Übe
germanischen
Versbau
Andreas Heusler
Übe
germanischen
Versbau
Andreas Heusler
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SCHRIFTEN
r
ZUR
GERMANISCHEN PHILOLOGIE
HERAUSGEOEBEN
vo»
BR. MAX ROKDIGER
A. O. PB0PBB80B AN DESITNIVBBSITXT BERLIN.
SIEBENTES U£FT:
ÜBER GEHMANISUHKN VERSBAU.
VON
ANDREAS HEU8LEB.
BERLIN
WEIDUANKSCHB BUCHHANDLUNG
18M.
ÜBER
6£ßMANI80H£N VERSBAU.
#
VON
ANDJiEAiS HEÜSLEK
BERLIN
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG
1894.
1^"
\. Digiii^uu by G(.)0^l
Meinem Freunde
Dr. Julius bcliultz
^ugeeignett
Uebersicht
Kap. L Allgemeines zur Verslehre 1— öO.
Geteiltheifc der metmchen Ansichten 1; die Sicversscbcn Ilhytlmion
des S'talireittiverses 2; «roritioroiid* — ..takticn-oiid'" T» ; Si)ii'i ln'ers (5; Vor-
tragsfroiheitpn 9; absoluter und o«r.a.sioii«'ll("r Kliyfliiiius 11; Rrücken exat-te
Methode 12; Eliytbnius im ^'esuii«,'Ciiou und im gesprochen on Verse 12;
Unterschiede des Vorti'ag:es bo<lin«;6n keine luetriscbo 2SwetteUun<,^ 16 ; Au*
Wendung auf den Stabroimven 16; Spreehvers der Griechen 18; Allg^emoinheit
des metrischen Taktes 18; — Rhythmos 20; mctri-srhor Rahmen und sprach-
licher Inhalt 22; Bestandteile des Grundniarses 24; Takt. Taktwechscl 24;
Taktgesnhlecht 26; Taktzahl 28; Vcrsmiluno' 29: ihre Hauptarten 30; der
Auttakt 30: dfis Versinnerc 32; tiuine iSilbonzahl 32; Rhythmisioruiiy^ di s
Takiiuhttkes 34; die Cadenz 31; ihre Dreiteilung 35; einsilbig- und xvvei-
sUbig^ToU 35; einsilbig» und sirei«ilbig4tampf 30; Differensiorung der Ca-
densen 87; der Alexandriner 40; Gadenxfireiheiton im deutschen Volks-
liede 42; die KindersprQche: Stellung zum littorarischen Vri han t3; ihre
VersfUllung- 46; — Rhythmisierung toter Verse 48; Statistik uud rhythmische
Deutung 49.
Kap. II. Metrische Streitfragen S. 61—92.
Zweitakttbeurie 51; Contraste der Zeitwerte 52; Wilhelm .Jordan 53 ;
Abhängigkeit des ersten Verstaktes vom zweiten 55; ütumpfor und klingender
ScUuss sind t. T. fanctionell gleichwertig, ab« rhythmisch venchieden 57;
der Anftakl ist mehr oder wenigw gebunden 58; seine SilbenMhl nnt^iegt
nur graduellen Distinctionen 60; gegen den Begriff der „Eingangssenkung"
Ol ; der Auftakt wird nic ht willkürlit'li iroliaridliabt ßl*; die kliiiy-eiidc^ Messunir
ruht nicht auf (niiem sprac'iü' bon Xebeiitou der EndöilbL'ii (33; sio g-eht auf
deu UiTcrs xurück 64; liuyLkmiaierung dreisilbiger Wörter im Ver.sschluss
65; bei Otfrid und im fHlhmhd. Vevs 65; lang H- unbetont ab Füllung des
Sehlusstaktes 67; romanisebe Einwirkung 68; akatalelctiache Vene im
Yolkaliede 71; Zengni^s der lateinisch-germanischen Mis :hdichtuii<; 72 ; Das
FQiiftypensystom und die Zwoitakttheoric 74: du.s auf dio „( iliodiT^ahl" go-
griludete Krkläruugspriucip 75; epische Vorüo, die sich ihm entziehen 75;
Kapitel I.
Allgemeines zur Verslehre.
Die Darstellungen des Versbaues in Pauls Gnmdrisa der
germanischen Philologie und das gleichzeitig herausgegebene Buch
von Sievcrs, Altiifermanische Metrik, stellen eine baldige Einigung
dei metrischen Theorien nicht in Aussicht.
Der Beweis dtlrfte erbracht sein, dass keines der heute ver-
tretenen Systeme über Argumente vorfügt, die jeden logisch
Denkenden zu seiner Aiiii;ihme nötigen könnten, lieber den stab-
roiraenden Versbau und, im Zusammenhang daiait, auch Uber
einige dei' wichtigsten Probleme der Reimverscntwickliin^' kann
man, wie 55ieh j,^czcig1; hat, bei dem Stande unsrer IJeberlieierung
und unsrer' Kenntnisse sehr verscliiedeuer Ansiciit sein.
Doch haben uns die genannten Schriften, wie ich glaube,
dem Ziele näher gebracht, dass eine Klärung der Gegensätze
erfolgen könne; dass man sich der Grundsätze bewust weixle,
deren It^iiliinng in den verschiedenen metrischen Lagern anerkannt
wird. Wie wünschenswert dies ist, zeigt die Polemik der letzten
Jahre. Sievers, S. VTIT der A]tf,^erm. Metrik, vorwart sich ^a!gen
die Ansprüche, die man vom Standpunkt der „aligcmeuien Rhyth-
mik" an seine frühem Aufsätze g-estelit hal>e, und gibt zu ver-
stehn, dass er über all^^emeinc Kliytlnnik anders denke als seine
( Jegner. Unigekelirt führt Sievers zui- Verteidigung der eignen,
zur Wide)l(»j(nng der andern Theorien Argumente vor, die viel-
leicht nur tui' iini selbst Beweiskraft haben.
