Skip to main content

Full text of "Hermann Kurz : ein Beitrag zu seiner Lebensgeschichte"

See other formats






Hermann Kurz 





^ uji ,^ud by Google 



fnahme vom Jahre 1863 



I y Google 



Hermann Kurz 



Ein Beitrag zu seiner Lebensgeschichte 



Isolde Kurz 



Mit 9 Bildbeilagen und einem Gedichtfoksimile 



München und Leipzig 
bei Georg Mfilier 

1906 



^ kj i^ -o i.y Google 



Google 



IT 



PAUL HEYSE 



zngeeigoet 



Google 



Vorwort 



Zwischen dem Anfang dieses Buches und sei* 
Ber Vollendung liegen schwere persönliche Erleb- 
nisse, die die Ausftthnmg über Gebühr verzögert 
haben. Zwei Brüder, auf deren Mitwirkung und 
Teilnahme an der Wiedererweckung der gemein- 
samen Vergangenheit ich vor allem gerechnet 
hatte» wurden rasch nacheinander gänzlich un- 
erwartet vom Oipfel des Lebens weggerissen. 
Die dadurch veranlassten äusseren Veränderun- 
gen, mehrmaliger Ortswechsel und endliche Auf- 
gabe eines langjährigen Wohnsitzes haben die 
Arbeit wiederholt aufs einschneidendste unter- 
brochen. Bei diesen jähen Umwälzimgen ging 
von den seit lange gesammelten Notizen manches 
Wertvolle verloren, während zugleich die Durch- 
sicht alter Truhen und vergessener Schubfächer 
unvermutet neues Iffaterial zu Tage brachte, das 
die Umarbeitung der schon geschriebenen Kapi- 
tel gebieterisch forderte. So wanderten diese 
Aufzeichmmgen mit mir von Ort zu Ort, immer 
verfolgt von den unerwartetsten äusseren Hinder- 
nissen, dass es fast schien, als ob der Unstern, 



— VIII — 

der über meines Vaters Leben waltele^ noch dn- 

mal aufgegangen sei um auch das Zustandekom- 
men dieser Erinnerungen an ihn zu hintertreiben. 
Erst auf einem einsamen Strandgebiet des tyrrhe- 
nischen Meeres» abgeschnitten von den literari- 
schen Hilfsmittehi mid fast gans auf mein 
dächtnis angewiesen, gelang es mir schliesslich» 
sie zu Ende zu führen mit einer Eile, die nur 
noch darauf bedacht war, neuen Störungen su- 
vorzukommen. Dies möge die von mir sdber 
am stärksten empfundene Unvollständigkeit des 
Buches erklären. Auch auf eine letzte Ausrun- 
dung musste ich verzichten, da die erste Hälfte 
sich schon im Druck befand» während die swette 
geschrieben wurde. 

Man suche auf diesen Blättern kdne erschöp- 
fende literarische Biographie; eine solche lag 
von vornherein nicht in meiner Absicht« sie ist 
Aufgabe des Literarhistorikers« Mir lag es vor 
allem ob, die menschliche Erscheinung des DiclK 
ters festzuhalten, wie sie durch Erinnerung und 
Überlieferung in meiner Seele haftet, und ich bin 
auch den kleinsten Zügen nachgegangen» ein- 
gedenk der Worte des alten Plutarch» dass oft 
eine Anekdote, ein Wort, eine überlieferte Geste 
für das Bild einer Persönlichkeit bezeichnender 
ist, als eine Staatsaktion. 

Auffallen dürfte es dem Leser, dass von dem. 
Punkte an, wo meine dgene Erinnerung etnsetst, 
die Gestalt meines Vaters nicht lebendiger her- 
vortritt, vielmehr sich hinter der Famiiiengruppe 



IX 



teilweise fast verbirgt. Dies ist siim geringsten 

Teile Schuld der Schreiberin. Gerade für die 
Zeit, die ich mit erlebt habe, geht mir der greif- 
bare Stoff der Danrtdlung aus. Es war die Zeit 
nach seinem Rücktritt aus der Öffentlichkeit» wo 
sein Wesen sich auf den innersten Brennpunkt 
zusammenzog. Ein langer Monolog, das war 
sein Leben, so lange ich ihn kannte, er unterbrach 
ihn auch nicht um su uns su reden. Die schwei- 
gende Macht seiner fast unpersönlichen Gegen- 
wart aber konnte ich nicht anders zeichnen, als 
in der Umgebung, auf die sie, wenn auch nur 
leise, wirkte, vor allem in uns selbst, seinen Kin- 
dern. Aus diesem stark vortretenden Rahmen, in 
dem ich sein Bild tanzig gekannt habe, konnte 
und wollte ich es nicht ablösen. Ein emporragen- 
der Mensch steht ja nicht allein im Universum, 
auch seine Angehörigen sind ein Teil von ihm* 
Und wie man aufwärts in der Ahnenrdhe gerne 
die Züge verfolgt, die sein Wesen gebildet haben, 
ist es vielleicht nicht ohne Interesse, ihnen auch 
einmal in der absteigenden Linie noch weiter 
nacluEUgehen. An Hermann Kurz ist das land- 
läufige Axiom, wonach ein bedeutender Vater un- 
bedeutende Söhne haben muss, zu Schanden ge- 
worden: den glänzendsten Gegenbeweis hat mein 
Bruder Edgar geUefert. Ihn vor allem, der so- 
viel begeisterte Liebe hinterlassen hat, wird man, 
hoffe ich, nicht ungern in seiner Knabengestalt 
hier wiederfinden; ich habe mich darum auch 
nicht gescheut zu erzählen, wie sich der Most 



._^ kj i^ -o i.y Google 



zuweilen absurd gebärdet hat, der hernach emen 
so edlen Wein ergeben sollte. Es war des Zu- 
sammenhangs wegen tmvermddlich» dass man- 
ches von mir anderswo erzählte hier wiederholt 
und erweitert wurde. 

Den grössten Dank für geleistete Hilfe 
schulde idi der Güte des Herrn Prof. Hermann 
Fischer in Tübingen, der mir ein reiches von ihm 
gesammeltes Material an Briefen für meine 
Zwecke zur Verfügung stellte. Ohne diese Pa- 
piere wäre m^e Kenntnis vom Leben meines 
Vaters unzusammenhängend geblieben. Einzdne 
charakteristische Züge haben mir Jugendbekannte 
von ihm geliefert, denen ich nicht mehr danken 
kann. Für die späteren Jahre dienten mir dann 
und wann Aufzeichnungen, die meine Mutter 
noch zu seinen Lebzeiten gemacht hat. Von ihr, 
die in ungetrübter Geistesfrische bei mir lebt, 
konnte ich kein höheres Zeugnis ablegen, als, 
indem ich überall die reine historische Wahrheit 
eri^Uilte, auch wo ich in der Auffassung der 
Dinge von ihr abweiche. 

Das Leben eines Dichters zu schreiben ist 
keine lohnende Aufgabe. Denn den Stoff, aus dem 
der handelnde Mensch äusseres Leben auf- 
baut, verwendet der Schaffende zu seinen geisti- 
gen Gebilden. Was für den Biographen übrig 
bleibt, ist dann meist nur ein für die Darstellung 
wenig dankbarer Rest, der zudem weniger den 
Dichter selbst, als die Zeit» in der er gelebt hat, 
charakterisiert. Dies gilt in besonders hohem 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— XI — 

Grad von meinem Vater. Wen also der hier ge- 
schilderte Lebensgang nicht befriedigt, der greife 
zu des Dichters Werken. In ihnen findet er seine 

wahre Welt, die Welt, für die er geboren war, mit 
allem Glanz und aller Fülle, um die das Leben 
ihn betrogen hat. 

Forte dei Marrai, im Dezember 1905. 



^ kj i^ -o i.y Google 



Inhalt 

Seite 



Vorwort Vll 

Einleitung 1 

Des Dichters Jugendjahre 14 

Nachlese aus den Gedichten der Maulbronner Zeit 42 

Das blaue Genie 47 

Erste Schaffensperiode 76 

Beziehungen zu Mörike ftS 

Der Dichterkreis um Alexander von Vflrttemberg » HO 

Schwarz-rot-gold 120 

Das Rninnnwftche Hau« 130 

Hei rat IM 

In der Frone der Freiheit 170 

Nene Schaffensperiade 188 

Unsere Kindersttihe 214 

Oberesslingen 235 

Der Fremdling 261 

Treue, Gedicht 288 

Letzte Lebensjahre 292 

Personenverzeichnis 343 



Hennann Kurz 



Einleitung 



Am lo. Oktober 1873 hat der Dichter Hermann 
Kurz die Augen geschlossen. Seine Lebensge- 
schichtc ist bis zur Stunde noch nicht geschrieben. 
Die knapp umrissene, aber meisteriiche Portrit- 
«kiasc die Paul Heyse in seinem Vorwort zu 
der ersten Gesamtausgabe der Werke von 
Hermann Kurz entworfen hat, ist noch immer 
das einzig zuverlässige Büd, das von dem Dichter 
existiert. Was von anderer Seite hinzukam, war 
häufig eher dazu angetan, die Züge zu verwirren, 
als sie deutlicher herauszuformen. Es gibt viel^ 
leicht kein Dichterlos, das einen grösseren Gegen- 
satz zwischen innerer Anlage und äusserem 
Lebensgang aufweist als das seinige. Da er ein 
Freund astrologischer Studien, versteht sich zu 
poetischen Zwecken, war, so verstösst es nicht 
gegen seinen Geist, wenn ich von ihm sage, dass 
er nach der Konstellation seiner Geburtsstunde 
m den sonnigen Jupiterskindern gehörte, dass 
aber böse saturnische Einflüsse frühe in sein 
äusseres Geschick eingriffen und sein Dasem mit 
Kampf und Not erfüUten. Daher steht sein per- 
sonliches Leben in tiefem Schatten, während über 
seinen Werken der Sonnenschein des siegreichen 
«umors, der unzerstörbaren Weltfreudigkeit 

• liQlde Kur«. Homaim Ka«, I 



— 2 



lacht. Dieses Gegensatzes zwischen Natordl und 
Schicksal sich immer bewusst zu bleiben, ist für 

den nachgeborenen Biographen nicht leicht, der 
für des Dichters PcrsönUchkeit ganz auf die 
schriftlichen Zeugnisse» vor allem auf seine eige- 
nen Briefe, angewiesen ist. Hier findet er nur 
den oft herzbrechenden Bericht über seine Kämpfe 
mit der Aussenwelt, aber die Ergänzung fehlt» 
die die Briefempfänger in Händen hatten: das 
Bild der gemeinsam durchschwelgten hohen Stun- 
den und des elMtischen Siegesmuts, mit dem der 
Dichter nach jeder Enttäuschung sich wieder auf- 
richtete; denn was sich von selbst versteht^ das 
^Ütg% man in Briefen nicht auszusprechen. Wer 
nun seine Laufbahn Schritt für Schritt an der 
Hand dieser Zeugnisse verfolgt, um sie in den 
schroffen Aussenlinien wiederzugeben, wie sie 
sich etwa in dem Briefwechsel mit seinem Jugend- 
freunde Rudolf Kausler darstellt, der ist in Ge- 
fahr, sein Bild viel zu sehr grau, in grau zu malen, 
wie es den meisten begegnet ist, die über ihn 
schrieben. 

Da kann es auch beim wärmsten Bemühen 
nicht an Verzeichnungen fehlen: derselbe Iftann, 
von dem Hejrse aus seinen trübsten Lebensjahren 
berichtet, dass, wer sein Schicksal nicht kannte, 
ihn nach dem Glänze seiner Augen, seiner freien 
Haltung, der Milde und freudigen Kühnheit seines 
Wesens für emen der Uebünge des Glückes halten 
musste, erscheint in den Darstellungen der Sin- 
teren nicht selten als ein düsterer, früh verbitter- 



._^ kj o^ -o i.y Google 



ter» knorriger» menachenf eindlicher Sonderling. 
Es ist ihnen daraus kein Vorwurf «i machen« sie 

kannten ja nur die Nöte, die ihn bedrängten, und 
die wachsende Vereinsamung seiner Mannesjahre, 
aber nicht die frischen Hilfsquellen, die fort und 
fort in seinem Innern sprudelten* He7Se allein, 
der aus dem unmittelbaren Austausch schöpfte, 
besass noch die Mittel, dieser Etscheinung die 
volle Lebenswahrheit zu geben* Aber seine un« 
übertrefflich schöne Sciiüderung ist nur ein Um- 
riss und beschribikt sich auf des Dichters letzte 
Lebensjahre. Den späteren Darstellern Hegt es 
ob, die von Heyse angelegte Skizze zum Gesamt- 
bild zu erweitem. Das ist keine leichte Aufgabe. 
Es braucht dam ausser dem nahen Vertrautsetn 
mit demBoden Alt-Württembergs die eingehendste 
Kenntnis der Uterarischen und politischen Ver- 
hältnisse seiner Zeit. Beides steht mir nicht 
SU Gebote. Und leider bin ich nicht einmal im- 
stande diese Mängel durch eine Fülle lebendiger 
Erinnerungen aufzuwiegen. Fiel doch meines 
Vaters bestes Leben lange vor die 2eit meiner 
Geburt, und der Mann, dem als Jüngling von 
seiner dionysischen Tafelrunde (S. »»Das Wirts- 
haus gegenüber^*) das beneidenswerteste Mund- 
stück zuerkannt worden war, redete als Familien- 
vater fast gar nicht mehr, am wenigsten in den 
späteren Jahren, wo ich erst su einem Austausch 
ISfaig wurde. Ich kann also auch meinersdts 
incht den Anspruch erheben, die Lücke befriedi- 
gend auszufüllen. Doch gibt mir der Besitz von 



— 4 — 



intiinen PamiUentiriefai und manche erfaaltctte 

Überlieferung wenigstens einen Einblick in die 
^eit seines Werdens, und der Vorteil des gemein- 
samen Blutes lässt mich hoffen» manche Züge sei- 
nes Wesens richtiger, als dem Fremden möglich 
ist, zu deuten und so dem kOnftigen, hesser aus- 
gerüsteten Biographen die Gesichtspunkte für die 
Auffassung des Menscheu und des Dichters Her- 
mann Kurs SU liefern.^ 

Als ich mein geistiges Auge su öffnen hegann, 
lebte mein Vater schon wie ein lebendig Ver- 
schollener. Ein Bannkreis umgab den schweigen- 
den Mann, der ihn gleichsam von der Mitwelt ab- 
sonderte. Es war» als wären alle übereingekom- 
men, von dem, was er der Welt gegeben hatte, su 
schweigen. Die mit ihm jung gewesen, seine 
Freunde imd Mitstrebenden, hatte das Schicksal 
frühe stumm gemacht. Das nachwachsende Ge- 
schlecht besass in jener literarisch matten Zeit 
nidit so viel selbständigen künstlerischen In- 
stinkt, um sich ohne Hinweis von aussen für eine 
echte Kunstschöpfung zu begeistern. Die poli- 
tische Partei, der er sdne besten Mannesjahre ge- 
opfert hat, stand seiner reinen tendenzlosen Kunst 
kühl gegenüber. In der Literatur wurde er gar 
mit Heinrich Kurz, dem Literarhistoriker, ver- 
wechselt. Die Jugend sang seine Lieder nach den 
Silcherschen Melodien und wusste nicht mehr, 
wer der Veriasser war. VHr fühlten uns wie 
Königskinder im ExU, deren Vater seine recht- 
mässige Krone nicht tragen darf. 



._^ kj i^ -o i.y Google 



„Ich biii «wischen die Zeiten gefallen»" sagte 
der Dichter seihst» wenn er in späteren Jahren 
sich je einmal über seine literarische Laufbahn 

äusserte. Ja, er war zu spät gekommen für die 
Zeit, wo rein poetische Interessen im Vorder- 
grund des deutschen Geisteslebens standen. In 
den bald danach ausbrechenden politischen Stür- 
men verstummte seine parteilose Muse, während 
der Dichter selbst zum Kämpfer wurde und seine 
ganze persönliche Existenz für seine Überzeugimg 
einsetste. Nachdem der Sturm sich gelegt hatten 
gab es kein literarisches Württemberg mdir, und 
ein Deutschland, das dem Dichter hätte vergüten 
und vergelten können, gab es überhaupt noch 
nicht. Unter dieser bösen Konjunktur verfloss 
sein Leben. Als er dann nach seinem Tode in 
den Gesammelten Werken sum erstenmal in ge- 
schlossener Gestalt vor das Publikum trat, da 
wiederholte sich das „Zwischen die Zeiten fallen". 
Nun gab es zwar ein Deutschland» aber dieses 
Deutschland» das eben erst im grossen und groben 
von dem gewaltigsten Werkmeister zurechtge- 
zimmert war, hatte zunächst anderes zu tun, als 
ästhetischen Interessen nachzugehen» imd als es 
sich endlich auf diese wieder besann, da wollte 
man in dem neuen Reiche alles neu haben» am 
neuesten die Kunst; man lebte von der Erwartung 
der Dinge die da kommen sollten und liess sich 
nur sehr ungeme daran erinnern» dass es schon 
vordem eme deutsche Dichtkunst gegeben hatte. 
Übefdiea wurde jetzt das mit der politischen 



Führerachaft verbundene Überwiegen des nord- 
deutschen Gdstes auch in der Literatur der Ver* 
breitung eines so spezifisch süddeutschen Dich- 
ters, wie Hermann Kurz, hinderlich. Und als 
schlimmster Gegner kam noch der rohe Naturalis- 
mus dasu« der wieder für dne lange Zeit die W^e 
der wahren Kunst verschüttete. Wenn zuvor 
Hermann Kurz mit seinem kühnen und trotzigen 
Wahrheitssinn für eine matte, durch flaue Schön- 
färberei verzärtelte Periode zu mannlich und 
stark gewesen war» so wusste «Uese» die die Fahne 
eiines falschen Realismus schwang, wiederum 
nichts mit ihm anzufangen, weil seine Wahrheits- 
liebe auf die typische, inuner wiederkehrende 
Wahrheit» nicht auf die zufäUige» einmalige ge- 
richtet ist. Aber auch die schlimmste Konjunk- 
tur nimmt einmal ein Ende. Zwar nur langsam, 
wie Gletscher schieben, aber unaufhaltsam ver- 
schiebt sich ein Kulturbild* So scheint nun end- 
lich der Tag für Hermann Kurz anzubrechen. 
Schon in den letzten Jahren stellten sich Zdchen 
ein, dass die Erinnerung an ihn zu erwachen be- 
ginne, die Reclamsche Universalbibliothek ver- 
breitete seine kleinen feinen Erzählimgen, dann 
mit Ablauf der literarischen Schutzfrist erschie- 
nen als die ersten Schwalben die Neuauflagen der 
grossen Romane, denen jetzt fort und fort weitere 
Ausgaben folgen, imd endlich brachte als dan- 
kenswertestes Unternehmen der Verlag von Max 
Hesse die neue, von Hermann Fischer, dem Sohne 
des Dichters J. G. Fischer, besorgte Ausgabe der 



Sämtlichen Werke, die durch einige wertvolle, in 
der früheren Gesamtausgabe fehlende Stücke er« 
^aixt und mit gediegenen» von liebevollem Ver- 
ständnis durclidrungenen Einleitungen zu jedem 

Bande versehen ist. Wie ein Verschütteter aus 
tiefem Schachte steigt der Dichter heute herauf, 
in voller Frisch^ unberührt vom Pittich der Zeit, 
die so viele seiner gefeierteren Zeitgenossen 
unterdessen in Staub und Asche gewandelt hat. 
Kein Rünzelchen auf der blühenden Wange sei- 
ner Muse. Seine Gestalten sind noch lebendig 
und menschlich wahr bis in die kleinste Neben- 
figur herab, Sprache und Gedanken mnd unver- 
altet, jede Zeile neu und blank, als wäre sie heute 
geschrieben. So tritt der Dichter einem neuen 
Geschlecht gegenüber, auf das der alte Unstern 
nicht mehr wirkt: es gibt heute keine literarischen 
Moden mehr, da in vmäem Tagen alles und nichts 
Mode ist; der Zeitgeist wendet sich wieder den 
ästhetischen Interessen^ wenn auch noch mit un- 
genügenden Mitteln zu, die geistigen Zollschran- 
ken mnerhalb Deutschlands smd gefallen, und 
wenn der Süden sich des Vorrechts seiner älteren 
Kultur begeben hat, um auf das bewegtere Gei- 
stesleben seiner norddeutschen Brüder einzu- 
gehen, wenn er sogar zu diesem Zweck das 
Fremdartige der niederdeutschen Sprechwdse 
überwindet, so darf er jetzt vom Norden das 
gleiche Entgegenkommen für seine führenden 
Geister erwarten. Damit ist dem Dichter, der 
die Heimatkunst pflegte, lange bevor dieses neue 



Wort für eine alte Sache geprägt war, endlich 
der Weg aus der engeren Heimat, die für seine 
ICaaie m klem war, in das grcNwe Gcaamtvater- 
land eröffnet. 

Um aber zu begreifen, wie es zuging, dass ein 
Dichter von der Stärke und Bedeutung eines Her- 
mann Kurz von seiner Zeit so unter Schutt be- 
graben werden koimte, muas man aich den Boden 
Alt-Württembergs, dem er entsprossen ist, und 
die Zeit seines Wachstums vor Augen halten. 

Die Schwaben gelten gewiss mit Recht für 
einen reich begabten Volksstamm. Aber auf 
engen Raum zusammengedrängt und von Natur 
mit harten Köpfen begabt, haben sie sich von 
jeher schlecht miteinander vertragen. Das Be- 
streben, einander zu verkleinem, ja lieber einen 
ganz Fremden, wäre er auch minder verdienst- 
voll, anzuerkennen, als einen der Eigenen, ist ein 
unverwischbares StammesmerkmaL Diese Sucht, 
sich gegenseitig am Zeuge zu flicken, die durch 
das angeborene kaustische Element verschärft 
wird, ist so allgemein, dass der Schwabe sich der- 
selben kaum bewttsst ist und häufig gar keinen 
bösen Willen damit verbindet. Selbst in die 
Klangfarbe des Dialekts hat sich diese Streitsucht 
eingesclüiciien; denn wenn zwei Schwaben auf 
der Strasse zusammen reden, scheint es dem un- 
eingeweihten Ohre, als zankten sie sich« Erst 
im Ausland kommt es ihnen zum Bewusstsein, 
wie viel schonender andere Stämme unter sich 
verkehren. 



In diesem Lande gedeiht das Talent nicht 
durch Fördenuig, sondern durch GegpaaBtiL und 
Widerstand: das dickköpfige Philisterium ist dort 

der Nährboden des Genius, der mit ihm m käm- 
pfen hat. Das ist ein Krieg auf Tod und Leben, 
wobei meistens der Genius auf die Dauer seiner 
Erdentage unterliegt» um dann später in verklär- 
ter Gestalt aufsuerst^en und den Kampf mit 
besseren Aussichten fortzusetzen. Aller Ruhm 
Alt-Württembergs geht von seinen Dissidenten 
aus. Diese sind sämtlich Geschwister von Schil- 
ler ab» zwar ungleich an Talent und Tempera- 
ment, aber gleich an wetterfestem, not- und tod- 
verachtendem Idealismus. Ein Familienzug, der 
sie von weitem kenntlich macht» ist ihre trotzige 
Gebärde; sie wollen stets mit dem Kopf durch die 
Wand. Sie sind eben keine Olympier, sie sind 
Titanenkinder. Eine Ausnahme bildet Mörike, 
der die umgebende Welt sich anpasst, indem 
er sie mit seiner spielenden Phantasie, fast ohne 
es zu bemerken» vollkommen umgestaltet. Dieser 
lebte denn auch unangefochten dahin, die Phili- 
ster taten ihm nichts zuleide, er verkehrte mit 
ihnen auf du und du, und sie bemerkten gar nicht, 
dass er ein Genie war, sondern hielten ihn für 
ihresgleichen. 

Allein nicht nur der Philistw war in ^Wilrttem- 
berg dem aufstrebenden Genius hinderlich, auch 
seine Geistesverwandten verlegten ihm den Weg. 
Das kleine Land war ja viel zu rHch an Talenten, 
um ihnen allen Raum zur Entfaltung su geben ; an 



den Grenzen aber war die Welt mit Brettern ver- 
nagelt. Wer darüber hinausstfirmte» der konnte 
im Elend zugrunde gehen wie Waibfinger, oder 

wie Hölderlin als ein Schiffbrüchiger zurück- 
kehren. Darum ging es, wie es oft in begabten 
aber armen Familien zu gehen pflegt, wo tm 
jeder aein Talent und seine Individualität zur 
Geltung zu bringen sucht und keiner den andern 
recht aufkommen lässt. Anderwärts ereignet sich 
gerade das Umgekehrte; man bildet Cliquen zur 
gegenseitigen Anpreisung und Förderung, dass 
der Fremde glauben könnte, in eine ganze Pflanz- 
schule von Genies geraten zu sein. In Württemberg 
aber fehlte es dem Genius von vornherein an 
Verkündigem. Sollte ein einheimisches Erzeug- 
nis dort Anerkennung finden, so musste es zuvor 
exportiert und mit einer auswärtigen Marke wie- 
der eingeführt werden. Ein preussischer Haupt- 
mann war es, der die erste Ausgabe von Hölder- 
lins Gedichten veranlasst hat. In unsem Tagen hat 
der Norden begonnen, den Ruhm des halbver- 
schoUenen MÖrike zu machen, wie er zuvor den 
Uhlands gemacht hatte. Von Schiller ganz zu 
schweigen. Nicht umsonst singt Mörike von 
diesem: 

— der an Herz und Sitte 
Ein Sokn der Heimat war, 
Stellt sieh in unsrer Mitte 
Ein hoher Fremdling dar. 

Das war es, was ihm schliesslich seine Gel-, 
tung gab, dass er als Fremdling wiederkam« In 



echt schwäbischem Sinn hat einmal Theobald 
Ziegler den Urspnmg der Redensart „er ist nicht 
weit her'' untersucht. Dass er nicht weit her war, 
liess auch Hermann Kurz nicht in seiner vollen 
Bedeutung erscheinen, gerade sein starkes Hei- 
matgefühl» das ihn hinderte, den Boden Württem- 
bergs SU verlassen, ist ihm in der Heimat schäd- 
lich geworden. Nicht als ob es den Schwaben 

an Sinn für ihre heimischen Produkte gebräche, 
sie tun sich vielmehr auf die grosse Menge üirer 
schöpferischen Geister recht viel xugute; aber sie 
haben nun einmal die Neigung, diesen bei Leb- 
seiten den Brotkorb so hoch wie möglich zu 
hängen. Das wunderliche Stammesselbstbewusst- 
sein, das sie so oft getrieben hat, ihre Grossen als 
quantite negligeable zu behandeln, findet semen 
klassischen Ausdruck in dem köstlichen Vera von 
Eduard Paulus: 

Der Schcllin^^ und der Hegel, 
Der Schiller und der Hauff, 
Das ist bei uns die Regel, 
Das fällt uns gur nicht auf. 

Auf einem so sonderbaren Boden war die be- 
rühmte alte „Schwabenkultur'' aufgebaut. Frei- 
lich, es war ihr auch anzuseilen« Sie umf asste die 
ganze Welt des Gedankens und besass doch nicht 
das kidnste Fleckchen, auf dem sie sich sichtbar 
niederlassen konnte. Das macht: sie war aus- 
schliesslich Mämiersache; die Schwäbinnen, 
wenigstens die des Mittelstandes^ taten nicht mit» 
sie bdiarrten mit Überzeugung in der Unkultur, 



— 12 



Es gab keine gesellschaftliche und ästhetische £r- 
xtdumg durch die Fmu; bei der Heirat brach ent- 
weder die Entwiddunir des Mannes ab» oder ea 

trat bei ihm eine völlige Teilung des inneren und 
des äusseren Menschen ein. Daher blieb diese 
Kultur eine rein literarische, die aus dem Studier- 
zimmer der Poeten und Gelehrten nicht einmal 
bis In die nächste Umgebung den Weg fand, so 
dass, während das Pamilienhaupt zu den Sternen 
am geistigen Himmel zählte, häufig die nächsten 
Angehörigen in einer fast bäurischen Unwissen- 
heit und Formlosigkeit dahin IdMen* Es hat 
etwas Schauerliches, sich die Weltweite dieser 
Geister und dazu die erdrückende Enge ihres leib- 
lichen Daseins vorzustellen. Dazu kommt, dass 
fast alle talentvollen jungen Leute durch die 
Armut sum unentgeltlichen Studium der Theolo- 
gie getrieben wurden und dass eine Landpfarrei 
das gewöhnliche irdische Ziel der Titanensöhne 
war. Der Weg dahin führte durch die Pforte des 
MLandeacamens" in die klösterliche Zucht der nie- 
deren Seminarien und von da in das bekannte 
„Tübinger Stift". In diesem Stift, der wahren 
Stiefmutter unserer grossen Geister, wurden sie 
in den Entwicklungsjahren von allem äusseren 
Leben ferngehalten und sjrstematiscfa zu jener 
vielberufenen stifUerischen Unweltläufigkeit er- 
zogen, die ihnen später das Weiterkommen auf 
jedem anderen als dem von der Anstalt vorge- 
schriebenen W^e so sehr erschweren musste. 
Wenn es olmehin die Art der schöpferischen 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 13 



Naturen is^ sich unter dem Eindruck ihrer inne- 
ren Geaidite «chwerer in der Welt sureclitsulinden 
als der gewöhnliche Menschenschlag, so hat Alt- 
Württemberg seinen genialen Männern noch ge- 
flissentlich Ketten um Ketten an die Füsse gelegt. 



u^ kj i^ -o i.y Google 



Des Dichters Jugendjahre 



Hermaiin Kurz ist am 30. November 1813 zu 
Reutlingen geboren, der ehemaligen freien R^chs- 

Stadt, die ein Dezennium zuvor württembergisch 
geworden war. Die Kindrücke, die er dort em- 
pfing» iiaben all seinem späteren Dichten und 
Schaffte die Grundfarbe gegeben« Ich sdber 
kenne die altertümliche, von den Geistern der 
Döffinger Schlacht umschwebte Jugendstadt mei- 
nes Vaters nur aus seinen Dichtungen ; das Reut- 
lingen, das ich später mit Augen sah» ist davon so 
völlig verschieden, dass es mir niemals möglich 
war, beide in e i n Bild zusammenzufassen. Seine 
Eltern waren, als ich zur Welt kam, lange tot. 
Überhaupt kannte ich keinen von seinen früheren 
Angehörigen, als seinen einzigen Bruder, der ihn 
inn wenige Jahre überlebte. In meiner Kinder- 
phantasie spielte die mütterliche Familie, das alte 
Freiherrngeschlecht von Brunnow, unter dessen 
Reliquien wir heranwuchsen, eine grosse RoUe, 
während der väterlichen Vorfahren nie von uns 
gedacht wurde. Das war sehr begreiflich: mein 
Vater sprach uns nicht von ihnen, und meine 
Mutter hatte sie nicht gekannt. Sein Schweigen 
rührte jedenfalls zum Teü davon her, dass er 
diese Gestalten schon in Poesie verwandelt hatte 



Des Dichters Geburtsbaus in Reutlingen 



I y Google 



Google 



— IS — 



imd dass es ihm gegen die Natur ging, das dich- 
terische Gewebe i& aeinein Geiste wieder aufsu« 
lösen und den nackten historischen Inhalt heraus* 
2uholen. Für ihn waren sie nunmehr völlig das, 
was seine Phantasie aus ihnen gemacht hatte. Ich 
hielt also, bevor ich seine »»Familiengeschichten** 
kannte^ nicht viel auf diese ehrsamen ReutUnger 
Glockengiesser und Spritzenmeister» und nut der 
Offenherzigkeit, die Kindern eigen ist, sagte ich 
eines Tages zu meinem Vater: „Es ist eigentlich 
doch recht schade» dass unsere Mama nicht lieber 
einen Standesgenossen geheiratet hat» dann wäre 
ich jetzt auch eine Geborene/* Er antwortete 
lächelnd, aber doch mit einem gewissen Nach- 
druck: „Du bist schief gewickelt, liebes Kind, 
wenn du dir viel auf deine mütterlichen Ahnen 
einbildest» die als Raubritter auf ihren festen Bur« 
gen Sassen und harmlose Wanderer plünderten. 
Da waren deine Ahnen väterlicherseits ganz 
andere Leute: regierende Bürgermeister und 
Senatoren einer kleinen Republik» die über Leben 
und Tod» über Krieg und Frieden zu entscheiden 
hatten." Diese Worte imponierten mir sehr, 
und von da an betrachtete ich die Reutlinger Vor- 
fahren mit ganz anderen Augen, obgleich ich mich 
in ihre harte und enge Welt doch nicht hineinzu- 
denken vermochte. 

Sie reichen urkundlich bis ins fünfzehnte Jahr- 
hundert zurückt wo sie als freie Bauern auf ihrem 
eigenen Erb und Lehen sassen. Um 14S3 war 
ein Hanns Kurts von Osterreich mit einem Grund- 



._^ kj 1^ -0 i.y Google 



i6 — 



stück bei Kirchentellinsfurt belehnt woiden« Von 
da an verschwindet der Name Kurts nicht mdir 
aus den Annalen der freien Rdchsstadt. Bs wird 
seinen Trägern nachgerühmt, sie hätten frühe das 
Streben gezeigt, zur geistigen Aristokratie des 
Landes aufsurücken. Jedenfalls erscheinen sie 
schon in den ältesten Urkunden als ein frei- 
mütiges, unternehmendes, wohl auch etwas hoch- 
fahrendes, dabei aber kernhaftes und tüchtiges 
Geschlecht, das alsbald mit persönlichen Zügen 
hervortritt. Auch die Wander- und Abenteurer- 
lust, die viele Glieder späterhin weit über die Erde 
verstreut hat, zeigt sich zeitig : im i6. Jahrhundert 
begleitet ein Sebastian Kurtz Kaiser Karl V. als 
Fuggerscher Agent nach Italien und wird durch 
seine Aufzeichnungen zur wichtigen Geschichts- 
quelle für den Schmalksldischen Krieg. Die Fami- 
lie schrieb sich abwechselnd Kurtz, Kurz und Cur- 
tius; unser Zweig hielt an dem älteren „tz** fest, 
bis im Jahre Achtundviersig mein Vater, seinem 
sonst so ausgeprägten historischen Sinn entgegen, 
das „t" aus dem Namen strich, weil jetzt jeder 
Zopf fallen müsse. Die Nachkommen haben aus 
Pietät die von ihm bestimmte Schreibart beibe- 
halten, obwohl sie stets das Aufgeben der älteren 
Form bedauerten. Unser Familienwappen, ein 
goldener Löwe, der, auf grünem Dreiberg ste- 
hend, eine schwarze Hausmarke in den Pranken 
hält, wurde im Anfang des siebzehnten Jahrhun- 
derts verliehen« Ein anderer Zweig, der bald aus- 
starb, erhielt fQr die in Kriegszeiten dem Kaiser 



._^ kj i^ -o i.y Google 



17 



geleisteten Dienste ein Wappen» worauf der 
rämiache Ritter Cnrtiiit dargettdlt ist» wie er auf 
weunem Rom in goldener Rüstung in den von 

Flammen umzüngelten Abgrund sprengt. Unsern 
Ast begründete ein Michael Kurtz, der zu Ende 
des siebzehnten Jahrhunderts an der Spitze einer 
grossen WerloMatt für Glocken und Feuerspritzen 
stand und sme Erzeugnisse durch die Schweiz 
und einen grossen Teil Deutschlands versandte. 
Von ihm wird berichtet, er sei einmal auf vierzehn 
Tage in den Turm gesetzt worden, weil er gegen 
die vielen Steuern opponierte, und bei seiner Ftei* 
lassung habe er dnen Schein ausstellen müssen, 
dass er nicht, wie er gedroht, den einen oder 
andern Ratsherrn, wenn sie bei seinem Haus vor- 
über in die Kirche gingen, niederschiessen wihrde. 
Man traute ihm zu, dass er der Mann wäre, seine 
Drohung wahr zu machen, denn man hatte ein 
mit zwei Kugehi geladenes Feuerrohr bei ihm ge- 
funden. Auf diesen Feuerfcopf folgte sein ebenso 
energischer Solm Joliannes, jener vielgewanderte 
Ururahn mit dem spanischen Ldbfluch und dem 
„bordierten Hütlein", bei dem meines Vaters 
Familiengeschichten beginnen. Das „bordierte 
Hütlein", das der wadcere Zunftmdster und Rats- 
herr als Zeichen sdner Würde trug, wurde in der 
Verwandtschaft sprichwördich bis auf unsere 
Generation; denn so oft einer aus der Familie den 
Kopf etwas hoch trug, hiess es von ihm: „er hat 
das bordierte Hütlein auf". Dieser Johannes, der 
sich im Audand in seiner Kunst sehr vervoll« 

Isolde Kurz, Hennanii Kua. 2 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— x8 — 



konunnet hatte, brachte das väterliche Gewerbe 
erst recht in Flor. Nach sdner Rückkehr heiratete 
der stattliche junge Meteter jene lid>liche, durch 
einen Vormund um ihr Vermögen geprellte Schaf- 
hirtin, deren Geschichte in der ,,Reutlinger 
Glockengiesserfamilie'* erzählt ist» 

In Wirklichkeit hiess sie Magarete; der Dich- 
ter hat ihr diesen Namen genommen, schwerlich 
aus Irrtum, sondern weil er ihn für die im Wit- 
wenstüblein** erzählte Geschichte seiner eigenen 
Vatersschwester, der bekannten „Frau Dote"» 
brauchte^ und hat ihn durch den gleichfalls poe- 
tischen Namen einer andern Vatersschwester 
Dorothea ersetzt. Herr Johannes war ein hef- 
tiger und ehrsüchtiger Mann, der nicht die ge- 
rii^e ihm zugefügte Unbill ertragen konnte; 
aber als bd dem grossen Brande seiner Vater- 
stadt, dem er als Spritzenmeister zu wehren hatte, 
ein langjähriger Freund sein ganzes ihm anver- 
trautes Hab und Gut veruntreute, nahm er diesen 
Schlag geduldig als göttliche Schickung hin und 
begann getrosten Muts sein Handwerk von 
neuem. Was von ihm in der „Reichsstädtischen 
Glockcngicsserfamilie*' erzählt wird, scheint 
' durchweg auf Tatsachen zu beruhen, wogegen 
bei der romantischen Liebesgeschichte sdnes 
Sohnes Franz ebenso wie in der seines Enkels 
„Wie der Grossvater die Grossmutter nahm** der 
historische Zettel stark mit dichterischem Ein- 
schlag verwebt ist. Dagegen sind die Persönlich- 
keiten hier wie in den nachfolgenden Geschichten 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— «9 



getreu nach den Oberlieferungen und sum Teil' 

nach der Erinnerung gezeichnet, besonders jener 
letztgenannte Grossvater, der alte patriarchalische 
Senator Johannes, der „Herr Ehni*' de» Dichters» 
der als Stebenundachtsigjähriger wenige Tage 
yor seinem Tod in Gregenwart seines Enkels Her- 
mann beim Scheibenschiessen den Meisterschuss 
tat. Diesem liebenswürdigen Greis wird eine an 
den Jünger Johannes erinnernde Sanftmut nach- 
gerühmt, w^che Eigenschaft bis dahin nicht zu 
den vorwiegenden Stanunesmerkmalen gdbSrte. 
Züge von ihm finden wir später in der heimeligen 
Crestalt des alten glockengiessenden „Amtsbürgcr- 
meisters'' der ,^eimatjahre'' wieder» dem sogar 
ein verstecktes Kennseichen beigegdben ist: die 
Zinnbecher, aus denen der Wackere seine Gäste 
labt, tragen das Kurtzsche Familienwappen, den 
Löwen, der auf dem Dreiberg steht. Es liegt ein 
unwiderstehliclier» aus dem Gemüte fliessender 
Zauber über der Schilderung seines Heimwesens 
— „eine Heimstätte, wo wir ewig verweilen möch- 
ten,*' nennt es der geistvolle Kitmberger in seinen 
^Literarischen Herzenssachen^. 

Vom Ururgrossvater bis sur unvergesslichen 
„Frau Dote" hat der Dichter vier Generationen 
seiner Familie in ihren Eigenheiten und ihrer Um- 
gebung geschildert ; ihnen schliesst sich noch das 
Bild vom alten Vaterhause seiner Mutter in Tü- 
bingen aot das im ersten Buch der „I>enk- und 
Glaubwürdigkeiten" so lebendig gezeichnet ist. 
Über die eigenen, früh verlorenen Eltern aber geht 

2* 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 90 — 



der Dichter mit wenigen eingestreuten Worten 
faach Idnweg ; woM ntcht, weil ilm sem Gedächtnui 
auf diesem Punkt im Stiche Hess» sondern eus 

einer Scheu des Gefühlslebens, die ihm gerade 
über die Nächsten und Teuersten den Mund 
verschioss. Es waren auch keine Erinnerungen so 
hefier und freudiger Art» die ihn mit dem eigenen 
Vateiliaus verknüpften« 

Sein Vater Gottlieb David Kurtz, der schon 
im dreiundvierzigsten Jahre an der Schwindsucht 
Starb, war dn Mann von vorwiegend geistigen 
Interessen, ein heller Kopf, dabei glühender Ver- 
ehrer Schillers, der glückfich war, wenn sein be- 
gabter Ältester schon als kleiner Junge Schille- 
rische Balladen und andere Gedichte rezitierte. 
Aber er hatte den kaufmännischen Beruf ohne 
innere Neigung erwählt, und dieser brachte ihm 
kein Glück ; da er nun obendrein selbst eine Fort- 
schritts- und Dissidentennatur war, sich auch 
durch einen Aufenthalt in der Schweiz grössere 
Oeaichtspunkte angeeignet hatte, konnte es ihm 
in der stockenden Enge seiner heimischen Ver- 
hältnisse nicht allzuwohl sein. Er wurde ein 
Parteigänger seines unglücklichen Landsmanns, 
des „Weltverbesserers" List, und spann dal)ei 
nach dem Zeugnis seiner Gattin , Jeeine Seide". 
Wie der grosse Nationalökonom um jene Zeit in 
seiner Heimatstadt angeschrieben war, beweist 
des Dichters Bericht, dass, wenn er in der Knaben- 
^t sich irgendwie nicht in den hergebrachten 
Schlendrian fügen woUte, erschreckte Basen ihm 



._^ kj i^ -o i.y Google 



zu drohen pflegten : „Wart, dir wird es gehen wie 
dem Listi'^ — Durch unglückliche Untemehmun« 
gen kam mein Grostvater um den gröesten Teil 
seines Vermögens. Der Kummer über dieses 
Missgeschick, zu dem sich das körperliche Leiden 
gesellte, verdüsterte seinen frühen Lebensabend 
und trübte den Humor, der als Familiensug auch 
Ihm nachgerühmt wird. Darunter hatte die 
Jugend des Sohnes zu leiden. Die beiden waren 
ganz geschaffen, sich zu verstehen, aber wie es 
häufig zwischen einem reizbaren Vater und einem 
lebhaften Sohne su gehen pflegt, sie fanden den 
Weg nicht su einander. Zwischen dem kränk- 
lichen, verstimmten Mann und dem begabten, 
temperamentvollen Knaben kam es häufig zu 
Missverständnissen, die noch in der Seele des 
Sohnes schmerzlich nachzitterten, als er selber 
ein gereifter Mann war. Als düsterster Schatten 
aus seiner Jugendzeit begleitete ihn die Erinne- 
rung an des Vaters Sterbestunde. £s war am 
13* April z8a6, dass den Ladenden in Gegenwart 
der Seinen der Tod ereilte. Man glaubte ihn 
schon verschieden, und der zwölfjährige Sohn 
Hermann hielt ihm ein Licht an den Mund, um 
zu sehen, ob er noch atme. Da Öffnete der 
Sterbende noch einmal die Augen und liess einen 
grossen Blick über ihn himoUen, in dem das er- 
schrockene Kind einen Vorwurf über diese letzte 
Störung zu lesen glaubte. — Des Vaters unbe- 
befriedigendes Schicksal muss dem jungen Her- 
mann Kurz vor allem vorgeschwebt haben» als 



— 22 — 

er im Jahr 1841 einem neugeborenen Neffen die 
Verse schrieb;^) 

Dtt bist, 0 Kind, roa einem Stamme, 

Dem es noch selten hier gelang» 
Ein schOner Stern var seine Amme» 
Doch leider stets im Untergang. 

Die einen sind im Sand versunken, 
Von dumpfem Missgeschick bedrängt, 
Die andern sind im Schlund ertrunken. 
Vom jähen Mut dahingesprengt 

Stets unvollendete Geschicke, 
Der Anfing gross, das Ende klein I 
Wird das so hldhen mit dem Glficke? 
Das Halbe nie ein Ganzes sein? 

Sei du es denn, in dessen Leben 
Vollendet ist der Väter Haus, 
Dein, dein sei unser ernstes Streben, 
Und fuhr es du ans Ziel hinaus. 

Dir sei's, mein Uehling, sum Gewinne, 

Was edel war an uns und echt, 

Du unser Elte und beginne 

Ein neues glficldlches Geschlecht 

Dieselben Gedanken und Empfindungen hatte 
er schon drei Jahre früher in einem Brief an 
Eduard Mörike ausgesprocfaen: 

„Dieses Missliiigen nämUch, von dem ich sagte, 
scheint den Meinigen — von der gegenwärtigen 
Generation lässt sich noch nichts sagen — an- 
geboren : mein Vater hatte die grössten Ansprüche 
auf ein gelungenes Leben und ist bitter getäuscht 
worden ; und ebenso ist es mit Onkeln und Vettern 

') Ungedrackt 



._^ kj 1^ -0 i.y Google 



— aa — 



gegangen: die einen tangten gar nicht in die 
Welt» die andern haben mit dem betten WiUen 

und Verstand nichts Gescheites herausgebracht 
(ich kann sagen just die, die den Familien Charak- 
ter entschieden an sich trugen; an Indifferenten 
hafs nicht gefehlt» die vorwflrts gekommen sind)» 
80 dass i^ch einer, der das in sdnem Blute fOhlt» 
oft fragen mag: wird dieser Typus so fortdauern 
oder kommt zuletzt einer, dem Fortuna das gibt, 
was sie seinen Vorfahren so oft hinhielt und wie- 
der surückzog?'* — J en^ Neff^ dem er die un 
selben Brief erwähnte» sauer zu verdienende „Voll-' 
cndung" zugedacht hatte, sollte ihrer freilich nicht 
teilhaft werden» denn er starb im frühen Kindes- 
alter. 

Ich gestehe» dass ich den auch sonst in der 
Familie verbreiteten Aberglauben» als ob Ihre 

Glieder zum Unheil prädestiniert seien, meiner- 
seits nie begriffen habe. Ich weiss freilich nicht» 
wer die »»im Schlund Versunkenen" sind« Die von 
dem Dichter geschilderte Ahnengalerie sdgt lau- 
ter Charakterköpfc, die sich mit ihren Eigenheiten 
und ihrem Willen durchzusetzen wussten. Um 
Hermann Kurz' dornenvolles Dichterlos zu er- 
klären» bedarf es keines besonderen Familien- 
unstems» die politischen und sozialen Konstellatio- 
nen seiner Zeit und seines kleinen Vaterlandes 
genügen dazu vollauf. Und wenn Goethe recht 
hat, dass das höchste Glück der Erdenkinder die 
Persönlichkeit ist» so darf sich dieses Geschlecht 
sogar ein begünstigtes nennen» denn es hat mallen 



._^ kj i^ -o i.y Google 



«4 — 



Zeiten starke Persönlichkeiten hervorgebracht* 
Ich will von der späteren Generation* neben dem 
Dichter «dbstt nur icinen Liebüngavetter» den 
eldgenösflischen Obersten und Pfttsidenten des 

Berner Grossrats, Albert Kurtz nennen, von dem 
er uns Kindern gern das kühne Stück erzählte, 
dass dieser; als einst in Bern ein Engländer sidi 
in angetrunkenem Zustand in den städtischen 
Bärenzwinger hinabgelassen hatte, den Unseligen 
mit eigener höchster Lebensgefahr der fürchter- 
lichen Gesellschaft entriss» freilich schon zer- 
fleischt und als Leiche. 

War die Stellung zum Vater eme schwierige 
so stand der Knabe seiner Mutter um so inniger 
nahe. Sie war eine Tochter des aus westfälischer 
Familie stammenden akademischen Buchdrucker- 
herm Schramm aus Tübingen» eine zarte^ stille» 
sinnige Natur» von der nach den Aufzeichnungen 
des jüngeren Sohnes der Dichter die feine Auf- 
fassung menschlichen Wesens und Treibens und 
die Milde des Charakters geerbt hat, während der 
lioetische Sinn vom Vater stammen soll. Ob sich 
das letztere so ohne weiteres behaupten lässt, 
möchte ich jedoch bezweifeln. Dass mein Gross- 
vater dem phantasievoUen Knaben die Romane» 
die dieser wirr durcheinander las» aus den Hän« 
den nahm oder vielmelir riss und ihm dafür Reise» 
beschreibungen und dergleichen unterschob» zeugt 
zwar von pädagogischer Weisheit und von gutem 
Geschmack, und dass er den Aberglauben in jeder 
Gestalt verfolgte» macht seinem Verstand £hre; 



^ kj i.y Google 



Der Buchdruckerherr Schramm mit Frau und Kindern, 
worunter als Jüngstes die Mutter des Dichters 



2$ — 



dass er aber den Rationalismus so weit trieb» 
auch mit den alten „Volksbüchern" in Fehde zu 
li^^eot spricht gerade nicht für poetischen Sinn. 
Dass das eigentlich Poetische dennoch von Seiten 

der Schwertmagen stammt, glaube ich aber gerne, 
denn die Pfarrerin Kenngott, bekannt unter dem 
Namen der ^rau I>ote'', des Kaufmanns David 
Kurts älteste Schwester, die die «weite Ersieherin 
des Dichters wurde, war selbst dn lebendiges 
Historienbuch und besass daneben eine so grosse 
Pliantasie» dass dieser ihr im „Witwenstübchen" 
sagen konnte: »Ich weiss, wie schnell du ein Mär* 
chen susammenbringst, wenn man eins von dir 
haben will." Von dieser köstlich frischen, tem- 
peramentvollen Frau mit der imversiegbaren 
Laune und dem drastischen Mutterwitz» deren 
Wesen» freilich in vi^ engerem Rahmen und unter 
viel bescheideneren Formen, mannigfach an die 
berühmte „Frau Rat" erinnert, ist augenschein- 
lich die Lust am Fabulieren in die Familie ge- 
kommen und der flumor« der die Welt überwin* 
det. Dagegen ist der sichere psychologische In- 
stinkt, der sich oft in den Briefen der Mutter 
Kurtz ausspricht, dem Romandichter als schätz- 
bares KunkeUchen zugefallen. Hinter der kraft- 
vollen Silhouette der Frau Dote tritt freilich die 
Mutter des Dichters mit ihren zarten, fast hin- 
gehauchten Linien etwas zurück, aber eine un- 
bedeutende Frau ist sie darum keineswegs ge- 
wesen. Bei aller Zartheit zeigen ilure Briefe eine 
grosse Selbständigkeit des Denkens» so besonders» 



._^ kj i^uo L.y Google 



— a6 — 



wenn sie ihren Henxiann wiederholt ermahnt, sich 
auch der neueren Sprachen xa befleiasigen, da er 
sie einmal nötig haben IcGmie» und vor allem den 

Widerwillen gegen das Französische zu über- 
winden, das nun einmal Weltsprache sei. So 
weit dachte niemand in ihrer Umgebung. Auch 
fSn empfindliches ästhetisches Gefühl ist ihr 
eigen: einmal prasselt sie in helle Entrüstung auf, 
als der ebenso fein geartete Sohn sich vorüber- 
gehend in einer roheren Ausdrucksweise gefällt, 
womit die Kameraden ihn angesteckt haben, und 
vom Klarinettblasen x^t sie ihm ab aus demselben 
Grunde, weshalb einst Alldbiades die Flöte ver- 
warf. 

Beide Söhne haben die Prühverstorbene als 
ein stilles, rührendes Heiligenbild verehrt; von 
ihr wurde in der Familie auch der aristokratische 
Zug in der Natur des Dichters abgeleitet. Sie 
hatte eine für ihre Zeit und ihren Stand durchaus 
nicht gewöhnliche Bildung und schrieb mit 
fliessender gleichmässiger Hand — im Gegensatz 
zu den seltsamen Kratzfüssen und dem fossilen 
„Gotisch" der Frau Dote — ein modernes, fast 
reines Deutsch. Auch ihre jüngere Schwester, die 
im Jahre 1863 verstorbene Pfarrerin Mohr, von der 
noch eine Erinnenmg wie ein blasser Schein in 
meine eigenen Kinderjahre fällt, hob sich durch 
ein feineres und vornehmeres Wesen von ihrer 
Umgebung ab, soll jedoch der Schwester nicht 
gleichgekommen sdn. Von diesen Jugendein- 
drücken schreibt sich jedenfalls des Dichters Vor- 



._^ kj 1^ -0 i.y Google 



— «7 — 



liebe für zarte weibliche Naturen her, die in ge- 
drückten VerliiltiiiiMn ihren angeborenen Adel 
bcfwahren. Solche spürte er im Leben gerne auf 

und hat ihren Typus auch im „Weihnachtsfund** 
in der sanften und fast seherisch tief blickenden 
Gestalt der Schusterin geseichnett die «wischen 
den derben Figuren der Umgebung hervorschim- 
mert wie eine in grobes Gestein eingesprengte 
Goldader. Trotz der geringen Sorgfalt, die da- 
mals auf die Mädchenerziehung verwendet wurde» 
hatte der dvis academicus Schramm erUirt, dass 
jede seiner sechs Töchter etwas lernen dürfe, ent« 
weder Malen oder Musik ; meine Grossmutter mit 
zwei andern Schwestern hatte das Malen gewählt, 
was ihr denn als Witwe» freilich in bescheidenster 
Form, sugute kommen soUte» da sie durch An« 
malen von Bilderbogen (zu zwei Kreuzern pro 
Stück?) einen kleinen Zuschuss erwarb, wobei ihr 
der jüngere Sohn Emst, wenn er die Schulauf- 
gabm fertig hatte, des Abends noch ein paar Stun- 
den behilflich war. Es gibt ein rührendes, alt** 
väterisches Familienbild, sich die beiden, Mutter 
und Sohn, bei der Öllampe oder dem Talglicht 
über ihren Bilderbogen zu denken, wie sie mühsam 
ein paar Kreuzer zusammenverdienen, das 
Taschengeld für den begabten Altesten, der 
damals schon als Zögling in der Maulbronner 
Klosterschule sich auf das theologische Studium 
vorbereitete. 

Der Dichter charakterisiert das Wesen seiner 
Mutter in wenig Worten, indem er sagt, dass sie 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 38 



alle Eigenschaften zur Führerin des heranwach- 
senden Jünglings gehabt hätte» dass es ihr aber 
bei ihrer Müde und Sanftmut i^inslich ita der 
Schneide gebrach, die einem Knaben gegen« 
über erforderlich ist. Deshalb rief die Witwe in 
schwierigen Fällen, wo die mütterliche Autorität 
nicht ausreichte, die im Nachbarhauae wohnende 
Schwägerin Kenngott auhilfe» die das Regieren 
von Grund aus verstand. Mit welch anmutiger 
Überlegenheit die alte Frau dabei zuwege ging, 
ist im „Witwenstüblein" zierlich dargestellt. Des 
Autors auafölurliche Schilderung seiner Schulnöte 
und wie schalkhaft klug die Frau Dote als 
strickende Muse seinen lateinischen Pegasus zum 
Wettlauf anfeuerte, hatte Heyse in seiner Aus- 
gabe der Gesammelten Werke aus künstlerischen 
Gründen geopfert, und es hätte vielleicht dabei 
sein Bewenden haben dürfen« weil die Haupt- 
geschichte, von diesem Gestrüppe befreit, sich 
wirksamer abhebt. Fischer hat die gestrichenen 
Stellen und damit die etwas beschnittene Gestalt 
der Frau Dote wieder er^^hist ; was die Kunst da- 
bei verliert, hat die Autobiographie gewonnen. 
Vielleicht ist dieses Kapitel auch kuiturgeschicht* 
lieh nicht ganz unwichtig; es zeigt, wie sauer 
unsem Vätern der Weg zur Schule gemacht wurde 
und was die gute alte Zeit, aus der Nähe gesehen, 
für ein knochenhartes Gesicht hat. Mit Grausen 
erinnere ich mich gewisser Massenexekutionen in 
der Schuld von denen mein Vater in der Erinne- 
rung selbst noch grausend erzählte. 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 99 — 

In dem halb klösterlich, halb miUtärisch ein- 
gterichteten Seminar dauerte die strenge Zucht» 
wenn auch natürlich ohne köcperliche Strafen» 
fort; wie ihr der Jugendübermnt an allen Ecken 

und Enden Schnippchen schlug, ist in den 
,Jugenderinnerungen*' ergötzlich zu lesen. Noch 
ausführlicher &at der Dichter das Maulbronner 
TMbcn in dem fritteren ScUnss der Jbeiden 
Tubus" dargestellt. Manche der dort eingefloch- 
tenen Anekdoten habe ich ihn als selbsterlebte 
erzählen hören, wie überhaupt in allen seinen 
Schriltent den einzigen 9»Sonnenwirt" vi^eicht 
ausgenommen» ein gut Stück Autobiographie ver- 
woben ist. 

Ein frischer, geistig angeregter Zug ging durch 
die ganze Promotion,^) der Hermann Kurz an- 
gehörte» und die weltabgeschiedene Lage des alten 
schönen Klosters inmitten tiefdunkler Wälder» 
seine herrlichen, damals etwas verfallenen Bau- 
lormen, regten den Hang ztur Poesie und Roman- 
tik mächtig auf . Nicht nur zu solchen nächtlichen 
Abenteuern vne den Kletterpartien über die 
Dächer und der Entdeckung des berüchtigten 
Blutflecks an der Mauer in Dr. Fausti Gemach 
(zu welchem Fund jedoch Mutter Kurtz ketzerisch 
bemerkte: »»Ich glaub's gewiss nicht» dass den 
Paust der Teufel geliolt hat**) taten sich die 

^) Unter Promotion versteht man die Abiturienten 
einer Altersklasse des niedrigen Seminars, die gemeinsam 
snr Hochschule abgehen; auch diese Altersklasse 
schlechtweg. 



._^ kj i^ -o i.y Google 



zusammen ; man pflegte auch 

ganz in der Sülle ideale Interessen, die im Seminar 
als Allotria verpönt waren» und mancher, der spä- 
ter ein xahmer Philister werden sollte, hat da- 
mals munter semen Pegasus mitgetummelt. Da 
wurde ein MMauIbronner Musenalmanach'* geführt, 
zu dem die mehr oder minder begabten Mitarbei- 
ter ihr Bestes an Poesie oder Witz beigesteuert 
haben. Von den darin verewigten Namen ist nur 
der des „Primus^ Eduard Zeller, des nachmaligen 
Berliner Philosophieprofessors, der Öffentlichkeit 
bekannt geworden. An denselben Zeller ist ein 
launiges Gedicht meines Vaters gerichtet, worin 
sich die Strophe findet: 

»Zeller, lieber ^Seiler, sage. 
Was ich in dem Herzen trage, 
Dean die Philosophen können 
Alles was es gibt benennen.** 

Beweis, das jeder von den beiden Siebzehn- 
jährigen seinen künftigen Beruf vorausgenommen 

hatte. Der Almanach ist zwar von meines Vaters 
Hand geschrieben, aber die Kinder seiner eigenen 
Muse enthalt er nicht; diese, die neben den dilet- 
tantischen Versuchen der andern schon die 
Löwenkralle zeigen, stehen in einem besonderen 
Heft; darunter sogar einige seiner besten lyrischen 
Sachen neben andrem ganz unreifem, wie es dem 
Alter des Verfassers entsprach« Aus seinem spä- 
teren rückblickenden Gedichte „Maulbronn" sidit 
man, welcher Vorfrühling diese zeitigen Blüten 
herausgelockt hat. 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 31 — 

«Aber nachts, wenn alle schliefen, wacht' ich bei 

der Lampe Licht 
Forschend in des Lebens Tiefen, denn die Ruhe kannt' 

ich nicht. 

Doch es kam ein Frübgewitter über meinen Lebens- 
traum, 

Und ein Doppelregenbogen stand an meines Himmels 

Saum. 

Lieb und Freundschaft, wie erhellten sie mein dunkles 

Herz zugleich! 
Wie mit Leid und Freude machten sie mein armes 

Leben reich! 

Und in manchem leisen Liede löst' ich dunklen Herzens- 
drang, 

Das in scheuen Tönen zwischen fernem Waldgebüsch 

verklang. — ** 

Der liebebedürftige Jüngling hatte sich nach 
einigen vorangegangenen Entüluschungen mit 

dauernder Neigung seinem gleichaltrigen Stu- 
bengenossen Edmund Bilhuber angeschlossen, mit 
dem er Bett an Bett schlief. Von dem Freunde, 
der auf seine poetischen Interessen einging und 
sich auch nachmals yeracMedentlich an sdnen 
metrischen Ubersetzungen beteiligte, wurde Her- 
mann Kurz je und je zum Maienfest oder über die 
Weihnacht^erien in sein Elternhaus nach Vai- 

^) Hier finden sich in der ersten Ausf sbe der Ge- 
dichte vott 1836 die Zeilen: 
Wenn ich denke, wie als Gast ich weilf in ihrem 

lichten Htus, 

Sprech' ich beide seufeend immer noch mit Einem 

Namen aus. 

Das slidile Hans'* der Lielie und Freundschaft war — 
die hellfeib aagesnichene Apotheke von Vaifainfen, 



._^ kj i^uo i.y Google 



32 



hingen mitgenommen, wo der Vater Apotheker 
war. Dieser, ein Uterariach ang^uchter und 
aehr iRrohlgelaunter Mann, pflegte den jungen 
Dichter dadurch in Harnisch zu bringen, dass er 
die im Literaturblatt abgedruckten Angriffe Men- 
zels auf Goethe ^niederholte und eifrigst ver- 
teidigte, was dann heftige Kontroversen hervor- 
rief. Dort lernte er die drei Schwestern des 
Freundes kennen, und der ältesten, Luise, widmete 
er seine ersten und vielleicht emstesten poetischen 
Huldigungen. Der Scha^plats dieses gans aus 
Illumon gewohcnen Jugendglücks hat aich dem 
Dichter tief ins Herz geprägt; die Enz, die jenes 
Tal durchzieht, rauschte noch mächtig in seiner 
Phantasie, als er die „Heimatjahre'' schrieb; das 
Lottchen dihrf te die idealisierten Züge der Jugend- 
geliebten tragen. Auch die Lieder, in denen sich 
der „dunkle Herzensdrang*' löste, sind nicht alle 
verklungen; die besten davon wie „Bei dem lieb- 
lidisten Gesciiäfte" und „Stille^ stille'' finden sich 
noch m der neuen Ausgabe. Ebenso wie die Un- 
ruhe emer ersten Ceidenschaft trieb den Jüngling 
das Gären und Wogen der Dichterphantasie um- 
her und der Unmut, sich bei dem eisernen Stun- 
denplan der produktiven Stimmung nicht hin<* 
gehen zu dürfen. Einige ungedruckte Gedichte 
aus dieser Zeit lasse ich als kldme Nachlese am 
Schluss des Kapitels folgen, darunter der Merk- 
würdigkeit halber ein schwäbisches Sonett, wohl 
das erste» das in dieser Mundart gedichtet worden 
ist, wie der Verfasser selbst v eimul e u Man er- 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 33 — 

warte keine reingeschliffenen lyrischen Edel^ 
steine; nur als Zeugnisse des Werdens haben diese 
Gedichte eines Siebsehnjährigen für die Nach- 
lebenden ihre Bedeutung. 

Der Freiheitskampf der Polen regte in der 
politischen Stille jener Tage das Gemüt des deut- 
schen Volkes mächtig auf. Unsre Maul bronner 
Jugend spendete der unterliegenden Sache nicht 
nur reichlichen poetischen Tribut^ sie verband 
sich auch zur werktätigen Ünterstfitsung der 
Flüchtigfen. Die Zöglinge veranstalteten Auk- 
tionen, wo dieselben Gegenstände zwei- bis drei- 
mal verkauft wurden; auch Konzerte und eine 
Theateraufführung „zum Benefiz der edlen Po- 
Ionen" fanden statt. Hermann Kurz, damals 
ein schmächtiger, lang aufgeschossener junger 
Mensch, spielte in Körners »»Banditenbraut" die 
Titelrolle* 

Aber das junge Talent mit seinem wühlenden 

inneren Leben und seinem starken Unabhängig- 
keitstrieb konnte sich in die starre Klosterdiszip- 
lin nicht finden, und seine häufigen Verstösse 
zogen ihm das Misswollen der Lehrer zu, ob- 
gleich gegen seinen Fleiss und seine Fortschritte 
nichts einzuwenden war. Insbesondere ein Re- 
petent namens Hartmann« ein nicht unedler, aber 
jähzorniger und nervös aufgeregter Bfann» war 
ihm aufsässig, und es schien eine Zeitlang, als 
habe es dieser „tiran", wie ihn die Frau Dote in 
ihren Briefen nennt, darauf abgesehen, den Aus- 
schluss des unbotmässigen Zöglings zu veran- 

Isolde Kurs, HenMim Kun. % 



._^ kj i^uo Google 



— 34 — 



Imssen. Es regnete auf den ObelangdBommenen 

mit Noten und Karzerstrafen, die alsbald nach 
Reutlingen berichtet wurden und beide Witwen- 
stübchen in Angst und Aufruhr setzten« 

Zu dem raschen Wesen des Jünglings stehen 
die angstvoUen Mutterbriefe, die der Sohn pietät- 
voll aufbewahrt hat, in wehmütigem Kontrast. 
Wie quält sich die arme Frau um die Entwick- 
lung und Zukunft des Wildlings^ wie glücklich 
ist sie» wenn seine Briefe ihr die Hoffnung geben, 
dass jetzt ein sanfterer Geist in ihn eingezogen 
sei i Sie sucht ihm das Wesen seiner Lehrer zu- 
rechtzulegen» die sie doch nur aus seinen Schü- 
derungen kennt, sie rät dem Ungestümen vom 
übereilten Preundscfaaftschliessen ab und warnt 
vor falschen Kameraden, die sie mit feinem In- 
stinkt aus der Feme durchschaut. Gewiss ist 
das Gedicht: 

JUlonika die bange Mutter 
Afigiistins des Stolzen» Hoben 

aus der Erinnerung an diese Ängste geboren. — 
Einmal hat er sich gar eine Pfeife angeschafft! 
Eine Pfeife» die unnützes Geld kcMitet, während 
er weiss» dass das Rauchen im Seminar aufs 
strengste verboten ist, ja mit Ausschluss aus der 
Anstalt bestraft werden kann. Aber die Kame- 
raden haben ein heimliches Rauchkonventikel 
eingeführt» und wer sich entzieht» wird als Kopf- 
hänger verspottet. Schweres Dilemma für ein 
Jünglingshcrz I In einem vier Seiten langen, 
tränenüberströmten Brief lässt die Mutter Hölle 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 35 — 

und Himmel auf ihn einstürmen. Und damit nicht 
genug; auch die Dote mit ihrem Ur- und Kem- 
dcutich rückt diesmal zur Untenttttsimg d«: 
Schwägerin heran. Mit ihrer erstaunlichen Pfote 
und einer ganz unerhörten Orthographie schreibt 
sie dem jungen Sünder: 

»bei deinem ab' Schied war ich so vergnüt 
und Sagte zu dir» ietz hab ich Iceine Sorgen mehr 
über dich aber es hat nicht lang gewehrt, so 
kommen sie mit Haufen. Warum bist du wie- 
der ins Katzer ^) gekonnen, was hast du ge- 
than um Gottes willen« wen du noch Einmal 
darein fconns^ so vmrst du hin aus geworfen» 
was wehre das for ein unglick for dich u. deine 
1. Mutter u. 1. Ernst u, d. par Tag wo ich noch 
leb. es ist doch zu arg was du uns for ianuner 
Machst. Das hat viel tränen ver urschat') u. 
noch eine Pfeife gekauft u. keine Eigenen i + 
(Kreuzer) dar zu gehabt, u. eben das Hinaus 
werffen dar auf gesetz ist, es Scheint mir bald 
volP) als thaste^) du es dar auf. kein grösser 
un glück läss sich denken vor dich u« deine so 
zärtzlich Matter, die hlos vor Ihre Kinder 
lebt u. für ihr wohl. — ** 
£in andermal bei ähnlichem Anlass fasst die 
Dote sich kürzer und rät ihm nur aus ihrer 
Ldienskenntnis heraus: 

„Was andere thun das du ia Selber nicht 
vor gut halst tu es ia nicht. Dir nimms man 
vor übeler auf als die Reiche KerL" 

0 Karzer *) venirsaeht ^ beinslie, titett 

._^ kj i^uo Google 



36 - 



Uui A und O der mütterlichen Krmahniingeii 
ist das Sparen. Sie empfteldt ihm, den Wadi»- 

stock nicht unnütz zu verbrennen, denn er hat 
vierundzwanzig Kreuzer gekostet! und auch das 
Siegellack auf dc^ Briefen besser za sparen — 
die »»verpetschirten Briefe'' ersümen sie ohne- 
hin, weil sie nicht schnell genug zum Inhalt kom« 
men kann. Diese Sorge für das Allerkleinste 
darf man nicht mit Kleinlichkeit verwechseln; 
bezeugt doch auch der in viel glücklicheren Ver- 
hältnissen aufgewachsene Robert v. Mohl in 
seinen „Lebenserinnerungen", dass man im alten 
Württemberg nicht durch Einnahmen, sondern 
durch Nichtausgaben wohlhabend wurde oder 
wenigstens die Lebensforderungen befriedigen 
konnte. Wenn dies von den Familien der Ge» 
heimen Räte und Präsidenten gilt, so kann man 
daraus den Rückschluss auf das Witwenstübchen 
meiner Grossmutter ziehen. Sie kargt und 
darbt denn auch, wie es nur dne Mutter fertig 
bringt, sie „malt sich fast blind", um ein paar 
Kreuzer für ihn zu erübrigen, der kleine Bruder 
steuert gelegentlich sein eigenes Erspartes bei, 
und dann beben beiden ob der Strudelkopf das 
Geld auch richtig verwende. Dieser tut sein 
Bestes, aber ein Spargenie wie die andern Fami- 
lienglieder ist er nicht. Immer wieder lässt er 
sich kleine Ausschreitungen zu schulden kom- 
men» die er zwar reuig selbst bekennt, aber um- 
sonst, die Versuchung zum Splendidsein über- 
wältigt ihn stets aufs neue. Zuweileo droht die 



._^ kj o^ -o i.y Google 



arme Frau, ihm die kleinen Subsidien ganz zu 
entziehen, aber sie bringt es nicht übers Herz, 
und am Schlust des Briefes legt sie dann doch 
wieder ihren Taler em. Dass der Jüngling eines 
Tages solch einen sauer gesparten mütterlichen 
Taler in einem Biergarten der aufwartenden 
Hebe als scheue Huldigung unbemerkt ins 
Schürzentaschchen gleiten Uess» das hat sie xam 
Glück nie erfahren! Rasch sdirte der Druck des 
Lebens diesen zarten Organismus auf. Zwar so- 
bald ein Sonnenstrahl in ihr trübes Dasein fällt, 
so bricht auch ihr jugendliches Gemüt wieder 
durch, sie ist imstand» sich höchlich an einem 
Seiltinser su ergötzen und wünscht «eh die 
Freude, bei einer Hochzeit in der Verwandt- 
schaft noch einmal mit ihrem Hermann zu tan- 
zen» aber mit vierzig Jahren neigt sich schon ihr 
Leben zu Ende. 

In ihr letztes Jahr fiel die Hinrichtung des 
Helfers Brehm,^) jene schauerliche B^ebenheit» 
die F. Th. Vischer unterm Namen »Scharten- 
maier'' im Bänkelsängerton besungen hat. Ihr 
jüngerer Sohn wurde mit der Übrigen Schul- 
jugend nach der wilden Sitte der Zeit zum Zu- 

*) Der Prozess des HUfegeistlichen oder »Helfers* 
Brebm war zu seiner Zeit eine ctuse c^ldbre^ von der 
beute wohl nur noch wenige vissen. Der unglfieidlche 
Vikar hatte das neugeborene Kind seiner Magd, mit der 
er ein Uebesverbiltnis unterhielt^ belidte geacbafit und 
wurde wegen Klndsmorda zum Tode yerurteilt. Als er- 
schwerender Umstand fiel ins Gewicht dass er Geist- 
lieber war. 



._^ kj i^ -o i.y Google 



3» - 

achaucn konunandiert, woran er noch äli alter 
Ifann mit Entsetzen dachte. Für die femfühlige 
Frau, die viel humaner empfand als ihre Zeit, 
war das ein fürchterlicher Tag, wie achon der 
ganae Proaeaa» Über den aie ihren Altesten Im- 
mer auf dem laufenden hielt, ihr mit der Mensch- 
heit ganzem Jammer zugesetzt hatte. Und angst- 
voll war ihr vor dieser schauerlichen Mahnung 
der Zweifel aufgestiegen» ob ihr Sohn denn wirk- 
lich zum Geistlichen auch den inneren 6eru£ 
habe. Als wire sie hellsehend geworden, wirft 
sie schon jetzt die Frage auf, die den Jüngling 
wenige Jahre später in so schwere innere Kämpfe 
stürzen sollte. 

Während Mutter und Sohn die Tage bis zu 
den nächsten Ferien zählten, lauerte schon der 
Tod, das Wiedersehen zu vereiteln. Am i6. Fe- 
bruar 1830 wurde die Liebevolle ihren verwaisten 
Söhnen entrissen. 

Da sie nie von ihren Leiden sprach, und der 
letzte Brief, der vierzehn Tage vor ihrem Tode 
geschrieben ist, noch mit derselben Sorgfalt auf 
alle kleinen Einzelheiten eingeht, muss der Schlag 
den abwesenden Sohn ganz unvorbereitet getrof- 
fen haben. Er überfiess sich der leidenschaft- 
lichsten Verzweiflung, so dass der jüngere Bru- 
der ihn trösten musste. Dieser, dem Verhält- 
nisse und Anlagen eine vid bescheidenere Lauf- 
bahn bestimmten» sah stets mit Bewunderung zu 
den glänzenden Gaben des älteren auf, war aber 
bei seinem gelassenen, gleichmässigen Tempera- 



._^ kj 1^ -0 i.y Google 



— 39 — 

meat und aaiiMfii friedliclicn Lebenslang öfter in 

der Lage, jenem eine Stütze zu sein. Ein 
liebevolleres, neidloseres Bruderherz hat es nie 
gegeben. Der Ältere erwiderte die brüderliche 
Liebe nut der gleichen Anhänglichkeit und liess 
den Jüngeren an seiner geistigen Fülle teO« 
nehmen, so weit es die getrennten Lebenswege 
gestatteten« Die Brüder sind sich denn auch 
lebenslang in unwandelbarer Treue verbunden 
geblieben; der Jüngere, der selbst ehi anmutiges 
poetisches Formtalent besass und mit grösstcr 
Leichtigkeit launige Gelegenheitsgedichte schrieb, 
hat das Schaffen des Dichters, wie er selber sagt» 
„mit Andacht'* verfolgt» er hat ihm in schweren 
Zeiten ein Asyl in seinem Hause geboten und ist 
später dessen Hinterbliebenen ein treubesorgter 
Berater gewesen, bis den Hellen, Freundlichen sel- 
ber unerwartet ein düsteres Verhängnis wegriss. 

Nach dem Tode der Mutter trat die Frau 
Dote mit ihrer ganzen Person in die Lücke. Sie 
nahm den Knaben Emst unter ihre warmen Fit- 
tiche, bis er etwa fünfzehnjährig bei seinem spä- 
"teren Schwiegervater» dem Stabsamtmann Fa- 
ber^) als Insipient die Notariatskarriere betrat. 
Ihren Hermann, der ihr Augapfel war und blieb, 
bemutterte sie aus der Entfernung, sorgte für all 
seine kleinen Bedürfnisse und setzte ihm den 



^) Dieser Faber tritt in den „Heimatjahren,* deren 
Episodenreichtum ja vielfach auf Überlieferungen beruht^ 
als der Nürting^r Lateinachfiler mU^ der dem vom Herzog 
geschossenen Hasen den kunstgerechten Genickfiuig gibt. 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 4Ö — 



Kofi xurecht^ wenn er sich in die Menschen nicht 
schicken wollte. Es lässt sich kein liebenswür- 
digeres Verhältnis denken, als das zwischen der 

einfachen alten Frau und dem genialen hoch- 
strebenden Jüngling, zu dessen ihr kraus dünken- 
den Wegen sie nie das Vertrauen verliert« dass 
es die rechten seien, weil es ja die seinen sind, — 
und der seinerseits mit den gärenden Welten 
im Hirn doch immer den Respekt vor der schlich- 
ten ungelehrten Menschlichkeit seiner alten Pfle- 
gerin bewahrt. Übrigens kam er mit seinen Vor- 
gesetsten besser surecht, sdt jener Hartmann» 
der sich nach und nach mit der ganzen Promo- 
tion verfeindet hatte, vom Schauplatz abgezogen 
war» imd statt seiner der junge David Friedrich 
Strauss als Repetent Kolleg las. Dieser ent- 
zückte schon damals durch seinen geistvollen 
und lebendigen Unterricht die jungen Leute, die 
er ein Jahr später auf der Hochschule abermals 
als begeisterte Zuhörer setner philosophischen 
Vorträge um stcfi versammeln sollte. 

Im Herbst 1831 fand die Schlussprüfung statt» 
die dem Zögling die Pforten des höheren theolo- 
gischen Seminars in Tübingen öffnete. Als der 
Maulbronner Freundeskreis sich trennte, schrieb 
der junge Hermann Kurz einem Kameraden mit 
Namen Scherber auf das erste Blatt seines Stamm- 
buchs: 

Die wir Jung und lebensfrisch 
Hier in Scherbers Album hausen, 
Werden einst an seinem Tisch 
Als bekreuzte Blätter schmausen« 



._^ kj 1^ -0 i.y Google 



— 41 — 

Grflss' icli denn hiermit den Trapp 
Der noch kommenden Genossen, 
Denn dereinst Im stillen Klub 
Bleibt der Mund mir lest verschlossen» 
Scheibera snch» den edlen Virt^ 
Grüss ich namens sller Glste, 
Venn er mit uns schmaust und Uirrt 
An dem stummen Totenfeste. 

