seine Kunst nicht reif, und wie er es auch
angriffe, er ¥rQrde ihren Geschmack niemals
treffen. Als im Jahr 1861 der letzte Band
seiner Erzählungen erschien und ebenso schlech-
tes Glück machte wie alle seine Vorgänger, da
entsank ihm endlich Lust und Schaff ensmut: die
übrigen teils erst geplanten, teils schon entwor-
fenen Novellen blieben in der Feder stecken. Nur
— a6a —
eitt wenig Luft eine kurze Erf riedi-
ung^ in verinderter Umgebung, und die versiegten
Quellen hätten neu gesprudelt. Allein die
Lebenssorgen versperrten ihm jeden Schritt ins
Freie» und es gab aus dieser Enge keinen Ausweg
mehr» denn seine politische Vergangenheit ver-
schloss ihm die Möglichkeit einer Anstellung im
Staatsdienst.
Die Schwierigkeit der Existenz vermehrte sich
von Tag zu Tage. Jetzt wanderte nach und nach
all das schwere Brunnowsche Silbergerät, der
schöne Samowar und andere wertvolle Erbstücke
zum Verkauf. Uns Kindern blieb gleichwohl das
Gefühl der Not ferne» und wäre nicht ab und zu
meiner Mutter ein leidenschaftliciies Wort ent«
fahren, das von meinen sechsjährigen Ohren auf-
gefangen wurde und mir des Nachts in Gestalt
schrecklicher Träume wiederkehrte, so hätte ich
an jene Zustände schweriich eine persönliche £r-
innerung. Dass der Genius ihres Dichters in
dieser Drangsal einer unaufhaltsamen Zerstörung
entgegen ging, konnte auch sie zum Glück nicht
übersehen. Man hatte damals in Laienkreiaen
noch wenig physiologische Einucht» und niemand
dachte daran, er selber vielleicht am wenigsten,
dass seine wachsende Nervosität mit seiner Lebens-
weise zusammenhing. £r wetteiferte jetzt an
Frugalität mit seinem Pfarrer von Y • • • bürg. In
OberessUngen bestand seine Hauptmahlzdt ge-
wöhnlich aus einem Teller schwarzer Brotsuppe,
seiner spartanischen Suppe» wie er sie nannte;
Digitized by Google
— a63
darauf folgte noeh ein Butterbrot mit Kräuter-
käse bestrichen, den er seines pikanten Ge-
schmacks wegen liebte. Statt des Weines trank
er lange Zeit Essig mit Wasser vermischt, und da
er das Rauchen nicht entbehren konnte, wickelte
CT sich, als der Tabak ausging, Zigarren aus ge-
trockneten Erdbeerblättem. Zwar seine Frau und
Josephine überboten ihn fast noch an Enthaltsam«
kdt» aber ihn trafen die Folgen verderblicher»
denn sein angegriffener Kopf musste noch fort-
fahren zu produzieren. Später, als die Verhält-
nisse sich besserten« blieben seine Verdauungs-
organe geschwächt tmd zwangen ihn» die kärg-
liche Lebensweise der schlimmen Tage b^zube-
halten. Die nächste Folge war eine Unruhe und
Reizbarkeit, die mit physischer und seelischer De-
pression abwechselten und auch seinem geistigen
Schaffen» das so lange den Verfolgungen des
Schicksals siegreich widerstanden hatte, die Spur
der Ermüdung aufdrückte. Sehr mit Unrecht
nannte man diesen Zustand sein Nervenleiden:
eine Riesenkonstitution begann endlich nach
heroischem Kampf dem Druck des Lebens zu er-
liegen.
Dennoch arbeitete er rastlos weiter. Die Be-
schäftigung mit dem Weisserschen Kunstatlas
zog ihn in archäologische Forschung hinein, für
die er von je ein starkes Interesse gehabt hatte,
denn bloss Gelerntes und Gelesenes wiederzu-
geben, wie es für solche populären Arbeiten ge-
fordert wird, war ihm seiner Natur nach unmög-
Digitized by Google
— a64 —
Uch; die Intcntitiit und VieMtigkelt «eines
Geistes zwang ihn, jedem Gegenstand, mit dem er
sich gerade beschäftigte» seinen innersten Gehalt
abxiifrageiL Bei diesem Ausflug auf das Gebiet
der Archäologie entdeckte er als erster die wahre
Bestimmung des Tempeh» von Aegina, ein Fund,
der erst in diesen letzten Jahren von den Fach-
kreisen gewürdigt worden ist.
Da seine dichterischen Schöpfungen ihm nicht
die Mittel zur Erhaltung der Familie lieferten,
glaubte er jetzt eine Zeitlang ganz zur Historie
Übergehen zu sollen, denn dass die unzünftige
Wissenschaft ihren Mann noch weniger nährt als
die Poesie» wusste er bei seiner Welt- und Ge-
schäftsunkenntnis nicht. Er griff nach einem
vaterländischen Stoff, dessen Szenerie ihn umgab,
nach Studien aus der Zeit der französischen In-
vasion von z688^ wofür er in Esslingen» das unter
den Greueln der Melacsxeit mit am meisten ge-
litten hatte, reiches Material fand. Doch das Be-
dürfnis nach einer künstlerischen Darstellung
ttberlieferter historischer Ereignisse» auf das er
zählte» war nirgends vorhanden» und er fand flir
diese Arbeiten erst recht keine Teilnahme. Mit
Mühe brachte er sie nach vielen Fehlversuchen
im Morgenblatt unter. Es war ein Zug, der durch
sein ganzes Leben ging» dass jedesmal» wenn er
für den Broterwerb schaffen woUt^ der Ertrag
noch am allerdürftigsten ausfiel.
Übrigens war ihm die mit den freundlichsten
Illusionen begonnene Arbeit nicht einmal nach
Digitized by Google
— a65 —
Wunsch gelungen: er selber klagte gegen Kausler,
dass er zu tief in das Gestrüppe des Stoffes ge-
raten sei. Hier zeigt sich zum erstenmal in seinem
Schaffell die deutliche Spur der Erschöpfung, die
die Folge einer entkräftenden Lebenswdse war.
An vielen seiner Entwürfe aus jener Zeit erkennt
man, wie die Übersicht des Stoffs dem ermüde-
ten Hirn zu fehlen begann, während es noch eine
FüUe von Ein«elgestaltung hervorbrachte. Schon
bei dem liegengelassenen „Heiligen Florian^
hatte er sich in ein Wirrsal von Nebendingen ver-
strici^t» die den Gang der Erzählung aufhielten;
das gleiche sollte ihm in späteren Jahren beim
Versuch einer Fortsetzung der „beiden Tubus*'
abermals begegnen. Die anmutigen, echt epischen
Mäander, die er immer liebte und die ihn sonst
so sicher ans Ziel führten» hier wurden sie zu Ab-
wegen, wo er sich selbst nicht mehr xurecht fand.
'Und doch raffte sich gerade zu dieser Zeit der
zu Tode misshandelte Dichtergenius, als er mit
einem seiner Natur verwandten Stoffe zusammen-
traf, noch einmal auf zu einem mächtigen Fluge
ins Land der Poesie, ^ne Redaktion hatte ihn
um einen poetischen Beitrag angegangen und ihm
dazu das Motiv von dem im Rabenneste ausge-
brüteten Adlerjungen geliefert. Wie der Gegen-
stand ihn ergriff und unter seinen Händen zu
' einem Bilde der Erdenlaufbahn des Genius empor-
wuchs, davon kann jeder Leser des „FremdUngs"
^ch überzeugen. Dass ihm auch sein eigenes
Schicksal dabei vorschwebte» ist klar: diese Symr
Digitized by Google
266 —
bolik lag ja schon im Stoffe;, und er hätt« ihr gar
nicht ausweichen können; auch mögen ihm bei
dem Strafsermon des Oberkorax und der öden
Lebensklugheit des Kabenfräuleins eigene
Jugendeindrücke vorgeschwebt haben. Aber es
war damals doch dn gröbliches Missverstehen
von Seiten der Freunde, dass sie meinten, in diesem
Gedicht den Ausdruck der Verbitterung wegen
persönlich erlittener Kränkungen finden su müs-
sen; vielmelir lag ja schon In der Allgültigkeit des
Symbols vom Lose der Grossen die innere Ver-
söhnung. Noch mehr lag sie in der grandiosen
Schlussapotheose, die zugleich des Dichters eigene
Laufbahn grossartig abschloss. Wie der aus der
Rabengemeinscliaft Ausgestossene in dem vor-
überschicss enden Königsadler seine eigene Ge-
stalt wiederfindet und endlich jubelnd sich selbst
erkennt» dann der Sturm im Hochgebirge und das
Gemälde der Alpennacht mit dem nachfolgenden
Sonnenaufgang, endlich des Adlers letztes Ver-
schweben im Blau: es war der höchste lyrische
Flug, der dem Dichter selber noch gestattet war,
ehe er mit gebrochenen Flügeln niedersank. In
diesem Liede hat er seine poetische Kraft ausge-
haucht; dass er von da an fast ganz verstummte,
gereicht seinem Gesamtbild nicht zum Schaden.
In einer Rebenlaube zu Oberesslingen wurde
das Gedicht geschrieben* Ich kann noch die
majestätische Gestalt des Dichters vor mir sehen,
wie er mit glänzenden Augen den schmalen
Wiesenweg neben der Gartenmauer auf und nie-
Digitized by Google
— a67 —
der schritt und dabei wie im Traum zuweilen mit
einem langen Stecken die vom Wind herabgeris-
senen Ranken der wilden Rebe an der Stakete be-
festigte, da sie s^en Ordnungssinn störten; wir
Kinder mussten unsere wilden Spiele damals in
«inen andern Teil des Gartens verlegen.
Es war am Schluss des S chilier jahres 1859,
dass der „Fremdling" entstand, und wohl mögen
die Eindrücke des Festjubels, der von weitem in
seine stille Klause drang, durch ihren Gegensatz
mit dem Erdenlose des Gefeierten auf die Dich-
tung mit eingewirkt haben. Auch bei diesem
Peste soUte er es noch einmal an eigener Person
erfahren, was die Nation für ihre lebenden Dich«
ter übrig hatte. Die Francksche Buchhandlung
hatte eine FcvStausgabe von „Schillers Heimat-
jahren*' veranstaltet, die übrigens nur eine Titel-
auflage war und dem Verfasser nichts eintrug.
Diese buchhändlerische Spekulation stand, wie
man denken musste, unter den günstigsten Aspek-
ten, denn die Schiller-Publikationen lagen zu
jener Zeit noch in der Wiege, und die „Heimat*
jahre^ die ja ganz auf Quellenstudium beruhen,
waren so siemlich das einzige Werk, aus dem
Schillers Landsleute bei der Jahrhundertfeier
seiner Geburt sich mit Schillers Jugend vertraut
machen konnten. Vergebens, auch diese Ausgabe
— die Pestkrebsausgabe, wie ihr Autor sie er-
bittert nannte, — fiel gänzlich ins Wasser; das
Publikum wollte seine Begeisterung gratis be-
gehen. Was Wunder, dass Hermann Kurz da-
Digitized by Qaogle |
— 268 —
mal» den gansen Schillerkultiis für Heuchelei er-
klärte und jede Beteiligung am Feste ablehnte.
Sein Leben war nur eine Kette von Kampf
und Mühsal gewesen. Jetzt begann das
Schlimmstf^ das Vergesscnwerden. Wie lange
graue Fäden spann dch's um ihn, die aUn^ttdich
unzerreisslich wurden. Die Werke, die er mit
seinem Herzblut genährt und mit seiner feinen
Künstlerhand gebildet hatten verschollen,,
wie in einen tiefen Brunnen versunken. Niemand
erhob die Stimme für ihn. Wenn er je noch von
einer literarischen Zeitschrift zu Beiträgen aufge-
fordert wurde« so war es ein Ereignis. Selbst die
alles verschlingenden Anthologien vergassen ihn*
Halb der Vergangenheit, halb der Zukunft gehörig»
hatte er keine Gegenwart mehr. Und der Menschen-
umgangt wenn er ilm überhaupt noch pflegen
musste, wurde ihm zur Qual. Auch sein Brief-
wechsel, sonst mit Feuer betrieben, flaute ab; was.
hatte er den Freunden noch zu sagen?
Im Spätherbst 1859 schrieb er an Kausler:
nAuch meine politischen Illusionen sind
zu Ende. Da steckt man sich hinter den altea
Kaiser, wie man sich hinter Schiller steckt. Ge-
nug davon. Ich habe nach und nach das Mittel
gefunden, auch ohne Glauben zu arbeiten. Lasst
mir die Einsamkeit unbeschrien» sie ist ein gutes
Kraut. Ich fühlte mich neulich zu Stuttgart in.
der Gesellschaft weit einsamer als hier.'*
Die Öde von Oberesslingen spann ihn immer
tiefer dn. Wohl hatte er noch sorgende Liebe
Digitized by Google
369 —
und Treue um sich, aber niemand, der auf sein
Künstlertum erfrischend wirkte, der ihn zu neuer
Tatenlust, zu Hoffen und Glauben wecken konnte.
Und die Originale unsm Obemdinger Verkehr^
die für uns Kinder so anregend waren, mochten
ihn zuweilen wie ein Gestrüpp des Unsinns über-
wuchern. Sidi ohne eine Hand von aussen diesen
Verhältnissen xa entwinden und anderswo von
vorne zu beginnen, war eine Unmöglichkeit: der
tägliche Bedarf einer Schar von Kindern gestat-
tete keine Geld und Zeit erfordernden Versuche
mehr.
Bin neidischer Dimon schien ihm auch die
kleinste Erfrischung zu missgönncn* Ich erinnere
mich noch eines Herbsttages, wo er in dem leich-
ten Röckchen, das er immer trug, zu Fuase aus-
sog» um Rudolf Kausler in IQein-Eislingen su
überraschen. Meine Mutter hatte nicht geruht,
bis er sich zu dem Ausflug entschloss. Aber als
er fort war, befiel sie plötzlich eine heftige Un-
ruheund das unabweisliche Gefühl, dass ihm etwas
zugestossen seL Sie schickte ihm unser Kinder-
mädchen Christine nach, das ihn in der Nähe von
Plochingen bei schneidender Kälte ganz ver-
krümmt imd hilflos auf einem Steinhaufen an der
Landstrasse sitzend fand und mit grosser Auf-
opferung den schweren Mann« der sich auf sie
stützen musste, bei sinkender Nacht wieder nach
Hause brachte. Dieses Ereignis, das in mein
sidt^entes Lebensjahr fiel, steht mir noch in deut-
licher Erinnerung. Er selbst berichtete darüber
Digitized by Gdogle
— ayo —
in seiner humoristischen Art an Kausler, dass er
unterwegs durch einen rheumatischen Anfall von
wahrhaft grandiosem Auftreten beinahe zum Lud-
wig Tiek zusammengeaEOgen worden sei.
Die Oberesslinger Jahre sind die trübsten sei-
nes Lebens gewesen. Dennoch war er auch da-
mals kein Verbitterter imd sollte es niemals wer-
den« Resignation war es wohl» was ihn triebe sich
in so langem tiefem Schweigen von der Wdt ab-
zuwenden, aber keine Verbitterung. Nie entfuhr
ihm ein herbes Wort gegen die Glücklicheren und
Verdienstloseren. Er musste nach langem schwe-
rem Ringen einsehen» dass seine Zeit ilm nicht
trug. Er grollte ihr nicht — vorübergehende
Stimmungen ausgenommen — er verwünschte sie
nicht, er zog sich schweigend von ihr zurück und
lebte da« wo es kdne Zeit gibt» unter den Grossen,
die aUe Zeitgenossen sind. Wäre er verbittert ge-
wesen, so hätte man seine Stimme vernommen,
denn die Menschenhasser machen immer Karriere.
Dass icht die ein so frühreifes und feinhöriges
Kind war» die Tragödie seines Lebens fast nur
historisch und wenig aus persönlichen Eindrücken
kenne, zeigt, wie er den kristallnen Spiegel seiner
Seele von jeder Trübung rein zu halten wusste.
Auch war er ja ein viel zu liebender Vater» um
nicht unser freudiges Wachstum für einen Aus-
gleich des Schicksals hinzunehmen, so wenig er
sich fähig fühlte, einen bestimmenden Einf luss dar-
auf zu üben. Er hatte uns nichts geben können
als sein Blut, denn seine Zeit und seine Kräfte
Digitized by Google
— 271 —
hatte er der AUgemeinheit geopfert, aber so wild
und gesetzlos er uns auf schiessen sah, er zwdfelte
nicht, dass dieses Blut ein jedes von uns den rech-
ten Weg durchs Leben führen würde. Nur dass
ihn sein reizbarer Zustand auch um die Freuden
des Familienlebens betrog. Er war zu spät Vater
geworden und blieb darum inmitten der Seinigen
ein Einsiedler und Junggeselle. Sobald er sich
nur auf einen Tag von Frau und Kindern ent-
fernte, befiel ihn quälendes Heimweh, und denn-
noch litt er vom Zusammenleben. Ich erinnere
mich, so weit ich zurückdenken mag, nicht einer
einzigen Mahlzeit, die er mit uns gemeinsam ein-
genommen hätte. Freilich wäre die brodelnde
Unruhe unserer Häuslichkeit auch für stärkere
Nerven zuviel gewesen« So fand zwischen ihm
und der heranbltthenden Jugend wenig Wechsel-
wirkung statt. Unsere geistige Welt dankten wir
weit mehr der Mutter» und sie trug auch ein von
der seinigen etwas verschiedenes Gepräge. Er
verleugnete in der Kunst und im Leben den alten
Theologen nicht, seine Bildersprache bezog sich
auf die Bibel. Durch den „Bilderatlas" hatte er
zwar den Anstoss zu unsrer Bekanntschaft mit
der griechischen Mythit gegeben, allein er ntlber
war ihr nicht so unmittelbar mit allen Fasern ver-
wachsen, wie es bei uns der Fall war; viel näher
lag ihm die Welt der Edda, weshalb wir frühe
auch diese in unsem Vorstellungskrds auf-
nahmen. Unvergesslich ist mir, wie er «nmal,
als ich beim Fallen das Knie Verstössen hatte.
Digitized by Google
— aya —
mir mit tiefer raunender Stimme als Heilsegen
den Merseburger Zauberspruch vorsagte: ,,Phol
ende W6dan fuorun zi holza/' der durch meiiie
Freude an dem „Bulderes Volon'S das ich Imhhaft
als weisses Füllen vor mir sah, seine Trostwirkung
vollkommen tat.
Während jener dunkelsten Zeit fand auch der
Genius der Freundschaft, der von je die Ungerech«
tigkeiten des Schi c k s als an ihm gut zu machen ge-
strebt hatte, von neuem den Weg in sein Leben.
Paul Heyse, damals noch in seiner apollohaften
Jünglingsgestalt^ schon vom frühen Ruhm um-
glänzt, suchte den Einsiedler in seiner stillen
Klause auf. Er war der erste gewesen, der die
„Erzählungen'' öffentlich nach ihrem Werte an-
erkannt und damit in dem erfolglos ringenden
Dichter den Glauben an ein endliches Verstanden-
werden wieder erweckt hatte ; — dass es ein Nord-
deutscher war, der für ihn die Stimme erhob, tat
dem in seiner Heimat Totgeschwiegenen doppelt
wohl. Ein Briefwechsel hatte sich darauf ent-
sponnen, der bald zum innigsten Herzensbund
führte. Paul Heyse hat selbst in seinem Vorwort
zu den Gesammelten Werken meines Vaters das
Entstehen und den Fortgang dieser seltenen
Freundschaft geschildert, und ich darf mich füg-
lich enthalten, sdner dem unmittelbaren Erld>en
entquollenen Darstellimg noch aus zweiter Hand
etwas hinzuzufügen.
Woran es mtinem Vater so lange gefehlt hatte»
das trat jetzt von auswärts in sdn Dasein. Ge-
Digitized by Google
«73 —
wm$p die alten Freunde;» allen voran sein Rudolf
Kaufller» standen m ihm wie je, und er vergase
der ersten Liebe nie; aber selber alternd, resig*
niert, konnten sie ihm keine Erfrischung mehr
bieten. Hier kam das Neue, eine junge Liebe ^
und die grossen Verschiedenheiten des Alters» des
Stammes, der Individualität dienten nur dasu» die
Anziehung zu erhöhen. Weit mehr als bloss das
künstlerische Verständnis, das ihm so nottat, war
ihm mit dieser Freundschalt zu teil geworden.