Jetzt, wo die Sieverssche Theorie ans der mehrdeutigen Un-
bestimmtheit des bisherigen Fünttypeusystems herausgetreten und
Heniler, Qwm. V«n1>M. i
2
Kapitel I.
rhythmiscli j,nein>ar g"eworden ist, wird eine Aiiseinantlorsetzung
leichter möglich. Es hat sich gozoi^rt, (la."<s ein Teil dci* Iviiwändo,
die gegen das Typensystem vorgebracht wordon sind, im 8inno
von Sievers gegenstandslos waren, wei! man 8icvci-s Aposioposen
in einer von ihm nicht gewollten Richtung ergänzte. Dnich die
neueste Darstellung durfte seine Ansicht vollständig und klar
genug entwickelt sein, dass die Kritik nicht mehr zu flU'cUten
braucht, in ihi-en Gegenstand Fremdes hineinzutragen.
Aof^erdem aber Ist durch das Sieverssche Buch, insbesondere
den Teil über Entstehung und Rhythmus des Stabreimverses, der
principieUe Gegensatz gegen alles, was man auf andein Gebieten
der Versgeselüchte an metrischer Methode glaubte anerkennen zn
sollen, derart verschärft voi-den, dass man sich wol nachdrück'
lieber als zuvor die Frage vorlegen wird: kann mit diesen Grund-
sätze weitergebaut werden? Eine entschiedene Spaltung der
verswissenschaftlichen Piade schemt mhr an diesem Punkte un-
ausbleiblich. Nidit in der Hollhung, dieser Spaltung vorbeugen
zu können, sondern mit der Absicht, eine bestimmte Position zu
umschreiben, deren Berechtigung mir nicht widerlegbar erscheint,
versuche ich auf den folgende Blättern die Voraussetzungen zn
skizzieren, die die Verslehre, wie ich glaube, als ihr gutes Recht
in Anspruch nehmen darf. Wenn ich dabei an Darlegungen von
Sievers anknüpfe, so ilenke ich dadurch meinen entgegengesetzton
Stiiiitii)nnkt schneller und klarer präcisieren zu können; eiiu' all-
seitige Kritik der Sieversschen Metrik .stiebe ich nicht an.
Die Rhythmen, die Sievei s in der Agerm. Metr. § 168—180
dem epischen Stabreim vei*se zusclneibt, sind höchst eigenartig.
Es gibt meines Wissens in de»* Vorsgeschichte aller Völker und
Zeiten kein irgendwie veigleichbai'cs CJegenstttek dazu. Das zu-
meist Bezeichnende liegt in folgenden Punkten.
Es bestehn keine bestimmten Zeitproportionen.
Die einzelnen Ver^lieder stehn zu einander in irrationalen
Allgonolnes zur Verslohiv.
Zeitverhftltnissen, z. B. die SÜbengrappe Typns CX /|>^v
hat den Rhythmus , ,
# i # #
1 Ii 1
d. h. die zweite Silbe Imt den rhythnüschea Wert: ein Viertel,
vermehrt um ein Unbestimmtes; die dritte Si)be hat den Wert:
ein Viertel, vermindert um ein Unbestimmtes.
Diese irrationalen f und f» treten auch in den T}^peji I) und
E aal'. Aach die Typen A und 11 soUea, nach der m § 172
gegebenen Ljigauz.uiig, als
aufgefasst werden. Aber auch die mit sclilichtem • bozoiclnietrn
rhytlimisclien Glieder dürfen offenbar nicht budistäbüeh aJs Viertel
genommen werden; denn wenn z. B. der Vers
pefrun fuBfäon
das Schema
0 0 0 0
1 I I I
erhält, so wäre es doch wol schwerlich nach Sievers Sinne, wenn
wir, in j^^etreuein Anschluss an dieses Sclieina, die f/e- 0)
länger aashielten als die Silbe ha'f- i). Also auch die
VorsL^ieder, die ia einfachem f ihren Ausdruck linden, sind nicht,
oder nicht immer, als Zi it werte fixiert.
Den irrationalen Cliarakter dicker Rhytiiiueu — d. h. die
Al)wosealu'ii von einfachen und feststehenden mathematischen Pro-
purtiunen — bestätigt Sievers ausdrllcklich mit den VV orten (§ Kii) ):
„In bestimmten Notenwerten lassen sich diese VerschiebanLn ii der
Quantität natdrlicli nicht ausdrücken, da Uu* Mals im eiuzeiuen
von rhetorischen Factorcn aljiidngt . .
Die erwähnte Eigentilmlichknlt srliliel'st notwendiger Weise
das Vorhandensein des inetiischeu Taktes aus; d. h. Zeit-
abschnitte von geregelter Dauer und geregelter innerer Gliederung
existieren nicht.
Und damit hängt wider unmittelbar das Dritte zusammen:
es ist nicht müglich, bei diesen Rbythmisierungen einen metri-
1*
4
Kaiiitel I.
sehen Eahmen, der einheitlich uod unvoriinderlich wäre, zu
onterseheiden von der verftnderliclien, von Zeile zu Zeile wechseln-
den Vorsfttllnng, Diese Begiilfe sind auf Si(!vors Hliythmen
nicht anwendbar. Die verbindende metrische Einheit fehlt den
Versen — seihet wenn wir uns auf die nach Sievers „viei'gliedrigen**
Verse beschränken. Zwei Schemata wie etwa
haben keinoii rhythiaiöchen Kern, der beiden «gemeinsam wäre.