Wie charakteristisch ist dieser Stamnibuch- 

vers für die überstarke Jugendkraft, die in ihrer 
Lust am Gegensatz so gerne mit dem Todes^ 
gedankea spielt! 



^ kj i^ -o i.y Google 



Nachlese aus den Gedichten der 
Maulbronner Zeit 



Noch weiss ich einen schönen Ausenblick^ 
Ob alles auch mich krlnke, 
Wenn ich «n dich gedenke. 
So ftthl' ich GIfickl 

Gleich kurzem Strahl aus trüber Wolken Grunde 

War mit^s als eine flüchtge Weile 

Ein schdnes liebes Hauf» in Eile 

Zum Gruss an meines sich gedrückt: 

Warum, so hoch beglückt, 

Ach warum starb ich nicht in jener Stunde? 



Nichts hab' ich heute aus dem Schacht 

Zu Tag gebracht, 

Doch hab' ich stets an dich gedacht. 

Ich blicke aufwärts zu dem Glanz der Sterae 

Und flüstre in die Ferne: 

Mein süsses Leben, gute Nacht I 



Poetisches Ringen. 

Wie braust das Herz, wie wogen die Gefühle! 
Es flutet mir, ein stark bewegtes Meer, 
Das innre Leben treibend hin und her. 
Die Klarheit sinkt in diesem Weilenspieiei 



— 43 — 

Aus dieser Stfirme ungestfinieiii Heer, 

Ans diesem heftig schwankenden Gewfihle 

O lenke mich ein Gott xa einem Zielet 

In diesem Dring fühP ich mich seihst nicht mehr. 

Vergebens! Nicht in Worte kann !ch's greifira. 
Die Hand erfasst ein dunkles Schattenwesen, 
Wenn innen die Empfindungen sich hAufen« 

Nur in ein Ahnen will's zuletzt sich lösen, 
Und dann umweht mich friedlich stilles Sehnen, 
Und aus dem Busen quellen sanfte Trinen. 



Sitz* ich so da, von Träumerei'n gebunden, 
Bewusstlos irrend auf der Dichtung Saiten^ 
Gespinnst zusammenrollend aller Zeiten, 
Das Aug' ins Blau des Weltalls hingeschwunden. — 

Des Herz, getroffen und geheilt von Kunden, 
Usst Bilderreih'n zu holdem Weben gleiten, . 
Ahnungen, die auf IcQnflge Schöpfung deuten: 
Des shid des Klosterlebens schönste Stunden! 

Ein Walten regt sich dunkelhell am Himmel, 

Es ist, als wollte fUlen eine Hfille, 

Da steigt ein schönes Bild vom Meer der Klippen, 

Es dringt durch das verschwindende Gewimmel, 
Die Arme weit, geschwellt des Busens Fülle, 
Und immer näher schwebt es zu den Lippen. 



Wie schön, o süsse Freundin, wenn im Schweben 
Des Geistes wir auf einem Weg uns finden. 
Wie in des edlen Schachtes tiefen Gründen 
Sich grüssen zwei in Einer Ader Streben* 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 44 — 

Schlug nieht detn Herz in einem sfissen Beben, 
Venn ein verwandtes Vort uns könnt* entzünden 
Zu Eines Strshles seligem Verbinden» 
Auf dem die Seelen sich zum Ätiier heben? 

Da sind die Augen aus dem Buch geflogen, 
Die Blicke sind in Einen Blick geflossen, 
Zusammeneilend auf der Liebe Flugeiny 

Zusammenschwimmend auf der Liebe Wogen, 

Es ist, als war* ein neuer Bund geschlossen. 
Und diesen darf doch woUl ein Kuss besiegeln? 



Einsam, verbannt in eine leere Wüste, 
Nah* ich zu eurem Tempel, teure Musen, 
Und werf in eure Arme liebend mich. 
Ich habe niemand, i^eine treue Brust, 

Aus der ich Trost und Freude saugen Icdnnte. 
Mit der ich Gluck und Unglück teilen dürfte; 
Wohl hab' ich Freunde, aber keinen Freund! 
Kein Herz ist, das mein Herz verstehen möchte, 
Kein Geist, der auf den Schwingen der Gedanken 
Mit meinem Geist den Flug vereinen wollte. 
Ich wohne still^ ein Fremder unter Fremden, 
In mich gedrängt, die Pflanze, die kein Baum 
In seine Arme fassend schützt und hält. 
Vater und Mutter haben mich verlassen 
Und ruhen tief von dieses Lebens Müh'n. 
Ich habe keine Schwestern, die mein Herz 
Mit treuer inniger Liebe fest umfassten. 
Seid ihr, o Musen, meine lieben Schwestern, 
Und helft mir tragen alles, was mich presst; 
In euren stillen Busen lasst mich's legen, 
Wenn Glück den meinen schwellt, in eure Brust 
Lasst mich vertrauensvoll den Kummer schütten^ 
Der mir ein Erbteil war seit Jahren schon. 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 45 — 



Ich mu88 ja jemand haben, dam ich nicht 

Veiigeh% Terschmachf in dieser Einsamiceit 

Ein Vesen lebt» zu dem mein Herz mich zieht. 

Nah ist*s und doch so fom» denn ich bin SIdave, 

Galeerensldare» der die Kette sprengt. 

Und dieses Wesen» euch o teure Schwestern, 

Euch weih' ich diese liebliche Gestalt 

In eurem Tempel stell' ich auf ihr Bild 

Und knie schweigend in dem Heiligtum, 

Das Haupt gesenkt^ der Priesterwdhe wartend, 

Die vom Gemeinen rettend mich erhebt 



Nun sind des Tages Stunden voll. 
Verklungen auch ein halber Sang; 
Wie mir doch heut der Busen schwoll 
Im heissen Liederdrangt 

Die Töne sind ins Herz gedrückt, 
Erloschen ist des Liedes Licht, 
Ich habe keine Blum' gephückt, 
Warum? Ich durfte nicht 

O Nachtigill, ich Drage dich. 
Wer Yon uns 1>eiden edler sei? 
Doch was bist du, und was bin ich? 
Gefangen ich, du freil 



Schwäbisches Sonett. 

A's send mer oftmMs schö Gedanke komme. 
Ob net mei Sprich zue fremde Miss dit passe: 
Frobire kann e s \i; wills net guet lasse. 
Ha ndl s dent id net seile ProbS fromme^ 

Jetz dächt ond dö ! i han mei Feder gnomme, 
1 setz me nä ond wills jetz zsammefasse: 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 4« - 

G&t s iiet em Ernst^ so kftnn i )« mit spaase; 

Wort flndt me gnueg» nft braocht me not zverstomm^ 

Ond wie-n-e guck, so han c schu was gschriebc» 
Ond vi,'ie-n-es les, s duet net so übel kleng^ 
So ben e denn äU net beim Ä'fang bliebe. 

D Vors fliossot fort: des Dong wir fast zom Senge» 
Ond g Sonnet ists nich selm gaazo "West, 
I stand derflr, s ists erst en Schwftbe gwese. 



Digitized by Google 



Das blaue Genie 



Aus dem Umstandt dass ihr dretjähriger Her- 
mann, wenn die Mutter ihn Sonntags mit sich 

zur Kirche nahm, nachher zu Hause auf einen 
Schemel stieg und im Predigerton Verslein und 
Gebetlein herunterschnurrte, hatte die Familie 
auf seine innere Berufung sum geistlichen Amt 
geschlossen und danach über sein Los bestimmt. 
Doch wäre vielleicht auch ohne diese Äusserung 
des kindlichen Nachahmimgstriebs und ohne den 
glühenden Wunsch der weiblichen Familien- 
angdiörigen, ihren Liebling dermaleinst als wohl* 
bestallten Pfarrherrn auf der Kanzel zu sehen, 
der Würfel nicht anders gefallen. Denn die 
Ausbildung an den theologischen Seminarien war 
unentgeltlich, ein Vorteil» den su verschmähen 
bei der bedrängten Vermögenslage der Familie 
als ein Frevel gegolten hätte. So wurde der 
Jüngling unausweichlich diesen Weg gezogen 
und er betrieb im Tübinger Stift seine theologi- 
schen Studien und was damit susammenhing, 
pflichtgetreu, wie alles« was er tat, aber ohne 
innere Befriedigung. 

Doch neben der dürren unfruchtbaren Heide 
seines Brotstudiums tat sich ihm auf der Univer- 
sität das grüne Wunderland der Poesie wdt auf. 
Durch Uhlands Vorlesungen wurde er in den Ur- 
wald der deutschen Mythen eingeführt imd er 



- 48 - 

liatte das Glück, an den poetischen Stüübungen 
teflstmehmen, die der Meister mit den begab- 
testen seiner Schüler abhielt. Die jungen Leute 
reichten Gedichte ein, die Uhland anonym vor- 
las und kritisierte; so machte er sie nicht durch 
öde Theorie sondern durch die Analyse ihrer 
eigenen poetischen Versuche mit den Gesetzen 
des Schönen vertraut und wirkte auis lebendigste 
für die Kultur der Jugend. Wie manche Poe- 
tasteres» die das Schöne im Schwulste suchte» 
wurde durch dieses einschneidende und doch 
persönlich schonende Verfahren zum Heil für 
die Nation im Keime erstickt. — Hermann Kurz 
legte seine MaulbrcHmer Erstlinge und «nige 
spätere Produkte vor; die Uhlandsche Kritik hat 
er treulich unter die Manuskripte eingetragen 
und aufbewahrt. Bei einem Liedchen im Volks- 
ton warnt der Meister vor Nachahmungen des 
Volkslieds» »»weU sie leicht in einen tändelnden 
Ton verfallen,** welche Klippe er übrigens selbst 
in seinen Balladen nicht durchweg vermeiden 
konnte. An der Pilgerfahrt*) rühmt er „die er- 
freuliche Ausführung gemütlicher, mit lyrischer 
Sicherheit ausgesprochener Gefühle und Ahnun- 
gen*'. Die andern von Uhland rezensierten Ge- 
dichte, darunter zwei mit besonderem Lob be- 
dachte, das Sonett „An die flüchtigen Polen'' und 
die ^Uhr** wurden in die erste bei Hallberger er- 

*) S. Hermann Kurz* sämtliche Werke in zwölf Bände. 
Herausgegeben und mit Einleitungen versehen von Her- 
mann Fischer. Band 1, Seite 7. 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 49 — 

schienene Cedichtsammlung aufgenommen, sind 
aber aus den späteren Gesamtausgaben wegge- 
blieben. 

Von Uhland wurde der junge, aber damals 
schon gefeierte Anfänger auch ausserhalb des 
Hörsaals herangezogen und ausgezeichnet; im 
Ufalandschen Hause knüpfte er vielfache Utera- 
rische Beziehungen an, unter anderen mit Lenau» 
der auf kurzen Besuch nach Tübingen gekommen 
war. Als dieser beglückende Verkehr schon im 
Jahre 1833 durch Uhlands Vertreibung von sei- 
nem Lehrstuhl unterbrochen wurde, rief der 
Schüler dem verehrten Meister ein schmerz- 
bewegtes Sonett nach.^) 

Auch zur dramatischen Muse trat die studen- 
tische Jugend in Beziehung, denn einer der gdstig 

bedeutendsten unter den Professoren, der origi- 
nelle Morit2 Rapp, hatte in seinem Haus an der 
Neckarhalde eine Liebhaberbühne eingerichtet, 
wo klassische Stücke nebst seinen eigenen auf- 
geführt wurden. Hermann Kurz war unter den 
Mitspielern; er erinnerte sich noch in späteren 
Jahren mit Belustigung^, wie er einst als Mont- 
gomery in der Hitze des Kampfes sich nicht ent- 
schliessen konntet von den Händen der Jungfrau 
zu fallen, sondern den schwächeren Kommilitonen» 
der diese Rolle spielte, grimmig fechtend zur 
Bühne hinausdrängte. 

Zu jener Zeit ging in Tübingen noch die Poesie 

S. 30. 

I»<»14« Kurz, Hermano Kun. 4 



._^ kj 1^ -0 i.y Google 



lebendig in der rührenden Gestalt des irrsinnigen 
Hölderlin um* den eine Studentengeneratlon der 
andern pietätvoll ans Hers legte. Auch Hermann 

Kurz besuchte ihn zuweilen in seinem Erker- 
türmchen am Neckar, das noch in meinen Tagen 
als ein Wahrzeichen der Stadt mit Stolz und 
Liebe betrachtet wurde» bis es in einer kalten 
Winternacht, die ich nie vergesse, durch Brand- 
stiftung in Rauch und Asche sank. — Hölderlin 
soll bei solchen Besuchen still und freundlich ge- 
wesen sein wie ein Kind; doch konnte er auch 
unangenehm werden, wenn einer nicht das Glück 
hatte, den rechten Ton zu treffen. Er war die 
Höflichkeit selbst und überschüttete seine Be- 
sucher mit den erstaunlichsten Titulaturen; er 
selber wollte mit »»Majestät'* angeredet sein» 
doch gab er sich auch mit dem Titel „Herr 
Bibliothekar" zufrieden, denn die Hoffnung auf 
einen Bibliothekarsposten war noch, kurz bevor 
sein Leiden unheilbar wurd^ als letzter Licht- 
blick in sdn zerrüttetes Dasein gefallen» und 
dieser Lichtblick folgte ihm in die geistige Nacht 
hinüber. Die kleinen Züge, die mein Vater von 
jenen Besuchen erzahlte» hab' ich leider vergessen. 
Dass der Unglückfiche seinen Namen nicht mehr 
kennen wollte und sich auf den Blättchen» die er 
den Besuchern auf ihre Bitten vollschrieb, Sgar- 
tanelli unterzeichnete» ist bekannt. Durch die 
innere Verfinsterung warf der Genius jene über- 
irdischen Strahlen» die weite, gdieimnisvoUe Ge- 
biete so vmndersam erleuchten; Gedichte voll 



— 51 — 



stammdindeii TiefainiiB» oft noch ergrdf endcr 
als was er in gesunden Tagen gedichtet hat» flös- 
sen aus seiner Feder. Mein Vater besass ver- 
schiedene dieser Blättchen, hat sie aber im Lauf 
der Jahre alle an Freunde verteilt. — Als er im 
Juni 1843 die Nachricht vom Tode Hölderlins 
orhielt, schrieb er einem jüngeren Kunstgenossen: 
„Es ist mir nicht, als ob einer gestorben wäre, 
sondern als ob ein Geist aufgehört hätte zu 
wandeln/' 

Abgesehen von seinem literarischen Umgang 

fand der junge Mann in Tübingen keine Gesel- 
ligkeit ausserhalb der studentischen Kreise. Das 
alte Städtchen mit seinem seltenen landschaft- 
lichen und baulichen Rdz lag abseits vom Ver- 
kehr und befand sich in sehr surückgebliebenem 
Zustand. War doch noch zu meiner Zeit, mehr 
als ein Menschenalter später, die Pflasterung so 
ungenügend, dass bei Regenwetter sich breite 
gelbe Schlammströme die steilen Gassen herab- 
wälzten. Von den Säulen des Museumssaals 
pflegte ein witziger Spötter zu sagen, dass sie „auf 
Stiftlershöhe" schwarz seien. Alle Lebensver- 
hältnisse waren kleinlich und bäurisch, der Ton 
plump, selbst in vielen Professorenfamilien hielt 
man nichts auf gesellschaftlichen Schliff; die 
Frauen als soziales Element fehlten ganz. Der 
Student war die Hauptperson, er herrschte fast 
schrankenlos» sah weltentief auf den »»Philister^* 
herab und genoss auf seine Weise das Leben. 
Aber Weltkenntnis konnte er keine gewinnen, er 

4» 



._^ kj 1^ -0 i.y Google 



— s» — 

konnte keine weitreichenden Verbindungen anr 
knüpfen, sich von dort keinen Weg in dn grös- 
seres Leben hinausbahnen. Deshalb fiel nach 
durchschwärmten Universitäts jähren das Tor 
des Paradieses hinter ihm 211« und er wurde selber 
,,Phsfister'^ Doch auch an dieser kurzen Bur- 
schenherrlichkeit hatte der „Stiftler" nur einen 
sehr beschränkten Anteil, weil er durch die Re- 
geln des Stifts an einen bestinunten Tagesplan 
gebunden war. 

In den Anfang der Universitätsjahre lällt der 
erste, aber noch anonyme Schritt, den Hermann 
Kurz in die Öffentlichkeit tat. £r hatte als ein 
begeisterter Verehrer der englischen Poesie schon 
in der Maulbronner Zdt, als er eben erst mit 
einigen Kameraden durch Nebenstudium des 
EngUschen etwas mächtig geworden war, unter 
Mitwirkung seines Stubengenossen Eduard Zel- 
ler und des schon genannten Edmund Bühuber 
eine Anzahl Gedichte von Bsrron, Moore und an- 
deren übersetzt und die Auswahl in Tübingen 
noch ergänzt; ein gutmütiger Reutiinger Vet- 
ter» der Dfruckereibesitzer war« fand sich willig» 
das Bändchen unter dem Titel: »«Ausgewählte 
englische Poesien in teutschen Übertragungen" 
in Verlag zu nehmen. Der Misserfolg des ganz 
unreifen Werkchens» das in seinem lösch- 
papiemen Gewand auch nicht einmal die Augen 
bestechen konnte, hat der Dichter in seinen 
„Jugenderinnerungen" humoristisch dargestellt ; 
aus der ersten Abrechnung des Verlegers stammt 



._^ kj 1^ -0 i.y Google 



— M — 

das geflügelte Wort: „So stehet es mit den Poe- 
sien.^' Die launige »»Epistel eines Autors an 
den andern*'^) bezieht sich auf dasselbe Malör. 

Aber das Pech, das diesem Bändchen anhaftete, 
ging noch weiter als der Dichter erzählt hat. Als 
er nämlich mit seinem Freund Bilhuber nach 
Reutlingen ritt, um die Freiexemplare persönlich 

in Empfang zu nehmen, hatten sie dort so lange 
zu warten» dass sie auf dem Heimweg die »Phi- 
listersgäule" fast immer galoppieren lassen muss* 
ten» um die Stunde des Nachtessens im Stift nicht 
2u versäumen. Da stürzte im ,3urgliolz'', einer 
jetzt verschwundenen Waldpartie, als es schon 
dämmerte, des Dichters Pferd; er konnte zwar 
wieder aufsteigen, und auch das Stift wurde recht- 
zeitig erreicht» aber» o Schmerz» nun zeigte nch^s^ 
dass ihm beim Sturz die Exemplare imbe- 
merkt entfallen waren, und als nach dem Essen 
die Unglücksstelle abgesucht wurde, waren sie 
nicht mehr zu finden. Wohlmeinende Basen 
suchten das Missgeschick des Reiters durch die 
Vcrmutimg zu erklären, dass das Pferd wohl an 
jener Stelle den gespenstischen Schimmelreiter 
gewittert habe, der damals noch in dortiger 
Gegend die Wanderer mit dem Kopf in der Hand 
zu bekomplimentieren liebte. Wie der Dichter 
bald danach den Verleger für den schlechten Ab- 
satz der „Poesien" durch ein neues Volksbuch 
entschädigte, zu dem er die Vorrede dem Setzer 



)) S. Band I» S. 51. 



._^ kj i^od by Google 



— 54 — 

aus dem Stegreif in die Letteni diktierte^ ist 
gleichfalls in den Jugenderinneningen zu lesen. 
Auf diesen Unfall besieht sich eine Stelle in 

dem Danksonett, das Hermann Kurz am Schlüsse 
seiner Übersetzung des Rasenden Roland seinen 
Vor- und ICitarbeitem gewidmet hat» 2U wdch 
letzteren in beschmdenem Grad auch jener Bü- 
huber gehört: 

Und dir, mein Haimonsbruder, Kampfgenosse, 
Der sich mit mir zu den drei letzten Ritten 
Auf den geflfigelten Bayard geschwungen, 

Mit dem ich einst als Milchbart schon zu Rosse 
Gesessen und manch lustigen Sturz erlitten — 
Euch sei mein Danklied hier am Ziel gesungen. 

Unter den Lehrern am Stift glänzte vor allen 

David Friedrich Strauss, dessen Leben Jesu" noch 
während Hermann Kurz* Studienjahren erschien« 
Durch sdnen Umgang war der Jüngling vorüber- 
gehend in die Philosophie hineingezogen worden» 
der er sich eine Zeitlang mit grösstem Eifer hin- 
gab, um doch in Bälde zu empfinden, dass dies 
nicht sein eigentliches Lebenselement sei. Der 
junge Lehrer selbst» der bald zu dem Schüler in 
freundschaftliche Berührung trat, war unter den 
ersten, die seinen wahren Beruf erkannten, und 
Strauss wurde auch späterhin nicht müde, dem 
Poeten zuzurufen: »Dichten müssen Sie» beileibe 
nicht spekulieren."^) — Zu einem andern jugend- 

Freilich konnte es nach dem einzigen, der Öffent- 
lichkeit bekannt gewordenen Zeugnis, das Strauss über 
meinen Vater ablegte» einem Brief an seinen Freund Rapp 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 55 — 

liehen Gestirn unter seinen Lehricfiiy ddn dft* 
maUgen Repetenten Friedrich Thecklor Vischer, 
konnte der jnng^e Student keine Stellung gewin- 
nen: Zwei Menschen von grossen Anlagen» aber 



(herausgegeben von Zeller) scheinen, als ob er aus einer 
kühlen fiberlegenen Höhe auf den Dichter herabgeblickt 
hltte. Allein dieser ziemlich abßQlIg gehaltene Brief 
stammt aus Strauss' letzten verbitterten Jahren, wo er die 
Welt durch einen Schwarzspiegel ansah und die Er« 
innerung ihm die Dinge verzeichnete. Sonst bitte er 
nicht klagen können, die politischen Tendenzen bitten 
den ,»Sonnenwirt* verpfüscht^ da es doch gerade die 
Tendenzlosigkeit seiner Kunst war, die den Erfolg des 
Dichters bei den Massen hinderte. Dagegen fanden sich 
in meines Vaters Nachlass einige Briefe von Strauss aus 
seiner besten Zeit^ worin er den Leistungen des Dichters 
die freudigste, unbedingteste Anerkennung entgegenbringt 
„Vor Ihren philosophischen und mythologischen Studien**, 
schreibt er das eine Mal, „habe ich alle Achtung, auch 
Ihre Ober- und Portsetzung von Tristan und Isolde mit 
Vergnügen gelesen; Ihr eigentlicher Beruf aber is^ uns 
zu erzihlen, wobei ich Ihnen immer zuhören möchte.** — 
Und an einer andern Stelle heisst es: „Wie Sie sich 
durch mythologische Studien angezogen fühlen, ist mir 
sehr begreiflich, und ich kann mir auch denken, dass 
dergleichen Zwischenbeschiftigungen auch wieder der 
Poesie zugute kommen werden. Denn wire das nichts 
wire vielleicht zu f&rchten, dass Sie durch gelehrte 
Arbeiten von den poetischen abgezogen wurden ~: dann 
mfisste ich Ihnen unerbittlich das Mercklsche zurufen: 
• . ^ das können die andern auch! — Das wenigstens kann 
ich Ihnen sagen, wenn ich imstande wäre wie Sie 
Lebendiges zu schaffen, so Hesse ich die Toten ihre Toten 
begraben." Auch die im Text zitierte Stelle ist einem 
dieser Briefe entnommen. 



._^ kj i^ -o i.y Google 



56 - 



grundverscfaicden in den Instinkten und bdde 
jugendlich ttndnldsam, mnssten der herben Schwa- 
bennatur den Zoll zahlen, sich bei nächster Nähe 
innerlich fremd zu bleiben. Vischer verkannte» 
wie er mir selbst einmal gestand, in dem jungen 
Romantiker, der auch im Stift sein sondergänge» 
risches Wesen fortsetzte, den mannhaften, pflicht- 
bewussten Kern; der äusserst sensible Hermann 
Kurz dagegen fühlte sich durch manche Äusserung 
des damaligen Vischerschen Wesens befremdet» 
besonders durch die Brduniade» deren trauriger 
und schauriger Gegenstand ihm in den Briefen 
seiner Mutter menschlich nahegerückt worden 
war. Erst als reife Manner lernten sie sich gegen* 
seitig hochschätzeut doch ohne die frühen Miss« 
Verständnisse völlig verwischen zu können. 
Vischer selbst, dessen grosse Natur sich bei zu- 
nehmendem Alter immer ins Edlere und Schönere 
entfaltete» hat mir einmal viele Jahre nach meines 
Vaters Tode in der würdigsten Weise das Herz 
darüber ausgeschüttet und er suchte das Ver- 
säunmis, dessen Schuld er vielleicht mit Unrecht 
sich allein beimass» durch' die herzlichste Güte und 
Teilnahme an der Tochter gutzumachen« 

Im Stift nannten sie Hermann Kurz »»das 
blaue Genie'* oder kurzweg ,,den Blauen", welcher 
Spitzname bis in seine Mannesjahre an ihm hän- 
gen blieb. Er selber erklärt ihn im »»Wirtshaus 
gegenüber^ scherzhaft durch emei von blauen 
Schnupftüchern stets gefSrbte Nase» womit er 
nicht nur sich selbst zu nahe tritt, sondern auch 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 57 — 

der guten Tante Kenngott, die ihm damals noch 
die Wäsche besorgte und die in der klassischen 
Stadt der Färber nch besser auf waschechtes Zeug 

verstanden haben rauss. Der wahre Grund soll 
des Dichters Vorliebe für bläuliche Röcke ge- 
wesen sein, mit denen er gegen das rigorose 
Schwärs der Stiftstracht verstiess. 

Im Tübinger Stift, dem ehemaligen Augustiner- 
kloster, das hoch von der Neckarhalde'' aufs Tal 
hemiederschaut und schon durch sein Äusseres 
den Zwang seiner mittelalterlichen Einrichtung 
ausdrückt, hat von je dn besonderer und ein 
sonderbarer Ton geherrscht. Die äussere Ein- 
schränkung und Absperrung von allem Weitwesen 
bei einem mächtig vollen Schulsack gaben dem 
schüchternen Mittelschlag der Zöglinge einen 
Stempel fürs ganze Leben mit, ein unbeholfenes 
und zugleich selb st genügsames Wesen, das man 
eben nur mit dem Worte ,,stiftlerisch" bezeichnen 
kann; bei den stark angelegten führten sie zur 
Überspannung und inneren Revolte. Je grösser 
der Zwang, desto schrankenloser der Freiheits- 
trieb, je reizloser die äussere Welt, desto höher 
der Flug der Phantasie. Auch war ja fast aller 
geistige Adel des Landes aus dem Stift hervor- 
gegangen, es gab also eine Genietradition, und 
die Nachstrebenden verehrten die grossen Namen 
der früheren Promotionen wie die Griechen ihre 
Heroen. Was nun aber den Ruhm der Anstalt 
ausmachte^ das war zugleich ihr Vorwurf; denn 
eben jene Genies waren ja zumdst entlaufene 



._^ kj i^ -o i.y Google 



- ss 



oder „hinausgeworfene" Stiftler, und der Kultus, 
den die Nachfolger mit ihnen trieben^ verschärfte 
noch die Opposition gegen das Stift und sdne eng- 
herzige Regel. Man erbaute sich an ihren Taten, 
ahmte sie nach, besang und dramatisierte sie und 
sah diese Studentenstreiche gewissermasscn sym- 
bolisch an als den Kampf des Lichts gegen die 
Finsternis. Das gab natürlich ein hochgespanntes 
Gefühl der dgenen Persönlichkeit, eine jauch- 
zende Simsonsstimmung, die das Tor der Phi- 
üsterstadt aus den Angeln heben oder sie und sich 
unter ihren Trümmern begraben möchte. Her- 
mann Kurz, der feurigste von allen, hat dieses 
überreizte Geniewesen im „Wirtshaus gegenüber" 
mit blendenden Farben dargestellt: eine kleine 
Studentengenossenschaft, die sich im Gefühl ihrer 
höheren Kultur und ihrer Fähigkeit zum künstle- 
rischen Lebensgenuss vom eigentHchen Studen- 
tenleben fernhält, um in geistigen Symposien zu 
schwelgen. In dieser Novelle hat er seine Person 
in zwei Hälften gespalten: die eine noch jugend- 
lich gärende, unreife« stellt seinen damaligen 
Menschen unter dem Cerevisnamen Caeruleus 
dar, die andere geläuterte und menschlich ge- 
reifte einer etwas späteren Zeit hat er in die Hülle 
seines Freundes und Kommilitonen Rudolf Kaus- 
1er gekleidet und zur Hauptperson der Erzählung 
gemacht. Denn der wirkliche Rudolf Kausler 
war nach allem, was ich von ihm weiss, eine viel 
stillere und scheuere Natur als dieser gebietende 
Ruwaldt in dem der Verfasser sich selbst so völUg 



._^ kj i^ -o i.y Google 



59 — 



mit dem Freunde verschmolzen hat» dass er ihm 
nicht nur seine eigenen Gesiammgca und die Art 
aetnes Auftretens» sondern auch seine frOhen 
Her^enserf ahrungen und sein erstes Liebesgedicht 

unterschiebt. Doch zeigt die überlegene Rolle, 
die er ihn hier spielen lässt, wie hoch er den 
Preund schätzte und weiche inneren Kräfte er 
ihm beimass. — Auch Rudolf Kausler, der Mann 
mit dem feinen leidenden Schillerkopf, war ein 
geborener Poet, aber eine Jener Naturen, die so 
tief ins poetische Element versinken, dass sie 
last unfällig werden, es su formen« Er hat später 
als Nachzügler der Romantiker in einer von der 
Romantik abgekehrten Zeit ein paar feine stille 
Novellen geschrieben, die im Lärm des jungen 
Deutschlands verhallt sind. Eine edle, ebenso 
xarte wie feste ureigene Persänlichkeit» die ver- 
dient hätte, als Vorbild weithin nchtbar dazu- 
stehen und die nichts erreicht hat, als was sie in 
sich selbst besass. Ihm ist das Lebenslos noch viel 
karger gefallen als seinem Freunde HermannKurx» 
denn ihm gelang es nicht, sein Wesen in dauern- 
der Gestalt vor die Nachwelt zu bringen, und für 
seine hohe Kultur hatte das arme Land keine 
bessere Verwendung als eine Dorfpfarrei, wo er 
tan einsames, fast schattenhaftes Dasein führte. 

Es ist ein Mangel dieser Blätter, dass ich dem 
"Freunde seiner Jugend, der meines Vaters zweites 
Ich gewesen, nicht durch persönliche Erinnerung 
besser gerecht werden kann. Ich habe Rud<df 
JCausler nie mit Augen gesehen, obgleich er md- 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— Co- 
nen Vater um ein JaEr überlebte. So weltÜüchtig^ 
war der stille Weise geworden, dass er seia. 
Stötten oder Kleia-BisUngen mcht mehr verliew,. 

uns zu besuchen. Die vielen Enttäuschungen 
seines Lebens hatten ihn zum Einsiedler gemacht; 
besonders gegen Tübingen, wo wir in den letzten 
cehn Lebensjahren mdnes Vaters wohnten» h^^ 
er einen unüberwindlichen Groll. Seine Briefe 
sind aus dem Nachlass meines Vaters verschwun- 
den, so kenne ich ihn eigentlich nur aus denen», 
die mein Vater an ihn gerichtet hat. Ich weiss», 
dass Hermann Kurs als Jüngling bei Kauslera 
Mutter und Schwester einen Ersatz für die eieene^ 
frühe verlorene Heimstätte fand; den Tod der 
ersteren hat er in einem schönen Gedichte be- 
sungen» das» so vi^ ich weiss» nirgends gedruckt, 
ist. An Kauslers Nichte, Marie Kaspert, ist das. 
liebliche Märchen vom „Wald- und Gassenfeger- 
lein" gerichtet. Kausler starb als pensionierter 
Pfarrer im November 1874 zu Stuttgart; meine 
Mutter war bei seinem Ende zugegen. Sie er- 
röhlte von seiner Sterfoenacht, wie, als man nach 
schwerem Kampfe schon den Frieden des Todes 
gekommen glaubte und alles sich zurückzog» 
plötzlich zum Schrecken der Anwesenden aus 
dem Sterbezimmer noch ein langer, letzter Seufzer 
ertSnte — es war der Epilog dnes gfossangeleg- 
ten, in der Enge erdrückten Lebens. 

Jetzt aber segelten die Freunde noch mit. 
tausend Masten, und der stürmenden jungen 
Schar schien die Zukunft zu gehören. Erstaun- 



._^ kj 1^ -0 i.y Google 



6i — 



liehe Frühreife, Weite des Horizonts, Fertigkeit 
lind Sicherheit des Geschmacks und Urteils und 
eine «niveraelle literarische Bildung war die Sig- 
natur des ganzen Kreises um Hermann Kurz. 

Dazu gehörten neben Adalbert Keller, dem ge- 
lehrten Germanisten, der Zeitlebens einer von des 
Dichters Getreusten blieb, noch der rdchbegabte 
Ludwig Seeger und der behäbige Reutlinger 
Gottlieb Finckh, wegen seines grotesken Äussern 
der „Ostjäck'* genannt; femer der geistvolle und 
tiefangelegte Hermann Mögling, Kauslers Inti- 
mus» der sich später der Religion in die Arme 
warf imd als Missionar nach Indien ging, wohin 
ihm der Benjamin des Kreises, der liebenswürdige 
und allgeliebte Gottfried Weigle, nachfolgte, um 
dort den Tod zu finden» 

Zu diesen tritt noch eme verhüllte Gestalt» 
vielleicht die anziehendste von allen, der „Ge- 
rettete" aus den schönen Gedichten, die diesen 
Titel führen.^) Das Wesen dieses Jünglings musstc 
den Dichter tief berührt haben als em Stück 
lebendiger Poesie, und sdn Tod griff ihm nahe 
ans Herz. Ich weiss nichts von ihm, als dass er 
Hermann Günzler hiess und dass er am 13. No- 
vember 1835 starb; irgendwo äussert der Dichter 
über ihn» dass er am Obergang vom Märchen ins 
Leben sugruride gegangen sei. Eine kurze hand- 
schriftliche Aufzeichnung^ in allemannischer 
Mundart unter meines Vaters Papieren, die den 
Initialen nach von diesem Unbekannten herrühren 

S. Band i, Seite 35 ff. 



^ kj, i^cd by Google 



dürfte, lässt auf eine originelle und reizvolle Per* 
flöfüichkeit achlienen. Ich habe immer bedauert» 
dass das Gedicht ,»Der fiedrängte'^ aus dem 
Zyklus des ,,Geretteten", das diese Gestalt so 
schön in wenigen iinvergesslichen Strichen fest- 
hält, aus beiden Gesamtauflagen weggeblieben ist. 
Es möge deshalb hier stehen an Stelle der nicht 
mehr aufzufindenden Personalien« 

Der Bedrängte. 

Die Götter haben 
Dem Freunde verliehen 
Des Gefühles tiefe Gewalt» 
Und uns zu leben 
Und an sich zu ziehen 
Die reizende Gestalt. — 
Und seine Gesellen 
Die scharfott und hellen. 
Die Seelenrichter, 
Haben ihm erregt mit iduger Rede 
Des Zwiespalts Wellen 
Und innere Fehde 

Und getrübt die braunen Augenlichter. 

Aber die Wangen steh'n in Jugendblüte^ 

Und ins Reich des Klanges, 

Wo sie verrauschen, 

Die Mächte des feindlichen Dranges, 

Ist er geflüchtet, mit stillem Gemüte 

Selig zu lauschen. 

So ist ihm der Kampf gelind, 

Und er ist für die Feinde blind: 

Er mag nicht kriegen, 

Er mag nicht siegen. 

Er mag nicht herrschen, er mag nicht dienen, 

So steht er mitten unter ihnen. 

Ein sinnendes, schmeizltch lichelndes Kind. 



63 — 



Dies war der kleine Menschenbund, mit dem 
der Dichter damals nach seinen eigenen Worten 

„ein ganzes volles Leben durchgelebt" hat. Rech- 
net man nun auch noch den Verkehr mit Silcher 
hinzUy für dessen schöne Volksweisen Hermann 
Kurz um jene Zeit die Lieder dichtete» die gleich 
an aUen Enden widerhallten, so muss man be- 
kennen, dass die Jugend des Dichters trotz aller 
Kämpfe und Entbehrungen doch eine unendlich 
reiche und glückverheissende gewesen ist. 

Das Bild der Universitätsseit wird noch ver- 
vollkommnet durch das der Vakanzen, die nach 
gastlich altschwäbischer Sitte meist auf dem 
Land in verwandten und befreundeten Pfarrhäu- 
sern verbracht wurden. Dort verkehrte männ* 
liehe und weibliche Jugend auf unschuldig ver- 
trautem Fuss, man las und musizierte zusammen 
und machte gemeinsame Ausflüge, und da die 
Verwandtschaften sich durchs ganze Land ver- 
sweigten, war es nicht schwer» in jedem der hüb- 
sehen Kinder eine nähere oder fernere Cousine 
zu entdecken ; dem Vetter aber, zudem wenn er 
hübsch und unterhaltend ist, kann das ,3äschen'' 
dn Küsslein in Ehren nicht abschlagen. So spin- 
nen sich leicht fast gleichseit^^ eme Reihe kleiner 
Verhältnisse an, die halb geschwisterlicher Natur 
und halb mehr sind und neuen Reiz ins Leben 
bringen. Zwar in den ersten Universitätsjahren 
war das Hers des Dichters noch in festen Hän- 
den. In der Familie Bilfauber wurde lange und 
wird vielleicht noch eine zierliche Abschrift der 



._^ kj i^ -o i.y Google 



— 64 - 

Fritjof sage in der Hclvigschcn Übersetzung auf- 
bewahrt» die der junge Hermann Kurz für die 
Schwestern Luise und Pauline anf ertigte» „rimt 
Handarbeit so mühsam wie die kunstreichste 
Stickerei''. Wie ernsthaft der Neunzehnjährige 
diese Jugendliebe nahm» zeigen zwei Verse, die 
er in den Osterfciertagen 183s in sein Taschen- 
buch eintrug: 

1. 

Verhalten sei des Herzens Klage, 
Ich wandre ruhig still von hier. 
Wir scheiden freundlich und ich sage 
Der Hoffnung Lebewohl und dir. 

(20. April Nachts.) 

2. 

Süss im Arm der Liebe ruht sich's 
Wie an Mutterbnist das Kind. 
Noch in einem andern Arme 
Lisst sich's schlummern sanft und lind. 
O wer solches Glück gekostet^ 
Kehre nicht dem Leben zu, 
Sinke mit gelösehter Fackel 
In den Arm der ewgen Ruh. 

(22. April Morgans.) 

Was ihm das um mehrere Jahre ältere Mäd- 
chen so teuer machtet war, dass er in ihr Zug für 
Zug das Wesen seiner Mutter wiederzufinden 
glaubte. Als die Freund nach einigen Jahren 
gemeinsamen poetischen Schwärmens eine pro- 
saische Verlobung einging, gab ihm diese Er- 
fahrung schwer zu schaffen» obwohl er es ja nicht 
anders hatte erwarten können» und als sie schon 



Digitized by Google 



- 65 - 



1836 nach kurzer Ehe starb, traf ihn der Verlust 
zum zweiten Male üef ins Herz. Nur seinem 
Rudolf Kausler hat er sich darüber ausgespro- 
chen ; später nannte er den Namen des Mädchens 

niemals wieder. In jenen Tagen aber schloss er 
ein Sonett über die Rose und die Nachtigall mit 
den Strophen: 

Der Sänger weint: Ob sie mir längst verloren, 
So muss ich doch zum zweitenmal ertragen 
Den Schmerz, der immer wieder wird geboren. 

Denn immer werden süsse Rosen sterben. 
Und ewig werden Nachtigallen kltgen, 
Dass Schönheit^^Hüild und Liebe muss verderben. 

Unterdessen hielt in der alten Vaterstadt die 
Dote noch immer das Nest für den Ausgeflogenen 
warnu Die bei aller Einfachheit grundgeschttte 
Frau war jetzt aus ihrer vormundschaftlichen 
Rolle in die einer Freundin und Vertrauten über- 
gegangen und fuhr fort in mütterlicher Weise für 
seine löblichen Bedürfnisse zu sorgen. Zwar fiel 
es ihr schwer, sich zu überzeugen, dass der süsse 
Mandelbrei, einst die Leibspeise des Knaben, die 
sie jetzt auch dem Jüngling nach heissem Ritte 
als Leckerbissen vorzusetzen pflegte^ nicht mehr 
denselben Beifall fand; aber im übrigen war sie 
elastisch genug, den Sprung in die neue Zeit reso- 
lut mitzumachen und sich aus der altvaterischen 
Frau Dote in die moderne Tante zu verwandeln. 
Von ihren Briefen« die der Neffe an jedem Boten- 
tag empfing und wie Liebesbriefe hütete, hat er 
jeden Zettel aufbewahrt. Biese kleinen, perga- 

Isolde Kurz, Hermann Kurz. 5 



Digitized by Google 



66 



mentartigen Papierwische bleiben jedem» der sie 
eiiimal in der Hand' gcbalten hat, iinvergeasliclu 

Sie sehen aus wie Keilschrift und haben in ihrer 
lapidaren Kürze, in der Direktheit des Ausdrucks, 
die vor nichts zurückschreckt» und in ihrer ganaen 
erhabenen Einfalt etwas geradezu Monumentales. 
Da ihr unzerrdssHches Papier sie vor dem Unter- 
gang schützt, werden sie vielleicht einmal einem 
künftigen Sprachforscher als Fundgrube für jenes 
,^t- und Urdeutsch einer altschwäbischen noch 
halb gotisch redenden Stadf dienen, wenn er 
nämlich diese Gehörshieroglyphen, wie der Dich- 
ter sie nennt, weil die alte Frau nur dem Laute 
nach schrieb, entziffern kann. Unterdessen wer- 
den sie als kostbare FamiUenreliquie gehütet« 
Meist handeln sie zwar von den einfachsten, all- 
täglichsten Dingen, aber die tiefe Liebesmacht, 
die darin waltet, gibt ihnen einen unvergänglichen 
Zauber. Die alte Frau )>erichtet vom ausstdien- 
den Gdd^ das ue für den Neffen zusammentreibt: 
„Das Geld ist von 3 Personen bis wir es zu Samen 
gebracht haben" — von seiner Wäsche, die sie ihm 
besorgt tmd flickt: „Sick die schwarze Uenter/'O 
Dazwischen gibt sie Familiennacfarichten, etwa 
wie fölg^: ,,Leider ist der Gotthold wieder ge- 
storben, die Eltern tauren mich sehr, es ist arg 
alle jähr eim Kind die Augen zu trücken, der liebe 
Gott wolle sie stärken» sie tauren mich Sehr/' 
Oder: „Demmlers Kinder sind in einer Stund ge- 

S. das Witwenstüblein. 

Schick die schmutzigen Hemden« 



Digitized by Google 



- 67 - 

ttorben, er Aut^) irgtr als sie* Jakobt Frau faab 
ich glaubt, die Sterb an Halswdi» die ist redit 

übel dran gewesen." — Sie ängstet sich für ihres 

Lieblings Leben, wenn er ausreitet, und wenn er 

des Nachts einen finstem Wald passiert, so fühlt 

sie es aus der Feme. »^Die Waldangst»" schrdbt 

sie einmal, „habe ich gehabt wen ich es gleich 

nicht gewusst hab.'* Ein andermal: „Gottlob das 

du so glücklich durch den Wald gekommen bist» 

wissen hate ich es nicht dörf en» ich wälure ver- 

gannen vor Blind. Der Johannes*) ist sehr ver- 

gnüt kommen wie es so gut gegannen sey aber es 

ist keine halbe Stund an gestanden ist ein Stun- 

ten^) zu der Anamrei*) unter das Haus gekommen 

bat nach dir gefragt» du seyst wider zurück ge^ 

können der Neckar sey aus geloffen da gein^ 

das Kreutz an. ach das vor meine Ohren keine 

traurige Botschaft kommen.'' 

Und wieder in wachsender Angst um den ge- 

fiebten VHldfang: 

» Jieber Hermann H* Veter*) hat mir a Gedicht 
geben ich soll es dir Sicken. u. gesagt du werstet 

wie rum^) Von Pferd gestürt Scy. ich soll dir 

jammert mehr. 
•) Johannes Kurtz, ein Bruderssohn meines Vaters, 
späterer Erzieher von Schillers Enkeln. 
*) Student. 

*) Annamareijdie alte Magd. Siehe Jugenderinnerungen 
S. 97. 

^) ging. 

•) Offenbar der Verleger der „Poesien". 
^ werdest wiederum. 



Digrtized by Google 



— «6 — 



doch es Schreiben das du dein edles Leben nicht 
auf einer so elend mer^) einbüsest, von den hast 
du mir nidits gesagt, u doch hab ich so one 
Angst gehabt bis ich einen Brief beiconnen hab 
das du noch lebest, ich bite dich Reit nicht nach 
Ehingen, was thust du so ein par Stund bey in^) 
kon lieber Freitag Morgen zu mir da kan man 
auch ein Wort mit einander reden wen man allein 
ist, dane wasch u« alles was du wilst wiU ich an 
Freitag Sicken, wen du gleich hier bist. Du kast 

sie helfen packen ich bitc dich um alles 

willen. Mach mir doch keine angst mehr wegen 
Reiten, lauf, lauf,^) aber aber kon nicht so Spat, 
Sonst mus ich vor Angst Sterben, wirklich*) bin 
ich Gottlob recht gesund u. mag brot essen, konn 
Ummer*) da wirst du es Sehen. Deine Dich liebete 
tante Pfar. Kenngott/* 

Das letztere ist ihr gewöhnlicher Schluss, 
manchmal unterschreibt sie sich auch schlecht- 
weg „Deine tante bis in tod**. 

Doch nicht allein des Neffen leibliches Wohl 
ist ihre Sorge, sie ahnt imd fühlt auch s^e 
Seelenkämpfe mit, als er mehr und mehr mit dem 
theologischen Studium in Zwiespalt gerät. Und 
gerade ihre tiefe echte Frömmigkeit macht sie 
gegen den Zweifelnden nachsichtig, da ne die 



Mähre. 
*) ihnen. 

') Schwäbisch für „Geh zu Fusse.* 
*) Schw. für gegenwärtig. 
^) herüber. 



Digrtized by Google 



69 — 

Redlichkeit seines Herzens kennt und ja in allem^ 
was geschieht, Gottes Finger sidbt. „Was du 

nicht fasen kanst/* schreibt sie einmal, „das denke 
Gott wolle dirs for jetz nicht auferlegen." Seine 
innere Unruhe macht auch ihr schlaflose Nächte; 
als er in einer Saulsstimmung dem jihigeren Bru- 
der, der ihn darum angeht, seine geliebte Fföte 
weggibt, die schon in den Wäldern Maulbronns 
seine treue Begleiterin war, damit nun auch kein 
Wohlklang den verstörten Sinn mehr beschwich- 
tige, da fühlt sie den Riss in sdnem Wesen 
schmerzlich mit. 

Wenn aber die Nachricht kommt, dass er sich 

befriedigter fühlt, jubiliert sie: „Das du 

auch grose Männer lieb bist weil du mir so lieb 
bist, so was macht mich so Rmh, u so ein inner 
Fried, u so ein heisser Dank gegen Gott in 
mir." 

Ich kann es mir nicht versagen» noch eines 
dieser Blättchen, der kritzligen Handschrift nach 

eines der letzten, in seinem Wortlaut wiederzu- 
geben. Der Empfänger, der damals auf eigene 
Hand das Englische trieb, hat auf die Rückseite 
geschrieben: »^ehold what a true and lovely 
letterf'* Die arme Frau schreibt in ihrer unzu- 
samraenhängenden Satzbildung: lieber Herman. 
ich danke dir auch Vor das Buch, wo du den 1, 
Emst gesick hast, es hat rechte gute Gedanken 
die uns zur Wirklichen Zeit wo nichts als Pest 
u. Kriesgeschrey ist, derfen wir unsere Herzen 
von der Welt los reisen u zimi Hinunel er- 



Digitized by Google 



— 70 — 

heben, er^) ist wol noch weit fon uns entfernt» 
aber wir Sind auch nicht besser als andere» in 
Gottes nahmen der Herr thue was ihn wol gefalt, 
ich freu mich das du bald zu uns kennst, es gibt 
bald gute trauben, der liebe Gott erhalte dich ge- 
sund, lebwohl Ddne tante Pfar* Kenngott. 

In ihren letsten Tagen» da der Husten» »,d^ 
bös Kerl," über den sie oft in den Briefen klagte, 
immer mehr überhand nahm, ritt der Neffe bei- 
nahe täglich nach dem nahen Reutlingen zu ihr 
hinüber und »»sah mit verzweif ehider Gewissheit» 
wie das teure Leben nach und nach erlosch'^ 
„Sie aber war heiter," erzählt er im „Witwen- 
stübchen''» „das Meer des Irdischen rauschte tief 
und unvemehmlich unter ihr, alle Sorgen vaa ihr 
Schmerzensldnd hatte sie dem mederen Dunst- 
kreis, dem sie sich schon zu entheben begann, zu- 
rückgelassen. Nur wenn sie mich ungebärdig 
sah, versprach sie mir» wieder gesund zu werden. 
So schieden wir an einem Augustabend unter 
tröstlichen Gesprächen» und noch einmal sass die 
Hoffnung mit mir zu Pferde, aber am andern Mor- 
gen hinkte mir die Todesbotschaft nach."') 

Ihr letztes Brieflein» offenbar am Vorabend 
des Todes liii^ekritzelt» ist nur noch ein wirres 
Stammeln über Dinge, die ihren Liebling be- 
treffen, und schliesst: „ietz will ich meine Hoff- 
nung auf Gott Setzen» u der wird mich nicht 
▼erlassen." Darunter steht von der Hand des 
jüngeren Neffen: „O Gottf hab KiÜddr 

') Der Krieg nämlicli. *) Sic starb am 9. August 1834. 



Digrtized by Google 



— 7* — 

Das Gedicht an ihren Tod, von Heyse in der 
i^äteren» geretfteren Form in die Vorrede ver- 
setzt» ist von dem neuen Herausgeber wieder in 

die Sammlung der Gedichte, und zwar in seiner 
ursprünglichen, noch unvollkommeneren Gestalt 
aufgenommen worden. 

Mit dem Hingang dieser prächtigen Frau riss 
das stärkste Band, das den Eigenwilligen mit dem 
ordnungsmässigen Lebensgang, den die Seinigen 
ihm zugedacht hatten, verknüpfte« Seit er nie- 
mand mehr hatte» der ihn vor dem »»bordierten 
Hütlein'* warnte» und nicht mehr fürchten musste» 
mn liebendes Herz zu betrüben» verfdndete er 
sich immer mehr mit der Anstalt, der er ange- 
hörte und die auch ihre Ehre wollte. Ein Bänd- 
chen satirischer Epigramme» das er unter dem 
Titel „Fausts Mantelf ahrt^^ drucken Hess» soU im 
Stift sehr böses Blut gemacht haben; eine mehr- 
tägige Reise, die er ohne Urlaub im Interesse 
eines andern unternahm» und deren Anlass er aus 
Kitterlichkeit nicht bekennen wollte» wurde end- 
lich der äussere Grund seiner Entlassung.^) 

Jetzt war er frei, aber die Freiheit kostete ihn 
den Rest seines kleinen väterlichen Erbteils. 
Denn da er nicht in den Verdacht kommen wollte» 
als habe er vor dem »4umpigen Examen^ Reissaus 
genommen, musste er die Vollendung seiner Stu- 
dien aus eigener Tasche bestreiten. Im Herbst 

So erzählte mir Herr Prof. H. Fischer auf Grund 
genauer Nachforschungen; in der Familie war nichts 
davon bekannt 



Digrtized by Google 



z835 bestand er die Prüfung mit Ehren und trat 
ciii paar Wochen später bei adnem Onkel Hohr, 
einem philosqidiiach gebildeten und fireisinnigen 

Manne, in Ehningen bei Böblingen als Vikar ein. 
Aber der Widerspruch zwischen seinem Amt und 
seiner Uberzeugung» der Zwang, dasjenige als 
Dogma zu predigen, was er nur als sjrmbolische 
Wahrheit anerkennen konnte, machte ihn tief un- 
glücklich. Nicht als ob damals ein besonders 
starrer dogmatischer Geist geherrscht hätte. 
Schon der Umstand, dass so viele der Höchst« 
begabten die theologische Laufbahn wählten, 
musste einen freieren Zug in die württembergische 
Geistlichkeit bringen. Konnte es doch vorkom- 
men, dass der protestantische imd der katholische 
Seelsorger ein und desselben Ortes auf kollegia- 
lem Fusse verkehrten, dass sogar gelegentlich der 
erstere die Funktionen des letzteren versah; ja in 
einem Fall, den ich kenne, gii^g Toleranz so 
weit, dass ein gebildeter Rabbiner der dritte im 
Bunde war. Hermann Kurz hätte also ebensogut 
wie manche seiner Kollegen, die in der gleichen 
Lage waren, sich mit seinem Gewissen durch die 
Erwägung abfinden können, dass jedes Bild des 
Unendlichen nur ein Gleichnis ist, während doch 
die Menge eine feste Form für ihre religiösen Be- 
dürfnisse braucht. Aber in der Seele des Dich- 
ters liegt ein unwiderstehlicher, rücksichtsloser 
Wahrheitsdrang, und eine produktive Natur muss 
ihren eigenen Gesetzen gehorchen. Er fühlte 
sich ja nicht einmal äusserlich am rechten Platze, 



Digrtized by Google 



— 73 



denn der Landaufenthalt, in dem ein Eduard 
Mörike, der nur auf die inneren Stinmien lauschen 
woUte, oder auch der zartgeatinimte Rudolf Kaua» 

1er sich wohl fühlen konnte, wurde ihm auf die 
Länge zur Qual. Seine feurige epische Muse 
wäre in der Einöde verkommen» sie verlangte 
ihre Nahrung aus dem Leben zu saugen, der 
Dichter selber brauchte die Berührung mit der 
Welt, wenn er sich nicht selbst verzehren 
sollte. 

Seine innere Stellung jnir Religion hat er, bald 
nach seinem Bruch mit der Theologie, in einem 

Brief an Rudolf Kausler ausgesprochen. In 
diesem Schreiben aus dem Jahr 1836 heisst es: 

„Ich glaube eine Vorsehung imd zwar 

eine individuelle: lieber Gott, wer sorgte denn 
sonst für uns Crenies, blaue und graue (aus dem 
Lied: meine Mutter hat Gänse). Aber es ist ein 
Instinkt, denn eine Intelligenz wäre erbärmhch, 
es ist ein Instinkt, der einen gewissen Knaben vor 
grossem Unglück bewahrte, der bei hohen Fällen 
oder Stürzen ,seinen Engel gesandt hat» auf dass 
sein Fuss an keinen Stein stiesse', der ihn einmal 
vor wilden Pferden durch die Hand eines furcht- 
samen und wahrhaft feigen Mädchens gerettet 
hat«^) Ich glaube, es ist keiner was, der nicht 



*) Der Vorfall, auf den hier angespielt wird, ereignete 
sich in Reutlingen während der frühesten Ktnderjahre 
meines Vaters, als er einmal mit andern Knaben auf der 
Strasse spielte und durch wild daher rasende Pferde in 
iusserste Lebensgefahr gebracht wurde. 



Digitized by Google 



— 74 — 

diesen Glauben hat, und dieser Glaube hat mir oft 
geholfen. So auch jetzt und ich bin's zufrieden, 
dass Ich mdnem Gesicht gegenüber eine Wand 
und keine Gemeinde habe/* 

Kürzere Predigten sind wohl selten gehalten 
worden als die des Vikars Hermann Kurz. Eines 
Morgens ging er von Hause weg, während der 
alte Pfarrer sich noch ankleidet^ und als dieser 
fertig war und ihm folgen wollte, fand erden Neffen 
auf dem Rückweg von der Kirche. — „Hast du 
deine Aufzeichnungen vergessen?** fragt er be- 
stürzt» »bieiby bleib, ich bringe sie dir gleich." — 
,,Nein» Onkel,'' Ist die Antwort, ,4ch bm schon 
fertig." 

Vorzugsweise predigte er über die Liebe; wie 
die Gemeinde erbaut war« weiss ich nicht. Der 
freundliche alte Vorstand des Predigerinstituts 
sagte ihm als Kritik über dne seiner sonntäg- 
lichen Leistungen: „Recht hübsch — blühend — 
man könnte sagen edel — fehlt leider nur das 
spezifische Christentum/' 

Als heitere Erinnerung an sdne Vikariatszeit 
pflegte er die Anekdote zu erzählen, wie er einst 
mit einem andern Vikar eine ausgelassene Wette 
einging. Jener sollte seine Braut Sophie (schwä- 
bisch im Dimunitiv „Sophiele") von der Kanzel 
rufen und begann die Predigt mit den Worten: 

„So viele, ach so viele sind es, welche** — wo- 
gegen Hermann Kurz übernommen hatte, die 
«einige nut »sondern" zu beginnen, und dem- 
gemäss auf der Kanzel anhob: „Sondern wir. 



Digrtized by Google 



— 75 — 

meine geliebten Zuhörer, die christliche Religion 
von allen andern Religionen ab/' 

Doch der Galgenhumor half ihm ao wenig wie 
die Sophistik weltMügerer KoU^en über den 
iSwiespalt hinweg. Mehr als emmal trat die Ver- 
suchung, seinem Leben ein Ende zu machen» die 
ihn schon im Stift in leidenschaftlichen Momenten 
befallen hatte, an ihn heran. Als er diese Pein 
•einige Wochen mit sich herumgeschleppt hatte, 
erklärte er eines Tages dem Onkel entschlossen: 
„Lieber tot sein, als Vikar!'* und der Theologie 
^uf immer Valet sagend, wagte er den Sprung ins 
Unbekannte^ indem er za Anfang des Jahres 1836 
nach Stuttgart übersiedelte, um dort als freier 
Schriftsteller zu leben. 



Dig'itized by Google 



Erste Schaffensperiode 



Nackt und bloss W19 ein aus dsm Neste 

fallener junger VogfA war Hermann Kurz aus dent 
Ehninger Vikariat in die Welt hinausgetreten, 
und nun galt es, aus nichts sich eine Existenz za 
schaffen. Welch ein Glück, hätten seine härter 
gearteten Vorfahren das für ihn besorg^. Der 
seelisch verfeinerte Sprössling eines alten Ge- 
schlechts besass dafür nicht mehr die nötige Un- 
empfindlichkeit und die harten Ellbogen» noch 
weniger hatte er gelernt, sich zu ducken und zu 
schmiegen. Von ritterlichem Naturell» höchst im- 
pulsiv, aber eben so leicht zurückgestossen, inner- 
lich weich und äusserlich spröde, ohne alle Welt- 
Idugheit stand der protektionslose Jüngling der 
Welt gegenüber, mit keinem andern Rückhalt als 
einem Häuflein guter junger Gesellen, zwar be- 
reit, einer für den andern durchs Feuer zu gehen,, 
aber alle gleich mittellos und unerfahren. 

Zwar zuerst sah ihn dieses neue Leben sehr 
verhossungsvoll an. Noch in Ehningen, wo er 
die geheizte Stube mit dem alten Onkel teilen 
musste, luid in der ersten Zeit seines Stuttgarter 
Aufenthalts war in rascher Folge dne Reihe 
jener frischen, klaasisch abgerundeten Novellen, 
erachiencn* die von je die Bewunderung der Ken- 



Digrtized by Google 



— 77 — 



Her gewesen sind. Der Dichter, der sie mit flie- 
:gender Feder nur so hingeworfen hatte, las sie 
jetzt Tag für Tag im „Morgenblatt*' und staunte 

selbst über ihre Kunstreife. Nirgends ist hier 
«ine Unsicherheit» ein Tasten oder Straucheln zu 
bemerken. Der Anfänger trat als geborener £r- 
s^hler auf den Plan* Sie wurden noch im selben 
Jahr in Buchform gedruckt, leider in dnem klei- 
nen Stuttgarter Verlag und unter dem nicht gut 
gewählten Titel „Genzianen", was ihren Erfolg 
beeinträchtigte» Nicht lang suvor war bei Hall- 
beiger ein kleines Bändchen Gedichte erschienen, 
zwar als Sammlung etwas verfrüht, weil es die 
lyrischen Züge des Autors noch nicht klar genug 
ausprägte, aber schon einige sdner schönsten 
St^e enthaltend. Indessen hatte der ungestüm 
V orwärts drängende bereits nach breiteren Auf- 
gaben gegriffen. Der Plan zu dem ersten grossen 
Roman Heinrich Roller'' war gefasst und die 
Studien dazu schon begonnen* Der Dichter ar- 
beitete in jenen heiteren Tagen so Imht, dass er 
im Vollgefühl seiner Schaffenskraft dieses Werk 
nur als Vorstufe ansah, bei der er sich nicht lange 
aufzuhalten gedachte, denn heimlich stand sein 
Sinn nach den dramatischen Lorbeem; em „Kon- 
ra<Un'^ für den er seine beste Kraft einsetzen 
wollte, schwebte ihm damals vor der Seele. Ob 
er sich hierin täuschte, wer darf das zu entschei- 
den wagen? Jedenfalls wird niemand, der sich 
gewisser Szenen der „Heimatjahre** oder des 
„Sonnen wirts" erinnert, dem Verfasser die tra- 



Digrtized by Google 



-Ta- 
fische Gewalt absprechen, wenn auch diese Ro* 
nane sonst gerade den geborenen Epiker kenn- 
seichnen. Unterdessen aber wollte er mit sdnem 

ersten Roman nur rasch der engeren Heimat einen 
Tribut im Geiste des von ihm hochverehrten Wal- 
ter Scott darbringen» bevor er welterginge. £r 
ahnte damals noch nicht die innere Tragweite der 
Aufgabe, die er sich gestellt hatte; noch weniger 
ahnte er, was dieser Tribut ihn kosten, wie lang 
diese Stufe ihn durch elende rein äussere, aber 
schidcsalsvolle Hemmungen festhalten sollte. Ifit 
dem „H^nch Roller^, der unter seinem sinteren 
Titel „Schillers Heimatjahre" bekannt ist, be- 
gann des Dichters Passionsweg. Hätte er vor- 
aussehen Icönnen» dasa ihm das Manuskript des 
ersten Bandes im Schreibtisch vergilben sollte» 
bevor das Buch nach sechs vollen Jahren die 
Presse sah, er hätte nie die Feder dafür einge- 
taucht, und freilich wäre dann der Genius des 
Scfawabenlandes um sein schönstes sonnigstes 
Stück Heimatpoesie ärmer. Die Schmersens- 
geschichte dieses Romans ist oft genug erzählt 
worden, denn sie ist zugleich selber ein Stück 
schwäbischer Kulturgeschichte» freilich ein trau- 
riges, und ich liesse am liebsten den Schleier dar- 
über fallen, läge nicht gerade hier der Schlüssel 
zum ganzen späteren Leben meines Vaters. Denn 
was sich nachmals von Misslingen und äusserem 
Unheil an seine Fersen heftete» hat hier seinen 
Anfang und Ursprung. 

Herr von Cotta, der damalige Monarch des 



Digrtized by Google 



— 79 — 

Buchhandels» hatte aich durch Gustav Schwab 
um das interessante Uanuskript selber beworben; 

er billigte den ihm vorgelegten Plan des Ganzen 
und gewährte dem jungen Autor eine halbjährige 
Pension als Vorschuss. In dem hochgelegenen 
reizendenBuoch» angesichts der geliebten Albkette» 
wo Rudolf Kausler bei seinem Onke!» dem Pfarrer 
Reinf eider, das Vikariat versah, Hess Hermann 
Kurz sich mit seiner Arbeit nieder. Abwechselnd 
dort und in Stuttgart oder auch in dem nahe von 
Buoch gelegenen Winnenden bei Kauslers An-* 
gehörigen schrieb er mit Feuer die ersten Kapitel 
seines Romans, die gleich probeweise im „Mor- 
genblatt*' gedruckt vmrden und lebhafte Erwar- 
tungen erregten« Der Roman brauchte nur fertig 
ru erscheinen» und die Tafel des Lebens war für 
den jungen Autor aufs glänzendste gedeckt. Al- 
lein sein böser Genius hatte es anders beschlossen* 
Als das erste Buch des .«Heinrich Roller" voll- 
endet war, geschah das Unglaubliche, dass Cotta 
den Verlag nachträglich ablehnte; einen schrift- 
lichen Kontrakt besass der weltunerfahrene Dich- 
ter nicht. Der Grund der Weigerung lag in einem 
Höflingsbedenken: der freiherrUche Verleger, der 
noch mehr Hofmann als Buchhändler war, fürch- 
tete, dass das Buch allerhöchsten Orts Anstoss 
erregen könnte, weil König Wilhelm I. seine Vor- 
fahren nur im panegyrischen Ton besprochen 
hören wolle. Eine Konmiisnon von Hofherm sollte 
fiber das Schicksal des Werkes entscheiden, und 
ihr Urteil fiel zu Ungunsten des Dichters aus. Und 



Digitized by Google 



8o — 



doch konnte die Gestalt des geistreichen „Karl 
Herzogs*', die die Widersprüche einer werdenden 
Zeit in sich vereinigt, mit ihrem Licht und ihren 
Schatten nicht liebevoller gezeichnet werden, als 
es hier geschehen war. Dies erkannte später 
König Karl ausdrücklich an, der mit diesem Vor- 
gänger einen besondem Kultus trieb und dem 
die „Heimatjahre'' darum nachmals geradezu ein 
LiebHngsbuch wurden; zu späte Sühne für den 
toten Dichter, den byzantinischer Übereifer zur 
Unzeit aus seiner raschen Ruhmesbahn gcstossen 
hatte. 

Was nun beginnen? Ober dn Jahr hatte die 

Arbeit schon gedauert, und was mit leichtem Mut 
begonnen war, das hatte unter des Dichters Hän- 
den inuner wachsende Bedeutung angenommen. 
Immer tiefer hatten die Studien ihn hineinge- 
zogen, ein ungeheures» damals noch völlig neues 
Material, grossenteils aus mündlichen Überliefe- 
rungen, war bewältigt, und eine ganze versunkene 
Welt, die Welt* in die Schillers Jugendentwick- 
lung fällt, war aus dem Grab beschworen; sollte 
sie nicht ins Dunkel zurücksinken, so musste das 
Werk auf gut Glück, auch ohne Verleger, fort- 
gesetzt werden. So wurde der Roman, der nur 
die Lebensbasis für das weitere Schaffen her- 
stellen sollte, zum Selbstzweck, der die schmerz- 
lichsten Opfer forderte. Hätte der Autor zu 
leben gehabt, so wäre der Sieg schnell entschie- 
den gewesen. Aber er war nuttellos, und noch 
schlimmer als das» er musste jetzt auch noch Cot- 



Digitized by Google 



— 8x 



las Vorschüsse, die ihn bisher über Wasser ge- 
ludten hatten, durch nachträgliche Arbeit abver- 
dienen. Natürlich rückte dabei der Roman nur 
langsam mit unendlichen Unterbrechungen vor- 
wärts, während der fertige erste Teil um einen 
Verleger hausieren ging. Aber Cottas Weige- 
rung war ruchbar geworden und hatte den ganzen 
württembergischen Buchhandel kopfscheu ge- 
macht; die auswärtigen Firmen aber wie Brock- 
haus in Leipzig und Sauerländer in Frankfurt 
wollten sich auf das unvollendete Werk eines 
noch namenlosen schwäbischen Autors nicht ein- 
lassen. Und nun begann der Kampf mit der 
eisernen Not. 

Sein geliebtes Buoch, wo er mit dem Förster 
und dessen Tochter halbe Tage lang jagend im 
Wald umherstreifen und den Kopf erfrischen 
konnte, hatte er gleich nach Cottas Rücktritt ver- 
lassen müssen, weil er die ausstehende Miete und 
andre Rechnungen nicht mehr zu bezahlen ver- 
mochte. Er hielt sich in den verborgensten Win- 
kefai der Hauptstadt auf, um vor den Gläubigem 
sicher zu sein, und fristete durch mühselige und 
zeitraubende Brotarbeit sein Leben, wobei ihm 
nun die früh erworbene Kenntnis fremder Spra- 
chen zustatten kam. Eine lange Reihe metrischer 
Übersetzungen aus dem Englischen, Italienischen, 
Portugiesischen, Spanischen und dem Mittelhoch- 
deutschen, ich nenne davon nur die drei Bände 
des „Rasenden Roland'* und Gottfrieds »»Tristan'V 
sind das Ergebnis jener ersten Stuttgarter Jahre, 

Isolde Kurz, Hermann Kuni. 6 



Digrtized by Google 



— 82 — 

die die fruchtbarsten für seine eigne Muse hätten 
sein sollen. So mdsterlich diese Übersetsungen 
geraten sind, sie waren doch dne Vergeudung der 

edelsten, eben reif gewordenen Kräfte, denn auch 
andre konnten diesen Aufgaben gerecht werden 
— Deutschland hat ja Übersetzergenies hervor- 
gebracht» die» ohne mit Produktionskraft begabt 
zu sein, in der Wiedergabe des Fremden das 
Wort „unmöglich" zuschanden machten — was 
Hermann Kurz an Eigenem der Welt zu geben 
hatte» konnte kein andrer an seiner Stelle geben* 
Hätte wenigstens die Brotarbeit immer ihrenllann 
ernährt, aber auch hier wurde ihm der materielle 
Ertrag streitig gemacht : der Verleger Hollmann» 
für den er den »»Rasenden Roland" übersetzte» 
stdlte eines Tages plötzlich die laufenden Zah- 
lungen ein, weil ihm über die Gangbarkeit des 
von ihm selbst gewählten Artikels 2weiiel auf- 
stiegen» und auch hier war der Dichter genötigt» 
die Arbeit» die schon bis zum vierzigsten Bogen 
gediehen war» auf eigenes Rinko fortzuführen 
und sich für die beiden letzten Bände einen an- 
dern Verleger zu suchen. 

Seine Arbeitskraft war in diesen Jahren un- 
geheuer. Im Winter 1838 übersetzte er bis zu 
vierzig Oktaven Ariost im Tag. Man sieht es 
diesen mit kecker Grazie hingeworfenen» in leich- 
ter ReimfiUle tändelnden Strophen» die mit dem 
Obermut des Originals wetteifern» wahrlich nicht 
an» dass der Obersetzer sie oft genug zu Bette 
liegend schmieden musste» weil das Holz zum 



Digitized by Google 



— S3 - 

Binlieiseii fdilte und wefl bdun Liegen die Leere 

des Magens minder fühlbar war. Jene Stelle in 
den »»Heimatjahren", wo der junge Verfasser der 
Räuber für die ersten Lorbeem» die ihm an einem 
frühen Morgen in seine dürftige Stube fallen» dem 
Bri e fträger das Porto schuldig bleiben mtiss, ist 
einem eigenen Erlebnis aus jener Zeit nach- 
erzählt. 

Dagegen ging es dann auch gelegentlich wie- 
der hoch her, wenn von irgendeiner Seite Bezah- 
lung eintraf; denn in Zeiten der Fülle das Geld 
ängstlich zurückzulegen, war nicht des jungen 
Dichters Art. Er wollte wohl arbeiten» bis ihm 
das Blut aus den Nägeln spritzte» aber er wollte 
auch wieder aus dem Vollen leben, geniessen, sich 
selber fühlen. Reiten und jagend durch die Wäl- 
der streifen war seine Leidenschaft. Er brauchte 
solche Erfrischung« um sich von dem mnern 
Druck zu erholen und wieder an seinen Stern zu 
glauben. So kam er eines Tages nach Buoch ins 
Pfarrhaus geritten und sagte triumphierend, jetzt 
habe er Geld genug imd könne alle Rechnungen 
bezahlen, er stecke voll von Geld, und nun begann 
er, Rollen und Päckchen voll Geld aus der Tasche 
zu ziehen, 

„Nach einer Weile", so er^hlt ein jüngeres 
Familienmitglied, das als Kind zugegen war, 
„ging er zu Freund Rudolf in der Grossmutter 
hintere Stube, weil er auch in die Juchtenstiefel, 

die er als Reiter gerne trug. Geldrollen gesteckt 
hatt^ die aufgegangen waren. Die Stiefel woll- 
en 



Digrtized by Google 



^ 84 - 

ten aber nicfit vom Fuss» wal die Guldenstücke 

sich festgekeilt hatten, und endlich musste mch 
der Dichter auf den Rücken legen und, die Füssc 
in die Höhe streckend, so lange schütteln, his 
unter dem Gelächter des Freundest der zum Ab- 
zlehen der Stiefel gerufenen Magd und der her- 
beigeeilten fünf Kinder Gulden und Taler Stück 
für Stück aus den Stiefeln sprangen und über den 
Fussboden rollt«a» worauf am Ende die abge- 
zogenen Stiefel auch den Rest des Geldes her- 
gaben." 

Die kleine Szene ist charakteristisch für die 
ganze Lebenshaltung des jungen Genies. Wenn 
er Geld hatten behandelte er es von oben herab 
und freute sich, es so verachten zu können; trat 
dann wieder Ebbe ein, so biss er die Zähne zu- 
sammen, und sein Stolz, der nicht zu beugen war, 
wurde zur Schroffheit, an der auch die teuersten 
Freunde sich zuweilen schmerzhaft sttessen. 
Denn es ist freilich wahr, dass seine eigene Natur 
gleichfalls zur Verwirrimg seines Schicksals- 
fadens beitrug — in welchem Dichter steckte 
nicht mn Stück Tasso? — » aber die Bitterkeit 
war trotz alledem nur ein vorübergehender 
äusserer Anflug, und ein einziger Sonnenstrahl 
des Glücks genügte, um alle Herbigkeit zu 
schmelzen. 

Zu Ende der dreissiger Jahre erschien eine 

neue Serie jener kleinen Novellen, die der Mehr- 
zahl nach zu den künstlerisch reinsten und voll- 
kommensten ihrer Gattung gehören. Da aber die 



Digrtized by Google 



- 85 - 

Not ihn drängte» das Büchlein schnell hinaus zu 
geben» so kam es wiedenm, wie schon bei den 
„Gensianen'S su keiner glücklichen Zusammen- 
stellung, ja der neue Band, der diesmal in Pforx- 
heim erschien, wurde noch kunterbunter als der 
erste» denn er enthielt nicht nur Erzählungen in 
Versen neben den Prosageschichten» sondern noch 
überdies lyrische und dramatische Proben» alles 
in seiner Art reich und saftig, aber nicht ein- 
heitlich genug, um auf ein unvorbereitetes Publi- 
kum zu wirken. Erst Jahre si>äter wurden die 
serstreuten Edelsteine in einem richtigen Novel- 
lenband zum Geschmeide zusammengefügt. 

Dass der Dichter in jenen Jahren der höchsten 
Leistungsfähigkeit mit seiner Arbeitskraft nicht 
besser haushalten konnte» hat sich später furcht- 
bar an ihm gerächt. Schon damals spürte er 
über dem Ariost zuweilen eine „gelinde innere 
Verzehrung'S doch hatte er ihrer nicht weiter acht, 
sie wich auch schnell» sobald eine frische Aufgabe 
an ihn herantrat. Aber später, in den Mannes- 
jahren, zeigten sich die Folgen semer zerreibenden 
Tätigkeit, die nicht durch geregelte Ruhepausen 
abgelöst, noch durch kräftige gieichmässige Er- 
nährung aufgewogen wurde. 

Ihn seinem unsichem Dasdn m entreissen» 
traten die Freunde zusammen und suchten ihn 
in einer Hofmeisterstelle unterzubringen. Er 
selbst war» von Not gedrängt, jetzt mit allem ein- 
verstanden« nur stellte er die Bedin^^ung, dass er 
das Land nicht zu verlassen brauche. Aber die 



Digrtized by Google 



9 



einheimischen Aussichten zerschlugen sich» und 
als die Freunde ihn nun rar Annahme emes 
Postens in Russland drängen wollten* bäumte er 
rieh entschlossen auf; denn das empfand er als 

eine Verdrängjung aus seinem eigensten Selbst. 
£r hatte kein Verlangen nach der Fremde, ilin 



lockt; die noch ungeborenen Kinder seiner Muse 

bedurften zu ihrem Entstehen der Heimatluft. 
Das Fernweh, das sonst eine begabte Jugend so 
gewaltig fasst» kannte er nur in poetischer Ge- 
stalt: in der «»Reise nach dem Meer^' hat er es 
unwiderstehlich dargestellt, aber er hat es nicht 
als Schicksalsmacht an sich selber erfahren. Er 
besass ein magisches Lämpchen, unter dessen 
Scheine sich jeder Winkel seiner Heimat in einen 
Paradiesgarten verwandelte; auf fremdem Boden 
war er nicht sicher, dass es seine Zauberkraft be- 
wahrt hatte. Ähnlich erging es ja auch Mörike. 
Als dieser einmal den Grafen Schack in sein ge- 
liebtes Uracher Tal führte» um ihm dort „den 
schlinsten Fleck der Erde'* su zeigen, da machte 
der Weltwanderer, der eben vom Goldenen Horn 
zurückgekehrt war, ein etwas langes Gesicht, denn 
er sah nichts als emen grünbewachsenen Felsen; 
Mörike aber hätte den grünen Fdsen gewiss nicht 
für die Ufer des Bosporus hingegeben, so eigens 
waren seine Augen auf die „urbemoosten Wasser- 
zellen" und die ,,alten Wolkenstühle*' seiner 
Jugend Ungerichtet 

Um zu begreifen« warum mein Vater so hart- 



Digitized by Google 



- 87 - 

nackig an seiner undankbaren Heimat festhielt, 
muas man seine Werke mit verstehender Seele 
lesen. Von frühester Jugend an hatte er mit 
umtn hellen offenen Augen, leiblichen und gei- 
stigen, „Milieustudien" getrieben — Lokalstudien 
nannte man's zu jener Zeit» aber die Sache war 
dieselbe — ; er hatte zuerst seine Vaterstadt mit 
ihrer Umgebung, dann, immer wdter greifend, 
allmählich das ganze Schwabenland sich aufs 
intimste zu eigen gemacht. Hier wusste er in der 
Struktur des Bodens ebenso genau Bescheid, wie 
in den Sitten und Sagen; jeder Bergrücken, jeder 
Wasserlauf, jedes verborgene Tilchen, jede Aus- 
sicht mit ihren wechselnden Beleuchtungen war 
ihm vertraut, er kannte alle die altertümlichen 
Städtchen, die stillen heimeligen Pfarrdörfer, die 
er schon als Knabe geliebt hatte, wenn er die 
Vakanz bei Verwandten auf dem Lande ver- 
brachte oder sein Freund Bilhuber ihn zum 
Maienfest mit nach Hause nahm. Und ebenso 
genau kannte er die Menschen, die dieses Land 
erzeugt: die „H^matjahre" md eine grandiose 
Galerie schwäbischer Charakterköpfe von dem 
liberalen Despoten Karl und den unsterblichen 
Opfern seiner Ersiehungswut, Schiller und Schu- 
bart, durch alle Schichten der damaligen Gesell- 
schaft bis herab zu den rechtlosen Vaganten; sie 
alle sind so porträthaft gehalten, als hätte der 
Dichter jeden einzelnen persönlich gekannt. Wie 
sollte ihm das Ausland jemals diese Vorteile er- 
setzen? Und seine Sprache tsdt dem seltsamen 



Digitized by Google 



— 88 — 



ahnungsreichen Zauber, die, ohne in den Dialekt 
zu fallen* vom Kolorit der Landschaft unsertrenn-» 
lieh ist^ aus der es wie von alten Sagen redet und 
raunt und die deshalb immer noch hinter den 
Worten selbst eine Perspektive in unergründliche 
Fernen eröffnet, diese Sprache war nur den hei^ 
mischen Gegenständen völlig angemessen. Her- 
mann Kmz war nicht verblendet über sein Land 
und seinen Stamm; er hat ihm die Meinung in 
seinen Werken oft deutlich genug gesagt, und die 
„fanatische Prosa*' im Durchschnitt der Schwa- 
bengesichter konnte ihn im Leben oft genug wild 
machen; aber die ganze Art seiner Begabung ver- 
bot ihm, den Staub von den Füssen zu schütteln. 
Und so sehen wir das qualvolle Schauspiel weiter* 
gehen, dass der Dichter von der Heimat nicht 
lassen kann und die Heimat sich nicht um ihn 
bekümmert. Was lag dem Lande zu jener Zeit 
an einem Dichter mehr oder weniger; es hatte 
deren so viele gehabt und die meisten im Elend 
verkümmern lassen. 