Auch was wir Kinder ihm Utten gdien sollen und
nicht geben konnten, weil der Abstand der Jahre
ein zu grosser war und er unser Heranreifen nicht
mehr erlebte» das fand er in dem jüngeren, seinem
Hersen so nahen Freund: das Wiederaufglänzen
der Jugend und den Zusammenhalt nut der Ge-
genwart. Es war jedesmal ein Trunk aus dem Jung-
brunnen» wenn er, wie von jetzt an alljährlich ge-
schah» ein paar Tage lang mit Heyse sein Schwa-
benland zuFuss durchstreift hatte» denn es versteht
sich, da8s dieser nun vor allem smne Heimatkennen
lernen musste. — Meine Mutter war die Dritte im
Bunde, sie umfasste die neue Erscheinung mit
dem ganzen Feuer ihrer Natur» sonnte sich in
Semen Briefen wie in seinen Dichtungen, und die
schönen Wandertage der beiden genoss sie aus
ganzer Seele mit« indem sie zu Hause blieb. Nur
selten kam der Gefeierte unter unser Dach» und
wir wildes Heer wurden dann vorsichtigerweise
in einiger Entfernung gehalten, denn es war mit
unseren Umgangsformen» die nach einer unbe-
Isolde Kurz, HMvuun Kur. i8
Digitized by Google
— «74 —
wohnten Insel schmeckten, nicht viel Ehre einzu-
legen. Eines Besuchs in unseren Tübinger Jahren
erinnere ich mich, wo wir, noch immer stark uistt-*
larisch und mit einigem Zagen elterlichersdta»
dem berühmten Gaste vorgeführt wurden, dessen
Erscheinen nicht nur für unser Haus ein festliches
Ereignis war : halb Tübingen, besonders der weib-
liche Teü, schwärmte hernach für den glänzenden
Fremdling (ein Preusse war dasumal in Schwa-
ben noch als ein Fremdling angesehen). Nur un-
ser vierjähriger Balde, befremdet von dem nord-
deutschen Akzent des Gastes» meinte kopfschüt-
telnd» dieser könne nidit sprechen; ein Vorwurf»
der dem wortgewandtesten unter den deutschen
Dichtern wohl nur dieses eine Mal gemacht wor-
den ist.
Nicht nur den Bann des Verkanntseins nahm
Hejrse von der Seele des Einsamen, er machte sich
jetzt auch zu seinem Mentor in weltlichen Din-
gen. Denn alles Welt- und Geschäfts wesen war
meinem Vater lebenslange ein schlüpfriger Boden,
auf dem er nch unsicher bewegte. Daran hatte
wohl zum Teil die Poetennatur, gewiss aber in
nicht minderem Grade Stammeseigentümlichkeit
und Seminarerziehung schuld. Er selbst kannte
diese Schwäche wohl; hatte er doch schon als
junger Mann anlässlich seiner Simplizisstmus-
Studien einmal an A. Keller in seiner launigen
Weise geschrieben, er möchte sich selbst einen
Titel beilegen, und da er seinem Namen nicht die
drd englischen Buchstaben hinzufügen könne» die
Digitized by Google
— «75 —
ein ungelehrter Vetter für Eskimo genommen
habe, so gedenke er sich künftig zu schreiben: H.
Kurtz» Simpl.
Von Geld zu reden war ihm schon abscheulich,
er verliess sich im geschäftlichen Verkehr auf den
guten Willen und die Anständigkeit seines Gegen-
über. Am stolzesten trat er auf, wenn es ihm am
schlechtesten ging, und solche Situationen wur-
den oft genug von fremder Seite durchschaut und
ausgenutzt. Die Freunde seiner ersten Zeit waren
ihm wie in vielem anderen so auch hierin zu ähn-
Uch ; man pflegte vielleicht sogar in seinen frühe-
ren Kreisen die Unweltläufigkeit ein wenig als
eine besondere nationale Form des Idealismus.
Wie ganz anders hätte sein Leben sich gestaltet,
wäre einer unter ihnen gewesen, der mit der hohen
Kultur und dem warmen Freundeswillen auch
den praktischen Weltsinn verbunden hätte» den
Keyse als Sohn der Grossstadt von Hause aus be-
sass. Von ihm erfuhr jetzt mein Vater zum ersten-
mal, welche Ansprüche der Schriftsteller zu
machen und wie er seine Erzeugnisse richtig za
verwerten habe. Wie ein im dunlden Walde Ver«
irrter, kindlich froh und dankbar ergriff der Viel-
geprüfte die Hand des jungen Freundes, der ihm
den Weg aus dem Domengestrüpp zeigte imd
sich dafür oft im Scherz seinen Vater nannte.
Der Briefwechsel der beiden Freunde, der das
letzte Jahrzehnt meines Vaters umfasst, liegt von
der Hand des Oberlebenden geordnet in zwei
Starken Mappen da und wird gewiss früher oder
i8»
Digitized by GOogle
— «7^
später vor die OffentHchkeit treten. In ihm hat
Hermann Kurz die Summe seiner späteren Exi-
stenz niedergelegt, denn was ihn geistig und ge-
mütlich beschäftigte, das teilte der Ungesprächige,
aber Innerlich Spruddnde dem Freunde brieflich
mit. Nicht geringeres hat Hejrse gegeben, ja
diese Briefe gehören vielleicht zum schönsten was
aus seiner Feder gekommen ist und werden sei-
nem Bilde dnmal nicht unwesentliche Züge hin-
zufügen. Die späteren Jahrgänge smd mdir Ute-
rar historisch wertvoll, denn sie sind fast ganz
mit der Redaktion des ».Novellenschatzes" aus-
gefüllt und bilden eine fortlaufende kritische
Heerschau über die neuere erzählende. Literatur
vom höchsten künstlerischen Standpunkt aus^
Desto menschlich-interessanter sind die früheren
Jahre, wo es sich vor allem um das Persönliche
handelt» um die gegenseitige Förderung der eige-
nen Produktion und um den Ausgleich der inne-
ren Gegensätze. Mit dem Enthusiasmus der
Jugend und mit der reifen Klarheit, die ihn so
früh auszeichnete, gab Heyse dem Verkannten,
was die Mitwelt ihm verständnislos vorenthielt,
und suchte ihn zu neuen Taten zu spornen, ja ihm
Stoffe die seiner Natur entsprachen formlich auf-
zudrängen. Das alles kam nur leider um zehn
Jahre zu spät. Dass mein Vater in jener schwer-
sten Zeit wieder Ldi)ensfreudigkeit fasste, war
vor allem Hes^ses Werk, aber das Verhängnis,
das sich schon leise vorbereitete, konnte auch er
nicht mehr aufhalten. Nach dem Tode des Freun-
Digitized by Google
— 277 —
des tat er dann noch das letzte» was der Treue zu
tun übrig blieb: er sammelte die zerstreuten
Werke des Dichters und legte die Grundzüge sei-
nes persönlichen Bildes für die Nachwelt fest. In
einem Sonett hat er sie später noch einmal knapp
zusammengef asst :
Wann hat eia Kimpfer lachender gestritten?
Vann hat ein Starker Süsseres gespendet?
Zwei unvergessliche Zeilen aus denen meines
Vaters Angesicht leibhaftig blickt!
Der Verkauf des Hopf sehen Gutes un Sommer
i962 machte unsrem Oberesslinger Idyll ein Ende.
Aber von einer Rückkehr in grössere Verhältnisse
war keine Rede, es fragte sich nur» in welches der
kleinen schvräbischen Nester man sich jetzt ver-
graben würde, denn das Gemüt des Dichters
schien die Berührung mit der Welt nicht mehr
ertragen zu können. Die Wahl fiel auf Kirch-
heim, ein am Fusse der Teck gelegenes altertüm-
liches Städtcfien, das mit ganz besonderen stim-
mungsvollen Reizen in meiner Erinnerung lebt.
Die Gegend war bedeutender als unsere seitherige
Umgebung; mein Vater hatte ihr aus der Zeit, da
er in Weilheim unter Teck den Vorstudien zu den
Heimat jähren oblag, dne Vorliebe bewahrt. Von
der anmutigen Kette der Schwäbischen Alb um-
säumt und von zwei Flüsschen, der Lauter und
der Lindach, durchschnitten, besass sie hinläng-
liehe landschaftliche Abwechslung um die von
der Einförmigkeit der Tage erdrückte Dichter-
Phantasie wieder zu beleben, wovon sich bald die
Digitized by Google
— 2fB —
erfreulichen Folgen zeigten. Er selbst fühlte sich
zufrieden. Am 7. August x86a schrieb er darüber
an einen Freund:
,»Wir smd seit acht Tagen hier und »soweit* gern
hier. Gestern nämlich war der grosse Tag (ihr
Geburtstag), an welchem meiner Frau ein Licht
darüber aufgegangen ist» dass ¥nur, so wie V9it
sind, nirgends urbium hintaugen würden, dass
also Kirchheim für uns gerade so gut ist vsdc
irgendein anderes Nest. Damit ist natürlich
nur das Innere gemeint, denn mit dem Aus-
wärtigen ist es fürtrefflich bestellt. Beweis: wir
sind mit dem Einräumen noch weit zurück, weil
wir viel in der Gegend herumgehen, daher denn
auch kein Tag mit Ächzen und Krächzen be-
schlossen wird. Mir ist das ein gans neues
Leben. Den Tag über läuft die Arbeit nach
Wunsch, dann folgt der behaglichste Feier-
abend. Dass die Berge wohl tun, versteht sich
von selbst, aber auch die Menschen draussen,
sowie man nur einen Schritt vor die Stadt tut,
haben's meiner Frau oiFdentlich angetan. Mir
ist der Schlag ja von alters her bekannt, drum
bin ich so gern in die Gegend gezogen.*'
Jeden freien Tag, den er sich gönnte, benutzte
er zu einem Besuch sdner alten Berge, die er
nicht um die Jungfrau und ihre Gesellen hin-
gegeben hätte. Uns Kindern benannte er von der
unmittelbar hinter dem Städtchen ansteigenden
nPlochinger Staige" aus alle die ragenden Häupter
vom Hohenstaufen bis zum HohenzoUem: die
Digitized by Google
— ^79
Teck mit ihrer Mauerkrone, den schlanken
Neuffen, den Breitenstein, Rauber und Sattel-
bogen« die Bassgeige und wie sie alle hiessen ;
wenn er aber auf einen besonders graziösen Kegel
deutend sagte: „Kinder, dies ist die Achalm so
legte er einen geheimnisvoll-ehrerbietigen Ton in
die Worte, wie ein Sakristan, der den Besuchern
das Allerheiligste enthüllt. Denn alles was zu
seiner engeren Heimat gehörte» blieb für ihn von
magischem Licht umflossen. Auch die berühmte
Wagenspur der Sibylle zeigte er uns im Grün der
Wiesen imd Felder. Die gute Fina aber erstieg
mit uns die nahen Berge selbst, liess uns durch
die Ruinen der Teck und des Neuffen klettern
und in den halb verschütteten Eingang des Sibyl-
lenlochs kriechen. — Wie aus fernen Träumen
dämmert mir das Bild des Städtchens, das ich
seitdem nie wieder gesehen habe: die alte Kirche»
an deren Aussenmauer die Gebeine Konrad Wie-
derholds, des tapfern Verteidigers von Hohen-
twiel ruhen, ein festes Schloss mit hohem Wall-
garten und Graben im Stadtinnem — dass die
Bäume dieses Gartens ihre Wurzdn hoch über
meinem Haupte hatten, erfüllte mich damals mit
staunender Bewunderung — ferner ein Frauen-
stift von klösterlicher Bauart, wo meine Mutter
^nmal Besuch machte und mich samt dem allge-
fürchteten Butzel mitnahm, der in einem imbe*
wachten Augenblick nichts eiligeres zu tun hatte,
als im Hof den Schweinestall aufzuschliessen und
die grunzenden Bewohner mit wildem Hailoh
Digitized by Google
— 28o
durch den langen engen Gang des Stiftes zu jagen,
dass die entsetzten Stiftsdamen sich schreiend in
ihren Zimmern einriegelten.
Das Haus, das wir zuerst bewohnten, lag in
einer engen Gasse» deren Lauf die Lauter als ein
trüber schmutziger Bach begleitete» Am Tage
des Einzugs, während der Möbelwagen abge-
laden wurde, sass Alfred mit einer Brotrinde in
der Hand unter der Haustür« als ein Mann aus
dem Volke stehen blieb und» um auf dem kürze-
sten Weg über die neuen Mitbürger ins klare zu
kcnnmen, den Kleinen ohne weiteres fragte: „He
du, seid ihr reich?" „Nein, da täten wir uns
schämen/* antwortete dieser trotzig, auf beiden
Backen kauend; so wenig hatte er je Anlass ge-
funden, die Lage der besser Gestalten zu be-
neiden. Zwar sollte auch in Kirchheim das öko-
non:iische Missgeschick noch fortdauern, doch war
man mittlerweile durch das Eingreifen der im
Schillerjahr gegründeten Schillerstiftung wenig-
stens über die schlimmste Zeit hinweggekonn
men — für den Dichter lag etwas versöhnendes
darin» dass es sein Schiller war, der dem Ringen-
den endlich die Hand zur Hilfe gereicht hatte.
In der dumpfen Gasse war unseres Bleibens
nicht lange; schon im Frühjahr 1863 zogen
wir in eine freundliche Gartenwohnung, die
ausserhalb der Stadt an der nach der Teck
führenden Dettingerstrasse lag. Die Lauter»
hier noch War und rein, schnitt den langge-
streckten, blumenreichen Garten in zwei Hälften,
Digitized by Google
— aSi —
die durch einen schmalen Steg verbunden waren;
wir plätscherten, sobald die Sonne über die eisigen
Lüfte der Alb einige Macht erhielt» den ganzen
Tag im Wasser hemm. Lustiger Vogelgesang
durchschmetterte den Garten, ein hoher Birnbaum
streckte seine Zweige bis in Papas Arbeitszimmer,
und zu allen Fenstern blickte die mauergekrönte
Teck herein*
Wir hatten nun wieder die ländliche Freiheit,
ohne die es für uns kein Leben gab, aber der
schöne Griechentraum war seit unserer Ankunft
in Kirchheim zu Ende* Edgar besuchte die Latein-
schule, wo er sich so auszeichnete, dass er gleich
zwei Klassen überspringen konnte; sein Fleiss
und ein ihm eigener zurückhaltender Anstand
gaben ihm von vornherein bei Lehrern imd Mit-
schülern eine ganz besondere Stellung» Auch
Alfred sass auf der Schulbank und hatte zunächst
viele Not seine Aufmerksamkeit konzentrieren zu
lernen. Da von einem Schulzwang für Mädchen
damals noch keine Rede war, bekam ich die Bro-
samen, die von des älteren Bruders Tische ab-
fielen, denn an seinen nach Hause gebrachten
Heften stärkte die Mutter ihr Latein und beeilte
sich dann, mir das neuerworbene mitzuteilen. Die
beiden Jüngsten waren noch im glücklichen Alter»
wo man nur die Aufgabe hat su wachsen und
stark zu werden. Mein Vater, dessen Nerven
ruhten, ging mehr als sonst auf unser Leben ein.
Mich nahm er besonders gerne zu Spaziergängen
mit. Lebhaft erinnere ich mich an einen Oktober-
Digitized by Google
— 38a —
abend, wo wir zusammen am Rand eines hoch-
liegenden, schon vom Herbste berührten Waldes
binschritten, während zu tmarer Linken eine tiefe
Talmulde sich öffnete» über die der Blick frei hin-
weg nach den gegenüberliegenden Bergen ging.
Plötzlich flammte von einer der Höhen ein mäch-
tiges Feuer auf« dem bald das nächste Berghaupt
mit einem andern Flammenzeichen Antwort
gab, dann folgte ein drittes, und so ging es
weiter die ganze Albkette vom Staufen bis zum
Zollem entlang — ein wunderbares» nie ge-
sehenes Schauspiel. Mein Vater weidete sich
an meiner Oberraschung, und da ich nicht wusste,
was diese Höhenfeuer bedeuteten, erzählte er mir
von der Leipziger Völkerschlacht, deren fünfzig-
ster Jahrestag an diesem Abend gefeiert wurde«
Ich hatte bis dahin von der Napoleonischen Zdt
nur durch dieBrunnowschenErinnerungen gewusst,
und der völlig veränderte historische Standpunkt,
auf den ich plötzlich gestellt wurde, blieb mir
mit Feuerschrift in die Seele geschrieben.
In Ktrchhdm kehrte der Dichter von seinen
historischen Ausflügen auf das ihm natürlichere
Gebiet der Erfindung zurück, wo ihm noch ein
Inirzer Nachsommer blühte. Damals entstand
unter anderm »»Sanlct Urbans Krug"» ein novelli-
stisches Meisterstück^ das sich an Frische des
Tons, an Humor und sicherer Knappheit der Dar-
stellung getrost neben die Werke seiner besten
Zeit stellen kann. Es erschien ebenso wie eine
andere in Kirchheim geschriebene Erzählung in
Digitized by Google
— 383 —
emem Münchener Blatt; von der letzteren konnte
nachmals kein Exemplar mehr aufgetrieben wer-
den, wesshalb ich sie nie zu Gesicht bekommen
habe und nicht einmal den Titel kenne. Eine kleine
historische Skizze 9,Die Schenke am Rhein"» die
schon in Oberesslingen geschrieben war, wurde um
jene Zeit im Beobachter gedruckt Zugleich be-
schäftigte ihn die gänzliche Umarbeitung des
„Tristan" im Sinne seines freien Schlusses. Ein
nicht unbeträchtliches Stück des Anfangs ist da-
mals auch wirklich zustande gekommeni wovon
ein Gesang »»Rivalin imd Blancheflur'^ in Seegers
deutschem Dichteralbum aus Schwaben erschien.
Der Rest des Manuskriptes soll bei Seegers uner-
wartetem Tode unter dessen Papieren verschwun-*
den sein, KI«nere Fragmente haben sich jedoch
neuerdings beim Durchsuchen alter Mappen mei-
nes Vaters gefunden. Den Anfang des Gesanges
»»Tristan das Kind", der ein Gedicht für sich bildet
und auch seinerzeit als solches in einem» wenn
ich nicht irre, von Preiligrat herausgegebenen
Dichteralbum gedruckt worden ist, gebe ich als
charakteristische Probe seiner Behandlung des
Stoffes diesen Blättern bei. Ahnlich zeigt sich
auch bei seinem Schluss des „Tristan'* das Be-
dürfnis, den geschossenen Gang des Epos je und
je durch eine solche lyrische Abschweifung zu
imterbrechen, die das Einzelgeschick dem allge-
meinen Menschenlose verknüpft.
Es war vor allem ein äusserer Anstoss» der
viel zu der erneuten Produktivität beitrug. Im
Digitized by Google
- «84 - .
April 1863, gerade während unsres Umzugs in die
neue Wohnung» bei dem die aus Oberetilingea
herbeigeeilte Tante Bertha half, hatte eich mein
Vater, einer dringenden Einladung Heyses fol-
gend, nach München begeben, um dort den Boden
zu. erforschen* £s war nämlich mit einem Male
nichts geringere! als das Projekt unserer Uber-
siedlung in die bayrische Residenz aufgetaucht.
• Dort verbrachte Hermann Kurz nach seinem eig-
nen Zeugnis „goldene Wochen", teils unter Hey-
ses Dacht der damals Witwer war, teils bei seinem
alten Freunde^ dem Maler Bernhard Fries. Schon
die Reise, die längste, die er je gemacht hat, war
für ihn, der jedes Landschaftsbild innerlich ver-
arbeitete, ein Erlebnis. Ein noch grösseres war
seine Rückkehr ins gesellschaftliche Leben. Der
Einsiedler, den sie in seiner Heimat als Menschen«
feind verschrien, liess die neuen Eindrücke mit
der Begeisterungsfähigkeit eines Jünglings auf
sich wirken. Die Briefe, die er damals nach
Hause schrieb, heben sich von seiner übrigen
Korrespondenz ab wie ein einselner sonnbeschie-
nener Fleck inmitten einer gewitterdunklen Land-
schaft. Es war ja auch der erste Lichtblick, der
nach langen langen Jahren in sein gequältes Da-
sein fiel, und gleich begannen die verategteii
Quellen seines Inneren wieder zu sprudeln. Neben
dem Freunde, den er seinen „Einzigsten" nannte,
schloss er sich vor allen an seinen Landsmann.