Denn mit der abstiacteii Tatsache, dass in beiden Fällen vier so-
genannte „Gliodei'' vorhanden sind, ist keine dem rhythnii.scheu
Sinne warnehrabaro Einheit gegeben. Man durfte nicht etwa
das Schema # # # #
i I 1 i
als gemeinsßhaftliche Grundform hinstellen; denn dies liefe ja
wesentlich auf die alte Vierhebungslehre hinaus l — Ueberdies
beschränkt sich ja die Minderzahl der Gedicdite auf diese „vier-
gliediigen" Verse.
Weiterhin ist als ei^entdmlicher Zug, dem ich aus andern
metrischen Systemen nichts ^cL'onllber zu stellen \vil<te. dieser zu
erwähnen: die rhythmisclien (Jhoder eines Verseij üben eine
gegenseitige veilängernde oder verküi-zcnde Wirkung aus. Z. B.
in dem Typus E ^ f ^
erfährt das zweite Glied -hord einen verkürzenden Etnfluss von
Seiten des vorausgehenden wordf, einen dehnenden Einfluss von
Seiten des folgenden Gliedes on-; s. Agerm. Metr. § 169, 3.
Gegen diese rfaythnüschen Gonstructionen, die mir wie ein
künstlich ausgedadites Mosaik von lanter Unmöglichkeiten vor-
kommen, im einzelnen Ejinwtnde zu erheben, halte ich für zweck-
los. Wol aber lohnt es dch, die Voraussetzungen zu
prüfen, die zu dieser Art der Rhythmisiei ung geführt haben.
Wenn wir fragen : weshalb hat Sicvers dem epischen Stab-
reim veise keine bestimmten Zeitpioportionen, keinen raetriselieu
B ffft und
^ ^ \
^ fffr
worähorä onleac
AUgememw sur Venlelure.
5
Takt, kein einheitliches Grandinals zuerkannt? so lautet die Ant-
wort: weil Sievers den epischen vStabreimvers für einen Sprech -
vers, nicht fllr einen Gesangsvers hält Alle die geiuuinten
Eigenscliafteu aber sollen nur dem gesongenen Verse zukommen.
Man erinnert sieh, dass eine ähnliche Zweiteilung wie hier
zwischen „Sprechvers'' und „Gesangsvers'' von Sievers zuerst in
dem Aufsatze Beitr. 18, 121 ff. (1888) befürwortet wnrde. Es
heifst dort S. 127: „Wir besitzen jetzt zwei grundverschiedene
Vortragsweisen, die ich aJs die recitierende und die tak-
tierende bezeichne will. Die erstere herseht beim knnst-
mäfsigen Spreehvortrag, d. h. hi drar Becitatlon und Deda-
raation'*. „Dem gegenüber herscht die taktierende Vortrags-
weise allgemein im Gesang; aal!berhalh desselben finden wir sie
auch im gesprochenen Kinderlied und ähnlieh gebauten volkstüm-
lichen Sprüchen." Auf S. 127 Note wird gegen Stolte aus-
drücklich l>emerkt, dass der streng taktierende Vortrag auch auf^er-
halb des Ciesanges vorkomme.
Was in diesem Aufsatz als „taktierend" und „recitierend"
gesondert, wurde, das stellt sirh jetzt, in der Agerm. Metr., als
„Gesangsvors" und „Sprechvers" geg-eniiber. Man sieht, die
beiden Contrustiei iingen decken sich niclit ganz. Wenn Sievers
Agerm. Metr. § 5 die erhaltenen Stabreimepen als gesprochene
Dicht luif^ zu enveisen sucht und daraus unmittelbar den frei
recitativischcn Vortrag folg-ert, so steht dieser S<;hluss mit
den angeführten Aeufserungen nicht im Kinklang, weil diese
eben auch aufserhalb des (iesanges streng taktierenden Voi"trag"
einriUimen. Ich lege auf diesen Widerspruch kein Ciewiclit und
erwähne ihn nur deslialb, weil melirere Stellen der Agerm. Metr.
den Gegnern tatsächlich nicht gehegte Irrtümer zuschreiben: wer
gegen den takt freien Vortrag protestierte, der soll den ge-
sprochenen Voitrag in Abrede gestellt haben.
AGform. Metr, 8. 6 o., S. 179 wirf gwKgt^ MOUw babe sieb den AUIC-
torationsrers „zu allen Zoiton nur g-esungen" gedacht; er habe den Ueber-
gang zum Sprochvortratr cfelfttii>Tiot; damit vorgloicho man Möller, Zur ahd.
AUitt(!rati()iispo('si(' S. 128 Note: „Meine Accentsetznng bezieht sich überall
auf den gesungenen oder im Takte rocitiorten Voxü^' uud boäunders K:>. 168 ;
6
Kapitel I.
„Wir wissen, dnss in England dem allitterierenden Volksepos ein blofs
gesagtoe ttlUtterrarendes K^nstoiM» gefolgt i^t, und auch der nieder-
deotscbo Heliand üit der blors gesagten Kunatpoesie «oioaKblen . . . Wir
wissen aber darum docb nidht mit Sicherheit, ob die Vortragsweise dos
jüngeren altenglischen Kunstopos und der jün^reren flpiitsiln-n AUittc-
mtionsponsio bereits zn einer nicht tnktii rciKlnu gcwoideii, oder ob der
jüiigero Allitterationsvers im Takte ruciriert oder gesagt worden ist,"
Agorm. Motr. § 165 wird in der Tatsache, dass im westgcrmauiscbon Verso
die syntelttisRbcn Eiiisdinitte verwiegend in die Mitte der Langseile
ÜEtllen, mit Recbt eine llesUUigang des gesprochenen Vortrages orblicitt
nnd daran die Anmerkung gcsoMosscn : dieses Stilprincip sei von Hirt
und mir isrnoriert worden; damit crlp'ÜLT'" -irli die Kritik, die ich Acta
Ciorm, 1 DS an dem Fünftypt-nsystcni'! ireübt hiitto, denn — die Nicht-
berücksichtigung prin< ipicll wichtigor Fragen liege rein auf meiner Seite.