Unterdessen setzte der ,,Heinrich Roller'* 
seinen Leidensweg fort. Zunächst übernahm im 
Jahre 1841 der Tübinger Buchhändler Fucs den 
Verlag des Romans, und zwar beschloss man die 
vorläufige Ausgabe des ersten Bandes, während 
der Dichter sich verpflichtete, so schnell ^e mög- 
lich den Rest zu liefern. Aber als der Druck be- 
ginnen sollte, liess Fues sich durch die hämische 
Kritik eines ganz grünen Studenten abschrecken 
und trat zurttck. Der Dichter verklagte ihn wegen 



Digrtized by Google 



- 89 - 

Kontraktbruch und gewann, doch wurde der Pro- 
zess in zweiter Instanz verschleppt, und ^ kam 
2tt kesnein Resultat» so dass der Autor verzweifelt 
seiii Manuskript zurückzog. Dennoch spann er 

den wieder aufgenommenen Faden der Erzählung 
unentmutigt weiter, obgleich ihm oft, wie er an 
einen jüngeren Freund und Kunstgenossen 
schrieb, dabei zumute war, als hätte er den Nach« 
lass eines jungen Poeten übemonunen, den er 
nun widerwillig zu Ende führe. 

Inrwischen war ihm noch einmal ein trüge- 
rischer Hoffnungsstrahl aufgegangen, denn Herr 
V. Cotta interessierte sich jetzt plötzlich aufs 
neue für das Werk, das er sich abermals vorlegen 
Hess, und es hatte den Anschein, als sollte der 
Roman nun doch unter der Cottaschen Flagge in 
die Welt gehen. Weshalb es nicht geschah, wes- 
halb Cotta nach einigem Schwanken aufs neue ab- 
lehnte, darüber sind alle, die sich mit den selt- 
samen Geschicken dieses Buches befassten, im Zwei- 
fel geblieben. Man glaubte schliesslich zum Teil, 
den Grund in einem buchhandlerischen Bedenken 
über die Zugkraft des Werkes finden zu müssen. 
Dem war ganz und gar nicht so. Ich bin imstande, 
diese Zweifel vollkommen aufzuklären, und 
zwar mit des frdherrlichen Verlegers ^enen 
Worten, denn der Brief, der die Rücksendung des 
Manuskriptes begleitete, befindet sich in meinen 
Händen. Dieser Brief, der in nichts an die kon- 
ventionellen Ablehnungsphrasen der Verleger er- 
innert, verdient es seiner Merkwürdigkeit halber. 



Digrtized by Google 



— 90 — 

im Wortlaut wiedergegeben zu werden.') Er be- 
weist, wie hoch Herr v. Cotta und seine Um- 
gebung den Wert des Buches einschätsten und 



Der Brief lautet: 

„Euer Wohlgeboren 

beehre ich mich anliegend das mir gütigst übersandte 
Manuskript wieder zurückgehen zu lassen, aber nicht ohne 
das Gefühl wahren Bedauerns, denn das Ganze Ihres 
Romanes, den ich bis jetzt nnr aus kleineren Bruchstucken 
kannte hat meine Erwartungen weit übertroffen. 

Man sieht daraus, welche Masse von Studien Sie zu 
diesem Zweck gemach^ und mit welchem Talent Sie Jahre 
lang daran gearbeitet haben müssen. 

Die glückliche und sinnreiche Verwebung der merk- 
würdigsten Erdgnisse und Personen der siebenziger und 
achziger Jahre in Ihre Geschichte hat mich Überrascht^ 
ebenso wie die wahre Schilderung der Geister der vor- 
revolutionären deutsehen Zustände, die Sie am Beispiele 
der schwibischen meisterhaft darstellen. Kein Faden ist 
müssig angesponnen und die Geschichte sehr spannend: 
sie muss Bejrfall finden. 

Der philosophische und politische Standpunct auf den 
Sie sich stellen erlaubt Ihnen die Vorzüge und Gebrechen 
jener Zeiten und Menschen in gerechter Wage zu wägen, 
und Sie thun dies so geschickt, indem Sie fost nie 
ein Resultat ausspredien^ sondern die Urtheüe aus 
den Charakteren der handelnden Personen selbst ent- 
wickeln. 

Darf ein Buchhändler es wagen zu sagen, dass sein 
Auge auch Schwächen entdeckt hat, so fordert die Ge- 
wissenhaftigkeit doch zu bemerken, dass die Vorzüge und 
schönen Stellen dieselben weit und glänzend überwiegen. 

Wie grossartig ist Schubarts Fluch 1 

Dass die JG. Cottasche Buchhandlung diesen vor« 
trefflichen Artikel (denn das ist er und Ihr Buch wird 



Digrtized by Google 



— 91 



welche Wirkung sie ihm auch auf die Massen zu- 
trauten; dabei stellt er dem literarischen Ver- 
ständnis des Brief Schreibers ein (plinsendes Zeug« 

nis aus. Freilich klingt die Vorhersage, die Ver- 
leger würden sich um diesen Artikel schlagen, wie 
bitterer Hohn angesichts der trostlosen Schick- 
sale» die das Buch gehabt hat» sie war aber ohne 



grosses Glück machen, reissend gelesen werden) gleich- 
wohl nicht nimmt, liegt einzig in der persönlichen Stellung 
ihres Eigentümers. 

Die Verleger werden sich um denselben schlagen. 
Ich hoffe, sie werden Ihnen auch das Honorar zahlen, das 
Ihr Werk verdient, das mit f 50 pro Bogen nicht zu teuer 
erkauft ist. 

Ist es Ihnen möglich den Vorschuss früherer Jahre 
bey dieser Gelegenheit ganz oder theilweise zu tflgen» so 
soll es mich freuen. 

Am leichtesten geschiebt es» wenigstens zum Theil, 
wenn der Verleger» zu dessen Vortheil es auch dienen mag 
Ihnen vor dem Druck noch geststtet eine Reihe von Ab- 
schnitten im Moigenblatt geben» und damit auf das Verk 
•aufmerksam machen zu dflrfen. 

Wo Sie sich auch hinwenden» so wünsche ich, dass 
•Sie mich und die Journale der J. G. Cottaschen Buch- 
handlung nicht vei^essen und mir die Geneigtheit erhalten 
machten auf welche ich so viel grösseren Werth lege, als 
meine Hochachtung für sie durch Ihr Werk gestiegen Ist. 

In ausgezeichnetster Hochachtung 

Stgdt 9/XlI 42 Georg v. Cotta*«* 

Zur Steuer der Wahrheit soll nicht unerwähnt bleiben, 
tlass der letzte Rest des in dem Briefe beregten Vor- 
schusses, dessen Tilgung dem jungen mittellosen Autor 
sehr schwer fiel, am Ende von Cotta gelöscht worden ist. 



Digitized by Google 



^ ^ — 

Frage aufrichtig gemeint, und aufrichtig ist auch 
die Versicherung, dass das Nein nur aus persön- 
lichea Gründen erfolge* Kein Zweifel, es warea 
auch jetzt nur die alten Loyalitätsbedenken, die 
den Alieinherrscher des württembergischen Buch- 
handels bewogen, dieses Prachtstück definitiv 
fallen au lassen und dadurch — unabsichtlich — 
dem Buch und seineni Autor den Weg des Er- 
folges zu verschliessen. Denn durch den Um- 
stand, dass der „Heinrich Roller" nicht in die rich- 
tigen Hände kam, ist das Lebensschiff meines. 
Vaters» das so stolz vpm Stapel gegangen war», 
zuerst auf die Sandbank getrieben worden. 

Als nach sechs langen Jahren des Suchens 
und Harrens das Werk endlich unter dem Titel 
^Schillers Heimatjahre*' im Franckschen Verlag^ 
zu Stuttgart erschien und in drei Bänden vor ihm 
lag, da war es dem Verfasser wie ein Traum, denn 
er hatte nicht mehr gehofft, die Herausgabe zu 
erleben. 

Aber die Freude war von kurzer Dauer» denn 
als es ans Bezahlen ging, fehlten die Gdder, ea 

kam abermals zu einem nutzlosen Prozess, neben 
dem mein Vater noch eine Injurienklage führen 
musste, so eigentümlich war die geschäftliche Ver-- 
kehrsform des damaligen Inhabers der Firma. 
Vlare ja sogar unser sanftmütiger Onkel Emst, 
der sich bei diesem Herrn zu mündlicher Ver- 
ständigung einfand, beinahe in Tätlichkeiten ver-^ 
wickelt worden. Ob eine Einigung erzielt wurde,, 
wdss ich nicht, ich weiss nur, dass noch durch 



Digrtized by Google 



— 93 — 



Jahre in memes Vaters Briefen an Kaualer ym 

dem ausgebliebenen Honorar für die „Heimat- 
Jahre" die Rede ist. Nichts hatte dieses hoff- 
nungsreiche Werk ihm eingetragen als endlose 
Kümmemisse und die Aufregungen dreier Pro- 
zesse. Und von nun an waltete durch alle Zeit 
der Unstern über den „H^niatjahren" weiter. 
Unter den Werken meines Vaters trug gerade 
dieses, das in so eminentem Sinne unterhaltend 
ist» alle Garantien eines glänzenden Erfolges in 
sich; hätten ja sogar seine kleinen Schwächettt die 
der Zeit angehörten, ihm die Gunst der Zeit 
sichern müssen. Aber der kleine Stuttgarter 
Verlag besass gar nicht die Mittel» es über die 
Landesgrenze hinaus zu verbretten. In Württem- 
berg wurde es bewundert, gelesen — aber nicht 
gekauft; dreizehn Jahre sollten vergehen, bevor 
die erste Auüage erschöpft war. Hauffs Lichten- 
stdn» der mit seiner kindlichen Romantik heute 
nur noch als Jugendschrift im Ganzen geniessbar 
ist, sättigte damals auch den reiferen Leser und 
deckte die Bedürfnisse des bücherkaufenden Publi- 
kums vollauf. Es war ein Fall, wo das bekannte 
Sprichwort sich umkehrte: hier wurde das Gute 
des Besseren Feind, denn der Schwabe ist von 
Natur langsam und ausschliesslich, hat er einmal 
einen Dichter in sein Herz geschlossen, so besinnt 
er sich lange, ehe er einem andern dieselbe Gunst 
crweisst. Zudem, was den Hauffschen Roman 
so populär machte, waren nicht allein seine Vor- 
züge, die prächtigen Figuren der Ulmer Rats- 



Digitized by Google 



— 94 — 

herm ynd das lebendige Landschaftskolorit, mm»- 
dem in noch höherem Grad die sentimentale 

Liebesgeschichte; denn wo das Starke sich mit 
dem Süsslichen paart, da gibt es eine Mischimg, 
die jedesmal ihre Zeit eroberL 



Digrtized by Google 



Hermann Kurz um die Wende des 30. Jahres 



Beziehungen zu Mörike 

Was verstehende und anerkennende Freund- 
schaft von den Unbilden des Schicksals vergüten 
kann, das ist Hermann Kurz zu jener Zeit in rei- 
cher Fülle vergütet worden. Allen voran war 
ihm schon das Herz des Grössten zugeflogen: seit 
dem ersten schönen Buocher Sommer verband 
ihn innige Freundschaft mit Eduard Mörike, den 
der jüngere Dichter bereits im ^Wirtshaus 
gegenüber^' als den neuen Heros der Poene ge- 
feiert hatte, darin der ganzen Kritik weit vor- 
angehend; Mörikes Opemtext »,Die Regenbrü- 
der" wurde der Gnmd zur persönlichen An- 
näherung. Krankheit hatte den Verfasser ge- 
hindert, die Hebliche Dichtung zu vollenden, da 
ergänzte Hermann Kurz auf die Bitte des Kom- 
ponisten Ignaz Lachner die fehlenden letzten Sze- 
nen mit so geschickter Hand, dass niemand 
die Bruchstellen erkennen wird. So leicht und 
elastisch war damals seine Muse, dass er das 
fremde Werk, an das der Verfasser auch in der 
Rekonvaleszenz sich nicht zu rühren getraut^ in 
vier Stunden XU Ende brachte. Mörike war hoch- 
erfreut, und es begann der beglückendste brief- 
liche Austausch zwischen beiden. Der dreiand- 



Digitized by Google 



zwanzigjährige Hermann Kurz erhielt den 
Vertrauensauftrag, des älteren Freundes Ge- 
dichte für die erste Buchausgabe zu ordnen, 
unterbreitete dagegen jenem sein eigenes Bänd- 
chen zur Zensur und nahm jeden Wink des 
Gereifteren mit Freuden an. Denn auf diesem 
Boden herrschte Mörike mit seinem rein lytu 
sehen Instinkte unumschränkt. Hermann Kurz, 
dem schon damals reizende I^ieder gelungen 
mren und der später in seinem f rden ScUuss des 
»»Tristan^ eine so nüichtige lyrische Kraft aus- 
strömte, sollte doch sdne vollsten Loffieem auf 
einem andern Gebiete pflücken, wo er in der deut- 
schen Literatur keinen Meister über sich er- 
kannte. 

Abgesehen von dieser direkten Zensur vermag ich 

übrigens keinen Einfluss Mörikes auf die Lyrik 
meines Vaters wahrzunehmen, dafür war schon 
ihr Naturell zu verschieden. Auch wäre ein 
solcher chronolc^sch schwer zu erklären, da 
meines Vaters erstes und einziges Bändchen Ge- 
dichte früher erschien als die Gedichtsamm- 
lung Mörikes. Dagegen höre ich in Hermann 
Kurz* Jugendliedem zuweilen Töne heraus, die 
mich an Thomas Moore erinnem, mit dem er 
frühe vertraut war, wie denn auch von den 
englischen Dichtem, die er übersetzte, keiner 
so völlig restlos in seinen Versen aufgegangen ist 
wie dieser. Ich vermisse schmerzlich in der neuen 
Sanrmilung „Das Paradies und die Pcri", denn auf 
dieser Übersetzung liegt ein Glänzen und 



Digrtized by Google 



— «r — 

Flimmern der Sprache, das sie 2U einer vittlig 
eigenen Schöpfung macht« 

Mit Mörikes Freundschaft war dem jungen 

Dichter eine neue Welt aufgegangen. So nah die 
Jugendgenossen seinem Herzen standen, er haUe 
doch Saiten* auf denen sie nicht spielen konnten» 
deren Töne erst gegen Mörike laut wurden. Wer 
sehen wiU, was die zwei an Humor und Phantasie 
ebenbürtigen Freunde einander mit vollen Hän- 
den gaben, der lese den von J. Bachtel d heraus- 
gegebenen Kurz-Mörikebriefwechsel.^) Ich habe 
m diesen köstlichen von Geistes- und Lebensfülle 
sprudelnden Briefen noch einen kleinen Nachtrag 
2U liefern, der eine Lücke zwischen No. i8 und 
19 ausfüllen und verschiedene unverständliche 
Stellen, besonders das auf ein Petschaft meines 
Vaters bezügliche Wortspiel en vain und en vin 
erklären soll. Zum Verständnis der Situation ist 
es nötig zu wissen, dass Mörike und Hermann 
Kurz sich persönlich noch nicht kannten» als schon 
der wärmste Austausch zwischen ihnen im Gange 
war. Man nahm damals selbst eine so kleine 
Reise wie zwischen Cleversulzbach und Stuttgart 
umständlich; besonders der empfindsame Mörike 
scheute nicht nur einen gdstigen Luftwechsel» 
sondern auch jeden fremden sdüirferen Luftzug, 
der ihm in sein stilles Haus wehen konnte. Des- 
halb war die von beiden Teilen ersehnte Zu- 
sammenkunft wieder und wieder verschoben wor- 



*) Stuttgart, Kröner 1885. 
Isolde Kurz, Hermann Kurx. 



Digitized by Google 



- fS - 

dm. Unterdmen hatt« Hennaim Kttrs* jiliigmr 
Bruder Emst» der die B^eletenuig für deaDieliter 
des ,,Maler Nolten*' teilte, ihn auf einer Reise in 
seinem Pfarrhaus aufgesucht und war gleichfalls 
mit ihm in Zusammenhang geblieben. Mörike 
schrieb dem jungen Mann einen Brief nach Heil- 
bronn, wo dieser am Oberamtsgericht (Polisei- 
haus) als Revisionsassistent angestellt war» um 
ihm zu erzählen, wie ein Traum ihn kürzlich auf 
schersfaaf te Weise durch Vermittlung des Adres- 
saten mit sdnem Bruder Hermann persönlich be- 
kannt gemacht habe. Dieser Traum hat so ganz 
das schnurrig-märchenhafte, das Mörikes Phanta- 
sie eigen war, und ist dabei so konsequent durch- 
geführt, dass er, wie dieser selbst bemerkt, ebenso 
gut sme wache Erfindung sein könnte* Ich 
glaube daher, allen Verehrern Mörikes eine Freude 
zu machen, indem ich den Brief mit Auslassung 
dniger unwichtiger Notisen am Schluss wort- 
getreu hersetse. Er lautet: 

Mein Lieberl 

Ich war die ganze Zeit teils unpässlich teils 
mit so mancherlei Halbgeschäften behängt, daas 
ich nun freilich etwas spät, doch nichts desto 
weniger herzlich Ihnen mein Vergnügen dar- 
über ausspreche, dass Sie in hiesiger Nachbar- 
schaft bleiben* £s lässt sich in Heilbronn ge- 
wiss behaglich leben, und wenn die Leute auch 
sehr irdisch daselbst denlm, man kann doch 
bleiben, was man ist. 



Digitized by Google 



99 



Ich habe Ihaen vor einiger Zeit einen Be- 
.flich.abgestattet, wiewohl nur im Traum« Weil 
er SU den lustigen und sinnreichen gehört» kann 

ich nicht umhin ihn zu erzählen. 

Ich kam mit meinem Bruder Louis in Ihr 
Zimmer» statt Ihrer war aber Ihr Herr Bruder 
Hermann im Zimmer. Er kaimte mich nicht 
und ich ihn ebenso wenig. Er sagte endlich: 
Ich weiss nicht, wen ich die Ehre habe usw. 
worauf ich halb im Scherz antwortete» wir seien 
zwar hier auf dem Polizeihause» allein ich 
könnte ihn verdchem, wir seien ganz unver- 
dächtige Personen. Sofort sprach man gleich- 
gültige Dinge» vom Heilbronner Theater u. dgU 
und sass einander ziemUch steif gegenüber« Ein 
Hausknecht kam herein und sagte: es ist jetzt 
angespannt, meine Herrn! Da fiel mir ein, wir 
waren nicht sowohl auf der Polizei als vielmehr 
auf der Post; wir gingen alle drei hinaus und 
stiegen in die Diligence. Es sass bereits ein 
Herr darin» der eine Kappe mit sehr breitem 
Stülp und einen abgetragenen grauen Mantel 
trug. Die Unterhaltung war gering. Er drehte 
den Kopf hin und her» ganz leise schnüffelnd» 
als wäre was Unheimliches im Wagen» welches 
wohl gar von einem oder dem andern der Passa- 
giere ausgehen könnte. Man lächelte und hätte 
sich beinahe beleidigt finden können. Ich über- 
zeugte mich jedoch» dass dieser Ängstlichkeit 
etwas Krankhaftes und I<&synkrati8ches zu- 
grunde liegen müsse» imd fing an, im stillen ihn 

7* 



Dig'itized by Google 



— lOO — 

aufrichtig m bedauern. Auf einmal nalim er 

einen herzhaften Anlauf und sagte: Verzeihen 
Sie, meine Herrn, ich bin Korrektor und Fak- 
tor in der J. G. Cottaschen Offizin und habe 
diese einträgliche Stellung einer sonderbaren 
Eigenschaft zu danken, die mir zuweilen sehr 
beschwerlich fällt. Sobald sich irgendwo ein 
Druckfehler oder dergleichen in meiner Nähe 
befindet» so fühle ich es und bin dadurch aufs 
unangenehmste affiziert, bis ich ihn aufgedeckt 
und allenfalls beseitigt habe. Haben Sie daher 
doch die Güte» ein wenig bei sich nachzusehen, 
ob Sie nicht irgendein Erratum bei sich tragen. 
Sie werden mich dadurch äusserst erldchtem. 
Auf dieses zog jeder von ims aus der Tasche, 
was er etwa Gedrucktes haben mochte; er nahm 
die Papiere in die Hand, gab sie jedoch nach 
einem oberflächlichen Befühlen mit dem Be- 
dauern mrück, dass hierin der Fehler nicht ent- 
halten sei. Nun hatte ich zufällig ein Brief- 
kouvert Ihres Herrn Bruders mit hervorge- 
sogen. Sogleich gerieten die Finger des Kor- 
rektors in eine zitternde Bewegung» und ich 
gab ihm das Papier. Er drehte es um, besah 
das Siegel, und seine Gesichtszüge erheiterten 
sich plötzlich. Nim sehen Sie, meine Herrn, 
da stehen über dem Amor» der einen Vogel 
lockt» die Worte: Cest r^sister in ▼ain;^ es 



^ Die Inschrift des Petschafts hatte wirUich dieses 
Fehler. 



Digitized by Google 



wird jedoch wohl en v in heissen müssen. Wir 
wunderten uns alle sehr, am meisten aber schien 
Ihr Herr Bruder erstaunt, nicht sowohl über 

diese Entdeckung als vielmehr wie ich zu die- 
sem Briefe gekommen. Er fasste sich jedoch sehr 
schnell und fragte lächelnd den Korrektor» ob 
er nun gans befriedigt sei? Ich könnte es nicht 
sagen, versetzte jener, es ist noch was xurück. 
— Womit ich Ihnen vielleicht dienen kann, er- 
widerte Ihr Herr Bruder und reichte seinen 
Siegelring hin, dessen graviertes Stahlplätt- 
chen vollkommen jenem Briefpetschaft ent* 
sprach. Ich sah ihn an, er lachte, rief meinen 
Namen aus und wir umarmten uns aufs fröh- 
lichste. Zugleich warf der Korrektor seinen 
Mantel surück, und als ich ihm recht ins Ge- 
sicht sah, waren Sie's, der diese Komödie 
spielte, um mich und Ihren Hermann auf diese 
lustige Art einander zu entdecken. 

Ist das nicht ein musterhafter Traum? Man 
sollte meinen, er wäre wachend gemacht. 
Schicken Sie ihn gelegentlich Ihrem Herrn Bru- 
der. Ich habe ihm vor ein paar Tagen auch 
eine Siegelringsgeschichte aufgetischt, und er 
ynrd denken, ich gehe recht drauf aus, die 
Leute zu petschieren. 



Wir sind durch den Sdinee neuerdings wie- 
der so tief in den Januar surfickversetst, dass 
es immer noch nicht ttberseitig scheint, wenn 



— 103 — 

ich Ihnen den Glückwunich mm Neujahr jetit 
noch heimgebe. Bleiben Sie nur gesund. Das 

übrige kann man für lauter Segen nehmen. Viel 
Grüsse. 

Der Ihrige 

IL 

Klevers. d. i8. Feb* 1838. 

Man hat oft von einer Ähnlichkeit der beiden 
Dichterphjfsiognomien gesprochen; ich muss ge- 
stehen, dass ich nicht recht weiss, worin ich sie 
suchen soll, wenn es nicht in der blossen Stam- 
mesgenossenschaft ist. Mörikes Dichtung ent- 
springt dem Traumleben, nur d^s seine Visionen 
so deutlich smd wie Bilder der Wirldichkeit* Her- 
mann Kurz dagegen wurzelt im Leben, das ihm 
seine ewig-typischen Wahrheiten zukehrt. Dar- 
um sucht er auch, wie er einmal Mörike bekannte, 
„aus dem Wald des Märchens immer gleich wie- 
der euie Strasse ins Leben hinauszubrechen''. 
Denn dort lag seine wahre Kraft, wogegen bei 
Mörike der Schritt aus der Märchenwelt ins Le- 
ben fast immer einen Schritt vom Wege bedeu- 
tete. In Mörike herrscht das musikalische Ele- 
ment vor, in meinem Vater das plastische. Auch 
an Temperament sind sie so verschieden wie mög- 
lich. Mörike lebte ausschliesslich mit den In- 
stinkten; alles Untersuchen, Erörtern geht ihm 
gegen die Natur, kaum, dass er es Über sich gewin- 
nen kann, ein bestunmtes Urt«l auszusprechen, 
das dann freilich, weil rein aus dem Instinkte ge- 



Digrtized by Google 



flössen, unwiderstehlich ist. Auch den »»cngtn 
Roacnbanden der Dichtimg*' entfliegt er, wie er 
selbst einmal gest^t, nur ^su gern, um nur noch 

in ihrem reinen Dufte „als im Elemente** zu 
leben, — seine Faulheit nannte sein Freund und 
Altersgenosse Friedrich Vischer diesen Zug un-» 
umwunden, aber er gehörte zu ihm, man möchte 
den Dichter beileibe nicht anders haben. Diese 
nsive Freude 3m Dasein und So-sein, das Hin- 
spinnen der Tage in Traum und Märchen war 
von Hause aus nicht des feurigen Hermann Kurs 
Sache, den die Sicherhdt und Gegenwirtigkeit 
des Urteils und die Kampfbereitschaft kennzeich- 
nen. Freilich wurde er so gut wie jeder andre, 
der in Mörikes Bannkreis trat, von der Zauber- 
stphire magisch festgehalten, dass auch er »ch als 
Bewohner von Orplid fühlte oder in den Wäldern 
Buochs mit dem Sichern Mann und dem närri- 
schen Wispel Versteckens spielte. Ein betrieb- 
samer Schriftsteller von heute, der gewohnt ist, 
jedes Goldkömcfaen für die Offcntilichkeit auszu- 
miSnzen, müsste schaudern, wenn er sähe, wieviel 
Zeit und Laune die beiden Dichter an ein nur dem 
Eingeweihten verständliches Spiel und andres 
poetisches Privatgaudium rückten« Die Mittei- 
lung, dass Mörike auf das Grab von Schillers 
Mutter in Clcvcrsulzbach ein Steinkreuz mit 
eigenhändig gemeisselter Inschrift gesetzt hatte, 
beantwortete Hermann Kurz durch einen Schwank 
in „barfüssigen** Hexametern (diese Versart, die 
sich in der dramatischen Form sehr überraschend 



Digrtized by Göogle 



— 104 

amnimmt, war ihm durch Mörike neuerdings wie* 
der besonders lieb geworden). Darin wird die 
Wiederaufflndung dieses Kreuzes nach dreihun- * 

dert Jahren in einem Deutschen Reich unter 
hohenstaufischer Kaiserkrone und Mörikes künf- 
tige Herrlidikeit als des anerkannten rechtmässi- 
gen Erben Goethes dargestellt.^) Morike diente 
dem Freunde dagegen in müssigen Stunden mit 
scherzhaft-phantastischen Zeichnungen und mit 
drastischen, stark gepfefferten Gedichten, die 
ihres Inhalts wegen nicht mitteilbar sind, — er 
liebte nämlich unter Freunden das Derb-Natür- 
liche, das ihm ein notwendiges Gegengewicht 
gegen die traumhafte Zartheit seiner Poesie war. 
Im Gegensatz zu den leichten graziösen Bewe- 
gungen seiner ernsten Muse kleidete er diese 
possenhaften Urwüchsigkeiten gern in dn streng 
klassisches Gewand, so dass sie durch den Gegen- 
satz doppelt komisch wirken. Sie gehören, so 
wenig sie für die Öffentlichkeit taugen, zur in- 
timeren Physiognomie des Dichters mit. 

Zweimal kam ein Riss in diese schöne Freund- 
schaft: der erste, wobei man sich vorübergehend 
das ^Du* aufkündigte, war schnell geheilt, wie 
der Streit zweier Liebenden« und machte den 
Bund nur fester. Der zweite, der in die Mannes- 



Jakob Bachtold scheint diesen Schwank, dessen 
Kenntnis ich der Güte des Herrn Professors H. Fischer 
verdanke, nicht gekannt zu haben, sonst hätte er ihn ge- 
wiss dem von ihm herausgegebenen Kurz-Mörike-Brief- 
Wechsel als ergänzenden Bestandteil einverleibt. 



Digitized by Google 



— 105 — 

jähre fiel» entsprang aus dem Unterschied der 
Naturen und wurde su einer Kluft, die sich erst 
kurz vor dem Tode der beiden Dichter wieder 

schliessen sollte. In beiden Fällen war es der 
Jüngere, Aufbrausendere, der das Trennungswort 
sprach» aber beide Male hat Mörike sich brüder- 
lich zum gleichen Teil der Schuld bekannt. Wohl 
nicht mit Unrecht; vielleicht war im Freund- 
schaftsverkehr der milde Mörike sogar der 
Schwierigere von beiden. Liess er doch nach der 
schriftlichen Annäherung genau ein Jahr ver- 
streichen, bevor er den mit so warmer Liebe um- 
fassten Freund von Angesicht zu sehen sich ge- 
traute. Seine Reizbarkeit war so gross, dass er 
oft die Stimme seiner liebsten Freunde nicht er- 
tragen konnte« und an solchen Tagen tat man gut» 
ihm aus dem Wege zu bleiben. Auch konnte er 
sich plötzlich in unberechenbare Launen ver- 
steifen. Als der allgefeierte Ludwig Tieck im 
Anfang der vierziger Jahre zu Justinus Kemer 
nach Wdnsberg kam» hatte er sich eine Zusam- 
menkunft mit Mörike, den er sehr hochstellte, in 
dem gastlichen Hause ausgebeten; an diese sollte 
sich auch eine Begegnung des berühmten Gastes 
mit den jüngeren Dichtem Hermann Kurz und 
Rudolf Kausler (dem grossen Tieck-Verehrerl) 
knüpfen, die für die weltfremden schwäbischen 
Poeten von den wichtigsten Folgen sein konnte. 
In letzter Stunde weigerte sich Mörike zu kom- 
men, »weil ja Tieck auch zu ihm kommen könnte'% 
und alles fiel ins Wasser. Der gute Kemer war 



Diglized by Google 



9» verzweifelt über den Querstrich, den ihm der 
Freund madtte^ dass er in einem Briefe viermal 

schrieb: „Es ist entsetzlich l** Ganz unrecht hatte 
er nicht« wcna auch die Freunde über sein Pathos 
lachten. 

Der definitive Bruch fand bei einer politischen 
Debatte in dem stürmevollen Jahr Achtundvierzig 

statt und verkürzte beide für den Rest ihres Le- 
bens um den schönsten Verkehr. Darum hat 
Mörikes Sonne nicht über mdner Kindheit ge- 
schienen; kaum dass mein Vater» der in sinteren 
Jahren so schweigsam geworden war, seinen 
Namen nannte. Aber im Herzen dauerte die alte 
Liebe fort, und endlich» zwei Jahre vor seinem 
Tode» brach Hermann Kurz den Bann» indem er 
bei der Veröffentlichung von MÖrikes »»Mozart 
auf der Reise nach Prag" im „Deutschen Novel- 
lenschatz" dem Freund und Dichter seine unver- 
änderte Gesinnung öffentlich aussprach. Mörike 
kam ihm mit gleicher Herslichkdt entgegen» aber 
ein Wiedersehen war ihnen nicht mehr vergönnt. 

Im Winter nach meines Vaters Tod — ich trat 
eben ins zwanzigste Jahr — führte mich bei 
einem Besuch in Stuttgart der gute Onkel Emst 
zu Mörike. Die Persönlichkeit des Dichters, der 
sich den Siebzigen näherte» hatte etwas unend- 
lich Harmonisches, Zartes und zugleich Welt- 
fremdes, man sah ihm an, dass er nur in der länd- 
lichen Idylle, nicht in der modernen Welt des 
Dampfes heimisch war. Mich begrüsste er mit 
den überraschenden Worten, dass er jetzt zum 



Digrtized by Google 



— 107 — 

«ntenmal eine Atnerikanecin vor lidi aehe. 
Als Onk^ Emst ibm erldSrt^ wer Ich sc!» miter« 

drückte er eine tiefe Bewegung. Beim Abschied 
zog Mörike mich zur Seite und trug mir mit 
tiefem Emst seine Grüsse ^»Dorthin'' auf. Ich 
konnte sehen, wie die alte Zeit mächtig in ihm 
emporgequollen war. 

Nur einmal sollte ich noch das Glück haben» 
Mörike wiedersosehen, als er sich un Sommer 
1874 mit sdner Schwester Klärchen smn letzten 
Ii ale in seinem frühgeliebten Bebenhaosen auf- 
hielt, dessen romantische Lage und edler Kloster- 
bau es ihm angetan hatten. Ich besuchte ihn mit 
meiner Mutter von dem nahen Tübingen aus. Er 
war jenes Tages in der besten Laime, mitteilsam 
und voll schalkhaften Humors, der in vielfar- 
bigen Lichtern spielte. Von den drolligen Ge- 
schichten, die er über sich selbst zum besten 
gab» ist mir die Anekdote unvergesslich, wie 
•er einstmsls als Lehrer am Katharinenstift m 
Stuttgart seinen jugendlichen Zuhörerinnen über 
Goethes Iphigenie sprach imd gerade beim Vor- 
trag des Monologs »»Heraus in eure Schatten^'» 
vom Bedürfnis nach seinem Schnupftuch getrie- 
ben, rückwärts nach der Tasche griff, etwas 
Weisses, Langes herauszog und 2ur Nase führte, 
wobei ihm die ungewohnte Rauheit und Härte 
des Stoffes auffiel. Aber unbeirrt im Sprechen 
fortfahrend, wollte er das Tuch wieder in die 
Tasche stecken, doch nun schien es ihm wie ver- 
hext; er stopfte imd stopfte und konnte nicht da- 



Digitized by Google 



— xo8 — 

mit zu Bnde konunen, je mehr er binemschob». 
desto länger wurde es» bis er siüetzt den Kampf 
aufgab und das Tuch hängen Hess. Als er es 

nach einiger Zeit von neuem langte, kam es eben- 
so lang aus der Tasche wieder heraus und nun 
sah er — o Schrecken ! — , dass es eine Fenster- 
gardine war« was er bearbeitet hatte« »»Aber den- 
ken Sie sich,^' setste er am Schluss der Geschichte 
mit Befriedigung hinzu, „ein ganzer Saal voll 
mutwilliger junger Mädchen und auch nicht eine» 
die zu ihres Lehrers Nöten den Mund verzogt 
Sie Sassen sämtlich in hercMScfaer Fassung da» ala 
ob sie nichts gesehen hätten.** — In der Tat war 
die Verehrung der weiblichen Jugend für den ein- 
zigen Mann eine ausserordentliche. — Während 
wir so im Grünen auf Bänken und Stühlen um 
einen verwitterten Holztisch sassen» und ich mir 
die Physiognomie des Dichters beim Sprechen 
betrachtete» kam über mich die absurde, aber un- 
abweisliche Vorstellung, dass dieser grosse Kopf 
eines schwäbischen Landpfarrers mit den etwas 
schlaffen Zügen imd den stehenden grämlichen. 
Falten nur eine scherzhafte oder schützende Maske 
sei, imter der jeden Augenblick ein feiner jugend- 
licher Griechenkopf oder ein lächelnder Ariel zum. 
Vorschein kommen könnte. Die beiden alten Ge- 
schwister begleiteten uns auf dem Rückweg ein 
Stück weit durch Wiesen und Wald, Schwester Klär- 
chen» die auf dem schmalen Fussweg mit meiner 
Mutter vorangii^» erzählte ihr» während Mörike- 
und ich unter andern Gesprächen folgten, von ge- 



Digrtized by Google 



— X09 — 

heimnisvoUen jenseitigen Manifestationen, woran 
beide Geschwister glaubten; soll ja sogar bei 
Mörikes BrautwaU die Mystik eine Rolle gespielt 
haben. Indes mochte doch die Schwester diese 
Dinge buchstäblicher nehmen als der Dichter 
selbst, denn wenn Mörike geheimnisvolle Töne 
anschlug; so gingen de aus dem feierlichen leicht 
ins spielende über» und man fühlte, dass er selbst 
die Grenze nicht festhielt. 

Beim Abschied wurde mit den Geschwistern 
ein Wiedersehen verabredet, aber übers Jahr um 
die gleiche Zeit, als ich mit meiner Mutter und 
einer Freundin von einer mehrtägigen Schwarz- 
waldwanderung zurückkam, empfing uns auf der 
Schwelle des Hauses die Nachricht vom Tode 

Es war mir, als sd mit diesem Liebling seiner 

Jugend die Zeit meines Vaters nun erst ganz zu 
Grabe gegangen. 



Digrtized by Google 



Der .Dichterkreis um Alexander von 

Württemberg 

Ich eriiinere mich, einmal dnen aus den vier- 
ziger Jahren stammenden Stich gesehen zu haben, 
der den Dichterkreis des Grafen Alexander von 
Württemberg darstellt. Diese Gesellschaft, die 
sich in des Grafen reisendem Schläsachen See- 
racfa bei Esslingen zu versammeln pflegte, dar- 
unter Uhland, Schwab, Lenau, Justinus Kemer 
und viele andre, ist sitzend und stehend um den 
fürstlichen Freund gruppiert» der in seiner ritter- 
lichen Schönheit den Mittelpunkt einnimmt. In 
der rechten Ecke des Bildes, nur mit halbem 
Leibe sichtbar, steht Hermann Kurz, eine 
gebietende männliche Erscheinung mit klaren 
regelmässigen Zügen und dichtem Haar und 
Bart. Das Porträt entspricht, obwohl es ihn 
bedeutend jünger darstellt, ziemlich genau mei- 
nen eigenen frühesten Erinnerungen an meinen 
Vater. Nur dass in jenen späteren Jahren die 
Züge und die ganse Erscheinung noch bestimmter 
und imposanter geworden waren. Ich glaube, 
dass er zu jenen Gestalten gehörte, die sich erst 
bei völlig erlangter geistiger Reife zu harmoni- 
scher körperlicher Schönheit entwickeln. Aus 
seinem dritten Lebensjahre stammt ein in der 



Digitized by Google 



— tu — 

Familie bewahrtes Bild, das sehr ähnlich gewesen 
sein muss, weil mehrere Familienglieder aus den 
Jüngern Generadoiicii eine Zeitlang auffallend 
diesem Bilde glichen: ein rundes trotziges Kin- 
dergesicht mit grossen blauen Augen, das bräun- 
liche Haar in die Stirn gekämmt* Eine Zeich- 
nung aus den Jünglingsjahren entspricht den von 
ihm selbst und andern entworfenen Schilderungen 
seines noch unreifen Aussem aus jener Zeit» Srst 
in den Mannes jähren wurde er ganz er selbst, 
wozu der späte, aber alsdann reiche und regel- 
mässige Bartwuchs viel bettrug* Die Gestalt war 
hoch» die Brust breit und mächtig, der etwas 
kurze Hals gedrungen. Die frühere Schwächlich- 
keit hatten die Jahre und körperliche Übungen 
überwunden. Bekannt von je waren die unge- 
wöhnlich glänzenden Augen; Hörike hatte sie 
besungen» noch ehe der mündliche Austausch der 
beiden Dichter begann; sie behielten ihren Glanz 
und ihr tiefes Blau auch im nahenden Alter. 

Jener literarische Stuttgarter Zirkel stand mit 
den gdbildetsten Elementen der aristokratischen 
Gesellschaft in nahem Zusammenhang, wodurch 
die in Württemberg so weit verbreitete Stickluft 
des Kleinbürgertums hinausgetrieben wiurde und 
grösseren» freieren Lebensauffassungen Platz 
machte« In solcher Atmosphäre, wo auch die 
aristokratische Weiblichkeit eine Rolle spielte, 
konnte sich der Dichter behagen, der mit dem ge- 
winnenden Aussem und seinem jungen Ruhm da- 
mals eine von den Damen sehr bevorzugte £r- 



Digitized by Göogle 



— zza — 

schemung war. Er ging in Hinsicht auf die 
Frauen seinerzeit weit voran, indem er die Gleich- 
berechtigtu^: der Geschlechter vertrat. Erfreute 
sich immer, wenn er Frauen mit geistigem Streben 
traf, statt wie es damals noch üblich war, hoch- 
mütig auf sie herabzusehen; seine ritterliche Zu- 
neigung für das ganze Geschlecht liess ihn sogst 
leicht dnselne Individuen desselben überschätsen. 
Eine am weiblichen Geschlecht begangene Roheit 
war ihm etwas unfassbar Abscheuliches; er ging 
in seiner chevaleresken Rücksicht soweit, dass er 
sich nicht einmal von einem wäblichen Dienst- 
boten bedienen lassen wollte. Sinter als Ehe- 
mann konnte er sich nicht entschliessen, von der 
Gattin die kleinste Dienstleistung zu fordern. Er 
pflegte zu sagen: »»Bitte» gib mir eine Nadel, denn 
ich habe einen Knopf anzunähen,'' und zur Diene- 
rin: „Haben Sie die Güte, mir Holz zu bringen, 
damit ich einheizen kann." — Die Frauen aller 
Stände haben das auch stets mit feinem Instinkt 
erkannt» denn sie pflegten seine zarte Aufmerk- 
samkeit mit sch^rmerischer Verehrung zu er- 
widern. — Wenn er im Hause des Grafen Alexan- 
der mit seinen Eroberungen unter der adligen 
Damenwelt geneckt wurde» so wies er es immer 
weit von sich; dann sagte die schöne Gräfin 
lächelnd: „Wo Sie sich am meisten wehren« darf 
man sicher sein, dass etwas dahinter steckt." Nie 
liess er merken, dass er gefiel, und das Prahlen 
anderer mit Liebeserfolgen setzte ihn in solche 
Empörung» dass er» wo es auch vorfiel, äugen- 



Digitized by Google 



— 113 — 

blicklich dagegen einschritt. Eitelkeit war ihm 
überhaupt in jeder Hinsicht fremd; das Gefühl 
seines Wertes gab ihm in guten wie in widrigen 
TTmständen jene feinfühlige und stolze Zurück- 
haltung, die unter dem falschen Prädikat 
„Bescheidenheit" ihm nachgerühmt zu werden 
pflegte. Nur banausischem Geschäftsgeist gegen- 
über, der künstlerische Erzeugnisse nach ihrem 
Erfolg bdi der Masse bewertet, fiel er gelegentlich 
in einen hohen und gereizten Ton. — Rasch und 
freudig in der Anerkennung der andern, hilfreich 
und wohlwollend ganz besonders gegen jüngere 
Talente, hatte er vor allem gar nichts von der 
so verbrateten Eigenheit desNergelns an sich; wo 
er nicht unbedingt loben konnte, da schwieg er 
lieber. 

Für einen genauen Kenner der Zeit müsste 
es eine lockende und lohnende Aufgabe sein» 

die Mitglieder jener schwäbischen Tafelrunde 
in ihrem gegenseitigen Verkehr zu zeichnen; 
meine Mittel reichen hiefür nicht aus. Auch die 
Beziehungen zwischen Hermann Kurz und den 
übrigen kenne ich nur bruchstückweise. Des 
Verhältnisses zu Uhland und Schwab ist schon 
gedacht worden; den Briefwechsel mit letzterem 
hat Professor Fischer im „Staatsanzeiger für 
Württemberg** veröffentlicht. Mit Lenau sch^ 
die Berührung eine oberflächliche gebheben zu 
sein, dagegen stand mein Vater eine Zeitlang zu 
Justinus Keraer auf sehr freundschaftlichem 
Fusse. Das gastliche Kemerhaus in Weinsberg 

laolde Kurs, Bcnwum Rats. 8 



Digrtized by Google 



— XI4 — 

befaerberj^te ihn des öfteren. Aber trots einem 
g«äieimen mystischen Zuge^ der wohl allen Poeten 
gemeinsam Ist, waren es weder die Poltergeister 

von Weinsberg noch die Seherin von Prcvorst, 
vieUeicht war es nicht einmal der joviale Kemer 
selbst» was den jungen Dichter so mächtig nach 
dem Fuss der Weibertreu 20g» sondern Kemers 
jüngere Tochter Emma, der die in den „Heimat- 
jahren'' stehenden Strophen: „Der Mond ist hell 
und kalt die Nacht'* gewidmet sein sollen. Da- 
gegen ist das in die neue Sammlung aufgenom- 
mene Gedicht: »Jch habe dich im Traum gesehen^ 
für deren ältere Schwester Marie gedichtet« der 
er gleichfalls huldigte. 

Die Gewohnheit, spät aufzustehen, die der bei 
Nacht arbeitende Dichter sein Leben lang bei- 
behielt» veranlasste Kemer, in meines Vaters Ge- 
dichtsammlung von 1836 unter das tief elegische 
Gedicht „Mein Bette'* im selben Versmass die 
neckische Strophe zu schreiben: 

Veil du der erste Dichter, der gesungen 

Dem Bette hst eis warmes Liebeslied, 

So hllt zam Dank, wenn Ungst der Mittag glüht. 

Das Bett dich oft noch warm und lieb umschlungen. 

Das Exemplar, worin dieser Zusatz steht, er« 
hidt mein Bruder Erwin im Herbste 1874 von 

Mörike zum Geschenk. 

An das Kerner haus und das gastliche Turm- 
zimmer in Weinsberg, wo er logierte, samt dem 
dort spukenden mönchischen Poltergdst, der sich 

ihm als eine grosse Eule entlarvte — was freilich 



Digrtized by Google 



— 115 — 

Justimu nicht gdt«n liess — , pflegte mem Vater» 
der flcmst selten von aemer Jugend sprach» sich 
immer gern su erinnern. In einem seiner 
Taschenbücher steht ein noch ungednicktcs 
Sonett an Justinus Kerner zu seinem Geburtstag» 
durch dessen scherzhaften Ton die gleiche ver- 
haltene Wehmut zittert wie durch das den. 
„Heimat jähren'* eingefügte Gedicht an die 
Tochter: 

Ein Geist, nicht eben gut, doch auch nicht böse, 
Schwebt Nachts wohl an den hellen Fenstern hin» 
Wo wohnt die Milde, wo ein frommer Sinn? 
Er seufzt und harrt, ob niemand ihn erldse. 

So sass ich jüngst, und machte kein Getftse^ 
Auf deiner Galerie — vie traulich drin 
Beim Kerzenschein! Da fühlt ich, was ich bin: 
Ein anner Geist in seiner ganzen Blasse. 

Was darf ein solcher dir zu geben glauben? 

Du bist gesegnet, bist unnahbar reich. 

Sieh nur nicht scheel, als wollt ich dir was rauben. 

Kann mein Gebet den hohen Himmel meistern? 
Ich weiss es nicht. Sein Friede sei mit euch! 
Und ich? Gott helfe allen armen Geistern* 

Die treuherzig schlaue» woiüwollende Art des 
alten Justinus hatte einen mildernden Einfluss 
auf mdnes Vaters brausende JuRendkraft, bis 

später die politischen Strömungen und Gegen- 
strömungen, in denen Justinus eine schwankende 
Haltimg zeigte, auch in dieses Freundscliafts- 
Verhältnis zerreissend eingriffen. 

Den liebenswürdigen fürstlichen Dichter, der 
zwar nicht der poetische, aber der gesellschaft- 

8* 



Digitized by Google 



— ii6 — 

liebe Mittelpunkt des Kreises war, kenne ich 
mehr aus den Schilderungen meiner Mutter, mit 
deren Familie er gleichfalls verkehrte. Er ge- 
hörte zu jenen Dichtern, bei welchen der persön- 
liche Zauber für die Zeitgenossen eine mangel- 
hafte Kunst ergänzt* Seine »Lieder des Sturms'% 
einst hoch gefeiert» sind heute fast verschollen, 
während das Andenken an die Schönheit und ge- 
winnende Persönlichkeit des Verfassers noch in 
der Überlieferung fortlebt. Vor langen Jahren wurde 
mir einmal auf dem Schlösschen Lichtenstein sein 
Portrat gezeigt, dessen hrunette, melancholische 
Schönheit mir in der Erinnerung haftet. Graf 
Alexander kam häufig von seinem Seerach in das 
nahe Oberesslingen za mdnem Grossvater» dem 
alten Freiherm von Brunnow» geritten, mit dem 
ihn eine gemeinsame Liebhaberei eigentümlicher 
Art verband. Sie waren beide geschickte Drechs- 
ler und pflegten sich mit Stolz gegenseitig ihre 
Arbeiten vorzuweisen. Der Graf brachte wohl 
auch die seinigen mit und schenkte sie mdner 
Mutter, die damals im Backfischalter stand und 
den schönen fürstlichen Dichter schwärmerisch 
verehrte. Sie war selig, wenn sie ihren Vater 
nach Seerach begleiten durfte und dort von dem 
Grafen, dem die Bewunderung der Ffinfzehnjäh- 
rigen schmeichelte, in Haus und Garten herum- 
geführt wurde. Seine an die Lenausche Muse 
sich anlehnenden Dichtungen» die damals vielfach 
mit dem Vorbild für ebenbürtig gehalten wurden, 
trug sie immer mit sich. Um jene Zeit ahnte sie 



Digitized by Google 



— 117 — 



noch nicht» dass in demadben Seerach derjenige 
aus» und einging, dem später ihr gances Leben 

gehören sollte. 

In einem von meines Vaters Heftchen finde 

ich noch ein ungedrucktea Gedicht: „Gebet bei 

emer Flasche Wein»*' das dem Dichter der 

Sturmlieder gewi dm et ist und als Zeuge dner 

heitern Geselligkeit hier stehen mag: 

Von meiner Grotte traulicli still umgeben, 
Hei] angefacht Ton deines Trankes Gluten, 
Ruf ich zu dir — und schftme mich des Guten — 
Der da die Seelen schufest und die Reben. 

Pör die Verstfinnten mögen andre beben. 
Mir muss das Herz um jene Schiffe bluten» 
Die draussen auf den grenzenlosen Fluten 
Windstill, vermodernd, Plank' um Planke schweben. 

Vor allem bet' ich für den Alexander, 
Er ist ein edles Scblif mit starlcen Masten, 
Zwar von dem Sturm in etwas sngegrilfen« 

Ja, gchfs nicht anders, schick ihm einen Blander,^) 
Der ihn heraussprengt aus dem Wasserkasten.^ 
Barmhen'ger Gott, sei mit den armen Schiffen. 

Das Sonett trägt keine Jahressahl, es dürfte 
aher, nach den Daten der danehen stehenden Ge- 
dichte zu schiiessen, aus dem Ende des Jahres 
184X stammen. Im Juli 1844 starb der edle Fürst, 
der schon längere Zeit gekränkelt hatte, noch 
keine vollen dreiundvierzig Jahre alt. Am la« Sep- 

0 Brander zuweilen ron meinem Vater gebraucht 

f&r Rausch. 

Die Wasserheilanstalt zu Kennenburg, wo der Graf 
sich damals zur Kur aufhielt. 



Digitized by G<Ä)gIe 



— 1x8 — 

tember schrieb eine dem Verstorbenen befreim* 
dete Dame an Hermann Kurs» der sich eben xar 

Überaiedlung nach Karlsruhe rüstete: 

„Sie haben wie ich einen Freund verloren an dem 

Grafen Alexander. Kurze Zeit vor seinem Tode 
war ich einen ganzen Tag bei ihm in Seerach, und 
wir waren in der Erinnerung unsrer frohen 
Jugendtage vergnügt. Da kamen wir auch auf 
Sie zu sprechen, ich sagte : der Hermann Kurz ist 
mir lieber als alle die andern, die so viel und so 
schön sprechen. — Sie haben auch ganz recht» 
liebe Ida» antwortete der Graf, er ist auch mehr 
wert alsdiealle miteinander; er ist dn ganser 
Kerl, ein Mann^ an dem etwas ist — es tut nur 
leid, das8 er mich nicht besucht. — Welch schönes 
Dasein wurde in dem Geschiedenen zerstört! Und 
wahrend wir seinen Tod beklagen» können wir 
kaimi sein Leben wünschen. 

„Alles Gute begleite Sie nach Karlsruhe I Ich 
hoffe, Sie sind dem Vaterlande nicht verloren. 

Ida.*' 

In einer Nachschrift heisst es: „Sie wissen 

vielleicht gar nicht, wer die Ida ist, das ist auch 
nicht einmal nötig. Ein Roman von d*Arlincourt 
endet mit den Worten qu'ü y a des Ida pari" 
tout."*) 

•) Die Persönlichkeit der liebenswürdigen Schreiberin 
ist nicht vergessen; es war Frau Ida v. Mittnacht, die 
Mutter des nachmaligen württembergischen Staatsministers, 
die nebst den Damen Pappenheim und Sukkow zu dem 
nahen Freundeskreis des Fürsten geiiöne. 



Digitized by Google 



So lebte sich's unter der schwäbischen Dich- 
tergilde in der geriihsamen vormärzlichen Zeit. 
Bei dem Mangel eines grossen allgemeinesi Hin- 
tergrundes nahmen» wie wir gesehen haben, per- 
sönliche Scherze, Schnurren, kleine Anzüglich- 
keiten einen ungebührlichen Raiun ein, wie denn 
das schwäbische Leben von dazumal überhaupt 
nur ein erweitertes Familienleben war« Das sollte 
in den nächsten Jahren alles anders werden. 



Dig'itized by Google 



1 



Schwarz-rot-gold 

Alle Ausdchten des Dichters auf eine ge- 

sicherte Existenz innerhalb der schwarz-roten 
Grenzpfähle hatten sich nunmehr zerschlagen. Da 
ward er endlich des Darbens und Harrens satt» 
und im Herbst 1844 sagte der treueste Sohn des 
Schwabenlandes seiner stiefmütterlichen Hdmat 
Valet, einem Ruf nach Karlsruhe folgend. Ob- 
gleich mit der Redaktion eines tendenzlosen Fami- 
lienblattes beschäftigt, geriet er dort in die schon 
hochgehenden Wellen des badischen Liberalis* 
mus, dessen Führer Hecker, Mathy, Bassermann 
ihm persönlich nahetraten. Sein demokratischer 
Landsmann Ludwig Pfau arbeitete Pult an Pult 
mit ihm im gleichen Redaktionslokal. Die poli- 
tisch bewegte, schon mit allen Keimen der Revo- 
lution geschwängerte Atmosphäre war der poeti- 
schen Stimmung dort nicht günstig. Im gleichen 
Jahre 1844 erschien noch seine ,Tri8tan'-Uber- 
setzung mit der gewaltigen L]rrik des frei hinzu- 
gedichteten Schlusses, dann sahen ihn für lange 
die Musen nur in seltenen Pausen wieder. Ohne- 
hin Hessen ihm die Redaktiongeschäfte fast nur 
für kürzere f euilletonistische Arbeiten Zeit. Eine 
derselben galt Hebels Vreneli, mit der ihn em Zu- 
fall zusammengeführt hatte, und er war so glück- 



Digitized by Google 



— Zfll — 

lieh, die hochbetagte Frau» die in tiefster Armut 
lebten durch seiiie Feder aus dem Dunkel m 
liehen und in eine bessere Lage za bringen. In 
die Karlsruher Zeit fällt auch eine Wallfahrt nach 
Sesenheim* wo noch ein alter blinder Mann am 
Leben war, der als Knabe dem jungen Goethe und 
seiner Geliebten das Frühstück nach Friederiken»* 
ruh trug. Das Plätschen selbst war in einen 
Kartoffelacker verwandelt. Der Führer erinnerte 
sich deutlich des jungen Goethe, wie er atif An- 
rufen mit. seinem schnellen: ^Was is?" herum- 
gefahren sei; die Biädchen dagegen hätten dsäs- 
sisch gesprochen. Das alte Pfarrhaus war damals 
schon umgebaut, der Garten aber im ganzen noch 
derselbe, die Laube noch am alten Orte. Auch 
der edite alte Jasmin« unter dem Goethe sein 
Märchen erzählt, blühte noch» von der Laube an 
die Gartenmauer verpflanzt. 

Drei Jahre brachte Hermann Kurz in der badi- 
schen Hauptstadt 2U. Durch zufällige Abwesend 
heit entging er dort einem grossen Theaterbrand» 
der viele Opfer forderte. Persdnlich mochte es 
ihm in den grösseren, freieren Verhältnissen wohl 
behagen, allein auf die Länge konnte er sich doch 
die poetische Ader nicht unterbinden lassen. Und 
wenn er es dne Zeitlang für unmöglich hielt» aus 
dieser Atmosphäre jemals wieder, wie er sich 
ausdrückte, in das „Drucksen und Mucksen, das 
Ächzen und Krächzen und die fuchsfalsche Ge- 
mütlichkeit" seiner engeren Heimat surttckzu* 
kehren, so duschte er sich gründlich, denn seine 



Digrtized by Google 



— zsa — 

poetische Mission war an den Heimatboden ge- 
knüpft und miisste Um imauswetchlich dahin 
mrackführen« Noch war er ja der Welt sein 
grösstes Werk schuldig, den „Sonnenwirt'S m 
dem ihm schon, während er die „Heimat jähre** 
schrieb, der Plan aufgestiegen war. Einige Kapitel 
waren auch schon fertig und sogar gedruckt, und 
die Vollendung brannte ihm in der Seele. So gab 
er 1847 die gesicherte Existenz in Karlsruhe wie- 
der auf und kam nach der Heimat, um die Fäden 
des wSonnenwirts'' weiterzuspinnen. 

Aber als die WeUe der Februarrevolution 
auch in Württemberg anrauschte, da geschah 
etwas Seltsames, aus der Zeitenferne schwer Ver- 
ständliches: der Dichter überliess seinen tragi- 
schen Lieblingssohn bis auf weiteres abermals 
dem Limbo der Ungeborenen und sprang kopfüber 
in die Wogen der Politik. Die völlige Umge- 
staltung einer Welt, in der den Besten kaum die 
LiUft 2um Atmen gegönnt war, schien ihm jetzt 
eine noch nähere und dringendere Aufgabe, als 
poetische Gebilde ins Leben zu rufen. 

* 

Schwarz-rot-goldne Banner wallen 
Nach der alten Stadt am Main. 
Wo das Reich in Staub zerfallen, 
SoU es neu geboren sein. 

Hermann Kurz. 

Der Lebensabschnitt» über den ich dieses 
Motto zu setzen habe, würde euie andre Feder 



Dig'itized by Google 



X23 



m semer DarsteUims fordern. Die Schreiberiii 
•dieses, die von Kindesbeinen an mit einer Idioiqfn' 
Inraaie gegen das Jahr Achtundvierzig behaftet 

war, kann die Stimmung jener Tage zwar be- 
greifen» aber nicht nachfühlend wieder hervor- 
bringen; auf tlurer Palette sind nicht die richtigen 
Parben für dieses Bild. Um den Idealen von Acht- 
undvierzig gerecht zu werden, darf man sie jeden- 
falls nicht nach den Versteinerungen beurteilen, 
in denen ich sie kennen lernte. Ich glaube es den 
Uberlebenden gern, wenn sie sagen, wer jene 
Zeit nicht erlebt habe, könne sie nicht verstehen. 
"Es schien damals, als ob ein neuer Weltenmorgen 
angebrochen sei, etwas festlich-friUüingshaftes 
.giI^^ durch die Lüfte, alle Zöpfe fielen mit einem 
Schlag,^) es gab auf einmal keine Bureaukratie 
und keine gesellschaftlichen Vorurteile, keine 
Schranken des geselligen Verkehrs zwischen den 
Geschlechtem mehr. Als die Grundrechte 
verkündigt wurden« da umarmten sich die Men- 
4Khen auf den Strassen, und auch die korrekte- 
sten Staatsbürger hielten eine Rückkehr zum 
Alten für unmöglich. Dass die bedeutendsten 
Männer» die edelsten Talente sich alle zumal in 
den Sturm der Zeit stürzten» das gab der Be- 
wegung erst ihre Wdhe. Kein Wunder, dass 
•dieser neue Geist» der auch die zahmsten Ge- 

^) Dem grossen Rassiermesser fiel auch ein un- 
schuldiges Opfer, das historische t in unsrem Namen, das 
Hermann Kurz, der sonst so pietätvolle Hüter der FamiUen- 
traditionen, jetzt als veralteten Schnörkel ausmerzte« 



Digitized by Google 



— 124 — 

mttter erfastt hatl^ den Dichter wie mit Natur« 
gewalt hinriaaiy der von dem grossen weltge- 
schichtlichen Hauche die Kulissen des schwäbi- 
schen Kleinwesens, das ihn erstickt hatte, ein- 
fallen und im Hintergrund ein mächtiges» brüder- 
lich geeintes Alldeutscbland aufsteigen sah: 

„Wo sich Brüder feindlich grollen^ 
Gilt dein Wort im Friedenssaal, 
Wo die Würfel blutig rollen, 
Führt Entscheidung deinen Stahl, 
Wo die kecksten Kiele schwanken 
In dem fernsten Wogenbraus, 
Halten deine Eichenplanken, 
Deine Eichenherzen aus.^ 

Es vrar im März 1848, dass er diese propheti- 
schen Strophen an das Vaterland sang, gan« als 

ob er das Deutsche Reich in seinem Siegesglanze 
und seiner Friedensmacht, die deutsche Flotte mit 
Welthandel und Kolonialbesitz schon mit Augen 
geschaut hätte. Wäre es doch bei solcher Dich- 
ter- und Prophetenpolitik geblieben! Nun aber 
wollte es der Dämon seines Lebens, dass er sich 
von seinem eigenen ritterlichen Gemüt und von 
drängenden Freunden im Augenblick der Gefahr 
zur Teilnahme an der praktischen politischen 
Arbeit treiben Hess. Im April 1848 trat er in die 
Redaktion des oppositionellen Volksblattes »Der 
Beobachter*' dn* 

So sehr dieser Entschluss ihm zum Unheil 
gereichte und auch noch auf das Leben seiner 
erst später geborenen Kinder verhängnisvoll nach- 



Digitized by Google 



— las 



wirkte, muss ich doch den oft erhobenen Vor- 
wurf zurückweisen, als ob der Dichter damit sei- 
ner innersten Poetennatur untreu geworden wäre. 
Mein Vater war kdn weltfremdes, rein lyrisches 
jjvasdei" wie sein Freund Mörike, ich habe es schon 
an andrer Stelle gesagt; er war mit allen seinen 
Organen dem Leben zugewendet; wie Schiller 
lagen ihm die sozialen, die politischen, die philo- 
sophischen Tendenzen seiner Zeit, unbeschadet 
der Poesie, im Blute. Wie sollte er der stärksten 
Lebensbetätigung seiner Nation, jener mächtigen 
revolutionären Strömung, die allem Zwan^ unter 
dem er mit geschmachtet hatte, dn Ende zu 
machen verhiess, gleichgültig gegenüberstehen? 
Dem Zwiespalt zwischen den Rechten seiner rei- 
nen, hohen Kunst und dem, was er als Mann sd- 
ner Überzeugung schuldig zu sein glaubte, hat er 
in seiner klangvollen Übersetzung des Victor 
Hugoschen Gedichtes „Der Dichter im Sturm der 
Zeit"^) Worte gegeben. Man hört es diesen mit 
SO unmittelbarem Pathos hervorbrechenden Stro- 
phen wohl an, dass dieselbe Stimmen, denen er 
die sonorsten Laute seiner Muttersprache lieh, 
auch in seiner eigenen Brust geklungen haben 
müssen. Nur dass er für sich selber den Streit 
nicht ganz so entschied wie der französische Dich- 
ter: ihm war seine Laer doch zu heilig, um me 
„als Schwert" zu erheben, er legte sie im Heilig- 
tum der Kunst nieder bis auf bessere Tage und 



>) Band I, S. 48. 



Digitized by Google 



— za6 — 

ging als schlichter Khegsmann in den Kampf 
der Zeit. 

Es war dne gefährdete Stellung, die er über- 
nahm; er übernahm sie nur, weil sie gefährdet 
war, weil sich nicht leicht ein anderer dafür fand* 
Als im folgenden Jahr sein Mitredakteur Adolf 
iWetsaer nach der Schwei« entfloh, harrte tt 
allein auf dem verlorenen Posten aus mit jener 
hartnäckigen Grossmut, die er immer übte und 
die ihm nie gedankt ward. Neben den politischen 
Ldtartikehi, die ihm Verfolgung und Pestungs- 
haft zuzogen, neben den Kammerberichten, die 
seine edelste Zeit aufzehrten, schrieb er die 
schön wissenschaftlichen Feuilletons und fütterte 
die gefrässige Tagespresse mit Früchten edelster 
Kultur und höchster philosophischer Erkennt- 
nisse, die sich gldehwohl mit glücklichem Takte 
dem Gesichtskreis des gemeinen Mannes an- 
passen« Diese populären Aufsätze kann man 
noch heute mit Genuss lesen, ja sie machen jene 
Jahrgänge des kleinen wttrttembergischen Tage- 
blättchens zu einer Fundgrube gehaltvoller Ge- 
danken und Mitteilungen. Wahrlich, zu kostbare 
Gaben für den beschränkten Leserkreis, der nur 
einen geringen Bruchteil Gebildeter aählte. Aber 
gerade hier war mein Vater in seinem demente, 
der es als höchsten Dichterberuf empfand, der 
Erwecker und geistige Erzieher seines Volkes zu 
sein. Lag doch für ihn Deutschlands edelster 
Ruhm trotz der geahnten Weltmacht immer in 
sein« geistigen Grösse, in den Opfern» die es — 



Digitized by Google 



— xa7 — 

bis zu völliger materieller Entkräftung — für die 
Freiheit des Gedankens gebracht hatte« 

„Lauschend nach des Geistes Sonnen 
Sankst du hin zum Sterben wund» 
Aber Flut vom Lebensbronnen 
Quoll dir aus des Todes Schlund. 
Keine Freiheit ohne diese. 
Bleiche Welthefreierin, 
Deine kühne Wahrheit giesse 
Ober aUe Völker hin/' 

In diesen Strophen aus dem mehrlach zitierten 
MVaterlandslied*' ist seine Überzeugung von 

Deutschlands grösster historischer Mission und 
zugleich .des Dichters wahres politisches Pro- 
gramm enthalten. 

JSm adligerer Demokrat, em vornehmer den* 
kender Freund des gemeinen Mannes, ein mit 
stolzerer Seele sich den demütigsten Bürgerpflich- 
ten opfernder Weltbürger hat niemals an einem 
Redaktionstisch gesessen und fih: den Tagesbe- 
darf sdner Parteigenossen sub specie aetemi 
Sorge getragen." In diesen Worten Paul Heyses 
über meinen Vater ist die ganze politische Stel- 
lung und Wirksamkeit des Dichters zusanunen- 
gefasst; es liegt darin auch die geheime Ursache 
angedeutet, weshalb er innerhalb seiner Partei, 
der er das ungeheure Opfer brachte, dennoch als 
Mensch und Dichter unverstanden und einsam 
blieb, weshalb er niemals die begeisterte Pietät 
fand, die s. B. seinem Kampfgenossen Ludwig 
Pfau in so rttchem Masse suteil ward« Ein 



DigitizeQ by Google 



adliger Demokrat, das war's, was ihn von der 
Mehrzahl der Parteimitglieder heimlich trennte: 
bei aller Treue und Opf erwiUigkeit witterte man 
doch in ihm den ästhetischen Aristokraten. 

Ein echter Dichter, wie sehr er seiner Natur 
Gewalt antun möge, kann innerlich nie ein Partei- 
mann sein. Da er gezwungen ist, dne Sache von 
allen Seiten zu sehen« so kann er das dnseitige 
Parteidogma nicht annehmen lind sich nicht emst- 
lich der Parteidisziplin unterwerfen. Das fühlen 
ihm die Parteimitglieder an, deshalb wird ihr 
Vertrauen immer nur ein halbes sein. Wenn er 
gar als verf emerter Sohn einer höheren Kultur die 
Sache der Enterbten zu der seinigen macht, so 
können die schmerzhaftesten Reibungen nicht 
ausbleiben, denn die Kluft zwischen ihm und 
denen» für die er das Schwert gezogen hat, ist 
unausfüllhar* Zu der schwäbischen Volkspartei 
gehörte natürlich, wie es in revolutionären Zeiten 
immer der Fall ist, ein grosser, ja der grösste 
Teil vom geistigen Adel des Landes; aber die 
banausischen Elemente waren doch in der Mehr- 
zahl, und mit ihnen musste eine aktive politische 
Rolle den feingearteten Dichter fort und fort in 
Konflikt bringen. Und auch unter den Gebildeten 
waren die künstlerischen Instinkte nicht durchweg 
sostarkentwickdt, umsieganzerkennen zu lassen, 
wieviel der Dichter sich's kosten Hess, an ihrer 
Seite zu kämpfen. Nur allein Karl Mayer, selber 
der Sohn eines Poeten, hat es viele Jahre später, 
nach dem Tode meines Vaters, in emem würdigen 



Digrtized by Google 



— 129 — 



Nachruf, der noch wirksamer gewesen wäre» wenn 
der gef aerte Volkstribim ihm statt der Verse seine 

zündende Prosa geliehen hätte, der Partei ins 
Ohr gerufen, was es für den Dichter heissen 
wollte^ „Eintägiges statt Dauerndem zu schaffen'% 
und sich mit unwikdigen Gegnern täglich neu 
herumzuschlagen, statt im Wettkampf mit den 
höchsten Geistern seiner Zeit zu ringen. 

Wälurend das Leben des Dichters diese Wen- 
dung nahm, war in demselben Ideinen Lande» 
aber in völlig verschiedener Umgebung, ein andres 
Schicksal herangereift, das sich dem seinigen aufs 
innigste verbinden und einen bestimmenden £in- 
lluss auf seinen ganzen ferneren Lebensgang ge- 
winnen sollte. 



I$old« Kttr«, H«niiain Km. 



Dig'itized by Google 



Das Brunnowsche Haus 

J>ic Familie meines Grossvaters von mütter* 
Ucher Sett^ des Freiherm Anton August v* Brun- 

now, stammt aus Kurland und hatte sich von da 
nach Russland verbreitet. Sein Vater Siegfried 
jedoch wanderte nach Deutschland aus und liess 
sich in Sachsen-Meiningen nieder; ein Bruder des- 
selben ging nach Prankreich und änderte seinen 
Nansen in de Bruneau ; ein andrer lebte in Peters- 
burg in diplomatischer Stellung. So wurde 
die Familie Brunnow wdt ausdnandergesprengt* 
Mein Grossvater» der noch zw» Brüder besass» 
wurde in der Kadettenanstalt zu Berlin erzogen 
und kam als junger Leutnant nach Württemberg, 
wo ihn König Friedrich seines alten Adels wegen 
in die Garde einreihte. Er war ein grosser Be- 
wunderer Napoleons und machte mit Freuden den 
Feldzug gegen Russland, das er nicht liebte, mit. 
Lebenslang war es ihm eine heilige Erinnerung, 
dass er einmal Aug in Auge vor dem grossen 
^ Kaiser gestanden hatte, als dieser ihm penönUch 
den Befdü gab, ein russisches Dörflein zu be- 
setzen. Nach erfolgter Einnahme trat er in das 
Haus des Popen und kam gerade dazu, wie seine 
dgenen Leute den Popen» weil er nicht mit dem 



Digitized by Google 



— X3I — 

Tcdangten Geld, das er vielldcht gar nicht be- 

eass, herausrücken wollte, auf eine Bank gebun- 
den hatten und Miene machten, Stroh darunter 
ansuatinden. Er hieb mit dem Degen auf die 
achnapatrunkeneii Soldaten ein und befreite das 
unglückliche Opfer ihrer Brutalität. Im Verlauf 
des Feldzugs geriet er in russische Gefangen- 
schaft luid wurde samt seinem Diener nach 
Sibirien verschleppt. Beim Auswechseln der Ge- 
fangenen wurden die beiden vergessen und hatten 
eine ziemliche Zeit dort zu verbringen. Da aber 
die Gouvemeurstochter an dem jungen Franzosen 
Gefallen fand — der Gefangene galt dort als Fran« 
sose — fiel die Gefangenschaft nicht allau hart 
aus. Er konnte frei im Hause des Gouverneurs 
verkehren und lernte von seiner Dame das Rus- 
sische. Sie war schön, aber wenig von europäi- 
scher Kultur beleckt» und in ihrem Haar soll zu- 
w^en auch noch andres sum Vorschein gekom- 
men sein als die Diamanten, mit denen sie am 
hellen Tag primkte. Sie hielt ihren Gefangenen 
für ^en grossen Künstler, weil er sie mit dem 
Storchschnabel abkonterfeit hatte» und wollte nun 
auch von ihm gemalt sein. Er versprach, ihr 
Bild auf Goldgrund in den schönsten Farben an- 
zufertigen, nur müsse er die Farben in der näch- 
sten, ziemlich weit entlegenen Stadt holen, Sie 
verschaffte ihm au diesem Zweck einen Pass von 
ihrem Vater, er reiste ab, indem er seinen Diener 
mitnahm, und beide kamen nicht wieder. InBauem- 
Ideidem, die sie sich statt der Farben kauften, 

9* 



Dig'itized by Google 



132 — 



legten sie die ungeheure Strecke bis zur pceosti- 
sehen Grenze teils in irgendeiner elenden Telega, 

wo sie gelegentlich aufsassen, teils auf einem ge- 
liehenen Klepper, meist aber zu Fusse zurück. 
Auch eine Ziege führten sie mit und waren durch 
die Ifilch ihrer Begleiterin besser genährt als auf 
ihren militärischen Märschen in Russland, wo es 
vorkam, dass sie sich an „Wasserriebele" aus 
ganz scijwarzem Mehl sättigen mussten, die mit 
Pulver gesalzen und mit Talg „geschmälzt"' 
waren. So kamen die beiden Wanderer nach 
Württemberg zurück ; der junge Offizier avan- 
cierte sogleich und erhielt Auszeichnungen aller 
Art» darunter einen hohen» geldtragenden Orden» 
sfSter auch den KammerfaermscUilsseL Jetzt 
heiratete er meine tjrossmutter, ein Fräulein Wil«* 
hclmine v. Oetinger, die Nichte des allmächtigen 
Staatsministers, Grafen v. Dillen. Dieser Dillen 
hat in der Geschichte des Landes wie im Leben 
der Familie eine zu wichtige Rolle gestielt» um 
ihn hier mit Schweigen zu übergehen. Der Viel- 
berufene, der sich ursprünglich Dillenius schrieb, 
studierte in Tübingen die Medizin» als König 
Friedrich bei einem Besuche daselbst den bild- 
schönen, hochgewachsenen Studenten ert>lickte» 
ihn, wie es seiner Laune gefiel, aufgreifen Hess 
und den Widerstrebenden mit sich nach Stuttgart 
nahm» wo er ihn erst in den MarstalL dann ins 
Militär steckte. Hier durchflog der junge Mann 
alle Chargen bis zum General; dann wurde er 
Staatsminister und der Mächtigste im Lande nach 



Digrtized by Google 



133 — 



dem König. £r soll ein kluger und tatkräftiger 
Mann gewesen sein wie sein Monarch; den Dank 
des Landes jedoch hat sich keuier von heiden er* 

worben. Der König erhob seinen Günstling zum 
Baron imd gleich darauf zum Grafen von Dillen, 
wobei er ihm die Dörfer und Schlösser von Dätzin- 
gen und Rübgarten zum Geschenk machte. Es 
heisst» die Dillenius, one aus Belgien eingewan- 
derte Hugenottenfamilie, seien in früheren Zeiten 
adlig gewesen und hätten erst in Württemberg 
dttk Adel abgelegt und» da alle Mitglieder dem 
Gdehrten- und Theologenstand angehörten, die 
lateinische Namensendung angenommen; der Kö- 
nig habe somit nur ihren alten Adel aufgefrischt. 
Ich weiss nicht, wie es sich damit verhält; jeden* 
falls erkannte das Land diese Renovierung nicht 
an» denn der Volkswitz sang: 

Der König ist kein Freund von jus. 
Er liebt nur seinen Willen, 
Drum macht er aus Dillenius 
Den Herrn Baron von Dillen. 

Die war der Gewaltige, den das Land nur mit 
unterdrückter Empörung als das Geschöpf und 
Werkzeug der Despotenlaune nannte, der aber 
den Zauber einer bezwingenden persönlichen Lie- 
benswürdigkeit besass, daher er in der Familie 
ebenso geliebt wie anderwärts gehasst und ge- 
fürchtet war. Nicht nur meine Grossmutter, die 
in seinen glänzenden Zirkeln aufwuchs, hing mit 
grösster Liebe und Verehrung an ihm. sondern 
auch meine nachmals so radikale Mutter 



Digrtized by Google 



— 134 — 

schwärmte in ihrer Jugend für diesen GrossonkeL 
Später ireiUch» als sie im GescMchtsunterricbt 
durch ihren Lehrer erfuhr, welch verderbliche 
Rolle dieser Mann im Lande gespielt hatte, weinte 
sie bittere Tränen« und das Gefühl« dass sie etwas 
am Volke gutzumachen habe, wurde ein Haupt- 
anstoss zu ihrer späteren ultrademofcratischen 
Gesinnung. 