\rahdm Herts, den Dichter und Gelehrten, an,,
dessen Wesen ihm wohl am nächsten stand und
Digitized by Google
— a85 —
mit dem er eich auf dem gansen Feld seiner Inter*
essen berührte femer an den „gfrcmdduliiclien''
Melchior Mayr und an Julius Braun» den origi-
nellen und geistreiclien Egytologen, der ihm aus
den Karlsruher Tagen ins Hers; gewaefasen war
und in dessen jungem Hausstand er jetst heitere
Stunden verbrachte. In Heyses Schwiegermutter,
Frau Clara Kugler, verehrte er „ein wahres Trost-
exempel, wie schön und liebenswürdig Frauen im
^ . Alter sein können» wenn sie eine geistige Jugoid
gehabt haben*'. Mit dem feinen CatuUübersetser
Theodor Heysc, dem Oheim des Dichters, der,
wie mein Vater schrieb, „Berlin und Rom ver«
dnigte", wurden unterweilen Catullsitsungen ab-
gehalten. Auch die Musik trat wieder an ihn
heran: Peter Cornelius» der Jüngere, suchte ihm
einen Komponisten für den auf einem Byronschen
Sujet beruhenden Operntext »Die Insel"^) und
R. V. Homstdn brachte ihm seine Komposition
der „Klage des Abenceragen*^
Er sah nun, dass er doch kein Verschollener
war, und dieser ganze Kreis angeregter Menschen
versetzte ihn nach der langen Entbehrung in einen
wahren Rausch. Die Uterariscfaen Anknüpfungen»
die sich dem Vereinsamten boten, gaben Aussicht
auf eine befriedigende Wirksamkeit, der auch ihre
goldenen Früchte nicht fehlen würden. Sein
sanguinisches Temperament schwoll über und
Dieser Text, der von grossem lyrischem Schmelz
gewesen sein soll, ist noch zu melneB Vaters Lebzeiten
spurlos verloren gegans^.
Digitized by Google
— 286 —
Uess ihn die Zukunft im glänzendstea Lichte
sehen« Von untrem Umzug nach München sprach
er schon als von einer abgemachten Sache — nur
die Impffrage schuf ihm noch Bedenken, denn als
ein leideuBcliaftUcher Anhänger des damals sehr
bekannten ImpfgegnersNittinger hatte er es durch
jahrelangen Kampf mit den württembergischen
Behörden dahin gebracht, seine Kinder vor der
Pockenimpfung 2u bewahren, und er fürchtete
nun, in Bayern geringerer Toleranz zu begegnen
als in der Heimat. (Es mag hier der Merkwürdig-
keit halber erwähnt werden, dass später mein
Bruder Edgar in seinem ärztlichen Beruf den
Kampf» den der Vater als Laie geführt hatte, mit
dem Rüstzeug der Wissenschaft fortsetzte.) —
Ein Kalender, dessen Herausgabe gemeinsam mit
Paul Heyse geplant war, sollte die pekuniären
Mittel zu unserer Übersiedlung liefern; der Ver-
leger sowie die literarischen und künstlerischen
Mitarbeiter waren schon gewonnen, und der
eigene Beitrag für den ersten Jahrgang, ein
Schwank in Versen nach Hans Sachsscher Manier,
reifte auf langen Gängen ins Freie der Vollendung
entgegen. Auch für seine wissenschaftlichen
Arbeiten, die ihm neben den poetischen stets am
Herzen lagen, eröffnete ihm der Kalender ein
aussichtsvolles Absatzgebiet. Das Unternehmen
sah so wohlgegründet aus, dass gar kein Zweifel
mehr aufkonmien konnte, meine Mutter teilte des
Vaters Jubel, und es gab in jenen Wochen land-
auf, landab keine zukimftsreichere Familie als die
Digitized by Google
— 287 —
unsrige. Nur die schönen Sommennonate wollte
er noch an der geUebten Teck verbringen — das
sollte der letzte Liebeszoll an die Heimat sein —
und dann hinaus in eine grössere freiere Welt»
deren Vorteüe vor allem dem jungen Geschlecht
zugute kommen sollten. Und da er schon im
Zuge war, baute er dem schönen Luftschloss noch
einen weiteren ganz phantastisch-kühnen Flügel
an: er wollte alle^ die uns in der Heimat Liebe imd
Treue erwiesen hatten» in sein neues Leben nach-
ziehen und, den alten mit dem neuen Freundes-
kreis verschmelzend, eine Kolonie von Auserwähl-
ten begründen. Dass diese auf so ganz verschie-
denen Voraussetzungen fussenden Menschen sich
gegenseitig verstehen und mit gleichem En-
thusiasmus umfassen würden, daran zweifelte sein
Jünglingsgemüt keinen Augenblick. Aber als der
Plan der Übersiedlung reifen sollte^ da sagte
das Schicksal nein: der erste Jahrgang des Ka-
lenders kam nicht zustande, weil der Blustrator
seine Arbeit nicht ablieferte, die glückverheissende
Verbindung löste sich auf, und das ganze Unter-
nehmen, an dem die Gestaltung unserer Zukunft
hing, fiel ins Wasser. Die Wintemebel zogen her-
an und hüllten die alten Berge ein, und wir lagen
noch immer, wie mein Vater sich ausdrückte, „an
unserer Polarstation vor Anker, bis etwa eine
Wasserstrasse frei und die Durchfahrt für irgend
eine Atlantis sichtbar wfirde.'^
Digitized by Google
Treue
(Aus »Tristan das Kind")
Ein Tempel ist die Menschenwelt,
Lebende Säulen zum Bau gestellt,
Ein Wunderwerk in Fug' und Schluss,
Beharrend unter stetem Fluss,
Ja, eines Gottes Tempelhaus,
Allein tieflabyrinthschen Bau's:
Die Sonne blickt auf Dach und Zinnea
Mit ewig heitrem Licht, doch innen
Da dehnt sich's nächtlich, grenzenlos,
Und Grauen wohnt in seinem Schoss«
Dumpf brütet ein Gespenstertraum,
Von Opfern stöhnt's im öden Raum»
Und wo ein scheues Tageslicht
Ein nächt'ger Blitz das Dunkel bricht,
Da grinsen Schemen schreckumstant
Aus Vorzeit und aus Gegenwart.
Schwach dämmert nur der Hallen eine
Von eines ew'gen Lämpchens Scheine,
Der ruht auf ernsten, traurig milden,
Auf friedlich freundlichen Gebilden,
Auf heitrem kühnem Lebenspiel,
Wonach der Schattenhände viel
Aus Wänden, dunklen Hcken langen,
Feindlich das Gotteslicht zu fangen:
Und die dem lichten Gotte brennt,
Die reine Lampe, wer sie kennt,
Der weiss, sie füllt sich stets aufs neue,
Sie lischt nicht aus, ihr Nam' <8t Treue.
Treue fürwahr! ein Wunder seht.
Das uralt, immer neu ergeht:
Wie wenig, wenig gibt es deren,
Die diese heilige Lampe nähren,
Und doch, so war's von Anbeginn,
Reicht allezeit das Häuflein liin,
Die kleine Flamme still erfrischt
Zu wahren, dass sie nicht erlischt,
Dass nicht der Tempel, dess Gefuge,
Zernagt vom Nachtgewürm der Lüge,
Sich einzig noch zusammen hält
In Kraft des Lichts, zu Trümmern fUlL
O wachse, wachse^ tapfre Schar!
O werde Lichtletn gross und klar
Zur Geistersonne, brich durch und schein'
In all dies lebende Gestein,
Dass von dem alten Bann befreit
Die urbestimmte Herrlichkeit
Sich mög' aus Nacht zum Tag entfalten.
Der Gott im ganzen Tempel walten I
Die Trene hat verschiednen Weg:
Sie wandelt hohen Volkensteg,
Sie geht auf schlichter leiser Spur
Und Ist doch Eine Treue nur.
Der Held, der Denker, Dichter, Lehrer,
Des Volks-, des Menschenhortes Mehrer,
Sie Stelgen rauhe Felsenbahn,
Der mehr, der minder stdl hinan;
Denn süss isf s, wie vor Alters, noch.
Die Brüder rettend aus dem Joch
Im Kampf das Leben hinzugeben,
Viel bittrer meist für sie zu leben,
Doch Treue schreitet stracks einher.
Fragt nicht, ob leidlich oder schwer.
Ob schnell, ob langsam hingeschlachtet,
Gepriesen oder unbeachtet:
Isolde Kurz, Hermzan Kurs. ]
— sgo —
Was sie als recht, als schön erkamit,
Wofür als heilig sie entbrannt,
Dem bringt sie auf dem Opferherd
Sich selbst und was ihr lieb und wert.
Tief unter ihr das Haschen, Laufen
Der Welt, ihr Kaufen und Verkaufen^
Vcrlodert sie in Todesglut —
Und diese Treu ist gross und gut
Die andre lässt ihr Segenswehn
Von JMensclien still zu Menschen gehn,
Dsmn suCb neu der Glaub' erstarkt,
Dass nicht ein blosser Krimermarkt
Das Leben sei; und dieser Glaube
Veckt manchen Keim aus totem Staube.
Zwei Menschen auf des ZufsUs Pfod
Begegnen sich zur Edeltat»
Den Druck des Lebens in den Mienen»
Eis bis zur Stunde zwischen ihnen,
Und leuchtend plötzlich wird der Bund
Des unrerwandten Wesens laind.
Oft löscht, wie Flugsand, das Getriebe
Der Erdenmfihn die Spur der Liebe;
Oft wirkt auch nur ein treulich Wort
Zur guten Stunde fort und fort
Und kann in immer weitem Kreisen
Die Nachwelt noch mit Segen speisen.
Doch ist's die Freundestreu zumeist
Die hier der Flug des Liedes preist,
Die seltne, die ein Mirchen scheint,
Doch keine Fabel ist. Sie weint
Am Sarg des Freunds, zu dessen Seite
Sie schritt im Frieden wie im Streite,
Nicht leere Tränen. Sie belebt
Des iTcundes Asche, wirkt und strebt
Für seine Sache sorgenschwer,
Als ob's die eigne Sache war',
— 291 —
Entsagt der Ruh', dem Lebensglück,
Zieht bin und schaut nicht mehr zurück*
Und klanglos fuhrt sie ihr Werk ans Ziel^
Nicht achtend, ob's der Welt gefiel.
Nicht fragend, ob dereinst Geschichte,
Ob Sehermund Ihr im Gedichte
Erteilen wird den Ruhmessold, —
Und solche Treu ist schdn und hold
Letzte Lebensjahre.
Auserwählt zum Bücherschreiben
Und verdammt zum Schriftverwalten,
Sollst den Einband du bekleiben.
Statt den Inhalt zu gestalten. ^
Freundy du musst in Lettern kramen.
Doch von deinem kurzen Namen
Werden mehr als viere bleiben.
Mit diesen Versen begrüsste Ludwig Pfau
die Ernennung meines Vaters zum Universitäts-
bibliothekar in Tübingen, die am Schlusa des
Jahres 1863 erfolgte. Wie untergeordnet und karg*
lieh bezahlt der Posten auch war, er bedeutete
doch nach so viel Stürmen einen Friedensport.
Von allen bürgerlichen Ämtern war das eines Bi*
bliotfaekars das emsige, das seinen naturlichen
Neigungen entsprach, und mehr noch ßel ins Ge*
wicht, dass der Aufenthalt in einer Universitäts-
stadt jetzt das Studium der Söhne ermöglichte.
Dochmischtesicfa; auch diesem kargen Glück noch
ein Tropfen Wermut bei, da einer seiner liebsten
Freimde, der Philologe Bacmeister, gleichfalls
ein von der damaligen Enge erdrücktes poetisches
Talent, mit in Vorschlag gewesen und freiwillig
«urttckgetreten war, um mit dem verehrten Dich-
ter nicht zu konkurrieren.
Die Ernennung meines Vaters, bei der die alten
Digitized by Google
— 293 —
Freunde in Stuttgart und Adalbert Keller in Tü-
Inngen eifrig xusammen wirkten, kam mit Hilfe
des liberalen Ministeriums Golther zustande und
wurde von der ganzen Presse Schwabens mit Be-
friedigung aufgenommen. Zu Anfang Desember
reiste er» zunächst allein, nach Tülnngen» um seine
neue Stellung anzutreten.
Tübingen war damals noch eine fast mittel-
alterliche Stadt mit den Reizen und Schatten-
seiten einer solchen. Auch heute» nach all der
stillosen Modernisierung, die darüber ergangen
ist, bietet das hochgelagerte Städtchen dem Be-
schauer, der vom Bahnhof kommt, von seinem
Hügelrücken noch ein äusserst charakteristisches
und ausdrucksvolles Profil« Die langgestreckte
Häuserseile der Neckarhalde, die sich hoch über
dem Flusse aufbaut, darüber Türme und Häuser-
gruppen in kühnen Überschneidungen, das Ganze
gekrönt von der massiven Wucht des altehrwür-
digen Schlosses, und diesseits des Neckars die
langen Alleen mit ihren dichten Laubdächem voll
Vogelgesang, die in dreifachem Zug den Lauf des
Flusses begleiten — diese Silhouette ist zum
Glück gär nicht su verderben. Damals stand aber
auch noch die alte stinmiungsvolle Neckarbrücke
mit ihrer steilen hölzernen Stiege nach dem von
den zwei Neckararmen umfassten und mit hohen
Platanen bestandenen Wörth" hinunter» und am
oberen Stadtende schwang sich der vielbesungene
Hirsauer Steg über den Fluss. Die Neckarbrücke
führte zum Neckartor, das freüich niu: im Namen
Digitized by Google
294 —
erhalten und aus der Struktur der engen, hier
zusammenlaufenden Gassen zu erkennen war.
Und auch diese Strassen „grad imd krumm'*»
waren noch erheblich krümmer als heute. Längs
dem steilen» zwischen dem Abhang des Oster»
bergs und einer hohen Mauer eingezwängten
Mühlgässchen stürzte sich die Ammer laut brau*
send und schäumend herab, um sich mit dem stil-
leren Neckar zu vereinigen. Doch lebte
auch dieser noch in Jugendlreiheit, die er
zuweilen durch schrankenloses Übertreten
inissbrauchte; ich erinnere mich einer solchen
Überschwemmung, bei der auch die sonst so was-
serarme Steinlach lustig mittat, so dass die ganze
Gegend» von den Weinhalden des österbergs aus
gesehen» einem uferlosen Meere glich» in dem die
Spitzen der Kastanien-, Linden- und Platanen-
alleen lange grüne Furchen zogen und der Bahn-
hof wie eine verzauberte Insel zu schwimmen
schien. Ausserhalb der Stadt» die damals noch mit
dem Neckartore abscMoss, frei an den Fuss des
Österbergs gelehnt, mit dem Blick auf die Neckar-
brücke, lag das verwaiste Uiüandiiaus, um das
immerdar eine stille Weihe schwebte. Der Dichter
war ein halbes Jahr vor unserm Einzug in Tü-
bingen gestorben. Der Uhlandsche Garten, der
in Terrassen den Hügel hinanstieg, war wie die
Uhlandsche Poesie: regelmässig, bürgerlich-kor-
rekt und wohlgepflegt» dabei doch lauter leben-
dige, vollsaftige Natur; lange, sauber gescfanit«'
tene, etwas nüchterne Hecken wechselten mit
Digitized by Google
— 295
grossen Schatteobäumcn* tief gewurzelt wie die
dciit8clieSage»iind besonders die schwerbeladenen
Fruchtsträucher sind mir in imponierender Er-
innerung — es war dies nämlich eines der weni-
gen Häuser» wo meine Mutter Besuch machte und
wofainsieauchmichzuweilen mitnahm. In den wei-
tenldösterlichenRäumendes Hauses» die von der
Witwe unverändert erhalten wurden, wehte die
stille kalte Luft der Ewigkeit. Hier» wohin kein
Klatsch und keine niedrigen Interessen den Weg
fanden, waltete Emilie Uhland, selbst wie eine
Abgeschiedene, ernst und streng, mit ihren Er-
innerungen und mit der Verwaltung ihres Be-
sitzes beschäftig^. Sie war eine achtunggebie»
tende, von der Kleinlichkeit der andern Frauen
völlig frde Gestalt, aber man konnte kdn Hers
zu ihr fassen, denn sie hatte eine seltsame Unnah-
barkeit an sich — Hoheit kann ich es nicht nen-
nen»' dafür war es zu abgezirkelt und steifleinen
— etwa wie eine gestrenge Oberamtmännin oder
Äbtissin aus einem früheren Jahrhundert. Man
konnte sich nicht denken, dass dieser strenge
Mund je zu einem Liebeslied gelächdt
habe; die Uhlandsche Muse war ja auch
an Liebesliedem karg. Die einsame, kin-
derlose Frau stellte in jenen Tagen Uh-
lands Briefe zusammen, um sie» als Manuskript
für die Freunde drucken zu lassen, auch diese
herb und unpersönlich und allem Gletssm abhold,
wie der Mann selbst, der seine Lorbeerkränze in
die Küche trug.
Digitized by Google
— 396 —
Eng und dumpf wie die Gassen, war damals
auch der Geist der Emwohnersdiaft. Nur wie
ein flüchtiger Anachronismus führ die Eisenbahn
durch das fortschrittentlegene Tal, das mit seinen
Anschauungen und seinem Treiben noch im Mit-
telalter steckte« In der „unteren Stadt*' wohnte
ein Volk, dessen Scfamuts» Elend und unheimlich
elementare Roheit selbst die wenig kulturver-
wöhnten Einwohner der oberen erschreckte. In
den besseren Stadtteilen war der Student unum-
schränkter Herr des Pflasters» das er nicht selten
nach dnem Gelage auch am hellen Tag mit der
ganzen Länge seiner Person okkupierte, die her-
ankommenden Fuhrwerke zu einem breiten Bogen
Swingend. Bs gibt eine sehr ergötzliche Schil-
derung der Sitten und Gewohnheiten der TüUn-
ger Studenten aus dem sechzehnten Jahrhundeft;
diese traf in der zweiten Hälfte des neunzehnten
noch mannigfach zu. Noch hallte von Brücke zu
Brücke und aus allen Neckarf enstem der anti-
diluvianische Ruf „Jockele sperr!", wenn unten
die biederen Schwarzwaldflösser vorüberfuhren.
Statt der Weltpoiitik, die es noch nicht gab, ab-
sorbierte die gegenseitige Stellung der Studenten-
korporationen das öffentliche Interesse» und die
Kämpfe der weissen und der roten Rose können
zu ihrer Zeit den Bürgern von England nicht
wichtiger erschienen sein als denen von Tübingen
die Händel der roten, grünen und blauen Mützen.
Es gab sogar noch förmliche Studentenschlachten
auf den Strassen, bei denen alles, was Couleur
Digitized by Google
«97 —
trug» sich beteUigen muaste; ich erinnere mich
einer solchen, die eine ganze Nacht dauerte und
wobei die Kämpfenden wiederholt das alte Rat-
haus stürmten, um ihre Gefangenen zu befreien.