Dass der Stabreimyers gesungen war, batte icb nicht einmal fttr den lijtfda*
hAttr Toransgesetzt ; vollends den Beowulf oder den Heliand als gegangen
zu denken, ist mir nie eingefallen. I(;h hatte 8i;hleobterding8 keinen An->
la-ss, jenes allbekannte Stilprincip dos Langanlcn-EnjambomeDts heranzu-
ziehen. Nicht für den ijfpsnniretirn Vers, srindern für den taktierten Vrrs
war ich eingetreten, und wa^t ich gegen das Fünftyponsystcm vorbrachte,
hat sich mit keinem Worte auf Oc»ange.svortrag berufen.
Jene Scheidung- von „recitierend" nnd „taktierend" jralt zu-
naU'list der Vortragsw eise: die erste Art „bring^t vorzugsweise
den mit dem Versrliytlimus sich verschlingenden natiii-liehcn Satz-
rhythmus zum Ausdruck'' (Beitr. 13, 128); in der zweiten Art
„wild die taktmäfsige (ihedernng der rliythmischen Reilien in den
Vordei-i^ruiid gestellt" (ebenda S. 129). Aber Sievors erhob sofort
den Unterschied der Vortragsart zn einem Unterscbiede des
A^'ersbaues. Die Verse, die recitiej-end vorf-etragen wenlen,
sollen auch ihrer metrischen fcStructur nach ihre Eigentüm-
lichkeiten haben; ebenso ihrer-oits die Verse, die taktierend vor-
getrasren werden. Damit war nicht blofs für die Praxis des Vor-
tragenden, sondern auch für die Theorie des Metrikers die Zwei-
teilung ..taktierend'* nnd „recitierend" aufgestellt. Sievors konnte
also beispielsweise die Frage anfwerfen, ob der Vers Otfrids, ob
der Stabreim vei's taktierend oder recitierend seien (a. a. 0. S. 133 If.),
Und den Stabreim vers stellte er zu der recitieratiden Klasse.
Demgemäfs finden wir nan ia der Agenn. Melr. den Begriff
„Spre divers" (der, wie wir salieQ^ an die Stelle von „roci-
Allgemeines lur Verslehn.
7
tierend'' getreten ist) als Scliirin iiiid Scliild der neuen Rlivtlmii-
siernngen in das \'ürUertroftV^n i,^estellt. An zahlreiclion i^idUm
beruft sich Siovors auf dm „Spreclivors" als auf die stützende,
tragende Voraussetzung seiner Tlieoi-ie.
Man vcrf^loiihe Ii. Aperm. Motr. 8. IX: \v(Mai dorn Flitittypeii-
ü^steoi gcgonüber (in stMiier Fassung his zum .luiire 1892) constatiert
worden war, im» es Ausdrucke wie „libytbmuü, rhythmische Typen'* por
abusuni gebnueho, dft es nicht den Rhythmns auch nur einoa einxigeo
altgeraianischen Verses fixiert hattet), so erwidert Sierers: er habe „einen
Vors, der alle typischen inneren Konnzeichen des Sprochrerses an sich
trägt, nicht als Cü sanf^svers nnsshandelt" I — S. '> wird gegen Amolting be-
merkt, (lass eine .Silbe als Trägerin zweier Hebungen M-tk giffrusindf)
beim taktmUfsigcn (Josan»,' statthaft aei, d. h. also im Sproclivcrs un-
statthaft. V gl. die Aoiirsorungon S. 6: dann die eingehende Erwägung
in § 5, was sieb ttber die Vortragsweise altgermanischer Poesie rennat^n
lasse: die erhaltene epische Litteratar wird als nicht gesan$?en aui^fasst;
der Oodankengang liinft auf die Spitze zu: nicht go,suii<,'cn — folglich
(frei reoitativischor) Sprcchvors, nicht gleichmllfsigo Taktgli^derung').
Dann § 6: (b-r Sprech vers bosirzt kein Takrj,»esrhler]it, mehr Freiheit,
das Tonip«» zu wnrhseln. „«teigend« ' und „tallciule" FUfi>o zu verbinden.
§ 141: der Kernpunkt in der Hypothese von de>r Entstehung der Stab-
reimrhjthmon ist der Uebcrgang „vom taktmltlhigen Gesangr aum S prech«
vortragt*; dies wird ausgeführt § 158 IT.