Meine Gross mutter war die einzige Tochter 
des Oberstleutnants v. Oetinger; ein Bruder von 
ihr liess als junger Offizier auf der Beresina- 
brücke sein Leben. Ihr Vater hatte mit neunzehn 
Jahren die noch nicht fünfzehnjährige Schwester 
des Günstlings geheiratet, und das junge Pärchen, 
das noch wie Kinder zusammen tollte und 
schmollte, führte ein sehr lustiges Leben. Sie 
hielten sich für unerschöpflich rmch, well er der 
Elbe zweier von seiner Mutter verwalteter Ritter- 
güter, Hollach und Archshofen, war, daher der 
noch unmündige Ehemann, den die eigene Mutter 
knapp hielt, um selber zu verschwenden, es lücht 
schwer fand. Gelder aufzunehmen. Als diese 
starb, waren die Güter zerronnen; der Sohn sah 
sich am Abgrund, und da des Königs Strenge 
gegen Schuldenmacher unerbittlich war und der 
Schwager ihm nicht zu Hilfe kam, gab er sich 
durch eine Kugel selbst den Tod — diese Kugel 
lag noch als düsteres Wahrzeichen in einer Fami- 
lienschatulle, als ich ein Kind war« Die Witwe,^) 

Ihre Büste, von der Hand Dan neckers, beendet 
jsich in der Akademie der Künste zu ötungart 



Digitized by Google 



— X3S — 

eine pikante, feurige Erscheinung, deren BÜd» 
von der Simanowitz gemalt, sich noch bis vor 
wenigen Jahren in unserm Hause befand« nahm 
nun ihrerseits von dem reichen* mächtigen Bru- 
der keine Unterstützung an, sondern lebte von 
ihrer kleinen Pension in engten Verhältnissen und 
Stickte Fahnen für die napoleonischen Regimen- 
ter. Als sie aber noch in jungen Jahren starb, 
setste der Bruder ihr auf dem Ludwigsburger 
Friedhof ein kostbares Denkmal 

Ihre Tochter, die meine Grossmutter war, 
wurde bei diesem Onkel erzogen und entsagte auf 
«einen Befehl einer Jugendneigung» um meinen 
Grossvater zu heiraten, der in sehr geordneten 
Verhältnissen lebte und einiges Vermögen besass. 
Die Ehe fiel glücklich aus und wurde nur ge- 
trübt durch das Wegsterben der ganzen männ- 
lichen Nachkommenschaf t. Von sechs Kindern 
blieb nur meine Mutter am Leben, die am 
(5. August 1S26 zur Welt kam und Eva Maria ge- 
tauft wurde. Ein jüngeres Schwesterchen, Ot- 
tilie, ein stilles» sanftes» ganz aufs Häusliche ge- 
richtetes Kind» das völlige V^derspiel mdner 
Mutter» erreichte nur das elfte Lebensjahr. 

Nachdem König Wilhelm die Garde als ein 
zu aristokratisches (oder zu kostspieliges?) Korps 
aufgehoben hatte» wurde mein Grossvater sur In- 
fanterie versetzt und nahm nach verschiedenen 
Gamisonswechseln als Oberst seinen Abschied. 

Man kann diesen Mann in Anbetracht seines 
Standes und der Stellung» die er bekleidete» ein 



Digitized by Google 



— I3ß — 

Original nennen. Er tioU M seinen Untergebenen 

im höchsten Grade beliebt gewesen sein, bei den 
Kameraden nur teilweise und ganz und gar nicht 
bei den Vorgesetzten, denen sein unbefangener 
Freimut schlecht behagte. Bei Hofe aber war er 
geradezu das enfant terrible, denn er sagte jedem, 
selbst dem despotischen Landesherrn, mit der ge- 
lassensten Miene die Wahrheit ins Gesicht. Fiir 
die äusseren Dinge hatte er gar kein Auge, eine 
Eigenschaft, die auch auf meine Mutter über- 
ging, wie diese denn überhaupt ganz nach dem 
Vater artete. Nach seiner Pensionierung kaufte 
er ein Landgut in Oberesslingen bei Esslingen, das 
er selbst bewirtschaftete. Da er von Landwirt- 
schaft und Gärtnerei, die er mit Leidenschaft be- 
trieb» nicht viel verstand, so hatte er manches 
Lehrgeld zu zahlen; es wird ihm sogar nach- 
eraählt, er habe die Blumenswiebeln verkehrt in 
den Boden gesteckt und sich gewundert, dass sie 
nicht wachsen wollten. Er war von äusserst 
heiterem Humor und hatte einen unendlichen 
Tätigkeitstrieb: er drechselte, schreinerte^ bas- 
telte; mit dem Hahnenschrei stand er auf und 
war emsig beschäftigt bis zum Nachtessen. Auf 
Weihnachten verfertigte er für alle Schulkinder 
des Ortes kunstgerecht broschierte Schreibhefte. 
Seine Hauptliebhaberei aber war die Medizin: 
er war nie so glücklich, als wenn die Bauern 
kamen, sich von ihm ein Pflaster schmieren, 
einen Arnikaverband anlegen zu lassen. Den 
Schwererkranl^en, an die er sich mit seiner Kunst 



Digrtized by Google 



— 137 



nicht wagen konnte, wurde Fleischbrühe und 
Wem ins Haus geschickt. Er lebte selbst sehr 
^nf ach« hielt wenig auf das Äussere, pflegte aber 
in seinem Haus eine ausgedehnte Gastfreund- 
schaft. Wenn er Gäste hatte, floss der Cham- 
pagner; war er allein, so trank er ein selbstge- 
brautes Bier aus Zucker und Cybeben, bei dessen 
Herstellung ihm eine Jugenderinnenmg an 
„Braunschweiger Munrnie" vorgeschwebt haben 
soll. Ihm selber mundete dieses Bier vortreff- 
lich ; andre fanden, dass es ein abscheuliches Pro- 
dukt sei Ich vermute, dass mein Vater, der als 
Verlobter noch die Reste des schwiegen^ter- 

lichen Kellers kennen lernte, aus diesem Gebräu 
die Inspiration zu dem berühmten „Korruptions- 
gesöff' in den „bdden Tubus" geholt hat, von 
dem Ach aber meines Grossvaters Mischung da- 
durch unterschied, dass sie alles eher als eine Er- 
sparnis war. 

Meine Grossmutter Brunnow muss eine pom- 
pöse Erscheinung gewesen sein. Zwei Miniatur- 
bildchen in Empiretracht stellen sie in der Zeit 
ihrer höchsten Blüte dar : ein sanft lächelndes und 
zugleich pikantes Rokokogesichtchen vom zar- 
testen Blondinenkolorit und eine Büste von voll- 
endeter Schönheit. An Charakter erinnert sie an 
meine Grossmutter väterlichersdts, freilich inner- 
halb viel grösserer Lebensformen: sie war eine 
sanfte, selbstlose, duldende Natur, die nur für 
andere lebte und ihr frühes Siechtum m verbergen 
suchte, um die Jugend der Tochter nicht za trüben. 



Digrtized by Google 



Sic war eine geschickte Blumenmalerin, machte 
kunstvolle Stickereien» besass überhaupt sehr viel 
Sinn und Handfertigkeit für jede Art von Nadel* 
arbeit. Da aber ihr ganzes Leben ausgefüllt war 
von Kummer um die schnell wegsterbenden 
Söhne, und Kränklichkeit sie schon in jungen 
Jahren befiel, wurde stille Resignation der Grund- 
ton ihres ganzen Wesens. Alle, die sie kannten» 
schätzten und liebten sie, ihre Jugendfreundinnen 
hielten unverbrüchlich an ihr fest, und auch der 
einstige Verlobte, ein Baron Moltke, der nun in 
treuer Freundschaft an ihr hing, kam oft sie zu 
besuchen und wurde von meinem Grossvater stets 
aufs freundlichste und kameradschaftlichste em- 
pfangen. Sie hatte eine Vorliebe für italienische 
Literatur, die sie auf meine Mutter übertrug, denn 
ne schenkte ihr schon zu ihrem zwölften Geburts- 
tag die „Göttliche Komödie" und das „Befreite 
Jerusalem'*, wie denn die Damen der adligen 
Kreise damals eine viel höhere Bildung besassen, 
als die der bürgerlichen. Um sich zu zerstreuen, 
arbeitete sie das ganze Jahr hindurch für die Kin- 
der von Oberesslingen; Hauben, Schürzen, Röcke 
lind Strümpfe wurden verfertigt; bei der Puppen- 
fabrikation half ihr das Töchterchen, während der 
Vater Schulhefte broschierte oder Federröhren 
drechselte. Jahr um Jahr, solange die edle Frau 
lebte, wurde der Schule mn fröhliches Weih- 
nachtsfest bereitet, wozu die gute Josephine, das 
Faktotum des Hauses, ganze Waschkörbe voll 
Lebkuchen buk. Im Andenken an die früh Da- 



Digitized by Google 



139 — 



liingegangene fuhr ihre völlig anders geartete 
Tochter noch lange fort» Kinderkleider für die 
dörfUchen Bedürfnisse anmfertigen, obgleich ihr 

die Werke deij Nadel eigentlich ein Greuel waren. 

Wilhelmine von Brunnow starb schon am 
3* September 1842 während eines Besuchs bei 
ihren Verwandten in Dätsingen und liegt dort 
auf dem ländlichen Friedhöfchen an der Seite 
ihres Onkels Dillen begraben. 

Solange das Temperament meiner Mutter 
4urch diese sanfte Macht gefesselt war. trat die 
Oppomtion gegen die Welt, der sie dürcfa ihre Ge- 
burt angehörte, noch nicht so stark hervor: wie 
die junge Baronesse ihrem Stand entsprechend 
gekleidet ging, fühlte ne sich ihm auch. innerlich 
verbunden; ja bei ihrer Neigung 2um Extremen 
gab es sogar dne Zeit, wo sie die Adligen für die 
einzig berechtigften Lebewesen ansah; eine Mei- 
nung, an der ihre liberalen Eltern gänzlich un- 
schuldig waren. Freilich zeigten sich auch schon 
im Kindesalter die sozialistischen Regungen« 
denn als sie zum erstenmal Arme sah, wurde sie 
von der ungleichen Verteilung der Glücksgiiter 
so erschüttert, dass sie in den Keller lief und un- 
gesäumt die feinsten Bordeauxflaschen ihres Va- 
ters den Bettlern schenkte. Überhaupt war sie 
von frühster Kindheit an anders als andre Kinder. 
Sie nahm nie von einem Menschen ein Geschenk, 
ausser von ihren Eltern« Geld hielt sie für das 
Allergemeinste und Beschimpf endste; mit Geld 
konnte sogar ihre heissgeliebte Josephine sie in 



Digrtized by Google 



« 

— 140 — 



die Flucht treiben, wenn die Kleine ihr in der 
Küche lästig fiel. NiemaU mochte sie mit rnidem 
Kindern spielen; wenn solche zu Besuch kamen» 
so gab sie ihnen schnell ihr sämtliches Spielzeug 
hin und versteckte sich dann im entlegenstea 
Zimmer» um nichts mit ihnen zu tun 2U haben^ 
Das grosse Mitleid mit den Tieren lag gleich- 
falls von Kindheit an in ihr; sah sie ein Kalb zur 
Schlachtbank führen, so wurde sie den ganzen 
Tag nicht mehr froh. Als sie einmal von einem 
Hasen gegessen hatte» träumte ihr des Nachts», 
dass das Tier sie in grauenhafter Gestalt als ab- 
genagtes Gerippe verfolge imd sein Fleisch von 
ihr zurückverlange. Von da an wies sie alles> 
Wild mit Abscheu zurück und f asste einen Wider-^ 
Villen gegen Fleischnahrung überhaupt» der sich 
mit der Zeit zu völligem Vegetarianismus ent- 
wickelte. Da niemand ihr wehrte, wuchsen alle 
diese Eigentümlichkeiten mit ihr und machten sie^ 
zu einer ureigenen» mit niemand sonst zu ver- 
gleichenden Persönlichkeit. Sie lebte ganz und. 
gar in dner phantastischen Welt. Auf Bällen er- 
regten ihre Partner ihr nicht einmal den Ein- 
drucky dass sie Menschen, geschweige dass sie 
andern Geschlechts seien* Sie schienen ihr nur 
angezogene Tanzbeine, kostümierte Besenstiele» 
während sie selbst in lange geheimnisvolle Lrie- 
besgeschichten mit gefangenen Rittern verwickelt 
war» die im Verliess ihres Schlosses schmachte- 
ten. Eigentlich waren diese Liebesritter Giess- 
kannen und andres Gerümpel, das in einer Kam- 



Digitized by Google 



— X4I — 



mer des Brdgeschosses lag und bei ihrer höchsten 
Ungnade von niemand berührt werden durfte. 
Überhaupt gewöhnte sie sich daran, die Realität 

der Dinge nicht anzuerkennen, wofür dann frei- 
lich die Dinge sie auch beständig mit ihrer Rache 
verfolgten, was aber weniger von ihr selbst als 
von ihrer Umgebung empfunden wurde. 

Von klein auf war es ihr ein zwingendes Be- 
dürfnis, ihre Gedanken und Empfindungen in 
Versen auszudrücken, mit denen sie im Umsehen 
ganxe Hefte vollschrieb« Meist wurden sie noch 
in der frischen Begeisterung ihrer Josephine vor- 
gelesen, und diese verbreitete ihren Ruhm weiter. 
Sie fanden in Freundeskreisen eine unbegrenzte Be- 
wunderung. £in Klagegesang, den sie auf den Tod 



der von Württemberg gedichtet hatte, sirkolierte 

in Abschriften bei Hofe und trug ihr den Namen 
einer Sappho ein. Besonders der alte Freiherr 
glaubte» dass es nichts Erhabeneres geben könne, 
als die Poesien seiner Tochter. Dafür bedachte 
sie auch ihn einmal mit einer poetischen Huldi- 
gung. Sie verfasste zu seinem Geburtstag zwei 
Sonette, wovon das eine seine Kriegstaten feierte 
und ihm den Lorbeer zuerkannte^ das andre sein 
ländliches Friedenswirken in einem Feldblumen- 
kranz symbolisierte. Zum Feste hüllte sie sich 
selbst in Helm und Harnisch als Viktoria* eine 
m Besuch anwesende junge Freundin wurde als 
Flora angetan, und in mntm mit Laubwerk ausge- 
geschmückten Zimmerchen vor einem kerzenflam- 



Diglized by Qi)0^e 



— 143 — 

mendcn Hausaltar bcgrüssten die bddcn Ciott» 
heitea dcnüberrasditen jede mit ihremSonett» das 
sie ihm hieraiif geschrieben nebst dem dazu ge- 
hörigen Kranz überreichten. Der Lorbeer war 
freilich vom Oleanderbaum gepflückt» was aber 
der Feierlichkeit keinen Abbruch tat. Der alte 
Herr weinte Freudentranen, indem er die jungen 
Mädchen in die Arme schloss. Die Sonette steckte 
er voll Wonne in die Westentasche; er glaubte 
in ihnen den höchsten Gipfel der Poesie erstiegen 
und teilte sie in glücklichem Vaterstolz allen 
seinen Freunden mit. Es wurde ihm sogar nach- 
gesagt, dass er einmal auf einem Spazierritt eine 
vorbeifahrende Equipage angehalten habe, indem 
er vom Pferd herab sich auf das Trittbrett 
schwang, um den überraschten Insassen die So* 
nette seiner Tochter vorzulesen. Diese selbst 
war die einzige, die ihren poetischen Erzeugnissen 
mit Kritik gegenüberstand, ja in späteren Jahren 
pflegte sie sogar ihr Talent unter seinem wahren 
Werte «nzuschätzen. 

Obgleich sie in den grossen Werken der Dicht- 
kunst schwelgte, vermochte doch bei ihrer 
mehr rationalistischen als künstlerischen Anlage 
die Poesie ihr Inneres nicht ganz auszufüllen. 
Quälende Fragen nach dem letzten Grund der 
Dinge verfolgten sie von Kindheit auf. Das 
religiöse Dogma, dem sie sich nie hatte hingeben 
können, wurde unter heftigem innerem Ringen 
abgeworfen, worin ihr übrigens merkwürdiger- 
weise das jüngere, völlig anders geartete Schwc- 



Digitized by Google 



— 143 — 

sterchcn ganz selbständig yorahgegangen war: 
em Zdchen» dass die Zeitstrümungen auf gdidm* 

nisvoUen Wegen wirksam sind. Mit brennender 
Gier warf meine Mutter sich auf die Lektüre der 
Philosophen, die ihr aber das innere Ungenügen 
auch nicht hoben» bis schliesslich die Achtund- 
viersiger Ideale mit solcher Gewalt von ifiär Besita 
nahmen, dass sie fortan die Welt nur von diesem 
Standpunkt aus begreifen konnte. 

Ihre sorglosesten Jugendtage verlebte sie auf 
euiem benachbarten Edelsitz, dem Schlösschen 
Boihhigen,bdl der Familie von Thumb» die su den 
historischen Geschlechtem des Landes gehört. In 
Boihingen herrschte ein sehr munteres und an- 
regendes Treiben: dort fand der jimge Adel des 
Landes sich zusammen; man ritt und tollte in den 
grossen Wäldern umher, man dilettierte in Poesie, 
wie man heutzutage in den bildenden Künsten 
dilettiert, man war romantisch und zugleich libe- 
ral» was ebenfalls zum Ton der Zeit gehörte. Die 
jungen Edeldamen, an die sich noch die gebildete 
bürgerliche Frauenwelt anschloss, schwärmten im 
Hyperion und lasen zusanmien den Homer; die 
Kavaliere schwelgten in Lenau und Heine und 
kokettierten sogar mit der herannahenden Revo- 
lution. Bei meiner Mutter fielen die Lehren des 
neuen Evangeliums auf den fruchtbarsten Boden. 
Sie soll der Stern dieses Kreises gewesen sein» 
wie mir andre erzählten. Sie besass zwar nicht 
die imposante Gestalt, noch die milde, herrschende 
Anmut, durch die meine Grossmutter geglänzt 



Digitized by Google 



— 144 — 



hatte» aber ihre pikante und äuflserst bewegliche 
Erscheinung, das Gef unkel ihrer „Fixatemaagtn^f 
wie mein Vater sie nachmahi nannte, fand nodi 

mehr Bewunderung als wirkliche Schönheit. 
Sie wurde vom männlichen Geschlecht sehr 
ausgezeichnet imd verstand es» sich die ab- 
gewiesenen Bewerber zu Freunden zu machen. 
Dabei hatte sie das seltene Glück, beim 
eigenen Geschlechte keinen Neid zu erwecken, 
was sie ausser ihrer grossen Güte gegen die 
Freundinnen zum Teil dem Umstand verdanken 
mochte» dass sie bei ihrer vÖlHgen Gleicligültig- 
keit gegen die Toilette auf äussere Ansprüche 
ganz zu verzichten schien. Sie war in jungen 
Jahren sehr unternehmend und kannte keine 
Furcht: um nach Boihingen zu gelangen, musste 
sie drei Stunden Wegs zu Fusse durch Wälder 
zurücklegen und watete wohl auch durch den 
dort nicht tiefen Neckar. Als einzige Waffe 
trug sie eine Schnupftabaksdose bei sich» mit 
deren Inhalt sie sich im Notfall zu verteilen 
gedachte; zum Glück kam sie nie in diese 
Lage, denn es gab dazumal keine Stromer. 
Dabei ging sie gerne in Bauenüdeidung, nicht 
aus Koketterie, sondern der Bequemlichkeit 
halber; denn seit dem Tode ihrer Mutter war nie- 
mand mehr, der über ihren Anzug wachte; ge- 
legentlich aber legte sie auch für ihre Wande- 
rungen irgendeine ganz phantastische Tracht an, 
wie die einer Neapolitanerin oder gar der Jung- 
frau von Orleans. In ihren Kreisen liess man sie 



Digrtized by Google 



— 145 — 



vöUig gewähren, die bÜrgcrHchcn Freundinnen 
ahmten wohl auch die junge Baronesse nach, das 
Landvolk aber meinte^ es müsse so sein. Sie fand 
bei Männern und Frauen glühendste Verehrung 
und treueste Freundschaft, die sie lebenslang 
durch alle Wandlungen der Zeit begleitet haben 
und noch begleiten. 

Zu den Freundoi meiner Mutter gehörten auch 
verschiedene junge Studenten bürgerlicher Ab- 
kunft, die ihre Ferien in Oberesslingen verbrach- 
ten. Diese revolutionär gefärbte Jugend sang 
das junge Freifräulein als die Muse ihrer politi- 
sehen Lieder an. Mein Grossvater, der, obgleich 
liberal, doch für seine Person ganz als Edehnann 
fühlte, liess sich diesen demokratischen Umgang 
seiner Tochter gefaUen; er zog ihn sogar der 
Gesellschaft der jungen Kavaliere vor, denen er 
als Weltmann und Menschenkenner weniger 
traute. Unbehindert konnte sie mit diesem oder 
jenem ihrer bürgerUchen Verehrer halbe Nächte 
allein auf dem Neckar rudern, in Träumen von 

Volksbeglückung und Menschheitsverbrüderunc 
schwelgend. * 

Tn jene Zeit fiel auch die tolle Episode des 
Franzosenschrecks, die ich als Kind oft von unsrer 
Josephine era^len hörte. Es war an einem 
Feiertag im Frühjahr 1848, als plötzlich vom 
Schwarzwald her wie ein Lauffeuer die Kunde 
dr.ng die Franzosen seien mit bewaffneter Hand 

^Z^'^ ""r^'"^^^' "Sie kom- 

men! flog von Ort m Ort, überaU einen wilden 

Isolde Kurz, Hermanu Ku«. 



Digitized by Google 



Aufruhr erweckend. Vor dem Tübinger Rathaus 
kam der Oberamtarichter von Sula in voller 
Karriere angesprengt, um bewaffnete Hilfe za 
holen, weil in der Stadt Sulz schon der Feind 

stehe: bei seinem Ausritt seien die Franzosen 
eben von der andern Seite eingezogen. Bürger- 
schaft und Studenten bewaffneten sich in Hast 
und wurden von den nicht Wehrhaften, worunter 
viele Frauen, unter Abschiedstränen eine weite 
Strecke begleitet. Unterwegs stiessen sie auf 
andre bewaffnete Scharen, die von anderswo alar- 
miert worden waren« denn die Panik, die sich weit 
ins Badische hinein verbreitete, hatte in Württem- 
berg nicht nur den ganzen Schwarzwaldkreis, son- 
dern auch einen Teil des Neckarkreises ergriffen. 
Allerorten spielten sich die wunderlichsten Szenen 
ab« Auch in Esslingen rauschte die Welle des 
Unsinns an und brachte sogar das stille Ober- 
esslingen auf die Beine. Zwei Söhne benachbar- 
ter Häuser, sonst ergrimmte Rivalen, die der 
Witz Josephines in einer nahelegenden Verketze- 
rung ihrer Namen Romulus und Remus nannte» 
beide bildschöne stattliche junge Männer, er- 
schienen des Nachts einer um den andern in 
der kleidsamen Uniform der Bihrgerwehr und bis 
an die Zähne bewaffnet vor der Tür des Fräuleins 
und erklärten sich einmütig bereit, ihr Leben für 
sie zu lassen. Von Josephine mit den grossväter- 
lichen Weinen gelabt, zogen sie wieder ab» um den 
Feind» der schon auf Esslingen sumarschieren 
sollte» zu rekognoszieren. Aber des andern Tags 



Digitized by Google 



— X47 — 

war der Wahiurinn verflogen; von allen Seiten 
kam die Nachricht, dass man sich durch emen 

blinden Lärm hatte täuschen lassen, und Romulus 
und Remus legten mit dem ganzen Landsturm 
beschämt die Waffen nieder. Wie die Panik ent- 
standen war» ist niemals aufgeklärt worden. Viele 
glaubt«!, irgendein Spassmacher habe die ganse 
Geschichte angezettelt, dafür war aber die Er- 
regung viel zu elementar und zu allgemein; es 
scheint vielmehr» dass die Gärung, die damals 
durch die bdden Länder gmg, von selbst diese 
seltsame Form der Entladung gefunden habe. 
Denn, wenn ich meiner Chronistin glauben darf, 
SO war gleichzeitig jenseits der Rheingrenze der- 
selbe Schrecken ausgebrochen, und die Bevölke- 
rung flüchtete im Glauben, von den Deutschen 
angegriffen zu sein, in wilder Hast landeinwärts. 
Noch his heute ist im Schwabenland dieser Tag 
mit seinen Schwabenstreichen unter dem Namen 
des Franzosenfeiertags bekannt, und F. Th. Vi- 
scher hat das lustige Motiv in sdne dramatische 
Posse „Nicht I A'' verflochten. 

Als die Revolution ausbrach, gehörte Marie 
V. Brunnow 2U ihren feurigsten Aposteln. Der 
Vorzug ihrer Geburt erschien ihr als ein Unrecht, 
das sie durch Einsetzung ihrer ganzen Person für 
die Sache des Volkes zu sühnen strebte. Sie stürzte 
sich in den Strom ohne zu fragen, wohin er sie 
tn^en würde; sie besuchte Volksversammlungen, 
verteilte Manifeste und Wahlzettel, und die gleich- 
gesinnte Jugend scharte sich um sie wie um eine 

lO* 



Digrtized by Google 



— 14» — 

Fahne. Es lief freilich viel Spielerei und Mum- 
menschanz bei diesen schwarz-rot-goldenen Be- 
geisterungen mit unter. Ich kenne ein gewisses, 

für die Zeit höchst charakteristisches Büchelchen, 
das „Rote Album'', das meiner Mutter von Ge- 
sinnungsgenossen im Jahre 1849 bei einem häus- 
lichen Fest überreicht wurde: in Rot gebunden, 
mit roter Tinte auf rote Blätter geschrieben, voll 
von Karikaturen und Knittelversen, auf jeder 
Seite von Tyrannenblut triefend, die tollste Selbst- 
persiflage der Revolution. Etwas Kinderei scheint 
durchweg zum Jahr Achtondvierzig gehört zu 
haben; doch bedeutete diese Bewegung für ihre 
Zeit gewiss die Spitze des Wachstums, und jeder 
Fortschritt ging damals denselben Weg, wenn 
auch die Keime, die der Prfihlingssturm durch die 
Lüfte trug, erst viel später und in ganz andrer 
Gestalt reifen sollten. Bei vielen, die in jener Zeit 
mitliefen, war es Modesache, und die ersten Nie« 
derlagen vertrieben ihnen schnell die revolutio- 
nären Gelüste. Meiner Mutter aber waren die 
Ideen von Achtundvierzig eingeboren und hatten 
nur auf den äusseren Anstoss gewartet, um her- 
auszutreten und sich ihrer Person zu bemäch- 
tigen. Ich darf hier an tmt andre deutsche Frau 
ennnem, die, aus ähnlicher Atmosphäre stam- 
mend, dieselbe Entwicklung nahm: Malwida von 
Meysenbug. Das Schicksal beider Frauen hat 
viel Analoges, wie es sie denn auch schliesslich 
hl späten Jahren auf italienischem Boden noch 
zusammenführte. Nur war Malwidas Bruch mit 



Digrtized by Google 



— 149 — 



Ihren Traditionell mühseliger und schmerzlicher. 
Er war das Resultat einer unter Kämpfen ge- 
wonnenen Erkenntnis; bei meiner viel feurigeren 

Mutter war er gleichsam ein Naturereignis, eine 
blitzschnell sich vollziehende „Wahlverwandt« 
Schaft" zwischen ihrer eigenen Natur und den 
neuen Elementen der Zeitströmung. Auch zog 
in der milderen süddeutschen Luft der Ubertritt 
einer jungen Aristokratin in die Reihen der Volks- 
kämpfer keine grausamen Familienkonflikte nach 
sich; mein Grossvater Hess der einzigen Toch- 
ter» die sein Abgott war, freie Hand, ohne 
sich für oder wider in die Sache zu mischen. 
Als ihr eines Abends der Liederkranz des 
Esslinger Volksvereins zum Dank für ihre Pro- 
paganda mit wehenden Fahnen tan Standchen 
brachte und die junge Revolutionärin in den 
Garten hinaustrat« um eine Ansprache zu halten, 
was damals bdm weiblichen Geschlecht noch 
etwas sehr Ungewöhnliches war, hlSrte der gute 
Vater hinter einem Baum versteckt zu und wdnte 
helle Tränen der Rührung über die seiner Tochter 
dargebrachten Huldigungen. Die gleiche Tole- 
ranz fand sie in ihrem elterlichen Freundeskreis» 
Wenn sie in Stuttgart bei der zu den Hofkreisen 
gehörigen Familie v. R. zu Besuch war und von 
dort aus die demokratischen Versammlungen be- 
suchte, gab ihr der alte Baron den Bedienten zur 
Begleitung mit, obgleich er recht gut wusste, dass 
ne unterwegs den Burschen, der sich verlegen be- 
mühte, die vorgeschriebene Distanz einzuhalten. 



Digrtized by Google 



— ISO — 

für die Propaganda bearbeitete und ihn, um keine 
Gd^enheit m venäumeii, gleich mit in den Saal 
nahm. — Ich muaa es dieaer Aristokratie nach- 
rühmen, dass sie auch späterhin ihr entsprungenes 
Schäfchen, wenn es ihr zufällig wieder begegnete, 
stets mit Pietät und Courtoisie behandelt hat» im 
Gegensatz zu den bürgerlichen Partden, bei denen 
der politische Hass gegenseitig kein billiges Urteil 
aufkommen Hess. 

Mein Grossvater Brunnow starb am 20. Januar 
185O9 bevor er das siebzigste Lebensjahr erreicht 
hatte. Sein Vermögen war durch unglückliche Ver- 
waltung sehr vermindert; noch mehr sollte es in 
den nachfolgenden Jahren durch die Freigebigkeit 
der Tochter für politische Zwecke zusammen- 
schmelzen. Ihre erste Handlung nach seinem Tode 
war etwas für ihren Charakter sehr Kennzeichnen- 
des: sie nahm einen illegitimen Sprössling ihres 
Vaters, dessen Dasein er ihr verheimlicht hatte» 
zu sich ins Haus und liess durch die treue Jose- 
phine das kl«ne Brüderchen aufs zärtlichste pfle- 
gen, ohne nach den erstaunten Augen der Leute 
zu fragen. Den Vorschlag reicher Verwandten, 
sie ganz zu sich zu nehmen, wies sie ab und 
hauste mit der Getreuen allein auf ihrem Dörf- 
chen in der väterlichen Wohnung weiter. 

Das Bild meines grosselterlichen Hauses und 
später ebenso das des elterlichen wäre unvoll- 
ständig, wenn ich nicht auch der Gestalt Josephi- 
nens» die darin eine so wichtige Rolle spielte, hier 
einen Platz vergönnte. "Es war dieser Guten 



Digrtized by Google 



251 — 



nicht an der Wi^ gesungen» daas sie dnmal 

unter florentinischcn Zypressen ihren letzten 
Schlaf schlafen sollte. Von der bayrischen Grenze 
gebürtig, als Tochter eines Gärtners auf den gräf- 
lich Fttggerachen Gütern, war sie mit zwanzig 
Jahren in den Dienst meiner Grosseltem gekom- 
men, als meine Mutter eben geboren war. Der 
ideale Zug, der durch ihr ganzes Leben ging, 
äusserte «ich in der Jugend in einem Drang nach 
der Bühne; die wenigen Theaterstücke, die sie zu 
sehen Gelegenheit hatte, brausten ihr im Kopfe 
wie junger Wein. Da sie keine Mittel hatte, sich 
auszubilden, musste sie sich mit der Lektüre der 
klassischen Dramen, die sie sich verschaffen 
konnte, begnügen. Daher ihr höherer Sprechstl! 
und die gereinigte Ausdrucksweise, die sie gänz- 
lich von ihrem eigenen Stande trennten. Nicht 
als ob ihr Reden etwas Gespreiztes gehabt hätte 
— sie sticht vielm^r unter den vielen Gestalten 
meiner Kindheit, die häufig zur Karikatur neigten, 
durch das Gehaltene, Massvollc, Harmonische 
ihres Wesens ab — nur klang alles, was sie sagte, 
SO gebildet, dass ein Fremder es schwer mit ihrer 
Aschenbröddbeschäftigung in Einklang bringen 
konnte. 

Ihr taktvolles Benehmen, ihr reger, aufge- 
weckter Geist, vor allem ihre ungeheure Brauch- 
barkeit wandelten ihre Stellung in meinem gross- 
elterlichen Hause bald in die einer Vertrauten. 

Sie soll eine regelmässige Schönheit gewesen sein, 
mit tiefleuchtenden Augen, die auch im Greisen- 



Digitized by Google 



alter, als schon ihre Sehkraft gelitten hatte, den 
Glanz nicht verloren. Sie wurde von den Unter- 
offizieren, die aus dienstlichen Gründen das Brun- 

nowsche Haus betraten, sehr umworben, aber sie 
schlug alle Freier aus, „denn/' sagte sie zu meiner 
GnMsmutter, »die meines Standes sind» die fühle 
ich geistig unter mar, und die Gebildeten, die mir 
gefallen» nehmen mich doch nicht, wenn sie mir 
auch hofieren; also bleibe ich ledig." So beglei- 
tete sie ihre Herrschaft von Garnison zu Garnison» 
bis sie mit in Oberesslingen landete. Sie pflegte 
die Kinder, die nacheinander kamen und wieder 
verschwanden, und wurde später die besorgte 
Wärterin meiner leidenden Grossmutter. Da- 
neben versah sie die Küche, den Garten, den 
Hühner- und Ziegenstall und kochte auch noch 
mit der grössten Bereitwilligkeit für die Kranken 
des Dorfes, fiäufig kam sie nach der schweren 
Arbeit nicht einmal zu Bette, da sie Nächte hin- 
durch meine nach Atem ringende Grossmutter 
frottierte. Meiner Mutter verschwieg sie so viel 
wie möglich diese traurigen Nächte, um das junge 
Mädchen nicht vor der Zeit aus dem sorglosen 
Jugendtraum zu reissen. Dafür wurde sie auch 
mit zur Familie gerechnet und von den Freunden 
des Hauses gMchfalls mit grösster Anerkennung 
behandelt. Nach dem Tode meiner beiden Gross- 
eltem (die kleine Ottilie, ihren Augapfel» hatte 
sie schon vorher begraben müssen) wurde ihr von 
IMUenscher Seite der Posten einer Verwalteria 
von Dätzingen angetragen, wo sie die ange- 



Digitized by Google 



— 153 



nebmste» unabhängigste Stdlung bei hohem Ge- 
balt gehabt hätte. Aber sie zog es vor, bei ihrer 
Baronesse» die jetzt allein stand» weiterzudienen, 
auch ohne Lohn in Zeiten» wo dieser das Geld aus- 
ging. Sie wandte nun ihre ganze Liebeskraft auf 
das verwaiste Mädchen, indem sie nicht nur für 
ihr körperliches Wohl sorgte, sondern sich in ihr 
ganzes Wesen einlebte. Sie nahm teil an ihrer 
Lektüre, und als meine Mutter das Lateinische 
zu treiben begann, lernte sie die Vokabeln, sowie 
Deklinationen und Konjugationen mit, ebenso wie 
sie im Jahr Achtundvierzig an der politischen 
Ekstase ihrer jungen Herrin teilgenommen und 
sich die neuen Ideen anzueignen gesucht hatte. 
Ihre ausserordentliche Frugalität kann nur mit 
der meiner Mutter selbst verglichen werden, die 
auf diesem Punkt mit ihr wetteiferte. Oft bestand 
ihre gemeinsame Nahrung nur aus einem Topf 
Kaffee mit Zichorie zugesetzt. Nichts für sich 
selber zu gebrauchen, war lebenslang das Prinzip 
beider; was das junge Mädchen damals erübrigen 
konnte, das schenkte sie der Propaganda oder 
wandte es den politischen Flüchtlingen zu, die 
durch die Reaktion brotlos wurden. Es versteht 
sich, dass später, als Marie v. Brunnow sich ver- 
heiratete, die Getreue ihr in das neue Haus folgte, 
um auch an ihren Kindern all das Gute zu tun 
und dort dieselben Lasten auf sich zu nehmen wie 
zuvor im Brunnowschen Hause. Sie blieb, so- 
lange sie lebte, ein Glied der Familie, von ims fast 
wie eme Grossmutter angesehen* wenn auch lei- 



Dig'itized by Google 



— X54 — 

der der kindliche Unveratand iini diet nicht 

immer richtig zum Ausdruck bringen Hess. In 
ihren Armen ist mein Vater gestorben. In meinen 
Erinnerungen an das eiterliche Haus wird noch 
oft von ihr, die sein tinscfaeinharer Schutzgeist war, 
die Rede sein. Sie war schon siebzig, als sie das 
letzte grosse Opfer ihres Lebens brachte, indem 
ne sich vom Heimatboden losriss, für immer von 
ihrer Schwester und deren Familie Abschied 
nahm und mit uns m dxi fremdes Land auswan* 
dcrte, wo sie niemand kannte und dessen Sprache 
sie nicht verstand. Als aber dort nach ein paar 
Jahren ihre eigene, schmerslich langsame Auf- 
lösung begann, da hat ihr meine Mutter die lange 
Hingabe vergolten, durch eine Pflege, wie man 
sie sonst nur den allernächsten Blutsverwandten 
suteü werden lässt» Die Getreue starb am so. No- 
vember Z883 2U Florenz in unserm Hause, 



Dig'itized by Google 



Heirat 



"Es war am 44. Februar 1848, dem Geburtstag 

der Revolution, dass Hermann Kurz und Marie 
^. Bruimow auf einem Maskenball im Saale des 
Museums za Esslingen sich zum erstenmal sahen. 
Die Begegnung war keine zufällige: eine Freun- 
din hatte es dem jungen Mädchen verraten» dass 
der Verfasser der „Heimatjahre", der sich da- 
mals, von Karlsruhe zurückgekehrt, zu kurzem 
Besuch bei seinem Bruder in Esslingen aufhielt, 
mit mehreren sdner Freunde von der badischen 
Opposition den Ball besuchen werde, und diese 
Nachricht weckte in ihr den glühenden Wunsch» 
den seit lange verehrten Dichter persönlich ken- 
nen zu lernen* 

Die „Heimatjahre" hatten trotz des schlechten 
buchhändlerischen Erfolges im ganzen Lande ge- 
zündet, und zwar geschah es», wie es oft geschieht, 
dass gerade die schwächeren Stellen des Buchs» 
die romantischen Lauraszenen, am stärksten auf 
die Phantasie der am Stofflichen hängenden Leser 
wirkten. Die ganze Jugend schwärmte für Laura 
und ihre Zigeuner. Meine Mutter hatte den 
Roman erst wenige Monate zuvor gelesen oder» 
'hesser gesagt» verschlungen; das stille Plätzchen 



Dig'itized by Google 



156 - 



unter ihren Bäumen in Oberesslingen, wo sie sich 
mit dem Buche versteckt hielt, bis sie unter Herz- 
klopfen damit xa Ende war, blieb ihr für immer 
tmvergesslich. Bei Ihr kam noch die innere Ver- 
wandtschaft mit der Heldin hinzu, um den Ein- 
druck zu verstärken. Gehörte sie doch von Ge- 
burt derselben Kaste an» deren Konvenienzen und 
Vorurtdle jene launenhafte Schöne mit Ffissen 
trat, und wie Laura hasste aucli sie den Zwang^ 
und hätte gerne in den Schluchten des Schwarz- 
walds lebendige Zigeunerromantik getrieben, auf 
die Gefahr hin» sich den leibhaften Hannikel auf 
den Hals m «iehen. Ihr Jubel über die Möglich- 
keit einer Begegnung mit dem Dichter war ohne 
Grenzen, und sie beschloss, ihm unter der Maske 
seiner Heldin eine Huldigung darzubringen. Aus. 
einem pompösen roten Samtmantel» den ihr Gross- 
onkel Dillen als Maltheserritter getragen und 
später ihrer Mutter geschenkt hatte, fertigte sie 
sich ein kleidsames Laurakostüm von halb weib- 
lichem, halb knabenhaftem Schnitt, wie es zu ihrer 
kleinen beweglichen Gestalt passte. Ein hüb- 
scher, wohlgewachsener Student aus benachbar- 
tem Hause wurde veranlasst, sie in der Maske^ 
des Zigeuners Tony zu begldten. Fast hätte im. 
letzten Augenblick ein tragikomischer Zwischen- 
fall die ganse Anstalt veratdt. Das junge Mäd- 
chen hatte nämlich am Morgen des Balltages im 
Übereifer, sich schön zu machen, und gänzlich un* 
erfahren in der Kosmetik, ihr blendend weisses: 
Gesicht mit Soda gewaschen» weil sie gesehen. 



Digrtized by Google 



— 157 — 



batte^ class die gute Josephine dieses Mittel zum 
Bleichen der \^8clie verwandte^ Das hatte cur 

Folge, dass ihre zarte Haut aufschwoll und sich 
hässlich rötete, so dass die Entzündung mit kalten 
Umschlägen bekämpft werden musste. Jede andre 
hätte sich durch einen so widrigen Umstand vom 
Besuche des Balles ahschrecken lassen. Nicht 
so meine Mutter, die genau wusstc, dass der 
Kindruck ihres Wesens nicht von Einzelheiten 
der Erscheinung abhing, sondern von ihrer gesam- 
ten Persänlichkeit. Ebensowenig liess sie nch 
durch die ihr zugeraunte Mitteilung irremachen, 
dass das Herz des Dichters bereits in festen Hän- 
den sei, und dass der Gegenstand seiner Neigung 
den Ball gleichfalls besuchen werde, denn ihre 
Bewunderung hatte noch mit persönlichen Wün- 
schen und Hoffnungen nichts zu tun. 

Als sie im Geleite ihres Morgenländers imd 
unter der Ägide eines würdigen Ballvaters — 
ihr eigener Vater kränkelte damals schon — den 
Saal betrat, zo^ ein hochgewachsener schlanker 
Mann mit braunem Haar und Bart» die ein blasses 
Gesicht mit tiefglänzenden Augen umrahmten, 
ihre Aufmerksamkeit auf sich, und sie vernahm 
mit freudigem Erstaunen, dass es der Gesuchte 
war, der nun auch äusserlich ihrem Ideal der 
Männlichkeit entsprach. Sie wusste es einzurich- 
ten» dass sie ihm im Vorüberschlüpfen ein auf 
rosa Papier geschriebenes Sonett in die Hand 
drückte, worin der Dichter als ,,Hdnrich Roller^ 
angeredet und aufgefordert wurde, seiner Dame 



Dig'itized by Google 



— 1S8 — 

in den Schwarxwaid zu folgen* Er eilte ihr ina 
Maskengewiilil nach und hatte sie auch bald an 
den nickenden roten Federn ihres Baretts wieder 

ausfindig gemacht. Als sie dann in eine lange 
Unterhaltung verwickelt nebeneinander sassen, 
kam Toni eifersuchtentflanunt herangestürzt» 
^Wo brennfs?'* fragte ihn Laura ärgerlich über 
die Störung. „Bei Ihnen!" zischte er ihr in die 
Ohren und wandte sich voll Grimm ins Tanzge- 
wühl zurück. Das Auge der Eifersucht hatte 
richtig gesehen; es war der bekannte Blitzstrahl» 
der auf den ersten Blick bei ihr gezündet hatte» 
Dem Dichter seinerseits konnte der Eindruck, den 
er auf ein so pikantes und aussergewolmliches 
junges Mädchen gemacht hatte, auch nicht 
gleichgültig sein, und ebenso zog ihn ihr feuriges 
Eintreten für die gemeinsamen politischen Ideale 
an. Noch hallten die Sturmglocken, die eben, 
jetzt Frankreich erschütterten, nicht bis über 
den Rhein, aber schon vibrierte es in den 
Lüften, und eine Erregung ging durch alle Ge- 
müter. In dieser gespannten Atmosphäre, in der 
gemeinsamen Erwartung des Neuen, Ausser- 
ordentlichen fanden die beiden sich innerlich 
schnell zusammen. Beim Souper stellte er ihr 
seine badischen Freunde vor, und sie tranken ein- 
ander in Champagner das Wohl der heranbrau- 
senden Revolution zu. Von Liebe war nicht zwi- 
schen ihnen die Rede, aber sie blieben für den 
Rest des Abends unzertrennlich und verabredeten 
noch auf den folgenden Tag ein Wiedersehen in 



Digitized by Google 



— Z59 — 



befreundeter Familie. Danach aber gingen ihre 
Wege auf lange Zeit wieder auaeinaiider. Mein 
Vater sieddte nach Stuttgart über und trat dort 
in die Redaktion des »»Beobachters** ein. Meine 

Mutter wurde durch das Leiden des Gross- 
vaters» das ihn nach Jahresfrist zum Tode führen 
sollte^ ans Haus gefesselt. Doch blieb der Ein- 
druck jenes BaUabends so mächtig in ihr haften» 
dass sie noch Wochen später wie im Traume um- 
herging. Wenn sie in den Strassen von Esslingen 
des Dichters Bruder Emst begegnete» der ihm 
an Gang und Gestalt ähnlich war» so klopfte ihr 
das Herz, und sie liess sich unzählige Male täu- 
schen, obwohl die Brüder sich nur aus der Ent- 
fernung glichen. Mit den Kindern ihres späteren 
Schwagers luiüpfte sie Freundschaft an und lud 
sie nach Oberesslingen zu ihren Obstbäumen und 
Johannisbeerhecken ein, um ab und zu aus dem 
Munde der Unschuld den Namen des Onkels Her- 
mann hören zu können. Ohnehin fühlte sich alles» 
was an der grossen Zeitbewegung teilnahm» wie 
von einem gemeinsamen Familienbande um- 
schlungen; so brauchte sie in den Angehörigen, 
meines Vaters keine Fremden zu sehen, denn auch 
sein Bruder . Emst, nachmals die Friedensliebe 
selbst» war damals von dem allgemeinen Sturme 
miterfasst und trug bei den Festen die schwarz- 
rot-goldene Fahne der Bürgerwehr durch die 
Strassen. 

War ihr nun auch der Gegenstand ihrer 
Schwärmeret räumlich entrückt» so trat sie doch 



Digrtized by Google 



— x6o — 



in eme stille, aber eifrige Bezidiung zu ihm, in- 
dem sie seine täglich erschdnenden politischen 
und ästhetischen Aufsätze im ,3Mhachter" las. 

Jeder brachte ihr einen Hauch seines Geistes, und 
sie lebte mit ihm fort^ als wären alle diese Worte 
an sie gerichtet. Das mehrfach zitierte Vater- 
landslied: »»Sammle die zerbrochnen Glieder''» 
das in den kurzen Esslinger Tagen gedichtet war 
und jetzt im „Beobachter" erschien, erfüllte sie 
mit Entzücken. Dennoch fiel es ihr niemals ein» 
TO bedauern» dass dn solcher Genius sanem 
eigentlichen Berufe entrissen war, und die Klage 
seiner Freunde, dass der gewaltige „Sonnenwirt'*, 
dessen erste Kapitel das „Morgenblatt*' gedruckt 
hatte» jetzt auf lange Zeit unvollendet bleiben 
müsse» fand bei ihr kdn Echo» denn ihr schien der 
unmittelbare praktische Dienst der Freiheit und 
des Menschentums noch preisen s wert er als der 
Umweg über das künstlerische Schaffen. 

Die lange Pause» die in ihrem äusseren Ver- 
kehr mit dem Dichter eintrat» und der Tod ihres 
Vaters dämpften doch allmählich die Stärke jener 
ersten Empfindung. Sie hielt sich vor» dass sie 
nichts zu hoffen hatte« da ja der Gegenstand ihrer 
Neigung schon gebunden war. Einem aussichts- 
losen Träume nachzuhängen, sich den Stachel einer 
unerwiderten Liebe tiefer und tiefer in die Seele 
zu drücken» das lag nicht in ihrer raschen Natur. 
Als sie im nachfolgenden Frühjahr eine Rdse 
nach dem Elsass und der Schweiz antrat und 
Hermann Kurz sie in Stuttgart freundschaftlich 



Digrtized by Google 



— i6i — 

ruhig an den Eüwagcn begleitete, ohne ein Wort 

XVi sprechen, das wie eine Aufforderung zum Blei- 
ben klang, da nahm sie sich fest vor, ihre persön- 
lichen Gefühle zu ertöten, sich nicht die Begeiste- 
rung für ihn» wohl aber den Traum, dass er ein- 
mal ihr gehören könne» aus der Seele sni reissen. 
Ihre bewegliche Natur und die neuen Ein- 
drücke, die ihrer auf fremdem Boden warteten, 
machten ihr die Erfüllung dieses Gelübdes nicht 
schwer. Sie hatte ja bisher von der Welt fast 
nichts gekannt als ihr väterliches Landgut mit 
seiner Umgebung, und auch ihre gesellschaft- 
lichen Beziehungen reichten nicht über die Kreise 
der nahe gelegenen Reudenz hinaus. Jetzt sah 
sie den Rhein und die Vogesen, erfreute sich an 
den feineren Formen und der munteren Lebendig- 
keit der französischen Gesellschaft in Colmar, be- 
suchte die Schweiz und fand bei den dort leben- 
den deutschen Flüchtlingen, die ihr als der Ver- 
körperung ihres Freiheitsideals huldigten, be- 
wundernde Freundschaft und eine Fülle neuer 
Anregungen, die sie mit Feuer ergriff. Das lieb- 
liche Zürich mit seinem von bunten Wimpehi 
durchzogenen See erschien ihr als das Paradies 
auf Erden. Mächtig wirkte auf sie der Anblick 
des Rigi und der gewaltigen Häupter des Bemer 
Oberlandes, das sie mit den neuen Freunden zu 
Fuss durchwanderte. Sie erstieg die Grimsel und 
Furka, besuchte den Rhonegletscher und sandte 
vom Gotthardpass sehnsüchtige Blicke ins Land 
Italien hinunter. - 

Isolde Kurs, Hovaiiii Karr. II 



Dig'itized by Google 



x6a — 



Eine solche Reise war in jener Zeit primitiver 
Verkehrsmittel für eine alleinstehende junge 
Dame kein i^eringes Unterfangen, und es gehörte 

der ganze Wagemut und unerschöpfliche Humor 
meiner Mutter dazu, um bei den geringen Mitteln, 
die sie aufzubieten hatte, die Flügel so weit aus- 
zuspannen. Um nur mit ihrem Gelde ein mög- 
lichst grosses Stück Welt zu sehen, fuhr sie auf 
der Eisenbahn (wo es eine solche gab) am liebsten 
in der vierten Wagenklasse, deren freien Rund- 
blick sie nie genug rühmen konnte; auf dem 
Schiff benutzte sie das Zwischendeck, das ihr 
obendrein erwünschte Gelegenheit bot, sich mit 
der von ihr im idealsten Lichte gesehenen nie- 
deren Volksschicht zu unterhalten. Ihre Un- 
empfindlichk^t gegen jede Art von Witterung» 
ihre absolute Bedürfnislosigkeit, die kaum das 
Recht des Korpers auf Nahrung gelten Hess und 
jede Bequemlichkeit verschmähte, machten es ihr 
möglich, auch da noch zu gemessen, wo andre nur 
die Stacheln empfunden hätten. Diese Reise blieb 
denn auch immerdar ein Glanzpunkt in ihrer Er- 
innerung. Doch fand sie sich nach der Heimkehr 
auch wieder mit derselben Genügsamkeit in ihrem 
stillen Oberesslingen zurecht, wo sie mit dem 
kleinen Brüderchen und ihrer Josephine «nsam 
weiter hauste, die Leere der Tage durch Kor- 
respondenz mit den abwesenden Freunden und 
mit eifrigem Anteil an den öffentlichen Dingen 
ausfüllend. Trotz ihrer leidenschaftlichen Partei* 
nähme für die Sache des Volkes Mrar sie aber 



L.iyui<.LU Oy VjOOQle 



keineswegs gesonnen» wie das »»Fdliilein v<m Mal- 
peire" zu endigen. Denn als einer ihrer Partei- 
genossen, der weiter keinen Ruhmestitel für sich 
hatte, als ein Proletarier zusein, ihr zumutete, von 
der Theorie sur Praxis su schreiten wid ihm ihre 
Hand zu reichen, da wies sie das Ansinnen doch 
sehr erstaunt zurück und gab zu verstehen, dass 
sie zwar den Adel der Geburt für nichtig halte, 
aber auf den der Bildung nimmermdir verzichten 
könne. 

Um diese Zeit hatte sich Hermann Kurz wegen 

eines Pressreats vor dem Esslinger Schwurgericht 
zu verantworten. Der Prozess endigte mit Ver- 
urteilung zu sechswöchentlicher Festungshaft. 
Beim Austritt aus dem Sitzungssaale überreichte 
ihm Marie v. Brunnow. die an allen Verhand- 
lungen teilgenommen hatte, einen Blumenstrauss, 
und während die Freunde den Verurteilten um- 
ringten, ging sie in ihrer explosiven Art auf den 
Staatsanwalt zu, der seinerzeit selber an der Acht- 
undvierziger Bewegung teilgenommen hatte, und 
nannte ihn ohne weiteres einen Verräter — ein 
Zwischenfall« der übrigens, trotzdem er öffentlich 
stattfand, keine Folgen nach sich zog» ein Zeichen, 
wie wenig die Reaktion in Württemberg zum 
Terrorismus neigte. Diese stürmische Partei- 
nahme galt aber nur noch dem Glaubensgenossen, 
der für seine Überzeugung stritt, nicht mehr dem 
Mann ihrer Träume. Während mein Vater auf 
dem Asberg seine Strafzeit absass, wechselten sie 
ein paar freundschaftliche Briefe, doch seiner Auf- 



— i64 — 

lordenmg» ihn emmal oben m besuchen» leistete 
die „Bürgerin Bninnow", wie er sie acherzweiee 

nannte, keine Folge. 

Auf dem einst so gefürchteten „Berg der Seuf- 
zer'*, wo einige der glänzendsten Kapitel der 
^»Heimatjalire" spielen, wurde übrigens mdnem 
Vater die Haft nicht schwer gemacht. Seit den 
Tagen Schubarts war es auf dem Asberg gründ- 
lich anders geworden, kein feuchtes Kerkerloch 
erwartete den Dichter dort» kein Oberst Rieger 
▼erfolgte ihn mit lästigen Bekdirungsversuchen« 
er genoss vielmehr volle Festungsfreiheit, konnte 
sich nach Belieben auf den Wällen ergehen und 
den weiten Ausblick auf sein geliebtes Schwaben- 
land gemessen oder ungestört in seinem wohl- 
eingerichteten Zimmer bei der Arbeit sitzen; 
auch hatte er einen Soldaten zur Bedienung, der 
ihm die Postsendungen besorgte. So war es ihm 
möglich, in der Gefangenschaft die Redaktion des 
»Beobachters** fortzusetzen und der Druckerei 
täglich seine Artikel zu liefern. Ein freundlicher 
Genius hatte es zudem gefügt, dass sein Bruder 
um jene Zeit Vorstand des Arbeitshauses in 
Markgröningen war, in welcher Eigenschaft ihm 
auch die Verwaltung von Hohenasberg unter- 
stand ; und wenn mein Vater auch auf der Festung 
nicht so liebevolle Wurzeln schlug", wie später in 
den siebziger Jahren der behagliche Ludwig Pfau 
in seinem HeUbronner Gefängnis» aus dem er 
nach Ablauf der Strafzeit mit List herausgelockt 
werden musste, weil er es aus freien Stücken gar 



L/iyiu<.Lu üy Google 



- i65 - 

nicht mehr verlassen hätte, so fand er doch keinen 
Grund, über seine unfreiwillige Sommerfriache 
zu ktagen. 

Drei Jahre waren seit der ersten Begegnung 

verflossen, und noch immer waren die beiden 
Menschen, die das Geschick für einander be- 
stimmt hattet sich nicht näher gerückt. Endlich 
im Frühjahr 1851 fand in einem Wirtsgarten bei 
Esslingen eine neues, entscheidendes Zusammen- 
treffen statt, und zwar diesmal auf Antrieb des 
männlichen Teils, der eine in Esslingen lebende 
Verwandte» die zugleich mit meiner Mutter be- 
freundet war, um Vermittlung angegangen hatte. 
Meine Mutter war nicht wenig erstaunt, als ihr 
dort unter dem Blätterdach statt der Freundin 
suerst eine männliche Gestalt entgegentrat und 
sie nach langer Zeit wieder .einmal in die wohl- 
bekannten glänsenden Augen blickte. Er er- 
zählte ihr auf dem Nachhauseweg, dass seine Ver- 
lobung aufgelöst sei» und dass ihn sein Herz nun 
wieder jni seiner lAura ziehie; sie meinte aber, es 
sei mm doch seit jenen Tagen one su lange Zeit 
verstrichen und der erste Zauber verflogen. Das 
Verhältnis hatte sich zwischen den beiden um- 
gekehrt : er wurde jetzt der beflissene, sie der zu- 
rückhaltende Teil. Er fuhr nun häufig nach 
Schluss der Redaktion noch nach Esslingen» um 
den Abend bei ihr auf dem Lande zu verbringen. 
Da erwachten auch bei ihr allmählich die alten 
Empfindungen wieder« und als er ihr einmal von 
den Opfern und Gefahren sprach, die dne Frau 



an seiner Seite erwarteten, flog sie ihm jauchzend 
an den Hala» und unter Blumen und Leuchtkäfern 
wurde der Bund fürs Leben geachloasen. 

Durch die Reihe von Liebeserfahrungen, die 

mein Vater nunmehr hinter sich hatte, war ihm 
der etwas spiessbürgerliche Typus des „Lott- 
chen*' — ehedem sein Frauenideal — gründlich 
verlddet worden. Teils vor» tdls nach dem Karhh 
ruher Aufenthalt und einmal während desselben 
hatte er Herzensbündnisse eingegangen, die jedes- 
mal an seinen ungünstigen Glücksumständen ge- 
scheitert waren. Es haben sich nachmals so viele 
gemeldet, die einen Platz in seiner Herzens^ 
geschichte beanspruchten, dass es mir nicht mög- 
lich gewesen ist, eine chronologische Ordnung in 
diese Ansprüche zu bringen. Aber durchgängig 
scheint sich wiederholt 2u haben» was ihm schon 
als Studenten bei seiner ersten Liebe widerfahren 
war, dass die wohlerzogene Tochter auf väter- 
lichen Befehl entsagte, um einen andern zu heira- 
ten. Er selber hätte bei seiner ritterlichen Natur 
nie mit einem Mädchen« das ein Recht auf ihn be- 
sass, gebrochen; aber in mehr als einem Falle 
mochte er die Lösung des Verhältnisses mit stiller 
Erleichterung hinnehmen. Jetzt endlich fand er 
weibliche Kraft und woblichen Opfermut» nicht 
jenen duldenden, entsagenden, der auf ein väter« 
liches Machtwort hin verzichtet, sondern die wdt- 
überwindende Hingabe einer starken Seele. 
Das erkannte er freudig an, als er in Marie von 
Brunnow das völlige Widerspiel dessen» was er 



sonst an der Weiblichkeit gepriesen hatte» m sein 
Haus ftttirte, und er hing ihr trotz grosser innerer 

Verschiedenheiten dankbar an bis zu seiner letz- 
ten Stunde. 

Die Trauung fand am 20. November desselben 
Jahres in dem Dorfkirchlein von Oberesslingen 
im Beisein weniger Freunde statt. In Stuttgart 

stieg die junge Frau zuerst in der Junggesellen- 
wohnung ihres Mannes ab, bis die gute Josephine 
tnit der fahrenden Habe aus Oberesslingen nach- 
kam und die neue Wohnung in der Sophienstrasse 
einrichtete. Am ersten Abend, den das neue Paar 
im eigenen Heim verbrachte, überraschte sie der 
Männerchor des Liederkranzes durch eine schöne 
Serenade, die trotz der wirbelnden Schneeflocken 
mit dem Lied meines Vaters „Der Himmel lacht 
vmd heitre Lüfte spielen" begann. 

Der Himmel lachte nun wirklich über dem 
neuen Paar. Die ersten Jahre, die folgten, stehen 
in der Erinnerung meiner Mutter als die schön- 
sten, ungetrübtesten ihrer Ehe. Denn solange 
mein Vater ausschliesslich mit der redaktionellen 
Tätigkeit beschäftigt war, wurde der Zwiespalt 
zwischen den Ablenkungen des Familienlebens 
und dem Stimmungsbedürfnis des Dichters noch 
gar nicht fühlbar. Er war heiter und voll Zu- 
kunftsmut und hielt auch in der veränderten Zeit- 
strömung seine Fahne vertrauensvoll aufrecht. 
Meine Mutter, gläubig und überschwenglich, 
teilte smne Hoffnungen und nahm seine politische 
Mission vielleicht ernster, als gut war. Sie lebte 



— i68 — 



ganz für ihn ; völlig bedürfnislos und völlig ichlos 
wünschte und brauchte sie nie das geringste für 
Bich seU»t* Es bedurfte einer Verschwörung» um 
sie zur Annahme eines neuen Kleides su bewegen, 
wenn das alte abgenutzt war, und man musste es 
alsdann rot wählen, um sie durch die „Farbe der 
Freiheit" mit der für sie gemachten Ausgabe zu 
versöhnen. Unterhaltung und äussere Anregung 
suchte und wollte sie trotz ihrer geselligen Natur 
nicht; seine Gegenwart war ihr ein beständiges 
Fest, dass er auch andern Frauen gefiel, ihr höch- 
ster^ Stolz. Nur wo ihre Überzeugungen und 
Prinzipien in Frage kamen, liess sie sich auch von 
ihm nicht beeinflussen, denn sie stand immer ein 
paar Schritte weiter links als er. Ihre Ehe wurde 
deshalb von den Freunden des Hauses die »vio- 
lette Republik" genannt, um sowohl die frdheit* 
liehe Konstitution des neuen Hausstandes, als die 
merkwürdige Mischung der ultraradikalen „blut- 
roten" Gesinnung der Gattin mit der gemässigten 
9 »blauen** des Mannes zu bezeichnen. 

Frölich von den berühmten schwäbischen 
Frauentugenden hatte sie nur die einer exemplari- 
schen Sparsamkeit ins Haus gebracht ; eine eifrige 
Wirtschafterin war die junge Frau nicht und 
sollte es niemals werden» denn die Natur hatte sie 
mehr für die grossen Schicksalsstunden als für 
die Anforderungen des Alltags ausgerüstet. Eine 
komfortable, wohleingerichtete Häuslichkeit übte 
nie einen Reiz auf ne; wäre es nach ihr gegangen» 
so hätte sie am liebsten in einem Nomadenzelte 



L/iyiu<.Lu üy Google 



üy Google 



169 



gewohnt. Mein Vater pflegte sie daher mit ihrer 
russischen Abkunft m necken, die er für diese 
Eigenheit verantwortlich machte, und in der 
Tat, ich habe einen ähnlichen, sich über alle 
äusseren Dinge wegsetzenden Drang ins Grosse 
später nur noch bei den Damen der russischen 
hl^eren Stände wiedergefunden; auch das Fami- 
fieninteresse hinter das öffentliche zurückzu- 
stellen, ist nicht deutsche Frauenart. Doch zum 
Glück besass sie an ihrer Josephine einen guten 
Geist» der nicht nur eine Schar von Dienstboten, 
sondern auch das immer wachsame Auge der 
Herrin selbst ersetzte. 

Es versteht sich, dass das Halbbrüderchen 
Otto sie in das neue Leben begleitete und bei ihr 
blieb» bis seine Mutter, ein Mädchen aus dienen- 
dem Stande, sich verheiratete und das Kind zum 
grössten Leid Josephinens nach Amerika mit- 
nahm, wo die beiden mit der Zeit verschollen sind. 
Doch bald blühte jetzt der treuen Pflegerin mn 
reicher Ersatz, denn am 16. Januar 1853 kam als 
Erstling der jungen Ehe ein bildschöner, adlig 
feiner Knabe, mein Bruder Edgar Konrad, zur 
Welt. Die Ankündigung des freudigen Ereig- 
nisses druckte jenes Tages der „Beobachter*' mit 
goldenen Leitern* 



In der Frone der Freiheit 



Paul Hey9€ hat die Züt, die mein Vater am 

„Beobachter" verbrachte, die „sieben mageren 
Jahre" genannt: sie waren es nicht nur wegen 
des dürftigen Jahrgehalts von achthundert Gul- 
den» der zum Teil den flüchtigen KoUegen mit er- 
nähren musste, sie waren es vor allem im Sinne 
seiner wahren Bestimmung. Dass er in der ge- 
meinen Bedeutung des Wortes keine Seide spann, 
ist man schon an ihm gewohnt, jetzt aber spann 
er auch die Seide der Poesie nicht mehr, sondern 
den dürren Hanf der Tagespolitik. Sdne redak- 
tionelle Tätigkeit an dem „Deutschen Familien- 
buch'* in Karlsruh hatte ihm doch noch die Zeit 
gelassen, die vier ersten Kapitel des MSonnen- 
wirts", die tiefsinnige Einleitung zum „Tristan", 
den satyrischen „Kampf mit dem Drachen" und 
eine Reihe kleinerer Erzählungen zu schreiben. 
Dass mhrend der Tätigkeit am „Beobachter" 
etwas Poetisches zustande gekommen ware^ ist 
mir nicht bekannti 

Es war ein schlechtes Omen, dass gleich der 
erste Schritt auf der neuen Laufbahn ihn um 
seinen alten Herzensfreund Mörike, die Verkörpe- 
rung der Poesie, brachte. Freilich hatte sich 
schon in den Jahren« die unterdessen vergangen 



waren» der Unterschied der beiden Naturen viel 
stärker entwickelt. Mörike weilte noch immer in 
Orplid, mein Vater aber» der mit sdner Zeit lebte» 
konnte diesen Quietismus des Freundes nicht 

mehr verstehen. Zwar wo er den seltenen neuen 
Spuren von Mörikes Genius begegnete, da be- 
grüsste er sie stets mit demselben freudigen £nt- 
sticken, aber persönlich waren beide mander 
ferne gerückt. Es war auch ein starkes Stück 
von Mörike» dass er seit ihrem zärtlichen Ab- 
schied im Walde von Cleversulzbach im Oktober 
1840 dem mit solcher Liebe umfassten jüngeren 
Freund aus reiner Bequemlichkeit keine Z^e 
mehr gesandt hatte, und als er gelegentlich an 
dessen Bruder Ernst über den Entfernten schrieb : 
»Karlsruhe ist mir einmal genannt worden, wo- 
selbst er eine Zeitung dirigiere,'* und „ich habe 
diese lange Zeit her tausendmal gewünscht, ihm 
ein Zeichen zu geben" „ich werde dies un- 
mittelbar auch denmächst tun'' (was natürlich 
nie geschah), so ärgerte mein Vater sich über 
diesen Ton, den er den „slten romantischen Kanz- 
leistil" nannte. 

Auf der Königsstrasse in Stuttgart führte 
jetzt der Zufall die beiden einst so brüderlich ver- 
trauten Dichter nach fast zehnjähriger Trennung 
wieder zusammen. Hermann Kurz im ersten 
Feuer seiner politischen Tätigkeit begrüsste jenen 
mit den Gedanken der neuen Zeit auf den Lippen, 
Mörike^ der Unpolitische, Zeitlose, äusserte sich 
kühl und ablehnend, und es scheint sich nun zwi- 



sehen der jugendlichen Begeisterung und der 
Skepsis des kühleren Alters eine Szene entspon- 
nen zu haben, wie xwiichen Tasso und Antonio» 
nur ohne persönliches Motiv. Nach einer unver- 
bürgten Überlieferung hätte Mörikes Verstockt- 
heit endlich meinen Vater zu dem fassungslosen 
Ausruf getrieben: „Wer heute keine Partei er- 
greif^ von dem heisst es: Pfui über dich Buben 
hinter dem Ofen,*' wobei ich jedoch Anstand 
nehme, mir meinen Vater, den ich als 
die Selbstbeherrschung in Person gekannt habe, 
so masslos za denken* £r selber scheint sich 
später an die Form ihres Bruches nicht mehr er- 
innert zu haben, denn im Jahr 1870 schrieb er an 
Heyse darüber: „Wie wir auseinander gekommen 
sind, das ist in keiner Metaphysik, geschweige in 
Mythen oder Mären zu finden«" — Wie die beiden 
Dichter lebenslang um ihre Freundschaft stille 
Trauer getragen haben und wie der überlebende 
Mörike einmal dieser Trauer mir gegenüber er- 
greifenden Ausdruck gab, habe ich schon erzählt. 

Den Kreis politischer Glaubensgenossen» der 
damals meine Eltern umgab, kenne ich teilwdse 
noch aus eigener Erinnenmg. Ich war zwar erst 
drei Jahre alt, als wir definitiv von Stuttgart weg- 
zogen, doch blieben ja die hervorragendsten unter 
ihnen meinen Eltern auch fernerhin verbunden. 
Da war vor allem „der alte Tafel", der Nestor 
der Volkspartei und Patriarch nicht nur im Kreise 
seiner weitverzweigten Familie, sondern auch 
der Vater seiner jüngeren Freunde. Ihn habe icli 



— 173 — 



nicht selber gekannt, weiss aber, dass er dem 

Dichter in väterlicher Liebe anhing. Dann der 
Rechtskonsulent und ehemalige „Reichsregent** 
Becher, der glänzendste Redner der Partei und 
einer der wenigen, die, mit ästhetischen Organen 
begabt, meinem Vater auch als Künstler gerecht 
werden konnten. Wenn ich ihn charakterisieren 
will, so kommt mir als erstes das Wort Gentle- 
man in den Mund« schon weil er sich gerne an 
die englische Kultur anlehnte. Bei distinguiertem 
Ausseren besass er künstlerische Bildung tmd 
einen Blick, der über die Kleinstadt er ei und Klein- 
staaterei des damaligen Schwabentums hinaus 
ins Weltgetriebe ging, nicht nur theoretisch und 
literarisch, sondern auch praktisch und sozial. 
Jahrzehntelang sass er auf der Linken des Land- 
tags, obgleich er als ästhetischer Aristokrat nicht 
so recht dahin passte, was ihn denn auch mit der 
Zeit notwendig in eine etwas schiefe Stellung 
brachte. Dass er zu den Gemässigten der Partei 
gehörte, versteht sich bei solchen Eigenschaften 
von selbst. Gefeiert war er vor allem als Ver- 
teidiger. Man wusste von ihm^ dass er, wenn die 
Rechtsgründe versagten, unmittelbar auf die Her- 
zen der Geschworenen zielte, um seine Klienten 
zu retten, und dass er hierin starker Wirkimg 
fähig war, eine Gabe^ die verfeinerte psycholo- 
gische Organe voraussetzt und daher in Deutsch- 
land seltener als in den Ländern lateinischer Rasse 
gefunden wird. Auch im Privatleben spürte man 
ihm den Redner an« und eine gewisse Feierlich- 



kett war von seiiiem Auftreten unzertrennlich* 
Meinem Vater war Becher lebenslang «n treuer, 

immer bereiter Freund, und die beiden gleich- 
zeitig gegründeten Familien haben später die 
Freundschaft der Väter fortgesetzt. Von ganz 
anderm Schlage war Julius Hausmann» einer der 
Ultras der sch^bischen Demokratie, Parteimann 
vom Wirbel bis zur Sohle, das politische Interesse 
über jedes andere stellend« von energischer und 
imposanter Persönlichkeit, ein schöner Mann noch 
im Alter, dem die scharfausgeprägten Züge» die 
gebietenden blauen Augen und der starke Schnurr- 
bart das Aussehen eines Offiziers in Zivil gaben. 
£r war der Intimus des um jene Zeit flüchtigen 
Ludwig Pfau, des ewig Heimatlosen und doch so 
Heimatbedürftigen, der in Hausmanns gemüt- 
voller Häuslichkeit jederzeit seine Heimstätte 
fand. Während unsrer Stuttgarter Zeit lebte 
Pfau als Flüchtling in Paris, doch kam er vor der 
Amnestie einmal heimlich ins Vaterland und hielt 
sich acht Tage lang in meinem Elternhause ver- 
steckt. Er war ein untersetzter, etwas beleibter 
Mann mit rotem Haar und stark vortretenden 
blauen Augen, nach Erscheinung und Aussprache 
ein Stockschwabe, dem man äussertich den langen 
Aufenthalt in Frankreich^, dessen Kultur er gründ- 
lich studiert hatte, nicht ansah. Bekannt war 
seine Unergiebigkeit im Gespräch» das er meist 
bloss mit einem dumpfen Knurren begleitete oder 
ab und zu durch ein Kraftwort vom schwersten 
Kaliber bereicherte« um gleich wieder in tiefes 



— X75 — 

Schweigen zu versinken. Was er an angesam- 
melten Gedanken in sich trug, brachte er nur mit 
seiner geistreichen Feder zutage. Überhaupt war 

sein Wesen voll von Widersprüchen. Von höchst 
revolutionärer Gesinnung, hielt er doch die 
grössten Stücke auf seine persönliche Ruhe« Ein 
grosser Freund materieller Genüsse opferte er 
alles dem Ideal. Von äusserst sesshafter Natur 
schweifte er ewig ruhelos durch die Welt. Die 
Form war ihm heilig in der Kunst, aber im Lieben 
verachtete er sie. Er stand mit meinem Vater 
auf keinem sehr intimen Fusse; bd aller gegen- 
seitigen Anerkennung waren sie zu verschieden 
in den Instinkten. Sehr gut verstand er sich da- 
gegen mit meiner Mutter, die ihn von Zürich her 
kannte und die ohnehin für alles* was zur Päftei 
gehörte, Feuer und Flamme war. Mit jener Un- 
beweglichkeit, die alle seine Freunde an ihm 
kannten, sass er als Peter in der Fremde nach- 
mittagelang in der Sofaecke langsam seinen 
Kaffee schlürfend« während mtm Vater auf der 
Studierstube war, oder er ging mit meiner Mutter 
eifrig politisierend im Zimmer auf und ab, wobei 
ihm meine damals noch sehr kleine und unruhige 
Wenigkeit beständig überquer kam und den poU- 
tischen Spaziergang störte, was er mir noch vor- 
zuwerfen pflegte, als ich schon erwachsen war. • 
Mit Pfau und Hausmann bildete Karl Mayer, 
der Sohn des gleichnamigen^ zur Zeit der Schwä- 
bischen Dichterschule viel genanntenLjrrikers» das 
Triumvirat der Volkspartei. Er war der typische 



L/iyiu<.Lu üy Google 



— 176 



Agitator und Volksthbun, sogar im Äusseren, ein 
Inrettachultriger, untersetster ICaiin von starkem* 
bew^lichem Temperament und kündender» auf 

die Menge wirkender Rhetorik. Daneben besass 
er umfassende literarische Kenntnisse und galt 
im Freundeskreise für einen brillanten schlag- 
fertigen GeseUschafter. Von seiner l3nn8Ghen Be* 
gabung sind nur wenige Proben an die öffentlich* 
keit gedrungen; sie wecken aber die Vermutung, 
dass er auf diesem Punkte seinem Vater^ der mehr 
durch seine Nachbargestime Uhland und Schwab 
als durch eigenes Licht geglänzt hatte» bedeutend 
überlegen gewesen sei. Dagegen war Karl 
Schnitzer, der klassische Philologe, eine richtige 
Celehrtennatur von altschwäbischem Schlage, zah 
und .tiefgründig, auch er einer der Getreusten 
mmes Vaters. Von unsrem intransigenten 
Freunde Hopf, dem Verrina der schwäbischen 
Volkspartei, wird bei späterer Gelegenheit die 
Rede sein. Jener dicke Gottiieb Finkh, genannt 
»«der Ostjäck% den die Leser meines Vaters aus 
dem „Wirtshaus gegenüber" kennen, war gleich- 
falls unter die „Roten" geraten imd gehörte zu 
den Intimen unsres Hauses, desgleichen Ludwig 
Seeger, dessen Ruhm als L3rriker und Ubersetzer 
jetzt mit Unrecht halbverkitmgen ist. Seine Per- 
sönlichkeit steht nur noch in ganz dämmernden 
Umrissen am fernsten Horizonte meiner Kind- 
heitserinnerungen; er muss nach meinem Vater 
die bedeutendste Erscheinung dieses Kreises ge- 
wesen sein: dne breitangelegte Natur voll Kraft 



und Feuer, derb und saftstrotzend, ein Sohn des 
Volks, dabei mehr glühender Patriot als eigent- 
licher Parteimanii» so schilderten ihn später die 
Überlebenden* Mein Vater hat ihm zur Hochzeit 
ein Gedicht gewidmet, das an gemeinsam durch- 
schwärmte, brausende Jugendtage mahnt, eine 
Erinnerung, die auf die Universitätszeit zurück- 
zuweisen schdnt« wo Seeger mit Finkh dem 
Kauslerschen Freundeskr^s angehörte. 

Dieses war der politische Zirkel, der in den 
fünfziger Jahren den früheren literarischen ab- 
gelöst hatte und der dem geistigen Leben des 
Landes ein völlig anderes Gepräge gab. Jetzt war 
es mit der patriarchalischen Gemütlichkeit gründ* 
hch vorbei: ein Riss ging mitten durch das Land, 
alte Freunde mieden sich oder waren Todfeinde 
geworden, und manche» die sich innerlich wider- 
strebten, wurden durch ttn Parteiprogramm zu* 
sammengebunden. 

Im Juni 1849, unmittelbar nach der Sprengung 
des „Rumpfparlaments", hatte mein Vater den 
Beobachter, an dem er seit einem Jahre beschäf- 
tigt war, zum erstenmal als verantwortlicher 
Stellvertreter neben dem eigentlichen Redakteur 
Adolf Weisser unterzeichnet« Nachdem dieser 
schon im Juli desselben Jahres, politisch schwer 
kompromittiert, in die Schweiz entflohen war, 
führte Hermann Kurz die Redaktion allein weiter, 
obgleich er erst vom Tanuar 1851 ab, nach 
Weissers Tode^ als Redakteur zeichnete. Doch 
hatte er schon die ganze Zeit her die Last allein 

Isolde Kurs» HcrmM» Kurs. la 



— 178 — 

getragen. Er schrieb, wie ich vcm meiner Mutter 

weiss, fast das ganze Blatt: Leitartikel und Kam- 
merberichte, zum grossen Teile auch das Feuille- 
ton; Beiträge für das letztere bezahlte er noch 
von seinem eignen mageren Grehalt* Er machte 
sich's zur Ehrensache, seine Leser auch kulturell 
an sich heranzuziehen und hob daher das Feuille- 
ton des kleinen Volksblattes auf eine literarische 
Höhe, die den Ansprüchen einer grossen Zeitung 
gv^nügt hätte, indem er dab^ doch immer den 
populären Standpunkt festhielt. Oft hörte ich 
ihn später sagen, für das Volk wie für die Kinder 
sei nur die beste geistige Kost gut genug. 