Auch der endlose Krieg der Studentenschaft mit
Nachtwächtern und Polizddienem brachte Ab-
wedislang ins Leben. Nun sollte ma n denhen»
dass eine Bürgerschaft, die an den Anblick solcher
Burschenfreiheit gewöhnt war, auch sonst einer
heiteren und freien Weltauffassung gehuldigt
hätte. Dem war aber nicht so. Viehnehr rächte
sich der „Philister" für die schrankenlose Frei-
heit, die er dem Studenten seit Jahrhunderten zu-
gestand, durch um so grössere Feindseligkeit
gegen allesneue und ungewohnte^ das von anderer
Seite kam. Die Zustände waren dorfartig ohne
die ländliche Harmlosigkeit. Aus der kleinen
Stadt, die schon so viel Grosse beherbergt hatte»
fielen Strahlen des Geistes weit über die Lande»
aber dieses Licht war nur in der Feme wahr-
nehmbar, im Innern blieb es stockfinster. — Auch
der gesellschaftliche Boden war schwierig, weil
die kleinstädtischen Verhältnisse bis in die aka-
demischen Kreise nachwirkten» die überdies durch
wissenschaftliche und politische Fehden vielfach
gespalten waren. Mein Vater hatte darum wohl-
weislich die Antrittsbesuche schon alle vor unse-
rer Ankunft allein absolviert» denn er wusste!
wohl» dass snne' Frau jede gesellschaftliche Kon-
vention hasste und mit ihrer impulsiven Natur
wenig geeignet war» den tausendfältigen Rück-
Digitized by Google
— 998
sichten, die auf diesem Boden gefordert wurden,
Rechnung m tn^en. So behielt aie freie Hand»
sich ihren Umgang selbst su wählen. Zunächst
war alles eitel Sonnenschein. Meine Mutter, die
den Geburtsadel so niedrig angeschlagen hatte»
aber um so grössere Ehrfurcht vor den akadrai-
sehen Würden hegte^ fühlte sich mit den Ihrigen
unmittelbar an die Brüste der Weisheit versetst»
und für uns Kinder war jeder Wechsel an sich ein
Hochgenuss. Zum Umzug war wieder die un-
ermüdliche Tante Bertha erschienen» und dass wir
die letste Nacht in Kirchheim auf dem Boden
schlafen durften, weil die Betten schon voraus-
geschickt waren, das setzte der Glückseligkeit die
Krone auf. In Tülmigen erwartete uns der Vater
an der Bahn* um uns in die von ihm gemietete
Wohnung m führen. Bei der Einfahrt durch-
zuckte das Herz der Gattin die düstere Ahnung,
dass dies die letzte Station auf des Dichters Le-
bensreise sei und dass sie ihn in diesem Boden
einst werde betten müssen. Doch sein gutes Aus-
sehen verscheuchte gleich das schwarze Gespenst.
Das neue Haus lag einige hundert Schritte vom
Bahnhof entfernt an der Steinlach, einem eiskal-
ten Flüsschen» das mehr Kiesel als Wasser führte»
uns aber gleichwohl, sobald nur der Schnee
schmolz, zum baden lockte. Jenseits der Stein-
lach dehnte sich eine grosse Wiese mit Schi ess-
ständen aus» die von der Studentenschaft täglich
xumExerzierenbenutzt wurde; auch gab es grosse
Aufzüge daselbst mit Waffen und Fahnen, denn
Digitized by Google
— 299 —
die Jugetid war damals gerade sehr kriegerisch
gestimmt, und das Lied „ScMeswig-Holsteiii
meerumschlungen** tönte Tag und Nacht durch
die Strassen. Beim Einzug gab es einen neuen
Jubel» demi ein guter Geist hatte schon für uns
gewaltet: wir fanden in der Spei s e k a mme r alle
Gaben Gottes aufgespeichert, ganze Körbe voll
Apfel und getrockneter Früchte, Würste an
Bindfaden aufgehängt imd viele andere gute
Dinge, die eine Jugendfreundin unserer Gross-*
mutter Brunnow, die „Kriegsministerin'' von
Miller, die in Tübingen dem Hause eines Schwie-
gersohns vorstand imd mir als eine sehr resolute
Dame mit tiefer männlicher Stimme in Erinne-
rung steht, 2U unserer Überraschung dorthin ge«
schafft hatte. Am Abend wurde uns dann noch
ein herzlicher Willkomm im Hause des alten
Justizrats Karl Maier zuteil, jenes schwäbischen
Poeten, an dessen unschuldiger Muse Heine so
oft sein Mütchen gekühlt hat. Der hochbetagte,
aber sehr temperamentvolle Herr schloss gleich
meine Mutter, zu der ihn politische Übereinstim-
mung hinzog, aufs zärtlichste ins Herz, und beide
pflegten sich von nun an bei jeder Gelegenheit
in Versen anzusingen. Auch uns jungem Volk
wurde viel Freundlichkeit von ihm zuteil, denn der
Dichter der Blumen und des Frühlings hatte ein
Kindergemüt, das sich auf den Umgang mit Kin-
dern verstand. Bd seinen hohen Jahren war er
noch so leichtfüssig, dass er uns einmal auf einem
Spaziergang zum Schrecken seiner Töchter voll
Digitized by Google
Ungestüm zam Wettlauf aufforderte, wobei wir
2um Glfick die Erleuchtm^^ hatten, ihn nicht ina
Gefährliche zu steigern, sondern uns nach kurzem
Rennen besiegt zu geben. Während der wenigen
Jahre, die ilun noch beadiiedcn waren, gehörte
der alte Herr mit semen zwei unverheirateten
Töchtern, die ihm haushielten, zum nächsten
Freundeskreis meiner Eltern.
JDas meinem Vater zugefallene Amt war alles
eher als eine Sinekure. Es bestand Torsugsweise
im Rechnungswesen, und der kärgliche Gehalt
war in den ersten Jahren mit starken Abzügen
belastet, wesshalb sich die Lage vorerst nur we-
nig gebessert fand. Im September schrieb er an
den ihm befreundeten Grermanisten Pfdiffer:
„Es ist ein hartes Jahr, das ich zurückzulegen
im Begriffe bin, auch amtlich. Da habe ich nun
zwar die ärgsten Berge abgetragen, aber es bleibt
noch immer viel Schreiberei und Redmerei. Zu-
dem ist die Einrichtung des Bibliotheksverwal-
tungszimmers so, dass man nicht leicht etwas für
sich tun kann, und die Nebenstunden zu Haupt-
stunden zu machen, das ist eine Kunst, die man
lernen muss.*'
Indessen lernte er schnell auch diese Kirnst.
Sein Jugendfreund Klüpfel, der Schwiegersohn
Schwabs, den er an der Bibliothek zum Kollegen
hatte, erleichterte ihm die ersten Schritte im Amt.
Er lebte, wie mir emer seuier jüngeren Kollegen
schreibt, still und unverdrossen seiner Pflicht, war
unermüdlich, wenn es galt, für andere einen
Digitized by Google
^01
«chwierigen literarisch«!! Nachweis za liefern,
und ein Jeder konnte sich seiner entgegenkommen*
den Gefälligkeit erfreuen. Die Amtsstunden waren
von neun bis zwölf und von zwei bis vier Uhr,
Da der Weg nach der auf Schloss Hohent Uhingen
befindlichen Bibliothek ein weiter war, pflegte er
am Mittag gar nicht nach Hause zu kommen,
meine Mutter trug ihm täglich in einem Körbchen
etwas Fleischbrühe, Gerstenschleim oder derglei-
chen hinauf. £r benutzte alsdann die Mittags-
pause zu eigener schriftstellerischer Arb^t, deren
Manuskript er in seinem Stehpult im grossen Bi-
bliothekssaal unter den Rechnungen verborgen
hielt wie ein Schüler die verpönten Allotria unter
den Schulheften. In diesen Stunden, wo er in der
wdten Bücherwelt völlig alldn war, fühlte er sich
behaglich wie in einer ihm unterstellten Provinz.
Zuweilen wurde das eine oder andere von uns
am Mittag dorthin mitgenommen und durfte dann
unter seiner Führung die grossen Bücherschätze
oder die Gipsabgüsse nach Antiken besichtigen,
allein das Trappistenschweigen, das uns in den
weiten hallenden Räumen auferlegt war, wirkte
zu beklemmend, und wir blieben lieber draussen
im Freien, um uns in der grünen Wildnis bei dem
zerschossenen Melacsturm umher zu treiben oder
das weit vorgeschobene Schänzchen zu ersteigen,
das damals noch keine Last als die seiner ehr-
würdigen Linden trug und das dnen stolzen
Rundblick auf das grüne lachende Neckargelände
zur Linken und das düstere Ammcrtal zur Rech-
Digitized by Google
ten gewährte. — Erst um vier Uhr wanderte er
nach Hause, um auf dem Zimmer seine erste und
einzige Mahlzeit zu sich zu nehmen. Danach ar-
beitete er noch bis Mitternacht am eigenen Pult,
wobei er langsam eine halbe Flasche Wein und in
späteren Jahren noch ein Glas Grog austrank. Die
literarischen Ergebnisse dieser Jahre sind vorwie-
gend gelehrter Natur: die kargen Mussestunden
gestatteten der Phantasie keine freien Flüge mehr»
während andererseits die Bibliothek seinen wis-
senschaftlichen Studien reiches Material und fort-
gesetzte Anregung bot. Auch diese Arbeiten
geben nach Inhalt und Umfang von rastloser gei-
stiger Tätigkeit Zeugnis, Leider kam der Plan
einer Sammlung seiner grösseren und kleineren
Aufsätze literarhistorischen Inhalts, dem die
künstlerische Form einen Anspruch an dauerndes
Interesse gibt, nie zustande, sie liegen vielfach in
Zeitschriften xerstreut, und manche unter ihnen,
sind mir niemals auch nur vor die Augen gekom-
men. Die im Jahr 1865 in der Beilage der »All-
gemeinen Zeitung" veröffentlichten Studien „Zur
Geschichte des Romans Simplicissimus und seines
Verfassers'' trugen ihm von der Universität Ro-
stock den Doktortitel honoris causa ein; es war
dies die einzige äussere Auszeichnung, die ihm
im Leben widerfuhr. Auch Übersetzimgen in
Vers und Prosa beschäftigten ihn vdeder wie in
der Jugendxdt und seigen ihn in seiner unter-
dessen noch gereiften sprachlichen Meisterschaft.
1867 erschienen seine „Lustigen Weiber von
Digitized by Google
— 303 —
Windsor'' mit Einleitims xmä Anmerkimgeii/)
und im folgenden Jahr, das für ihn ein besonders
fruchtbares war, die „Neun Zwischenspiele des
Cervantes",*) ausserdem eine lange Reihe von
Untersuchungen über Gottfried von Strassburg
und das Ciottesurtett seiner Zeit»*) sowie das
höchst interessante Büchelchen „Zu Shakespeares
Leben und Schaffen,***) das in eben so tiefgründi-
ger wie überraschender Beweisführung ein pikan-
tes Stückchen altwürttembergischer Hofge-
schichte, die sogenante „Badenfahrt'' mit emer
Szene aus den Lustigen Weibern verknüpft. In
diesen zwei Arbeiten ist es von ganz besonderem
Reiz» wie neben der streng methodischen
Forschung der sichere dichterische Instinkt her-
geht, der sich in ihren Dienst gestdlt hat um die
verborgenen Anregungen und inneren Notwendig-
keiten aufzuspüren, die auf einen grossen Dichter-*
genius gewirkt haben, und wie er dadurch zu
Resultaten gelangt, die der blossen forschen-
den Gelehrsamkeit nimmermehr erreichbar wären.
Als ständiger Mitarbeiter am Shakespeare- Jahr-
buch und an Pfeüfers Germania sah er jetzt we-
William Shakespeares dramatische Werke. Heraus*
gegeben von Friedrich Bodenstedt.
Bibliothek ausländischer Klassiker. Hildbui^hausen,
Verlag des Bibliographischen Instituts. 1868.
Später noch einmal gedruckt im Jahrgang XV. der
Germania. Wien, Druck und Verlag von Carl Gerolds
Sobn. 1870.
V Mfinchen. Carl Merhoffs Verlag. 1868.
Digitized by Google
— 304 —
nigstetis seine wissenschaftlichen Schriften nach
Gebühr i^ewürdsgt.
Seine Gesundheit schien sich m jenen ersten
Tübinger Jahren sehr zu erholen. Die Nerven
waren ruhig, und er hatte keine Zeit sich zu viel
in sich selbst zu kehren, weil die Aussenwelt mit
ihren Ansprüchen dazwischen stand. Trotz ge-
wisser Schikanen im Amte fühlte er sich zufrie-
den, einen festen Boden unter den Füssen zu
haben. Jeden Donnerstag-Abend opferte er der
Geselligkeit in einem geschlossenen Professoren-
kreis, der sich in der „Post** zusammenfand* Die
Ereignisse von 1866 verschoben aber bald die ge-
selligen Beziehungen und trieben meinen Vater
aus diesem Zirkel wieder heraus. Die Fluten der
Erregung gingen« solange wir mit Preussen im
Kriege lagen und noch lange danach, vM zu hoch,
als dass politische Gegner friedlich am gleichen
Tische sitzen, geschweige im Privatleben Freunde *
bleiben konnten. Die ganze Stadt teilte sich in
zwei feindliche Lager, es gab nur noch „Preus-
sen" und „Antipreussen". Die Anwesenheit vieler
norddeutscher Familien, deren Lebensstil von
dem der einheimischen abstach, und der Umstand,
dass die scharenweise nach Tübingen kommenden
norddeutschen Studenten oft beim besten Vellen
nicht den rechten Ton mit den Landes-
kindem trafen, mochte die politische Spaltung
noch verschärfen, wie ja der Gegensatz zwischen
Mord- und Süddeutschen damals noch viel weni-
ger ausgeglichen war, als heute. So griff aber-
Digitized by Google
Aufnahme vom Sommer 1873
Digitized by Google
Digitized by Google
305 —
mals die Politik tief in die persönlichen Verhalt«
nisse hinein, zerriss alte Bande und knüpfte neue.
Mein Vater war noch immer grossdeutsch gesinnt
und konnte in dem Kampf, der sich entspann, we-
der mit Osterreich noch mit Preussen sympathi-
sieren, am wenigsten freilich mit dem letzteren,
dem er die Entfesslung des Kriegsdämons schuld
gab; dass dieser Krieg die Einheit Deutsch-
lands im Schosse barg, ahnte damals niemand. Er
hielt sich zu denen» die die preussische Politik be-
kämpften ; schien doch tun jene Zeit für die Mehr«
zahl der Süddeutschen und besonders für die alten
Achtundvierziger das blosse Wort „ Preussen'"
alles zu enthalten« was es freiheitsfeindliches und
bekämpfenswertes auf Erden gab. Selbst in un-
seren Kinderköpfen arbeiteten damals hochge-
schwungene, wenn auch sehr verworrene patrio-
tische Phantasien g^en den yermeintUchen
Fdnd der deutschen Zukunft, ynr schmiedeten
KriegsHeder bis herab zum Jüngsten, und lebhaft
erinnere ich mich, wie, als eines Tages vom He-
ehingischen her preussisches Militär bei uns ein-
rückte und gerade vor unserem Haus ein mit
schwarzweissen Fähnchen besteckter Wagen hielt»
ich mir grosse Mühe gab, den Tag, wo das ge-
schehen konnte, für den schwärzesten meines Le-
bens anzusehen«
Da das Haus an der Steinlach kalt und zugig
war tmd der grobe Hausbesitzer überdies mit
meinen Eltern in einem beständigen Kriege lag,
der schliesslich bis zum Prozess führte» so zogen
Iiold« Kurs, Hemann Kur. 20
Digitized by Google
3o6 —
wir im April 1867 aus und lieasen uns in einem
auf dem Marktplatz gelegenen altersgrauen Haus
mit spitzem Giebel und schön geschnitzter alter*
tümlicher Holztreppe niedert das einem Konditor
gdiörte. Bs hatte seinen Haupteingang in der
dflstem Kronengasse, — von dort aus lag unsere
Wohnung im zweiten Stock; von der andern Seite
aber blickten die Fenster turmhoch auf den tief-
gelegenen Marktplatz hinab und waren voll
Sonne. Im Erdgeschoss» das vom Markt aus den
ersten Stock bildete, lag ein vielbesuchtes Studen-
tencafe, wo es meist die ganze Nacht nicht stille
wurde« Oft kamen im Morgengrauen nacht-
schwärmende Gäste, die, wenn sie die Haustür
geschlossen fanden, vor unseren Fenstern sangen
und jubilierten oder wohl auch fluchten und wet-
terten. Mein Vater fand daher erst seine Ruhe,
als nach einiger Zeit noch zwei Mansardenstüb-
chen frei wurden, wohin er sich mit sdner Arbeit
flüchten konnte; das eine enthielt sein grünes
Stehpult und den runden Tisch, worauf man ihm
das Essen stellen musste und der für gewöhnlich
ganz mit Büchern und Broschüren bedeckt war,
sowie einen Lehnstuhl, von dem er wenig Ge-
brauch machte, da er beim Arbeiten wie beim
Essen zu stehen pflegte, das andere sein Bett und
sein wenig umfangreiches Büchergestell — das
Gfos seiner Bibliothek war nämlich beim Wegzug
aus Karlsruhe im Gewahrsam eines Freundes
zurückgeblieben, der nichts mehr davon heraus-
gab. — Es waren die dürftigsten Räume des
Digitized by Google
— 307 —
Hauses» aber die einzigeii, wo er sich
vor Störung sicher fühlte« Der Hauidsesitser
war ein Pole mit Namen Genschowsky; zu
ihm und seiner Familie, die aus Frau und
Schwester bestand» traten wir sämtlich in
das freundlichste Verhältnis. Diese dnfachen
Menschen fassten für den Dichter, der unter
ihrem Dach wohnte, eine tiefe Verehnmg, die er
ihnen durch trauUchen Verkehr vergalt. Manche
Abendstunde» wenn der Laden nach dem Markt-
platz geschlossen war, sass er drunten in dem
kleinen Stübchen der Konditorei, das zwei Stock-
werke tiefer als die Strasse lag, und unterhielt
sich mit den freundlichen Hauswirten. Besonders
die Frau» eme prächtige Schwabin» voll Charakter
und Mutterwitz, zog ihn durch ihr fcernhaftes
Wesen an.
Lieb war ihm auch der Blick von den Fenstern
nach dem alten Marktplatz» auf dessen Gesumme
er schon als Student gerne von seines Rudolf
Kauslers Giebelfenster hinabgehorcht hatte; uns
gegenüber das ehrwürdige Rathaus mit seinem
Storchennest auf dem abschüssigen Giebeldach
und den zu jener Zeit noch nicht renovierten
Wandbildern, davor der schöne altertümliche
Neptunsbrunnen und rings auf den leicht gesenk-
ten Platz mündend die düstern, gekrümmten,
steil abfallenden Gassen; das alles bot ein einheit>
liches höchst charaktervolles Bild, das man nicht
leicht vergessen wird. Hier fand wöchentlich
zweimal der Gemüsemarkt statt» wo die weibliche
90*
Digitized by Google
Jugoid mit kldnen Körbchen am Arm und aittig
von den Müttern begleitet, von der Ilanierenden
Studentenschaft in Augenschein genommen
wurde; im Frühjahr und Herbst aber zog die
grosse Messe die ganze Land- und Stadtbevölke-
rung auf diesem Räume zusammen, und es war
ein fröhliches Bild, wie sich die Steuilachbauem
in ihren langen Leinwandschössen und die hüb-
schen Bauemmädchen mit rotem Mieder und
langen blonden Zöpfen» das kokette Mützchen
schief auf dem Kopf, zwischen der dichtgekeilten
Bürger- und Studentenschaft durchdrängten.
Vom Marktplatz waren nur wenige Schritte bis
zum Aufstieg des Schlosses, der sogenannten
„Burgstaige**, was aber meinem Vater, der
gleichwohl fortfuhr, die Mittage auf der Biblio-
thek zu verbringen, eher zum Nachteil gereichte,
weil die ihm so nötige Bewegung im Freien da-
durch wegfiel.
Kaum dass die Existenz gesichert war, so
brachen neue schwere Sorgen über die Familie
herein.