Sievers Ansicht lUsst sich so zusammenfassen:
So lange der germanische Vers gesungen war, be-
safs er jene drei metrischen Eigenschaften: rationale
Zeit Proportionen, metrischen Takt, einheitliches
Grundmafs. Durch den Uebergang zum Sprechvers
giengen diese drei Eigenschaften verloren. Es entstanden
* jetzt die irrationalen, taktfreion, des einheitlichen Rahmens ent-
S. '28 f. gibt dii s Sit vt rs. mit andern Ausdrücken, 7m.
-) Befremdlich ist die in § 5, 4. 5 gezogene Fnl'^ernni,' : im lu ntigen
Isliindischon bozeichnof h'eda, nach Viirfiisson, „the rliapstidii iklivery of a
hallnd (nma), half rc( itiiii: half singing"; „es liegt keintiniml vor ', sagt Sie-
vers, „tür dsus kvata der älteren Sprache eine erheblich andere licideutung an-
znsetxeii"; folglich wurden die Gedichte, fftr die das h9$ia gilt, „nicht gleicli-
niftfisig faktiorend" vorgetragen! Ist denn der Vortrt^ der isl. rUuwr als nicht
takti'Mi nd bcstoiigt? Oder allgemoiiicr: legt ein halb rn( itinronder, halb ein-
li^ender Vortrag nicht gerade die Annahme nahe, dass der Taitt rerh<niss-
mttfsig schart' markiert werde?
Digiii^uu by G(.)0^1c
8
Kapitel I.
belireiiden Rliythnion, die wir voi liin Ö. 2 1. charakterisiert haben.
Ein Beispiel: Die Typen C und D sollen vor dem üeber-
gang zura Sprochvers diese Rhythmen besessou haben:
0 \i'\t\t\t
D I (J\t\f\t
Man siebt, wie die bewusten drei Eigeiudiafton liier vor-
handen sind:
beetimmte Zeitproportionen : f nnd also 1:2; metrisoho
Takte i f f | = Vi-Takt; einiieiilieJiee Grimdmars der Verse,
nttmlidi
irn-rnrnr
(= vier %-^rakten), das erst durcli den sprachlichen Inhalt seine
Dilfcrenzioriing zu den zwei Typen C und D erlant^t.
Damit vergleiche man die oben S. 3. -4 angefdhrten Schemata
für C nnd D nach dem Uebergang zum Sprechverse; es zeigt
sich, (iasi die drei Eigeuschaftcu abhanden gekommen sind.
Zu beachten ist noch dies: Sievers fasst den „Ueberganf^ zum
Sprechvortrag" als einen liLstorischen Vorgang, — als einen Vor-
gang, der einmal ireseliehen ist; dessen relative Chronologie sich
bestimmen lässt. Nicht als einen Proccss, der sich täglick widei-
holcn, der täglich rückgJingig gemacht worden konnte.
Als Sicvers jene Zweiteilung ,, taktierend" und ,,recitiorend"
aufgestellt und den Stabreimvers mit „sicherer Negative" aus der
taktierenden Zone verwiesen iiatte, da erhob sich mehrfacher
Widerspruch. Die Opponenten — Möller, Hirt, Fuhr, Lawrence,
ich selbst — bemühten sich wabrsctieinlicb za machen, dass die
Stabreim vei-se im Takte vorgetragen worden seien; sie verteidigten
die Ansicht, die einst Scherer in die Worte gefasst hatte: „Der
Rhythmus wird je weiter zurück, desto stärker hervorgehoben
sein"; üebcrgang zur freien Eecitation gehört immer jungen Ent-
wicklungsstufen an u. s. w. Ich halte diese Meinung zwar auch
jetzt noch im grofsen und ganzen für zutreffend. Aber das punc-
tum Sailens ist, wie mir scheint, nnr flüchtig gestreift worden
(von MOller S, 155 Note, ^ von Fahr S. III). Die Sie*
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
AUgwnflines cur Verolflbre.
0
veisschen AufsteUangen sind voo andrer Seite her als irrtümUcli
nachzuweisen.
Ist CS riclitig, dass wir im heutigen Versvortrage — denn
von diesem ist Sievers ausgegangen ~ zwei Arten, z%voi Grade
der rliythmischen Genauigkeit unterscheiden kOnnen? Sicherlich
nicht. Es gibt unzähUge Grade.
Denken wir uns als das eine Extrem, nach der streng
metrischen Ausprftgung hin, Lieder, die zum Marsche gesungen,
Kinderstrophen, die zum Gehn gesprochen werden; femer Chor-
gesänge ttberhaupt (wo die Gemeinsamkdt zur rhythmischen Strenge
nötigt); — das andere Extrem, nach der freien, das Metriun ver-
schleiernden Seite hin, bildet der heute tlbliche Vortrag auf der
Bohne; der Vortrag, soviel ich beobachtet habe, des berufsmäTsigen
Declamators. Zwiscim diesen beiden Extremen finden wir eine
ununterbrochene Kette von Uebergangsstnfen.
Eine KunstdicJitnng wird stilrkor ..seantliort" vom Seiiiller,
der seiiiü Aufgabe hoisa^-t ; metrisch freier, subjectiver gesprochen
vom Erwachsenen, der privatim das Gedicht geniefst; nach
Bildung, (xeschmack, Temperament, augenblicklicher Stiiunuing
wird ein und dasselbe Stück bald straff gebunden, bald luckercr,
bald declamaturi.scli IVei gesprochen werden. Nicht minder treffen
wir im Gesänge alle erdenklichen Stufen motrischer (Jenanigkeit:
einerseits erlaubt sich der einzelne Sänger mehr Freiheiten
(Atempausen, ausdrucksvolle Dehnungen, Ritardandos, Act^ele-
randos) als die Silnger im Chore; anderseits wird das Kunstlied
in der Regel weniger strafif rhythmisiert als das Volkslied; inner-
halb der beiden Gattungen aber machen sich die gleichen indi-
viduellen Eigenschaften geltend wie heim Sprech Vortrag und
bedingen, hier wie dort, Schattierungen der Genauigkeit in nicht
bestunmbarer Anzahl.