Als mit zunehmender Bedrückung das freie 
Wort immer gefährlicher wurde und auch die 
Reihen der Kampfgenossen sich durch Exil und 
Übertritt lichteten, liess er sich niemals ent- 
mutigen und harrte unbeirrt in seinem Redak- 
tionslokal aus, jeden Augenblick darauf gefasst, 
von Frau und Kindern weggerissen und ins Ge- 
fängnis geführt zu werden. Der Beobachter, der 
als Oppositionsblatt die Pflicht hatte, jeden Miss- 
brauch, jedes Unrecht ans Licht zu ziehen, war 
IQ immerwährende Kämpfe verwickelt. Die 
Konfiskationen jagten sich; häufig wurde nicht 
einmal der Grund der Beschlagnahme angegeben« 
Tag für Tag welch ein Verbrauch der edelsten 
Kraft. Und dabei hatte der Dichter ja nicht die 
derben Organe seiner Parteigenossen, er fühlte 
alle Aufregungen und Bittemisse, allen Ekel dieses 
Bingens mit einer verknöcherten Bureaukratie, 



L/iyiu<.Lu üy Google 



einem gewalttätigen Reaktionsregiment. Eine 
ganze Mustersammlung von beleidigenden pri- 
vaten Zuschriften, die dem Redakteur des Be- 
obachters galten, habe ich noch jüngst in seinem 
Nachlass entdeckt. Der ,,Märzminister" Ronaer 
sandte ihm eines Tages eine Herausforderung auf 
Säbel» worauf mein Vater die Antwort gab, er sei 
kein Korpsstudent und stehe nur auf Pistolen bei 
fünf Schritten Distanz zu Diensten, was dann die 
Folge hatte« dass das Duell unterblieb. Ein ander- 
mal erhielt er von anonymer Seite die Zeichnung 
einer russischen Knute zugesandt mit der 
Drohung, der Einsender würde sich nächster Tage 
mit diesem Instrument bei ihm einfinden, um ihn 
selbst und seine Frau und Kinder (die damals im 
Wickelkissen lagen!) für seine Artikel gegen den 
Kaiser Nikolaus zu züchtigen. Mein Vater druckte 
den ganzen Brief nebst der Knute im Beobachter 
ab und fügte die Aufforderung hinzu, der edle 
Anonymus möge doch so bald wie möglich kom- 
men, um aus dem Lauf seiner Pistole die einzige 
Antwort entgegenzunehmen, die auf eine so 
bestialische Drohung möglich sei. Es brauchte 
die ungeheure Spannkraft meiner Mutter» ihre bis 
zum Fanatismus gehende Hingebung an die 
Sache, der er diente, um ihn als Frau in dieser 
Lage nicht durch Kleinmut herabzuziehen, ja ihn 
noch länger izum politischen Märtyrertum zu 
spornen, als es sich mit seiner höheren Sendung 
vertrug. 

Im Herbst 18^3 stand er zum zweiten Male 



wegen Pressvergehens vor dem Esslinger Schwur- 
gericht, aber diesmal entriss ihn Bechers glän- 
zende Beredtsamkeit einer Verurteilung. 

Jetzt kam die Reihe auch an meine Mutter. 
In dem Bureau einer kleinen demokratischen Zei- 
tung zu Dresden, deren Redakteur verhaftet war, 
wurde ein politisches Gedicht gefunden, das keine 
Unterschrift trug. Es war an Gottfried Kinkel 
gerichtet, der zur Zeit der Abfassung im Span- 
dauer Zuchthaus am Spinnrocken sass, und schloss 
mit einem vehementen Ausfall auf das herr- 
schende Regiment. Das Gedicht war ungedruckt^ 
somit wäre eine gerichtliche Verfolgung zu ver- 
meiden gewesen, wenn nicht die Frau des Redak- 
teurs, die zuvor von meiner Mutter viele Unter- 
stützimgen empfangen, sie sogleich und ohne Not 
als Verfasserin angegeben hätte. Ein Verfahren 
musste eingeleitet werden, ganz gegen den Ge- 
schmack der württembergischen Regierung, die 
gerne imnötigen Skandal vermied. Mein Vater 
war ausser sich und fest entschlossen, lieber aus- 
zuwandern als seine Frau eine Strafe absitzen zu 
lassen. Mit einer ganzen Schar befreundeter 
Advokaten begleitete er sie, die sehr munter und 
gutes Mutes war, denn sie hätte gerne auch ein 
bischen Märtyrertum gehabt, vpr das Schöffen- 
gericht in Stuttgart, und unterwegs suchte ihr 
Becher noch genau einzuprägen, wie sie sich ver- 
halten solle. Der Richter stellte auch seine 
Fragen auf eine Weisen dass es ihr ein leichtes ge- 
wesen wäre sich herauszuwinden« aber ihr rasches 



— i8i — 



Temperament ging mit ihr durcii. Auf die Frage» 
ob sie das inkriminierte Gedicht geschrieben habe, 

antwortete sie nicht nur mit Ja, sondern setzte 
aus freien Stücken hinzu, die darin ausgesprochen 
nen Ansichten seien noch jetzt die ihrigen. Der 
wohlwollende Richter, der um keinen Preis eine 
Märtyrerin machen wollte, verstand es dennoch, 
zu einem freisprechenden Erkenntnis zu gelangen. 
Nach Verkündigung des Urteils sagte er heim- 
lich zu meiner Mutter: „Ich muss Ihnen mein 
Kompliment machen: das Gedicht ist gut/' 
Einige Wochen nach diesem Vorfall kam ich zur 
Welt; meine stillschweigende Anwesenheit bei 
der Sitzung mag den Freispruch mit beeinflusst 
haben. Wer weiss, ob nicht meine angeborene 
und schoif ganz frühe ausgeprägte Abneigung 
gegen jede Art von politischer Dichtung dem Um- 
Stande zuzuschreiben ist, dass ich schon im Mut- 
terleib durch einen Prozess wegen politischer 
Verse inkommodiert worden bin. 

Die in der Frone der Freiheit verbrachten 
Jahre sind derjenige Abschnitt im Leben meines 
Vaters, über den ich die wenigsten Nachrichten 
habe. Er selber berührte diese Kämpfe, deren 
Wunden ihn wohl noch lange schmerzten, nie- 
mals. Auch schriftliche Belege sind darüber so 
gut wie gar nicht vorhanden, seine sonst so leben- 
dige Korrespondenz mit den Jugendfreunden 
Rudolf Kausler und Adalbert Keller stockte da- 
mals ganz ; sie standen seinen politischen Idealen 
nicht feindselig aber gleichgültig gegenüber. 



l82 



Sdne Waffengefäbrten sind alle tot und haben» 
so viel ich weiss, keine Aufzeichnungen über jene 

Tage hinterlassen. Wie mannhaft und aufopfe- 
rungsvoll er in der schwersten Zeit der Reaktion 
auf seinem bedrängten Posten standhielt» da- 
für habe ich ausser den Erinnerungen meiner 
Mutter nur das poetische Zeugnis, das Kart 
Mayer, einer seiner Nachfolger am Beobachter, 
viele Jahre später an dem frischen Grabe des 
Dichters niedergelegt hat; es war die einzige 
Stimme der Dankbarkeit und Anerkennung, die 
sich damals für den Geschiedenen aus den Reihen 
seiner einstmaligen Kampfgenossen erhob, und 
ein um so wertvolleres Zeugnis« als Karl Mayer 
nicht zu den intimeren Freunden unsres Hauses 
gehörte. 

Ohne Dank, ohne Freude, selbst ohne das 
tröstliche Gefühl einen inneren Beruf zu erfüllen, 
harrte der Dichter aus« nur um seinem Gewissen 
zu genügen. Ob er ihm volle Genüge tat, ob nicht 
zuweilen eine heimliche Stimme ihn mahnte, dass 
er einer höheren Gottheit gehören sollte, die über 
den Zeitkämpfen schwebt, ich weiss es nicht. Ich 
weiss nur, dass diese Vergeudung seines Talents 
noch verhängnisvoller war als das drangvotte 
Ubersetzerhandwerk, dem er zur Zeit seines ersten 
Stuttgarter Aufenthalts hatte frönen müssen. 
Damals war er ja noch jung, und Selbstver- 
schwendung gehört zum Wesen der Jugend. Jetzt 
aber trat er in das Alter, wo die Zeit immer kost- 
barer wird und wo jedes der waiiren Bestimmung 



entzogene Lebensjahr einen unersetzlichen, ewig 
peinigenden Verlust bedeutet. Und wenn er auch 
im Feuilleton sich einen Ausweg ins Zeitlose» 
Geistige offen hielt, so blieb doch immer der Ab- 
stand zwischen ihm und seinem Publikum viel 
zu g^ross, um ihn hier die genügende Entschädi- 
gung finden zu lassen» 

Auch die Geldsorgen hatten sich zeitig in der 
Ehe Angestellt. Das Brunnowsche Vermögen 
war schon beim Tode meines Grossvaters sehr 
zusammengeschmolzen, denn der alte Kriegsmann, 
der mit der Verwaltung nichts zu tun haben 
mochte, hatte es grösstenteils in Sparkassen an- 
ge]egt, die eine um die andere fallierten. Das 
Haus in Oberesslingen mit Garten und Wiesen- 
gründen hatte meine Mutter, weil es nicht ver- 
mietet werden konnte, bei der Heirat in Eile um 
einen Spottpreis verkauft. Da beide Eltern sich 
bewusst waren, von Geschäften nichts zu ver- 
stehen, Hessen sie sich durch den Kat gleichfalls 
unpraktischer Freunde leiten, und so ward ein 
Besitz, in den mdn Grossvater Brunnow ein fttr 
jene Zeit nicht unbeträchtliches Kapital gesteckt 
hatte, für wenige tausend Gulden verschleudert, 
die in den ersten Jahren aufgezehrt wurden. In 
einem Geheimfach seiner Schatulle hatte der alte 
Herr vor seinem Tode noch eine stattliche An- 
zahl von Goldstücken versteckt, hoffend, seine 
Marie werde einmal gerade im rechten Augen- 
blick, wenn sie des Geldes bedürftig sei, den 
Schatz entdecken« was denn auch richtig einge- 



troffen ist — ich vermute, dieser Augenblick war 

bei ihr immer. Einen ähnlichen Glücksfund und 
zu ähnlich gelegener Stunde tat übrigens auch 
einmal mein Vater; allerdings hatte er das Gold 
selber versteckt* Er besass ein Kunstblatt, den 
„Verhungerten Dichter** darstellend, eine abge- 
zehrte, im Lehnstuhl zusammengebrochene Ge- 
stalt, neben der ein trauerndes Weib in dürftigem 
Aufzug stand« Das Bild hatte ihn einmal noch in 
seiner brausenden Junggesellenxdt als plötzliches 
Memento erschüttert, und da er zufällig gerade 
bei Kasse war, hatte er in eine umgebogene Ecke des 
Blattes einGoldstück geklebt, um esspäterbeiwie- 
derkehrender Ebbe da zu finden. Allein, obglach 
die Ebbe jedenfalls früh genug eintrat, blieb die 
Existenz des Goldstücks doch vergessen, bis er 
eines Tages, schon als Familienvater, den weg- 
geworfenen Holzschnitt wieder aus dem Papier- 
korb holte» etwas Hartes zu fühlen bekam und 
Gern „Verhungerten Dichter** dankbar seinen 
wohibehüteten Sparpfennig abnahm. — Die Reste 
des grossväterlichen Vermögens waren um jene 
Zeit auch noch bei Privaten angelegt, besonders 
bei Untertürkheimer Bauern« die regelmässig am 
Termin den Zins nicht zahlen konnten. Der 
Schultheiss des Ortes, ein politischer Gegner, er- 
klärte mdnem Vater eines Tages, dass man bei 
der Armut der Leute kein anderes Mittel hätte, 
den Zins oder die Summe selbst wieder einzu- 
treiben, als indem man ihre Äcker pfänden hesse. 
Meine Eltern erliessen hierauf den Ärmsten 



^ 185 — 

ihrer Gläubiger den Zins zusamt der Schuld. Dies 

machte solchen Eindruck auf den Schulzen, dass 
er die Partei wechselte und auf den Beobachter 
abonniertet denn, sagte er, eine Partei, zu der 
solche Menschen gehörten» müsse es wirklich mit 
dem Volke gut meinen. 

Noch einer anderen merkwürdigeren mora- 
lischen Eroberung meines Vaters soll hier gedacht 
werden. Eines Tages trat in sein Redaktions- 
lokal ein sehr unheimlicher Besucher, der Scharf- 
richter. Er erzählte meinem Vater, er habe seine 
Artikel gegen die Todesstrafe gelesen, und klagte 
bitter» dass er« der selbst ein prinzipieller Gegner 
der Todesstrafe sei» sich zu diesem fürchterlichen 
Kandweric gezwungen sehe. Er sei blutarm, jeder 
andere Beruf sei ihm verschlossen; was er tun 
solle? Mein Vater antwortete, wenn er die 
Mittel hätte» würde er ihm gerne helfen» so aber 
könne er ihm nicht einmal raten, denn es handle 
sich hier nicht um das Wohl der Menschheit, son- 
dern lediglich um sein eigenes. So lange die 
Todesstrafe bestehe» würden sich immer wieder 
Leute finden» sein Amt zu übernehmen. Die kleine 
Begebenheit mag als Beispiel dafür dienen» was 
nach Karl Mayers Zeugnis 

— „dieses Dichters Rat und Spruch im Land 
In Häusern und in Hütten damals galten". 

Die Wege des Geistes sind geheimnisvoll. Ein 

schärferes Auge als das unsrige könnte vielleicht 
heute noch die verwischten Lichtspuren wahr- 
nehmen, die von ihm zu seinem Volke hinunter- 



fuhren und von da wieder hinaus ins Crosse und 
Allgemeine. 

Gegen Mitte der fünfziger Jahre begann sich 
die demokratische Partei in Württemberg zu spal- 
ten. Ein Teil neigte sich den Ansichten des 
späteren Nationalvereins zu« indem er unter Bei- 
behaltung der Forderungen von Achtundvierzig 
einen engerm Anschluss an Preussen verlangte. 
Die Brüder Ludwig und Adolf Seeger und der 
feinsinnige Fetzer, gleichfalls eine Poetennatur, 
standen an der Spitze der Sezessionisten. Mein 
Vater dagegen war Anhänger der grossdeatschen 
Idee. Er hatte in einer im Beobachter erschiene- 
nen Schrift über die deutsche Trias einen Bund 
der Kleinstaaten mit gesondertem Parlament und 
ein Schutz- und Trutzbündnis mit Preussen und 
Österreich befürwortet; zu ihm standen Becher, 
Schnitzer, Hopf und Hausmann mit dem Kern 
der Partei. Ich erinnere mich noch aus einer 
etwas späteren Zeit, dass ich oft meine Mutter 
den Namen ,,Trias'* mit Sehnsucht und Ehrfurcht 
aussprechen hörte, und bei dem sonoren Klang 
dieses Wortes schwebte mir ein am fernsten 
Horizont befindliches Wunderland, eine Art 
glückseliger Insel vor. — Diese Entzweiung 
innerhalb der Partei reifte in meinem Vater, den 
der Genius in Gestalt des Sonnenwirts immer ge- 
bieterischer drängte, den Entschluss, die Redak- 
tion des Beobachters niederzulegen. Natürlich 
stiess er auf heftigen Widerstand, und die Freunde 
suchten vor allem durch seine Frau auf ihn ein- 



— i87 



2uwirken* Ich habe €8 meiner Mutter immer 
hoch angerechnet, dass sie diesem Drangen gegen- 
über zu meinem Vater stand und die Besucher 
mit dem Bescheid entliess, ihr Mann habe nun 
genug für die Partei getan ; die Redaktion des Be- 
obachters könne auch ein anderer führen, den 
»iSomienwirt'' schreiben könne k^er als er. 



Neue Schaffensperiode 

Dem düsteren „Sonnenwirt" fiel ein freund- 
licheres Los als den sonnigen „Heimatjahren*'. 
Der rührige Frankfurter Verleger Meidinger hatte 
den Roman zu günstigen Bedingungen für seine 
,,Deut8che Bibliothek'* erworben. Im Frühjahr 
1854 nahm Hermann Kurz den seit zehn Jahren 
unterbrochenen Faden wieder auf. Es scheint, 
dass er zunächst nur einen Teil seiner Redaktions- 
geschäfte provisorisch einem Stellvertreter über- 
gab, denn er zeichnete noch das ganze Jahr hin- 
durch den Beobachter" mit seinem Namen. Die 
Zeit war knapp, bis zum Herbst musste das Buch 
im Handel erscheinen. Das Material war schon 
früher zusammengestellt, sonst wäre die Vollen- 
düng innerhalb acht Monaten eine Unmöglichkeit 
gewesen. Man hat dem Verfasser oft von befreun- 
deter Seite seine Gründlichkeit und Umständlich- 
keit in den Vorstudien als Fehler vorgeworfen — 
mit Unrecht, wie mir dünkt, denn wer historische 
Schatten mit Blut beleben will, der muss, wie 
weiland Odysseus, seine Grube tief graben. Dass 
wenigstens die Raschheit der Ausführung nichts 
zu wünschen übrig liess, wird niemand bezweifeln, 
der erkemit, wie der Verfasser an die Grenzen 
seines Stoffs gebunden war und wie er mit jedem 



Federstrich das aufgerollte KulturbUd noch be- 
reicherte und vertiefte. Wenn er in den „Hdmat- 

Jahren" noch vielfach seiner Phantasie freien 
Spielraum Hess, so waren ihm hier durch die un- 
erbittliche tragische Folgerichtigkeit der Ent- 
wicklung wie durch die Lebenskreise» in denen 
das Schicksal seines Helden verläuft, die streng- 
sten Schranken gezogen, und es brauchte die 
Feuerströme der gereiitesten Kraft, um innerhalb 
dieser Schranken das zu vollbringen, wozu er 
von der Natur ausersehen war: die voll- 
kommene Verschmelzung des kul- 
turhistorischen mit dem psycho- 
logischen Koman. Def ältere kultur- 
historische Roman war fast nur ein mehr oder 
minder bewegtes Schattenspiel gewesen; sein 
Verfasser hatte das mögliche getan, wenn er ihn 
mit lebendigen Lokalfarben, mit „MiÜeu", wie 
man heute sagt, umgab. Hermann Kurz brachte 
ein Neues hinzu in der schrittweisen unausweich- 
lichen psychologischen Entwicklimg, die erst 
eine viel spätere literarische Periode zu ihren 
Forderungen schrieb. 

Der „Sonnenwirt*' ist ebenso wie die »,Heimat- 
jahre'^ eine Sammlung schwäbischer Charakter- 
typen, nur innerhalb einer niedrigeren Lebens- 
sphäre, was ihre Mannigfaltigkeit fast noch be- 
wundernswerter macht. Aber der Verfasser 
selbst ist unterdessen ein anderer geworden» er 
sieht seine Gestalten nicht mehr im „goldenen 
Duft der Morgenröte'', sondern im scharfen Licht 



100 — 



|des Tages, Weich ein Unterschied zwischen 
dem Hannikel und semen Gesellen« um die noch 
trotz ihrer schaurigen Tat am Gaisbühl und 
ihrem ebenso schaurigen Ende alle Lichter des 
Humors aufzucken, und der unerbittlich realen 
Zigeunergesellschaft» in die der Sonnenwirt ge- 
rät! Nicht nur die geistige, auch die seelische 
Anspannung muss eine übergrosse gewes^ sein 
an diesem Werke, werden ja schon beim Lesen 
die Saiten des Gefühls bis zum Zerreissen ge- 
spannt. Es sei ein finsteres Geschäft, hatte der 
Verfasser noch über den helleren ersten Kapitehi 
an einen Freund geschrieben. Man könnte ver- 
sucht sein zu fragen, wie gerade er mit seinem 
weichen Gemüt sich einen Stoff von solcher 
Härte wählen mochte. Ein ähnlich grausames 
Motiv, das ihn lange verfolgte, 'die Geschichte 
der Afra, die, wie er mir einmal schaudernd und 
im Flüsterton erzählte, unter dem Regiment 
eines Urahns in Reutlingen als letzte Hexe leben- 
dig verbrannt wurdet was ihm wie eine vererbte 
^Schuld auf der Seele lastete, gab er trotz dem 
persönlichen Drang einer Sühne auf, denn bei der 
Realistik, zu der seine Muse sich entwickelt 
hatte, waren dem Grausen eines Hexenprozesses 
auch seine Nerven schliesslich nicht gewachsen, 
und der Schatten des armen „Aferle** blieb un- 

gesühnt. Vielleicht vnd erstrebte auch das 
Passive, das blosse Leiden ohne Schuld, das den 
Hexenprozessen anhaftet, seiner männlichen 
Feder» Im „SonnenwtLrt'^ gab es Stoss und 



L.iyui<.LU Oy VjOOQle 



— 191 — 



Gegenatoss» da werden den Verbrechen des Ge* 
setxes die einer gesetzlosen Welt entgegenge- 
stellt, und wenn ihn das Schicksal seines Helden 
um Sühnung und tragische Gerechtigkeit anrief» 
80 konnte er in diesem trotzigen Schwabensohn 
sogar einen verwandten Zug erkennen: war er 
doch selbst in ständigem Kampfe mit einer über» 
mächtigen, bald bureaukratisch engen, bald spiess- 
bürgerlich stupiden Umgebung herangereift ; diese 
Welt der Beschränktheit, des kleinlichen £igen- 
niitzes, der starren Vorurteile zur Monumentalitat 
gesteigert und in ein härteres Jahrhundert, in 
ländliche Umgebung versetzt, ergab jene typi- 
schen Gestalten des Amtmanns, des Pfarrers, die 
nicht einmal Personennamen führen, so sehr sind 
sie Vertreter ihrer Klasse» und jene kleinlich bos- 
haften Weiber, wie die Sonnenwirtin und die 
Amtmännin, die wie unpassierbare Klippen den 
verlorenen Kurs des Helden umstarren. An 
jedem Zuge neht man, wie ganz der Dichter hier 
auf eigenem wohlbekanntem Boden stand. So 
himmelweit der „Sonnenwirt" von einem Ten- 
denzwerk entfernt ist, lässt sich doch in gewissem 
Sinne von ihm sagen, dass er innerlich mit des 
Dichters politischem Wirken zusammenhangt: 
das versteinerte Beamtenwesen mit dessen Über- 
resten er am Beobachter" den langen Krieg ge- 
führt hatte, stellte er hier noch einmal in seiner 
empörenden Missgestalt hin, und obgleich diese 
Typen heute nicht mehr existieren können, weil 
die Einrichtungen völlig andere geworden sind, 



— 19^ — 

ist doch ihre Lebenswahrheit so gross, dass man 
sie noch persönlich zu kennen glaubt. 

Es ist ein stehender Brauch geworden» den 
tfSonnenwirt'' mit dem ^Michael Kohlfaaas*' su 
vergleichen. Meines Erachtens reicht aber die 
Parallele nicht weit. Den tragischen Rosskamm 
macht doch das Auf diespitzetreiben seines Rechts, 
das an die fixe Idee streift* zu einem ganz beson- 
deren, bizarren Menschentypus. Sein Fall ist ein 
Spezialfall, den nicht der Menschheit Jammer 
durchzittert; er erlief, wie alle Helden Kleists, 
seinem eigenen Dämon. Bei dem unseligen 
Friedrich Schwahn aber sind es die nächsten, hei- 
ligsten Gefühle der Menschenbrust, die ihn den 
schwarzen Pfad hinunterreissen. Es ist mir 
immer als ein besonders feiner Zug erschienen, 
dass all sein Übermut, sein Schwadronieren, seine 
Gewalttätigkeit dem Wildling gar nicht sonder- 
lieh schaden: erst als das Beste und Edelste in ihm 
erwacht, als er dem Weib seiner Liebe Wort 
halten und seinen Kindern Vater sein will, er- 
greift und zermalmt ihn die erbarmungslose Ma- 
schine der Gesellschaftsordnung. Aber nicht nur 
in dem Furchtbar-tragischen, auch in dem Heim- 
lich-trostlosen, dem inneren Welken und Ab- 
sterben zeigt uns der Künstler das Walten der 
unentrinnbaren Notwendigkeit. Wie die blonde 
Christine allmählich mit dem Schmdz der Jugend 
auch den inneren Schmelz verliert und in eine 
nüchterne Alltäglichkeit fällt, die erst im Augen- 
blick des letzten tragischen Wiedersehens auf der 



— 193 



Richtstätte wieder einem Strahl des früheren 
liebetglaiises Raum gibt» das ist ein aus den 
innersten Naturgesetsen geborener Meistersug, 

Alles wirkte zusammen, den Guss des gewal- 
tigen Werkes rasch zu fördern. Das Manuskript 
wanderte bogenweise, wie es aus der Feder kam, 
in die Presse;, und der Setser jagte den 
Verfasser wdter. In gleichmässiger FüHe 
der Erfindung, wie ein Strom, der nirgends 
schwächer wird« eilte so die Arbeit vor- 
wärts bis SU jenem ungeheuren Wendepunkt» 
wo die herzgebrochene Umlcefar des Hdden be- 
ginnt, der sich aus den Greudn seiner Räuber- 
gcmeinschaft zur Sühnung dem Gesetz in die 
Arme wirft, und wo die nunmehr »»gerettete" Ge- 
sellschaft seiner inneren Läuterung nichts Bes- 
seres ehtgegenzubring^i hat» als das Rad des 
Henkers. Aber gerade an dieser Stelle, wo es 
eines neuen, mächtigen Zusammenfassens aller 
dichterischen Mittel bedurft hätte, lauerte der Un- 
stern» um das Gelingen sum Tdl zu hemmen. 

Eine Himentzlhidung befiel den Erstgebore- 
nen, der damals anderthalb Jahre alt war, und 
stürzte das Haus in Schreck und Jammer. Die 
zarte Konstitution des Kindes gab wenig Hoff- 
nung auf Rettung. Der Dichter verbrachte die 
Nächte am Sette des Knaben neben der verzwei- 
felnden Mutter, die unter solchen Umständen 
nicht mehr daran denken konnte» sein Schaffen 
zu behüten; die Tage teilte er zwischen dem 
Schrctbepult und dem Krankenzimmer« Jenen 

liolde Kurz. H«nnann Kurz. I3 



künstlerischen Egoismus» der sich die Stönmgen 
um jeden Preis vom Halse hält» kannte er nicht» 
auch erlaubte ihm die Enge der Wohnung kaum* 
sich zu isolieren, imd seine angstvolle Zärtlichkeit 
für den Knaben stand der der Mutter wenig nach. 
In dieser Aufregung stockte der Strom der Erfin- 
dung» die Gesichte verschwanden. Welcher Dich- 
ter hätte nicht schon jenen Sturz aus Wolken- 
höhe erlebt, wo die umgebende Wirklichkeit, die 
vor der Intensität des inneren Schau ens völlig 
versunken war» plötzlich mit Gewalt ihre Rechte 
zurücknimmt und die Visionen verscheucht» dass» 
wo vorher eme ganze lebendige Welt gewesen» 
auf einmal nichts mehr da ist als ein leeres 
weisses Papier? Auf die Rückkehr der Stim- 
mung zu warten» war dem Verfasser des »»Son- 
nenwirta*' nicht vergönnt» der Verleger drängte» 
die Setzer klopften stürmisch an die Tür, die 
Bogen mussten abgeliefert werden; so griff er zu 
einem verzweifelten Auskimftsmittel» indem er 
auf die freie Darstellung, verzichtete und von der 
Muse Abschied nahm» um an ihrer Stelle die Ge- 
schichtsschreibung im Aktenstaube wühlen zu 
lassen. Das 38. Kapitel gibt in der Tat den Roh- 
stoff in fast unbearbeiteter Gestalt und sogar mit 
tetlweisen Auszügen aus den Gerichtsakten» was 
die Kritik von jeher, und mit Recht, gerügt hat. 
Die psychologische Wichtigkeit des hier massen- 
haft gehäuften Materials, das er bei dichterischer 
Darsteliung zum grossen Teile hätte über Bord 
werfen müsaenu mochte ihn zu diesem Ausweg 



L/iyiu<.Lu üy Google 



mit verleitet liabcn. Aber man hat doch dem 
Dichter die Fiktion von der Muse» die nicht m die 

Höhle des Verbrechens und über die Schwelle 
des Gerichtssaals mitkönne, allzu willig geglaubt, 
indem man annahm, dass ihm an dieser Stelle der 
StoH schlechtweg über den Kopf gewachsen sei 
und die Gestaltungskraft lahmgelegt habe. Nach 
der ganzen Ökonomie des Romans konnte es nie 
in der Absicht des Verfassers gelegen haben, nach 
dem Rachemord am Fischerhanne» womit der 
Held seinem Schicksal verfällt, das Gewebe der 
blutigen Taten noch w^ter zu spinnen. Vidmehr 
war es hier ganz augenscheinlich von vornherein 
auf das Überspringen eines langen Zeitraums 
und auf eine wahrscheinlich grossenteils im Dia- 
log zu gebende knappe Rückschau über die dem 
Morde folgenden Ereignisse abgesehen, woran 
sich unmittelbar die letzte Peripetie schliessen 
musste. Dass beides zu einem dürren urkund- 
lichen Bericht geworden ist» war, wie gesagt, eine 
Wirkung äusserer, unabwendbarer Umstände. 
Auch ist dieser Bericht nur für solche Leser 
gänzlich dürre, denen die Phantasie nicht über 
die Schulter mitliest» weil der Gang» wichen die 
Dichtung nehmen sollte^ unter der akten- 
mSssigen Darstellung sich» wenn auch verschüt- 
tet, durchfühlen lässt. Bei der Begegnung des 
verfemten Mannes mit dem württembergischen 
Deserteur an der badischen Grenze» der ihm das 
verderbenbringende Pferd aufdrängt, bis za sei- 
nem traumverlorenen Einritt in das verhäng- 

13* 



iiisvolle Vaihingen» hört man deutlich das Schreib 
tan der tragischen Muae. Sollte ea wirldich für 

den Dichter in seiner Vollkraft eine unübersteig- 
Uche Schwierigkeit gewesen sein» von hier aus die 
Menge des zwischen dem vorhergehenden und 
diesem Kapitel liegenden Stoffea» die Gematn- 
achaft mit dem wirklichen Verhrechertum, au-- 
sammenfassend zu bewältigen? Ich glaube es nun 
und nimmermehr. Meint man doch da und dort 
die Punkte durchzufühlen, wo das Gewebe dich 
befeatigen Hess» wie denn an aua ao tiefen Wur- 
zeln gewachsenes Dichterwerk das Greaetz a^er 
Entwicklung in sich selber trägt. Freilich bleibt 
danun das Auskunftsmittel, zu dem der Verfasser 
gezwungen war, nicht minder zu bedauern; ea lag 
mir hier nur daran, dnmal den wahren Hergang, 
wie er in der Familie bekannt ist, klarzulegen. 

„Sechs Setzer hat Meidinger hinter mir her- 
gejagt,** schrieb mein Vater nach Vollendung der 
Arbeit aufatmend an aeinen Freund Kaualer. Ala 
das Kind aus der Gefahr und das häusliche Leben 
wieder im Gleise war, hatte ihm die zurückge- 
kehrte Muse noch das kiurze ergreifende Schluss- 
kapitel geschenkt, in dem ea ihm gelang, die dich- 
terische Höhe wieder zu erreichen. 

Ihm selber blieb das vielberufene 38. Kafutel 
lebenslang ein Pfahl im Fleische, und dass es um- 
gearbeitet werden müsse, stand ihm fest. Wäre 
ea raach zu einer neuen Auflage gekommen, ao* 
lange die Fülle dea Stoffes ihm noch gegen^R^Mg 
war und die Stimmung vorhielt» so wäre der Um- 



L.iyui<.LU Oy VjOOQle 



guM dtr vctfehlten Partien ucher voUsogen wor- 
den. Aber nach dem ersten bocfahändlerieclien 
Erfolg — binnen acht Monaten waren laut Ifiit- 

tcilung Meidingers mehr als dreitausend Exem- 
plare abgesetzt — kam der Vertrieb ins Stocken, 
der Unatem trat wieder ins Spiel* der treffliche 
Verleger starb unversehens weg, das Buch geriet 
in fremde Hände, das Interesse für den „Sonnen- 
wirt" erkaltete, und zwar nicht nur beim Publi- 
kum, sondern schliesslich beim Verfasser selbst. 
£r8t in den sechziger Jahren» als das von Janke 
in Berlin unterdessen erworbene Verlagsrecht zu 
Ende ging, trat die Frage der Neubearbeitung 
emstlich an ihn heran. Aber ein Jahrzehnt war 
unterdessen vergangen, die unmittelbare Be* 
geisterung für den Gegenstand war in ihm ver- 
dampft, ja, er fühlte eine Art von Grausen, sich 
aufs neue in die Wogen dieses blutigen Stoffes 
tauchen zu sollen. 

M Was du vom Sonnenwirüe sagst, findet mich 
gepanzert", schrieb er damals in seiner humo- 
ristischen Art an Paul Heyse, der nicht abliess, 
ihm den hohen Wert dieses Werkes und die Not- 
wendigkeit einer Retouche vor Augen zu halten. 
»Frieder, mir gruselt vor dir*, muss ich mir immer 
sagen, wenn ich denke, dass er in drei Jahren aus 
dem Zuchthaus (Janke) kommt und von seinem 
unglücklichen Vater versorgt, gewaschen, ge- 
kämmt usw. sein will. Mit Domhandschuhen 
will ich ihn empfangen.'* 

Um jene Zeit hatte ohnehin das Nervenleiden. 



- i«8 - 

I 

schon begonnen, das ihm die frei schaffende, dich- 
teriflche Tätigkeit lähmte obwohl er sich desaea 
noch nicht bewusst war, und es kam niemals aiich 

nur zum Versuch. So ist der „Sonnenwirt" einem 
edlen antiken Torso zu vergleichen, dem ein nicht 
entsprechender Arm oder Fuss angestückt ist. 
Man sollte sich» meine ich, endlich damit abfinden 
können. 

Als das Buch im Oktober fertig war, rächte 
sich das misshandelte Nervensystem durch die 
ersten vorübergehenden Anzeichen jener Über- 
reizung, die sich si^ter zu einem chronischen 
Leiden entwickeln sollte. Diesmal trug das Übel 
noch seine Heilung in sich selbst. Die Unruhe 
trieb ihn gleich zu einem neuen dichterischen 
Entwurf» dessen Stoff er der Vorbewegung des 
Bauernkriegs entnehmen wollte. Er durchwan- 
derte zu Fuss das Remstal, um in Kapellenberg 
und Schorndorf die Spuren des „Armen Konrad" 
aufzusuchen und kam schon nach wenigen Tagen 
von der Bewegung in freier Luft erfrischt und 
neugeboren nach Hause; so wenig bedurfte es da- 
mals noch, um seine Konstitution von einer 
Riesenanstrengung wieder herzustellen. Wes- 
halb der tpAxmt Konrad'% auf dessen Entstehen 
Meidinger mit Eifer drang, am Ende doch nicht 
geschrieben wurde, wdss ich nicht; der Dichter 
mochte es wohl auch satt sein, im Blute zu waten. 
Jedenfalls war die nächste Arbeit, die er in An- 
griff nahm, idyllischer Natur* üeidinger 
wünschte für 1855 eine Weihnachtsnovelle. So 



entstand wäbnsnd dncs Sommeraufcnthalts in 
dem Schwanwaldbad Liebenzell der „Wdh- 

fiachtsfund". Die Fabel dazu oder vielmehr das 
wirkliche Ereignis» worauf sie beruht, war dem 
Autor zur rechten Stunde durch den Stadt- 
pforrer Buttersack geliefert worden, bei dem wir 
dort zur Miete wohnten — ich sage „wir", denn 
die kleine Familie war im Winter durch meine 
schreiende Wenigkdit vermehrt worden. Der 
Landaufenthalt war der Arbeit sehr günstig: am 
frühen Morgen ging der Dichter mit Papier und 
Bleistift in den Wald und brachte dort auf Rasen 
und Nadelstreu liegend, mit einem Stein als 
Unterlage, sdne erste Niederschrift aufs Blatt; 
der frische Harzduft ist der Erzählung noch an- 
zuspüren. Der Form nach ist sie ein Meiner 
Roman geworden. Ihr Stoff lag dem Verfasser 
insofern sehr glücklich, als er ihm Gelegenheit 
gab» aus seiner unerschöpflichen Kenntnis der 
Sitten, Bräuche und Anschauungen des Volkes 
heraus wieder einen seiner farbensatten Kultur- 
hintergründe für die einfache Herzensgeschichte 
aufzubauen. Die Kritik hat den ^Weihnachts- 
fund" immer sehr hoch gestellt — zum Teil so- 
gar höher als des Dichters andere Werke» wobei 
ich nicht zustimmen kann — aber buchhändle- 
risch hat er erst recht kein Glück gemacht. 
Denn um die Zeit seines Erscheinens hatten die 
Auerbachschen Dorfgeschichten den Geschmack 
für l^uerliche Stoffe zwar in den weit e sten 
Kreisen geweckt, ihn aber auch auf Jahrzehnte 



200 



fainatis veidorben* £ia licnachcnahar später 
hftttm flowold der «»Sonnemnrt** wie der «»Weili- 
nachtsfuiid** dnem netterwachten literarischen 

Bedürfnis entsprochen und das äussere Glück 
ihres Autors begründet« 

Die ersten Jahre nach dem Rücktritt vom 
^Beobachter" gehören zu den dichterisch fruclit* 
barsten meines Vaters. Wenn sein Schaffen vor- 
her und nachher immer ein stossweises war, so 
lag das nicht an einer Ungleichheit der Inspira- 
tiotty wie es dem Uneingeweihten acheinen, muas» 
sondern lediglich an den äusseren Verhaltnissen, 
die ihn so oft zur Zersplitterung seiner Kraft 
zwangen ; der Genius war immer willig, wenn der 
Dichter ihm nur gehören durfte. Jetzt gehörte 
er ihm einmal gans* und zugleich war ihm» zum 
ersten und letzten Male, das Glück wiederfahren, 
einen Verleger zu finden, der ihn durch freudigen 
Glauben und opferwillige Begeisterung auf seinem 
Wege förderte und vorwärtsdrängte. Der treff- 
liche Mann gab sich auch alle Mühe» meinen 
Vater zur Übersiedelung nach Frankfurt zu be- 
reden, was vielleicht sein Heil gewesen wäre, 
wie alles» was ilm der heimischen Enge entrissen 
hätte. Aber er konnte ihm nicht die für die 
Familie genügenden Bffittel bieten, und schliess- 
lich kam die Zeitschrift, in deren Redaktion mein 
Vater eintreten sollte, überhaupt nicht zustande. 
Wenige Jahre später wurde dann das schöne 
Verhältnis zwischen Autor und Verleger durch 
den frühen Tod des letzteren zersprengt. 



üy Google 



Unter den Projeklent die den Dichter in jener 
Zeit des neuen Auficliwongs beidiäftigten, wer 

auch die Dramatisierung des Sonnenwirte. 
Schon hatte ein gewisser Walburg Krämer den 
Versuch gemacht, den JSrzböswichf' auf die 
Bühne m bringen» und hatte ein höchst lächer- 
liches Machwerk zustande gebracht, das der 
grässlichen hi$toi*ischen Wahrheit und aller 
poetischen Möglichkeit in die Zähne dem Trauer- 
spiel einen rührenden Versöhnungsschluss gab. 
Da musste» nachdem durch drei Akte die Dialoge 
des Romans nicht ohne dne gewisse Geschi^» 
lichkeit zusammengestellt waren, im vierten, ge- 
rade im Augenblick der Katastrophe, der Herzog 
Karl in eigener durchlauchtiger Persim auf den 
Brettern erscheinen, um den Verbrecher zu retten 
und ihn samt seiner Christine glücklich nach 
Amerika zu spedieren. Ob die vieraktige Miss- 
gebiut jemals über die Bühne ging, weiss ich 
nicht. Nun wollte Hermann Kurz, um ähnlichen 
Verballhomisierungen vorzubeugen, die Bühnen- 
bearbeitung selbst übernehmen. Der Verleger 
war Feuer und Flamme für den Plan, weil er 
nicht nur der Sache selbst einen glänzenden Er- 
folg, sondern auch dne günstige Rückwirkung 
auf den Absatz des Romans erhoffte. Es wurden 
auch wirklich einige Szenen geschrieben, die, wie 
ich glaube, noch existieren. Aber der Stoff 
widerstrebte der dramatischen Behandlung, denn 
mit Entfernung der zweiten Christine musste dna 
der reizvollsten Motive imd zugleich ein psycho- 



202 



logWGher Hauptfaktor auafalkn» und dodi war 
diese Bntfennmg unerUMliclit denn die Spaltung 

seiner Seele zwischen zwei Frauen hätte dem 
Helden als Bühnencharakter erst recht den Hals 
gebrochen. Mein Vater sah dies jedenfalla aeitig 
ein» wie ich aus dem raschen Abbredien des Ver- 
suchs schliesse. 

Der „Weihnachtsfund" war das letzte, was 
Hermann Kurz im breiten epischen Stil geschrie- 
ben hat. Die andern Romanentwürfe, die seit- 
samerwciae alle auf den Namen »»Kottrad'' gingen* 
denn ausser dem „Armen Konrad", der zwar frei- 
lich keinen Personennamen bedeutet, war noch 
ein ««Konrad Breunings und ein »»Konrad 
Wiederhold'' geplant, kamen nicht mehr zur 
Ausführung. Vielmehr kehrte der Dichter in 
jener Periode verjüngter Schaffenslust nunmehr 
auf das Gebiet der Novelle zurück, wo er sich die 
ersten Sporen verdient hatte und wo^ wie ich 
glaube, seine Kunst sich am rdnsten und freu- 
digst«! ausspricht. Es versteht sich ja von 
selbst, dass ein so gewaltiger Bau wie der 
«,Sonnenwirt'' und selbst die jugendlicheren 
„Heimatjahre'' grössere Anforderungen an die 
Kraft ihres Autors stellen, aber den ungetrfibte- 
sten künstlerischen Genuss gewähren doch die 
kürzeren Erzählungen. Ein so berufener Kritiker 
wie Ludwig Pfau pflegte das »^kanum*' 
schlechtweg die beste deutsche Novelle m 
nennen« Ich hatte von Jugend auf unter diesen 
Novellen eine stille Liebe» „Die blasse Apol- 



— ao3 — 



lonia"» deren Reis ich mir früher nicht mit 
Gründen erklären konnte» die ich aher 8f>äter mit 

gereifteren Augen als ein Juwel von höchster 
künstlerischer Schönheit erkennen lernte. Denn 
hier ist ein tiefes psychologisches Problem, das 
den Stoff su oaem gansen Romanband enthiOt, 
auf wenige Seiten zusammengedrängt, und 
ebenso grosse Bewunderung verdient die ge- 
radezu einzige Form der Einkleidung: wie aus 
dem Munde zweier Berichterstatter von ver'- 
schiedenem Temperament und Bildungsgrad, 
die sich gegenseitig widersprechen und ergänzen, 
gleichsam zwischen zwei Spiegel gerückt, die er- 
greifende Gestalt des seltsamen Mädchens er- 
steht und wie der Schluss poeaievoll das Grauen 
der Richtstätte wieder wegwischt durch das fried- 
liche Wiesengrün einer lichteren, menschlicheren 
Zeit. Auch die Apollonia kann man noch ge- 
wissermassen su den Stoffen aus der Familien- 
tradition rechnen, denn bei der Verurteilung der 
vierzehnjährigen Mörderin hatte ein Ahnherr ein- 
gegriffen, indem er den grausamen Spruch, der 
auf den Scheiterhaufen lautete, in den Tod durchs 
Schwert milderte. Dieses Prachtstück der neuen 
Novdlensammlung war übrigens schon in den 
Karlsruher Tagen entstanden. Aus Briefstellen 
meines Vaters geht hervor, dass damals Auer- 
bach, dem er die Erzählung frisch aus dem Ma- 
nuskript vorlas» das Urteil abgab, die Geschichte 
sei recht hübsch, aber es fehle etwas daran, wes- 
halb ihn der Autor verschiedentlich um Belehrung 



angingt was dam fehle» bis er im Herbste des> 
sdben Jahrs in Auerbachs »Gevattersmami'* die 
Entdeckung machte, dass dieser sich unterdessen 

selber des Motivs bemächtigt und es für eine 
seiner Tendenztiraden zurechtgeschneidert hatte. 
So wenig wurde die sdiüdite wundervolle Fas^ 
sang dieses novdüstischen Edelsteins verstanden. 

Dieselbe künstlerische Meisterschaft, die mit 
jedem Stoffe die Form wechselt, geht durch fast 
sämtlidie Novellen von Hermann Kurz bis herab 
SU dem unscheinbaren, aber innerEch liedeut- 
samen „Donn erw eite r im Homung*^ Es zeigt 
sich in ihnen der reine Grundtypus der Novelle 
als erweiterte und ganz mit Kunst durchtränkte 
Anekdote» wie sie die grossen Künstler latei- 
nischer Rasse von Bocacdo bis auf Haupassant 
gepflegt haben, deutlich ausgeprägt. Der Gaumen 

des deutschen Lesers ist nur leider im Durch- 
schnitt auf die Feinheit solcher Kost nicht ein-^ 
gerichtet» er zieht meist eine tüchtige Menge 
Stoff und eine Handvoll grobes Gewürse vor. 
Und auch dem feinsinnigeren Kritiker entgeht 
es nur allzuleicht, wieviel dazu gehört, eine Ge- 
schichte zu formen» die ganz aus der Tiefe des^ 
Menschenlebens und der geUuften ^Erfahrung 
geholt ist» fem von jeder Willkür» dann wieder- 
geboren im Geist, um und um losgelöst vom 
grobstofflichen, ganz durchleuchtet von der 
ewigen Wahrheit imd dabei doch sinnlich greif- 
bar bis in die kleinste Einzelheit. Man schätzt 
den Geist des Dichters» man wärmt sich au 



adaem Gemüt» aber die ctgeotltclie Kunst wifd 
kaum beachtet, ja man könnte sagen, am Nicht* 

Verstandensein kennt man bei uns den feineren 
Künstler. Doch darf man den deutschen Leser 
nicht allsuhart verklaigen» denn auch die Na- 
tionen von älterer Kultur machen es in dieser 
Hinsicht kaum besser. Der feinste Künstler, den 
Prankreich in der zweiten Hälfte des neunzehnten 
Jahrhunderts hervorgebracht hat, Guy de Mau- 
passant, musste die Aufmerksamkeit der Welt 
durch eine Reihe dickflüsttger, gequälter, höchst 
gepfefferter und doch so langweiliger Romane 
auf sich ziehen, während seine wundervollen 
kleinen Contes, Juwelen, die für die Ewigkeit ge- 
scMiff en sind» mit lächerlich geringen Auflage- 
ziffem neben den z6o oder mehr Auflagen des 
Beiami stehen. Seit die Massen lesen können 
und lesen wollen, musste die Literatur um so viel 
herabsteigen, als das mittlere Bildungsniveau ge- 
sunken ist. In hundert Jahren, wenn, so Gott 
will, unsre Kolonien in Blüte gekommen sind, 
wird der deutsche Buchhandel auch mit dem 
Geschmack des Kamerunnegers zu rechnen 
haben. 

Bei der in den fünfziger Jahren entworfenen 

dreibändigen Sammlung der „Erzählungen" legte 
Hermann Kurz, seiner früheren Neigimg zum 
novellistischen Potpourri entgegen, einen fest- 
geschlossenen Zyklus an, worin altes und neues 
in bestimmter Ordnung zusanunengestellt wer- 
den und ein Stück dem andern gewissermassen 



die Hand reichen sollte. Ldder war auch diesmal 
dafür gesorgt» dass nicht idle Blütentriimie reif- 
tcn, denn mehrere der geplanten Erzählungen 

blieben ungeschrieben, wesshalb sich jenes innere 
Ineinanderschliessen nicht durchführen liess. 
£r verstand es» diesen kleinen bodenwfichsigen 
' Geschichten die ganxe altschwäbiscfae Intimität 
zu geben ohne die im Leben davon unzertrenn- 
liche Kleinlichkeit. Sein Stil machte alles, womit 
er sich beschäftigte» gross, denn über dem klein- 
sten Stoff steht er mit der Weltweite seines Ge- 
dankens: uuuier öffnet er Fenster ins Universum 
hinaus. Erst in späteren Jahren, als seine innere 
Vereinsamung zunahm, in der Oberesslinger und 
Tübinger Zeit, begegnet es ihm dann und wann» 
dass er ein Schiebf ensterchen aufzieht» das nicht 
ins Weite, sondern in ein Gevmkel von kleinen 
Innenhöfen führt, wo es zwar ganz heimeUg aus- 
sieht, aber weil wir nicht als Kinder mit ihm dort 
gespielt haben» finden wir uns nicht darin zurecht* 
Damals aber ging sein Blick noch in lauter 
grünes sonniges Gelände. Man fühlt es diesen 
Novellen ordentlich an, wie der Autor sich über 
der Arbeit verjüngte. Er legt seinen im Roman 
schon fast zu herbe gewordenen Realismus wie- 
der ab und taucht aufs neue seine Gegenstände 
in die Farbe des Morgenrots. Der wundervolle 
Humor, der über den Erzählungen schwebt, ver- 
anlasste den feinsinnigen Kausler auf die Über» 
Sendung des ersten Bändchens zu der Frage» 
wesshalb der Autor nicht einen humoristiachea 



Roman aus der deutschen Geschichte schreibe. 
Der köstliche Schwank »»Den Galgen» sagt der 
Eadaid»**, hatte die Luat nach mehr von dieser 
Sorte geweckt. Die Antwort» die Hermann Kurz 
auf diesen Vorschlag gab, wirft auf ihn selbst und 
auf die Dinge ein so helles Licht, dass ich es mir 
nicht versagen kann, die besügliche Briefstelle 
wjedersugeben* 

»»An einen humorisUsdi^-historischen Roman 
habe ich gerade früher oft gedacht," schreibt er 
zurück. »»Seit ich aber die deutsche Geschichte 
näher m kennen anfange, ist mir das Ding ver- 
gangen* Sie hat freilich politische Schellenkappen 
genug, womit man einen Don Quichote imd 
einen Sancho aufputzen könnte, dabei aber ein so 
echtes und herzbrechendes Pathos, dass ich kein 
Stück von ihr» nicht einmal 184S» vorzunehmen 
wiisste» das nicht weit über den Don Quichote 

hinausginge. Bis zur lächelnden Rührung zwar 
bringt's dieser auch, aber in unserer Geschichte 
ist immer mindestens soviel Stoff zum Weinen 
und zur Erschütterung als zum Lachen» und das 
sprengt die Form des komischen oder auch ntur 
bloss-humoristi sehen Romans. Ich habe mich 
desshalb mit dem Eichele auf den Standpimkt 
emes mittelalterlichen Faschings gestellt» an wel- 
chem ein politischer Fastnachtsschwank vorge- 
tragen wird» der als blosser Schwank so kurz als 
möglich sein muss, d. h. ein »unsinniglicher* 
historischer Roman, aber auf einem halben 
Bogen. Historisch sind die Begebenheiten 



— so8 — 

grossenteils, selbst bis zum wollenen Kappen- 
zipfeP) inklusive/' 

£me Icmere Stelle dieses Briefes ist für den 
aufmerksamen Leser der ,»Bnililungen'* gleicb- 
falla von Reiz, weil sie zeigt, wie dem Verfasser 
der innere Zusammenhang der Geschichten unter 
einander vorschwebte. 

„In der Zaubemacht sollte nur scheinbar dem 
mit der Reformation aufgegangenen Lichte ein 
Morgenlied angestimmt werden, denn die christ- 
liche Reaktion* die mit Luther dem italienischen 
Heidentum bereitet wurde» tat den christlichen 
HöUenrachen weiter auf, als er je in den ver- 
gangenen Jahrhunderten geöffnet war, und beide 
Konfessionen, die lutherische voraus, verbrann- 
ten in ihrem durch die Trennung gestachelten 
Wetteifer im x6. und 17. Jalirhundert mdu: Hexen 
als das ganse Mittelalter, wohl sehnmal mehr und 
drüber. Dass bei dem ,Riesenfeuerteufer ein 
Nachkomme eines alten malleus maleficarum be- 
teiligt war, erfährt der Leser freilich erst aus dem 
zweiten Band«0 Diesmal aber fürchte ich» würde 
dir's ein Pietist im Verständnis suvorgetsn haben, 
und zwar mit unaussprechlichem Brummen. Eher 

^) Diese historische Grundlage hat der Verftisser 
in viel spitersn Jahren in dem AofiBatz «Der Kappen- 
zipfiel** attffedeckt Erschienen In der Gennanis» Viertel* 
jahrsschrift für deutsche Altertumskunde. XV. jahrgsnc* 

vrittk 1870. s. dsr. 

^ Nimlich aus der Geschichte der als Hexe ver- 
brannten Afrs, die mein Vater damals schreiben wollte, 
IQr die aber nie die Feder elngetandit wurde. 



L/iyiu<.Lu üy Google 



909 



noch werde ich den Katholiken mit dieser Zu- 
sammenstellung gewinnen, und dies ist audi 
nötig, da ich ihn im zweiten Band samt einer ge- 
mischten Ehe per Pulvenntthle m die Luft fliegen 

lassen will. Dies natürlich sub rosa, wie sich's 
bei jeder Pulververschwörung von selbst ver- 
steht.'' 

Mit der letzteren Stelle ist die Novdle »»Der 
heilige Florian" gemeint, die gleichfalls un- 
ausgeführt geblieben ist. Das Motiv von der 
katholisch-protestantischen Brautschaft und von 
dem Schutzheiligen des katholischen Teils, der auf 
Glas gemalt und in ^ner Pulverfabrik unbedacht 
als Fensterscheibe eingesetzt, durch eine kleine 
Linse Braut und Bräutigam mitsamt dem ganzen 
Konfessionsstreit in die Luft sprengt, war äus^ 
serst verführerisch, aber das Werk wurde nicht 
zur guten Stunde begonnen, die Exposition war 
augenscheinlich zu breit, und der Ton hat auch 
nicht die den Erzählungen sonst fast durchw^ 
eigene bezaubernde Frisch^ weshalb es weg- 
gelegt und nie wieder aufgenommen wurde. 

Dagegen hatte der Dichter mittlerweile seinen 
allerglücklichsten Griff getan mit jener von Hu- 
mor sprudelnden Erzählung, die unter ihrem spä- 
teren Titel „Die beiden Tubus" aligemein bekannt 
ist. Es hiesse Eulen nach Athen tragen, wenn ich 
von dieser Novelle weiter sprechen wollte, da sie 
von allen Werken meines Vaters weitaus die 
grösste Verbreittmg gefunden hat, wenn auch 
leider erst nach dem Tode des Verfassers« Auch 

Isolde Kursi Heztmin Kim. xa 



aio 



diese Erzählung stützt sich auf eine wirkliche Be- 
gebenheit, wie es oft bei solchen Motiven der Fall 
ist» die der Leser für die aUerwillkürlichste Er- 
findung des Dichters hält» denn das Leben selbst 

ist der barockste aller Humoristen. In einem 
Taschenbuch meines Vaters steht darüber die 
kurse Notis: ,,Die beiden Pfarrer, (Rechberg und 
Frickenhausen) die einander durch den Tubus 
kennen lernen, als Anknüpfung einer Novelle.'' 

Niemand würde es dieser gesundheitsprühen- 
den, von siegreichstem Humor wahrhaft durch- 
sonnten Brzäiüung ansehen, dass sie ihren Ver- 
fasser nach der Vollendung im traurigsten Zu- 
stand zurückliess. Seit lange ohne alle Aus- 
spannung und Erholung und stündlich gehetzt 
durch die Sorge um die Erhaltung der wachsen- 
den Familie, hatte er sich bei der freudigsten 
Arbeit derart übernommen, dass sein vorher 
schon empfindliches Nervensystem in völligen 
Aufruhr geriet und eine gefährliche Krankheit zu 
drohen schien. Ein schlimmer Zufall vermehrte 
noch das Übel: er hatte zwei ganx gleiche niedere 
Steinkrüge auf seinem Tischchen stehen, wovon 
der eine ein Mineralwasser, der andere Arak 
enthielt. Von heftigem Durst gepeinigt, goss 
er eines Tages ein Glas voll und trank die farb- 
lose Flüssigkeit, im Glauben, dass es Wasser sei, 
auf einen Zug aus. Er hatte sich in der Aufregung 
geirrt und den Arak ergriffen. Die Wirkung war 
schrecklich, er glaubte innerlich m verbrennen. 
Er konnte keinen Laut mehr ertragen und schloss 



an 



sich in «einem Zimmer ein; das Essen musste 
ilmi durch ein Schiebfenster hineingestellt wer- 
den und blieb gewöhnlich unberührt. Durch 
mehrere Tage liess er keine Seele vor sich, nicht 
einmal seine Frau» die Tag und Nacht spähend 
an seinem Schlüsselloch stand* immer in Furcht 
vor einer Elatastrophe. Da sah sie ihn stunden- 
lang am Waschtisch stehen, wie er mit einem 
grossen Schwamm die Stirn kühlte oder die 
Haare, deren Fülle ihn belästigt^ fort und fort 
mit dem Kamm nach oben strich. Endlich ge- 
lang es unsrem Hausarzt, dem trefflichen 
Dr. Stockmayer, sich durch List, indem er ein 
wichtiges Geldgeschäft vorschützte, Einlass zu 
verschaffen; unter dem Vorgeben, dass man im 
Freien mch besser unterreden könne» lockte er 
ihn zu einem Spaziergang hinaus und schleppte 
ihn durch Wälder und Dörfer, immer weiter, bis 
der Kranke physisch völlig ermattet war. Bei 
sinkender Nacht brachte er ihn todmüde, aber ge- 
nesen zurück. Ein tiefer Schlaf folgte, der erste 
seit Wochen, und am Morgen waren die Ge- 
spenster verchwunden. 

Ähnliche Zustände, nur von geringerer Heftig- 
kdt und Dauer, waren auch schon nach der Ober- 
anstrengung am „Sonnenwirt'' eingetreten und 
sollten fortan jeden Aufschwung zu dauernder, 
rein produktiver Tätigkeit begleiten als tragische 
Busse für die Misshandlung des Genius» der seme 
frischesten Krüfte in der Frone einer Zeitungs- 
redaktion eingesetzt hatte. Als sein Leben zur 

14* 



— ax3 — 

0 

verfrühten Neige ging, spielten „Die beiden 
Tubus'* noch einmal eine ominöse Rolle» deui 
bei einem unteraommeneii «weiten Teile dieser 
Arbeit war es, dass ihn der letzte und schwerste 
dieser Anfälle traf. 

Die drei Bände Erzählungen« unter die auch 
einige der älteren Stücke aus den „Gensianen** 
und den Dichtungen^ in teilweiser Oberarbei- 
tung herübergenommen wurden, erschienen in 
den Jahren 1858 — 60 bei Franckh in Stuttgart; 
— der treffliche Meidinger war unterdessen zum 
grössten Unheil mdnes Vaters gestorben. Sie 
machten von allen Arbeiten des Dichters noch 
das schlechteste Glück. So unüberwindlich war 
die Stumpfheit des Publikums» dass jene Auflage» 
wie man mir versicherte, vor wenigen Jahren 
noch nicht völlig vei^f fen war. 

Unterdessen war es gegen Schluss des Jahres 
1856 endlich auch zu einer Neuauflage der 
»yHcimat jähre'' gekommen — dreizehn Jahre hatten 
seit ihrem ersten Erscheinen« zwanzig seit der 
Vollendung des Manuskripts verfliessen müssen, 
zwei Zahlen, die ebenso die Ungunst des Glückes 
anklagten, wie sie für die innere Lebenskraft des 
Werkes Gewährgaben. In völlig durchgearbeiteter, 
straff zusammengezogener Gestalt» wobei es nichts 
von seinem Jugendreiz eingebüsst hatte, trat es jetzt 
aufs neue ans Licht. Aber der alte Unstern wollte 
nicht weichen. Das Buch musste abermals im 
selben kleinen Verlag wie das erstemal ersehe- 
nen» denn alle Versuche Mddingers, es für sich 



L/iyiu<.Lu üy Google 



— 3Z3 — 

zu erwerben, waren an der Weigerung des neuen 
Eigentümers der Franckhschen Buchhandlung, 
Leins, gescheitert. So drang es auch diesmal 
nicht mit Flugkraft über die schwarzroten Grenz- 
pfähle hinaus, (obschon es ins Französische 
Übersetzt wurde und unter den „Meilleurs romans 
contemporains** erschien); innerhalb des Landes 
aber erhielt sich sein Ruhm nur wie eine dunkle 
Sage, ohne den Vertrieb in Gang zu bringen. 

Auf Wunsch des Autors, dem daran lag, sich 
von einer parteilosen Feder bestätigen zu lassen, 
dass sdne politische Tätigkeit nicht auf die Neu- 
gestaltung des Romans abgefärbt hatte, über- 
nahm Kausler die Anzeige des Buchs ; sein Lob 
war 90 fein und so leise, dass Autor und Verleger 
sich an dem diskreten Ton freuten. (»»Der Mann 
heisst Leins^) und mnss es wissen»'^ schrieb der 
Autor an den Rezensenten) dass aber das Publi- 
kum gar nicht aufhorchte. Meines Vaters 
Freunde waren ihm innerlich viel zu sehr ver- 
wandt^ um laut für ihn ins Horn su stossen» 
und konnten darum die breite Masse» unter der 
sie selbst als Fremdlinge lebten, nicht nachziehen. 
Kauslers Mahnung, jetzt endlich die alte Sünde 
an dem Verfasser gut zu machen, verhallte un- 
gehdrt. Und noch jahrsehntdang sollten nch 
die glänzendsten Federn Deutschlands vergebens 
für dieses Werk regen; das Auge der Menge 
blieb mit Blindheit geschlagen: den Geist sieht» 
den Schatz hebt nur das Sonntagskind. 

Schwäbisch für leise. 



Unsere Kinderstube 



In den letzten Tagen desselben Jahres, das 
bei seinem Aufgang meinen Eltern ihren Erstling 
Edgar beschert hatten zu Stuttgart erblickte 
ich das Licht der Welt. Es ist mir oft erzShlt 
worden, dass ich wie im Märchen durch den 
glühenden Wunsch der Eltern nach einer Tochter 
dem Schicksal abgedrungen worden stt und dass 
ich schon vor der Geburt mit Geschlecht, Namen 
und persönlichen Zügen in ihrer Phantasie ge- 
lebt hätte. Da die Mutter gleich unter die Sterne 
der Poesie gegriffen und für mich den Namen 
Isolde heruntergeholt hatte» der ihr aus der 
Tristan-Bearbeitung ihres Gatten teuer war, so 
gab der Vater mir noch die Namen Clara Maria 
mit, für den Fall, dass die Romantik sich später- 
hin mit der Wirklichkeit nicht vertrüge« Unter 
den Julien, Luisen und Amalien, die damals die 
Welt bevölkerten, befand sich eine Isolde von 
vornherein in einer Ausnahmestellung, und wer 
eine solche einnahm, konnte auf dem Boden 
mdner Heimat seines Lebens nicht froh werden. 
Dies hatte mdn Vater wohl bedacht, als er mir 



— 215 — 

durch die Nebennamen Clara und Maria einen 
Notatisgang öf&iete, doch das Ungestüm memer 
Mutter Hess solche Rücksichten nicht gelten, und 

CS blieb allein mein Rufname an mir haften, 
der späterhin in der kleinstädtischen Umgebung» 
wo ich heranwuchs» mir vieles Ungemach 
zusog. 

Da meine Geburt der Welt nicht mit goldenen 
Lettern angekündigt wurde wie die des Bruders, 
so sorgte ich nun selbst dafür, dass mein Dasein 
nicht unbeachtet blieb» indem ich mich durch das 
ganze erste Lebensjahr durchschrie, ja, ich soll so- 
gar schon geschrien haben, bevor ich in die Er- 
scheinung trat. Mein Bruder Edgar war um jene 
Zeit nach den Schilderungen der Mutter ein schö- 
nes blasses grossäugiges Kind» das wenig Urm 
machte, dem aber schon die ganze Intensität seiner 
Seele aus den durchdringenden Augen blickte. 
Doch sollte er seine ganze Knabenzeit hindurch 
körperlich zart und psychisch reizbar bleiben, bis 
er sich im Heranwachsen durch frawillige Ab- 
härtung eine dauernde Gesundheit erzwang. Die 
Mutter pflegte jedem der Kinder ein Schicksais- 
liedchen an der Wiege zu singen, worin ihm 
seine Art und Zukunft gedeutet wurde. Das an 

Edgar lautete: 

Ich bin ein kleiner Tfiumer, 
Ein Erdengutveratttoier, 
Ein Dichter nnd ein Denlcer, 
Wohl nie ein Schlachtenlenker, 
Doch in des Geistes Reichen 
Dt werd* ich keinem weichen. 



— ai6 



Von diesem Vers, der auf das sinnende W»en 
des Knaben genau zu passen schien, sollten jedoch 
wpäUr nur die xwci letiten Zeilen in ErfttUung 
gehen^ denn gerade ihn fahrten Naturell und Um- 
stände in ein höchst aktives und verantwortungs- 
reiches Leben, während die Poesie« die ihm 
gleichfalls im Blute lag» nur eine liebe Neben- 
beKhüftigung für ihn blieb. Die Verac^ die mir 
auf den Lebensweg mitgegeben wurden, h^ 
gannen: 

Ich bin ein kleines Mädchen, 
Hab' Augen wie Feuerrädchen 

und veranlassten den besonnenen Vater gleich- 
falls poetisch einzugreifen imd 

Der kleinen Feuerwerkerin 

Ein wenig Vicar-of-Wakefield-Sinn 

mit allerlei häuslichen Tugenden hinzusuwün- 
sehen, was aber der Mama keineswegs einleuch- 
tete, denn ihr war das Goldsmithsche Idyll, das 
der Dichter damals mit grossem Wohlgefallen 
las» viel zu hausbacken. 

Solch ein leises Mahnen durch die Blume war 
die einzige Form, unter der er suweüen mässigend 
in ihre Leitung eingriff, wenn es gar zu stürmisch 
über Stock und Stein dahinging. Denn im 
Gänsen Hess er ihr völlig freie Hand. Er sei für 
das Mutterrecht der alten Naturvölker, pflegte 
er scherzend zu sagen. Es blieb ihm auch nichts 
übrig als abzudanken, da er gar keine Zeit für 
uns hatte, während die Mutter sich einzig und 
ausschliesslich mit uns beschäftigte und eifrig 



L.iyui<.LU Oy VjOOQle 



bestrebt war^ uns nach Ihrem Sinne su 
modebL 

Ich war des Bruders völliges Widerspiel, ein 
rundes kerngesundes Stück Natur, das seinen 
£mst durch jauchzende Daseinslust erhellte; wir 
entwickelten uns gegenseitig aneinander und 
sahen jedes im andern das Mass der Dinge. Ich 
sprach schon im ersten Jahre ganz geläufig; er, 
der durch Kränklichkeit etwas aufgehalten worden, 
war, lernte es erst im Wettstreit mit mir. Da- 
gegen blickte ich mit inniger Bewunderung su 
ihm auf, als er seinen ersten Gehübungen oblag, 

und pflegte ihm auf dem Boden sitzend mit gros- 
ser Geschwindigkeit von einer Zimmerecke in 
die andere nachsurutschen, was mir freilich nur 
durch die Erzählungen der Erwachsenen be» 
kannt ist. 

Dem zarten wachsbleichen Knaben, der von 
einer Kinderkrankheit in die andere fiel, verord- 
nete der Arst su sdner Stärkung die tichwars- 
waldlnft. Man mietete einen Omnibus, der mit 
Hausrat vollgepackt wurde, Eltern und Kinder 
nebst der getreuen Josephinc, die jetzt Fina hiess, 
stiegen dazu ein, und fort ging es, dem anmutigen 
kleinen Badeort Liebenzell entgegen. In Ehnin- 
gen wurde ein paar Stunden Rast gemacht, die 
stolze Equipage fuhr vor dem Pfarrhaus vor, wo 
das Mohrsche Ehepaar die junge Familie be- 
grüsste und gastlich bewirtete. Der alte Pfarrer 
wurde ein warmer Verehrer meiner Mutter, und 
die Tante Mohr, in der die Seele ihrer Schwester 



fortlebt«» bemühte sich» uns Kindern die groei- 
mütterliche Liebe, die das Schicksal uns vorent- 
halten hattCj zu ersetzen. 

In Liebenzell bezogen wir eine Wohnung im 
Städtchen bei dem meinem Vater befreundeten 
Stadtpfarrer, doch kcmiten wir Kinder den gröss- 
ten Teil des Tages in den wfirzigen Tannen- 
wäldern spielen, denn das Wetter war trotz der 
frühen Jahreszeit mild und sonnig. Der Vater 
schrieb währenddessen seinen Weilmachtsfund 
gleichfalls im Crimen. Keines seiner Werke ist 
ihm so leicht geworden wie dieses, das er, erlöst 
vom Stadtlärm und mitten in der ländUchen Welt, 
die ihm den Stoff geliefert hatten in einem Zuge 
aufs Papier warf. Die Liebenzcller Tage ge- 
hörten später zu seinen liebsten Erinnerui^en: 
das freudige Gelingen der Arbeit, das Wiederauf- 
blühen des kranken Knaben, die hoffnungsreiche 
Verbindung mit dem neuen Verleger, die leider 
so bald ihr Ende finden sollte« das alles hatte 
m seinem Gemüt eine Sonnenspur surückgelassen, 
dass er sogar auf unsren Kinderspielen mit Ver- 
gnügen in der Krinnerung weilte. Besonders gerne 
ersählte er mir, "wit wir des Morgens mit swei 
Id^en Hämmerchen bewaffnet nach einer nahe- 
gelegenen Töpferwerkstatt auszogen, um dort 
glühend von Pflichteifer, der sich durch nichts 
beirren Hess» halbe Tage lang die auf der Strasse 
herumliegenden Scherben kleinzuschlagen. 

Noch wonniger genoss meine Mutter diese 
Tage der Erquickung und das Glück, ihren von 



219 



den Ärzten schon aufgegebenen Liebling dem 

Leben entgegenblühen zu sehen.^) Seit der Stunde 
seiner Geburt füllte dieses Kind, dessen zartes 
Leben immerdar an einem Faden schwebte» all 
ihre Gedanken aus; selbst der Vater» der einem 
solchen Rivalen nicht grollen konnte, musste vor 
ihm zurücktreten. Er wurde wie ein kleiner Prinz 
behandelt und ging stets mit kostbaren Stoffen und 
Spitsen aus der Brunnowschen Garderobe phan* 
tastisch angetan. Kaum war sdne Heilung vollendet 
und auch das Werk des Dichters zu gutem Ende 
gediehen, als die bevorstehende Ankunft des drit- 
ten Kindes die Familie zu schleunigem Aufbruch 
trieb. Zwei Tage i&ich unserer Rückkehr, am 



^) Zwei Sonette, die sie in Liebenzell auf seine Ge- 
nesung scbrieb, mdgen bier ihren Platz finden. 

I. 

Die Sonne siegt; die schlanken Tannen heben 
Das dunkle Haupt aus grauem Nebelmeer, 
Der Kühe Glöcklein tönet ringsumher, 
Und es beginnt im Walde reges Leben, 

Tautröpflein hängen dort wie Perlen schwer 
Im dunklen Moose, und es zieht daneben 
Der Waldbach murmelnd durch das Tal einher, 
Den Wiesen sein befruchtend Nass zu geben. 

Hieher, mein ztrter Knabe, Itss dich bringen, 
Wo Morg^nlfifte kosend dich nmweh'n, 
Der Tannen Düfte stirkend zu dir dringen. 

Hier lass ich dich des Waides Wunder seh'n, 
Indess die BSchlcin dich in Schlummer singen 
Und holde Blumen nickend dich umsteh'n. 



4« August 1855, mein Bruder Hermaim 

Alfred gm W^t. £r war du sdir kräftiges und 
schönes Kind» das seine ersten Lebensmonate 
ganz mit Trinken und Schlafen ausfüllte und 
seiner Umgebung wenig Mühe machte. Viel- 
leicht beginnen gerade deshalb meine deutlichen 
Erinnerungen an ihn erst später» in der Zeit» wo 
er durch seine unbändige Kraftnatur den Frieden 
der Kinderstube zu erschüttern anfing. XJm 
seiner putzigen Streiche willen und weil er im 
Jahr nach der Vollendung des Sonnenwirts ge- 
boren war» gab Ludwig Pfau» als er unter unsrem 
Dach verweilte» ihm den Namen »»Sonnenwirtle'*» 
was aber der kleine Dicke sich nicht gefallen Hess, 
denn er selber nannte sich „Butte*' oder „Butzel**. 

Zunächst blieb noch für lange Zeit der Bruder 
Edgar mein einziges Gegenüber. Er hiess damals^ 

II. 

Schon liegt er schlafend jetzt in meinem Schosse» 
Leis atmend und die Augen halb geschlossen» 
Von sanftem Rot die Wangen übergössen, 
Mit seinen Härchen spielt der Westwind lose. 

Ein Zauber seheint auf alles ausgegossen. 
Und knisterad regt sichs neben mir im Moose> 
Als hörte man die ideinen Bifiten sprossen: 

Erdmännlein sinds im traulichen Gekose. 

Sie schlingen um mein Kind den Elfenreigen» 
Sie küssen es auf Wange, Stirn und Mund 
Und flüstern» wie sie sacht sicli zu ihm neigen: 

»Wir kfissten dich» o holdes Kind, gesund f* 
Verschwunden sind sie» wieder tiefes Schweigen, 
Und danicend stand Ich auf vom Waldesgrund. 



— 221 — 



in lanserer Kinderspraclie» die auch Ton den 
Gro88«n adoptiert wurde, der Sninke und idi die 

Meta. Edgar soll ein frühreifes, ganz besonderes 
Kind gewesen sein mit ausgesprochenen Zu- und 
Ahndgungen, die sich besonders gegen die Be> 
Sucher des Hauses äusserten. AUi einmal dne 
Bekannte zu seiner Mutter kam imd dem Knaben 
der Besuch länger als billig zu dauern schien, 
ging er aus der Ecke« wo er still für sich gespielt 
hatt^ ruhig nach der Tttr und rief dem iituben« 
mädchen, sie solle einen Besen bringen und den 
Unrat hinauskehren. Diese kam eiligst mit dem 
Besen gelaufen imd sah sich um, welchen Unrat 
er meinem da sagte der Kleine laut und nachdrück- 
lich: „den, der b« Mama auf dem Sofa sit^t'^ 
Am Schwersterchen hing er ^brtlich, wir hatten 
alles gemeinsam und wurden jeden Tag im grün- 
angestrichenen Kinderwägelchen zusammen spä- 
teren geführt» wobei das Prinzchen den Vorder- 
sitz inne hatte« ich als die Jüngere rückwärts 
fuhr. Auf einer dieser Ausfahrten sahen wir zum 
erstenmal den Schnee. Der Anblick der grossen, 
weissschimmemden Fläche entlockte mir ein 
Jubelgeschreiy wir waren beide einig» dass es 
Zucker sei, aber über die Aussprache dieses 
Wortes gerieten wir sofort in Streit, denn als ich 
begeistert «,Didde!" rief, belehrte mich der 
Bruder» dass man „Zidde!'* zu sprechen habe. 
Ich wollte mir die Zurechtweisung nicht gefallen 
lassen, demi da die Crrossen» wenn sie mit mir 
sprachen, sich meiner Sprechweise anbequemten» 



musste ich glauben, im Rechte zu sein. Wir 
Strampelteil voll Entrüstung mit den Beinen 
gegeneinander unter den vergeblichen Beschwich- 
tigungsversuchen der guten Josephine; „Es 
heisst Zidde!" — „Nein, Didde! Didde! Didde!" 
das8 die Vorübergehenden stehen blieben und 
grollend sagten: «^Was für unartige Kinderl" 
Eine so lebhafte Meinungsverschiedenheit 
zwischen ihm und mir gehörte jedoch zu den 
Seltenheiten, gewöhnlich lebten, wir in inniger 
Harmonie, da sein reiferes Alter und sein ge- 
messenes Wesen ebenso wie die besonderen 
Rücksichten, die ihm von den Erwachsenen er* 
wiesen wurden, mir eine tiefe Eiirfurcht ein- 
flössten. 

Deutlich erinnere ich mich einer Phantasie- 
geburt, die wir gemeinsam ausgeheckt hatten 

und der wir Tag für Tag mit leidenschaftlicher 
Schöpferfreude nachhingen. Es waren zwei von 
uns erfundene Fabeltiere» das Schnoffeltier und 
das Buffeltier« die wir uns am Anfang der Zeiten 
auf ^er noch unbewohnten Erde hdmisch 
dächten und deren Taten wir jeden Morgen in 
unsere Chronik, ein uns zu diesem Zweck über- 
lassenes ungeheures Rechenbuch, eintrugen in 
einer Bilderschrift, die ihren Sinn nur unsem 
eigenen Augen offenbarte, denn die Erwachsenen 
konnten nichts sehen als ein Gewirr kühnschwei- 
fender Striche, in denen sich mit einigem gutem 
Willen etwa das Horn des Buffeltiers oder die 
lange Schnause des Schnuffeltiers erkennen 



liess. Bei diesem Spiele schieden sich schon 
deutlich die Geschlechter^ denn das aggressive» 
alles £Qr sich b^dirende Bulf eltier war männltclie 
Erfindung, das friedliche» aber höchst naseweise 

Schnüffeltier dagegen war das Werk meiner 
Phantasie. 