Noch in dem zugigen Haus an der Steinlach,
während eines besonders grimmigen Winters war
unser damals fünfjähriger Balde, zuvor das Bild
der blühendsten Gesundheit, an akutem Gelenk-
rheumatismus, der in der Stadt herrschte, er-
krankt. Er hatte drei Wochen in heftigen
Schmerzen verbracht, dann war die Krankheit
gewichen, und man hielt ihn für genesen; dass
mit diesem Anfall der Grimd zu seinem langen
Digitized by Google
I
— 309
Leiden und frühen Tode gelegt war, ahnte zum
Glück noch niemand. Doch seitdem klopfte die
Krankheit alljährlich aufs neue bei ihm an, und
im sehnten Lebensjahr entwickelte sich daraus
ein gefährlicher Hersfehler. Immer schwerer
wurden nun die Heimsuchungen, immer kürzer
die Intervalle, wo es ihm vergönnt war, wie ein
gesunder Mensch zu leben. DasLeiden verhinderte
ihn am regelrechten Schulbesuch, da er nur im
Sommer, wo er sich leidlich wohl fühlte, im Gym-
nasium hospitieren konnte ; so war er zumeist auf
den mütterlichen Unterricht und später auf eige-
nes Studium sowie auf Lektüre angewiesen* Auch
von den Jugendfreuden blieb er ausgeschlossen,
denn das arme Herz ertrug keine, rasche Bewe-
gung imd musste mit der Zeit sogar vor freudi-
gen Aufregungen behütet werden. Doch mit
sdnen lebendigen Interessen schuf er sich nach
und nach eine geistige Welt, die ihm das Versagte
ersetzte. Umgeben von Vögein und anderem Ge-
tier, das er liebte, lag er in seinem Bette lesend
und studierend; sein Lieblingsfach war die Zoo*
logie, in der er sich mit der Zeit gründliche Kennt-
nisse aneignete. Wenn er sich nicht selbst be-
schäftigen konnte, so musste man ihm vorlesen
oder Geschichten erzählen — durch ihn kam ich
zum Prosaschreiben, denn ich musste ihm
Märchen erfinden, die er dann auch nieder-
geschrieben sehen wollte oder gelegentlich
selber niederschrieb, wie sie aus meinem
Munde kamen. Machte die Krankheit eine
Digitized by Google
— 3IO —
Pause, so genoss niemand seliger als er
die wiedergeschenkte Sonne. Und je mehr sein
äusserer Kreis sich durch das Leiden verengte,
desto intensiver entwickelte sich seine Genuss-
föhigkeit: er wsr zuletzt imstande, aus dem An*
blick einer blühenden Pflanze Freuden zu saugen,
wie sie den Gesunden, Glücklichen völlig .un-
bekannt sind. Da dem kranken Kinde nichts ver-
wehrt wurde, hätte er Mcht der Quälgeist des
ganzen Hauses werden können, aber sein Wesen
war voll Sonnenschein; den Neid kannte er nicht,
er nahm von seinem Bette aus an unsem Jugend-
freuden teil» tmd nie kam eine Klage über sein
Schicksal in seinen Mund, noch liess er seinen
Mut niederschlagen. Er hatte eine zarte ritter-
liche Verehrung für das andere Geschlecht, und
den hübschesten unter den jungen Mädchen» die
unser Haus besuchten, pflegte er in stammelnden
Versen, die der Kindlichkeit seines Wesens ent-
sprachen, zu huldigen. Poetisches Talent besass
er freilich nicht, dafür war er mit seinem Idealis-
mus, seinem Humor, seiner unverwüstlichen Hei-
terkeit und Naivität selber ein Stück lebendiger
Poesie. Und wie er als Knabe lange die stam-
melnde Kindersprache beibehielt, die ihm etwas
Rührend-tmbehüfliches gab, so folgte ihm die Ge-
wohnhat, sich langsam und mit naiver Originali-
tät auszudrücken, auch in die Jünglings] ahre hin-
über. Er hatte einen schönen, einfach kräftigen
Kopf von ausgesprochen altdeutschem Schnitt»
aber durch das Leiden vergeistigt und mit einem
Digitized by Google
— 3" —
Siegel von Unachiild und Rdiüieit gemclmet,
das ibn wie ein Wesen aus anderen Welten er-
scheinen Hess. Niemand wird seine strahlende
Sicgermiene und das geheimnisvolle Lächeln sei-
ner Mundwinkel vergessen« der ibn als Einund-
zwansigjährigen in Florenz auf dem Totenbette
liegen sah.
Zum Glück blieb dem Vaterherzen der Schmerz
dieses Verlustes erspart. Man wusste zwar schon
damals, dass dem Jüngsten nur ein kurzes Dasdn
bes^eden sein konnte, tmd beide Eltern suchten
ihm deshalb, soviel es die kargen Glücksumstände
gestatteten, jeden Wunsch zu erfüllen, aber man
sah das Verhängnis noch in weiter Feme. Die
Mutter widmete sich schon damals ganz dem
kranken Sohn und sollte allmählich mit ihm zu
einer Person verwachsen, dass eins die Gedanken
des andern erriet. Wenn die schweren Anfälle
der Atemnot und der Herzbeklemmungen kamen,
sass sie oft wochenlang Nacht für Nacht an sei-
nem Lager, und später, als das Leiden zunahm,
verlernte sie das Schlafengehen ganz: ans Fuss-
ende sones Bettes hingekauert, nickte sie höch-
stens noch auf Minuten ein tmd wurde von ihm,
der den Unterschied zwischen Tag und Nacht
nicht mehr kannte, gleich wieder zu langen Ge-
sprächen aufgerüttelt« So schlimm wurde es frei-
lich erst in Florenz, In seinen letzten Lebens-
jahren, in Tübingen gab es immer wieder Pau-
sen, die noch ab und zu der Illusion Raum Hessen.
Zur Zeit, wo die beiden älteren Brüder Medizin
Digitized by Google
313 —
studierten, widmeten auch sie ihre Zeit und ihre
junge Erfahrung dem Leidenden, und ganz be-
sonders war es Alfred, der oft auf die studentische
Geselligkeit verzichtete, um die Nachtwachen
seiner Mutter zu teilen, was ihm bei seinem auf
jauchzende Irebenslust gerichteten Temperament
doppelt hoch von ihr angeschlagen wurde.
Das Leben dieser beiden Brüder, die dem
väterlichen Namen soviel Ehre gemacht haben,
ist von mir anderwärts geschildert worden; hier
kann bloss ihr Jugendbild Raum finden, das jeiie
veredelten Züge nur eben ahnen Hess. Sie brachten
um jene Zeit mit ihrer überschäumenden Jugend-
kraft viel Stürme in das häusliche Dasein. Die
zwei, die sich später in so fester Freundschaft
zusammenschlössen, dass nichts ihren Bund
trüben konnte, die ein Jahr uns hinwegnahm,
weil der unerwartete Tod des Alteren auch
die strotzende Lebenskraft und -lust des Jünge-
ren brach, diese zwei haben lange Zeit ge-
braucht, um sich innerlich zusammenzufinden.
Sie mussten sich zueinander durchkämpfen,
um ihres gemeinsamen Blutes so recht innc
zu werden, und vielleicht war das mit ein
Grund, dass sie sich später so fest umfassten.
Ich glaube, dass es gerade die bedeutenderen Na-
turen sind, die sich auch das, was ihnen schon in
der Wiege zufiel, wie die Bruderliebe, erst noch
erkämpfen müssen , um es ganz zu haben, und ich
denke mir sogar die Dioskuren in ihrer Jugend
als feindliche Brüder. Der Vater nahm auch den
Digitized by Google
— 3^3 —
Krieg seiner swd ältesten Söhne, die damals wie
zwei sich bekämpfende Elemente erschienen,
nicht so tragisch wie die Mutter, er kannte sein Blut
und erinnerte sich, wie viel auch er mit seinem
Bruder hatte ringen müssen, bevor ihr Bund fest
geschlossen wurde. Es ist gewiss so schön nach
aussen, wie beglückend nach innen, wenn eine Fa-
miliengruppe von Anfang an fest zusammenhält im
Glauben, Wollen und Meinen, aber es deutet nicht
auf künftige kräftig entwickelte Persönlich-
keiten. In unsrem Hause war es anders, alle be-
dauerten es ohne es ändern zu können: ein jeder
Kopf hatte seine eigene Art, die Dinge anzusehen,
und obgleich sich das nach aussen nur als viel«
fache Nuancierung derselben Weltanschauung
darstellte, erschienen diese Abweichungen nach
innen oft wie eine grosse Kluft.
Edgar war mit siebzehn Jahren Student; seine
Begabung war so gross, dass er auch durch die
glänzendsten Leistungen niemand in Erstaunen
setzte, vielmehr als in einem Schuljahr das ihm
sonst regelmässig zuerkannte Prämium einmal aus-
blieb, erregte es der Mutter schmerzlichstes Be<
fremden, so sehr war man gewohnt, ihn immerdar
in der vordersten Reihe zu sehen. Alfred dagegen
sass mit Unlust auf der Schulbank, und da des
Bruders reissende Fortschritte den Vergleich
herausforderten, galt der arme Junge eme Zeit«
lang für unbegabt, hielt sich auch selbst dafür,
was ihm einmal bittere Tränen auspresste zum
grössten Erbarmen unseres Vaters, der ihm nun
Digitized by Google
— 314 —
verdoppelte Liebe ^iiwandtc^ um ihn m trösten.
Doch erwies dcfa diese Fürsorge als unndtig» denn
kaum, dass der physiche Kraftüberschuss dem
Knaben gestattete sich zu samm eln,_ entwickelte
er in feuriger Lemgier gleichfalls ganz ausge-
zeichnete Gaben» und sein vorsügliches Gedächt-
nis ersetzte ihm, was der ältere an schöpferischer
Eigenkraft voraus hatte. Erst nach völlig erlang-
ter Reife aber sollte sich in ihm die strahlende
Liebenswürdigkeit entwickeln, mit der er später
jeden, der seinen Weg kreuzte, bezaubert hat.
Dem Vater wurde gerade noch die Freude zuteil,
auch den zweiten Studenten im Hause zu sehen;
wie Alfred heimlich das Physicum bestand, um die
Mutter mitseinemBrfolgzuüberraschen, und sehie
ferneren Fortschritte, mit denen er sich eifrig auf
Edgars Fersen hielt, während in dem dritten
Sohne Erwin das künstlerische Talent durch-
brach, das ihn von einer mit Unlust besuchten
Schule weg in sein natOrUches Fahrwasser trieb»
das alles sollte er nicht mehr erleben.
Edgar tratj nachdem er den grüblerischen, *
schweigsamen Knaben abgelegt hatte, an der
Schwelle des Jünglingsalters in ein Stadium von
hochfliegendem, fast zur Schwärmer^ gehendem
Idealismus tmd stellte Anforderungen an die
menschliche Natur, wie sie nirgends erfüllt wer-
den. Jünglingsfreundschaften Baaste er mit hd-
liger Glut und litt bitter von dem Kontrast seiner
hochgespannten Erwartungen nut der Realität
des Lebens. In diesem Alter, das bei begabten
Digitized by Google
3^5 —
Naturen ganz der Idee gewidmet ist» warf er sich
auf das Studium der sozialen Probleme und nahm,
da sein feuriges Temperament ihn nicht lange
bei der Theorie verharren liess, an der sozialisti-»
sehen Propaganda teil. Es waren die mütterlichen
Weltverbesseningstriiume, nur ins Männliche po-
tenziert, wie er überhaupt in seinem Wesen viel-
fach nach der Mutter geartet war ; ihr bewegliches
Blut führte ihn denn auch frühe hinaus in die
Welt» wo söne Führer- und Heldennatur sich zu
ihrer wahren Bestimmung entwickeln konnte und
wo der Zug zum Absonderlichen, der in ihm lag»
sich nur noch als Originalität und vollkommene
Unabhängigkeit im Denken undHandeln äusserte*
Seine Entwicklung ging stossweise unter heftigen
Zuckungen vor sich, deren jede ihn um ein sicht-
bares Stück auf seinem Wege vorwärts brachte.
Natürlich fehlte es dabei an Harmonie und wohn-
lich war es damals nicht in seiner Nähe. Er war
wie eine inmier zuckende, züngelnde Flamme.
Aufs intensivste durchdrungen von dem, was er
gerade für das richtige hielt, ertrug er keinen
Widerspruch, am wenigsten von der Schwester»
^e jünger war als er und mit der er in der Kind-
heit jeden Gedanken, jede Regung geteilt hatte.
Noch immer hingen wir aneinander wie zur Zeit,
IVO wir gemeinsam von einem Wikingerschiff
träumten» mit dem wir die Meere befahren und
ferne Länder entdecken wollten, aber auch ich
musste mir jetzt meine eigenen Wege suchen.
Seine Liebe rührte mich ebenso oft, wie mich
Digitized by Google
— —
scme Tyraim^ empörte. Er warb glühend um
Gegenliebe, wollte mir aber keine Freiheit lassen
und empfand jeden selbständigen Gedanken als
ein an ihm begangenes Unrecht. Man musste
alle Diskufli^oaeii vermeiden, aber ihn schmerzte
schon das Schweigen, wenn er darin eine andere
Meinung las. In weit höherem Masse als später
befriedigte ihn damals eine rein materialistische
Weltauffassimg, mit der ich niemals etwas an-
fangen konnte, mid er sah in meinem Off enlassen
der metaphysischen Türen den ersten Schritt cum'
Aberglauben. Politische und soziale Fragen
mussten wir gleichfalls vermeiden, denn er suchte
das Heil in einer völlig neuen Gesellschaftsord-
nung, mid ich sehnte mich nach höheren Kultur»
formen: sein Schlagwort war „frei", das meinige
„schön"; wir hätten sie ebenso gut austauschen
können, denn im Grunde wollten wir doch beide
dasselbe, und häufig genug war bei unseren er-
regtesten Kontroversen der Unterschied nicht
grösser, als einstmals im Kinderwägelchen zwi-
schen Zidde und Didde. In der Literatur fanden
wir uns wieder, allein selbst hier gab es Gebreiten»
wo es nicht geheuer war. Auch durch eine selt-
same catonische Strenge, wie sie oft den Über-
gang vom Knaben zum Jüngling zeichnet, er-
Schwerte er der Schwester und sich selbst das
lieben, denn harmlose Tanzvergnügen, denen ich
mich gerne hingab, verursachten ihm Schmerz,
da er sie als verwerflich betrachtete. Oft stellten
sich wohlmeinende junge Freunde, die beiden
Digitized by Google
— 317 —
Teilen gleich ergeben waren, alB Pufler da-
zwischen, um die Ausbrüche seines leidvollen Un-
muts auf sich selber abzulenken. In schmerz-
lichen Gedichten, worin noch der frühere Zusam-
menklang nachzitterte, klagten wir einander
gegenseitig dieser Entfremdung an, die doch von
keinem Teile gewollt war. Bald aber hatte er
dieses wunderliche Stadium durchlaufen, er legte
den Cato ab imd warf sich mit einer überraschen-
den Wendung in die stärksten Wogen des Lebens,
ohne seine Innerlichkeit und seinen Idealismus
dabei einzubüssen. Dieser Umschwung fiel mit
seinem Übergang aus der Philologie in die Medi-
zin zusammen, der von mir mit Jubel begrüsst
wurden weU ich das deutliche Gefühl hatte, dass
bd den Eigenheiten seines Wesens die Philologie
ihn abseits vom Leben geführt hätte. Bei den
Eltern erregte das „Umsatteln"' zuerst einige Be-
stürzung, allein er verwischte schnell diesen Ein-
druck, indem er nicht nur das in dem ersten Fach
verbrachte Semester wieder einholte, sondern in
seinem Lauf alle Mitstrebenden hinter sich liess.
Auch das ausgelassene Schwelgen und Schwär-
men, dem er sich jetzt ergab, hielt seine Fort-
schritte nicht auf, denn die durchtollten Nächte
waren ihm kein Hindernis, des Morgens so zeitig
ins Kolleg zu wandeln, wie das bedächtigste
Muttersöhnchen, und sein Kopf blieb auch inmit-
ten der lautesten Zerstreuung zur Arbeit gesam-
melt. Schon damals brausten über sein Jünglings-
herz Stürme, die man seiner mädchenhaft-zarten,
Digitized by Google
- 3i8 —
vergeistigten Erscheinung nicht zutraute. Dieses
intenaive Erleben begann jetzt die anfäng^che
Einaeitigkeit adnea Weaena auasugleichen, und
die starke äussere Tätigkeit, zu der ihn die neue
Berufswahl führte, liess kein Verbohren ins Ab-
atrakte mehr au« Während er ao aua den Selt-
aamkeiten seines Knabenalters herausschritt, ent-
wickelte aich jetzt in ihm eine unwiderstehliche
Intensität des Wollens und Tuns, die ihn wie eine
ausdemlRohr geschleuderte Kugel erscheinen liess.
Alle diese Entwicklungaphasen der Jugend
apieiten sich ab, ohne daaa der Vater darauf eine
Einwirkung zu üben suchte oder sie nur zu sehen
schien. Vor allem hütete er sich, unseren hoch-
gehenden Jugendmut durch seine Enttäuschung
und Reaignation niederauachlagen. Um keine
niuaion wollte er una bringen, er, der so viele
Illusionen begaben hatte, und ein jedes sollte
sich, soweit es an ihm lag, nach seinen eigenen
inneraten Geaetzen entwickeln. Nicht einmal über
poetische Dinge gab er mir je den leiaeaten Wink,
noch sprach er ein Wort über den massenhaft
von mir verschlungenen Lesestoff. Unermüdlich
trug er mir von der Bibliothek die Heinebände
herunter, in deren Lektüre ich unterachiedaloa
achwelgte, obgleich ich wuaste, daaa er dieaen
Dichter nur sehr mit Auswahl liebte, was ich ihm
damals sogar ein wenig übel nahm. Sein einziger
Proteat gegen meinen Kultua beatand in den
Worten: „Du wirat vielleicht auch einmal andere
darüber denken;" eine Prophezeiung, die erst
Digitized by Google
— 319 —
viele Jahre später eintraf» als vor meinen Augen
der Flitter dieses Dichters abfiel und seine echte
Poesie in neuer Stärke hervortrat; da lernte ich
die väterliche Weisheit bewundern, die mir keine
Erkenntnisse aufdrängen wollte, die für mein Le«
bensalter verfrüht waren« Meine eigenen poeti-
schen Versuche» die ihm hinter meinem Rücken
vorgelegt wurden — er las sie, lächelte, streichelte
meinen Kopf, aber er sagte mir kein Wort dar-
über. Er hatte überhaupt eine heilige Scheu vor
dem Wachstum der jungen Seele und hielt jedes
willkürliche Eingreifen für frevelhaft, ganz Im
Gegensatz zu der „Treibhausungeduld** der Mut-
ter» wie er gelegentlich deren Drängen und Schie-
ben nannte. Mich besonders behandelte er gar
nicht als das Kind» das ich war» sondern so» wie
nach des alten Tacitus Zeugnis die Frauen von
unseren germanischen Urvätern behandelt wur-
den. Er liess^ was aus meinem Kindermunde
kam» wie eine Eingebung gelten» wozu die Ahn«
Hchkeit unserer Instinkte viel beitragen mochte:
wenn ihm Menschen missfielen, — das waren
neben den rohen oder kleinlichen vor allem solche»
die er »»natiurlos** nannte — so fühlte ich das an
meiner eigenen instinktiven Abneigung, denn Per«
sönlichkeiten wurden nie erörtert, er liess jeden in
seinem Zusammenhang gelten und legte sein Ur-
teil nur in die schweigende Stellung» die er gegen
ihn einnahm.
Je weniger er seine dichterische Welt mehr
gestalten konnte, desto mehr beschäftigte ihn ihr
Digitized by Google
— 3^0 —
inneres Weben; man scheute sich, ihn anzu-
sprechen. In tiefem Schweigen lebte er neben
uns, meist mit einem Abglanz seiner höheren
Welt auf den Zügen, niemals mürrisch oder ver-
drossen, aber ebensowenig fröhlich, ich erinnere
mich kaum, ihn einmal lachen gehört zu haben.
Den Kopf aufrecht und die Augen voU Glans» die
Hände auf den Rücken gelegt, die hohe Grestalt
noch unberührt vom Alter, so sah man ihn auf
den Strassen, in den Alleen Tübingens vor sich
hingehen, und oft blieben die jungen Leute stehen,
um sich diese ungewöhnliche Erscheinung einzu-
prägen. Verkehr pflegte er wenig. Sein nahes
Reutlingen besuchte er zuweilen, nicht allzu oft,
um den Duft der Erinnerung nicht zu gefähr-
den. Unter unseren jungen Freunden war ein
Philologe ihm besonders lieb ; wenn dieser ihn auf
dem Spaziergang begleitete und die Rede auf ver-
gleichende Sprachforschung brachte, ein Gebiet,
das ihn von jeher tief interessiert hatte, da lebte er
auf, ein inneres Glänzen hob an, und mit einem
Male wurde er mitteUsam. Nur die Welt seiner
Phantasie durfte nicht aufgestört werden; jeden
Versuch, den er machte, hineinzugreifen und sie
zu formen, hatte einen vulkanischen Ausbruch
zur Folge, bei dem alle Gestaltung unmöglich
wurde, und das erregte Nervensystem brauchte
alsdann lange Zeit, sich wieder zu beruhigen.