Die Sache liegt keineswegs so, dass alles Gesungene auf der
Seite des streng Taktierten stünde. Das kunstmäfsige Euizellied
und die Arie werden überwiegend so frei behandelt, dass kaum
eine Folge von vier, fünf Takten die Zeitproportionen beibehalt,
die in Notenschrift auf dem Papiere stehn. Der Sprechvortrag,
10
Kapitel I.
aiK'li in (Ii i- Kuiistdiclitung, kann loirlit vien Gesaug an Bestuumt-
heit der motrischon I^lastik tlberbieieii.
Also der sinir(Mulon wie dor sprerhonden Reprodnction von
Vei^sen laiis.süu wir eine beliebige Anzalü von Genauigkeitsgraden
zuerkennen. Aus dieser grolsen Manigfaltigkeit zwei Arten
herauszugreifen, eine principielle Zweiteilung zu begründen, ist
willkürlich.
Und nun stellen wir die Präge: liefern denn diese verschiedenen
Vortragsarten verschiedene Vorsmaise? — Die Frage ist ohne
Besinnen zn verneinen.
Wenn wir uns den „Krlkünig" auf drei xVrten vorgetragen
denken: zuerst pedantiseli scandiert, dann mit mäfsiger Freiheit,
endlich entfesselt niieh Ali, der Declamatoren — welches wird
die Wirkung auf den HOrer sein? Wird er den ErlkOnig in di ei
verschiedenen Versmafsen zu hören glauben? Selbstverständlich
nicht; sondern er wird die drei Male^ unbewust, den nämlichen
Rhythmus innerlich reconstruieron; was ihm die genaue Scansion
des ersten Voi-ti-ages nnmittelbar zuftUirte, das wird er ans der
Verschleierung des zweiten und dritten Vortrages mittelbar, durcb
eine unbewuste Schöpfung semes rhythmischen Sinnes, lieraos-
lösen.
Und wie hätte sich der Metriker, dem die Fixierung des
Versmafses oblSge, dazu zu stellen? Er wttrde nicht dr^ Metra
fttr den ErlkOnig aufzeichnen, sondern das eine Metrum, das der
erste Voiirag matliematisch scharf zum Ausdruck biuchte, wälirend
es der zweite und dritte Vortrag konstleriseh discret „diurchblicken'*
liefs.
Eine Bachische Arie, noch so kOnstlorisch frei gesungen,
wird niemals zu dnem Bachischen Recitativ, sondern behält immer
ihre festen Zeitproportionen, die der rhythmische Sinn wamimmt,
und die die Notenschrift matliemaßsdi fixiert.
Ich darf an den Ausspruch von Scherer erinnern: „Es gibt
einen ideale Rhythmus nnd einen realen^ (z6DS.' 598). Der
reale ist der im einzelnen Falle producierte, — den nnser äuTseres
Ohr vernimmt; den man mit dem Phonographen oder dem Hrtlcki-
schen Kymographion autfangen kann; der bedingt ist durcii das
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
Allgemeines stur Teralelire.
11
vortrairf'nde Snbjtnt untl die aii*(onl)lickliclien UnivStände: wir
können iiin auch den occasioncUen Kliytlunus nennen. Der ideale
Rliytlimus ist der vom Dichter t^fosotzte, - den nnser inneres
Ohr d. h. unsro rliytlimisohe Empliodung auffasst, eventuell re-
eonstruiert; der befreit ist von den subjectiven Zutaten des Vor-
tiagenden und des Augenblicks: er könnte aucli der absolute
Rbythmos genannt werden.
Durch jene erwähnten manigfachen Vortragsartea werden Air
ein nnd denselben Yers sehr viele reale Rhythmen ei'zengt. Aber
aus allen diesen Varianten wird der eine, constsinte Rliythmus,
der ideale, herausgehört').
Diu iie\v'e^am«((Mi, di" tlm Ivliytlnnns erzeii<j:en, iuiterlie«ren
natnrgemäls pliysikalisclicn Gesetzen; dalier ist jeder Rliythmus
von der einen Seite pliysikaliseh be.stiminl)ar. Iiulcui nnser !?e-
wüstsein die ubjeetiv bpirren/-ton Hhytbnien auriiimnit. werden sie
zu einem iiinern Kliythmcnbilde umgearbeitet. Dabei macht sicii
ein psychopliysiseher 1^'aclor geltend, der „rhytlnuisrhc Sinn",
der mit körperlichen Functionen im Zusammenhang steht. Ks
ist der Factor, worauf die Existenz des metrischen d. h. des ge-
ordneten Rhythmus der musischen Künste nnd unsre Empfäng-
lichkeit für ihn beruht; J*ulsscidag und Atem sind die pUysio-
iogiscliea Keime der Rhytlnnopoiia. Man kami, was Seherer als
realen nnd idealen K]i}i;bmus contrastierte, als physikalisch be-
stimmten und- psychophysisch verarl)eiteten Rliythmus
sich gegenlU>er stellen. Der Rliythmus als psychophysisches Phäno-
men hat seine eignen Gesetze: zehn nnd mehr physikalisch ver-
schiedene Rhythmen können psychologisch als die nämliche GrO&e
appercipiert werden.
Man wird nicht bestreiten, dass es die Verslehre mit dem
idealen Rliytlimus (dem absoluten, dem psychophysischen Phänomen)
') üas.s der Vortrags siageiid odor qHDchend, in freier Bohandlttiig so
weit gelin kann, iIph vom Compojiisten oder Dichter g«8Ctztcn motrisi-lion
Illiythniu:^ viillip- in ['rosafniitnll tnif/tilöscn. <n\n- ilns-ä or, ans Altsidit od*'!' T'ii-
kenntnins, einen andern, vom Aiu«ir uwUt ^^»wolUcn, niotrisüüoii Hhytlmuis
ausprägen kann, das ist für unsro Frajfe ohm Bedeutung.