Sehr frühe wurden ¥rir in die Buchstabenwelt 
eingeführt. Als meine Mutter den inerjährigen 
Knaben im Lesen und Schrdben su unterrichten 

begann, fand sie es rätlich, das dreijährige Mäd- 
chen gleich zuzuziehen, teils um ihr Lehramt da- 
durch zu vereinfachen, teils auch, um den g^en- 
seitigen Wetteifer anzustacheln. An 'einem 
kleinen Tischchen sitzend, wurde buchstabiert; 
auf jedes der Kinder kam eine halbe Stunde, 
und wer sich besonders auszeichnete, erhielt eine 
Belohnung. Diese bestand in einer kleinen, bunt- 
farbigen Schachtel, deren die Mutter eine Serie 
auf dem Schrank vor unsern Augen aufgestellt 
hatte, immer eine in der andern steckend, bis 
herab zum LiUputformat« Aber auch ohne die 
Prämien, die uns sehr ergötzten« gab das gemein- 
same Lernen schon an sich eine köstliche Unter- 
haltung ab, denn was waren die Buchstaben da- 
mals für eine amüsante Gesellschaft! Ein jeder 
hatte, besonders wenn er beim Schreiben etwas 
abnorm ausfiel, sein eigenes Gesicht. Bin i, dem 
das Tüpfelchen fehlte, war ein Blinder, das d, 
wenn seine Schleife zu lang ward, ein Major mit 
gezogenem Degen; da gab es ferner Knie- 
scMotterer, Dickbäuche, Kropfige und mit an- 



dem Geschwülsten Behaftete. Blitiinter g^Uch so 
«ine geachriebene Seite einem Siecfaenfaaiw. Beld 
stellte sich aber auch der Kinwttrieb dn und 

half dieser bresthaften Gesellschaft auf die Beine. 
Im Handumdrehen konnten wir kleine Uhlandsche 
Gedichte diktiert schreiben und behielten dabei 
die Verse gleich auawendig, denn beide hatten 
wir für alles Metrische von klein auf ein sehr 
glückliches Gedächtnis. Auch brachten wir den 
Gedichten, die man uns jetzt in grosser Anzahl 
lesen und lernen Hess* mit unsem drd und vier 
Jahren schon die ausgesprochenste Zu- oder Ab* 
neigung entgegen, wobei unser Geschmack durch- 
aus nicht inuner übereinstimmte. Wenn die gute 
Fina uns eins von Edgars damaligen Leibliedem 
»»Der Winter ist ein harter Hann** vorsang» ein 
Lied, das mich in der Seele ve i d ross» so suchte 
ich ihr den Mund zuzuhalten und verlangte 
flehentlich ein anderes, wobei man sich gewöhn- 
lich nach einigem Streit auf den Rinaldo Ri- 
naldtni einigte» der uns beiden teuer war. Darin 
kam eine Stelle vor, die den Knaben, dessen Sinn 
früh auf die Ergründung technischer Schwierig- 
keiten gerichtet war« durch ihre Unverständlich* 
keit lange tuntrieb» ohne dass ihm seine ver* 
schlossene und selbständige Natur gestattet 
hätte, bei anderen Aufklärung zu suchen. Bei 
dem Verse: „Er lad't doppelt sein Gewehr" zog 
nämlich sein Ohr awei Worte in eins ausanmien« 
das »Jadoppelt" lautete» und jahrelang verfolgte 
ihn das Problem, was das »»Ladoppeln^ eines 6e- 



— aa5 — 

wehrs für eine Manipulation sein möchte. Ich 
dagegen verfuhr mit den unverständlichen 
Stellen in Joiephinens Liedern sehr leichtfertig 
imd kümmerte mich nie um den wahren Simi> 
weil mir gerade die verstümmelten oder inein- 
andergezogenen Worte die zauberhaftesten Bilder 
vor die Augen führten. Ein durch Josephinens 
Aussprache veranlasstes Missverständnis hat sich 
mir sogar erst in reifen Jahren aufgddärt. Zu 
ihren und unsem Leibstücken gehörte ,,6crtrand8 
Abschied", ein in ihrer Jugend von jedem Leier- 
kasten gespieltes Lied, das aber damals schon 

im Verhallen war. Wenn sie nun sang: 

Ich war in Riibm und Glück stets sein Gefihrte, 

so vernahm mein Ohr regelmässig : 

Ich war in Rom und Glückstadt sein Gefährte, 

worauf sich dann ganz natürlich anschloss: 
Ich will nun auch in Leyden bei ihm sein. 

Doch stammt diese geographische Phan- 

tasmagorie, die mich durch mächtige Raura- 
vorstellungen erbaute, aus einer etwas späteren 
Zeit. Alle Lieder unserer Fina wurden übrigens 
so ziemlich nach der nämlichen Mdiodie gesun- 
gen» die mit geringen Variationen dem jeweiligen 
Versmass angepasst war und uns durchaus be- 
friedigte, Etwas anderes war es freilich, wenn 
mweilen des Abends der Vater mit seiner Flöte 
in unser Schlaf stmmer kam, um uns durch Musik 
zur Ruhe zu bringen. Er war sehr musikalisch, 
und es war eine Lust, ihm zuzuhören, wenn er 
auch nicht eigentlich sang, sondern nur mit ge- 

[solde Kur«, HcrmHiiii Kurz. is 



3^6 — 



dämpfter Stimme in einer Art Rezitativ die 
Irieder vortrug» deren Melodie er uns danach 
auf der Flöte in den schmeichelndaten Nachti- 
gallentönen blies. Wie ging uns das Geschick 
des armen „Häsulein"' zu Herzen, wenn er so er- 
greifend sang: 

Ich Dresse ja nur die Blitterchen 
Um mich daran zu aittigen 

und dann den Vorwurf des guten geschundenen 
Tierchens in langgezogenen Klagelauten auf der 
Flöte austönte. Noch schöner aber war es» wenn 
er uns das auf Mozarts Namen getaufte Schlum- 
merliedchen blies: ,3chlafe mein Kindchen, schlaf 
ein." Die holdselige Weise dieses Liedchens hat 
sich mir so tief in die Seele geprägt, dass ich 
noch jetzt zuwdlen ganz plötzlich seine Stim- 
mung beim Einschlafen empfinde, jenen imbe- 
schreiblich süssen Frieden der nächtlichen 
Kinderstube, wenn das Nachtlicht prasselnd aus- 
zugehen beginnt und mit dem Gefühl der treuen 
Hut und sichern Geborgenheit die tiefe Ruh sich 
medersenkt* 

Mein Vater soll in jungen Jahren ein grosser 
Kinderfreund gewesen sein- und sich wunderbar 
mit dem kleinen VöUdein verstanden haben. Als 
er selber Familienvater geworden war» kam ihm 
diese Gabe mehr und mehr abhanden. Er hing 
mit unendlicher Zärtlichkeit an uns, trug uns 
auch, solange wir klein waren, im Wettstreit mit 
der Mutter und der guten Fina, halbe Nächte um- 
her» aber sein emstgewordener Sinn konnte nicht 



L.iyui<.LU Oy VjQOQle 



— 227 — 



mehr so recht auf die kindliche Welt eingehen, 
auch pflegte ihn der Länn aus dem Kinderzimmer 
XU vertreiben« Daher lernten wir schon früh, 
mi8 vor ihm zusammen zu nehmen, und dieser 
Zwang, der einzige, der uns auferlegt war, liess 
iLein so vertrautes Verliältnis wie mit der Mutter 
zu. Diese mit ihrem explosiven Temperament 
erschien uns immer wie eine Gleichaltrige» mit 
der man sich mitunter stark entzweite und dann 
wieder aufs innigste vertrug, denn Autorität ver- 
langte sie keine. Den Vater aber, der nur zärtliche 
und gute Worte für uns hatte, verehrten vnr wie 
ein höheres Wesen, dem man sich nicht mit 
seinen kleinen Wünschen und Klagen zu nahen 
hat. Und so blieb es auch späterhin: so stür- 
misch es im Hause zuging, vor der Studierstube 
des Vaters legten sich die wilden Wellen. Es 
versteht sich, dass man sie nie unaufgefordert 
betrat und dass keine Aufregung dorthin mit- 
genommen werden durfte; nur des Abends wur- 
den wir hineingerufen. Ihm dnzeln gute Nacht 
zu sagen, während er langsam seine Pfeife 
rauchte, zu der er sich aus alter Gewohnheit noch 
immer xnit dem Zündstein das Feuer schlug. 
Ab und zu brach wohl auch der alte Humor wie- 
der bei ihm durch, dann erirählte er tms Ideine 
Schnurren und Eulenspiegelden aus alten 
Historien, deren ich mich nicht entsinne; nur ihr 
urdeutsches Schrot und Korn ist mir als etwas 
Charakteristisches im Gedächtnis geblieben. 
Von der äusseren Szenerie, die uns in Stutt« 

15* 



228 



gart umgab, weiss ich wenig za sagen. Die 
schöne Gartenwohnimg in der Paiilinenatr. Nr. 5, 
wo wir drei Ältesten geboren sind, ist völlig für 

mich im Nebel versunken. Das umgebende Grrün 
machte dieses Haus meinen Eltern sehr lieb, bis 
ein pensionierter Offizier, der in dem oberen 
Stockwerk einzog, sie durch fortgesetztes Ge* 
hämmer auf dem Klavier zum Auszug nötigte. 
In der Militärstrasse, wo sie sich mm einmieteten, 
kam der Dichter vom Regen in die Traufe, denn 
kaum war die Einrichtung vollendet, so wurde ein 
Nebenhaus abgebrochen und umgebaut, und vor 
dem Krachen und Poltern musste man abermals 
flüchten. Zum Glück fand sich nun in dem so- 
genannten „Königsbad'', einem zwischen Stuttgart 
undBerg gelegenen, ehemals königlichen Anwesen 
mit grossen, hohen Zimmern imd parkähnlichem 
Garten der rechte Ort. Hier gab es Stille für 
das schaffende Dichterhirn und prächtige Spiel- 
plätze für uns Kinder; ich kann sie in nebelhaften 
Umrissen gerade noch erblicken. Der berühmte 
Nesenbach — eines der Wahr^reichen des da- 
maligen Stuttgart — der heute völlig überbaut 
imd sogar aus der Phantasie der Kindheit ver« 
schwunden ist, wälzte sich trübe und übelriechend 
am Haus vorüber. Gleichwohl war er die Wonne 
unsrer Jugend. Es war uns freilich verboten, 
an dem Bach zu spielen, sowohl um seiner Mias- 
men willen als wegen der Gefahr des Hinein- 
fallens, aber dieses Verbot machte uns seine mit 
Scherben und anderem Unrat stets beworfcnen 



L.iyui<.LU Oy VjQOQle 



— aag — 

Gestade erst recht aiudehend. Und wie herr- 
lich tollte sich*s in dem grossen, abwechslungs- 
reichen Garten mit den steilen, g^nen Hängen, 
die man eins hinter dem andern hinabkugelte. 
Die gute Fina stand dabei und wusch hernach 
geduldig die Grasflecken aus den Kleidern. Eines 
Tages war über dem Spielen und Jagen unver- 
merkt ein schweres Gewitter aufgezogen ; als der 
erste Donner krachte, riss Josephine erschrocken 
den kleinen Alfred auf den Arm, ihren Liebling 
Edgar nahm sie an die andere Hand und lief, so 
schnell sie konnte, den langen Kiesweg nach 
dem Hause hinab, während ich schreiend nach- 
folgte. Da schlug ein greller Blitzstrahl mit 
mächtigem Zischen hart neben mir in den Boden, 
dass von der Erschütterung alle Scheiben im 
Hause klirrten. Das riss den Vater aus seiner 
Studierstube; entsetzt rannte er in den Garten 
und trug sein Töchterchen den andern nach ins 
Haus. Diesem Blit2 verdanke ich% dass mir die 
Lokalität im Gedächtnis geblieben ist, er steht 
als ein flammendes Ausruf un^szeichen über dem 
Kiesweg mit seinen niedern Buchsbaumhecken. 

Die Itmenräume unserer Wohnung waren mit 
den Resten einer einst kostbaren Einrichtung, 
teils im Stil des Empire, teils in dem der Bieder- 
meierperiode angefüllt: den alten Oberesslingfer 
Herrlichkeiten, soweit sie nicht schon zu Oelde 
gemacht waren. Diesen aristokratischen Erb- 
stücken aus dem eigenen Hause mochte es 
schlecht in den engen Räumen der Mietwohnung 



230 



gen» durch die sie sich jetzt schleppen lassen 
mussten» behagen» aber bald sollten sie ihrer im- 
ebenbürtigen Umgebung nur zu ähnlich werden, 

als wir Kinder anfingen, unsere Kräfte an ihnen 
• zu erproben. Die Mutter war der Meinung, dass 
man den kindlichen Zerstörungstrieb austoben 
lassen müsse um ihn unschädlich zu machen und 
gab uns die schönen Geräte preis» auf deren Er- 
haltung sie bei ihrer wahrhaft asketischen, allen 
Komfort und Luxus verachtenden Sinnesart 
keinen Wert legte. Wenn der Geist der Tollheit 
über uns kam, sprangen wir von den eingelegten 
Tischen auf den Flügel, dass es hoch aufrauschte, 
und wieder vom Klavier in die damastenen Pol- 
ster des Divans hinab; nach Bildern und Gips- 
büsten schössen wir mit der Armbrust. So gab es 
bald kaum ein Möbel m^ im Hause^ das seinen 
ursprünglichen Glanz bewahrt hätte, und nur die 
ausserordentliche Gediegenheit und Dauerhaftig- 
keit dieser Geräte machte, dass sie uns doch noch 
durch eine lange Reihe von Jahren, freilich in fast 
unkenntlicher Gestalt, begleitet haben. 

Nur ein Möbel gab es im Hause, das heiHg: 
und unverletzlich war wie die Bundeslade der 
Hebräer und von ebenso geheimnisvollen 
l^chauem umschwebt: die Kommode Josephinens. 

Sie barg die merkwürdigsten Gegenstände, alle 
vom unschätzbarsten Affektionswert, lauter Er- 
innerungen an die Grosseltem Brunnow, teils 
direkt von ihnen geerbt, teils meiner Mutter ab- 
gebettelt und dadurch unsem verderblichen Hän* 



L.iyui<.LU Oy VjOOQle 



den entrückt. Da gab es Armbänder und Ringe 
aus Haaren, gemalte Blumen» unvollendete Stik- 

kereien, kleine Schmucksachen und Miniaturbild- 
chen der Grossmutter. Eine zerdrückte Schachtel 
enthielt eine unendliche Auswahl von Bändern in 
allen erdenklichen Schattierungen, weiche Atlas- 
bSnder in hinsterbenden Rokofeofarben, vielfarbig 
geflammte und gewässerte Bänder: die ganzePoe- 
sie der Schäferzeit samt dem kalten Prunk des Em- 
pire barg sich in dieser Bänderschachtel. Dann 
kamen die Basteleien meines Grossvaters, ge- 
schnitzte und gedrechselte Sächelchen, selbstfabri- 
zierte Seifen, der schwarzrotgoldenen Tochter zu- 
lieb e in diese Farben gehüllt, und andere Spielereien. 
Solche aufgespeicherten Schätze nehmen mit der 
Zeit völlig die Natur ihrer Besutser an. Wie hat 
Gottfried Keller das öde nüchtern barocke Wesen 
der Jungfer Züs durch ihre abgeschmackten Rari- 
täten charakterisiert. Die unserer Fina waren 
im Gegentdl ganz Gemüt und Seele geworden. 
Da war nicht ein Cregenstand, der sich gleich- 
gültig verhielt, wenn man ihn berührte. Mit 
diesem Spitzentüchlein hatte sie einst der toten 
Ottilie» um die sie ewig trauerte» das Gesichtchen 
sugedecktt in jener angefangenen Straminarbeit 
war noch das letzte Geschenk erhalten» womit 
das kranke Kind seine Pflegerin hatte erfreuen 
wollen, das Nadelbüchschen aus geschnitztem 
Elfenbein erzählte von den kunstgeübten weissen 
Fingern unserer Grossmutter. An einem Bande 
waren verkleinerte goldene Nachbildungen der 



— 33* — 



Onkiissterae und -Kreose des Grogsvaters auf- 
gereiht und erweckten mir phantastlsclie Bilder 

von Kriegszügen und Abenteuern in fernen Län- 
dern. Edgar dagegen erbaute sich am liebsten 
an Ghrossvaters Hausapotheke» einem Holsgestell 
mit niedlichen verkorlEten und etikettierten 
Fläschchen, die ihn vielleicht den künftigen ärzt- 
lichen Beruf voraus empfinden Hessen. Wollte 
Josephine auf ein paar Stunden Ruhe vor uns 
haben» so hob sie einfach den Deckel von der 
Konunode ab und setzte uns in das tiefe obere 
Fach mitten unter ihre Sachen hinein, und die 
Heiligkeit dieser Gegenstände redete dann so ver- 
nehmlich zu uns» dass wir ängstlich, bedadht 
waren nichts zu beschädigen. 

Mit eben solcher Treue pflegte de die histo- 
rischen Erinnerungen des Brunnowschen Hauses. 
Sie war es, die uns immer wieder des Gross- 
vaters Erlebnisse aus dem russischen Fddzug 
erzählte, vor allem den unvergesslichen Augen- 
blick, wo der junge Offizier aus Napoleons 
eigenem Munde die Instruktion zur Besetzung 
eines Dorfes empfing — das »Oui, Sire*' des 
Grossvaters sprach sie immer mit grösster Feier- 
lichkeit nach, und der Wert, den sie auf das Er- 
eignis legte, Hess uns lange Z6it glauben, dass 
jenes Dorf in Russland durch die militärische Be- 
setzimg des Grossvaters unser Eigentum gewor- 
den sei. Dann von abenteuerlichen Einquartie- 
rungen, von der sibirischen Gefangenschaft und 
der kühnen Flucht, die er in Gesellschaft seines 



L/iyiu<.Lu üy Google 



treuen Burschen quer durch Rusaland bewerk- 
stellii^e. Viele Jahre später lernte ich jenen 

Burschen als ehrsamen Familienvater in Weil- 
heim unter Teck, wo ich ihn mit meiner Mutter 
von Kirchheim aus besuchte, kennen; da ver- 
nahmen wir aus seinem Hunde die Bestätigung 
aller dieser Geschichten und freuten uns, wie das 
Gesicht des Mannes sich belebte und verjüngte, 
wenn er seines Herrn gedachte. 

Im Kdnigsbad «rermehrte sich die Familie 
noch um einen zarten goldhaarigen Knaben, der 
die Namen Erwin Dietbald erhielt. Er wurde 
am 13. April 1857 geboren. Wir waren nun unser 
viere geworden, und das wachsende Häuflein 
mochte wohl euiigen Stoff zum Nachdenken 
geben, da des Vaters rastloses künstlerisches 
Schaffen so ganz ohne materiellen Erfolg blieb. 
Doch liess man sich die gute Laune noch nicht 
durch Sorgen trüben. Wir teilten damals das 
Haus mit einer nahe befreundeten Familie^ die 
sich in ähnlichen GlücksumstSnden befand. Wenn 
der Steuereinnehmer kam, so versteckten sich 
die beiden jungen Frauen hinter den Bäumen des 
Gartens und liessen ihm durch die Dienstmäd- 
chen sagen» sie seien ausgegangen. Der Mann 
verstand und entfernte sich wohlwollend mit dem 
Versprechen, gelegentlich wieder einmal nachzu- 
fragen. Es war aligemeiner Lebensstil, derglei- 
chen nicht schwer zu nehmen; dass solche Ver- 
hältnisse in der geistig bevorzugten Klasse häufig 
vorkamen, machte sie für die Betroffenen ertrag* 



lieh. Man nahm es mit dem Schicksal auf, das 
daim immer nach eimger Zeit auch wieder nach- 
gab. Im Optimismtts waren meine beiden Eltern 
sich völlig gleich. Was auch für Enttäuschun- 
gen kommen mochten, nie wurde in meiner 
Mutter der Glaube schwankend, dass ihr Dichter 
endlich durchdringen, sein Volk su sich heran-* 
ziehen werde, tmd ihre Begeisterung war es, was 
ihm in den schwersten Zeiten den Glauben an 
sich selbst nicht sinken liess. , Ebenso wetteifer- 
ten sie in der persimlichen Bedürfnislostgkett. 
In den zweiundzwanzig Jahren ihrer Ehe hat sie 
sich nur ein einzigesmal, auf acht Tage, von 
Hause entfernt, von einer Freundin fast gewalt- 
sam weggeschleppt und auf jedem Schritt sich 
die Erholung missgönnend, weil er ne nötiger 
gehabt hätte. Dagegen konnte sie es auch nur 
mit Mühe durchsetzen, dass er sich zuweilen auf 
eine kleine Erholungstour begab oder den Abend 
mit Freunden zubrachte. Sie selber wollte nie 
dabei sein trotz ihrer geselligen Natur; ihr ein- 
ziger Umgang waren ihre Kinder. Im Königs- 
bad wurde ihr Glück zum erstenmal ernstlich ge- 
trübt durch jene schwere Nervenattacke, die 
memen Vater nach der Vollendung der „beiden 
Tubus** befiel. Es war idie St^gestion ihrer 
Liebe, die uns wildem Heere trotz unserer zarten 
Jahre und unserer völligen Disziplinlosigkeit da- 
mals die Einsicht gab, uns viele Tage lang 
musterhaft zu verhalten und durch keinen Laut 
den Fortgang der Genesung zu beeinträchtigen. 



Oberesslingen 

Im Frühjahr 1859 nahmen meine Sltem den 

Vorschlag ihres alten Freundes, des Expfarrers 
und Landtagsabgeordneten Hopf, der lange Zeit 
in den inneren politischen Kämpfen Württem- 
bergs eine Rolle gespielt hat, an mid sogen su 
ihm nach Oberesslingen, in die alte Heimat 
meiner Mutter. Dieser Entschluss, aus der Not 
geboren, sollte für Hermann Kurz verhängnisvoll 
werden, da er ihn dem freilich schon längst stag- 
nierenden literarischen Leben der Hauptstadt ent- 
rückte, um ihn der tiefsten Vereinsamung ent- 
gegenzuführen: uns Kindern hat er freilich eine 
Reihe idyllisch schöner Jugendjahre gesichert* 
Zunächst wirkte die ländliche StUle und die stete 
Berührung mit der Natur sowie der tägliche Um- 
gang des zuverlässigen, gleichmässig gestimmten 
Freundes wohltätig auf des Vaters reizbar ge- 
wordenes Nervensystem. Meine Mutter war selig 
die Orte wiedersusehen, wo sie ihre Jugend und 
die ersten Monde einer glücklichen Liebe ver- 
bracht hatte. Noch war das Dörflein ganz das 
alte; der Neckar floss still und klar zwischen 
flachen Weidenuf em vorüber. Dorthin wanderten 
wir an den Sommerabenden gross und klein um 
im Freien zu baden, und ich erinnere mich gut, 



wie eiiimal mein Vater an tieferer Stelle auf 
einem mosigen Steine ausglitt und mich vom 
Arme fallen lies«, dass ich untersank und be* 

wusstlos wieder aufgefischt wurde. Das Hopfsche 
Haus, das wir bewoiinten, lag nur wenige Schritte 
von dem ehemaligen Besitz memer Mutter ent- 
fernt in emer grossen Obstwiese, die von Hühnern 
und Pfauen bevölkert und von einer Mauer ein- 
gefasst war; es sollte das Paradies unserer Kind- 
heit werden. Wir hatten zwar nur eine kleine 
Mansardenwohnung; dafür konnten wir Kinder 
aber fast die ganze Zeit im Freien verbringen, 
daher ich mich auf die Innenräiune nicht mehr 
deutlich besinne. Meines Vaters Zimmer war 
ziemlich geräumig» aber niedrig und hatte nur 
kleine Mansardenfenster, doch lag es zum Glück 
vom Lärm des Haushalts abgesondert. Wir 
kleines Volk hatten Garten und Wiese zur fast 
unbeschränkten Benutzung und erhielten von 
dem Hausherrn, der em grosser Kinderfreund 
war, noch jedes seine eigene Rabatte zugeteilt, 
die wir bebauen durften, auch gingen wir seinen 
jugendlichen Töchtern in der Gartenarbeit zur 
Hand oder glaubten es wenigstens zu tun, da wir 
ihnen woM mehr im Wege standen als halfen. 
Freund Hopf hatte damals die Redaktion des 
„Beobachters" inne, die seit meines Vaters Rück- 
tritt schon durch verschiedene Hände gegangen 
war, und fuhr jeden Abend von Stuttgart nach 
Oberesslingen heim* Der kleine bewegliche Mann 
mit der rötlichen Löwenmähne und eben solchem 



— 237 — 



Bart widmete sein ganzes Leben den Interessen 
der unteren Volkaschiclit« Eine Feueraeele mit 
praktisch-nüchtemer Richtung und ausgesprochen 

pädagogischer Anlage, war er von der Natur zum 
direkten Erzieher imd Lehrer der niederen Klas- 
sen geschaffen. Er gehörte der Generation von 
Moerike und Bauer, Strauss und Vischer an, war 
seinerzeit wegen burschenschaftlicher Tendenzen 
aus dem Stift ausgev/iesen worden, hatte dann 
später als Pfarrer sich die dürftigste Gemeinde 
ausgesucht, um recht ein Helfer und Schirmer 
semer 'Herde sein zu können« Er pflegte das 
Landvolk auf der Kanzel über alles was ihm nütz- 
lich sein konnte bis herab zur besten Düngerbe- 
reitung aufzuklären. Als er zur Strafe für die 
Befreiung politisch Verurteilter, darunter des 
bekannten „Reichskanarienvogels^^ Rössler von 
Öls, von der ihm liebgewordenen Gemeinde weg 
zu einer anderen versetzt wurde, liess er sich 
nicht beirren, sondern begann an dem neuen Orte 
gleich sein Liebeswerk von vom. Er speiste und 
kleidete die Armen, liess die Mädchen in Hand- 
arbeiten unterrichten und sorgte praktisch für 
seine Schafe« Durch grobe Reohtsverletzung, 
die zu späterer Revision führte^ von der Kanzel 
vertrieben, kaufte er sich dann ein Gut im 

Schwarzwald um als Bauer zu leben, und seine 
dankbaren Anhänger sandten ihm einen Wagen 
voll Saatkorn sum Einstand in sein neues Leben 
nach* Aber lange duldete es den tätigen Mann 
nidit in der Stille« er gab seinen Besitz wieder 



— 338 — 



auf und übernahm die Führung des Beobachters, 
die ihm noch die Zeit liess, das kleine Gütchen 
in Oberesslingen za bebauen. Nachdem der 
württembergische Landtag gegründet war, ver- 
trat er dort durch allen Wechsel d^ Zotstrümun- 
gen in seiner Person die äusserste Linke. ,,Dieser 
Rote, dieser Hopf,'' so übersetzte einmal ein auf- 
geräumter Politiker das Sprichwort Hic RIvkIus, 
hic salta. Für die bruchlose Ganzhdt und Eui- 
fachheit seines Wesens lEann man nur unter den 
Gestalten des Teil einen Vergleich suchen. 
Furchtlos wie sein Wahlspruch „Gradaus*', den 
er später cum Titel einer mit Opfern gegründeten 
und lange aufrecht erhaltenen kldnen Volkszei- 
tung machte, ging er ohne rechts und links zu 
sehen, seinen Weg; an seiner absoluten Uneigen- 
nützigkeit haben auch seine Gegner nie gezweifelt. 
Seine Wähler hielten denn auch durch sidiien- 
undzwanzig Jahre an ihm fest, sogar sein glän- 
zender Mitbewerber um das Vaihinger Mandat, 
F. Th. Vischer, musste vor ihm die Segel strei* 
chen. Hopf war auch philosophisch und huma- 
nistisch gründlich tmterrichtet, ein Verehrer der 
alten Literatur, doch ohne künstlerisches Bedürf- 
nis, ganz aufs Moralische gerichtet. Es gehörte 
zu den Eigentümlichkeiten der Achtundvierziger, 
dass sie abweichende Meinung als einen Flecken 
im Charakter betrachteten« davon hat Hopf eine 
rühmliche Ausnahme gemacht und sich in den 
politischen Kämpfen, die so oft in persönliche 
ausarteten, seuie Toleranz iund Menschenliebe 



— 239 — 



XU bewahren gewusst. An meinem Vater wie 
an allem, was er liebte» hing er mit einer Kraft 
der Treae und Aufopferung, die ihresgldchen 

selten findet. In allen Schwierigkeiten wusste 
er einen Ausweg. In Zeiten der Überreizung ver- 
stand er es liebevoll klug auf die Stimmungen des 
Dichten einzugehen und ablenkend zu wirken. 
Seih Auge war immer wachsam über dem Schick- 
sal meiner Eltern, und wir Kinder hatten in 
seinem Haus für alle Zeit eine Heimstätte. 

Als wir in Oberesslingen einzogen, waren die 
alten Freunde und Nachbarn meiner Mutter noch 
alle am Leben ; auch die Dorfleute, die der Gross* 
Vater Brunnow sich einst verpflichtet hatte, 
kamen herzu, und alles überschüttete uns mit 
Freundschaftsbeweisen. Das Kindergemttt meiner 
Mutter jubelte, als ihr beim Einzug eine Nach- 
bildung des Asbergs aus Zucker geformt, die Wälle 
mit Kaffeebohnen aufgefüllt, überreicht wurde. 
Die Geberin des sinnigen Geschenks, das auf die 
dort verfaüsste Festungsstrafe meines Vaters an- 
spidte» war ein altes Fräulein aus der Nachbar* 
Schaft, von uns wie von aller Welt die „Tante 
Bertha*' genannt. Hier steht sie wieder vor mir, 
die unvergessüche Freundin unserer Kindheit mit 
dem weissen Scheitel» worauf ein schwarzes 
Fransentttcfalein gefühlvoll schwankte, den leb- 
haften blauen Augen und den schmalen, von Be- 
geisterung stets geröteten Wangen. Sie war die 
Hilfe der Bedrängten, der Trost der Klagenden» 
ein Feueihrand gegen alle Tyrannen» eine llat- 



— a40 — 

tcmde Fahne der Freiheit. Noch ganz erfüllt 
von den Achtundvierziger Idealeiif machte sie 
sich xiir Age&tiii der Volkspartei und verstand 
eil geschickt» die demokratischen Wahlsettel in 
dem Bezirk unterzubringen. In ihrem Kopf 
thronten die erhabensten Vorstellungen von Frei- 
heit und Völkerglück; dabei vernachlässigte sie 
aber auch ihren kleinen Kramladen an der unteren 
Borfstrasse nicht. Jedem Bauern, der sich eine 
Cigarre kaufte, legte sie seine Bürgerpflicht, frei- 
sinnig zu wählen und den , »Beobachter*' zu lesen, 
ans Hers. Sie hatte die Gewohnheit, jede Steck-» 
Näh- und Haarnadel vom Boden aufsuheben» und 
wenn ein Häuflein beisammen war, zu sortieren, 
zu polieren und wieder zu verkaufen. Die 
Fadentrümmchen, die da und dort hängen bliebe» 
wickdte sie sorgfältig auf ein Kärtchen und nähte 
damit ihren eigenen Bedarf. Wer sie so zusam- 
menklauben sah, musste sie für die geizigste 
Person von der Welt halten, und doch war sie 
gerade das Gegenteil. Sie sparte bloss an sich 
selbst» gönnte äch nur das Schlechteste, be- 
rührte, wenn sie zu Gaste war, die Speisen kaum, 
nahm keinen Zucker in den Kaffee, aber für 
andere wusste sie immer etwas zurückzidegen, 
und kern Armer ging unbeschenkt aus ihrem 
Hause. Das seltsamste war, dass sie aus un- 
widerstehlichem Triebe jedem Leichenzug folgen 
musste, gleichviel ob sie den Verstorbenen ge- 
kannt hatte oder nicht; auch an fremden Orten, 
wo sie sich nur vorübergehend aufhielt, befolgte 



L.iyui<.LU Oy VjOOQle 



siediesen Brauch, ja sogar den politischen Gegnern, 
die sie sonst grimmig hasste, weihte sie am 
Grab ihre Zäfare» und man konnte wirklich von 
ihr sagen: 

Ob heilig^ ob er böse, 
Jammert sie der Unglficlcsinftnn. 

Überhaupt war sie in immerwährender Be- 
wegung« Hatte sie politische Geschäfte in Stutt- 
gart, so übergab sie den Kramladen ^er ihrer 

Nichten, marschierte nach Esslingen und dampfte 
von dort in die Kesidenz. Sie half bei jedem 
Umzug» und war irgendwo in befreundeter Fa- 
milie eine Krankheit ausgebrochen, so erschien 
sie als Pflegerin. Trotzdem fand sie immer noch 
Zeit zum Lesen und beschäftigte sich besonders 
gerne mit geschichtlicher Lektüre» durch die sie 
sich wie durch etwas Gegenwärtiges aufregen 
Hess. Ich habe sie einmal gans unvermittelt bei 
Tische in Tränen ausbrechen sehen über den Tod 
des Sokrates. Uns Kindern pflegte sie auf Spa- 
^iergängen» zu denen sie uns häufig mitnahm, 
mit hohler» von Bewegung zitternder Stimme die 
Polenlieder vorzutragen, die in der Zeit ihrer 
Jugend allenthalben verbreitet gewesen waren. 
Der „tapfere Lagienka"' und der »»sterbende Kos- 
dusko" wurden durch »ie unser täglicher Um- 
gang» und wenn sie gar die »letzten Zehn vom 
vierten Regiment'' aufmarschieren liess, so war 
es unmöglich, nicht mit ihr an den Ufern der 
blutgeröteten Weichsel zu jubeln und zu trauern. 
Unter den Gliedern ihrer eigenen Familie teilte 

Isolde Knrz, Hannaim Kurs. z6 



— 94^ — 



nur ihre jüngste Nichte, ein blasses herzkrankes 
Mädchen» ihren Schwung. Diese war als Kind 
von meiner Mutter, die stets das Bedürfnis hatten 
andere an ihrer geistigen Welt teihidunen sa 
lassen, in Geschichte, Mythologie, Literatur und 
auch ein wenig im Französischen unterrichtet 
worden und hatte darin einen Ersatz für die 
versagten Jugendfreuden gefunden* so dass sie 
ihre kurze Lebenspanne h^ter verbrachte» sehr 
viel las, auch Verse und Komödien schrieb, was 
ihr in ihrem eigenen Kreise Bewunderung und 
Überschätzung eintrug» meiner Mutter aber die 
rührendste Anhänglichkeit und Dankbarkeit von 
ihrer S^te. 

In dem ehemalig Brunnowschen Hause 
wohnte um jene Zeit ein ganz merkwürdiges 
Paar» der alte Baron von Rieger mit seiner geist- 
reichen, ihm in allem unähnlichen Gemahlin. Er 
war ein später Abkömmling jenes Ob ersten Riegcr, 
berufenen Andenkens aus „Schillers Heimat- 
jahren", ein sehr gelehrter Herr, der in seiner 
Jugend als Gesandtschaftsattach6 weite Reisen 
gemacht hatte und den Hafis und Tausend und 
Eine Nacht in der Ursprache las. Aber im Kopfe 
war es bei ihm nicht ganz richtig« In seinem 
niegelüfteten Zimmer hielt er eine grosse Anzahl 
Papageien» die ihminden verschiedensten Sprachen 
entgegenkrdschten; noch meine ich sone durch- 
dringende Stimme zu hören, wie er seinem Lieb- 
ling, einem grossen weissen Kakadu Achillel 
Achillel rief« In jungen Jahren hatte er durch 



Spid und Vcrachweiidiiiig eiii imgehcures» von 
«einer englischen Mutter stammendes Vermögen 

durciigebracht; er soll ein so schlechter Haus- 
hälter gewesen sein, dass er Kapitalscheine und 
Banknoten haufenweise am Boden liegen liess, 
wo i^e von den freilebenden Papageien zerbissen 
oder auch vom verschütteten Badewasser der 
Vögel eingeweicht wurden. Jetzt lebte er mit 
seiner Frau in tiefster Armut. Man sah ihn oft 
im grauen» schlotternden Schlafrock, ein kleines 
schmieriges Mützchen auf dem Kopf und rote 
Pantoffel an den Füssen durch die Felder 
schweifen; dass ihm dabei die Gassenjungen nach- 
liefen, beachtete er nicht, denn er sprach ara- 
bische Verse vor sich hin. Nach vier bis fünf 
Schritten blieb er jedesmal stehen und betrachtete 
über die Schulter seine aufgehobene Sohle; wegen 
dieser Gewohnheit hiess er im Dorfe der „Absatz- 
baron''» und man behauptete, er sehe sich noch 
immer um» ob ihm nicht eine Banknote am Schuh 
hange. Ich stand als kleines Kind dnmal dabei» 
wie er in den Laden der Tante Bertha trat und 
für einen Kreuzer rot und weisses Baumwollband 
kaufte um seinen Schlafrock damit zu gürten. 
Die Elle wollte um seinen hageren Leib doch 
nicht reichen» deshalb schnitt ihm die Tante 
Bertha noch um einen zweiten Kreuzer ab und 
knüpfte die Stücke zusammen, worauf er mit 
xwei Knoten um den Leib versehen abzog. Dass 
die Tante Bertha ihn „Gnädiger Herr" titulierte^ 
sich aber doch nicht dasu verstand» für sdne swel 

i6* 



Kreuzer ihm ein neues, ganzes Stück abzu- 
schneiden, verfolj^e mich lange mit peinlicher 
Kontrastwirkung* Die befreundeten Familien 
sorgten für die Küche des verarmten Hauses» in- 
dem sie Speisen und Vorräte hinüber schickten. 
Doch hinderte die Not ihn nicht« von Zeit zu 
Zeit nach der Stadt zu gehen» und m emem be- 
kannten Spielwarenladen teunes und für jene 
Zeit sehr kompliziertes Kinderspielzeug einzu- 
kaufen, an dessen Mechanik er sich einsam ver- 
gnügte. Da gab es grünlackierte Brunnen, aus 
denen man Wasser pumpte und Mühlwerke, die 
unter Gerassel das oben eingegossene Mdil an 

anderer Stelle wieder von sich gaben. Wir Kinder 
durften zuweilen, wenn wir krank waren, hinter 
dem Rücken des Besitzers mit diesen Herrlich- 
keiten spteleUt und einmal führte uns Frau von 
Rieger heimlich auf ihren Speicher» wo die 
Schätze des Barons aufbewahrt lagen, und liess 
uns da in einen ganzen Himmel blicken. Das 
Hauptstück war ein rot- und wdssgestrichenes 
blechernes Schifflein, das Idcht uns Kinder 
selbst hätte fassen können; es einmal heimlich 
herabzuholen und auf dem Neckar schwimmen 
zu lassen, bUeb für Edgar und mich ein unerreich- 
barer Herzenswunsch. . 

Frau von Rieger war die intimste Jugend- 
freundin meiner Grossmutter gewesen und hatte 
nach deren frühem Tod ihre Liebe auf meine 
Mutter übertragen« Ausserlich glich sie einer 
Nippesfigur» Alles an ihr war klein und zierUcht 



L/iyiu<.Lu üy Google 



— «4$ — 

der Anzttgr ' äusserst sorgfältig gehalten; die 
braunen Haare in Löckchen geringelt. Von Zeit 
zu Zeit zog sie eine niedliche blaue Dose hervor 
und führte mit einein kleinen goldenen LöHel- 
chen etwas Tabak an die Nase; eine Marquise 
vom Hofstaat Ludmgs des Fünf zdmten konnte 
sich dabei nicht stilvoller bewegen.' Überhaupt 
war sie in ihrem ganzen Wesen eine Nachzüglerin 
des graziösen, leichtlebigen und tapfem acht- 
zdmten Jahrhunderts» an dessen Ausgang sie das 
Licht erblickte. Aus grossem Reichtum in die 
äusserste Dürftigkeit versetzt, schien sie unter 
ihrer Verarmung nicht zu leiden, denn sie war 
immerzu geistig beschäftigt, lesend und schrei- 
bend oder auf langen, einsamen SfMiziergängen 
durch die Gegend streifend, wobei sie sich in die 
vergangene Zeit versenkte. Meinen Vater, der der 
winzigen, etwas tauben Dame stets mit zartester 
Ritterlichkeit begegnete^ liebte sie ausnehmend 
und nannte ihn den „schönen Herkules'\ Wie der 
französische Emigrantenadel wusste sie sich in 
die beschränkteste Lage zu finden, ohne von 
der Vornehmheit ihres Auftretens das geringste 
einzubüssen« Sie ass nur wie «n kleiner Vogel 
und trank niemals Wein, aber jeden Morgen er- 
hob sie sich vor Sonnenaufgang und wanderte 
nach dem eine Stunde entlegenen „Zeller Brünn- 
lein'% um dort ein grosses Glas frisches Wasser 
zu trinken« Nur ihre ästhetischen Zirkel konnte 
sie nicht verschmerzen. Des Abends deckte sie 
sich jetzt selbst den Teetisch mit der gewohnten 



— a4<^ — 

Bilanz und PünktUchkei^ denn ihr Süberseu; 
hatte sie gerettet; die silberne Zuckerdose ent- 
hielt auch noch Zucker, aber Tee und Rahm 
fehlten, doch die Gäste, die sich einfanden, mach- 
ten keine Ansprüche: bei jeder Tasse lag eine 
Visitenkarte ids Repräsentant irgendeiner ab- 
wesenden oder wohl auch schon verstorbenen 
Persönlichkeit, und sie soll abendelang mit der 
stillen Gesellschaft die angeregteste französische 
Konversation geführt haben. Ob sie dieses Aus- 
konftsmittel von dem berühmten „Justizrat Hasen- 
treffer" entlehnt hatte oder ob sie selbständig dar- 
auf verfallen war, weiss ich nicht. Tatsache ist, 
dass sie sich auf diese Weise für die verlorenen 
geselligen Genüsse schadlos hielt, und ich er- 
innere mich genau, dass eines Abends meine 
Mutter von einem Besuch bei ihr nach Hause kam 
und erzählte, wie soeben die alte Dame sie mit 
einem wehmütigen Lächeln entlassen habe, weil 
sie ihre stillen Gäste erwartete. Dies geschah 
jedoch ohne eine Spur von Mystizismus, denn 
Frau von Rieger huldigte einer Aufklärung im 
Sinne Voltaires und seiner Zeitgenossen. Ihre 
Kultur war eine französische^ obwohl reines 
deutsches Blut in ihren Adern floss, und sie soll 
sich erst vom Jahre Achtundvierzig an, als sie an 
eine Zukunft Deutschlands glauben lernte, zu 
der deutschen Sprache bequemt haben. Die 
feine Aristokratin las sogar mit grossem Wohl- 
gefallen die derben Schriften eines Johannes 
Scherr, weil sie darin die Verherrlichung des 



Vaterlandes fand. Im Jahre Siebzig loderte aie 
in Flammen der Begeisterang auf» allein wie aehr 
aie nun auch jeden Etnflusa des „Erbfdndes" ab- 
schwor, das Gepräge ihres Geistes, die Art ihrer 
Konversation und ihr ganzer Lebensstil war 
und blieb fransösiscb» doch ein Fransösisch des 
achtsehnten Jahrhunderts. Es hat mir immer an 
ihr gefehlt, dass sie nicht einen schnupfenden 
Abbe mit Schnallenschuhen zur Begleitung hatte. 

Ein freundliches Geschick wollte^ dass sie 
kurs nach imserm Wegzug von Oberesslingen 
von Seiten der englischen Verwandten ihres 

unterdessen verstorbenen Mannes die Nutz- 
nicssung eines Nabob-Vermögens erbte. Sie be- 
nutzte das Geld fast ausschliesslich zum Wohl- 
tun» zur Linderung von Armut» deren Druck sie 
selbst empfunden hatte» und zur Förderung ge- 
meinnütziger Interessen, indem sie für sich selbst 
nur wenig verbrauchte. Die Zeit erschien macht- 
los dieser seltsamen Persönlichkeit gegenüber; 
als ich sie fünfzehn Jahre nach den Esslinger 
Tagen inCannstadt wiedersah, hatte sie noch die- 
selbe schlanke, zierliche Gestalt, denselben aristo- 
kratischen Kopf mit den braunen, vollen Locken, 
und auch das goldene Löffelchen in der blauen 
Tabati^e war noch in Tätigkeit. Sie sollte ein 
nahezu biblisches Alter erreichen, ohne dessen 
Trübsal zu kosten« denn ihre Seele schien im 
Genuss des Wohlstandes nur inuner noch frischer 
und jugendlicher zu werden« In den 8oer Jahren 
plante sie noch einen Besuch bd uns in Floren^ 



— 24S — * 

der aber nicht mehr zustande kam. In ihren 
letsten Briefen an meme Mutter erzählte «e ia 
Makamenform, wdche Dichtart ihr bei der rdoi 

verstandesmässigen Anlage ihres Geistes offenbar 
besonders zusagte, drollige Erlebnisse einer 
Schweizerreise und ergoss über einen »unreifen 
Springinsfeld von siebzig Jahren'% der der rdfen 
Neunzigerin seine Hand angeboten hatte, noch 
einmal die Fülle ihres französischen Esprits. 

Zu den originellen Gestalten, von denen das 
kleine Oberesslingen wimmelte, gehörte auch 
ihre Nachbarin und Freundin, das alte Fraulein 
von Bär. Auch diese war eine von den Intimen 
meiner Grossmutter gewesen und hatte ihre 
Neigung auf die nachwachsenden Generationen ver- 
erbt. Obgleich nicht gross, war sie von impo- 
santer Erscheinung, brünett, ein wenig beleibt 
und trug sich immer weiss mit einem grossen, 
nickenden Gartenhut nach einer längst ver- 
schollenen, aber mit dem idyllischen Charakter 
des Ortes harmonierenden Mode. Aus einer ver- 
armten Adelsfamilie stammend, war sie in ihrer 
Jugend als Gouvernante in ein vornehmes Haus 
nach Italien gekommen; von dort hatte sie wohl 
die anmutige Grandesza ihres Wesens mitge- 
bracht. Nach ihrer Rückkehr erhielt sie ihrer 
aussergewöhnlichen Bildung wegen den Posten 
einer Vorsteherin am „Katharinenstift" in Stutt- 
gart, wo sie sich grosser Beliebtheit erfreute, aber 
ein zunehmender Mystizismus, mit dem sie auch 
die Schule za förben suchte, machte ihre Stellung 



L/iyiu<.Lu üy Google 



— 249 — 

imlialtbar. Nach ihrer Pensionienuig lieu sie 
sich von mdnem Orossvater, der nach allen 

Richtungen dile^erte, das kleine, niedliche, 
einem Spielzeug gleichende Schweizerhäuschen 
hauen, das sie noch zu unserer Zeit mit ihrer 
schwachsinnigen Schwester hewohnte; auch die 
Tannen, die es ringsum beschatteten, waren von 
seiner Hand gepflanzt. Wieviel sie aber auch 
auf den alten Herrn hielt, in ihrem Geisterglauben, 
der seinem Rationalismus sehr zuwider war, Hess 
sie sich nicht von ihm irre machen. Sie geriet 
vielmehr mit den Jahren immer tiefer in den 
Bann der „Seherin von Prevorst". Unter ihren 
Tannen ging sie oft gestikulierend auf und nieder 
und nnterredete sich auf italienisch mit der 
Geisterwelt, weU dies die Sprache ihres früh- 
verstorbenen Jugendgeliebten war. Den sdctire- 
rischen Rciseprediger Gustav Werner liess sie 
Vorträge in ihrem Gartensalon halten. Das 
hinderte sie aber durchaus nicht» feine Weltdame 
mit politisch-fortschrittlicher Gesinnung za sein« 
In ihrem Zimmer hing ein lebensgrosses Bildnis 
Garibaldis, für den sie schwärmte. Von ihr war 
die Vorliebe für alles Italienische auf meine 
Mutter übergegangen» die wiederum uns schon 
in den frühsten Jahren auf italienische Sprache 
imd Literatur hinwies. 

Auch unseres Nachbars sei hier gedacht, des 
schönen Nimrods Rommel mit den gewaltigen 
Hunden» für den alle Dorfmadehen glühten» und 
der von früher Jugend an meine Mutter schwär- 



meriflch verein hatte. Jetst ttbertrug er adne 
Liebe auf die Kinder, besonders auf das Töchter- 
chen, das er zu ihrer höchsten Wonne bisweilen 
im Hofe auf seinem hochbeinigen Rappen reiten 
Hess. — All diesen originellen Menschen war eins 
gemeinsam : sie lebten in einer Enge» die man sich 
heute kaum mehr vorstellen kann, und trugen die 
Weite der ganzen Welt in ihren Herzen. 

Äussere Ereignisse gab es in dem kleinen 
Dorf keine; die Zeit stand vollkommen still* 
Höchstens, dass ab und zu ein Zigeunertrupp 
durchzog und die Zigeunerwdber 2sum Betteln 
und Wahrsagen im Haus erschienen. Waren sie 
jung und schön, so eilte meine freigebige Mutter 
an einen grossen Schlaf diwan» dessen als Truhe 
dienender Hohlraum die Reste verschwundener 
Pracht^ Hofkleider der Grossmutter, gewirkte 
Schals und Schärpen, Spitzen und Stickereien 
barg. Da holte sie irgendein rot- oder gelb- 
seidenes Prunkstück hervor, um den braunen 
Zigeunemacken damit zu schmttcken* Dann wurde 
mein Vater gerufen, damit er sich mit der Be- 
schenkten auf Rotwelsch unterhalte. Ihm war 
der Zigeunerjargon geläufig aus den Zeiten, 
wo er wegen der Studien zu den »Heimatjahren*' 
und zum ,»Sonnenwirt'' mit dem fahrenden Volk 
im Lande herumgezogen war, um ihre Sprache, 
ihre Gebräuche und Anschauungsweise kennen 
zu lernen, vor allem» um die mündlichen Uber- 
lieferungen vom Hannikel zu sammeln. Die 
Zigeuner sind bekanntlich sehr zurückhaltend 



251 — 



vaat allem» was ihren Stamm imd seine £rinnenm<* 
cen betrifft ; gegen meinen Vater aber waren säe 

nicht karg gewesen, wie die zwei grossen Romane 
bezeugen, und meine Mutter suchte jeder durch- 
ziehenden Zigeimertruppe den Dank dafür durch 
Geschenke abautragen» die bei dem dauernden 
Geldmangel des Hauses nur in solchen vererbten 
Putzstücken bestehen konnten. Da der Inhalt 
besagter Truhe mich immer lebhaft beschäftigte, 
wollte mein Vater mich einmal hinter dem Rücken 
der Mutter damit erfreuen; er 20g den schweren 
Deckel in die Höhe, aber im Augenblick, wo ich 
mich nicderbeugter*blieb ihm der lederne Griff in 
der Hand, und der Deckel fuhr schmetternd zu, 
dass ich gerade noch den Kopf zurückziehen 
konnte. Der namenlose, versteinernde Schrecken, 
den ich in seinem völlig erbleichten Gesichte las, 
gab mir für diesen Tag in meinen eigenen Augen 
eine nicht unbehagliche Wichtigkeit. 

Um jene Ztit schrieb er den Text zu Weissers 
^,Bilderatlas zur V/eltgeschichte*^« Die m seinem 
Zimmer aufgestellten Stiche und Zeichnungen 
nach den schönsten Antiken, nach Statuen luid 
Reliefs, nach Vasen und Gemmen machten auf 
imsere Kinderseelen tmen unauslöschlichen Ein- 
druck. Wir mühten uns sie ohne Anleitung 
nachzuzeichnen und liebten sie auch noch in den 
Ungestalten, die wir selbst hervorbrachten. 
Die Mutter kam diesem Interesse entgegen, in« 
dem sie uns mit der homerischen Gotter- und 
Heroenwelt bekannt machte, die schon ihre eigene 



üy Google 



2^3 



Jugend durdileuclitet hatte* Meiii GroBSvater 
Brunnow mit teineiii Sinn für drastische Komik 

hatte dereinst der Tochter die Blumauersche Tra- 
vestie der Aeneide in die Hände gegeben, aus der 
sie, den niedrigen Ton ignorierendt das reinste 
Entzücken am Gegenstande sog: sie gab uns 
dafür die IHas. Alsbald wurden die schönen Ge- 
stalten des Bilderatlasses lebendig, sie stiegen aus 
den Blättern herunter und lebten mit uns selb- 
ständig weiter» in viel höherem Masse, als die 
Erwachsenen wussten. Wir führten in unseren 
Spielen ihre Taten auf und verwuchsen gans mit 
ihnen. Es gab eine Zeit, wo wir schlechtweg 
an die griechischen Mythen glaubten, und die 
schönen, stmnmen Götterbilder gewannen mehr 
Binfluss auf uns» als die ganze lebende Um- 
gebung, die ja häufig einen Stich ins Groteske 
hatte. Wie oft wurde in unserem Grasgarten die 
heilige Troja mit ihren Mauern aus Lehm auf* 
geführt, dann verteidigt und gestürmt und 
schliesslich dem Brdboden gleich gemacht. Die 
Mutter Hess uns Helme und Schilde aus Pappe 
und Goldpapier sowie hölzerne Lanzen anfertigen; 
Pfeile tmd Bogen machten wir uns selbst» dazu 
bekamen wir noch Sandalen an die Füsse, und 
ich erhielt ausserdem ein Panzerhemd» worauf 
ein goldenes Medusenhaupt leuchtete, denn ich 
hatte nichts geringeres als die Gestalt der Athene 
gewählt, um sie in meiner Person darzustellen — 
vielmehr war sie mir ganz von selber zugefallen» 
weil Edgar, der überall der Erste sein musste» 



«53 



sofort in die RoUe des Achilleus gefahren war, 
und unser zsrtes gegenseitiges Verliäitnis es mit 
sieh beachte« dass ich ihm ahi Helferin zur Seite 

trat. Wir hatten auch vereinte Kräfte nötig, um 
unsrem Alfred, genannt „Butzel", zu widerstehen, 
der gerade damals ein Stadium unbezälmibarer 
Wildheit durchmachte. Er» der an natürlicher 
Oüte uns alle weit übertraf, war zu jener Zeit und 
noch lange danach in seinen Kraftausbrüchen fast 
unnahbar. Da ihm am wohlsten war, wenn er 
wie ein Eber daherremien oder sich brüllend am 
Boden wälzen konnte, so gab es nur einen Gott» 
dessen Züge ihm passten, den tobenden Kriegs- 
gott, und er hat auch seine Aresrolle stets mit 
der tiefsten Überzeugung gespielt. Auch unsem 
kleinen Erwin nötigten wir, sich mit Pfeil und 
Bogen an den wilden Kriegsspielen zu beteiligen, 
woran er aber bei seinem zarten Alter weniger 
Gefallen fand« Er war übrigens jetzt nicht mehr 
der Jimgste; am i8. Mai x86o war noch tm Nach- 
zügler erschienen, ein vierter Knabe, zwar un- 
gerufen, aber nicht minder willkommen. Da 
meine Mutter sich um jene Zeit für die Befreiung 
Italiens begeisterte, verlangte sie, ihm den Namen 
Garibaldi zu geben. Mein Vater willigte em, weil 
er sich erinnerte» dass irgenddn alter Langobar- 
denherzog Garibald geheissen, weshalb er den 
Namen als einen deutschen ansprach; er stiftete 
aber noch den zweiten, Winfried, hinzu, denn 
dieses Reservatrecht hatte er sich gewahrt, V^r 
Geschwister aber nannten ihn Balde, und diesen 



— 354 — 

Namen behielt er fortan; so fehlte ihm nur einer 
zu dem jugendlichen Sonnengott der Germanen, 
an den er später durch seine atrablend^ von 
keinem Leiden je zu trübende Hdterkdt und 

durch seinen jugendtod nur allzusehr erinnern 
sollte. 

Wie auf einer weltfernen Insel hausten wir 
hinter unserer Gartenmauer, die zwar nicht hoch 
aber doch bedeutend höher war als wir selbst, 

auf den Raum eines Obstgartens angewiesen, den 
wir für ein Stück Griechenland hielten, und wuss- 
ten nichts, rein gar nichts von der Aussenw^t, 
noch von dem Jahrhundert, in dem wir lebten. Ein 
Besucher verdarb es einmal schwer mit uns, in- 
dem er uns dem Kostüm nach für Perser hielt, 
welches doch tmsere Erbfeinde waren. Im Dorf« 
lein aber erregte unser Tteiben, von dem man 
nichts begriff, Kopfschütteln tmd Ärgernis. Die 
Welt war nicht mehr so harmlos wie in der 
Jugendzeit des Fräuleins von Brunnow, das un- 
behelligt als Jungfrau von Orleans durch die 
Felder spazieren konnte; uns war die Dorfjugend 
aufsässig, die das Blinken unsrer goldenen Waffen 
für eine Herausforderung ansah, und sobald wir 
den Fuss aus den Mauern setzten« waren wir in 
Feindealand. Dies nahm uns auch nicht wunder; 
denn in den groben Bauemjungen, die uns 
Schimpfwörter und Steine in den Garten warfen, 
sahen wir feindliche Barbarenvölker, als was sie 
nch schon durch ihre rauhe Aussprache darstell-* 
ten. Der Edle von der Mancha hat nicht über- 



L/iyiu<.Lu üy Google 



zeugter für seine Irrende Ritterschaft gestritten 
als wir für unser eingebildetes Griechentum. Wir 
gaben ihre Würfe tapfer zurückt wozu die Ross- 
kastanien unterm Haus die Geschosse lieferten» 
und wagten auch gelegentlich einen Ausfall durch 
ein Seitenpförtchen» wenn so ein Trupp vorüber- 
kam« Doch nicht alle warea uns feindgesinnt» es 
gab auch solche^ die unser Zustand erbarmte, und 
unvergesslich ist das zwölfjährige Bauern- 
mädchen, das einst zu einer Missionsreise über 
die Nachbarmauer stieg, glühend von Nächsten- 
liebe und mit einem grossen Korb voll Birnen von 
der feinsten Sorte ausgerüstet, um uns durch 
wohlgemeinte aber ganz unverdaute Brocken aus 
der Kinderlehre von der Nacht des Götzen- 
dienstes» der sie uns verfallen wähnte, zu erlösen. 
Das alles hatte die Beschäftigung unsres Vaters 
mit dem Weisserschen BUderatlas in folgen- 
schwerer Verkettung nach sich gezogen. 

Unter den Geschwistern standen Edgar imd 
ich uns immer noch am nächsten; wir hatten ja 
schon ein Menschenleben in verkleinertem Mass» 
Stab zusammen durchlebt, bis die andern uns 
nachkamen. Er war das anerkannte junge Ober- 
haupt des Hauses und hielt darauf, in seinen Vor- 
rechten nicht verkürzt zu werden. Mit seinen 
Sachen, auf die er bei seinem staricen Ichgeffih! 
grossen Wert legte, durfte nur ich spielen, und 
auch ich nur, wenn er bei Laune war ; er forderte 
mich dann wohl einmal schriftlich dazu auf* Wir 
beide pflegten aus der lauten Ausgelassenbett 



L/iyiu<.Lu üy Google 



ganz tief in uns selbst zurückzukehren, wobei ein 
jedes seinen eigenen Weg ging; er beobachtete 
alsdaxin stille die Natur, fing Salamander» Wasser- 
spinnen, Kaulquappen» während ich von f emen» 
raunenden Rhythmen rastlos umher getrieben 
war. Dabei griff er alles anders an als andere und 
führte es auf seine Weise hartnäckig ans ZieL £r 
lernte spielend, man kann es kaum lernen nennen, 
denn womit er in Berührung kam, das fasste er 
imd hielt es fest. Auch mir fielen die Dinge von 
selber zu, allein sie fielen ebenso leicht wieder 
von mir ab^ während er das seinige nicht mehr 
los liess. Aber seine nervöse Reizbarkeit und ein 
Mangel an derberer Lebenslust, der ihm noch von 
den kränklichen Kinder jähren anhaftete, schuf 
dem Hause viele Not. Beim Anblick des gedeck- 
ten Tisches entlief er gewöhnlich in den Garten; 
seine Fina, die ihn anbetete» lief ihm dann mit dem 
Suppenteller die kreuz und quer nach und suchte 
ihn durch das Versprechen eines Sechsers zum 
Essen zu verführen. Solche Freiheit konnte er 
sich erlauben, weil das wirkliche Familienhaupt 
an der Mahlzeit keinen Teil nahm. Dem Vater 
musste das Essen aufs Zimmer gebracht werden» 
wo er stehend und gehend ein paar Bissen zu sich 
nahm» Er kam wohl zuweilen zur Mittagsstunde 
herüber um einen raschen Bück auf unsre blonden 
Köpfe zu werten und sich an unserer Esslust zu 
freuen, denn wir andern waren keine Kostveräch- 
ter, aber das Gewirr jugendlicher Stimmen konnte 
er schon damals nicht auf längere Zeit ertragen. 



L.iyui<.LU Oy VjOOQle 



Unser Unterricht lag nach wie vor in den 
Händen der Mutter» nachdem ein Dorf achullehrer 
vorübergehend sugesogen und bald wieder ent- 
lassen worden war, weil er den lebhaften Alfred 
nicht zu behandeln verstand. Sie weihte uns 
jetzt in die lateinische Grammatik ein, die sie sich 
selber «nstmals aum grössten Teil auf autodidafc* 
tischem Wege angeeignet hatte. Gewiftmlich 
musste aber der Unterricht unter dem Drang 
der Umstände noch mit irgend einer häuslichen 
Verrichtung verbunden werden, so dass die Auf- 
merksamkeit der Schüler wie der Lehrerin eine 
sehr geteilte war. Mir brachte sie noch überdies 
des Morgens die Anfangsgründe des Französi- 
schen und Italicnischen bei und strählte dazu 
meine langen unbezähmbaren Haare» wesshalb 
dieser Teil des Stundenplans meist mit Geschrei 
und Tränen endigte. — Als ich später Goldonis 
Locandiera, die wir so zusammen lasen, auf italie- 
nischen Bühnen wiedersah, da wunderte ich mich 
über die lachende Grazie dieses Stücks — aus 
unsrer Kämm- und Sprachstunde war es mir nicht 
in so sonniger Erinnerung geblieben. Unser 
Unterricht war also ein sehr sprunghaitor, da- 
gegen aeichnete er sich durch ausserordentliche 
Vielseitigkeit aus; ein bisschen Ordnung imd Zu- 
sammenhang musste ich mir später mit Mühe 
dazu erwerben, was den Brüdern durch die Schule 
leichter gemacht wurde* 

Vollkommen verboten waren mir dagegen die 
weiblichen Handarbeiten, für die ich ^e von der 

Isolde Kurs, HermanD Kurz. I7 



— sjS — 

Grossmutter Bruimow ererbte Neigung hatte : mein 
Mütterlein verachtete sie tief und wollte sie des- 
balb» wenn nötig, eher selber tun» als gestatten, 
dass ihre Tochter sich damit bef asste« Ich musste 
also dieser Vorliebe, die mir auf keine Weise aus- 
zutreiben war, heimlich frönen, wodurch sie sich 
erst recht in mir befestigte. Wie oft sass ich mit 
Nadel und Scheere in irgend einem Winkel ver- 
steckt um mir aus dem Inhalt der alten Tttihen 
und Schränke irgendein Gewandstück zurecht- 
zuschneidern, ja ich erinnere mich, einmal mit 
dem schlechtesten Gewissen von der Welt heim- 
lich Alfreds zerrissene Höschen geflickt zu haben, 
denn wenn ich mich über der Arbeit ertappen 
liess, so wurde sie mir unnachsichtUch wegge- 
nommen und durch eine lateinische Grammatik er- 
setzt* Nicht einmal bei Josephinen, sonst der 
Vertreterin des juste tnilieu, fand ich in solchen 
Fällen Unterstützung: so ganz war sie eins ge- 
worden mit ihrer Herrin, dass sie mich immer 
schleunigst aus der Küche entfernte, wenn ich ilir 
etwas von ihren Künsten ablernen wollte. 

Besonders eine Heimlichkeit gab es im Hause, 
von der ich strenge fem gehalten wurde und die 
mit dem Reiz einer verborgenen Kulthandlung 
auf mich wirkte. — In später Nachmittemachts- 
atunde kamen je und je nnhcindiche, nomenhaft 
aussehende Weiber mit Laternen aus dem Dorfe 
angerückt» um sich unter Josephinens Leitung in 
der Waschküche zu versammeln. Es war das 
Mjfsterium der Monatswäsche, die nach uraltem 



Brauch, wovon Josephine nicht lassen wollte» in 

tiefer Stille der Nacht vor sich ging, denn am Tag 
wäre nach ihrer Überzeugung kein Segen bei dem 
Werke gewesen* In solchen Zeiten war der 
Morgenkaffee dtinner als sonst, dn Seifei^^ruch 
ging durchs gance Haus, und die Reissuppe, die 
es alsdann am Mittag gab (auch das gehörte zum 
Ritus), schmeckte gleichfalls nach Seife. Da mir 
trotz aller Bitten das Zusehen nie gestattet wurde^ 
schlich ich mich einmal heimlich ein mit dem 
Schauer des Uneingeweihten der sich zur Isisfeier 
drängt. Ich wohnte der heiligen Handlung des 
Laugebereitens bei, sah die Schicksalsfrauen 
reibend und spritzend am Waschtrog stehen, wo 
der Seifenschaum klatschte, und hörte, wie sie 
ihre intimen Erfahrungen über die Vorgänge in 
den Nachbarhäusern austauschten. Josephine 
stand ernst und edelmilde unter ihnen und sprach 
nur um die Sdfenschlacht zu dirigieren. Es war 
das Schöne an ihr, dass sie gegen die Angehörigen 
ihres eigenen Standes gar keinen Hochmut zeigte, 
sondern ihre höhere Kultur bloss durch das schwei- 
gende Ablehnen des Klatsches und der Kleinlich- 
keit an den Tag legte. Erst als eine der Wasch- 
frauen die besorgte Frage stellte, ob wohl der 
Morgen gutes Aufhängewetter bringen werde, 
öffnete sie den Mund und antwortete mit ihrem 
tiefen wohlklingenden Organ: „Das wissen die 
Götter!'' — Die Gute ohne es zu bemerken, 
gleichfalls in den homerischen Stil geraten. 

Dieses edle Herz, dessen HüUe damals zu 

17» 



schrumpfen begann, diente nicht nur in jener 
kargen Zeit ganz ohne Lohn weiter» sondern ver- 
wendete noch ihr Erspartes zur Ausbesserung 

häuslicher Schäden und zu Geschenken für die 
Kinder, 



Der Fremdling 

Mit dem Umzug nach Oberesslingen beginnt 
in meines Vaters Leben deutlich die absteigende 
Kurve. Der Aufenthalt war zuerst nur provi- 
sorisch gemeint« bis sich m Stuttgart» aus dem 
wir durch den Verkauf des ^^KÖnigsbads'^ ver- 
trieben worden waren, eine neue passende Woh- 
nung gefunden hätte, aber man blieb, und dieses 
Bleiben wurde dem Dichter verhängnisvoll^ denn 
das Landleben ist fttr den Schaffenden nur als Er- 
holung, nicht als dauernder Zustand günstig. 
Hier traf es noch mit einer Zeit der tiefsten 
Enttäuschung zusammen. Seine Schöpferkraft, 
di^ so lange er noch durchzudringen hoffte, 
auch in den schlimmsten Drangsalen immer 
neue Blüten getrieben hatte, begann angesichts 
der völligen Hoffnungslosigkeit zu versagen. 
Er wusste jetzt, die lilasse der Leser war für 
seine Kunst nicht reif, und wie er es auch 
angriffe, er ¥rQrde ihren Geschmack niemals 
treffen. Als im Jahr 1861 der letzte Band 
seiner Erzählungen erschien und ebenso schlech- 
tes Glück machte wie alle seine Vorgänger, da 
entsank ihm endlich Lust und Schaff ensmut: die 
übrigen teils erst geplanten, teils schon entwor- 
fenen Novellen blieben in der Feder stecken. Nur 



— a6a — 



eitt wenig Luft eine kurze Erf riedi- 

ung^ in verinderter Umgebung, und die versiegten 

Quellen hätten neu gesprudelt. Allein die 
Lebenssorgen versperrten ihm jeden Schritt ins 
Freie» und es gab aus dieser Enge keinen Ausweg 
mehr» denn seine politische Vergangenheit ver- 
schloss ihm die Möglichkeit einer Anstellung im 
Staatsdienst. 

Die Schwierigkeit der Existenz vermehrte sich 
von Tag zu Tage. Jetzt wanderte nach und nach 
all das schwere Brunnowsche Silbergerät, der 
schöne Samowar und andere wertvolle Erbstücke 
zum Verkauf. Uns Kindern blieb gleichwohl das 
Gefühl der Not ferne» und wäre nicht ab und zu 
meiner Mutter ein leidenschaftliciies Wort ent« 
fahren, das von meinen sechsjährigen Ohren auf- 
gefangen wurde und mir des Nachts in Gestalt 
schrecklicher Träume wiederkehrte, so hätte ich 
an jene Zustände schweriich eine persönliche £r- 
innerung. Dass der Genius ihres Dichters in 
dieser Drangsal einer unaufhaltsamen Zerstörung 
entgegen ging, konnte auch sie zum Glück nicht 
übersehen. Man hatte damals in Laienkreiaen 
noch wenig physiologische Einucht» und niemand 
dachte daran, er selber vielleicht am wenigsten, 
dass seine wachsende Nervosität mit seiner Lebens- 
weise zusammenhing. £r wetteiferte jetzt an 
Frugalität mit seinem Pfarrer von Y • • • bürg. In 
OberessUngen bestand seine Hauptmahlzdt ge- 
wöhnlich aus einem Teller schwarzer Brotsuppe, 
seiner spartanischen Suppe» wie er sie nannte; 



Digitized by Google 



— a63 



darauf folgte noeh ein Butterbrot mit Kräuter- 
käse bestrichen, den er seines pikanten Ge- 
schmacks wegen liebte. Statt des Weines trank 
er lange Zeit Essig mit Wasser vermischt, und da 
er das Rauchen nicht entbehren konnte, wickelte 
CT sich, als der Tabak ausging, Zigarren aus ge- 
trockneten Erdbeerblättem. Zwar seine Frau und 
Josephine überboten ihn fast noch an Enthaltsam« 
kdt» aber ihn trafen die Folgen verderblicher» 
denn sein angegriffener Kopf musste noch fort- 
fahren zu produzieren. Später, als die Verhält- 
nisse sich besserten« blieben seine Verdauungs- 
organe geschwächt tmd zwangen ihn» die kärg- 
liche Lebensweise der schlimmen Tage b^zube- 
halten. Die nächste Folge war eine Unruhe und 
Reizbarkeit, die mit physischer und seelischer De- 
pression abwechselten und auch seinem geistigen 
Schaffen» das so lange den Verfolgungen des 
Schicksals siegreich widerstanden hatte, die Spur 
der Ermüdung aufdrückte. Sehr mit Unrecht 
nannte man diesen Zustand sein Nervenleiden: 
eine Riesenkonstitution begann endlich nach 
heroischem Kampf dem Druck des Lebens zu er- 
liegen. 

Dennoch arbeitete er rastlos weiter. Die Be- 
schäftigung mit dem Weisserschen Kunstatlas 
zog ihn in archäologische Forschung hinein, für 
die er von je ein starkes Interesse gehabt hatte, 
denn bloss Gelerntes und Gelesenes wiederzu- 
geben, wie es für solche populären Arbeiten ge- 
fordert wird, war ihm seiner Natur nach unmög- 



Digitized by Google 



— a64 — 

Uch; die Intcntitiit und VieMtigkelt «eines 

Geistes zwang ihn, jedem Gegenstand, mit dem er 
sich gerade beschäftigte» seinen innersten Gehalt 
abxiifrageiL Bei diesem Ausflug auf das Gebiet 
der Archäologie entdeckte er als erster die wahre 
Bestimmung des Tempeh» von Aegina, ein Fund, 
der erst in diesen letzten Jahren von den Fach- 
kreisen gewürdigt worden ist. 

Da seine dichterischen Schöpfungen ihm nicht 
die Mittel zur Erhaltung der Familie lieferten, 
glaubte er jetzt eine Zeitlang ganz zur Historie 
Übergehen zu sollen, denn dass die unzünftige 
Wissenschaft ihren Mann noch weniger nährt als 
die Poesie» wusste er bei seiner Welt- und Ge- 
schäftsunkenntnis nicht. Er griff nach einem 
vaterländischen Stoff, dessen Szenerie ihn umgab, 
nach Studien aus der Zeit der französischen In- 
vasion von z688^ wofür er in Esslingen» das unter 
den Greueln der Melacsxeit mit am meisten ge- 
litten hatte, reiches Material fand. Doch das Be- 
dürfnis nach einer künstlerischen Darstellung 
ttberlieferter historischer Ereignisse» auf das er 
zählte» war nirgends vorhanden» und er fand flir 
diese Arbeiten erst recht keine Teilnahme. Mit 
Mühe brachte er sie nach vielen Fehlversuchen 
im Morgenblatt unter. Es war ein Zug, der durch 
sein ganzes Leben ging» dass jedesmal» wenn er 
für den Broterwerb schaffen woUt^ der Ertrag 
noch am allerdürftigsten ausfiel. 

Übrigens war ihm die mit den freundlichsten 
Illusionen begonnene Arbeit nicht einmal nach 



Digitized by Google 



— a65 — 

Wunsch gelungen: er selber klagte gegen Kausler, 
dass er zu tief in das Gestrüppe des Stoffes ge- 
raten sei. Hier zeigt sich zum erstenmal in seinem 
Schaffell die deutliche Spur der Erschöpfung, die 
die Folge einer entkräftenden Lebenswdse war. 
An vielen seiner Entwürfe aus jener Zeit erkennt 
man, wie die Übersicht des Stoffs dem ermüde- 
ten Hirn zu fehlen begann, während es noch eine 
FüUe von Ein«elgestaltung hervorbrachte. Schon 
bei dem liegengelassenen „Heiligen Florian^ 
hatte er sich in ein Wirrsal von Nebendingen ver- 
strici^t» die den Gang der Erzählung aufhielten; 
das gleiche sollte ihm in späteren Jahren beim 
Versuch einer Fortsetzung der „beiden Tubus*' 
abermals begegnen. Die anmutigen, echt epischen 
Mäander, die er immer liebte und die ihn sonst 
so sicher ans Ziel führten» hier wurden sie zu Ab- 
wegen, wo er sich selbst nicht mehr xurecht fand. 

'Und doch raffte sich gerade zu dieser Zeit der 
zu Tode misshandelte Dichtergenius, als er mit 
einem seiner Natur verwandten Stoffe zusammen- 
traf, noch einmal auf zu einem mächtigen Fluge 
ins Land der Poesie, ^ne Redaktion hatte ihn 
um einen poetischen Beitrag angegangen und ihm 
dazu das Motiv von dem im Rabenneste ausge- 
brüteten Adlerjungen geliefert. Wie der Gegen- 
stand ihn ergriff und unter seinen Händen zu 
' einem Bilde der Erdenlaufbahn des Genius empor- 
wuchs, davon kann jeder Leser des „FremdUngs" 
^ch überzeugen. Dass ihm auch sein eigenes 
Schicksal dabei vorschwebte» ist klar: diese Symr 



Digitized by Google 



266 — 



bolik lag ja schon im Stoffe;, und er hätt« ihr gar 
nicht ausweichen können; auch mögen ihm bei 
dem Strafsermon des Oberkorax und der öden 
Lebensklugheit des Kabenfräuleins eigene 
Jugendeindrücke vorgeschwebt haben. Aber es 
war damals doch dn gröbliches Missverstehen 
von Seiten der Freunde, dass sie meinten, in diesem 
Gedicht den Ausdruck der Verbitterung wegen 
persönlich erlittener Kränkungen finden su müs- 
sen; vielmelir lag ja schon In der Allgültigkeit des 
Symbols vom Lose der Grossen die innere Ver- 
söhnung. Noch mehr lag sie in der grandiosen 
Schlussapotheose, die zugleich des Dichters eigene 
Laufbahn grossartig abschloss. Wie der aus der 
Rabengemeinscliaft Ausgestossene in dem vor- 
überschicss enden Königsadler seine eigene Ge- 
stalt wiederfindet und endlich jubelnd sich selbst 
erkennt» dann der Sturm im Hochgebirge und das 
Gemälde der Alpennacht mit dem nachfolgenden 
Sonnenaufgang, endlich des Adlers letztes Ver- 
schweben im Blau: es war der höchste lyrische 
Flug, der dem Dichter selber noch gestattet war, 
ehe er mit gebrochenen Flügeln niedersank. In 
diesem Liede hat er seine poetische Kraft ausge- 

haucht; dass er von da an fast ganz verstummte, 
gereicht seinem Gesamtbild nicht zum Schaden. 

In einer Rebenlaube zu Oberesslingen wurde 
das Gedicht geschrieben* Ich kann noch die 
majestätische Gestalt des Dichters vor mir sehen, 
wie er mit glänzenden Augen den schmalen 
Wiesenweg neben der Gartenmauer auf und nie- 



Digitized by Google 



— a67 — 

der schritt und dabei wie im Traum zuweilen mit 

einem langen Stecken die vom Wind herabgeris- 
senen Ranken der wilden Rebe an der Stakete be- 
festigte, da sie s^en Ordnungssinn störten; wir 
Kinder mussten unsere wilden Spiele damals in 
«inen andern Teil des Gartens verlegen. 

Es war am Schluss des S chilier jahres 1859, 
dass der „Fremdling" entstand, und wohl mögen 
die Eindrücke des Festjubels, der von weitem in 
seine stille Klause drang, durch ihren Gegensatz 
mit dem Erdenlose des Gefeierten auf die Dich- 
tung mit eingewirkt haben. Auch bei diesem 
Peste soUte er es noch einmal an eigener Person 
erfahren, was die Nation für ihre lebenden Dich« 
ter übrig hatte. Die Francksche Buchhandlung 
hatte eine FcvStausgabe von „Schillers Heimat- 
jahren*' veranstaltet, die übrigens nur eine Titel- 
auflage war und dem Verfasser nichts eintrug. 
Diese buchhändlerische Spekulation stand, wie 
man denken musste, unter den günstigsten Aspek- 
ten, denn die Schiller-Publikationen lagen zu 
jener Zeit noch in der Wiege, und die „Heimat* 
jahre^ die ja ganz auf Quellenstudium beruhen, 
waren so siemlich das einzige Werk, aus dem 
Schillers Landsleute bei der Jahrhundertfeier 
seiner Geburt sich mit Schillers Jugend vertraut 
machen konnten. Vergebens, auch diese Ausgabe 
— die Pestkrebsausgabe, wie ihr Autor sie er- 
bittert nannte, — fiel gänzlich ins Wasser; das 
Publikum wollte seine Begeisterung gratis be- 
gehen. Was Wunder, dass Hermann Kurz da- 



Digitized by Qaogle | 



— 268 — 



mal» den gansen Schillerkultiis für Heuchelei er- 
klärte und jede Beteiligung am Feste ablehnte. 