Sein rhythmisches Gefühl war so empfindlich ge-
worden, dass ihn jede heftige unruhige Bewegung
reizte, er litt darunter, wenn man auf der Strasse
Digitized by Google
— 3ßi —
nicht mit ihm Takt hielt oder B^egneade zwi-
«chendurchgeheii liest. Omina, nicht mehr ge-
glaubt, aber von einer früheren Menschheit der
Empfindung vererbt, mochten mitspielen: er
hasste es, wenn man mit dem linken Fusse zuerst
in sein Zimmer trat. In den letzten Jahren konnte
es ihm in diesen Dingen lüemand ausser mir
mehr völlig recht machen; daher wurde ich meist
gerufen, ihn auf dem Spaziergang zu begleiten,
er bot noir dann ritterlich den Arm, was er schon
zu tun pflegte, als ich nur eben an seinem Ell*
bogen hinaufzuwachsen begann, aber er setzte
meist seinen stummen Monolog fort. Ein lufti-
geres Band hat wohl nie Kinder mit ihrem Vater
verbunden; als er geschieden war, hielt sein An-
denken die Hinterbliebenen bdnahe fester zusam-
men, als zuvor seine leibliche Gegenwart.
Er seinerseits wusste wenig von unserem Le-
ben. Glücklicherwdse sah er auch nicht, was
das Verhängnis, anders zu sein als andere,
seiner Tochter auf diesem Boden für eme schwie-
rige Stellung bereitete. Als ich aus dem Traum
der Kindheit aufwachte, fand ich mich rings von
einer feindlichen Welt umigeben, die mich mit
einer Erbitterung verfolgte, deren Ursache nur
völlig dunkel war. — „Sie leben Ihrer Zeit um
fünfzig Jahre voraus," pflegte unser Freund und
Hausarzt, der treffliche DnGärttner, meiner Mut-
ter zu sagen. Dieses Vorausleben, woran sie fuch
von Jugend auf gewöhnt hatte, erregte jetzt unter
den Pfahlbürgern Tübingens einen ganz anderen
Iioldtt Kurs, Hcnnaim Kur. 31
Digitized by Google
— —
Anstoss^ als vor Zeiten in dem weltmännisch-
toleranten Kreis, dem sie durch Geburt angehört
hatte. AUein die Bosheit konnte doch nicht so
recht an sie heran. Ihr Trieb zum Helfen und
Wohltun, der sich lue genug tat, war za bekannt,
und ihre Anspruchslosigkeit und Nichtbeachtung
des Äusseren, die ihr etwas Unpersönliches gaben,
entwaffneten das Übelwollen. Man wusste über-
dies ganz gut, dass ihrem streitbaren und fröh-
lichen Cremüt die Kritik des Philisteriums nur ein
willkommener Scherz gewesen wäre. Also liess
man sie gelten, wie man am Ende jeden gelten lässt,
dem man nicht beikommen kann. Ihre freien
Reden über philosophische Dinge zogen der Fa-
milie in dieser kleinbürgerlichen Welt den Ruf
des Atheismus zu (ein komisches Wort, nebenbei
gesagt» bei dem ich mir nie etwas denken konnte) ;
weil sie sich aber jahraus jahrein mit den wasch-
echtesten Frommen der Stadt auf den Pfaden
des Wohltuns begegnete, flösste sie diesen
persönlich so warme Sympathien ein, dass sich
kein Tadel an sie selbst heranwagte. Dagegen
hatten die Söhne in der Schule den Strauss aus-
zufechten, diese standen ihren Mann, tmd bald
nahm die alma mater sie in ihre Arme, deren Zög-
linge dem Philister heihg und unantastbar waren.
Einen um so günstigeren Angriffspunkt bot die
heranwachsende Tochter, die von der Aussenwelt,
ihren Meinungen und Konventionen überhaupt
nichts wusste. Durch die versäumten Antritts-
besuche stand unser Haus abseits des gesellschaf t-
Digitized by Google
— 3*3 —
liehen Verkehrs» somit kannte man uns im Grunde
gar nicht, und die Legendenbildung hatte ein um
so freieres Feld. Ich wurde auch in Tübingen nicht
in die Schule geschickt, weil meine Eltern von den
damaligen Mädchenschulen nicht viel Gutes er-
warteten, daher hatte ich keine Mädchenfreund-
schaften, und von klein auf nur an den Umgang
der Brüder und ihrer Freimde gewöhnt, wusste
ich gar nicht mit dem eigenen Geschlechte umzu-
gehen. Die häusliche Abgeschlossenheit» der un-
gewöhnliche Rufname und die noch ungewöhn-
lichere Erziehung machten mich zu einem Gegen-
stand des Misstrauens» als ich noch in den Kin-
derschuhen ging und die Welt mit Kinderaugen
ansah. Die befremdendsten Dinge wurden ge-
munkelt, darunter auch, dass ich die klassischen
Sprachen triebe» und das letztere war sogar rich-
tig. Nun gab es aber nichts» das von der weib-
lichen Moral strenger verdammt wurde. Grund
genug für die fortschrittsdurstige Mama, nicht
mit ihrem Erziehungsprogramm hinter dem Berge
zu halten. Jedoch der Bannfluch traf nicht sie,
die ihn gerne getragen hätte» sondern das Kind
allein. Ich musste es als einen Teil der Welt-
ordnung hinnehmen, dass mir, wo ich vorüber-
ging, gehässige Blicke, böse Reden und gelegent-
liche Steinwürfe folgten. Als ich heranvmclis
und persönlich auf den Plan trat» wurde es noch
viel schlimmer. Die Kultur des Ausseren war ja
ebenso verpönt wie die des Geistes: die Beschei-
denheit musste sich durch Ungeschmack aus*
Digitized by Google
weisen, körperliche Übungen, vor allem das Rei-
ten, galten bei eineni Mädchen für einen Frevel
gegen menschliche und göttliche Ordnung, der
selbst die Behörden alarmierte. Sogar die Hefe
der „unteren Stadt** mit ihrem dumpfen Aber-
glauben wurde allmählich gegen die Übeltäterin
aufgehetzt, für die das Pest der Jugend durch
diese Verfolgungen einen geheimnisvoll tra-
gischen Untergrund bekam; es war wie ein Tanzen
auf grollendem Vulkan» so lange das Ansehen des
Vaters die Familie deckte. Nach seinem Hm-
scheiden verging nur kurze Frist, so war das ganze
Geschlecht des Heimatdichters Hermann Kurz
ausgewandert, um sich auf fremdem Boden anzu-
siedeln» wo drei seiner Söhne die letzte Ruhestatt
gefunden haben.
In jenem seltsamen, mir selber kaum mehr
glaubhaften Krieg, den eine ganze Stadt mit
einem kaum erwachsenen Mädchen führte» gab
es für mich nur eine Waffe» von der ich immer
und immerzu den ausgiebigsten Gebrauch machte :
die ganze feindselige Umwelt als nicht-existent
zu betrachten. Ich wusste nichts» rein gar nichts
von den Personen, aus denen sie sich zusammen-
setzte; ich verschloss absichtlich mein Ohr, wenn
Namen genannt oder Persönlichkeiten erörtert
wurden. Dies ist der Grund» weshalb ich die
letzte Umgebung meines Vaters nicht mit itn
Farben des Lebens malen kann» denn mit der
Schar der Widersacher sind leider auch die Wohl-
gesinnten» die eine freundliche Ausnahme mach-
Digitized by Google
— 3^5 —
ten, in meiner Erinnerung verblasst. Ich habe
diesen namenlos gewordenen Guten in meinem
Herzen einen Altar errichtet, wie die Athener dem
unbekannten Gotte ; aber die gewaltsam verwisch-
ten Bilder wieder hervorsuzaubem vermag ich
nicht. Jeden Pflasterstein aus der Stadt meiner
Jugend kenne ich auswendig, über ihre Bewohner
aber wusste ich mir eine absichtliche Unkenntnis
zu erwerben» die auf mich selber in sinteren
Jahren wahrhaft komisch wirkte. Nur so konnte
ich mich vor der Gefahr retten, ein völlig verzerr-
tes Weltbild ins Leben hinüberzunehmen.
Die letzten Jahre meines Vaters waren vor-
zugsweise von der Redaktion des deutschen No-
vellenschatzes ausgefüllt. Dieses Unternehmen,
das er mit Heyse an Stelle des verunglüclcten Ka-
lenders gegründet hatte, erwies sich als unendlich
segensreich. Es lieferte die Mittel zu einem etwas
bequemeren Dasein imd gab dem Dichter bei sei-
nem leicht erweckten Optimismus die Hoffnung,
seinen Kindern dereinst doch noch ein Vermögen
zu hinterlassen» eine Hoffnung» die sich zwar
nicht mehr erfüllen sollte, die aber doch seinen
Lebensabend noch einigermassen erhellte. Der
Novellenschatz des Auslands^ der noch hinzu-
trat, gewährte ihm die Freude, seine heranwach-
sende Tochter zur Mitarbeiterin zu haben, da ich
die in Vorschlag gebrachten fremdsprachigen No-
vellen gleichfalls zu lesen bekam und auch einige
zur Übersetzung zugewiesen erhielt, denn ich
hatte schon vom zwölften Jahre an durch Über«
Digitized by Google
— 326 —
«etsungen für Zeitschriften metneii Stil geübt
lind mir damit auch ein Iddnes Nadelgeld erwor-
ben. Der Novellenschatz gab meinem Vater nicht
nur zum erstenmal das Gefühl eines gewissen
Wohlstandes» er trieb ihn auch aus seiner Verein-
samung heraus» indem ^ ihn zum schriftlichen
Verkehr mit den zeitgenössischen Aut<nren nö-
tigte und zugleich seinen halbverschollenen Na-
men wieder unter die Leute brachte.
Zu Anfang des Jahres 1870 trat eine litera-
rische Aulforderung an ihn heran, die für ihn eine
Quelle reinster Freude wurde. Paul Konewka,
der begabte Silhouettenschneider, wünschte, dass
Hermann Kurz den Text zu seinen Fallstaffbil-
dem schreibe» und erschien selber auf ein paar
Tage in Tübingen, um sich mündlich mit dem
Dichter auszusprechen. Mein Vater fand ebenso
grosses Wohlgefallen an des Künstlers Persön-
lichkeit, wie an den Werken seiner Itand. Ko-
newka war polnischer Abkunft» aber als Deutscher
geboren, ein noch junger Mann von gewinnen-
dem und bescheidenem Wesen, der slawische Be-
weglichkeit mit deutscher Kemhaftigkeit verband.
In einer Gartenwirtschaft am Neckar verbrachten
wir einen heiteren Abend mit ihm, wobei er aller-
lei Proben seiner Kunst zum besten gab, mit der
Geschwindigkeit eines Hexenmeisters zu unsrem
Ergötzen springende Häslein, lauschende Rehe
und anderes Cretier, dazwischen in bedachtsame-
rem Tempo auch menschliche Schattenrisse, wo-
runter den meinigen, schnitt.
Digitized by Google
Mein Vater ging mit der grössten Lust ans
Werk. Durch seine Übersetzung der ^»Lustigen
Weiber" und seine langjährigen Shakespearesta-
dien, die sich ja mit Vorliebe auf den Spuren des
dicken Ritters bewegen, lag ihm der Gegenstand
besonders nahe, daher niemand geeigneter war,
als er, den geistreichen Fallstaffzyklus des Künst*
lers mit gleicher Fülle von Geist zu interpretieren,
WenndieBilderdieVorstellungerwecken,al8 hätte
der Künstler und bei dem berühmten Wirt zum
Hosenbande mitgekneipt, um die extravagante
Gesellschaft in ihrer ganzen Lebenswahrheit
gleich heimlich unterm Tische abzukonterfden,
so macht der Verfasser des Textes nicht minder
den Eindruck, als ob er aus persönlicher Bekannt-
schaft seine Erläuterungen hinzufüge. Sie waren
ja auch in der Tat sein alter intimer Umgang,
diese tollen Kumpane» denen er seit lange ihre
heimlichsten Beziehungen und ihre sonderbarsten
„Humore" abgefragt hatte. Eine ganz beträcht-
liche Dosis SpezialStudium der Elisabethischen
Zeit ist hier in perlenden Champagner aufgelöst,
um dem Leser ganz unmerklich unterm Schaume
eingegeben zu werden. Fast perlt es dann und
wann ein wenig gar zu stark. Neben den Shake-
speareschen Einfällen quellen des Verfassers
eigene in unaufhörlichem Sprudel, mit Anspielun-
gen und Zitaten vermischt, von denen einige
schon während er schrieb, nicht mehr allverständ-
lich waren, denn es ist mitunter, als redete er zu
einem imaginären Publikum, bestehend aus sei«
Digitized by Google
328 — '
nen Jugendfreunden, die aber damals zum Teil
schon gestorben waren. Konewka selbst war maien
Augenblick betreten ttber die Füll^ die ihm ent-
gegenquoll; es schien ihm fast, als ob der Text,
statt die individualisierenden Züge seiner Schat-
tenrisse zu erklären, diese zu einer blossen Illu-
stration herabdrücke. Doch das kleine Wölkchen
zerstreute sich schnell; der Kunstler sah wohl
ein, dass er dem souveränen Humoristen, den er
aufgerufen hatte, auch Raum lassen musste, sich
nebenihmauszuleben, und dass andererseits seinen
eigenen Intentionen nicht liebevoller nachgegan-
gen werden konnte, als es hier geschehen war. Im
Juli 1870 war das Werk fertig, allein der Ausbruch
des deutsch-französischen Kriegs verzögerte sein
Erscheinen» und als es ein Jahr später vor die
Öffentlichkeit trat, da lag der Schöpfer der hdte-
ren Bilder schon im Grabe, von tückischer Krank-
heit auf der Hohe des Schaffens weggerafft. Sein
Verlust traf meinen Vater tief, er hatte den lie-
benswürdigen Künstler mit seiner ganzen Wärme
umfasst» wie das Nachwort su ^»PallstafiF und
seine Gesellen"^) bezeugt.
Unterdessen hatten ungeheure Erschütterun-
gen die Welt völlig umgestaltet. Wer kann sich
heute die Zeit noch ausmalen, wo es kein Deutsch-
land gegeben hat und wo der Deutsche im Aus-
^) Fallstaff und seine Gesellen von Paul Konewka^
Text von Hermann Kurz. Strassburg. Druck und Verlag
▼on Moritz Schauenburg.
Digitized by Google
— 3^9
land nur ein verwehtes Blatt im Winde war? Es
scheint, als wäre dieses Reich von je gewesen.
Und doch Itess erst die f ransösische Kriegserlda*
rung und der mit elementarer Gewalt sich voll-
ziehende Zusammenschluss aller deutschen
Stämme ahnen, dass es auch für uns Deutsche ein
Gesamtvaterland geben könne* Freilich wax es
für den Partikularimus, der alles, was vom deut-
schen Norden kam, mit Misstrauen betrachtete,
ein schweres Stück, sich dem so lange bekämpf-
ten Preussen als dem kriegerischen Oberhaupte
anzuschliessen» nicht minder befremdend erschien
es den alten Achtundvierzigern, dass eben jener
PreussenkÖnig, der als Kronprinz die Sache der
Revolution blutig niedergeworfen hatte, jetzt vom
Genius der Geschichte zur Verwirklichung des
alten Traums vom Deutschen Rdche berufen
wurde, und mancher sah sich durch diesen jähen
Umschwung der Dinge völlig aus der Bahn ge-
worfen und verkannte das lang ersehnte Gut um
der Hand willen, die es endlich der Nation reichte.
Nicht so mein Vater. Er war nie ein starrköpfiger
Partikularist und nie ein zielloser Schwärmer ge-
wesen; was er im Jahre Achtundvierzig gewollt
hatte, das wollte er noch: kein Wolkenkuckucks-
heun, sondern ein grosses und grossgesinntes
Deutschlandund innerhalb desselben ein im Geist
und in der Freiheit verklärtes, heimlich trautes
Schwabenland. Auch Ströme Blutes waren ihm
dafür nicht zu teuer, und freudig begrüsste er den
Mbittem Kelch des Heils'^ Seine Augen glänzten
Digitized by Google
—.330—
heller und heller bei jeder neuen Siegesbotschaft,
und als Sedan gefallen war, fügte er seinem
„Türtenmärchea"» das auf die £ntzweiimg der
deutschen Stämme anspielte und mit dem ironisch
bitteren Vers geschlossen hatte:
Es gibt ja keinen Bruderzwist
Und keinen Oger mehr —
die jubelnde Strophe hinzu:
Doch |ty den Oger gibts tat Frist
In seiner stolzen Bibel»
Doch der begrabne Bruderzwist
Macht ihn erst recht ztir Fabel.
Ein Zorn im Voile, ein JHut im Heer,
VorUber Hohn und Spott»
Und liebelnd reicht er uns den Speer,
Der alte Siege sgott
Er verargte es der Zeit nichts dass sie waif en-
klirrend über sein Triasideal hinweggeschritten
war, und Hess das ungreifbare schwarzrotgoldene
Traumbild fahren für die nüchternere aber fest-
gefügte schwarzweissrote Wirklichkeit, Als das
Reich gegründet war, nahm er, der sonst allem
öffentlichen Auftreten auswich, seinen Jihigsten
an die Hand und reihte sich mit ihm dem fest-
lichen Umzug ein.
Seine einstigen Parteigenossen befanden sich
in einer schwierigen Lage. W^l der Charakterlose
mit dem Erfolge geht, mag sich mancher ge-
sträubt haben, den Willen der Geschichte anzu-
erkennen, nur um nicht den Vorwurf der Charak-
terlosigkeit auf sich zu laden. Dagegen galten
vielleicht andere für charakterlos, die ihrer
Digitized by Google
331 —
wirklichen inneren Uberzeugung folgten, indem
sie sich offen m der neuen Ordnung der Dinge
bekannten. Die an dem alten Programm fest-
hielten, waren von der Zeit überholt und über
Bord geworfen. Dass sie dem» was die allgemeine
Begeisterung f orderte;, widerstrebten und an dem
Neugeschaffenen nur die Mängel 2U sehen scfaie*
ncn, das umgab sie sogar mit einem Scheine von
Gehässigkeit. Sie waren mit ihrem Volke nicht
mehr einig und stürzten, um freilich wieder her-
vorgeholt zu werden, als man erkannte, dass in
einem gesunden Staatsleben eine Opposition nidit
zu entbehren ist, weil ihre Gebilde sonst verstei-
nern. Die Volkspartei hat denn auch diese Tage
überdauert, nachdem sie lange die undankbarste
aller Rollen mit gewiss widerstreitenden Empfin-
dungen gespielt hat. Einer aber spielte sie aus
vollem Herzen, ein völlig mit sich einig^er Cha-
rakter, geschaffen, nur die eine Seite der Dinge zu
sehen, unser alter Freund Hopf. Ihm blieb Preus-
sen nach wie vor das ,^odeme Mazedonien", dem
er „keinen Mann und keinen Groschen** gönnte.
£r konnte denn auch seinen Posten im Landtag
behaupten, weil der ganz Überzeugte und ganz
Selbständige immer recht bdiält.
Es war ^n Glück für meinen Vater, dass ihn
sein früher Rücktritt aus dem politischen Leben
gleich von vornherein auf eine höhere Warte ge-
stellt hatte. Er konnte es frei und freudig aner-
kennen, dass das Reich die Gedanken von Acht-
undvierzig verwirklicht hatte, wenn auch in einer
Digitized by Google
— 33«
zum Teil noch unf^ertigeii und verbeasciiuigab^
dürftigen Gestalt. In der Buchausgabe seiner Ge-
schichtsbilder aus der Melacszeit, die 187 1 unter
dem Titel „Aus den Tagen der Schmach" erschien»
hat er sich noch einmal mit seiner politischen
Vergangenheit auseuiandergesetst und von der
Wandlung seines Innern, die eine seiner Natur
selbstverständliche Entwicklung war, Zeugnis ab-
gelegt Nicht alle seine Freunde haben ihn da-
mals verstanden» wenn auch niemand wagte, seine
Haltung zu bemäkeln, und die alten Bande der
Liebe und Treue blieben diesmal von den politi-
schen Lüften unversehrt. —
£in Volk wandelt nicht ungestraft unter Sie-
gespalmen. Die Jahre, die auf unseren grossen
nationalen Aufschwung folgten, sind vielleicht mit
von den hässlichsten und ideallosesten gewesen,
die Deutschland gesehen hat* Es galt jetzt vor
allem reich zu werden, um den neugewonnenen
Rang nach aussen zu behaupten. Aber wenn die
grossen Staatsumwälzungen nicht mit Rosenwas-
scr gemacht werden, der wirtschaftliche Kampf
ist noch minder wohlriechend* Hier fiel er zu-
sammen mit der von ausv^lrts kommenden mate-
rialistischen Zeitströmung, die die letzten Reste
des altersschwach gewordenen deutschen Idealis-
mus hinwegfegte. Dieser Idealismus war ein allzu
innerlicher gewesen, dem es an allem mangelte^
was zur äusseren Kultur nötig ist. Vergebens
hatte Goethe gestrebt, seine Nation einer brei-
teren ästhetischen Entwicklung entgegen zu
Digitized by Google
— 333
lüfaren» als noch die Mittel zu einer solchen durch-
aus fehlten« Ehe ein Volk Kunstschätxe sammein
und schaffen, seine Plätze und Häuser schmücken
und sein Sichtbares pflegen kann, muss es das
Geld dazu haben. Aber mit den wirtschaftlichen
Interessen» die zunächst im Vordergrunde stan-
den, ging leider eme allgemeine Verrohung und
ein wildes Strebertum, wie man es zuvor noch
nicht gesehen hatte, Hand in Hand. Die Uber-
spannung des nationalen Selbstgefühls und die
masslose Schmähung des gestürzten Femdes» zu
dessen einheitlicher Kultur man immer noch auf-
zublicken hatte, verzerrten vollends die edlen
Züge des deutschen Volks; denn der Deutsche ist
von Natur viel zu breit angelegt» um nationalen
Dünkel zu haben, und um so schlechter steht ihm
dieser zu Gesicht. Der Materialismus in Wissen-
schaft und Kirnst vollendete noch die allgemeine
Verwilderung der heranwachsenden Generation»
die die grossen Schlachten nicht mitgeschlagen»
aber sich an den Siegesfesten mit berauscht hatte.