12
ZU tun hat, — iiicbt mit dem roalon (üccasionclleü, pliyüikalLbcii
bcstimmbarou).
Der Motrikcr will nicht cnnittnln, wie ein Vors vom Schau-
spieler X oder vom Dct lamaiur Y in dem und jonem Auj,'enblick
vor^o'tra^^en wurtU'. soiuicni in welelier Form er vom Dichter
gedacht worden ist und vuiii Jlörer euipfiiiulcn werden soll.
Für die Motrik als solche ist es biHlcutungsloR. ob die alt-
srcrmanischen Hcldendichter, die norronen Skalden, die raittel-
allerliclien Mnnehe und Spielleute, ob Hans Sachs, ob CJootlie ilire
Vpi'so ^Uvug taktii'icnil, weniger streng, ziemlich tivi, sf^hr frei
vurt rubren. Alles dies berührt das Wesen ihrer ViM-sniiilse nicht.
Wer dem hier A n<:edeutoteii beistimmt, wird auch diese
weitem Folgerungen ziehen:
Die exacte Methode Ernst BrUckes — das Aufzeicimeii
gesprocliener Versrhythmon mit Hilfe eines Apparates — kann
der Metrik keine endgiltigea Ergebnisse verschaffen: denn bei
diesem Verfahren kommt nur der jeweilige reale Rliythmus mit
allen sanen ZufilUigkeiten zur Darstellung; von dem idealen
Bbytlimiis, wie sieb ihn das rhythmische Empfinden herauasehAlt,
erhalten wir kein Bild. Weshalb auch der Satz von Brttcke:
der Yersrhythmos könne nicht in Notenschrift, nur unter dem
Bilde mer Wellenkette mit gldchen Abstünden der Wellengipfel,
dai^gestellt werden, für die Verslehre keine Giltigkeit hat
Zwischen dem gesungenen und dem gesprochenen Vers-
rhythmus dnen grundsätzlichen, die Natur des' Rhythmus be-
rührenden G^ensatz aufzustellen, ist nicht durclifahrbar und ver-
wickelt in die grüsten Schwierigkeiten. Unter andern ist
Rudolf Westphal widerholt für einen solchen Gegensatz
eingetreten (Theorie 6i&t mus. Kfinste der Hellenen 42 ff. 49.
III 1, 1 ff. 32 f. Aristoxenos von Tarent, Melik und Rhythmik
IT (1R93), CXLVI ff. Allgera. Metrik S. V u. ö). Er sagt
kurzweg: „Der gesagte Vors hat nur Vorsfülsc, aber er hat keine
Takte . . „nur dei- 'I'akt ist eine messbare Zeitgrörso": „die
Zeitdauer des einzelnen Versfufses entzieht sich dem Bewustsein*.
In diosei' SchrolHieit werden iiielit viele Metriker den gessprochenen
Vers täle (^u^|o des metrischen Taktes bei-aubea! Mit voUem
Allg«nMtinM sar Verslelire.
13
Rechte statuiert Paal in seiner DarsteUnng im Grondriss den
Takt als die essentielle Eigenschaft aller und Jeder deatseher
Boiniverse, auch der modernsten, kunstmäf^tgsten Sprechverse
(s. 8. 909 f. 956). Jene Satze von Westphal ignorieren vollständig
die Grundbedingungen, worauf die Wirkung des geordneten
Rhythmus beruht Wenn wir den rhythmisohen Abschnitten im
ge^jpiochenen Verse die messbare^ dem Bewustsein zugängliche
Zeitdauer absprechen — wodurch wirkt dann der gesprochene
Vers als geordneter Rhythmus?
Westphals Behauptungen mllsten notwendig zn der un<:e-
lieuerlicheu Annalime filhien: der Rhythmus dos gcsprüiheuen
und der dos j,''esun^^ciieii Verses hal)en iwicli Entstehung und
Wirkung verschiedene psycliophysischi' Lchonsgesetze. — Wenn
man Westphals Ansicht im einzelnen prüft, sieht mau sofoit:
der wichtige Untoi schied zwisclien dem occasionelh^n und dem
absohlten Hiiytiunus ist üim nicht klar ircwoidcn; er constatiert,
dass der Vortrag niclit genau taktiert, und schheist daraus, dass
dem rccitierten Verse das Princip des n'aktes mangle! Vgl. z. B.
die Stelle Theorie u. s. w. I 44: „Versucht man ein Gedicht so
zn lesen, dass etwa die lange Sylbe den doppelten Zeitumfang
der kui*zen hat, so wiiti die Declaraation aulserordentlich
pedantisch klingen, wird im höchsten (irade maniriert und
unnatarlich erscheinen". (Jewiss! und um das Pedantische zu
vermelden, sacht eine kanstlerische Declamation das staii«
mm^n - • '
durch allerlei iucomtneusuiablc Zutaten und Abzdge zu
mildern; aber der rhythmische «Sinn scheut vor dem ..Pedantischen"
nicht /urück; ihm siiul die einfachen Proportionen das (icsuchto,
und er w eils sie aus allen Verschleierungen heraas zu finden.
Was die Berufung auf die Griechen betrifft, so kann ich
nicht mit Westphal glauben, dass Aristoxenos die xotd to moov
|vM^}iot xp<{vQt dem recitierten Verse abgesprochen habe. Die
in III 1, 2 ff. erörterten Stellen aus der Harmonik des Aristoxenos
scheinen mir zweifellos mit Henri Weil (dessen Aulfassung a. a. 0.
bekämpft wird) auf die Tonhöhe zu beziehen; vgl Graf,
Digiii^cu by Google
14
Kapitel I.