Sein Leben war nur eine Kette von Kampf 
und Mühsal gewesen. Jetzt begann das 
Schlimmstf^ das Vergesscnwerden. Wie lange 
graue Fäden spann dch's um ihn, die aUn^ttdich 
unzerreisslich wurden. Die Werke, die er mit 
seinem Herzblut genährt und mit seiner feinen 
Künstlerhand gebildet hatten verschollen,, 
wie in einen tiefen Brunnen versunken. Niemand 
erhob die Stimme für ihn. Wenn er je noch von 
einer literarischen Zeitschrift zu Beiträgen aufge- 
fordert wurde« so war es ein Ereignis. Selbst die 
alles verschlingenden Anthologien vergassen ihn* 
Halb der Vergangenheit, halb der Zukunft gehörig» 
hatte er keine Gegenwart mehr. Und der Menschen- 
umgangt wenn er ilm überhaupt noch pflegen 
musste, wurde ihm zur Qual. Auch sein Brief- 
wechsel, sonst mit Feuer betrieben, flaute ab; was. 
hatte er den Freunden noch zu sagen? 

Im Spätherbst 1859 schrieb er an Kausler: 

nAuch meine politischen Illusionen sind 

zu Ende. Da steckt man sich hinter den altea 
Kaiser, wie man sich hinter Schiller steckt. Ge- 
nug davon. Ich habe nach und nach das Mittel 
gefunden, auch ohne Glauben zu arbeiten. Lasst 
mir die Einsamkeit unbeschrien» sie ist ein gutes 
Kraut. Ich fühlte mich neulich zu Stuttgart in. 
der Gesellschaft weit einsamer als hier.'* 

Die Öde von Oberesslingen spann ihn immer 
tiefer dn. Wohl hatte er noch sorgende Liebe 



Digitized by Google 



369 — 



und Treue um sich, aber niemand, der auf sein 
Künstlertum erfrischend wirkte, der ihn zu neuer 
Tatenlust, zu Hoffen und Glauben wecken konnte. 
Und die Originale unsm Obemdinger Verkehr^ 
die für uns Kinder so anregend waren, mochten 
ihn zuweilen wie ein Gestrüpp des Unsinns über- 
wuchern. Sidi ohne eine Hand von aussen diesen 
Verhältnissen xa entwinden und anderswo von 
vorne zu beginnen, war eine Unmöglichkeit: der 
tägliche Bedarf einer Schar von Kindern gestat- 
tete keine Geld und Zeit erfordernden Versuche 
mehr. 

Bin neidischer Dimon schien ihm auch die 
kleinste Erfrischung zu missgönncn* Ich erinnere 

mich noch eines Herbsttages, wo er in dem leich- 
ten Röckchen, das er immer trug, zu Fuase aus- 
sog» um Rudolf Kausler in IQein-Eislingen su 
überraschen. Meine Mutter hatte nicht geruht, 
bis er sich zu dem Ausflug entschloss. Aber als 
er fort war, befiel sie plötzlich eine heftige Un- 
ruheund das unabweisliche Gefühl, dass ihm etwas 
zugestossen seL Sie schickte ihm unser Kinder- 
mädchen Christine nach, das ihn in der Nähe von 
Plochingen bei schneidender Kälte ganz ver- 
krümmt imd hilflos auf einem Steinhaufen an der 
Landstrasse sitzend fand und mit grosser Auf- 
opferung den schweren Mann« der sich auf sie 
stützen musste, bei sinkender Nacht wieder nach 
Hause brachte. Dieses Ereignis, das in mein 
sidt^entes Lebensjahr fiel, steht mir noch in deut- 
licher Erinnerung. Er selbst berichtete darüber 



Digitized by Gdogle 



— ayo — 

in seiner humoristischen Art an Kausler, dass er 
unterwegs durch einen rheumatischen Anfall von 
wahrhaft grandiosem Auftreten beinahe zum Lud- 
wig Tiek zusammengeaEOgen worden sei. 

Die Oberesslinger Jahre sind die trübsten sei- 
nes Lebens gewesen. Dennoch war er auch da- 
mals kein Verbitterter imd sollte es niemals wer- 
den« Resignation war es wohl» was ihn triebe sich 
in so langem tiefem Schweigen von der Wdt ab- 
zuwenden, aber keine Verbitterung. Nie entfuhr 
ihm ein herbes Wort gegen die Glücklicheren und 
Verdienstloseren. Er musste nach langem schwe- 
rem Ringen einsehen» dass seine Zeit ilm nicht 
trug. Er grollte ihr nicht — vorübergehende 
Stimmungen ausgenommen — er verwünschte sie 
nicht, er zog sich schweigend von ihr zurück und 
lebte da« wo es kdne Zeit gibt» unter den Grossen, 
die aUe Zeitgenossen sind. Wäre er verbittert ge- 
wesen, so hätte man seine Stimme vernommen, 
denn die Menschenhasser machen immer Karriere. 
Dass icht die ein so frühreifes und feinhöriges 
Kind war» die Tragödie seines Lebens fast nur 
historisch und wenig aus persönlichen Eindrücken 
kenne, zeigt, wie er den kristallnen Spiegel seiner 
Seele von jeder Trübung rein zu halten wusste. 

Auch war er ja ein viel zu liebender Vater» um 
nicht unser freudiges Wachstum für einen Aus- 
gleich des Schicksals hinzunehmen, so wenig er 
sich fähig fühlte, einen bestimmenden Einf luss dar- 
auf zu üben. Er hatte uns nichts geben können 
als sein Blut, denn seine Zeit und seine Kräfte 



Digitized by Google 



— 271 — 

hatte er der AUgemeinheit geopfert, aber so wild 
und gesetzlos er uns auf schiessen sah, er zwdfelte 
nicht, dass dieses Blut ein jedes von uns den rech- 
ten Weg durchs Leben führen würde. Nur dass 
ihn sein reizbarer Zustand auch um die Freuden 
des Familienlebens betrog. Er war zu spät Vater 
geworden und blieb darum inmitten der Seinigen 
ein Einsiedler und Junggeselle. Sobald er sich 
nur auf einen Tag von Frau und Kindern ent- 
fernte, befiel ihn quälendes Heimweh, und denn- 
noch litt er vom Zusammenleben. Ich erinnere 
mich, so weit ich zurückdenken mag, nicht einer 
einzigen Mahlzeit, die er mit uns gemeinsam ein- 
genommen hätte. Freilich wäre die brodelnde 
Unruhe unserer Häuslichkeit auch für stärkere 
Nerven zuviel gewesen« So fand zwischen ihm 
und der heranbltthenden Jugend wenig Wechsel- 
wirkung statt. Unsere geistige Welt dankten wir 
weit mehr der Mutter» und sie trug auch ein von 
der seinigen etwas verschiedenes Gepräge. Er 
verleugnete in der Kunst und im Leben den alten 
Theologen nicht, seine Bildersprache bezog sich 
auf die Bibel. Durch den „Bilderatlas" hatte er 
zwar den Anstoss zu unsrer Bekanntschaft mit 
der griechischen Mythit gegeben, allein er ntlber 
war ihr nicht so unmittelbar mit allen Fasern ver- 
wachsen, wie es bei uns der Fall war; viel näher 
lag ihm die Welt der Edda, weshalb wir frühe 
auch diese in unsem Vorstellungskrds auf- 
nahmen. Unvergesslich ist mir, wie er «nmal, 
als ich beim Fallen das Knie Verstössen hatte. 



Digitized by Google 



— aya — 

mir mit tiefer raunender Stimme als Heilsegen 
den Merseburger Zauberspruch vorsagte: ,,Phol 
ende W6dan fuorun zi holza/' der durch meiiie 
Freude an dem „Bulderes Volon'S das ich Imhhaft 
als weisses Füllen vor mir sah, seine Trostwirkung 
vollkommen tat. 

Während jener dunkelsten Zeit fand auch der 
Genius der Freundschaft, der von je die Ungerech« 
tigkeiten des Schi c k s als an ihm gut zu machen ge- 
strebt hatte, von neuem den Weg in sein Leben. 
Paul Heyse, damals noch in seiner apollohaften 
Jünglingsgestalt^ schon vom frühen Ruhm um- 
glänzt, suchte den Einsiedler in seiner stillen 
Klause auf. Er war der erste gewesen, der die 
„Erzählungen'' öffentlich nach ihrem Werte an- 
erkannt und damit in dem erfolglos ringenden 
Dichter den Glauben an ein endliches Verstanden- 
werden wieder erweckt hatte ; — dass es ein Nord- 
deutscher war, der für ihn die Stimme erhob, tat 
dem in seiner Heimat Totgeschwiegenen doppelt 
wohl. Ein Briefwechsel hatte sich darauf ent- 
sponnen, der bald zum innigsten Herzensbund 
führte. Paul Heyse hat selbst in seinem Vorwort 
zu den Gesammelten Werken meines Vaters das 
Entstehen und den Fortgang dieser seltenen 
Freundschaft geschildert, und ich darf mich füg- 
lich enthalten, sdner dem unmittelbaren Erld>en 
entquollenen Darstellimg noch aus zweiter Hand 
etwas hinzuzufügen. 

Woran es mtinem Vater so lange gefehlt hatte» 
das trat jetzt von auswärts in sdn Dasein. Ge- 



Digitized by Google 



«73 — 



wm$p die alten Freunde;» allen voran sein Rudolf 
Kaufller» standen m ihm wie je, und er vergase 

der ersten Liebe nie; aber selber alternd, resig* 
niert, konnten sie ihm keine Erfrischung mehr 
bieten. Hier kam das Neue, eine junge Liebe ^ 
und die grossen Verschiedenheiten des Alters» des 
Stammes, der Individualität dienten nur dasu» die 
Anziehung zu erhöhen. Weit mehr als bloss das 
künstlerische Verständnis, das ihm so nottat, war 
ihm mit dieser Freundschalt zu teil geworden. 
Auch was wir Kinder ihm Utten gdien sollen und 
nicht geben konnten, weil der Abstand der Jahre 
ein zu grosser war und er unser Heranreifen nicht 
mehr erlebte» das fand er in dem jüngeren, seinem 
Hersen so nahen Freund: das Wiederaufglänzen 
der Jugend und den Zusammenhalt nut der Ge- 
genwart. Es war jedesmal ein Trunk aus dem Jung- 
brunnen» wenn er, wie von jetzt an alljährlich ge- 
schah» ein paar Tage lang mit Heyse sein Schwa- 
benland zuFuss durchstreift hatte» denn es versteht 
sich, da8s dieser nun vor allem smne Heimatkennen 
lernen musste. — Meine Mutter war die Dritte im 
Bunde, sie umfasste die neue Erscheinung mit 
dem ganzen Feuer ihrer Natur» sonnte sich in 
Semen Briefen wie in seinen Dichtungen, und die 
schönen Wandertage der beiden genoss sie aus 
ganzer Seele mit« indem sie zu Hause blieb. Nur 
selten kam der Gefeierte unter unser Dach» und 
wir wildes Heer wurden dann vorsichtigerweise 
in einiger Entfernung gehalten, denn es war mit 
unseren Umgangsformen» die nach einer unbe- 

Isolde Kurz, HMvuun Kur. i8 



Digitized by Google 



— «74 — 

wohnten Insel schmeckten, nicht viel Ehre einzu- 
legen. Eines Besuchs in unseren Tübinger Jahren 
erinnere ich mich, wo wir, noch immer stark uistt-* 
larisch und mit einigem Zagen elterlichersdta» 
dem berühmten Gaste vorgeführt wurden, dessen 
Erscheinen nicht nur für unser Haus ein festliches 
Ereignis war : halb Tübingen, besonders der weib- 
liche Teü, schwärmte hernach für den glänzenden 
Fremdling (ein Preusse war dasumal in Schwa- 
ben noch als ein Fremdling angesehen). Nur un- 
ser vierjähriger Balde, befremdet von dem nord- 
deutschen Akzent des Gastes» meinte kopfschüt- 
telnd» dieser könne nidit sprechen; ein Vorwurf» 
der dem wortgewandtesten unter den deutschen 
Dichtern wohl nur dieses eine Mal gemacht wor- 
den ist. 

Nicht nur den Bann des Verkanntseins nahm 
Hejrse von der Seele des Einsamen, er machte sich 

jetzt auch zu seinem Mentor in weltlichen Din- 
gen. Denn alles Welt- und Geschäfts wesen war 
meinem Vater lebenslange ein schlüpfriger Boden, 
auf dem er nch unsicher bewegte. Daran hatte 
wohl zum Teil die Poetennatur, gewiss aber in 
nicht minderem Grade Stammeseigentümlichkeit 
und Seminarerziehung schuld. Er selbst kannte 
diese Schwäche wohl; hatte er doch schon als 
junger Mann anlässlich seiner Simplizisstmus- 
Studien einmal an A. Keller in seiner launigen 
Weise geschrieben, er möchte sich selbst einen 
Titel beilegen, und da er seinem Namen nicht die 
drd englischen Buchstaben hinzufügen könne» die 



Digitized by Google 



— «75 — 

ein ungelehrter Vetter für Eskimo genommen 

habe, so gedenke er sich künftig zu schreiben: H. 
Kurtz» Simpl. 

Von Geld zu reden war ihm schon abscheulich, 
er verliess sich im geschäftlichen Verkehr auf den 
guten Willen und die Anständigkeit seines Gegen- 
über. Am stolzesten trat er auf, wenn es ihm am 
schlechtesten ging, und solche Situationen wur- 
den oft genug von fremder Seite durchschaut und 
ausgenutzt. Die Freunde seiner ersten Zeit waren 
ihm wie in vielem anderen so auch hierin zu ähn- 
Uch ; man pflegte vielleicht sogar in seinen frühe- 
ren Kreisen die Unweltläufigkeit ein wenig als 
eine besondere nationale Form des Idealismus. 
Wie ganz anders hätte sein Leben sich gestaltet, 
wäre einer unter ihnen gewesen, der mit der hohen 
Kultur und dem warmen Freundeswillen auch 
den praktischen Weltsinn verbunden hätte» den 
Keyse als Sohn der Grossstadt von Hause aus be- 
sass. Von ihm erfuhr jetzt mein Vater zum ersten- 
mal, welche Ansprüche der Schriftsteller zu 
machen und wie er seine Erzeugnisse richtig za 
verwerten habe. Wie ein im dunlden Walde Ver« 
irrter, kindlich froh und dankbar ergriff der Viel- 
geprüfte die Hand des jungen Freundes, der ihm 
den Weg aus dem Domengestrüpp zeigte imd 
sich dafür oft im Scherz seinen Vater nannte. 

Der Briefwechsel der beiden Freunde, der das 
letzte Jahrzehnt meines Vaters umfasst, liegt von 
der Hand des Oberlebenden geordnet in zwei 
Starken Mappen da und wird gewiss früher oder 

i8» 



Digitized by GOogle 



— «7^ 



später vor die OffentHchkeit treten. In ihm hat 

Hermann Kurz die Summe seiner späteren Exi- 
stenz niedergelegt, denn was ihn geistig und ge- 
mütlich beschäftigte, das teilte der Ungesprächige, 
aber Innerlich Spruddnde dem Freunde brieflich 
mit. Nicht geringeres hat Hejrse gegeben, ja 
diese Briefe gehören vielleicht zum schönsten was 
aus seiner Feder gekommen ist und werden sei- 
nem Bilde dnmal nicht unwesentliche Züge hin- 
zufügen. Die späteren Jahrgänge smd mdir Ute- 
rar historisch wertvoll, denn sie sind fast ganz 
mit der Redaktion des ».Novellenschatzes" aus- 
gefüllt und bilden eine fortlaufende kritische 
Heerschau über die neuere erzählende. Literatur 
vom höchsten künstlerischen Standpunkt aus^ 
Desto menschlich-interessanter sind die früheren 
Jahre, wo es sich vor allem um das Persönliche 
handelt» um die gegenseitige Förderung der eige- 
nen Produktion und um den Ausgleich der inne- 
ren Gegensätze. Mit dem Enthusiasmus der 
Jugend und mit der reifen Klarheit, die ihn so 
früh auszeichnete, gab Heyse dem Verkannten, 
was die Mitwelt ihm verständnislos vorenthielt, 
und suchte ihn zu neuen Taten zu spornen, ja ihm 
Stoffe die seiner Natur entsprachen formlich auf- 
zudrängen. Das alles kam nur leider um zehn 
Jahre zu spät. Dass mein Vater in jener schwer- 
sten Zeit wieder Ldi)ensfreudigkeit fasste, war 
vor allem Hes^ses Werk, aber das Verhängnis, 
das sich schon leise vorbereitete, konnte auch er 
nicht mehr aufhalten. Nach dem Tode des Freun- 



Digitized by Google 



— 277 — 



des tat er dann noch das letzte» was der Treue zu 
tun übrig blieb: er sammelte die zerstreuten 
Werke des Dichters und legte die Grundzüge sei- 
nes persönlichen Bildes für die Nachwelt fest. In 
einem Sonett hat er sie später noch einmal knapp 
zusammengef asst : 

Wann hat eia Kimpfer lachender gestritten? 

Vann hat ein Starker Süsseres gespendet? 

Zwei unvergessliche Zeilen aus denen meines 
Vaters Angesicht leibhaftig blickt! 

Der Verkauf des Hopf sehen Gutes un Sommer 
i962 machte unsrem Oberesslinger Idyll ein Ende. 
Aber von einer Rückkehr in grössere Verhältnisse 
war keine Rede, es fragte sich nur» in welches der 
kleinen schvräbischen Nester man sich jetzt ver- 
graben würde, denn das Gemüt des Dichters 
schien die Berührung mit der Welt nicht mehr 
ertragen zu können. Die Wahl fiel auf Kirch- 
heim, ein am Fusse der Teck gelegenes altertüm- 
liches Städtcfien, das mit ganz besonderen stim- 
mungsvollen Reizen in meiner Erinnerung lebt. 

Die Gegend war bedeutender als unsere seitherige 
Umgebung; mein Vater hatte ihr aus der Zeit, da 
er in Weilheim unter Teck den Vorstudien zu den 
Heimat jähren oblag, dne Vorliebe bewahrt. Von 
der anmutigen Kette der Schwäbischen Alb um- 
säumt und von zwei Flüsschen, der Lauter und 
der Lindach, durchschnitten, besass sie hinläng- 
liehe landschaftliche Abwechslung um die von 
der Einförmigkeit der Tage erdrückte Dichter- 
Phantasie wieder zu beleben, wovon sich bald die 



Digitized by Google 



— 2fB — 

erfreulichen Folgen zeigten. Er selbst fühlte sich 
zufrieden. Am 7. August x86a schrieb er darüber 
an einen Freund: 

,»Wir smd seit acht Tagen hier und »soweit* gern 
hier. Gestern nämlich war der grosse Tag (ihr 
Geburtstag), an welchem meiner Frau ein Licht 
darüber aufgegangen ist» dass ¥nur, so wie V9it 
sind, nirgends urbium hintaugen würden, dass 
also Kirchheim für uns gerade so gut ist vsdc 
irgendein anderes Nest. Damit ist natürlich 
nur das Innere gemeint, denn mit dem Aus- 
wärtigen ist es fürtrefflich bestellt. Beweis: wir 
sind mit dem Einräumen noch weit zurück, weil 
wir viel in der Gegend herumgehen, daher denn 
auch kein Tag mit Ächzen und Krächzen be- 
schlossen wird. Mir ist das ein gans neues 
Leben. Den Tag über läuft die Arbeit nach 
Wunsch, dann folgt der behaglichste Feier- 
abend. Dass die Berge wohl tun, versteht sich 
von selbst, aber auch die Menschen draussen, 
sowie man nur einen Schritt vor die Stadt tut, 
haben's meiner Frau oiFdentlich angetan. Mir 
ist der Schlag ja von alters her bekannt, drum 
bin ich so gern in die Gegend gezogen.*' 
Jeden freien Tag, den er sich gönnte, benutzte 
er zu einem Besuch sdner alten Berge, die er 
nicht um die Jungfrau und ihre Gesellen hin- 
gegeben hätte. Uns Kindern benannte er von der 
unmittelbar hinter dem Städtchen ansteigenden 
nPlochinger Staige" aus alle die ragenden Häupter 
vom Hohenstaufen bis zum HohenzoUem: die 



Digitized by Google 



— ^79 



Teck mit ihrer Mauerkrone, den schlanken 

Neuffen, den Breitenstein, Rauber und Sattel- 
bogen« die Bassgeige und wie sie alle hiessen ; 
wenn er aber auf einen besonders graziösen Kegel 
deutend sagte: „Kinder, dies ist die Achalm so 
legte er einen geheimnisvoll-ehrerbietigen Ton in 
die Worte, wie ein Sakristan, der den Besuchern 
das Allerheiligste enthüllt. Denn alles was zu 
seiner engeren Heimat gehörte» blieb für ihn von 
magischem Licht umflossen. Auch die berühmte 
Wagenspur der Sibylle zeigte er uns im Grün der 
Wiesen imd Felder. Die gute Fina aber erstieg 
mit uns die nahen Berge selbst, liess uns durch 
die Ruinen der Teck und des Neuffen klettern 
und in den halb verschütteten Eingang des Sibyl- 
lenlochs kriechen. — Wie aus fernen Träumen 
dämmert mir das Bild des Städtchens, das ich 
seitdem nie wieder gesehen habe: die alte Kirche» 
an deren Aussenmauer die Gebeine Konrad Wie- 
derholds, des tapfern Verteidigers von Hohen- 
twiel ruhen, ein festes Schloss mit hohem Wall- 
garten und Graben im Stadtinnem — dass die 
Bäume dieses Gartens ihre Wurzdn hoch über 
meinem Haupte hatten, erfüllte mich damals mit 
staunender Bewunderung — ferner ein Frauen- 
stift von klösterlicher Bauart, wo meine Mutter 
^nmal Besuch machte und mich samt dem allge- 
fürchteten Butzel mitnahm, der in einem imbe* 
wachten Augenblick nichts eiligeres zu tun hatte, 
als im Hof den Schweinestall aufzuschliessen und 
die grunzenden Bewohner mit wildem Hailoh 



Digitized by Google 



— 28o 

durch den langen engen Gang des Stiftes zu jagen, 
dass die entsetzten Stiftsdamen sich schreiend in 
ihren Zimmern einriegelten. 

Das Haus, das wir zuerst bewohnten, lag in 
einer engen Gasse» deren Lauf die Lauter als ein 
trüber schmutziger Bach begleitete» Am Tage 
des Einzugs, während der Möbelwagen abge- 
laden wurde, sass Alfred mit einer Brotrinde in 
der Hand unter der Haustür« als ein Mann aus 
dem Volke stehen blieb und» um auf dem kürze- 
sten Weg über die neuen Mitbürger ins klare zu 
kcnnmen, den Kleinen ohne weiteres fragte: „He 
du, seid ihr reich?" „Nein, da täten wir uns 
schämen/* antwortete dieser trotzig, auf beiden 
Backen kauend; so wenig hatte er je Anlass ge- 
funden, die Lage der besser Gestalten zu be- 
neiden. Zwar sollte auch in Kirchheim das öko- 
non:iische Missgeschick noch fortdauern, doch war 
man mittlerweile durch das Eingreifen der im 
Schillerjahr gegründeten Schillerstiftung wenig- 
stens über die schlimmste Zeit hinweggekonn 
men — für den Dichter lag etwas versöhnendes 
darin» dass es sein Schiller war, der dem Ringen- 
den endlich die Hand zur Hilfe gereicht hatte. 

In der dumpfen Gasse war unseres Bleibens 
nicht lange; schon im Frühjahr 1863 zogen 
wir in eine freundliche Gartenwohnung, die 
ausserhalb der Stadt an der nach der Teck 
führenden Dettingerstrasse lag. Die Lauter» 
hier noch War und rein, schnitt den langge- 
streckten, blumenreichen Garten in zwei Hälften, 



Digitized by Google 



— aSi — 

die durch einen schmalen Steg verbunden waren; 
wir plätscherten, sobald die Sonne über die eisigen 
Lüfte der Alb einige Macht erhielt» den ganzen 
Tag im Wasser hemm. Lustiger Vogelgesang 
durchschmetterte den Garten, ein hoher Birnbaum 
streckte seine Zweige bis in Papas Arbeitszimmer, 
und zu allen Fenstern blickte die mauergekrönte 
Teck herein* 

Wir hatten nun wieder die ländliche Freiheit, 
ohne die es für uns kein Leben gab, aber der 
schöne Griechentraum war seit unserer Ankunft 
in Kirchheim zu Ende* Edgar besuchte die Latein- 
schule, wo er sich so auszeichnete, dass er gleich 
zwei Klassen überspringen konnte; sein Fleiss 
und ein ihm eigener zurückhaltender Anstand 
gaben ihm von vornherein bei Lehrern imd Mit- 
schülern eine ganz besondere Stellung» Auch 
Alfred sass auf der Schulbank und hatte zunächst 
viele Not seine Aufmerksamkeit konzentrieren zu 
lernen. Da von einem Schulzwang für Mädchen 
damals noch keine Rede war, bekam ich die Bro- 
samen, die von des älteren Bruders Tische ab- 
fielen, denn an seinen nach Hause gebrachten 
Heften stärkte die Mutter ihr Latein und beeilte 
sich dann, mir das neuerworbene mitzuteilen. Die 
beiden Jüngsten waren noch im glücklichen Alter» 
wo man nur die Aufgabe hat su wachsen und 
stark zu werden. Mein Vater, dessen Nerven 
ruhten, ging mehr als sonst auf unser Leben ein. 
Mich nahm er besonders gerne zu Spaziergängen 
mit. Lebhaft erinnere ich mich an einen Oktober- 



Digitized by Google 



— 38a — 



abend, wo wir zusammen am Rand eines hoch- 
liegenden, schon vom Herbste berührten Waldes 
binschritten, während zu tmarer Linken eine tiefe 
Talmulde sich öffnete» über die der Blick frei hin- 
weg nach den gegenüberliegenden Bergen ging. 
Plötzlich flammte von einer der Höhen ein mäch- 
tiges Feuer auf« dem bald das nächste Berghaupt 
mit einem andern Flammenzeichen Antwort 
gab, dann folgte ein drittes, und so ging es 
weiter die ganze Albkette vom Staufen bis zum 
Zollem entlang — ein wunderbares» nie ge- 
sehenes Schauspiel. Mein Vater weidete sich 
an meiner Oberraschung, und da ich nicht wusste, 
was diese Höhenfeuer bedeuteten, erzählte er mir 
von der Leipziger Völkerschlacht, deren fünfzig- 
ster Jahrestag an diesem Abend gefeiert wurde« 
Ich hatte bis dahin von der Napoleonischen Zdt 
nur durch dieBrunnowschenErinnerungen gewusst, 
und der völlig veränderte historische Standpunkt, 
auf den ich plötzlich gestellt wurde, blieb mir 
mit Feuerschrift in die Seele geschrieben. 

In Ktrchhdm kehrte der Dichter von seinen 
historischen Ausflügen auf das ihm natürlichere 
Gebiet der Erfindung zurück, wo ihm noch ein 
Inirzer Nachsommer blühte. Damals entstand 
unter anderm »»Sanlct Urbans Krug"» ein novelli- 
stisches Meisterstück^ das sich an Frische des 
Tons, an Humor und sicherer Knappheit der Dar- 
stellung getrost neben die Werke seiner besten 
Zeit stellen kann. Es erschien ebenso wie eine 
andere in Kirchheim geschriebene Erzählung in 



Digitized by Google 



— 383 — 



emem Münchener Blatt; von der letzteren konnte 
nachmals kein Exemplar mehr aufgetrieben wer- 
den, wesshalb ich sie nie zu Gesicht bekommen 

habe und nicht einmal den Titel kenne. Eine kleine 
historische Skizze 9,Die Schenke am Rhein"» die 
schon in Oberesslingen geschrieben war, wurde um 
jene Zeit im Beobachter gedruckt Zugleich be- 
schäftigte ihn die gänzliche Umarbeitung des 
„Tristan" im Sinne seines freien Schlusses. Ein 
nicht unbeträchtliches Stück des Anfangs ist da- 
mals auch wirklich zustande gekommeni wovon 
ein Gesang »»Rivalin imd Blancheflur'^ in Seegers 
deutschem Dichteralbum aus Schwaben erschien. 
Der Rest des Manuskriptes soll bei Seegers uner- 
wartetem Tode unter dessen Papieren verschwun-* 
den sein, KI«nere Fragmente haben sich jedoch 
neuerdings beim Durchsuchen alter Mappen mei- 
nes Vaters gefunden. Den Anfang des Gesanges 
»»Tristan das Kind", der ein Gedicht für sich bildet 
und auch seinerzeit als solches in einem» wenn 
ich nicht irre, von Preiligrat herausgegebenen 
Dichteralbum gedruckt worden ist, gebe ich als 
charakteristische Probe seiner Behandlung des 
Stoffes diesen Blättern bei. Ahnlich zeigt sich 
auch bei seinem Schluss des „Tristan'* das Be- 
dürfnis, den geschossenen Gang des Epos je und 
je durch eine solche lyrische Abschweifung zu 
imterbrechen, die das Einzelgeschick dem allge- 
meinen Menschenlose verknüpft. 

Es war vor allem ein äusserer Anstoss» der 
viel zu der erneuten Produktivität beitrug. Im 



Digitized by Google 



- «84 - . 

April 1863, gerade während unsres Umzugs in die 
neue Wohnung» bei dem die aus Oberetilingea 
herbeigeeilte Tante Bertha half, hatte eich mein 

Vater, einer dringenden Einladung Heyses fol- 
gend, nach München begeben, um dort den Boden 
zu. erforschen* £s war nämlich mit einem Male 
nichts geringere! als das Projekt unserer Uber- 
siedlung in die bayrische Residenz aufgetaucht. 
• Dort verbrachte Hermann Kurz nach seinem eig- 
nen Zeugnis „goldene Wochen", teils unter Hey- 
ses Dacht der damals Witwer war, teils bei seinem 
alten Freunde^ dem Maler Bernhard Fries. Schon 
die Reise, die längste, die er je gemacht hat, war 
für ihn, der jedes Landschaftsbild innerlich ver- 
arbeitete, ein Erlebnis. Ein noch grösseres war 
seine Rückkehr ins gesellschaftliche Leben. Der 
Einsiedler, den sie in seiner Heimat als Menschen« 
feind verschrien, liess die neuen Eindrücke mit 
der Begeisterungsfähigkeit eines Jünglings auf 
sich wirken. Die Briefe, die er damals nach 
Hause schrieb, heben sich von seiner übrigen 
Korrespondenz ab wie ein einselner sonnbeschie- 
nener Fleck inmitten einer gewitterdunklen Land- 
schaft. Es war ja auch der erste Lichtblick, der 
nach langen langen Jahren in sein gequältes Da- 
sein fiel, und gleich begannen die verategteii 
Quellen seines Inneren wieder zu sprudeln. Neben 
dem Freunde, den er seinen „Einzigsten" nannte, 
schloss er sich vor allen an seinen Landsmann. 
\rahdm Herts, den Dichter und Gelehrten, an,, 
dessen Wesen ihm wohl am nächsten stand und 



Digitized by Google 



— a85 — 

mit dem er eich auf dem gansen Feld seiner Inter* 
essen berührte femer an den „gfrcmdduliiclien'' 

Melchior Mayr und an Julius Braun» den origi- 
nellen und geistreiclien Egytologen, der ihm aus 
den Karlsruher Tagen ins Hers; gewaefasen war 
und in dessen jungem Hausstand er jetst heitere 
Stunden verbrachte. In Heyses Schwiegermutter, 
Frau Clara Kugler, verehrte er „ein wahres Trost- 
exempel, wie schön und liebenswürdig Frauen im 
^ . Alter sein können» wenn sie eine geistige Jugoid 
gehabt haben*'. Mit dem feinen CatuUübersetser 
Theodor Heysc, dem Oheim des Dichters, der, 
wie mein Vater schrieb, „Berlin und Rom ver« 
dnigte", wurden unterweilen Catullsitsungen ab- 
gehalten. Auch die Musik trat wieder an ihn 
heran: Peter Cornelius» der Jüngere, suchte ihm 
einen Komponisten für den auf einem Byronschen 
Sujet beruhenden Operntext »Die Insel"^) und 
R. V. Homstdn brachte ihm seine Komposition 
der „Klage des Abenceragen*^ 

Er sah nun, dass er doch kein Verschollener 
war, und dieser ganze Kreis angeregter Menschen 
versetzte ihn nach der langen Entbehrung in einen 
wahren Rausch. Die Uterariscfaen Anknüpfungen» 
die sich dem Vereinsamten boten, gaben Aussicht 
auf eine befriedigende Wirksamkeit, der auch ihre 
goldenen Früchte nicht fehlen würden. Sein 
sanguinisches Temperament schwoll über und 

Dieser Text, der von grossem lyrischem Schmelz 
gewesen sein soll, ist noch zu melneB Vaters Lebzeiten 
spurlos verloren gegans^. 



Digitized by Google 



— 286 — 



Uess ihn die Zukunft im glänzendstea Lichte 
sehen« Von untrem Umzug nach München sprach 

er schon als von einer abgemachten Sache — nur 
die Impffrage schuf ihm noch Bedenken, denn als 
ein leideuBcliaftUcher Anhänger des damals sehr 
bekannten ImpfgegnersNittinger hatte er es durch 
jahrelangen Kampf mit den württembergischen 
Behörden dahin gebracht, seine Kinder vor der 
Pockenimpfung 2u bewahren, und er fürchtete 
nun, in Bayern geringerer Toleranz zu begegnen 
als in der Heimat. (Es mag hier der Merkwürdig- 
keit halber erwähnt werden, dass später mein 
Bruder Edgar in seinem ärztlichen Beruf den 
Kampf» den der Vater als Laie geführt hatte, mit 
dem Rüstzeug der Wissenschaft fortsetzte.) — 
Ein Kalender, dessen Herausgabe gemeinsam mit 
Paul Heyse geplant war, sollte die pekuniären 
Mittel zu unserer Übersiedlung liefern; der Ver- 
leger sowie die literarischen und künstlerischen 
Mitarbeiter waren schon gewonnen, und der 
eigene Beitrag für den ersten Jahrgang, ein 
Schwank in Versen nach Hans Sachsscher Manier, 
reifte auf langen Gängen ins Freie der Vollendung 
entgegen. Auch für seine wissenschaftlichen 
Arbeiten, die ihm neben den poetischen stets am 
Herzen lagen, eröffnete ihm der Kalender ein 
aussichtsvolles Absatzgebiet. Das Unternehmen 
sah so wohlgegründet aus, dass gar kein Zweifel 
mehr aufkonmien konnte, meine Mutter teilte des 
Vaters Jubel, und es gab in jenen Wochen land- 
auf, landab keine zukimftsreichere Familie als die 



Digitized by Google 



— 287 — 



unsrige. Nur die schönen Sommennonate wollte 
er noch an der geUebten Teck verbringen — das 

sollte der letzte Liebeszoll an die Heimat sein — 
und dann hinaus in eine grössere freiere Welt» 
deren Vorteüe vor allem dem jungen Geschlecht 
zugute kommen sollten. Und da er schon im 
Zuge war, baute er dem schönen Luftschloss noch 
einen weiteren ganz phantastisch-kühnen Flügel 
an: er wollte alle^ die uns in der Heimat Liebe imd 
Treue erwiesen hatten» in sein neues Leben nach- 
ziehen und, den alten mit dem neuen Freundes- 
kreis verschmelzend, eine Kolonie von Auserwähl- 
ten begründen. Dass diese auf so ganz verschie- 
denen Voraussetzungen fussenden Menschen sich 
gegenseitig verstehen und mit gleichem En- 
thusiasmus umfassen würden, daran zweifelte sein 
Jünglingsgemüt keinen Augenblick. Aber als der 
Plan der Übersiedlung reifen sollte^ da sagte 
das Schicksal nein: der erste Jahrgang des Ka- 
lenders kam nicht zustande, weil der Blustrator 
seine Arbeit nicht ablieferte, die glückverheissende 
Verbindung löste sich auf, und das ganze Unter- 
nehmen, an dem die Gestaltung unserer Zukunft 
hing, fiel ins Wasser. Die Wintemebel zogen her- 
an und hüllten die alten Berge ein, und wir lagen 
noch immer, wie mein Vater sich ausdrückte, „an 
unserer Polarstation vor Anker, bis etwa eine 
Wasserstrasse frei und die Durchfahrt für irgend 
eine Atlantis sichtbar wfirde.'^ 



Digitized by Google 



Treue 



(Aus »Tristan das Kind") 

Ein Tempel ist die Menschenwelt, 
Lebende Säulen zum Bau gestellt, 
Ein Wunderwerk in Fug' und Schluss, 
Beharrend unter stetem Fluss, 
Ja, eines Gottes Tempelhaus, 
Allein tieflabyrinthschen Bau's: 
Die Sonne blickt auf Dach und Zinnea 
Mit ewig heitrem Licht, doch innen 
Da dehnt sich's nächtlich, grenzenlos, 
Und Grauen wohnt in seinem Schoss« 
Dumpf brütet ein Gespenstertraum, 
Von Opfern stöhnt's im öden Raum» 
Und wo ein scheues Tageslicht 
Ein nächt'ger Blitz das Dunkel bricht, 
Da grinsen Schemen schreckumstant 
Aus Vorzeit und aus Gegenwart. 
Schwach dämmert nur der Hallen eine 
Von eines ew'gen Lämpchens Scheine, 
Der ruht auf ernsten, traurig milden, 
Auf friedlich freundlichen Gebilden, 
Auf heitrem kühnem Lebenspiel, 
Wonach der Schattenhände viel 
Aus Wänden, dunklen Hcken langen, 
Feindlich das Gotteslicht zu fangen: 
Und die dem lichten Gotte brennt, 
Die reine Lampe, wer sie kennt, 
Der weiss, sie füllt sich stets aufs neue, 
Sie lischt nicht aus, ihr Nam' <8t Treue. 



Treue fürwahr! ein Wunder seht. 

Das uralt, immer neu ergeht: 

Wie wenig, wenig gibt es deren, 

Die diese heilige Lampe nähren, 

Und doch, so war's von Anbeginn, 

Reicht allezeit das Häuflein liin, 

Die kleine Flamme still erfrischt 

Zu wahren, dass sie nicht erlischt, 

Dass nicht der Tempel, dess Gefuge, 

Zernagt vom Nachtgewürm der Lüge, 

Sich einzig noch zusammen hält 

In Kraft des Lichts, zu Trümmern fUlL 

O wachse, wachse^ tapfre Schar! 

O werde Lichtletn gross und klar 

Zur Geistersonne, brich durch und schein' 

In all dies lebende Gestein, 

Dass von dem alten Bann befreit 

Die urbestimmte Herrlichkeit 

Sich mög' aus Nacht zum Tag entfalten. 

Der Gott im ganzen Tempel walten I 

Die Trene hat verschiednen Weg: 
Sie wandelt hohen Volkensteg, 
Sie geht auf schlichter leiser Spur 
Und Ist doch Eine Treue nur. 
Der Held, der Denker, Dichter, Lehrer, 
Des Volks-, des Menschenhortes Mehrer, 
Sie Stelgen rauhe Felsenbahn, 
Der mehr, der minder stdl hinan; 
Denn süss isf s, wie vor Alters, noch. 
Die Brüder rettend aus dem Joch 
Im Kampf das Leben hinzugeben, 
Viel bittrer meist für sie zu leben, 
Doch Treue schreitet stracks einher. 
Fragt nicht, ob leidlich oder schwer. 
Ob schnell, ob langsam hingeschlachtet, 
Gepriesen oder unbeachtet: 

Isolde Kurz, Hermzan Kurs. ] 



— sgo — 

Was sie als recht, als schön erkamit, 
Wofür als heilig sie entbrannt, 
Dem bringt sie auf dem Opferherd 
Sich selbst und was ihr lieb und wert. 
Tief unter ihr das Haschen, Laufen 
Der Welt, ihr Kaufen und Verkaufen^ 
Vcrlodert sie in Todesglut — 
Und diese Treu ist gross und gut 

Die andre lässt ihr Segenswehn 
Von JMensclien still zu Menschen gehn, 
Dsmn suCb neu der Glaub' erstarkt, 
Dass nicht ein blosser Krimermarkt 
Das Leben sei; und dieser Glaube 
Veckt manchen Keim aus totem Staube. 
Zwei Menschen auf des ZufsUs Pfod 
Begegnen sich zur Edeltat» 
Den Druck des Lebens in den Mienen» 
Eis bis zur Stunde zwischen ihnen, 
Und leuchtend plötzlich wird der Bund 
Des unrerwandten Wesens laind. 
Oft löscht, wie Flugsand, das Getriebe 
Der Erdenmfihn die Spur der Liebe; 
Oft wirkt auch nur ein treulich Wort 
Zur guten Stunde fort und fort 
Und kann in immer weitem Kreisen 
Die Nachwelt noch mit Segen speisen. 
Doch ist's die Freundestreu zumeist 
Die hier der Flug des Liedes preist, 
Die seltne, die ein Mirchen scheint, 
Doch keine Fabel ist. Sie weint 
Am Sarg des Freunds, zu dessen Seite 
Sie schritt im Frieden wie im Streite, 
Nicht leere Tränen. Sie belebt 
Des iTcundes Asche, wirkt und strebt 
Für seine Sache sorgenschwer, 
Als ob's die eigne Sache war', 



— 291 — 



Entsagt der Ruh', dem Lebensglück, 
Zieht bin und schaut nicht mehr zurück* 
Und klanglos fuhrt sie ihr Werk ans Ziel^ 
Nicht achtend, ob's der Welt gefiel. 
Nicht fragend, ob dereinst Geschichte, 
Ob Sehermund Ihr im Gedichte 
Erteilen wird den Ruhmessold, — 
Und solche Treu ist schdn und hold 



Letzte Lebensjahre. 



Auserwählt zum Bücherschreiben 

Und verdammt zum Schriftverwalten, 

Sollst den Einband du bekleiben. 

Statt den Inhalt zu gestalten. ^ 

Freundy du musst in Lettern kramen. 

Doch von deinem kurzen Namen 

Werden mehr als viere bleiben. 

Mit diesen Versen begrüsste Ludwig Pfau 
die Ernennung meines Vaters zum Universitäts- 
bibliothekar in Tübingen, die am Schlusa des 
Jahres 1863 erfolgte. Wie untergeordnet und karg* 
lieh bezahlt der Posten auch war, er bedeutete 
doch nach so viel Stürmen einen Friedensport. 
Von allen bürgerlichen Ämtern war das eines Bi* 
bliotfaekars das emsige, das seinen naturlichen 
Neigungen entsprach, und mehr noch ßel ins Ge* 
wicht, dass der Aufenthalt in einer Universitäts- 
stadt jetzt das Studium der Söhne ermöglichte. 
Dochmischtesicfa; auch diesem kargen Glück noch 
ein Tropfen Wermut bei, da einer seiner liebsten 
Freimde, der Philologe Bacmeister, gleichfalls 
ein von der damaligen Enge erdrücktes poetisches 
Talent, mit in Vorschlag gewesen und freiwillig 
«urttckgetreten war, um mit dem verehrten Dich- 
ter nicht zu konkurrieren. 

Die Ernennung meines Vaters, bei der die alten 



Digitized by Google 



— 293 — 



Freunde in Stuttgart und Adalbert Keller in Tü- 
Inngen eifrig xusammen wirkten, kam mit Hilfe 

des liberalen Ministeriums Golther zustande und 
wurde von der ganzen Presse Schwabens mit Be- 
friedigung aufgenommen. Zu Anfang Desember 
reiste er» zunächst allein, nach Tülnngen» um seine 
neue Stellung anzutreten. 

Tübingen war damals noch eine fast mittel- 
alterliche Stadt mit den Reizen und Schatten- 
seiten einer solchen. Auch heute» nach all der 
stillosen Modernisierung, die darüber ergangen 
ist, bietet das hochgelagerte Städtchen dem Be- 
schauer, der vom Bahnhof kommt, von seinem 
Hügelrücken noch ein äusserst charakteristisches 
und ausdrucksvolles Profil« Die langgestreckte 
Häuserseile der Neckarhalde, die sich hoch über 
dem Flusse aufbaut, darüber Türme und Häuser- 
gruppen in kühnen Überschneidungen, das Ganze 
gekrönt von der massiven Wucht des altehrwür- 
digen Schlosses, und diesseits des Neckars die 
langen Alleen mit ihren dichten Laubdächem voll 
Vogelgesang, die in dreifachem Zug den Lauf des 
Flusses begleiten — diese Silhouette ist zum 
Glück gär nicht su verderben. Damals stand aber 
auch noch die alte stinmiungsvolle Neckarbrücke 
mit ihrer steilen hölzernen Stiege nach dem von 
den zwei Neckararmen umfassten und mit hohen 
Platanen bestandenen Wörth" hinunter» und am 
oberen Stadtende schwang sich der vielbesungene 
Hirsauer Steg über den Fluss. Die Neckarbrücke 
führte zum Neckartor, das freüich niu: im Namen 



Digitized by Google 



294 — 



erhalten und aus der Struktur der engen, hier 
zusammenlaufenden Gassen zu erkennen war. 

Und auch diese Strassen „grad imd krumm'*» 
waren noch erheblich krümmer als heute. Längs 
dem steilen» zwischen dem Abhang des Oster» 
bergs und einer hohen Mauer eingezwängten 
Mühlgässchen stürzte sich die Ammer laut brau* 
send und schäumend herab, um sich mit dem stil- 
leren Neckar zu vereinigen. Doch lebte 
auch dieser noch in Jugendlreiheit, die er 
zuweilen durch schrankenloses Übertreten 
inissbrauchte; ich erinnere mich einer solchen 
Überschwemmung, bei der auch die sonst so was- 
serarme Steinlach lustig mittat, so dass die ganze 
Gegend» von den Weinhalden des österbergs aus 
gesehen» einem uferlosen Meere glich» in dem die 
Spitzen der Kastanien-, Linden- und Platanen- 
alleen lange grüne Furchen zogen und der Bahn- 
hof wie eine verzauberte Insel zu schwimmen 
schien. Ausserhalb der Stadt» die damals noch mit 
dem Neckartore abscMoss, frei an den Fuss des 
Österbergs gelehnt, mit dem Blick auf die Neckar- 
brücke, lag das verwaiste Uiüandiiaus, um das 
immerdar eine stille Weihe schwebte. Der Dichter 
war ein halbes Jahr vor unserm Einzug in Tü- 
bingen gestorben. Der Uhlandsche Garten, der 
in Terrassen den Hügel hinanstieg, war wie die 
Uhlandsche Poesie: regelmässig, bürgerlich-kor- 
rekt und wohlgepflegt» dabei doch lauter leben- 
dige, vollsaftige Natur; lange, sauber gescfanit«' 
tene, etwas nüchterne Hecken wechselten mit 



Digitized by Google 



— 295 



grossen Schatteobäumcn* tief gewurzelt wie die 
dciit8clieSage»iind besonders die schwerbeladenen 

Fruchtsträucher sind mir in imponierender Er- 
innerung — es war dies nämlich eines der weni- 
gen Häuser» wo meine Mutter Besuch machte und 
wofainsieauchmichzuweilen mitnahm. In den wei- 
tenldösterlichenRäumendes Hauses» die von der 
Witwe unverändert erhalten wurden, wehte die 
stille kalte Luft der Ewigkeit. Hier» wohin kein 
Klatsch und keine niedrigen Interessen den Weg 
fanden, waltete Emilie Uhland, selbst wie eine 
Abgeschiedene, ernst und streng, mit ihren Er- 
innerungen und mit der Verwaltung ihres Be- 
sitzes beschäftig^. Sie war eine achtunggebie» 
tende, von der Kleinlichkeit der andern Frauen 
völlig frde Gestalt, aber man konnte kdn Hers 
zu ihr fassen, denn sie hatte eine seltsame Unnah- 
barkeit an sich — Hoheit kann ich es nicht nen- 
nen»' dafür war es zu abgezirkelt und steifleinen 
— etwa wie eine gestrenge Oberamtmännin oder 
Äbtissin aus einem früheren Jahrhundert. Man 
konnte sich nicht denken, dass dieser strenge 
Mund je zu einem Liebeslied gelächdt 
habe; die Uhlandsche Muse war ja auch 
an Liebesliedem karg. Die einsame, kin- 
derlose Frau stellte in jenen Tagen Uh- 
lands Briefe zusammen, um sie» als Manuskript 
für die Freunde drucken zu lassen, auch diese 
herb und unpersönlich und allem Gletssm abhold, 
wie der Mann selbst, der seine Lorbeerkränze in 
die Küche trug. 



Digitized by Google 



— 396 — 



Eng und dumpf wie die Gassen, war damals 
auch der Geist der Emwohnersdiaft. Nur wie 
ein flüchtiger Anachronismus führ die Eisenbahn 

durch das fortschrittentlegene Tal, das mit seinen 
Anschauungen und seinem Treiben noch im Mit- 
telalter steckte« In der „unteren Stadt*' wohnte 
ein Volk, dessen Scfamuts» Elend und unheimlich 
elementare Roheit selbst die wenig kulturver- 
wöhnten Einwohner der oberen erschreckte. In 
den besseren Stadtteilen war der Student unum- 
schränkter Herr des Pflasters» das er nicht selten 
nach dnem Gelage auch am hellen Tag mit der 
ganzen Länge seiner Person okkupierte, die her- 
ankommenden Fuhrwerke zu einem breiten Bogen 
Swingend. Bs gibt eine sehr ergötzliche Schil- 
derung der Sitten und Gewohnheiten der TüUn- 
ger Studenten aus dem sechzehnten Jahrhundeft; 
diese traf in der zweiten Hälfte des neunzehnten 
noch mannigfach zu. Noch hallte von Brücke zu 
Brücke und aus allen Neckarf enstem der anti- 
diluvianische Ruf „Jockele sperr!", wenn unten 
die biederen Schwarzwaldflösser vorüberfuhren. 
Statt der Weltpoiitik, die es noch nicht gab, ab- 
sorbierte die gegenseitige Stellung der Studenten- 
korporationen das öffentliche Interesse» und die 
Kämpfe der weissen und der roten Rose können 
zu ihrer Zeit den Bürgern von England nicht 
wichtiger erschienen sein als denen von Tübingen 
die Händel der roten, grünen und blauen Mützen. 
Es gab sogar noch förmliche Studentenschlachten 
auf den Strassen, bei denen alles, was Couleur 



Digitized by Google 



«97 — 



trug» sich beteUigen muaste; ich erinnere mich 
einer solchen, die eine ganze Nacht dauerte und 

wobei die Kämpfenden wiederholt das alte Rat- 
haus stürmten, um ihre Gefangenen zu befreien. 
Auch der endlose Krieg der Studentenschaft mit 
Nachtwächtern und Polizddienem brachte Ab- 
wedislang ins Leben. Nun sollte ma n denhen» 
dass eine Bürgerschaft, die an den Anblick solcher 
Burschenfreiheit gewöhnt war, auch sonst einer 
heiteren und freien Weltauffassung gehuldigt 
hätte. Dem war aber nicht so. Viehnehr rächte 
sich der „Philister" für die schrankenlose Frei- 
heit, die er dem Studenten seit Jahrhunderten zu- 
gestand, durch um so grössere Feindseligkeit 
gegen allesneue und ungewohnte^ das von anderer 
Seite kam. Die Zustände waren dorfartig ohne 
die ländliche Harmlosigkeit. Aus der kleinen 
Stadt, die schon so viel Grosse beherbergt hatte» 
fielen Strahlen des Geistes weit über die Lande» 
aber dieses Licht war nur in der Feme wahr- 
nehmbar, im Innern blieb es stockfinster. — Auch 
der gesellschaftliche Boden war schwierig, weil 
die kleinstädtischen Verhältnisse bis in die aka- 
demischen Kreise nachwirkten» die überdies durch 
wissenschaftliche und politische Fehden vielfach 
gespalten waren. Mein Vater hatte darum wohl- 
weislich die Antrittsbesuche schon alle vor unse- 
rer Ankunft allein absolviert» denn er wusste! 
wohl» dass snne' Frau jede gesellschaftliche Kon- 
vention hasste und mit ihrer impulsiven Natur 
wenig geeignet war» den tausendfältigen Rück- 



Digitized by Google 



— 998 



sichten, die auf diesem Boden gefordert wurden, 
Rechnung m tn^en. So behielt aie freie Hand» 
sich ihren Umgang selbst su wählen. Zunächst 
war alles eitel Sonnenschein. Meine Mutter, die 
den Geburtsadel so niedrig angeschlagen hatte» 
aber um so grössere Ehrfurcht vor den akadrai- 
sehen Würden hegte^ fühlte sich mit den Ihrigen 
unmittelbar an die Brüste der Weisheit versetst» 
und für uns Kinder war jeder Wechsel an sich ein 
Hochgenuss. Zum Umzug war wieder die un- 
ermüdliche Tante Bertha erschienen» und dass wir 
die letste Nacht in Kirchheim auf dem Boden 
schlafen durften, weil die Betten schon voraus- 
geschickt waren, das setzte der Glückseligkeit die 
Krone auf. In Tülmigen erwartete uns der Vater 
an der Bahn* um uns in die von ihm gemietete 
Wohnung m führen. Bei der Einfahrt durch- 
zuckte das Herz der Gattin die düstere Ahnung, 
dass dies die letzte Station auf des Dichters Le- 
bensreise sei und dass sie ihn in diesem Boden 
einst werde betten müssen. Doch sein gutes Aus- 
sehen verscheuchte gleich das schwarze Gespenst. 
Das neue Haus lag einige hundert Schritte vom 
Bahnhof entfernt an der Steinlach, einem eiskal- 
ten Flüsschen» das mehr Kiesel als Wasser führte» 
uns aber gleichwohl, sobald nur der Schnee 
schmolz, zum baden lockte. Jenseits der Stein- 
lach dehnte sich eine grosse Wiese mit Schi ess- 
ständen aus» die von der Studentenschaft täglich 
xumExerzierenbenutzt wurde; auch gab es grosse 
Aufzüge daselbst mit Waffen und Fahnen, denn 



Digitized by Google 



— 299 — 



die Jugetid war damals gerade sehr kriegerisch 
gestimmt, und das Lied „ScMeswig-Holsteiii 

meerumschlungen** tönte Tag und Nacht durch 
die Strassen. Beim Einzug gab es einen neuen 
Jubel» demi ein guter Geist hatte schon für uns 
gewaltet: wir fanden in der Spei s e k a mme r alle 
Gaben Gottes aufgespeichert, ganze Körbe voll 
Apfel und getrockneter Früchte, Würste an 
Bindfaden aufgehängt imd viele andere gute 
Dinge, die eine Jugendfreundin unserer Gross-* 
mutter Brunnow, die „Kriegsministerin'' von 
Miller, die in Tübingen dem Hause eines Schwie- 
gersohns vorstand imd mir als eine sehr resolute 
Dame mit tiefer männlicher Stimme in Erinne- 
rung steht, 2U unserer Überraschung dorthin ge« 
schafft hatte. Am Abend wurde uns dann noch 
ein herzlicher Willkomm im Hause des alten 
Justizrats Karl Maier zuteil, jenes schwäbischen 
Poeten, an dessen unschuldiger Muse Heine so 
oft sein Mütchen gekühlt hat. Der hochbetagte, 
aber sehr temperamentvolle Herr schloss gleich 
meine Mutter, zu der ihn politische Übereinstim- 
mung hinzog, aufs zärtlichste ins Herz, und beide 
pflegten sich von nun an bei jeder Gelegenheit 
in Versen anzusingen. Auch uns jungem Volk 
wurde viel Freundlichkeit von ihm zuteil, denn der 
Dichter der Blumen und des Frühlings hatte ein 
Kindergemüt, das sich auf den Umgang mit Kin- 
dern verstand. Bd seinen hohen Jahren war er 
noch so leichtfüssig, dass er uns einmal auf einem 
Spaziergang zum Schrecken seiner Töchter voll 



Digitized by Google 



Ungestüm zam Wettlauf aufforderte, wobei wir 
2um Glfick die Erleuchtm^^ hatten, ihn nicht ina 

Gefährliche zu steigern, sondern uns nach kurzem 
Rennen besiegt zu geben. Während der wenigen 
Jahre, die ilun noch beadiiedcn waren, gehörte 
der alte Herr mit semen zwei unverheirateten 
Töchtern, die ihm haushielten, zum nächsten 
Freundeskreis meiner Eltern. 

JDas meinem Vater zugefallene Amt war alles 
eher als eine Sinekure. Es bestand Torsugsweise 
im Rechnungswesen, und der kärgliche Gehalt 
war in den ersten Jahren mit starken Abzügen 
belastet, wesshalb sich die Lage vorerst nur we- 
nig gebessert fand. Im September schrieb er an 
den ihm befreundeten Grermanisten Pfdiffer: 

„Es ist ein hartes Jahr, das ich zurückzulegen 
im Begriffe bin, auch amtlich. Da habe ich nun 
zwar die ärgsten Berge abgetragen, aber es bleibt 
noch immer viel Schreiberei und Redmerei. Zu- 
dem ist die Einrichtung des Bibliotheksverwal- 
tungszimmers so, dass man nicht leicht etwas für 
sich tun kann, und die Nebenstunden zu Haupt- 
stunden zu machen, das ist eine Kunst, die man 
lernen muss.*' 

Indessen lernte er schnell auch diese Kirnst. 
Sein Jugendfreund Klüpfel, der Schwiegersohn 
Schwabs, den er an der Bibliothek zum Kollegen 
hatte, erleichterte ihm die ersten Schritte im Amt. 
Er lebte, wie mir emer seuier jüngeren Kollegen 
schreibt, still und unverdrossen seiner Pflicht, war 
unermüdlich, wenn es galt, für andere einen 



Digitized by Google 



^01 



«chwierigen literarisch«!! Nachweis za liefern, 
und ein Jeder konnte sich seiner entgegenkommen* 

den Gefälligkeit erfreuen. Die Amtsstunden waren 
von neun bis zwölf und von zwei bis vier Uhr, 
Da der Weg nach der auf Schloss Hohent Uhingen 
befindlichen Bibliothek ein weiter war, pflegte er 
am Mittag gar nicht nach Hause zu kommen, 
meine Mutter trug ihm täglich in einem Körbchen 
etwas Fleischbrühe, Gerstenschleim oder derglei- 
chen hinauf. £r benutzte alsdann die Mittags- 
pause zu eigener schriftstellerischer Arb^t, deren 
Manuskript er in seinem Stehpult im grossen Bi- 
bliothekssaal unter den Rechnungen verborgen 
hielt wie ein Schüler die verpönten Allotria unter 
den Schulheften. In diesen Stunden, wo er in der 
wdten Bücherwelt völlig alldn war, fühlte er sich 
behaglich wie in einer ihm unterstellten Provinz. 
Zuweilen wurde das eine oder andere von uns 
am Mittag dorthin mitgenommen und durfte dann 
unter seiner Führung die grossen Bücherschätze 
oder die Gipsabgüsse nach Antiken besichtigen, 
allein das Trappistenschweigen, das uns in den 
weiten hallenden Räumen auferlegt war, wirkte 
zu beklemmend, und wir blieben lieber draussen 
im Freien, um uns in der grünen Wildnis bei dem 
zerschossenen Melacsturm umher zu treiben oder 
das weit vorgeschobene Schänzchen zu ersteigen, 
das damals noch keine Last als die seiner ehr- 
würdigen Linden trug und das dnen stolzen 
Rundblick auf das grüne lachende Neckargelände 
zur Linken und das düstere Ammcrtal zur Rech- 



Digitized by Google 



ten gewährte. — Erst um vier Uhr wanderte er 
nach Hause, um auf dem Zimmer seine erste und 

einzige Mahlzeit zu sich zu nehmen. Danach ar- 
beitete er noch bis Mitternacht am eigenen Pult, 
wobei er langsam eine halbe Flasche Wein und in 
späteren Jahren noch ein Glas Grog austrank. Die 
literarischen Ergebnisse dieser Jahre sind vorwie- 
gend gelehrter Natur: die kargen Mussestunden 
gestatteten der Phantasie keine freien Flüge mehr» 
während andererseits die Bibliothek seinen wis- 
senschaftlichen Studien reiches Material und fort- 
gesetzte Anregung bot. Auch diese Arbeiten 
geben nach Inhalt und Umfang von rastloser gei- 
stiger Tätigkeit Zeugnis, Leider kam der Plan 
einer Sammlung seiner grösseren und kleineren 
Aufsätze literarhistorischen Inhalts, dem die 
künstlerische Form einen Anspruch an dauerndes 
Interesse gibt, nie zustande, sie liegen vielfach in 
Zeitschriften xerstreut, und manche unter ihnen, 
sind mir niemals auch nur vor die Augen gekom- 
men. Die im Jahr 1865 in der Beilage der »All- 
gemeinen Zeitung" veröffentlichten Studien „Zur 
Geschichte des Romans Simplicissimus und seines 
Verfassers'' trugen ihm von der Universität Ro- 
stock den Doktortitel honoris causa ein; es war 
dies die einzige äussere Auszeichnung, die ihm 
im Leben widerfuhr. Auch Übersetzimgen in 
Vers und Prosa beschäftigten ihn vdeder wie in 
der Jugendxdt und seigen ihn in seiner unter- 
dessen noch gereiften sprachlichen Meisterschaft. 
1867 erschienen seine „Lustigen Weiber von 



Digitized by Google 



— 303 — 



Windsor'' mit Einleitims xmä Anmerkimgeii/) 
und im folgenden Jahr, das für ihn ein besonders 

fruchtbares war, die „Neun Zwischenspiele des 
Cervantes",*) ausserdem eine lange Reihe von 
Untersuchungen über Gottfried von Strassburg 
und das Ciottesurtett seiner Zeit»*) sowie das 
höchst interessante Büchelchen „Zu Shakespeares 
Leben und Schaffen,***) das in eben so tiefgründi- 
ger wie überraschender Beweisführung ein pikan- 
tes Stückchen altwürttembergischer Hofge- 
schichte, die sogenante „Badenfahrt'' mit emer 
Szene aus den Lustigen Weibern verknüpft. In 
diesen zwei Arbeiten ist es von ganz besonderem 
Reiz» wie neben der streng methodischen 
Forschung der sichere dichterische Instinkt her- 
geht, der sich in ihren Dienst gestdlt hat um die 
verborgenen Anregungen und inneren Notwendig- 
keiten aufzuspüren, die auf einen grossen Dichter-* 
genius gewirkt haben, und wie er dadurch zu 
Resultaten gelangt, die der blossen forschen- 
den Gelehrsamkeit nimmermehr erreichbar wären. 
Als ständiger Mitarbeiter am Shakespeare- Jahr- 
buch und an Pfeüfers Germania sah er jetzt we- 



William Shakespeares dramatische Werke. Heraus* 
gegeben von Friedrich Bodenstedt. 

Bibliothek ausländischer Klassiker. Hildbui^hausen, 
Verlag des Bibliographischen Instituts. 1868. 

Später noch einmal gedruckt im Jahrgang XV. der 
Germania. Wien, Druck und Verlag von Carl Gerolds 
Sobn. 1870. 

V Mfinchen. Carl Merhoffs Verlag. 1868. 



Digitized by Google 



— 304 — 

nigstetis seine wissenschaftlichen Schriften nach 
Gebühr i^ewürdsgt. 

Seine Gesundheit schien sich m jenen ersten 
Tübinger Jahren sehr zu erholen. Die Nerven 
waren ruhig, und er hatte keine Zeit sich zu viel 
in sich selbst zu kehren, weil die Aussenwelt mit 
ihren Ansprüchen dazwischen stand. Trotz ge- 
wisser Schikanen im Amte fühlte er sich zufrie- 
den, einen festen Boden unter den Füssen zu 
haben. Jeden Donnerstag-Abend opferte er der 
Geselligkeit in einem geschlossenen Professoren- 
kreis, der sich in der „Post** zusammenfand* Die 
Ereignisse von 1866 verschoben aber bald die ge- 
selligen Beziehungen und trieben meinen Vater 
aus diesem Zirkel wieder heraus. Die Fluten der 
Erregung gingen« solange wir mit Preussen im 
Kriege lagen und noch lange danach, vM zu hoch, 
als dass politische Gegner friedlich am gleichen 
Tische sitzen, geschweige im Privatleben Freunde * 
bleiben konnten. Die ganze Stadt teilte sich in 
zwei feindliche Lager, es gab nur noch „Preus- 
sen" und „Antipreussen". Die Anwesenheit vieler 
norddeutscher Familien, deren Lebensstil von 
dem der einheimischen abstach, und der Umstand, 
dass die scharenweise nach Tübingen kommenden 
norddeutschen Studenten oft beim besten Vellen 
nicht den rechten Ton mit den Landes- 
kindem trafen, mochte die politische Spaltung 
noch verschärfen, wie ja der Gegensatz zwischen 
Mord- und Süddeutschen damals noch viel weni- 
ger ausgeglichen war, als heute. So griff aber- 



Digitized by Google 



Aufnahme vom Sommer 1873 



Digitized by Google 



Digitized by Google 



305 — 



mals die Politik tief in die persönlichen Verhalt« 

nisse hinein, zerriss alte Bande und knüpfte neue. 
Mein Vater war noch immer grossdeutsch gesinnt 
und konnte in dem Kampf, der sich entspann, we- 
der mit Osterreich noch mit Preussen sympathi- 
sieren, am wenigsten freilich mit dem letzteren, 
dem er die Entfesslung des Kriegsdämons schuld 
gab; dass dieser Krieg die Einheit Deutsch- 
lands im Schosse barg, ahnte damals niemand. Er 
hielt sich zu denen» die die preussische Politik be- 
kämpften ; schien doch tun jene Zeit für die Mehr« 
zahl der Süddeutschen und besonders für die alten 
Achtundvierziger das blosse Wort „ Preussen'" 
alles zu enthalten« was es freiheitsfeindliches und 
bekämpfenswertes auf Erden gab. Selbst in un- 
seren Kinderköpfen arbeiteten damals hochge- 
schwungene, wenn auch sehr verworrene patrio- 
tische Phantasien g^en den yermeintUchen 
Fdnd der deutschen Zukunft, ynr schmiedeten 
KriegsHeder bis herab zum Jüngsten, und lebhaft 
erinnere ich mich, wie, als eines Tages vom He- 
ehingischen her preussisches Militär bei uns ein- 
rückte und gerade vor unserem Haus ein mit 
schwarzweissen Fähnchen besteckter Wagen hielt» 
ich mir grosse Mühe gab, den Tag, wo das ge- 
schehen konnte, für den schwärzesten meines Le- 
bens anzusehen« 

Da das Haus an der Steinlach kalt und zugig 
war tmd der grobe Hausbesitzer überdies mit 
meinen Eltern in einem beständigen Kriege lag, 
der schliesslich bis zum Prozess führte» so zogen 

Iiold« Kurs, Hemann Kur. 20 



Digitized by Google 



3o6 — 



wir im April 1867 aus und lieasen uns in einem 

auf dem Marktplatz gelegenen altersgrauen Haus 
mit spitzem Giebel und schön geschnitzter alter* 
tümlicher Holztreppe niedert das einem Konditor 
gdiörte. Bs hatte seinen Haupteingang in der 
dflstem Kronengasse, — von dort aus lag unsere 
Wohnung im zweiten Stock; von der andern Seite 
aber blickten die Fenster turmhoch auf den tief- 
gelegenen Marktplatz hinab und waren voll 
Sonne. Im Erdgeschoss» das vom Markt aus den 
ersten Stock bildete, lag ein vielbesuchtes Studen- 
tencafe, wo es meist die ganze Nacht nicht stille 
wurde« Oft kamen im Morgengrauen nacht- 
schwärmende Gäste, die, wenn sie die Haustür 
geschlossen fanden, vor unseren Fenstern sangen 
und jubilierten oder wohl auch fluchten und wet- 
terten. Mein Vater fand daher erst seine Ruhe, 
als nach einiger Zeit noch zwei Mansardenstüb- 
chen frei wurden, wohin er sich mit sdner Arbeit 
flüchten konnte; das eine enthielt sein grünes 
Stehpult und den runden Tisch, worauf man ihm 
das Essen stellen musste und der für gewöhnlich 
ganz mit Büchern und Broschüren bedeckt war, 
sowie einen Lehnstuhl, von dem er wenig Ge- 
brauch machte, da er beim Arbeiten wie beim 
Essen zu stehen pflegte, das andere sein Bett und 
sein wenig umfangreiches Büchergestell — das 
Gfos seiner Bibliothek war nämlich beim Wegzug 
aus Karlsruhe im Gewahrsam eines Freundes 
zurückgeblieben, der nichts mehr davon heraus- 
gab. — Es waren die dürftigsten Räume des 



Digitized by Google 



— 307 — 



Hauses» aber die einzigeii, wo er sich 
vor Störung sicher fühlte« Der Hauidsesitser 

war ein Pole mit Namen Genschowsky; zu 
ihm und seiner Familie, die aus Frau und 
Schwester bestand» traten wir sämtlich in 
das freundlichste Verhältnis. Diese dnfachen 
Menschen fassten für den Dichter, der unter 
ihrem Dach wohnte, eine tiefe Verehnmg, die er 
ihnen durch trauUchen Verkehr vergalt. Manche 
Abendstunde» wenn der Laden nach dem Markt- 
platz geschlossen war, sass er drunten in dem 
kleinen Stübchen der Konditorei, das zwei Stock- 
werke tiefer als die Strasse lag, und unterhielt 
sich mit den freundlichen Hauswirten. Besonders 
die Frau» eme prächtige Schwabin» voll Charakter 
und Mutterwitz, zog ihn durch ihr fcernhaftes 
Wesen an. 

Lieb war ihm auch der Blick von den Fenstern 
nach dem alten Marktplatz» auf dessen Gesumme 
er schon als Student gerne von seines Rudolf 

Kauslers Giebelfenster hinabgehorcht hatte; uns 
gegenüber das ehrwürdige Rathaus mit seinem 
Storchennest auf dem abschüssigen Giebeldach 
und den zu jener Zeit noch nicht renovierten 
Wandbildern, davor der schöne altertümliche 
Neptunsbrunnen und rings auf den leicht gesenk- 
ten Platz mündend die düstern, gekrümmten, 
steil abfallenden Gassen; das alles bot ein einheit> 
liches höchst charaktervolles Bild, das man nicht 
leicht vergessen wird. Hier fand wöchentlich 
zweimal der Gemüsemarkt statt» wo die weibliche 

90* 



Digitized by Google 



Jugoid mit kldnen Körbchen am Arm und aittig 
von den Müttern begleitet, von der Ilanierenden 

Studentenschaft in Augenschein genommen 
wurde; im Frühjahr und Herbst aber zog die 
grosse Messe die ganze Land- und Stadtbevölke- 
rung auf diesem Räume zusammen, und es war 
ein fröhliches Bild, wie sich die Steuilachbauem 
in ihren langen Leinwandschössen und die hüb- 
schen Bauemmädchen mit rotem Mieder und 
langen blonden Zöpfen» das kokette Mützchen 
schief auf dem Kopf, zwischen der dichtgekeilten 
Bürger- und Studentenschaft durchdrängten. 
Vom Marktplatz waren nur wenige Schritte bis 
zum Aufstieg des Schlosses, der sogenannten 
„Burgstaige**, was aber meinem Vater, der 
gleichwohl fortfuhr, die Mittage auf der Biblio- 
thek zu verbringen, eher zum Nachteil gereichte, 
weil die ihm so nötige Bewegung im Freien da- 
durch wegfiel. 

Kaum dass die Existenz gesichert war, so 
brachen neue schwere Sorgen über die Familie 
herein. 

Noch in dem zugigen Haus an der Steinlach, 
während eines besonders grimmigen Winters war 
unser damals fünfjähriger Balde, zuvor das Bild 
der blühendsten Gesundheit, an akutem Gelenk- 
rheumatismus, der in der Stadt herrschte, er- 
krankt. Er hatte drei Wochen in heftigen 
Schmerzen verbracht, dann war die Krankheit 
gewichen, und man hielt ihn für genesen; dass 
mit diesem Anfall der Grimd zu seinem langen 



Digitized by Google 



I 



— 309 



Leiden und frühen Tode gelegt war, ahnte zum 
Glück noch niemand. Doch seitdem klopfte die 
Krankheit alljährlich aufs neue bei ihm an, und 
im sehnten Lebensjahr entwickelte sich daraus 
ein gefährlicher Hersfehler. Immer schwerer 
wurden nun die Heimsuchungen, immer kürzer 
die Intervalle, wo es ihm vergönnt war, wie ein 
gesunder Mensch zu leben. DasLeiden verhinderte 
ihn am regelrechten Schulbesuch, da er nur im 
Sommer, wo er sich leidlich wohl fühlte, im Gym- 
nasium hospitieren konnte ; so war er zumeist auf 
den mütterlichen Unterricht und später auf eige- 
nes Studium sowie auf Lektüre angewiesen* Auch 
von den Jugendfreuden blieb er ausgeschlossen, 
denn das arme Herz ertrug keine, rasche Bewe- 
gung imd musste mit der Zeit sogar vor freudi- 
gen Aufregungen behütet werden. Doch mit 
sdnen lebendigen Interessen schuf er sich nach 
und nach eine geistige Welt, die ihm das Versagte 
ersetzte. Umgeben von Vögein und anderem Ge- 
tier, das er liebte, lag er in seinem Bette lesend 
und studierend; sein Lieblingsfach war die Zoo* 
logie, in der er sich mit der Zeit gründliche Kennt- 
nisse aneignete. Wenn er sich nicht selbst be- 
schäftigen konnte, so musste man ihm vorlesen 
oder Geschichten erzählen — durch ihn kam ich 
zum Prosaschreiben, denn ich musste ihm 
Märchen erfinden, die er dann auch nieder- 
geschrieben sehen wollte oder gelegentlich 
selber niederschrieb, wie sie aus meinem 
Munde kamen. Machte die Krankheit eine 



Digitized by Google 



— 3IO — 

Pause, so genoss niemand seliger als er 
die wiedergeschenkte Sonne. Und je mehr sein 
äusserer Kreis sich durch das Leiden verengte, 
desto intensiver entwickelte sich seine Genuss- 
föhigkeit: er wsr zuletzt imstande, aus dem An* 
blick einer blühenden Pflanze Freuden zu saugen, 
wie sie den Gesunden, Glücklichen völlig .un- 
bekannt sind. Da dem kranken Kinde nichts ver- 
wehrt wurde, hätte er Mcht der Quälgeist des 
ganzen Hauses werden können, aber sein Wesen 
war voll Sonnenschein; den Neid kannte er nicht, 
er nahm von seinem Bette aus an unsem Jugend- 
freuden teil» tmd nie kam eine Klage über sein 
Schicksal in seinen Mund, noch liess er seinen 
Mut niederschlagen. Er hatte eine zarte ritter- 
liche Verehrung für das andere Geschlecht, und 
den hübschesten unter den jungen Mädchen» die 
unser Haus besuchten, pflegte er in stammelnden 
Versen, die der Kindlichkeit seines Wesens ent- 
sprachen, zu huldigen. Poetisches Talent besass 
er freilich nicht, dafür war er mit seinem Idealis- 
mus, seinem Humor, seiner unverwüstlichen Hei- 
terkeit und Naivität selber ein Stück lebendiger 
Poesie. Und wie er als Knabe lange die stam- 
melnde Kindersprache beibehielt, die ihm etwas 
Rührend-tmbehüfliches gab, so folgte ihm die Ge- 
wohnhat, sich langsam und mit naiver Originali- 
tät auszudrücken, auch in die Jünglings] ahre hin- 
über. Er hatte einen schönen, einfach kräftigen 
Kopf von ausgesprochen altdeutschem Schnitt» 
aber durch das Leiden vergeistigt und mit einem 



Digitized by Google 



— 3" — 



Siegel von Unachiild und Rdiüieit gemclmet, 
das ibn wie ein Wesen aus anderen Welten er- 
scheinen Hess. Niemand wird seine strahlende 
Sicgermiene und das geheimnisvolle Lächeln sei- 
ner Mundwinkel vergessen« der ibn als Einund- 
zwansigjährigen in Florenz auf dem Totenbette 
liegen sah. 

Zum Glück blieb dem Vaterherzen der Schmerz 
dieses Verlustes erspart. Man wusste zwar schon 
damals, dass dem Jüngsten nur ein kurzes Dasdn 
bes^eden sein konnte, tmd beide Eltern suchten 
ihm deshalb, soviel es die kargen Glücksumstände 
gestatteten, jeden Wunsch zu erfüllen, aber man 
sah das Verhängnis noch in weiter Feme. Die 
Mutter widmete sich schon damals ganz dem 
kranken Sohn und sollte allmählich mit ihm zu 
einer Person verwachsen, dass eins die Gedanken 
des andern erriet. Wenn die schweren Anfälle 
der Atemnot und der Herzbeklemmungen kamen, 
sass sie oft wochenlang Nacht für Nacht an sei- 
nem Lager, und später, als das Leiden zunahm, 
verlernte sie das Schlafengehen ganz: ans Fuss- 
ende sones Bettes hingekauert, nickte sie höch- 
stens noch auf Minuten ein tmd wurde von ihm, 
der den Unterschied zwischen Tag und Nacht 
nicht mehr kannte, gleich wieder zu langen Ge- 
sprächen aufgerüttelt« So schlimm wurde es frei- 
lich erst in Florenz, In seinen letzten Lebens- 
jahren, in Tübingen gab es immer wieder Pau- 
sen, die noch ab und zu der Illusion Raum Hessen. 
Zur Zeit, wo die beiden älteren Brüder Medizin 



Digitized by Google 



313 — 



studierten, widmeten auch sie ihre Zeit und ihre 
junge Erfahrung dem Leidenden, und ganz be- 
sonders war es Alfred, der oft auf die studentische 

Geselligkeit verzichtete, um die Nachtwachen 
seiner Mutter zu teilen, was ihm bei seinem auf 
jauchzende Irebenslust gerichteten Temperament 
doppelt hoch von ihr angeschlagen wurde. 