Wer in jenen Tagen ein Kulturideal in der Seele
trug» der fühlte sich inmitten des allgemeinen
Rausches völlig einsam.
Diese Phase des deutschen Gdsteslebens zu
sehen, blieb meinem Vater erspart, aber er war
gegen die ersten Anzeichen nicht blind, und sie
trieben ihn zu schmerzlicher Opposition. Doch er
rechnete auf die Unverwüstlichkeit des deutschen
Idealismus. In unserem Hause waren wie immer
die Empfindungen geteilt. Die „violette Re-
Digitized by Google
— 334 —
publik*' spielte jetst in allen Farben. Der Z^ger
unaree Bf tttterleina wies unverrückt auf Acht-
undvierzig. Edgar, damals im Stadium höchsten
Brausens, erhoffte von der noch ganz jungen So-
zialdemokratie die rasche Besserung der Schäden
und bekämpfte in mir den ästhetischen Aristokra-
tismus, der ihm doch selbst nicht minder im Blute
lag. Unser Vater schwieg wie immer und liess
den gärenden Wein verbrausen.
An der Schwelle der Sechzig war er äusserlich
noch wenig gealtert, die Augen bewahrten ihren
Glanz, Gang und Haltimg waren aufrecht, die
seidenweichen Haare noch lichtbraun und der
Bart nicht allzustark meliert, aber auf sein In-
neres begann sich eine Müdigkeit zu legen«
„Wenn ich euch versorgt wüsste»" sagte er eines
Tages, als er in der Frühe vor seinem Gang zum
Schlosse noch zu uns ins Zimmer trat» „so dürfte
jetzt wohl ein Morgen kommen, wo ich nicht mehr
erwachte/' Dieser Morgen war schon näher, als
er ahnte.
Im Juli 1873 fand in der Lindenallee zu Tübin-
gen die Enthüllung des Uhlanddenkmals statt,
wozu die ganze Stadt ein Festgewand anlegte.
Die Hitze war glühend an jenem Mittag, ich er-
innere mich deutlich des Feuerstroms, der vom
Himmel niederrann, denn ich kam trotz des Son-
nenschirms mit verbrannter Schulter vom Fest-
platz. Unser Vater aber musste der Feier mit
imbeschütztem Haupte anwohnen und brachte
einen leichten Sonnenstich nach Hause. Von da
Digitized by Google
— 335
an war sein Befinden gestört. Eine novellistische
Arbeit, mit der er sich beschäftigte, jagte die
schlummernden Dämonen noch weiter auf. Die
»»beiden Tubus'* sollten in den Novellenschatz auf*
genommen werden, aber der bisherige Schiuss
sagte dem Verfasser nicht mehr zu, und da in
der Geschichte Fäden angesponnen waren, die ins
Weite deuteten, nahm er diese auf und verknüpfte
sie zu einer Fortsetzung, Er führte die beiden
Jugendfreunde Wilhelm und Eduard in einem
bedeutsamen Augenblick während der Achtund-
vierziger Bewegung wieder zusammen, und da
sollte es nun zu der unerwarteten aber psycholo-
gisch höchst wahrscheinlichen Wendung kommen,
dass der biedere daheimgebliebene Wilhelm, einst
der Stolz seiner hausbackenen Sippe, ein Umstürz-
ler geworden ist, den die Polizei verfolgt, der Va-
gabund Eduard dagegen, der Auswürfling des
, J<andezamens'^ kehrt als Methodistenprediger
aus Amerika zurück, ist aber im übrigen der alte
gute Kerl geblieben und trotz eines reaktionären
Anflugs (denn in Amerika hat er sich einen
nüchternen Weltsinn geholt, der die Unreife der
politischen Ideale seines Freundes übersieht) ret-
tet er nach der Sprengung des Rumpfparlaments
durch seine Findigkeit und alte Ortskenntnis den
immer gleich unpraktisch gebliebenen Wilhelm
aus der Fährnis. In der erhöhten Stimmung flös-
sen dem Dichter die Eihfälle und Bilder massen-
weise zu, er klagte, dass er gar nicht alles fest-
halten könne, und man hörte ihn oft allein im
Digitized by Google
— 33Ö —
Zimmer laut auflachen. Aber der Gass sollte
nicht mehr gelingen; die eigentliche künstleriache
Tätigkeit war gehemmt, es blieb alles in chaoti-
schem Zustand. Dieser Reiz, der die innere Welt
in quirlende Bewegung brachte, trieb alles hervor,
was sonst still in der Tiefe lag. Auch die Umar-
beitung des Sonnenwirta trat ihm wieder vor die
Seele und der Tristan. Schon während er „Fall-
staff und seine Gesellen" schrieb, war eine ähn-
liche Unruhe in ihm gewesen; diesmal aber nahm
sie beängstigende Formen an. Den Hut in der
Hand, um nch die Stirn zu kühlen, den Kragen
gelockert und das sonst eher blasse Gesicht ge-
rötet, stürmte er eilig geradeaus, um so rasch
wie möglich einen Feldweg zu gewinnen. Zur
Begleitung wollte er nur mich, und ich trug durch
Wochen die Verantwortung, ihn von diesen Gän-
gen jedesmal sicher heimzubringen, woran ich
aber schon in viel zarterem Alter gewöhnt worden
war. Die langen gescMängelten Wege machten
ihn ungeduldig, ich musste mit ihm quer durch
die Felder, über Gräben und Bäche, was seiner
sonst so skrupulösen Schonung fremder Rechte
ganz viddersprach. Immer fürchtete ich eine un-
liebsame Begegnung mit irgend einem groben
Bauern, die in diesem Erregungszustand eine
schlimme Wendung nehmen konnte, allein hier
zeigte sich jener tiefe innere Zusammenhang, in
dem er mit der Seele seines Volkes stand: die ge-
ringen Leute begegneten ihm, auch ohne ihn zu
kennen, immer und überall mit instinktiver Hoch-
Digitized by Google
Digitized by Google
— 337 —
achtun^. Bewundernswert war es aucli, wie er
stets den rechten Ton mit ihnen traf. Er stieg
ziicht zu ihnen hinaby noch minder drückte er auf
sie» er hob sie leise za sich herauf und hinter«
liess in jedem, mit dem er gesprochen hatte» ein
Gefühl beglückter Dankbarkeit. — Er selber
nannte diese Erregungszustände seine glücklich-
sten Zeiten, der Geist der Jugend war alsdann
überihm^er sah alles schön; mittelmässige Verse»
die ihm zur Zensur vorgelegt wurden, lobte er
überschwenglich, ganz alltägliche Mädchenge-
sichter erschienen ihm wie verwandelt, er konnte
auf der Strasse stehen bleiben und mich auf das
Wunder aufmerksam machen: »»Sieh nur» wie die
Soundso sich veredelt hat, sie ist ja eine
Schönheit geworden." Jeden begegnenden Stein-
lachbauern stellte er zum Gespräch, und in Ge*
Seilschaft sprudelte er von Geist und Iriebenswür*
digkeit. Dr. Gärttner» ein feinsinniger» kluger
und gebildeter Mann, der ihn auf einer seiner
Wanderungen begleiten sollte, um seinen Zustand
2u beobachten» kam «itzückt und wie berauscht
surttck und sagte mit glanzenden Augen und ge-
rötetem Gesicht: „Nein, dieser Mann Ist nicht
krank, nicht aufgeregt, er ist nur gestimmt von
seinen inneren Schätzen mitzuteilen." So war es
diesem Geist gegeben» noch in seiner beginnenden
Zerstörung andere zu bereichem und zu erheben.
Mama und ich teilten aber den Optimismus des
Hausarztes nicht, wir fühlten zu deutlich, dass es
anders stand. Auch Heyse» der von ihr heimlich
Itold« Kurl, HeRBMin Kim» 22
Digitized by Google
— 338 -
gerufen, damals nach Tübingen kam, war betreten
über das jugendliche Ungestüm, mit dem der
Freund ihm auf der Schlossbibliotliek entgegen-
Üog. Aus jener Zeit stammt seine letzte Photo-
graphie die bald tact dem Uhlandsf est gemacht
wurde und die von dem Andrang des Blutes nach
dem Kopfe etwas Gedunsenes hat, das ihm nicht
natürlich war.
Als die Hitze nachliess» b^;ann die Aufregung
sich zu legen, und allmählich trat eme Ermattung
ein, die mit leiser Traurigkeit gefärbt war. An
einem Sonntag, als wir andern einen Ausflug vor
die Stadt gemacht hatten, kam er allein mit Alfred
nach, und wir begegneten den beiden auf der
Landstrasse, wo sie nach ein paar ausgetauschten
Worten ihren Weg fortsetzten. Als ich ihm nach-
sah, durchzuckte mich eine bÖse Almung. £r
trug zwar den Kopf hoch wie immer, aber der
stürmende Gang der letzten Wochen hatte einem
apathischen, fast trägen Schritte Platz gemacht,
und es gab mir einen Stich, dass er sein Halstuch,
einen länglichen schwarz und weiss karrierten
Wollschal, den er zum Schutz gegen plötzliche
Winde mitgenommen hatte, lässig am Boden
schleifen Hess. Dieser plötzliche Umschlag deu-
tete mir nichts Gutes. Aber mit dem Optimismus
der Jugend suchte ich mir einzureden, dass eine
solche Ermattung die natürliche Folge der langen
Aufregungszustände und Vorbote einer sicheren
Genesung sei.
Ich weiss nicht, wieviele Tage später es war.
Digitized by Google
— 339 —
dass er über rheumatiBche Schmerzen in der
Brust klagte. Dr. Gärttner verordnete Ruhe und
Bettwärme. Der Herbst war unterdessen mit
früher und scharfer Kälte eingezogen, die Öfen
wurden schon gdieizt» und man hielt die Unpäss-
lichkeit für eine Folge des plötzlichen Witte-
rungswechsels. Drei Tage gelang es, den Patienten
mit kurzen Unterbrechungen im Bett zu halten. Am
Morgen des lo. Oktober stand er jedoch wieder
auf, und Dr. Gärttner erklärte das Übel für ge-
hoben. Doch blieb eine Schwere über dem schein-
bar Genesenen und über dem ganzen Hause. Er
selber fühlte» dass etwas mit ihm vorging, aber er
verbarg es den Angehörigen; nur gegen einen von
ihm vorgezogenen jungen Hausfreund, der an
jenem Morgen Abschied nahm, um ins Ausland
zu gehen, äusserte er sich über sein ihm selber
unverständliches Übelbefinden« Am Nachmittag
war ich eine Stunde lang bei ihm auf seinem
Stübchen. Er bewegte sich matt und langsam,
aber er bediente noch seinen Ofen selbst, wie er es
gewohnt war, nur beim Aufrichten seufzte er tief
und griff mit der Hand nach der Brust. Danach
sass er in seinem engen Lehnstuhl an der Wand,
seine Gedanken schienen über weite Strecken hin-
zuwandem und dann wieder am Nahen zu haften;
halb klang es wie Traum, halb wie prophetisches
Schauen. Er sprach auch von Personen, was er
selten tat. Zuweilen entgleiste ihm die Satzbil-
dimg, doch blieb mir, was er sagen wollte, ganz
verständlich. Es schien mir^ als sei er am Ein-
Digitized by Google
schlafen, und 50 verliess ich ihn. Die imgewohn-
tca kalten Schwetasperlen, die ich auf amner Süm
fühlt«, gaben mir ein Gefiibl der B^tanmung
mit, doch ahnte ich nicht die einbrechende Kata-
strophe.
Edgar holte mich mit einem Freund 2um Spa* .
aterengdien ab; man hatte mir Bew^^ung ver-
ordnety wdl seit Wochen eine dumpfe B^higsti-
gung mir den Schlaf nahm. Der Hausarzt hatte
noch kurz zuvor wiederholt» dass jede Spur von
Gefahr beseitigt sei, und so ging ich. Es war ein
schneidend kalter klarer Herbstabend* Auf dem
Rückweg zwischen Lustnau und Tübingen kam
uns der sechzehnjährige Erwin entgegengestürzt
und rief uns die Todesbotschaft zu. Dann
sprang er über den Strassenrand und verschwand
in den Wiesen, Einen Augenblick standen wir
starr, und ich war völlig ausserstande, das Gre-
hörte zu glauben. Aber Edgar schnellte auf und
rannte blitzschnell der Stadt zu — er war schon
Arzt und kannte den Tod. Wir andern folgten in
atemloser Eüe. Wir fanden den Entseelten im
Bette liegend, ein Lächehi der Verldärung im
friedvollen Antlitz.
„In voller Manneskraft wünschte ich plötzlich
abzuf ahren» ehe das Alter mir ein schwäc h li c hes
Unterducken aufnötigen kann,'* hatte Hermann
Kurz einmal als Jüngling in sein Taschenbuch ge-
schrieben. Diesen einen Wunsch wenigstens hat
dem Vielgeprüften das Schicksal erfüllt.
Er hatte bald nach meinem Weggang sür
Digitized by Google
34X —
Ruhe verlangt. Die Mutter war ihm beim Ent-
kleiden behilflich gewesen und hatte ihn schlafend
verlassetiy um nach ihrem gleichfalls bettlägerigen
Jüngsten zu sehen. Nach emer Weile horte sie
einen erschfitternilen Schrei^ der aus des Vaters
Dachkammer drang. Sie flog die Treppe hinauf,
da sass er aufgerichtet im Bett, kurze konvulsi*
vische Schreie drängten sich aus seiner Brust» die
blauen Augen rollten und strahlten noch einmal
das intensive dunkle Feuer aus, für das sie in der
Jugend berühmt gewesen, so dass der unheimlich-
schöne Anbhck sich der einzigen Zeugin trotz dem
Schrecken auf ewig einprägte, Sie rief» nach Jo-
sephinen und als die Flinkere von beiden flog sie
selbst nach dem Arzt, der in der Nachbarschaft
wohnte, aber ehe sie nur auf der Strasse war,
hatte er den Kopf auf Josephinens Schulter sinken
lassen und war, von der Getreuen unterstützt,
verschieden. Das Herz war ihm zweimal mitten
durchgerissen. — Die Leichenöffnung, die am
II. Oktober stattfand und bei der sein Soim Edgar
den Mut hatte, zugegen zu sdn, erwies auch die
chronische Entzihidung der Hirnhäute, durch die
die oft berufenen Nervenstörungen erzeugt waren.
Dass wir seinen Lieblingswunsch nicht er-
füllen und nach würdigem Brauch der Vorzeit den
entseelten Leib der Flamme übergeben konnten,
fiel uns allen schwer aufs Herz. So weit war die
Zeit noch nicht fortgeschritten. Am 12. Oktober
musste der Sonnenfrohe in die dunkle Erde ver-
senkt werden. Das Begräbnis fand, wie es der
Digitized by Google
— 343 —
Absicht des Verstorbenen entsi»racht obne geist-
liche lütwirkiing statt» dodi waren in dem langen
Trauerzug, an dem die ganze Stadt teilnahm,
gleichwohl beide theologische Fakultäten voU-
sählig vertreten. Auch der Glockenklang, den er
geli^ hatte, fehlte nicht auf sdnem letzten W^»
nur der Männerchor mit seinem Bardenlied
„Stumm schläft der Sänger" konnte der Ferien
halber nicht zusammengebracht werden. Sein
einziger Bruder rief dem Entschlafenen den
Scheidegruss ins Grab, und über den Dichter
sprach J. G. Fischer schöne weihevolle Worte.
Eine trauernde Muse erhebt sichauf seiner Schlum-
merstatt^ von hohen Tannen umgeben» ihrem
Sockd ist ein Relieflnld des Verstorbenen von der
Hand seines Sohnes Erwin eingefügt. Hölderlin
und Uhland sind seine Schlafgefährten. So er-
wartet er seine Auf erstdiung im Geist und Herzen
des deutschen Volkes.
Digitized by Google
Grabmonument des Dichters in Tübingen
(wurde nebst der umgebenden Anlage im Jahre 1906 von
der Stadt zu dauernder Erhaltung und Pflege übernommen)
Digitized by Google
Personenverzeichnis
* Alexander von Württemberg
nOff., lAL
Auerbach, Berthold 199, 203.
Baechtold, Jakob 97, IM.
Bacmeister, Philologe 292.
Baer, Fräulein von 248.
Bassermann 12Q.
Bauer, Ludwig, Dichter 232.
Becher, August, Rechtskon-
sulent, Mitglied der Na-
tionalversammlung 173j ISO.
Bertha, „Tante« 239, 243^
284, 298.
Bilhuber, Edmund 31, 52^
53j 82.
Bilhuber, Luise ^ 63.
Bodenstedt, Friedrich von 303.
Braun, Julius 2^
Brehm, Helfer 32.
Brockhaus, F. A., Verlags-
buchhändler 8L
Brunnow, Familie von 14.
Brunnow, Freiherr Anton
August von 130 ff^ 166,230,
232, 252, 258.
Brunnow, Eva Maria von 135ff.
Brunnow, Siegfried von 130.
Buttersack, Stadtpfarrer 199.
Byron, Lord 52^ 285. ^
Cornelius, Peter 2^
Cotta, Freiherr von 78, 79,
STj 89j 90.
Dannecker, Bildhauer 134.
Dillen, Graf von, Staats-
minister 132.
Faber, Stabsamtmann 39.
Fetzer, Rechtsanwalt 186.
Finkh, Gottlieb, Literat 61, 166.
Fischer, IL, Professor ^
104, 113.
Fischer, J. G. 6, 342.
FrankhscheVerlagsbucbhand-
lung 92, 212, 267.
Freiligrath, Ferdinand 283.
Friedrich, König von Württem-
berg 130.
Fries, Bernhard, Maler 284.
Fues, Buchhändler 88.
Gärttner, Gustav, Dr. 321,
337, 339.
Genschowsky 302.
Qeroldsohn, Verlagsbuch-
händler 303.
Goldoni 252.
Golther, Kultminister 298.
Goethe, Johann Wolfgang 23^
32, lOTj 121, 332.
Günzler, Hermann 6L
— 344 —
Hallberger, Verlagsbuchhänd-
ler 48, TL
Hartmann, Repetent 33, 40.
Hauff, Wilhelm 93.
Hausmann, Julius 04.
Hebel 12SL
Hecker 12a
Hertz, Wilhelm 284,
Heine, Heinrich 143, 299,
Hesse, Max, Verlag ß.
Heyse, Paul 1^ 2, 3, 28, TT,
127, 170, 172, 197, 222ff.,
284, 286, 325, 332.
Heyse, Theodor 285.
Hoffmann, Verlagsbuchhänd-
ler 82.
Hölderiin, Friedrich 10^ 50ff.,
143, 342.
Homer 143.
Hopf 176, 186, 235 ff., 277, 33L
Hornstein, R. von 285.
Hugo, Victor 125.
Janke, Otto, Verlagsbuch-
händler 19&
Josephine, Dienerin im Hause
Brunnow und Kurz 138,
139j 141^ 145j 146, LSOff.,
167, 169, 217, 226,229,230,
256, 258j259j 263, 279, 34L
Kari V. m.
Kari, König von Württem-
berg 80.
Kaspert, Marie 60.
Kausler, Rudolf 2^ 58, 59 ff.,
65, 73, 79, 93, 105, 181,
196, 213, 265, 268, 269, 270,
273, 302.
Keller, Adalbert 61^ 181^ 274^
293.
Keller, Gottfried 2aL
Kenngott, Pfarrerin (genannt
Frau Dote) 25, 26, 28^ 33»
35, 39ff., 57, ßSff.
Kemer, Justinus 105, 110,
113, 114, HL
Kemer, Emma 1 14.
Kinkel, Gottfried I8a
Klüpfel, Schwiegersohn
Schwabs, Universitäts-
bibliothekar 300.
Konewka, Paul 326 ff.
Kömer, Theodor 33.
Kramer, Walburg 20L
Kugler, Klara 285.
Kurtz, Albert 24.
Kurtz, Gottlieb David 20, 25.
Kurtz, Franz IS.
Kurtz, Hanns 15, 17, 19.
Kurtz, Johannes, Glocken-
giesserei 17.
Kurtz, Johannes, Senator,
Grossvater des Dichters 19.
Kurtz, Hermann 19.
Kurtz, Michael 12.
Kurtz, Sebastian 16.
Kurz, Alfred 220, 253, 257,^
280, 281, 312ff., 338.
Kurz, Edgar 169, 193, 214»
215, 221, 229, 232, 244, 252,
255, 281,286, 312 ff., 340, 34L
Kurz, Ernst 27, 98, 106, 159, 171.
Kurz, Erwin 114, 233, 253»
314, 340, 342.
Kurz, Garibaldi, 253, 274» 308.
d by Google
345 —
Kurz, Heinrich, Literarhisto-
rilcer !L
Lenau, Nilcolaus 110, U3^
116, 143.
Leins, Inhaber der Franckh-
schen Buchhandlung 213.
List 20.
Mathy 120.
Mayer, Karl, Dichter ^Q,
Mayer, Karl, Sohn des vorigen.
Landtagsabgeordneter 128,
175, 182, 185.
Maupassant, Guyde 205.
Meidinger, Verlagsbuchhänd-
ler 188, 196,
Menzel, Wolfgang 32.
Merhoff, Karl, Verlagsbuch-
händler 303.
Meyr, Melchior 285.
Meysenbug, Malwida von 148.
Mittnacht, Ida von IIS.
Mögling, Hermann 61.
Mohl, Robert von 36,
Mohr, Pfarrer 72^ 211.
Mohr, Pfarrerin 2Ö.
Moltke, Baron 238.
Moore 52.
Mörike, Eduard 9. 22^ 73, 86,
95ff., LLL 125, 170, 171,237.
Mörike, Klara 107.
Mozart, Wolfgang Amadeus
Napoleon 130, 232.
Nikolaus, Kaiser von Russ-
land 17Q.
Nittinger, Dr. 280.
Oetinger, Wilhelmine von 132»
Oetinger, Oberstleutnant von
134.
Paulus, Eduard LL
Pfau, Ludwig 120, 127, 164,
174, 202, 292.
Pfeiffer, Germanist 300.
Rapp 49, 55.
Reinfelder, Pfarrer 20.
Rieger, Oberst 164.
Rieger, Baron von 242 ff.
Rieger, Franz von 244 ff.
Römer, Minister 170.
Rommel 210.
Roessler von Oels 232.
Saueriänder, Veriagsbuch-
händler SL
Schack, Graf von 86.
Schauenburg, Moritz 328.
Scherber 40.
Scherr, Johannes 216.
Schiller, Friedrich 10, 20, 87.
Schnitzer, Kari 176.
Schramm 24, 22.
Schubart 87, 164.
Schwab, Gustav 79, HO, 113^
176,
Seeger, Adolf 186.
Seeger, Ludwig 61, 176, 186.
Shakespeare 303, 322.
Silcher 4.
Simanowitz, Malerin 135.
Stockmayer, Dr. 211^
Strauss, David Friedrich 40^
54, 237.
d by Google
— 34Ö —
Tafel, Rechtsanwalt 02.
Thumb, Familie von 143.
Tiek, Ludwig 105, ZHL
Uhland, Emilie 295u
Uhland, Ludwig 47, 48, 49,
110, 113, 176,294,334, 342.
Vischer, Friedrieb, Theodor
37,55,56, 103, 147, 237, 238.
Waiblinger, Wilhelm UL
Weigle, Gottfried &L
Weisser, Adolf 126, 177, 251.
Werner, Gustav 2^
WilhelmI.,KönigvonPreussen
Zeller, Eduard 30, 52, 55.
Ziegler, Theobald LL
d by Google
Im gleichen Verlage erschien 1905:
Im Zeichen des Steinbocks
Aphorismen
von
ISOLDE KURZ.
S\ XVI u. 287 Seiten, geh. M. 5.—, geb. M. 6.50.
Von den vielen glänzenden Besprechungen,
die das Werk gefunden hai^ mögen hier einige
wenige Platz finden:
Isolde Kurz hat ihrer Aphorismensammlung Jim
Zeichen de» Steinbocks'' das JMetto ▼orangesteUt:
»Quand voas traitez un sujet^ 11 n'est pas nteessalre de
l'dpttlser, il sufflt de faire penser.** Dem kitigen Worte
Montesqaleus entsprechen die klugen Worte der Dichterin:
sie regen zum Denken an. Diese Aphorismen sind
geschrieben mit der Freude am Denken, mit einer
objektiven und doch warmen Freude. Und die Klugheit
Isolde Kurz' ist eine leise, feine Klugheit. Scharf und
sicher sondert sie ah, was überflüssig, mit festem Griff
löst sie heraus, was wichtig ist. Wohltuend, einfach und
kräftig folgt die Sprache den Gedanken, im schönen
Gleichmass sich haltend, wie die Griechen, die Lehr-
meister der Dichterin bildeten. Man liest selten
solch gutes Deutsch und man geniesst es in einer
Zett^ die den michtigen Steinbau unserer Sprache mit
buntem byzantinisch-orientalischen Mosaikschmuck Ter*
«ieren wil^ wie den Harzduft des Tannenwaldes» wenn
man aus einem Treibhaus kommt.
.Fiankfürter Zeitung*, 17. Mal 190&.
^Isolde Kurz' neues Buch „Im Zeichen des Stein-
bocks'^ zeigt von einer Reife des Geistes, von einer
inneren Selbständigkeit und reinen Harmonie, die geradezu
staunenswert sind. — Ich müsste endlos zitieren, um
eine Vorstellung von dieser Persönlichkeit und ihrem
Buch zu geben.
Lese es, war es irgend kann!
£. von Kupffer in dem »Internat Kunst- u. Theateranzeiger.''
Digitized by Google
Das Buch bedeutet eine Philosophie, ein Glaubens-
bekenntnis vom Dasein des Menschen, seinen Höhen und
Tiefen, seinen Fehlern und Tugenden, seinen Idealen und
seiner Gegenwartsbetätigung. Kürzer oder länger gehalten,
fein ziseliert, klar und scharf, führt uns Isolde Kurz
ein Leben vor und bannt ihre Aussprüche und Darlegungen
in folgende Kapitel: Allgemeines vom Menschendasein,
Mann und Weib, Aus der Welt des Herzens, Vom Kinde,
Ethik und Rhythmus, Von der Sprache, Von Genius,
Poesie, Kunst und Künstler, Unter Menschen.
«Norddeutsche Allgemeine Zeitung^ 18. Januar 1905.
JE.S ist ein tiefer und gebildeter Geist, der hier zu
uns redet. Alles in allem ein Buch, das jeder Gebildete
mit Interesse lesen und dem er manni^ache Anregung
danken wird, zweifellos eine der bedeutendsten Aphorismen«
Sammlungen, die je von Frauen geschrieben worden sind.*
M. R. von Stern in der »Deutschen Welt**.
„Wo wir den inhaltreichen Band aufschlagen, ist er
fesselnd und feinsinnig; unerwartete und ungewohnte
Schlaglichter wirft er nach den verscliiedensten Gebieten..
— Reicbe und dauernde Anregung dürfte Jedermann In
der eigenen, eingehenden Lektüre der Sammlung finden;
sie Ist ein Buch, das man nicht einmal durcMiest, sondern
zu dem man wie zu einem guten Freund zurückkehrt.*^
«FrauenberuL*
yDas schöne Buch verdient eine ausführliche Wür>
digung. Es kann den Aphorismen der Ebner-Eschenbach
«ur Seite jesiellt werden. .scbwlbtoeh« Tafwadit-
I, — Hier wie in allen Kapiteln vereint sie Verstand
und Gemüt bei Ihren Reflexionen, die eben dadurch Ihren
besonderen und originellen Reiz erhalten, dass sie allent«^
halben bei aller Tiefe der Oberzeugung In echte Folie
der poetischen Empflndimg gefesst erscheinen. Für alle,
welche Menschen und Dinge nicht nur mit dem Auge
des Materialisten betrachten, sind diese Aphorismen eine
wahrhaft herzerfreuende Lektüre.
»Literar. Zentralblatt* yom 17. Mal 1905.
Digitized by Google
In gleichem Verlage erschienen die Werke von
Wilhelm Fischer in Graz:
Sommernachtserzihlungen. 2. Auflage. (Eine
Sommernachtstragödie. — Eine Brautfahrt. — Das
köstliche Kleinod. — Eine alte Liebesaventiure.)
Geh. M. 4.—, geb. M. 5.—,
Der Mediceer und andere Novellen. 2. Ausg.
(Der Medice er. — Die Hochzeit der Bagiionen. — Mutter
Venedig.) Geh. M. 3.—, geb. M. 4. — •
Unter altem Himmel* 2. Auflage. (Der Kdnlg im
Bade. — Ein Mirchen vom Glficke. — lagvar und
Ingrid. — Schicksalsweg. — liebeszauber. — Die
Rebenbickerin.) Gell. M. 3.— , geb. M. 4.—,
Grazer Novellen. 2. Auflage. (Frauendienst. —
Das Licht im Elendhause. — WastL — Fruhlingsleid.)
Geh. M. 4.-9 geb. M. 5.-~^.
Die Freude am Licht. Roman. 10. Tausend. Geh.
NL 4.—, geb. M. S,— .
PoetenpbiloSOphie. Eine Weitanschauung. Geh.
M. geb. M. ^-—a
Hans Heinzlin. ErzUiiung. Geh. m. zso, ^b. m. a.5a
Königin Hekabe, Tnuefsplel in 5 Akten. Geh.
M. 3.—, geb. M. 4. — .
Lebensmorgen. Erzählungen. Mit Umschlag von
IL WinckeL Geh. M. 4.—» geb. M. 5.—.
Digitized by Google
Einige Urteile über Wilhelm Fischers Werke
Lebensmorgen
Ats der Spitherbst kim und es nötig wurde, abends einzuheizen,
da las ich mir meiner Frau an den ersten stillen Ofenabenden eioe Geschichlo
▼oo Eicbeadorff, und als sie fertig war, sagte meiaeFrau: »Diese Art gibt
«• doäh dienilich gar nimmer, heutzutage*. Et I« IM&eh «In« 99 «dtM«»
wte feliie An, iber doch liabM «neb heatsiitacff Dfehter eiw» davos,
vmA keiner mehr ai« Wllbelm Fischer aus Gre. Dieser hat IQngst dm
neues Buch herausgegeben; es helsst , Lebensmorgen" und enthält kleine
mirchcnbaftc Geschichten von Kindern. Sic sind auch für Kinder, aber
noch mehr fQr die Allen, die es ndtig haben, den verlorenen Sonnenglanz
der cmea Jofcad mf Unwcgflu wieder tu encbea.
Be gibt Erslbliinien, dem Inbalt men mit belld»lgen Worten aedi-
eniblea kaon. Des ist bei Fischers Geschichten unmöglich. Er schildert
wcnijrer die Dinge, sls den feinen goldigen Duft, der dariiber liegt Darum
ist auch der stoffliche liüialt seiner ErjahlLmgcn, so Kchon lt isf, nicht
das Wesentliche. Fischer ist so ein stiller Weiser, den auch Kinder ver-
etefaen kAnneii, aber vir Erwachaeae bfitea Ihn eidit minder lern. Wae
er eniblt, iet «ne dnerlel, denn «es une de Gewlm ane adnen BQehera
bleibt, das bleibt uns auch, wenn wir den «Inhalt* langst vergessen haben,
^ir vergessen ihn, obwohl er schSn und meisterhaft erzählt ist; aber was
wir nicht vergessen, das ist die Atmosphäre dieser Bücher, die sonnig
(»Ideae Lull» In der afe aiasen. Wae Ue(l am Inbdt daer Geedilditel
Ob tvd vOm DIebter eifandene Mcaediea einender lieben oder niebt, ob
seine Helden Glück oder Pech haben, was liegt nne im Grunde daran?
Aber dass wir heim I esrn rin Tiefes Gcfiihl vom Men<!ch?nleben hnhcn,
uns wie beim Anblick der Berge und des Meeres als dankh;ire C'.ästc auf
Erden fühlen, den biauen Himmel über uns haben und die crbarmlicbea
Kleintgkdtea dee Tateelebene vergeeeen und überwinden, dM Iet etwae
▼eeenbaftee, Groeaee, daa lat mehr ale Zeltveitrdb und angenebme
Unterhaltung.
Es gibt Bücher, deren Lektüre Arbeit ist und Kräfte raubt, und
andere, weniee, deren I.eVtiire FrhAlung und Iimgwerden bcdeutet| ^ tiwd
von dieser Art ist der cbcnsmorgen* von W ilh Irr. Fischer.
Hermann Hesse in der N. Züricher Ztg. vom 13. 11. 05.
AI» ich mich bis dahin durohi^tirbe tLr hattL, war ich müd in der
Seele geworden und konnte niclit mehr weiter. Aües Licht in mir war
erieeeben. Da hat es mir 'AicJer ein Mann angezündet, mit stillen und
teeeaneten Hlnden imd leb will ihm daftlr danken. Der Mann bdeet
Wilhelm Fischer in Graz und sein Buch helsst »Lebensmorgen". Es Ist
do Wunder von einem Buch. Ich habe noch nie so tief die Heraene»
Digitized
reinheit eines Manngs und seine künstlerische Keugchheit empfunden, wi»
bei Fischer. Tausend Sonnenstrahlen hat er da eingefsngen und den Duft
«ines gsQzen Frfihlliigt. E« «Ind Mlrehra und «lad es wiedir sieht*
Betpreehen ksan idi de ateh^ ele tiad mir «n gut. Neua GetehiehMi
von Kindern In aller Herzenseinfalt und mit der groesea, einfachen Kunst
aus einem reichen Herzen hingeströmt, dfe ^anz, gsnz selten ist, das Ist
ein rechter König; alles ist erfüllt von einem sonnigen und liebevolien
Wesen, das Icleinste Getcl>4i»r seugt heimlich davon, dsss Gott ia ihm ist.
Uad diram Iti e« deahMg aad stols aad fromm : Gesaadhelt aad tebeaa-
firaade ia treuem Bunde. Eine goldi^^c Luft flimmert diria, die aus
tiefstem Gnmdc wohltut und alles Kleine und Urtce^iinde tötet. Ein
frisches Bad kräftigt und reinigt. Wilhelm Fischers Buch tut mehr. Fs
wirict und schafft in einem fori, man legt nacii jeder Geschiebte das Buch
Mb aad lidieit Idae uad Khlleatt die Aafea aad glaubt wieder aa dia
Meaaehaa. Idi machte allen, die ich lieh habet dlciea Bach tchenlten.
und vollends allen, die krank sind und mühselig und beladen; es hat
Heilkraft, es bringt zur Genesung. Als ich die Geschichte vom Haus der
Wicbtel las» meinte ich, der Dichter sitze mir gegenüber und halte meine
Haad ia der aelaea aad enihle aiir lelao aad ttchelad. Das ist so scböo
aad heilig, ao aabertthr^ maa wird Iroh aad liebelt mit uad steht auf
aad tat elaa gute Tat.
Wilhelm Fischer Ist ela Zauberer. Maa verbat, dass es grosso
und feine Kunst ist, w^nn er erzählt, man hört nur 7ti und j»enief;st, und
lebt mit, vvenn der Greifenprinz Toni vom Baum herunterspritu;t, um vor
Gundi zu treten, die ihm eine grünseidene Fahne zu sticken verspricht,
dsmit er sdae Jungensehlseht schlagea aad aachher stolx uad sisgroidi
mit sdaea Getreaea aa Ihrem Haas aufcldiea kaaa, mit elaem sabtaea
Marschlied auf den Lippen. Was für gutige, glänzende Augen voll Sonnen-
schein muss das »schneewclsse Friuleln* haben, da sie unmerklich den
Fräst und die Nandl zu schönen und guten Kindern aufzieht, nicht mit
Wortm oder Lebrea, soadera mit dea iarfadiiAea Zartheltea des Herzeas,
die aawiUhfirileh das Beste aas dem Grnad der Seele benaasehüptea.
Und was für eine goldene Reife liegt über dem «Sehioss dar Praa SoaaS*,
ia das der Simerl hineinkommt, da er stirbt.
In diesen Geschichten liegt echtes Gold ; man braucht nur zuzu-
greifen, um es eiy:en /u haben Tür immer . Das ISt Cia Buch^ff&I^MCBSChgl
die Schönheit mit dem iicr^en su chL-n ,
Dr. L. Finckb in den Propyläen vom 15. 12. 05.
Vor Gottfried Kaller Hebt, vird aa Wilhelm Fiseher aleht varilhsf^
gdisB dOrfea.
H. St. ia eiaer Bespreehaag der »Basler Naohrlohtaa**
Leichter, belier, frttbllcber (als Jdra Uhl) ist das Vesea elaes ahd*
daatsfihea Batwieldaagsroaiaas, dea Wilhelm Fisdier ia Gna uater dem
heseidiacadea Titel .Die Freade am Ueht* vcrdflbadldit. Es Ist dao
Digitized by Google
Licht' und Stwunuut* ^mH rie mit «»loh»» wmtehttWBrIleheii GlMttm
«H Ffettde und Son ac tdt l»ni^ alclit In uose ref Literatur lebeüdfe W-
awcht wurde. Die Woebe.
FOr ledea Kritiker, der ee eraat uad gat melat mit itaaerer deutaehei
Literatur, Ist ea ein erhebender Moment, wenn er plötzlich auf ein Werk stöast,
das der Zeit angehört und zu den Akten der LiterafurRCSchfchte gelegt werden
darf. Ein solcher Festtag war es für den ReFeremen, als er ^Die Freude
am Licht'' las und geooaa, das hier mit Recht an erster Stelle steht und
■einen Titel In mehrfacher Weise verdient. Man freut sich in den }etzigeii
Zeltliaften, la deaea die Bplgoaea des Haturtlleave die Sbllehea Mode-
orgien feiern, schon ganz ehrlich über iedea Funken und jedes FlSmmchen ;
bei Wilhdm Flecher la Gra« kommt man wirklich zur »Freude am Licht*»
Literarisches ZentraihlstL
Es ist Immerbin ein selten Ding, wenn man heutzutage auf eines
Roman siteat, der ^iebsam kdnertd Betlehuatm hst la slledem,
was an Brttdero um Ihn herum ist. Fortwihrend musste ich an dea
. Heinrich von Ofterdingen" denken, als ich die „Freude nm Mcht" las.
Man wundert sich de'^ Ruches »nd gewinnt e<i lieb; man erfreut sich hier
an einer reinen Linie, dort an einem schönen kräftigen tr euherzi gen Wort,
Das Reine und Treuherzige gibt überhaupt den Grundton. Maa meint
wohl, dieser Fischer müsse eigentlich ein Lyriker sein, der alles» was er
Bichl la Verse bead oder biadea koaaie^ hier In Prosa niederlegte. Seine
Spreche hat oft eine sehdne Falles ste lisst steh Zdt and hastet nicht.
Und wenn die Gestalten Such später verschwimmen, so hat man wie von
einem Gedicht doch etwas anrttckbehsiten; ejiner^ncJJifenheit der Seele
eine schöne Melodie.
Csri Bttsse In der Deutsehea MonstssArÜi.
Hsrras« & Zismsen» G. m. b. H., Wittenberg.
Digitized by Google
Digitized by Google