Das Leben dieser beiden Brüder, die dem 
väterlichen Namen soviel Ehre gemacht haben, 
ist von mir anderwärts geschildert worden; hier 
kann bloss ihr Jugendbild Raum finden, das jeiie 
veredelten Züge nur eben ahnen Hess. Sie brachten 
um jene Zeit mit ihrer überschäumenden Jugend- 
kraft viel Stürme in das häusliche Dasein. Die 
zwei, die sich später in so fester Freundschaft 
zusammenschlössen, dass nichts ihren Bund 
trüben konnte, die ein Jahr uns hinwegnahm, 
weil der unerwartete Tod des Alteren auch 
die strotzende Lebenskraft und -lust des Jünge- 
ren brach, diese zwei haben lange Zeit ge- 
braucht, um sich innerlich zusammenzufinden. 
Sie mussten sich zueinander durchkämpfen, 
um ihres gemeinsamen Blutes so recht innc 
zu werden, und vielleicht war das mit ein 
Grund, dass sie sich später so fest umfassten. 
Ich glaube, dass es gerade die bedeutenderen Na- 
turen sind, die sich auch das, was ihnen schon in 
der Wiege zufiel, wie die Bruderliebe, erst noch 
erkämpfen müssen , um es ganz zu haben, und ich 
denke mir sogar die Dioskuren in ihrer Jugend 
als feindliche Brüder. Der Vater nahm auch den 



Digitized by Google 



— 3^3 — 



Krieg seiner swd ältesten Söhne, die damals wie 

zwei sich bekämpfende Elemente erschienen, 
nicht so tragisch wie die Mutter, er kannte sein Blut 
und erinnerte sich, wie viel auch er mit seinem 
Bruder hatte ringen müssen, bevor ihr Bund fest 
geschlossen wurde. Es ist gewiss so schön nach 
aussen, wie beglückend nach innen, wenn eine Fa- 
miliengruppe von Anfang an fest zusammenhält im 
Glauben, Wollen und Meinen, aber es deutet nicht 
auf künftige kräftig entwickelte Persönlich- 
keiten. In unsrem Hause war es anders, alle be- 
dauerten es ohne es ändern zu können: ein jeder 
Kopf hatte seine eigene Art, die Dinge anzusehen, 
und obgleich sich das nach aussen nur als viel« 
fache Nuancierung derselben Weltanschauung 
darstellte, erschienen diese Abweichungen nach 
innen oft wie eine grosse Kluft. 

Edgar war mit siebzehn Jahren Student; seine 
Begabung war so gross, dass er auch durch die 
glänzendsten Leistungen niemand in Erstaunen 
setzte, vielmehr als in einem Schuljahr das ihm 
sonst regelmässig zuerkannte Prämium einmal aus- 
blieb, erregte es der Mutter schmerzlichstes Be< 
fremden, so sehr war man gewohnt, ihn immerdar 
in der vordersten Reihe zu sehen. Alfred dagegen 
sass mit Unlust auf der Schulbank, und da des 
Bruders reissende Fortschritte den Vergleich 
herausforderten, galt der arme Junge eme Zeit« 
lang für unbegabt, hielt sich auch selbst dafür, 
was ihm einmal bittere Tränen auspresste zum 
grössten Erbarmen unseres Vaters, der ihm nun 



Digitized by Google 



— 314 — 



verdoppelte Liebe ^iiwandtc^ um ihn m trösten. 
Doch erwies dcfa diese Fürsorge als unndtig» denn 

kaum, dass der physiche Kraftüberschuss dem 
Knaben gestattete sich zu samm eln,_ entwickelte 
er in feuriger Lemgier gleichfalls ganz ausge- 
zeichnete Gaben» und sein vorsügliches Gedächt- 
nis ersetzte ihm, was der ältere an schöpferischer 
Eigenkraft voraus hatte. Erst nach völlig erlang- 
ter Reife aber sollte sich in ihm die strahlende 
Liebenswürdigkeit entwickeln, mit der er später 
jeden, der seinen Weg kreuzte, bezaubert hat. 
Dem Vater wurde gerade noch die Freude zuteil, 
auch den zweiten Studenten im Hause zu sehen; 
wie Alfred heimlich das Physicum bestand, um die 
Mutter mitseinemBrfolgzuüberraschen, und sehie 
ferneren Fortschritte, mit denen er sich eifrig auf 
Edgars Fersen hielt, während in dem dritten 
Sohne Erwin das künstlerische Talent durch- 
brach, das ihn von einer mit Unlust besuchten 
Schule weg in sein natOrUches Fahrwasser trieb» 
das alles sollte er nicht mehr erleben. 

Edgar tratj nachdem er den grüblerischen, * 
schweigsamen Knaben abgelegt hatte, an der 
Schwelle des Jünglingsalters in ein Stadium von 
hochfliegendem, fast zur Schwärmer^ gehendem 
Idealismus tmd stellte Anforderungen an die 
menschliche Natur, wie sie nirgends erfüllt wer- 
den. Jünglingsfreundschaften Baaste er mit hd- 
liger Glut und litt bitter von dem Kontrast seiner 
hochgespannten Erwartungen nut der Realität 
des Lebens. In diesem Alter, das bei begabten 



Digitized by Google 



3^5 — 



Naturen ganz der Idee gewidmet ist» warf er sich 

auf das Studium der sozialen Probleme und nahm, 
da sein feuriges Temperament ihn nicht lange 
bei der Theorie verharren liess, an der sozialisti-» 
sehen Propaganda teil. Es waren die mütterlichen 
Weltverbesseningstriiume, nur ins Männliche po- 
tenziert, wie er überhaupt in seinem Wesen viel- 
fach nach der Mutter geartet war ; ihr bewegliches 
Blut führte ihn denn auch frühe hinaus in die 
Welt» wo söne Führer- und Heldennatur sich zu 
ihrer wahren Bestimmung entwickeln konnte und 
wo der Zug zum Absonderlichen, der in ihm lag» 
sich nur noch als Originalität und vollkommene 
Unabhängigkeit im Denken undHandeln äusserte* 
Seine Entwicklung ging stossweise unter heftigen 
Zuckungen vor sich, deren jede ihn um ein sicht- 
bares Stück auf seinem Wege vorwärts brachte. 
Natürlich fehlte es dabei an Harmonie und wohn- 
lich war es damals nicht in seiner Nähe. Er war 
wie eine inmier zuckende, züngelnde Flamme. 
Aufs intensivste durchdrungen von dem, was er 
gerade für das richtige hielt, ertrug er keinen 
Widerspruch, am wenigsten von der Schwester» 
^e jünger war als er und mit der er in der Kind- 
heit jeden Gedanken, jede Regung geteilt hatte. 
Noch immer hingen wir aneinander wie zur Zeit, 
IVO wir gemeinsam von einem Wikingerschiff 
träumten» mit dem wir die Meere befahren und 
ferne Länder entdecken wollten, aber auch ich 
musste mir jetzt meine eigenen Wege suchen. 
Seine Liebe rührte mich ebenso oft, wie mich 



Digitized by Google 



— — 



scme Tyraim^ empörte. Er warb glühend um 
Gegenliebe, wollte mir aber keine Freiheit lassen 

und empfand jeden selbständigen Gedanken als 
ein an ihm begangenes Unrecht. Man musste 
alle Diskufli^oaeii vermeiden, aber ihn schmerzte 
schon das Schweigen, wenn er darin eine andere 
Meinung las. In weit höherem Masse als später 
befriedigte ihn damals eine rein materialistische 
Weltauffassimg, mit der ich niemals etwas an- 
fangen konnte, mid er sah in meinem Off enlassen 
der metaphysischen Türen den ersten Schritt cum' 
Aberglauben. Politische und soziale Fragen 
mussten wir gleichfalls vermeiden, denn er suchte 
das Heil in einer völlig neuen Gesellschaftsord- 
nung, mid ich sehnte mich nach höheren Kultur» 
formen: sein Schlagwort war „frei", das meinige 
„schön"; wir hätten sie ebenso gut austauschen 
können, denn im Grunde wollten wir doch beide 
dasselbe, und häufig genug war bei unseren er- 
regtesten Kontroversen der Unterschied nicht 
grösser, als einstmals im Kinderwägelchen zwi- 
schen Zidde und Didde. In der Literatur fanden 
wir uns wieder, allein selbst hier gab es Gebreiten» 
wo es nicht geheuer war. Auch durch eine selt- 
same catonische Strenge, wie sie oft den Über- 
gang vom Knaben zum Jüngling zeichnet, er- 
Schwerte er der Schwester und sich selbst das 
lieben, denn harmlose Tanzvergnügen, denen ich 
mich gerne hingab, verursachten ihm Schmerz, 
da er sie als verwerflich betrachtete. Oft stellten 
sich wohlmeinende junge Freunde, die beiden 



Digitized by Google 



— 317 — 



Teilen gleich ergeben waren, alB Pufler da- 
zwischen, um die Ausbrüche seines leidvollen Un- 
muts auf sich selber abzulenken. In schmerz- 
lichen Gedichten, worin noch der frühere Zusam- 
menklang nachzitterte, klagten wir einander 
gegenseitig dieser Entfremdung an, die doch von 
keinem Teile gewollt war. Bald aber hatte er 
dieses wunderliche Stadium durchlaufen, er legte 
den Cato ab imd warf sich mit einer überraschen- 
den Wendung in die stärksten Wogen des Lebens, 
ohne seine Innerlichkeit und seinen Idealismus 
dabei einzubüssen. Dieser Umschwung fiel mit 
seinem Übergang aus der Philologie in die Medi- 
zin zusammen, der von mir mit Jubel begrüsst 
wurden weU ich das deutliche Gefühl hatte, dass 
bd den Eigenheiten seines Wesens die Philologie 
ihn abseits vom Leben geführt hätte. Bei den 
Eltern erregte das „Umsatteln"' zuerst einige Be- 
stürzung, allein er verwischte schnell diesen Ein- 
druck, indem er nicht nur das in dem ersten Fach 
verbrachte Semester wieder einholte, sondern in 
seinem Lauf alle Mitstrebenden hinter sich liess. 
Auch das ausgelassene Schwelgen und Schwär- 
men, dem er sich jetzt ergab, hielt seine Fort- 
schritte nicht auf, denn die durchtollten Nächte 
waren ihm kein Hindernis, des Morgens so zeitig 
ins Kolleg zu wandeln, wie das bedächtigste 
Muttersöhnchen, und sein Kopf blieb auch inmit- 
ten der lautesten Zerstreuung zur Arbeit gesam- 
melt. Schon damals brausten über sein Jünglings- 
herz Stürme, die man seiner mädchenhaft-zarten, 



Digitized by Google 



- 3i8 — 



vergeistigten Erscheinung nicht zutraute. Dieses 
intenaive Erleben begann jetzt die anfäng^che 
Einaeitigkeit adnea Weaena auasugleichen, und 
die starke äussere Tätigkeit, zu der ihn die neue 
Berufswahl führte, liess kein Verbohren ins Ab- 
atrakte mehr au« Während er ao aua den Selt- 
aamkeiten seines Knabenalters herausschritt, ent- 
wickelte aich jetzt in ihm eine unwiderstehliche 
Intensität des Wollens und Tuns, die ihn wie eine 
ausdemlRohr geschleuderte Kugel erscheinen liess. 

Alle diese Entwicklungaphasen der Jugend 
apieiten sich ab, ohne daaa der Vater darauf eine 
Einwirkung zu üben suchte oder sie nur zu sehen 
schien. Vor allem hütete er sich, unseren hoch- 
gehenden Jugendmut durch seine Enttäuschung 
und Reaignation niederauachlagen. Um keine 
niuaion wollte er una bringen, er, der so viele 
Illusionen begaben hatte, und ein jedes sollte 
sich, soweit es an ihm lag, nach seinen eigenen 
inneraten Geaetzen entwickeln. Nicht einmal über 
poetische Dinge gab er mir je den leiaeaten Wink, 
noch sprach er ein Wort über den massenhaft 
von mir verschlungenen Lesestoff. Unermüdlich 
trug er mir von der Bibliothek die Heinebände 
herunter, in deren Lektüre ich unterachiedaloa 
achwelgte, obgleich ich wuaste, daaa er dieaen 
Dichter nur sehr mit Auswahl liebte, was ich ihm 
damals sogar ein wenig übel nahm. Sein einziger 
Proteat gegen meinen Kultua beatand in den 
Worten: „Du wirat vielleicht auch einmal andere 
darüber denken;" eine Prophezeiung, die erst 



Digitized by Google 



— 319 — 



viele Jahre später eintraf» als vor meinen Augen 
der Flitter dieses Dichters abfiel und seine echte 
Poesie in neuer Stärke hervortrat; da lernte ich 

die väterliche Weisheit bewundern, die mir keine 
Erkenntnisse aufdrängen wollte, die für mein Le« 
bensalter verfrüht waren« Meine eigenen poeti- 
schen Versuche» die ihm hinter meinem Rücken 
vorgelegt wurden — er las sie, lächelte, streichelte 
meinen Kopf, aber er sagte mir kein Wort dar- 
über. Er hatte überhaupt eine heilige Scheu vor 
dem Wachstum der jungen Seele und hielt jedes 
willkürliche Eingreifen für frevelhaft, ganz Im 
Gegensatz zu der „Treibhausungeduld** der Mut- 
ter» wie er gelegentlich deren Drängen und Schie- 
ben nannte. Mich besonders behandelte er gar 
nicht als das Kind» das ich war» sondern so» wie 
nach des alten Tacitus Zeugnis die Frauen von 
unseren germanischen Urvätern behandelt wur- 
den. Er liess^ was aus meinem Kindermunde 
kam» wie eine Eingebung gelten» wozu die Ahn« 
Hchkeit unserer Instinkte viel beitragen mochte: 
wenn ihm Menschen missfielen, — das waren 
neben den rohen oder kleinlichen vor allem solche» 
die er »»natiurlos** nannte — so fühlte ich das an 
meiner eigenen instinktiven Abneigung, denn Per« 
sönlichkeiten wurden nie erörtert, er liess jeden in 
seinem Zusammenhang gelten und legte sein Ur- 
teil nur in die schweigende Stellung» die er gegen 
ihn einnahm. 

Je weniger er seine dichterische Welt mehr 
gestalten konnte, desto mehr beschäftigte ihn ihr 



Digitized by Google 



— 3^0 — 



inneres Weben; man scheute sich, ihn anzu- 
sprechen. In tiefem Schweigen lebte er neben 
uns, meist mit einem Abglanz seiner höheren 
Welt auf den Zügen, niemals mürrisch oder ver- 
drossen, aber ebensowenig fröhlich, ich erinnere 
mich kaum, ihn einmal lachen gehört zu haben. 
Den Kopf aufrecht und die Augen voU Glans» die 
Hände auf den Rücken gelegt, die hohe Grestalt 
noch unberührt vom Alter, so sah man ihn auf 
den Strassen, in den Alleen Tübingens vor sich 
hingehen, und oft blieben die jungen Leute stehen, 
um sich diese ungewöhnliche Erscheinung einzu- 
prägen. Verkehr pflegte er wenig. Sein nahes 
Reutlingen besuchte er zuweilen, nicht allzu oft, 
um den Duft der Erinnerung nicht zu gefähr- 
den. Unter unseren jungen Freunden war ein 
Philologe ihm besonders lieb ; wenn dieser ihn auf 
dem Spaziergang begleitete und die Rede auf ver- 
gleichende Sprachforschung brachte, ein Gebiet, 
das ihn von jeher tief interessiert hatte, da lebte er 
auf, ein inneres Glänzen hob an, und mit einem 
Male wurde er mitteUsam. Nur die Welt seiner 
Phantasie durfte nicht aufgestört werden; jeden 
Versuch, den er machte, hineinzugreifen und sie 
zu formen, hatte einen vulkanischen Ausbruch 
zur Folge, bei dem alle Gestaltung unmöglich 
wurde, und das erregte Nervensystem brauchte 
alsdann lange Zeit, sich wieder zu beruhigen. 
Sein rhythmisches Gefühl war so empfindlich ge- 
worden, dass ihn jede heftige unruhige Bewegung 
reizte, er litt darunter, wenn man auf der Strasse 



Digitized by Google 



— 3ßi — 

nicht mit ihm Takt hielt oder B^egneade zwi- 
«chendurchgeheii liest. Omina, nicht mehr ge- 
glaubt, aber von einer früheren Menschheit der 
Empfindung vererbt, mochten mitspielen: er 
hasste es, wenn man mit dem linken Fusse zuerst 
in sein Zimmer trat. In den letzten Jahren konnte 
es ihm in diesen Dingen lüemand ausser mir 
mehr völlig recht machen; daher wurde ich meist 
gerufen, ihn auf dem Spaziergang zu begleiten, 
er bot noir dann ritterlich den Arm, was er schon 
zu tun pflegte, als ich nur eben an seinem Ell* 
bogen hinaufzuwachsen begann, aber er setzte 
meist seinen stummen Monolog fort. Ein lufti- 
geres Band hat wohl nie Kinder mit ihrem Vater 
verbunden; als er geschieden war, hielt sein An- 
denken die Hinterbliebenen bdnahe fester zusam- 
men, als zuvor seine leibliche Gegenwart. 

Er seinerseits wusste wenig von unserem Le- 
ben. Glücklicherwdse sah er auch nicht, was 
das Verhängnis, anders zu sein als andere, 
seiner Tochter auf diesem Boden für eme schwie- 
rige Stellung bereitete. Als ich aus dem Traum 
der Kindheit aufwachte, fand ich mich rings von 
einer feindlichen Welt umigeben, die mich mit 
einer Erbitterung verfolgte, deren Ursache nur 
völlig dunkel war. — „Sie leben Ihrer Zeit um 
fünfzig Jahre voraus," pflegte unser Freund und 
Hausarzt, der treffliche DnGärttner, meiner Mut- 
ter zu sagen. Dieses Vorausleben, woran sie fuch 
von Jugend auf gewöhnt hatte, erregte jetzt unter 
den Pfahlbürgern Tübingens einen ganz anderen 

Iioldtt Kurs, Hcnnaim Kur. 31 



Digitized by Google 



— — 

Anstoss^ als vor Zeiten in dem weltmännisch- 
toleranten Kreis, dem sie durch Geburt angehört 
hatte. AUein die Bosheit konnte doch nicht so 
recht an sie heran. Ihr Trieb zum Helfen und 
Wohltun, der sich lue genug tat, war za bekannt, 
und ihre Anspruchslosigkeit und Nichtbeachtung 
des Äusseren, die ihr etwas Unpersönliches gaben, 
entwaffneten das Übelwollen. Man wusste über- 
dies ganz gut, dass ihrem streitbaren und fröh- 
lichen Cremüt die Kritik des Philisteriums nur ein 
willkommener Scherz gewesen wäre. Also liess 
man sie gelten, wie man am Ende jeden gelten lässt, 
dem man nicht beikommen kann. Ihre freien 
Reden über philosophische Dinge zogen der Fa- 
milie in dieser kleinbürgerlichen Welt den Ruf 
des Atheismus zu (ein komisches Wort, nebenbei 
gesagt» bei dem ich mir nie etwas denken konnte) ; 
weil sie sich aber jahraus jahrein mit den wasch- 
echtesten Frommen der Stadt auf den Pfaden 
des Wohltuns begegnete, flösste sie diesen 
persönlich so warme Sympathien ein, dass sich 
kein Tadel an sie selbst heranwagte. Dagegen 
hatten die Söhne in der Schule den Strauss aus- 
zufechten, diese standen ihren Mann, tmd bald 
nahm die alma mater sie in ihre Arme, deren Zög- 
linge dem Philister heihg und unantastbar waren. 
Einen um so günstigeren Angriffspunkt bot die 
heranwachsende Tochter, die von der Aussenwelt, 
ihren Meinungen und Konventionen überhaupt 
nichts wusste. Durch die versäumten Antritts- 
besuche stand unser Haus abseits des gesellschaf t- 



Digitized by Google 



— 3*3 — 

liehen Verkehrs» somit kannte man uns im Grunde 

gar nicht, und die Legendenbildung hatte ein um 
so freieres Feld. Ich wurde auch in Tübingen nicht 
in die Schule geschickt, weil meine Eltern von den 
damaligen Mädchenschulen nicht viel Gutes er- 
warteten, daher hatte ich keine Mädchenfreund- 
schaften, und von klein auf nur an den Umgang 
der Brüder und ihrer Freimde gewöhnt, wusste 
ich gar nicht mit dem eigenen Geschlechte umzu- 
gehen. Die häusliche Abgeschlossenheit» der un- 
gewöhnliche Rufname und die noch ungewöhn- 
lichere Erziehung machten mich zu einem Gegen- 
stand des Misstrauens» als ich noch in den Kin- 
derschuhen ging und die Welt mit Kinderaugen 
ansah. Die befremdendsten Dinge wurden ge- 
munkelt, darunter auch, dass ich die klassischen 
Sprachen triebe» und das letztere war sogar rich- 
tig. Nun gab es aber nichts» das von der weib- 
lichen Moral strenger verdammt wurde. Grund 
genug für die fortschrittsdurstige Mama, nicht 
mit ihrem Erziehungsprogramm hinter dem Berge 
zu halten. Jedoch der Bannfluch traf nicht sie, 
die ihn gerne getragen hätte» sondern das Kind 
allein. Ich musste es als einen Teil der Welt- 
ordnung hinnehmen, dass mir, wo ich vorüber- 
ging, gehässige Blicke, böse Reden und gelegent- 
liche Steinwürfe folgten. Als ich heranvmclis 
und persönlich auf den Plan trat» wurde es noch 
viel schlimmer. Die Kultur des Ausseren war ja 
ebenso verpönt wie die des Geistes: die Beschei- 
denheit musste sich durch Ungeschmack aus* 



Digitized by Google 



weisen, körperliche Übungen, vor allem das Rei- 
ten, galten bei eineni Mädchen für einen Frevel 

gegen menschliche und göttliche Ordnung, der 
selbst die Behörden alarmierte. Sogar die Hefe 
der „unteren Stadt** mit ihrem dumpfen Aber- 
glauben wurde allmählich gegen die Übeltäterin 
aufgehetzt, für die das Pest der Jugend durch 
diese Verfolgungen einen geheimnisvoll tra- 
gischen Untergrund bekam; es war wie ein Tanzen 
auf grollendem Vulkan» so lange das Ansehen des 
Vaters die Familie deckte. Nach seinem Hm- 
scheiden verging nur kurze Frist, so war das ganze 
Geschlecht des Heimatdichters Hermann Kurz 
ausgewandert, um sich auf fremdem Boden anzu- 
siedeln» wo drei seiner Söhne die letzte Ruhestatt 
gefunden haben. 

In jenem seltsamen, mir selber kaum mehr 
glaubhaften Krieg, den eine ganze Stadt mit 
einem kaum erwachsenen Mädchen führte» gab 
es für mich nur eine Waffe» von der ich immer 
und immerzu den ausgiebigsten Gebrauch machte : 
die ganze feindselige Umwelt als nicht-existent 
zu betrachten. Ich wusste nichts» rein gar nichts 
von den Personen, aus denen sie sich zusammen- 
setzte; ich verschloss absichtlich mein Ohr, wenn 
Namen genannt oder Persönlichkeiten erörtert 
wurden. Dies ist der Grund» weshalb ich die 
letzte Umgebung meines Vaters nicht mit itn 
Farben des Lebens malen kann» denn mit der 
Schar der Widersacher sind leider auch die Wohl- 
gesinnten» die eine freundliche Ausnahme mach- 



Digitized by Google 



— 3^5 — 

ten, in meiner Erinnerung verblasst. Ich habe 
diesen namenlos gewordenen Guten in meinem 
Herzen einen Altar errichtet, wie die Athener dem 
unbekannten Gotte ; aber die gewaltsam verwisch- 
ten Bilder wieder hervorsuzaubem vermag ich 
nicht. Jeden Pflasterstein aus der Stadt meiner 
Jugend kenne ich auswendig, über ihre Bewohner 
aber wusste ich mir eine absichtliche Unkenntnis 
zu erwerben» die auf mich selber in sinteren 
Jahren wahrhaft komisch wirkte. Nur so konnte 
ich mich vor der Gefahr retten, ein völlig verzerr- 
tes Weltbild ins Leben hinüberzunehmen. 

Die letzten Jahre meines Vaters waren vor- 
zugsweise von der Redaktion des deutschen No- 
vellenschatzes ausgefüllt. Dieses Unternehmen, 
das er mit Heyse an Stelle des verunglüclcten Ka- 
lenders gegründet hatte, erwies sich als unendlich 
segensreich. Es lieferte die Mittel zu einem etwas 
bequemeren Dasein imd gab dem Dichter bei sei- 
nem leicht erweckten Optimismus die Hoffnung, 
seinen Kindern dereinst doch noch ein Vermögen 
zu hinterlassen» eine Hoffnung» die sich zwar 
nicht mehr erfüllen sollte, die aber doch seinen 
Lebensabend noch einigermassen erhellte. Der 
Novellenschatz des Auslands^ der noch hinzu- 
trat, gewährte ihm die Freude, seine heranwach- 
sende Tochter zur Mitarbeiterin zu haben, da ich 
die in Vorschlag gebrachten fremdsprachigen No- 
vellen gleichfalls zu lesen bekam und auch einige 
zur Übersetzung zugewiesen erhielt, denn ich 
hatte schon vom zwölften Jahre an durch Über« 



Digitized by Google 



— 326 — 



«etsungen für Zeitschriften metneii Stil geübt 
lind mir damit auch ein Iddnes Nadelgeld erwor- 
ben. Der Novellenschatz gab meinem Vater nicht 
nur zum erstenmal das Gefühl eines gewissen 
Wohlstandes» er trieb ihn auch aus seiner Verein- 
samung heraus» indem ^ ihn zum schriftlichen 
Verkehr mit den zeitgenössischen Aut<nren nö- 
tigte und zugleich seinen halbverschollenen Na- 
men wieder unter die Leute brachte. 

Zu Anfang des Jahres 1870 trat eine litera- 
rische Aulforderung an ihn heran, die für ihn eine 
Quelle reinster Freude wurde. Paul Konewka, 
der begabte Silhouettenschneider, wünschte, dass 
Hermann Kurz den Text zu seinen Fallstaffbil- 
dem schreibe» und erschien selber auf ein paar 
Tage in Tübingen, um sich mündlich mit dem 
Dichter auszusprechen. Mein Vater fand ebenso 
grosses Wohlgefallen an des Künstlers Persön- 
lichkeit, wie an den Werken seiner Itand. Ko- 
newka war polnischer Abkunft» aber als Deutscher 
geboren, ein noch junger Mann von gewinnen- 
dem und bescheidenem Wesen, der slawische Be- 
weglichkeit mit deutscher Kemhaftigkeit verband. 
In einer Gartenwirtschaft am Neckar verbrachten 
wir einen heiteren Abend mit ihm, wobei er aller- 
lei Proben seiner Kunst zum besten gab, mit der 
Geschwindigkeit eines Hexenmeisters zu unsrem 
Ergötzen springende Häslein, lauschende Rehe 
und anderes Cretier, dazwischen in bedachtsame- 
rem Tempo auch menschliche Schattenrisse, wo- 
runter den meinigen, schnitt. 



Digitized by Google 



Mein Vater ging mit der grössten Lust ans 
Werk. Durch seine Übersetzung der ^»Lustigen 
Weiber" und seine langjährigen Shakespearesta- 
dien, die sich ja mit Vorliebe auf den Spuren des 
dicken Ritters bewegen, lag ihm der Gegenstand 
besonders nahe, daher niemand geeigneter war, 
als er, den geistreichen Fallstaffzyklus des Künst* 
lers mit gleicher Fülle von Geist zu interpretieren, 
WenndieBilderdieVorstellungerwecken,al8 hätte 
der Künstler und bei dem berühmten Wirt zum 
Hosenbande mitgekneipt, um die extravagante 
Gesellschaft in ihrer ganzen Lebenswahrheit 
gleich heimlich unterm Tische abzukonterfden, 
so macht der Verfasser des Textes nicht minder 
den Eindruck, als ob er aus persönlicher Bekannt- 
schaft seine Erläuterungen hinzufüge. Sie waren 
ja auch in der Tat sein alter intimer Umgang, 
diese tollen Kumpane» denen er seit lange ihre 
heimlichsten Beziehungen und ihre sonderbarsten 
„Humore" abgefragt hatte. Eine ganz beträcht- 
liche Dosis SpezialStudium der Elisabethischen 
Zeit ist hier in perlenden Champagner aufgelöst, 
um dem Leser ganz unmerklich unterm Schaume 
eingegeben zu werden. Fast perlt es dann und 
wann ein wenig gar zu stark. Neben den Shake- 
speareschen Einfällen quellen des Verfassers 
eigene in unaufhörlichem Sprudel, mit Anspielun- 
gen und Zitaten vermischt, von denen einige 
schon während er schrieb, nicht mehr allverständ- 
lich waren, denn es ist mitunter, als redete er zu 
einem imaginären Publikum, bestehend aus sei« 



Digitized by Google 



328 — ' 



nen Jugendfreunden, die aber damals zum Teil 
schon gestorben waren. Konewka selbst war maien 
Augenblick betreten ttber die Füll^ die ihm ent- 
gegenquoll; es schien ihm fast, als ob der Text, 
statt die individualisierenden Züge seiner Schat- 
tenrisse zu erklären, diese zu einer blossen Illu- 
stration herabdrücke. Doch das kleine Wölkchen 
zerstreute sich schnell; der Kunstler sah wohl 
ein, dass er dem souveränen Humoristen, den er 
aufgerufen hatte, auch Raum lassen musste, sich 
nebenihmauszuleben, und dass andererseits seinen 
eigenen Intentionen nicht liebevoller nachgegan- 
gen werden konnte, als es hier geschehen war. Im 
Juli 1870 war das Werk fertig, allein der Ausbruch 
des deutsch-französischen Kriegs verzögerte sein 
Erscheinen» und als es ein Jahr später vor die 
Öffentlichkeit trat, da lag der Schöpfer der hdte- 
ren Bilder schon im Grabe, von tückischer Krank- 
heit auf der Hohe des Schaffens weggerafft. Sein 
Verlust traf meinen Vater tief, er hatte den lie- 
benswürdigen Künstler mit seiner ganzen Wärme 
umfasst» wie das Nachwort su ^»PallstafiF und 
seine Gesellen"^) bezeugt. 

Unterdessen hatten ungeheure Erschütterun- 
gen die Welt völlig umgestaltet. Wer kann sich 
heute die Zeit noch ausmalen, wo es kein Deutsch- 
land gegeben hat und wo der Deutsche im Aus- 



^) Fallstaff und seine Gesellen von Paul Konewka^ 
Text von Hermann Kurz. Strassburg. Druck und Verlag 
▼on Moritz Schauenburg. 



Digitized by Google 



— 3^9 



land nur ein verwehtes Blatt im Winde war? Es 
scheint, als wäre dieses Reich von je gewesen. 
Und doch Itess erst die f ransösische Kriegserlda* 
rung und der mit elementarer Gewalt sich voll- 
ziehende Zusammenschluss aller deutschen 
Stämme ahnen, dass es auch für uns Deutsche ein 
Gesamtvaterland geben könne* Freilich wax es 
für den Partikularimus, der alles, was vom deut- 
schen Norden kam, mit Misstrauen betrachtete, 
ein schweres Stück, sich dem so lange bekämpf- 
ten Preussen als dem kriegerischen Oberhaupte 
anzuschliessen» nicht minder befremdend erschien 
es den alten Achtundvierzigern, dass eben jener 
PreussenkÖnig, der als Kronprinz die Sache der 
Revolution blutig niedergeworfen hatte, jetzt vom 
Genius der Geschichte zur Verwirklichung des 
alten Traums vom Deutschen Rdche berufen 
wurde, und mancher sah sich durch diesen jähen 
Umschwung der Dinge völlig aus der Bahn ge- 
worfen und verkannte das lang ersehnte Gut um 
der Hand willen, die es endlich der Nation reichte. 
Nicht so mein Vater. Er war nie ein starrköpfiger 
Partikularist und nie ein zielloser Schwärmer ge- 
wesen; was er im Jahre Achtundvierzig gewollt 
hatte, das wollte er noch: kein Wolkenkuckucks- 
heun, sondern ein grosses und grossgesinntes 
Deutschlandund innerhalb desselben ein im Geist 
und in der Freiheit verklärtes, heimlich trautes 
Schwabenland. Auch Ströme Blutes waren ihm 
dafür nicht zu teuer, und freudig begrüsste er den 
Mbittem Kelch des Heils'^ Seine Augen glänzten 



Digitized by Google 



—.330— 

heller und heller bei jeder neuen Siegesbotschaft, 

und als Sedan gefallen war, fügte er seinem 

„Türtenmärchea"» das auf die £ntzweiimg der 

deutschen Stämme anspielte und mit dem ironisch 

bitteren Vers geschlossen hatte: 

Es gibt ja keinen Bruderzwist 
Und keinen Oger mehr — 

die jubelnde Strophe hinzu: 

Doch |ty den Oger gibts tat Frist 

In seiner stolzen Bibel» 

Doch der begrabne Bruderzwist 

Macht ihn erst recht ztir Fabel. 

Ein Zorn im Voile, ein JHut im Heer, 

VorUber Hohn und Spott» 

Und liebelnd reicht er uns den Speer, 

Der alte Siege sgott 

Er verargte es der Zeit nichts dass sie waif en- 
klirrend über sein Triasideal hinweggeschritten 
war, und Hess das ungreifbare schwarzrotgoldene 
Traumbild fahren für die nüchternere aber fest- 
gefügte schwarzweissrote Wirklichkeit, Als das 
Reich gegründet war, nahm er, der sonst allem 
öffentlichen Auftreten auswich, seinen Jihigsten 
an die Hand und reihte sich mit ihm dem fest- 
lichen Umzug ein. 

Seine einstigen Parteigenossen befanden sich 
in einer schwierigen Lage. W^l der Charakterlose 
mit dem Erfolge geht, mag sich mancher ge- 
sträubt haben, den Willen der Geschichte anzu- 
erkennen, nur um nicht den Vorwurf der Charak- 
terlosigkeit auf sich zu laden. Dagegen galten 
vielleicht andere für charakterlos, die ihrer 



Digitized by Google 



331 — 



wirklichen inneren Uberzeugung folgten, indem 
sie sich offen m der neuen Ordnung der Dinge 
bekannten. Die an dem alten Programm fest- 
hielten, waren von der Zeit überholt und über 
Bord geworfen. Dass sie dem» was die allgemeine 
Begeisterung f orderte;, widerstrebten und an dem 
Neugeschaffenen nur die Mängel 2U sehen scfaie* 
ncn, das umgab sie sogar mit einem Scheine von 
Gehässigkeit. Sie waren mit ihrem Volke nicht 
mehr einig und stürzten, um freilich wieder her- 
vorgeholt zu werden, als man erkannte, dass in 
einem gesunden Staatsleben eine Opposition nidit 
zu entbehren ist, weil ihre Gebilde sonst verstei- 
nern. Die Volkspartei hat denn auch diese Tage 
überdauert, nachdem sie lange die undankbarste 
aller Rollen mit gewiss widerstreitenden Empfin- 
dungen gespielt hat. Einer aber spielte sie aus 
vollem Herzen, ein völlig mit sich einig^er Cha- 
rakter, geschaffen, nur die eine Seite der Dinge zu 
sehen, unser alter Freund Hopf. Ihm blieb Preus- 
sen nach wie vor das ,^odeme Mazedonien", dem 
er „keinen Mann und keinen Groschen** gönnte. 
£r konnte denn auch seinen Posten im Landtag 
behaupten, weil der ganz Überzeugte und ganz 
Selbständige immer recht bdiält. 

Es war ^n Glück für meinen Vater, dass ihn 
sein früher Rücktritt aus dem politischen Leben 
gleich von vornherein auf eine höhere Warte ge- 
stellt hatte. Er konnte es frei und freudig aner- 
kennen, dass das Reich die Gedanken von Acht- 
undvierzig verwirklicht hatte, wenn auch in einer 



Digitized by Google 



— 33« 



zum Teil noch unf^ertigeii und verbeasciiuigab^ 
dürftigen Gestalt. In der Buchausgabe seiner Ge- 
schichtsbilder aus der Melacszeit, die 187 1 unter 
dem Titel „Aus den Tagen der Schmach" erschien» 
hat er sich noch einmal mit seiner politischen 
Vergangenheit auseuiandergesetst und von der 
Wandlung seines Innern, die eine seiner Natur 
selbstverständliche Entwicklung war, Zeugnis ab- 
gelegt Nicht alle seine Freunde haben ihn da- 
mals verstanden» wenn auch niemand wagte, seine 
Haltung zu bemäkeln, und die alten Bande der 
Liebe und Treue blieben diesmal von den politi- 
schen Lüften unversehrt. — 

£in Volk wandelt nicht ungestraft unter Sie- 
gespalmen. Die Jahre, die auf unseren grossen 
nationalen Aufschwung folgten, sind vielleicht mit 
von den hässlichsten und ideallosesten gewesen, 
die Deutschland gesehen hat* Es galt jetzt vor 
allem reich zu werden, um den neugewonnenen 
Rang nach aussen zu behaupten. Aber wenn die 
grossen Staatsumwälzungen nicht mit Rosenwas- 
scr gemacht werden, der wirtschaftliche Kampf 
ist noch minder wohlriechend* Hier fiel er zu- 
sammen mit der von ausv^lrts kommenden mate- 
rialistischen Zeitströmung, die die letzten Reste 
des altersschwach gewordenen deutschen Idealis- 
mus hinwegfegte. Dieser Idealismus war ein allzu 
innerlicher gewesen, dem es an allem mangelte^ 
was zur äusseren Kultur nötig ist. Vergebens 
hatte Goethe gestrebt, seine Nation einer brei- 
teren ästhetischen Entwicklung entgegen zu 



Digitized by Google 



— 333 



lüfaren» als noch die Mittel zu einer solchen durch- 
aus fehlten« Ehe ein Volk Kunstschätxe sammein 

und schaffen, seine Plätze und Häuser schmücken 
und sein Sichtbares pflegen kann, muss es das 
Geld dazu haben. Aber mit den wirtschaftlichen 
Interessen» die zunächst im Vordergrunde stan- 
den, ging leider eme allgemeine Verrohung und 
ein wildes Strebertum, wie man es zuvor noch 
nicht gesehen hatte, Hand in Hand. Die Uber- 
spannung des nationalen Selbstgefühls und die 
masslose Schmähung des gestürzten Femdes» zu 
dessen einheitlicher Kultur man immer noch auf- 
zublicken hatte, verzerrten vollends die edlen 
Züge des deutschen Volks; denn der Deutsche ist 
von Natur viel zu breit angelegt» um nationalen 
Dünkel zu haben, und um so schlechter steht ihm 
dieser zu Gesicht. Der Materialismus in Wissen- 
schaft und Kirnst vollendete noch die allgemeine 
Verwilderung der heranwachsenden Generation» 
die die grossen Schlachten nicht mitgeschlagen» 
aber sich an den Siegesfesten mit berauscht hatte. 
Wer in jenen Tagen ein Kulturideal in der Seele 
trug» der fühlte sich inmitten des allgemeinen 
Rausches völlig einsam. 

Diese Phase des deutschen Gdsteslebens zu 
sehen, blieb meinem Vater erspart, aber er war 
gegen die ersten Anzeichen nicht blind, und sie 
trieben ihn zu schmerzlicher Opposition. Doch er 
rechnete auf die Unverwüstlichkeit des deutschen 
Idealismus. In unserem Hause waren wie immer 
die Empfindungen geteilt. Die „violette Re- 



Digitized by Google 



— 334 — 

publik*' spielte jetst in allen Farben. Der Z^ger 
unaree Bf tttterleina wies unverrückt auf Acht- 
undvierzig. Edgar, damals im Stadium höchsten 
Brausens, erhoffte von der noch ganz jungen So- 
zialdemokratie die rasche Besserung der Schäden 
und bekämpfte in mir den ästhetischen Aristokra- 
tismus, der ihm doch selbst nicht minder im Blute 
lag. Unser Vater schwieg wie immer und liess 
den gärenden Wein verbrausen. 

An der Schwelle der Sechzig war er äusserlich 
noch wenig gealtert, die Augen bewahrten ihren 
Glanz, Gang und Haltimg waren aufrecht, die 
seidenweichen Haare noch lichtbraun und der 
Bart nicht allzustark meliert, aber auf sein In- 
neres begann sich eine Müdigkeit zu legen« 
„Wenn ich euch versorgt wüsste»" sagte er eines 
Tages, als er in der Frühe vor seinem Gang zum 
Schlosse noch zu uns ins Zimmer trat» „so dürfte 
jetzt wohl ein Morgen kommen, wo ich nicht mehr 
erwachte/' Dieser Morgen war schon näher, als 
er ahnte. 

Im Juli 1873 fand in der Lindenallee zu Tübin- 
gen die Enthüllung des Uhlanddenkmals statt, 
wozu die ganze Stadt ein Festgewand anlegte. 
Die Hitze war glühend an jenem Mittag, ich er- 
innere mich deutlich des Feuerstroms, der vom 
Himmel niederrann, denn ich kam trotz des Son- 
nenschirms mit verbrannter Schulter vom Fest- 
platz. Unser Vater aber musste der Feier mit 
imbeschütztem Haupte anwohnen und brachte 
einen leichten Sonnenstich nach Hause. Von da 



Digitized by Google 



— 335 



an war sein Befinden gestört. Eine novellistische 

Arbeit, mit der er sich beschäftigte, jagte die 
schlummernden Dämonen noch weiter auf. Die 
»»beiden Tubus'* sollten in den Novellenschatz auf* 
genommen werden, aber der bisherige Schiuss 
sagte dem Verfasser nicht mehr zu, und da in 
der Geschichte Fäden angesponnen waren, die ins 
Weite deuteten, nahm er diese auf und verknüpfte 
sie zu einer Fortsetzung, Er führte die beiden 
Jugendfreunde Wilhelm und Eduard in einem 
bedeutsamen Augenblick während der Achtund- 
vierziger Bewegung wieder zusammen, und da 
sollte es nun zu der unerwarteten aber psycholo- 
gisch höchst wahrscheinlichen Wendung kommen, 
dass der biedere daheimgebliebene Wilhelm, einst 
der Stolz seiner hausbackenen Sippe, ein Umstürz- 
ler geworden ist, den die Polizei verfolgt, der Va- 
gabund Eduard dagegen, der Auswürfling des 
, J<andezamens'^ kehrt als Methodistenprediger 
aus Amerika zurück, ist aber im übrigen der alte 
gute Kerl geblieben und trotz eines reaktionären 
Anflugs (denn in Amerika hat er sich einen 
nüchternen Weltsinn geholt, der die Unreife der 
politischen Ideale seines Freundes übersieht) ret- 
tet er nach der Sprengung des Rumpfparlaments 
durch seine Findigkeit und alte Ortskenntnis den 
immer gleich unpraktisch gebliebenen Wilhelm 
aus der Fährnis. In der erhöhten Stimmung flös- 
sen dem Dichter die Eihfälle und Bilder massen- 
weise zu, er klagte, dass er gar nicht alles fest- 
halten könne, und man hörte ihn oft allein im 



Digitized by Google 



— 33Ö — 



Zimmer laut auflachen. Aber der Gass sollte 
nicht mehr gelingen; die eigentliche künstleriache 
Tätigkeit war gehemmt, es blieb alles in chaoti- 
schem Zustand. Dieser Reiz, der die innere Welt 
in quirlende Bewegung brachte, trieb alles hervor, 
was sonst still in der Tiefe lag. Auch die Umar- 
beitung des Sonnenwirta trat ihm wieder vor die 
Seele und der Tristan. Schon während er „Fall- 
staff und seine Gesellen" schrieb, war eine ähn- 
liche Unruhe in ihm gewesen; diesmal aber nahm 
sie beängstigende Formen an. Den Hut in der 
Hand, um nch die Stirn zu kühlen, den Kragen 
gelockert und das sonst eher blasse Gesicht ge- 
rötet, stürmte er eilig geradeaus, um so rasch 
wie möglich einen Feldweg zu gewinnen. Zur 
Begleitung wollte er nur mich, und ich trug durch 
Wochen die Verantwortung, ihn von diesen Gän- 
gen jedesmal sicher heimzubringen, woran ich 
aber schon in viel zarterem Alter gewöhnt worden 
war. Die langen gescMängelten Wege machten 
ihn ungeduldig, ich musste mit ihm quer durch 
die Felder, über Gräben und Bäche, was seiner 
sonst so skrupulösen Schonung fremder Rechte 
ganz viddersprach. Immer fürchtete ich eine un- 
liebsame Begegnung mit irgend einem groben 
Bauern, die in diesem Erregungszustand eine 
schlimme Wendung nehmen konnte, allein hier 
zeigte sich jener tiefe innere Zusammenhang, in 
dem er mit der Seele seines Volkes stand: die ge- 
ringen Leute begegneten ihm, auch ohne ihn zu 
kennen, immer und überall mit instinktiver Hoch- 



Digitized by Google 




Digitized by Google 



— 337 — 

achtun^. Bewundernswert war es aucli, wie er 

stets den rechten Ton mit ihnen traf. Er stieg 
ziicht zu ihnen hinaby noch minder drückte er auf 
sie» er hob sie leise za sich herauf und hinter« 
liess in jedem, mit dem er gesprochen hatte» ein 
Gefühl beglückter Dankbarkeit. — Er selber 
nannte diese Erregungszustände seine glücklich- 
sten Zeiten, der Geist der Jugend war alsdann 
überihm^er sah alles schön; mittelmässige Verse» 
die ihm zur Zensur vorgelegt wurden, lobte er 
überschwenglich, ganz alltägliche Mädchenge- 
sichter erschienen ihm wie verwandelt, er konnte 
auf der Strasse stehen bleiben und mich auf das 
Wunder aufmerksam machen: »»Sieh nur» wie die 
Soundso sich veredelt hat, sie ist ja eine 
Schönheit geworden." Jeden begegnenden Stein- 
lachbauern stellte er zum Gespräch, und in Ge* 
Seilschaft sprudelte er von Geist und Iriebenswür* 
digkeit. Dr. Gärttner» ein feinsinniger» kluger 
und gebildeter Mann, der ihn auf einer seiner 
Wanderungen begleiten sollte, um seinen Zustand 
2u beobachten» kam «itzückt und wie berauscht 
surttck und sagte mit glanzenden Augen und ge- 
rötetem Gesicht: „Nein, dieser Mann Ist nicht 
krank, nicht aufgeregt, er ist nur gestimmt von 
seinen inneren Schätzen mitzuteilen." So war es 
diesem Geist gegeben» noch in seiner beginnenden 
Zerstörung andere zu bereichem und zu erheben. 
Mama und ich teilten aber den Optimismus des 
Hausarztes nicht, wir fühlten zu deutlich, dass es 
anders stand. Auch Heyse» der von ihr heimlich 

Itold« Kurl, HeRBMin Kim» 22 



Digitized by Google 



— 338 - 

gerufen, damals nach Tübingen kam, war betreten 
über das jugendliche Ungestüm, mit dem der 

Freund ihm auf der Schlossbibliotliek entgegen- 
Üog. Aus jener Zeit stammt seine letzte Photo- 
graphie die bald tact dem Uhlandsf est gemacht 
wurde und die von dem Andrang des Blutes nach 
dem Kopfe etwas Gedunsenes hat, das ihm nicht 
natürlich war. 

Als die Hitze nachliess» b^;ann die Aufregung 
sich zu legen, und allmählich trat eme Ermattung 
ein, die mit leiser Traurigkeit gefärbt war. An 
einem Sonntag, als wir andern einen Ausflug vor 
die Stadt gemacht hatten, kam er allein mit Alfred 
nach, und wir begegneten den beiden auf der 
Landstrasse, wo sie nach ein paar ausgetauschten 
Worten ihren Weg fortsetzten. Als ich ihm nach- 
sah, durchzuckte mich eine bÖse Almung. £r 
trug zwar den Kopf hoch wie immer, aber der 
stürmende Gang der letzten Wochen hatte einem 
apathischen, fast trägen Schritte Platz gemacht, 
und es gab mir einen Stich, dass er sein Halstuch, 
einen länglichen schwarz und weiss karrierten 
Wollschal, den er zum Schutz gegen plötzliche 
Winde mitgenommen hatte, lässig am Boden 
schleifen Hess. Dieser plötzliche Umschlag deu- 
tete mir nichts Gutes. Aber mit dem Optimismus 
der Jugend suchte ich mir einzureden, dass eine 
solche Ermattung die natürliche Folge der langen 
Aufregungszustände und Vorbote einer sicheren 
Genesung sei. 

Ich weiss nicht, wieviele Tage später es war. 



Digitized by Google 



— 339 — 



dass er über rheumatiBche Schmerzen in der 

Brust klagte. Dr. Gärttner verordnete Ruhe und 
Bettwärme. Der Herbst war unterdessen mit 
früher und scharfer Kälte eingezogen, die Öfen 
wurden schon gdieizt» und man hielt die Unpäss- 
lichkeit für eine Folge des plötzlichen Witte- 
rungswechsels. Drei Tage gelang es, den Patienten 
mit kurzen Unterbrechungen im Bett zu halten. Am 
Morgen des lo. Oktober stand er jedoch wieder 
auf, und Dr. Gärttner erklärte das Übel für ge- 
hoben. Doch blieb eine Schwere über dem schein- 
bar Genesenen und über dem ganzen Hause. Er 
selber fühlte» dass etwas mit ihm vorging, aber er 
verbarg es den Angehörigen; nur gegen einen von 
ihm vorgezogenen jungen Hausfreund, der an 
jenem Morgen Abschied nahm, um ins Ausland 
zu gehen, äusserte er sich über sein ihm selber 
unverständliches Übelbefinden« Am Nachmittag 
war ich eine Stunde lang bei ihm auf seinem 
Stübchen. Er bewegte sich matt und langsam, 
aber er bediente noch seinen Ofen selbst, wie er es 
gewohnt war, nur beim Aufrichten seufzte er tief 
und griff mit der Hand nach der Brust. Danach 
sass er in seinem engen Lehnstuhl an der Wand, 
seine Gedanken schienen über weite Strecken hin- 
zuwandem und dann wieder am Nahen zu haften; 
halb klang es wie Traum, halb wie prophetisches 
Schauen. Er sprach auch von Personen, was er 
selten tat. Zuweilen entgleiste ihm die Satzbil- 
dimg, doch blieb mir, was er sagen wollte, ganz 
verständlich. Es schien mir^ als sei er am Ein- 



Digitized by Google 



schlafen, und 50 verliess ich ihn. Die imgewohn- 
tca kalten Schwetasperlen, die ich auf amner Süm 
fühlt«, gaben mir ein Gefiibl der B^tanmung 
mit, doch ahnte ich nicht die einbrechende Kata- 
strophe. 

Edgar holte mich mit einem Freund 2um Spa* . 
aterengdien ab; man hatte mir Bew^^ung ver- 
ordnety wdl seit Wochen eine dumpfe B^higsti- 
gung mir den Schlaf nahm. Der Hausarzt hatte 
noch kurz zuvor wiederholt» dass jede Spur von 
Gefahr beseitigt sei, und so ging ich. Es war ein 
schneidend kalter klarer Herbstabend* Auf dem 
Rückweg zwischen Lustnau und Tübingen kam 
uns der sechzehnjährige Erwin entgegengestürzt 
und rief uns die Todesbotschaft zu. Dann 
sprang er über den Strassenrand und verschwand 
in den Wiesen, Einen Augenblick standen wir 
starr, und ich war völlig ausserstande, das Gre- 
hörte zu glauben. Aber Edgar schnellte auf und 

rannte blitzschnell der Stadt zu — er war schon 
Arzt und kannte den Tod. Wir andern folgten in 
atemloser Eüe. Wir fanden den Entseelten im 
Bette liegend, ein Lächehi der Verldärung im 
friedvollen Antlitz. 

„In voller Manneskraft wünschte ich plötzlich 
abzuf ahren» ehe das Alter mir ein schwäc h li c hes 
Unterducken aufnötigen kann,'* hatte Hermann 
Kurz einmal als Jüngling in sein Taschenbuch ge- 
schrieben. Diesen einen Wunsch wenigstens hat 
dem Vielgeprüften das Schicksal erfüllt. 

Er hatte bald nach meinem Weggang sür 



Digitized by Google 



34X — 



Ruhe verlangt. Die Mutter war ihm beim Ent- 
kleiden behilflich gewesen und hatte ihn schlafend 
verlassetiy um nach ihrem gleichfalls bettlägerigen 
Jüngsten zu sehen. Nach emer Weile horte sie 
einen erschfitternilen Schrei^ der aus des Vaters 
Dachkammer drang. Sie flog die Treppe hinauf, 
da sass er aufgerichtet im Bett, kurze konvulsi* 
vische Schreie drängten sich aus seiner Brust» die 
blauen Augen rollten und strahlten noch einmal 
das intensive dunkle Feuer aus, für das sie in der 
Jugend berühmt gewesen, so dass der unheimlich- 
schöne Anbhck sich der einzigen Zeugin trotz dem 
Schrecken auf ewig einprägte, Sie rief» nach Jo- 
sephinen und als die Flinkere von beiden flog sie 
selbst nach dem Arzt, der in der Nachbarschaft 
wohnte, aber ehe sie nur auf der Strasse war, 
hatte er den Kopf auf Josephinens Schulter sinken 
lassen und war, von der Getreuen unterstützt, 
verschieden. Das Herz war ihm zweimal mitten 
durchgerissen. — Die Leichenöffnung, die am 
II. Oktober stattfand und bei der sein Soim Edgar 
den Mut hatte, zugegen zu sdn, erwies auch die 
chronische Entzihidung der Hirnhäute, durch die 
die oft berufenen Nervenstörungen erzeugt waren. 

Dass wir seinen Lieblingswunsch nicht er- 
füllen und nach würdigem Brauch der Vorzeit den 
entseelten Leib der Flamme übergeben konnten, 
fiel uns allen schwer aufs Herz. So weit war die 
Zeit noch nicht fortgeschritten. Am 12. Oktober 
musste der Sonnenfrohe in die dunkle Erde ver- 
senkt werden. Das Begräbnis fand, wie es der 



Digitized by Google 



— 343 — 



Absicht des Verstorbenen entsi»racht obne geist- 
liche lütwirkiing statt» dodi waren in dem langen 

Trauerzug, an dem die ganze Stadt teilnahm, 
gleichwohl beide theologische Fakultäten voU- 
sählig vertreten. Auch der Glockenklang, den er 
geli^ hatte, fehlte nicht auf sdnem letzten W^» 
nur der Männerchor mit seinem Bardenlied 
„Stumm schläft der Sänger" konnte der Ferien 
halber nicht zusammengebracht werden. Sein 
einziger Bruder rief dem Entschlafenen den 
Scheidegruss ins Grab, und über den Dichter 
sprach J. G. Fischer schöne weihevolle Worte. 
Eine trauernde Muse erhebt sichauf seiner Schlum- 
merstatt^ von hohen Tannen umgeben» ihrem 
Sockd ist ein Relieflnld des Verstorbenen von der 
Hand seines Sohnes Erwin eingefügt. Hölderlin 
und Uhland sind seine Schlafgefährten. So er- 
wartet er seine Auf erstdiung im Geist und Herzen 
des deutschen Volkes. 



Digitized by Google 



Grabmonument des Dichters in Tübingen 

(wurde nebst der umgebenden Anlage im Jahre 1906 von 
der Stadt zu dauernder Erhaltung und Pflege übernommen) 



Digitized by Google 



Personenverzeichnis 



* Alexander von Württemberg 
nOff., lAL 
Auerbach, Berthold 199, 203. 

Baechtold, Jakob 97, IM. 

Bacmeister, Philologe 292. 

Baer, Fräulein von 248. 

Bassermann 12Q. 

Bauer, Ludwig, Dichter 232. 

Becher, August, Rechtskon- 
sulent, Mitglied der Na- 
tionalversammlung 173j ISO. 

Bertha, „Tante« 239, 243^ 
284, 298. 

Bilhuber, Edmund 31, 52^ 
53j 82. 

Bilhuber, Luise ^ 63. 

Bodenstedt, Friedrich von 303. 

Braun, Julius 2^ 

Brehm, Helfer 32. 

Brockhaus, F. A., Verlags- 
buchhändler 8L 

Brunnow, Familie von 14. 

Brunnow, Freiherr Anton 
August von 130 ff^ 166,230, 
232, 252, 258. 

Brunnow, Eva Maria von 135ff. 

Brunnow, Siegfried von 130. 

Buttersack, Stadtpfarrer 199. 

Byron, Lord 52^ 285. ^ 

Cornelius, Peter 2^ 



Cotta, Freiherr von 78, 79, 

STj 89j 90. 

Dannecker, Bildhauer 134. 
Dillen, Graf von, Staats- 
minister 132. 

Faber, Stabsamtmann 39. 
Fetzer, Rechtsanwalt 186. 
Finkh, Gottlieb, Literat 61, 166. 
Fischer, IL, Professor ^ 

104, 113. 
Fischer, J. G. 6, 342. 
FrankhscheVerlagsbucbhand- 

lung 92, 212, 267. 
Freiligrath, Ferdinand 283. 

Friedrich, König von Württem- 
berg 130. 
Fries, Bernhard, Maler 284. 
Fues, Buchhändler 88. 

Gärttner, Gustav, Dr. 321, 
337, 339. 

Genschowsky 302. 

Qeroldsohn, Verlagsbuch- 
händler 303. 

Goldoni 252. 

Golther, Kultminister 298. 
Goethe, Johann Wolfgang 23^ 

32, lOTj 121, 332. 
Günzler, Hermann 6L 



— 344 — 



Hallberger, Verlagsbuchhänd- 
ler 48, TL 

Hartmann, Repetent 33, 40. 

Hauff, Wilhelm 93. 

Hausmann, Julius 04. 

Hebel 12SL 

Hecker 12a 

Hertz, Wilhelm 284, 

Heine, Heinrich 143, 299, 

Hesse, Max, Verlag ß. 

Heyse, Paul 1^ 2, 3, 28, TT, 
127, 170, 172, 197, 222ff., 
284, 286, 325, 332. 

Heyse, Theodor 285. 

Hoffmann, Verlagsbuchhänd- 
ler 82. 

Hölderiin, Friedrich 10^ 50ff., 

143, 342. 
Homer 143. 

Hopf 176, 186, 235 ff., 277, 33L 
Hornstein, R. von 285. 
Hugo, Victor 125. 

Janke, Otto, Verlagsbuch- 
händler 19& 

Josephine, Dienerin im Hause 
Brunnow und Kurz 138, 
139j 141^ 145j 146, LSOff., 
167, 169, 217, 226,229,230, 
256, 258j259j 263, 279, 34L 

Kari V. m. 

Kari, König von Württem- 
berg 80. 

Kaspert, Marie 60. 

Kausler, Rudolf 2^ 58, 59 ff., 
65, 73, 79, 93, 105, 181, 
196, 213, 265, 268, 269, 270, 
273, 302. 



Keller, Adalbert 61^ 181^ 274^ 
293. 

Keller, Gottfried 2aL 
Kenngott, Pfarrerin (genannt 

Frau Dote) 25, 26, 28^ 33» 

35, 39ff., 57, ßSff. 
Kemer, Justinus 105, 110, 

113, 114, HL 
Kemer, Emma 1 14. 
Kinkel, Gottfried I8a 
Klüpfel, Schwiegersohn 

Schwabs, Universitäts- 
bibliothekar 300. 
Konewka, Paul 326 ff. 
Kömer, Theodor 33. 
Kramer, Walburg 20L 
Kugler, Klara 285. 
Kurtz, Albert 24. 
Kurtz, Gottlieb David 20, 25. 
Kurtz, Franz IS. 
Kurtz, Hanns 15, 17, 19. 
Kurtz, Johannes, Glocken- 

giesserei 17. 
Kurtz, Johannes, Senator, 

Grossvater des Dichters 19. 
Kurtz, Hermann 19. 
Kurtz, Michael 12. 
Kurtz, Sebastian 16. 
Kurz, Alfred 220, 253, 257,^ 

280, 281, 312ff., 338. 
Kurz, Edgar 169, 193, 214» 

215, 221, 229, 232, 244, 252, 

255, 281,286, 312 ff., 340, 34L 
Kurz, Ernst 27, 98, 106, 159, 171. 
Kurz, Erwin 114, 233, 253» 

314, 340, 342. 
Kurz, Garibaldi, 253, 274» 308. 



d by Google 



345 — 



Kurz, Heinrich, Literarhisto- 

rilcer !L 
Lenau, Nilcolaus 110, U3^ 

116, 143. 
Leins, Inhaber der Franckh- 

schen Buchhandlung 213. 
List 20. 

Mathy 120. 

Mayer, Karl, Dichter ^Q, 

Mayer, Karl, Sohn des vorigen. 
Landtagsabgeordneter 128, 
175, 182, 185. 

Maupassant, Guyde 205. 

Meidinger, Verlagsbuchhänd- 
ler 188, 196, 

Menzel, Wolfgang 32. 

Merhoff, Karl, Verlagsbuch- 
händler 303. 

Meyr, Melchior 285. 

Meysenbug, Malwida von 148. 

Mittnacht, Ida von IIS. 

Mögling, Hermann 61. 

Mohl, Robert von 36, 

Mohr, Pfarrer 72^ 211. 

Mohr, Pfarrerin 2Ö. 

Moltke, Baron 238. 

Moore 52. 

Mörike, Eduard 9. 22^ 73, 86, 
95ff., LLL 125, 170, 171,237. 
Mörike, Klara 107. 
Mozart, Wolfgang Amadeus 

Napoleon 130, 232. 
Nikolaus, Kaiser von Russ- 
land 17Q. 
Nittinger, Dr. 280. 



Oetinger, Wilhelmine von 132» 
Oetinger, Oberstleutnant von 
134. 

Paulus, Eduard LL 

Pfau, Ludwig 120, 127, 164, 

174, 202, 292. 
Pfeiffer, Germanist 300. 

Rapp 49, 55. 
Reinfelder, Pfarrer 20. 
Rieger, Oberst 164. 
Rieger, Baron von 242 ff. 
Rieger, Franz von 244 ff. 
Römer, Minister 170. 
Rommel 210. 
Roessler von Oels 232. 

Saueriänder, Veriagsbuch- 

händler SL 
Schack, Graf von 86. 
Schauenburg, Moritz 328. 
Scherber 40. 
Scherr, Johannes 216. 
Schiller, Friedrich 10, 20, 87. 
Schnitzer, Kari 176. 
Schramm 24, 22. 
Schubart 87, 164. 
Schwab, Gustav 79, HO, 113^ 

176, 

Seeger, Adolf 186. 
Seeger, Ludwig 61, 176, 186. 
Shakespeare 303, 322. 
Silcher 4. 

Simanowitz, Malerin 135. 
Stockmayer, Dr. 211^ 
Strauss, David Friedrich 40^ 

54, 237. 



d by Google 



— 34Ö — 



Tafel, Rechtsanwalt 02. 
Thumb, Familie von 143. 
Tiek, Ludwig 105, ZHL 

Uhland, Emilie 295u 
Uhland, Ludwig 47, 48, 49, 
110, 113, 176,294,334, 342. 

Vischer, Friedrieb, Theodor 
37,55,56, 103, 147, 237, 238. 



Waiblinger, Wilhelm UL 

Weigle, Gottfried &L 
Weisser, Adolf 126, 177, 251. 
Werner, Gustav 2^ 
WilhelmI.,KönigvonPreussen 

Zeller, Eduard 30, 52, 55. 
Ziegler, Theobald LL 



d by Google 



Im gleichen Verlage erschien 1905: 

Im Zeichen des Steinbocks 

Aphorismen 

von 

ISOLDE KURZ. 

S\ XVI u. 287 Seiten, geh. M. 5.—, geb. M. 6.50. 

Von den vielen glänzenden Besprechungen, 
die das Werk gefunden hai^ mögen hier einige 
wenige Platz finden: 

Isolde Kurz hat ihrer Aphorismensammlung Jim 
Zeichen de» Steinbocks'' das JMetto ▼orangesteUt: 
»Quand voas traitez un sujet^ 11 n'est pas nteessalre de 
l'dpttlser, il sufflt de faire penser.** Dem kitigen Worte 
Montesqaleus entsprechen die klugen Worte der Dichterin: 
sie regen zum Denken an. Diese Aphorismen sind 
geschrieben mit der Freude am Denken, mit einer 
objektiven und doch warmen Freude. Und die Klugheit 
Isolde Kurz' ist eine leise, feine Klugheit. Scharf und 
sicher sondert sie ah, was überflüssig, mit festem Griff 
löst sie heraus, was wichtig ist. Wohltuend, einfach und 
kräftig folgt die Sprache den Gedanken, im schönen 
Gleichmass sich haltend, wie die Griechen, die Lehr- 
meister der Dichterin bildeten. Man liest selten 
solch gutes Deutsch und man geniesst es in einer 
Zett^ die den michtigen Steinbau unserer Sprache mit 
buntem byzantinisch-orientalischen Mosaikschmuck Ter* 
«ieren wil^ wie den Harzduft des Tannenwaldes» wenn 
man aus einem Treibhaus kommt. 

.Fiankfürter Zeitung*, 17. Mal 190&. 

^Isolde Kurz' neues Buch „Im Zeichen des Stein- 
bocks'^ zeigt von einer Reife des Geistes, von einer 
inneren Selbständigkeit und reinen Harmonie, die geradezu 
staunenswert sind. — Ich müsste endlos zitieren, um 
eine Vorstellung von dieser Persönlichkeit und ihrem 
Buch zu geben. 

Lese es, war es irgend kann! 

£. von Kupffer in dem »Internat Kunst- u. Theateranzeiger.'' 



Digitized by Google 



Das Buch bedeutet eine Philosophie, ein Glaubens- 
bekenntnis vom Dasein des Menschen, seinen Höhen und 
Tiefen, seinen Fehlern und Tugenden, seinen Idealen und 
seiner Gegenwartsbetätigung. Kürzer oder länger gehalten, 
fein ziseliert, klar und scharf, führt uns Isolde Kurz 
ein Leben vor und bannt ihre Aussprüche und Darlegungen 
in folgende Kapitel: Allgemeines vom Menschendasein, 
Mann und Weib, Aus der Welt des Herzens, Vom Kinde, 
Ethik und Rhythmus, Von der Sprache, Von Genius, 
Poesie, Kunst und Künstler, Unter Menschen. 

«Norddeutsche Allgemeine Zeitung^ 18. Januar 1905. 

JE.S ist ein tiefer und gebildeter Geist, der hier zu 
uns redet. Alles in allem ein Buch, das jeder Gebildete 
mit Interesse lesen und dem er manni^ache Anregung 
danken wird, zweifellos eine der bedeutendsten Aphorismen« 
Sammlungen, die je von Frauen geschrieben worden sind.* 

M. R. von Stern in der »Deutschen Welt**. 

„Wo wir den inhaltreichen Band aufschlagen, ist er 
fesselnd und feinsinnig; unerwartete und ungewohnte 
Schlaglichter wirft er nach den verscliiedensten Gebieten.. 
— Reicbe und dauernde Anregung dürfte Jedermann In 
der eigenen, eingehenden Lektüre der Sammlung finden; 
sie Ist ein Buch, das man nicht einmal durcMiest, sondern 
zu dem man wie zu einem guten Freund zurückkehrt.*^ 

«FrauenberuL* 

yDas schöne Buch verdient eine ausführliche Wür> 
digung. Es kann den Aphorismen der Ebner-Eschenbach 

«ur Seite jesiellt werden. .scbwlbtoeh« Tafwadit- 

I, — Hier wie in allen Kapiteln vereint sie Verstand 
und Gemüt bei Ihren Reflexionen, die eben dadurch Ihren 
besonderen und originellen Reiz erhalten, dass sie allent«^ 
halben bei aller Tiefe der Oberzeugung In echte Folie 
der poetischen Empflndimg gefesst erscheinen. Für alle, 
welche Menschen und Dinge nicht nur mit dem Auge 
des Materialisten betrachten, sind diese Aphorismen eine 
wahrhaft herzerfreuende Lektüre. 

»Literar. Zentralblatt* yom 17. Mal 1905. 



Digitized by Google 



In gleichem Verlage erschienen die Werke von 



Wilhelm Fischer in Graz: 

Sommernachtserzihlungen. 2. Auflage. (Eine 

Sommernachtstragödie. — Eine Brautfahrt. — Das 
köstliche Kleinod. — Eine alte Liebesaventiure.) 
Geh. M. 4.—, geb. M. 5.—, 

Der Mediceer und andere Novellen. 2. Ausg. 

(Der Medice er. — Die Hochzeit der Bagiionen. — Mutter 
Venedig.) Geh. M. 3.—, geb. M. 4. — • 

Unter altem Himmel* 2. Auflage. (Der Kdnlg im 
Bade. — Ein Mirchen vom Glficke. — lagvar und 
Ingrid. — Schicksalsweg. — liebeszauber. — Die 
Rebenbickerin.) Gell. M. 3.— , geb. M. 4.—, 

Grazer Novellen. 2. Auflage. (Frauendienst. — 
Das Licht im Elendhause. — WastL — Fruhlingsleid.) 
Geh. M. 4.-9 geb. M. 5.-~^. 

Die Freude am Licht. Roman. 10. Tausend. Geh. 
NL 4.—, geb. M. S,— . 

PoetenpbiloSOphie. Eine Weitanschauung. Geh. 
M. geb. M. ^-—a 

Hans Heinzlin. ErzUiiung. Geh. m. zso, ^b. m. a.5a 

Königin Hekabe, Tnuefsplel in 5 Akten. Geh. 

M. 3.—, geb. M. 4. — . 

Lebensmorgen. Erzählungen. Mit Umschlag von 
IL WinckeL Geh. M. 4.—» geb. M. 5.—. 



Digitized by Google 



Einige Urteile über Wilhelm Fischers Werke 



Lebensmorgen 

Ats der Spitherbst kim und es nötig wurde, abends einzuheizen, 
da las ich mir meiner Frau an den ersten stillen Ofenabenden eioe Geschichlo 
▼oo Eicbeadorff, und als sie fertig war, sagte meiaeFrau: »Diese Art gibt 
«• doäh dienilich gar nimmer, heutzutage*. Et I« IM&eh «In« 99 «dtM«» 
wte feliie An, iber doch liabM «neb heatsiitacff Dfehter eiw» davos, 
vmA keiner mehr ai« Wllbelm Fischer aus Gre. Dieser hat IQngst dm 
neues Buch herausgegeben; es helsst , Lebensmorgen" und enthält kleine 
mirchcnbaftc Geschichten von Kindern. Sic sind auch für Kinder, aber 
noch mehr fQr die Allen, die es ndtig haben, den verlorenen Sonnenglanz 
der cmea Jofcad mf Unwcgflu wieder tu encbea. 

Be gibt Erslbliinien, dem Inbalt men mit belld»lgen Worten aedi- 
eniblea kaon. Des ist bei Fischers Geschichten unmöglich. Er schildert 
wcnijrer die Dinge, sls den feinen goldigen Duft, der dariiber liegt Darum 
ist auch der stoffliche liüialt seiner ErjahlLmgcn, so Kchon lt isf, nicht 
das Wesentliche. Fischer ist so ein stiller Weiser, den auch Kinder ver- 
etefaen kAnneii, aber vir Erwachaeae bfitea Ihn eidit minder lern. Wae 
er eniblt, iet «ne dnerlel, denn «es une de Gewlm ane adnen BQehera 
bleibt, das bleibt uns auch, wenn wir den «Inhalt* langst vergessen haben, 
^ir vergessen ihn, obwohl er schSn und meisterhaft erzählt ist; aber was 
wir nicht vergessen, das ist die Atmosphäre dieser Bücher, die sonnig 
(»Ideae Lull» In der afe aiasen. Wae Ue(l am Inbdt daer Geedilditel 
Ob tvd vOm DIebter eifandene Mcaediea einender lieben oder niebt, ob 
seine Helden Glück oder Pech haben, was liegt nne im Grunde daran? 
Aber dass wir heim I esrn rin Tiefes Gcfiihl vom Men<!ch?nleben hnhcn, 
uns wie beim Anblick der Berge und des Meeres als dankh;ire C'.ästc auf 
Erden fühlen, den biauen Himmel über uns haben und die crbarmlicbea 
Kleintgkdtea dee Tateelebene vergeeeen und überwinden, dM Iet etwae 
▼eeenbaftee, Groeaee, daa lat mehr ale Zeltveitrdb und angenebme 
Unterhaltung. 

Es gibt Bücher, deren Lektüre Arbeit ist und Kräfte raubt, und 

andere, weniee, deren I.eVtiire FrhAlung und Iimgwerden bcdeutet| ^ tiwd 
von dieser Art ist der cbcnsmorgen* von W ilh Irr. Fischer. 

Hermann Hesse in der N. Züricher Ztg. vom 13. 11. 05. 



AI» ich mich bis dahin durohi^tirbe tLr hattL, war ich müd in der 
Seele geworden und konnte niclit mehr weiter. Aües Licht in mir war 
erieeeben. Da hat es mir 'AicJer ein Mann angezündet, mit stillen und 
teeeaneten Hlnden imd leb will ihm daftlr danken. Der Mann bdeet 
Wilhelm Fischer in Graz und sein Buch helsst »Lebensmorgen". Es Ist 
do Wunder von einem Buch. Ich habe noch nie so tief die Heraene» 



Digitized 



reinheit eines Manngs und seine künstlerische Keugchheit empfunden, wi» 
bei Fischer. Tausend Sonnenstrahlen hat er da eingefsngen und den Duft 
«ines gsQzen Frfihlliigt. E« «Ind Mlrehra und «lad es wiedir sieht* 
Betpreehen ksan idi de ateh^ ele tiad mir «n gut. Neua GetehiehMi 
von Kindern In aller Herzenseinfalt und mit der groesea, einfachen Kunst 
aus einem reichen Herzen hingeströmt, dfe ^anz, gsnz selten ist, das Ist 
ein rechter König; alles ist erfüllt von einem sonnigen und liebevolien 
Wesen, das Icleinste Getcl>4i»r seugt heimlich davon, dsss Gott ia ihm ist. 
Uad diram Iti e« deahMg aad stols aad fromm : Gesaadhelt aad tebeaa- 
firaade ia treuem Bunde. Eine goldi^^c Luft flimmert diria, die aus 
tiefstem Gnmdc wohltut und alles Kleine und Urtce^iinde tötet. Ein 
frisches Bad kräftigt und reinigt. Wilhelm Fischers Buch tut mehr. Fs 
wirict und schafft in einem fori, man legt nacii jeder Geschiebte das Buch 
Mb aad lidieit Idae uad Khlleatt die Aafea aad glaubt wieder aa dia 
Meaaehaa. Idi machte allen, die ich lieh habet dlciea Bach tchenlten. 
und vollends allen, die krank sind und mühselig und beladen; es hat 
Heilkraft, es bringt zur Genesung. Als ich die Geschichte vom Haus der 
Wicbtel las» meinte ich, der Dichter sitze mir gegenüber und halte meine 
Haad ia der aelaea aad enihle aiir lelao aad ttchelad. Das ist so scböo 
aad heilig, ao aabertthr^ maa wird Iroh aad liebelt mit uad steht auf 
aad tat elaa gute Tat. 

Wilhelm Fischer Ist ela Zauberer. Maa verbat, dass es grosso 

und feine Kunst ist, w^nn er erzählt, man hört nur 7ti und j»enief;st, und 
lebt mit, vvenn der Greifenprinz Toni vom Baum herunterspritu;t, um vor 
Gundi zu treten, die ihm eine grünseidene Fahne zu sticken verspricht, 
dsmit er sdae Jungensehlseht schlagea aad aachher stolx uad sisgroidi 
mit sdaea Getreaea aa Ihrem Haas aufcldiea kaaa, mit elaem sabtaea 
Marschlied auf den Lippen. Was für gutige, glänzende Augen voll Sonnen- 
schein muss das »schneewclsse Friuleln* haben, da sie unmerklich den 
Fräst und die Nandl zu schönen und guten Kindern aufzieht, nicht mit 
Wortm oder Lebrea, soadera mit dea iarfadiiAea Zartheltea des Herzeas, 
die aawiUhfirileh das Beste aas dem Grnad der Seele benaasehüptea. 
Und was für eine goldene Reife liegt über dem «Sehioss dar Praa SoaaS*, 
ia das der Simerl hineinkommt, da er stirbt. 

In diesen Geschichten liegt echtes Gold ; man braucht nur zuzu- 
greifen, um es eiy:en /u haben Tür immer . Das ISt Cia Buch^ff&I^MCBSChgl 
die Schönheit mit dem iicr^en su chL-n , 

Dr. L. Finckb in den Propyläen vom 15. 12. 05. 



Vor Gottfried Kaller Hebt, vird aa Wilhelm Fiseher aleht varilhsf^ 
gdisB dOrfea. 

H. St. ia eiaer Bespreehaag der »Basler Naohrlohtaa** 



Leichter, belier, frttbllcber (als Jdra Uhl) ist das Vesea elaes ahd* 
daatsfihea Batwieldaagsroaiaas, dea Wilhelm Fisdier ia Gna uater dem 
heseidiacadea Titel .Die Freade am Ueht* vcrdflbadldit. Es Ist dao 



Digitized by Google 



Licht' und Stwunuut* ^mH rie mit «»loh»» wmtehttWBrIleheii GlMttm 



«H Ffettde und Son ac tdt l»ni^ alclit In uose ref Literatur lebeüdfe W- 
awcht wurde. Die Woebe. 



FOr ledea Kritiker, der ee eraat uad gat melat mit itaaerer deutaehei 

Literatur, Ist ea ein erhebender Moment, wenn er plötzlich auf ein Werk stöast, 

das der Zeit angehört und zu den Akten der LiterafurRCSchfchte gelegt werden 
darf. Ein solcher Festtag war es für den ReFeremen, als er ^Die Freude 

am Licht'' las und geooaa, das hier mit Recht an erster Stelle steht und 
■einen Titel In mehrfacher Weise verdient. Man freut sich in den }etzigeii 
Zeltliaften, la deaea die Bplgoaea des Haturtlleave die Sbllehea Mode- 
orgien feiern, schon ganz ehrlich über iedea Funken und jedes FlSmmchen ; 
bei Wilhdm Flecher la Gra« kommt man wirklich zur »Freude am Licht*» 

Literarisches ZentraihlstL 



Es ist Immerbin ein selten Ding, wenn man heutzutage auf eines 
Roman siteat, der ^iebsam kdnertd Betlehuatm hst la slledem, 
was an Brttdero um Ihn herum ist. Fortwihrend musste ich an dea 

. Heinrich von Ofterdingen" denken, als ich die „Freude nm Mcht" las. 
Man wundert sich de'^ Ruches »nd gewinnt e<i lieb; man erfreut sich hier 
an einer reinen Linie, dort an einem schönen kräftigen tr euherzi gen Wort, 
Das Reine und Treuherzige gibt überhaupt den Grundton. Maa meint 
wohl, dieser Fischer müsse eigentlich ein Lyriker sein, der alles» was er 
Bichl la Verse bead oder biadea koaaie^ hier In Prosa niederlegte. Seine 
Spreche hat oft eine sehdne Falles ste lisst steh Zdt and hastet nicht. 
Und wenn die Gestalten Such später verschwimmen, so hat man wie von 
einem Gedicht doch etwas anrttckbehsiten; ejiner^ncJJifenheit der Seele 
eine schöne Melodie. 

Csri Bttsse In der Deutsehea MonstssArÜi. 



Hsrras« & Zismsen» G. m. b. H., Wittenberg. 



Digitized by Google 



Digitized by Google