Rytbmns und Metrum, Marburg 1891, S. 37. Und der Ans-
drack « ev pAsiatxj tarr<;|j.3->o; yjf^z stellt docli nicht den Rliyth-
mos der ^m^fr^ lukmhoiii in Gegensatz zu dem der fttvjj hsr^ot^,
sondern bezeichnet dea Rhythmus der gesammteo tt/vti (iQ'jondJ
gegenüber dem der Xi^tc, der natttrlkhen, ungebundenen Rede. —
AuBjerdem sieht sieh Westphal selbst sofort genötigt, jene kate-
gorischen Sätze zurhek zu nehmen (III 1,12): wenn zum Spreeh-
vortrage des Schauspiele» die Ellinge des Aulos, der Kithara
oder die Orchestik hinzutraten, dann hatten selbstverständlich
auch die gesprochenen Versfhfee Zeitwerte, die sich nicht „dem
Bewustsein entzogen'' 1
Ein Gedicht kann, gesprochen und gesungen, identischen
Rhythmus haben. Ich wäre in Yedegenheit, hm Gedichten wie
„Ich hatt' emen Kameraden" oder ,Gott erhalte Franz den
Kaiser^ und unzähligen andern zu sagen; der gesprochene
Rhythmus ist so, der gesungene so; ich vermag sie mur, ge-
sprochen oder gesungen, gar nicht verschieden vorznstdlen.
Vorausgesetzt ist natürlich, dass der Tonsetzer kdne andre
Foim wählte, als die dem Dichter vorschwebte. Anderseits kann
es leicht geschehen, dass ein Gedicht, indem es seine urspi-ang-
liehe Melodie aufgibt und dem Spi'echvortrage anbeim fällt,
andere Rhythmen annimmt. Beispielsweise kann „Ach, wie
ists möglich dann, dass ich dich lassen kann'' statt seiner
gesungenen Rhythmen
beim Sprechen die Form
•^rpriffrirrri-cf I
annehmen. Also Verschiebungen der Versmaße beim
UebergangB vom Singen zum Spi^hen können unter den ver-
scliiedensten Bedingungen eintreten (vgL Stolte, Metr. Studien
S. 18 ff.). Alleui, die auf diese Weise entstandenen Spivchvers-
Rhythmen entziehen sich nicht etwa den allgemeinen Gesetzen
des metrisch-musikalischen Rhythmus; sie sind ihrerseits wider
musikalisch darstellbar, in eine Melodie fassbar, wie an dem an^
geführten Beispiel klar wird: ich könnte den Rhythmus des
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
Allgwneines inr Verslebre.
15
gesprochenen »Ach, wie ists mOglieh dann'*
rjrirrn---
olino Schwieri<(keit in einer neuen Melodisienin^ beibelialten (man
die 7s-'i'^kt-Molodie dieses Liedes in Erks Liederhort Nr. Tg i.
Ks handelt sich in dc'rarti<ren Fälh>n um einen Wechsel im
Versmafse. Aber VersmaCs a und b sind gleicher Weise metrische
(irül'seii: und will nuia den metrischen Rhythmus „musikalisch"
nennen, so ist die (^esproclienn) Form b ebenso wol musikalisch
wie die (iresungeno) Vown a. Sollte der Sprechvorti'ag seinen
Rhythmus b weniger genau ausprägen, so tastet dies seine ideale
(psychopliysisch bedingte) Form nicht an -— kann ja doch auch
(l(>r (iesang seine l^orm a auf alle Weise frei behandeln, ohne
dass sie ilirer nielrisclien (Uiedcrung verlustig gienge.
Ferner kann eine \'ei'sart. wenn sie aus dem Dienst«» der
gesungenen in den Dienst der gesproeheniMi Dichtung übeigeht.
ihre Versfullung anders regeln. Ein anerkanntes Heispiel dafür
möchte der frlihmittelhoclideutsche epische Vers sein: er ist in
der Füllung des Auftaktes, des Versinnern imd der Cadenz unge-
bundener als der Otfridische. Auch an den fünffttlsigen Jambus
in der Lyrik und im Drama darf man (Minuern. In solchen
Fällen ist — im (iegensatz zu den zuerst besprochenen — das
mctmehe Gruudmai's unverändert geblieben, aber die VersfAUung-
ist im gespi-oehenen Veraie eine andere als im sangbaren. Es
kann auch hier keine Rede davon sein, dass der gesprochene
Vera auf andern metrischen Grundlagen rahe.
Damach wird es nicht missdeutet werden, wenn wir unsre
Ansicht in dem kurzen Satze formulieren:
Zwischen dem Bhytlimus des gesungenen und dem des
gesprochenen Verses besteht kein grundsätzlicher Unterschied.
Indem ich zu den Hioverssehen Ansichten, die unsern Aus-
gangspunkt bildeten, zurttckkehre, muss ich zunäclist betonen:
es war ein Trugschluss, wenn Hievers seinem Gegensatz von
„taktierender" und „recitieronder" Vortragsweise einen Gegen-
satz von „taktierten'' und „recitierten** Versen und Versarton
beioixlnete (s. o. S. 6). Der absolute Rhythmus jeder Vers-
1«
Kapitel L
art kann mit vielen oder wenigen, starken oder schwachen
ocoasionellen Modificationcn vorgetragen werden. Graduelle
Unterschiede des Vortrages bedingen keine principielle Ver-
schiedonhoit des Versbaues.
Schon an den von Sievere fT3eitr. 13. 128 f.) angcfiilirten
noudoutschcn Beispielen lässt sich dits misslichc seiner Zwei-
teilung zeigen. Verse mit „Synkope dei" Senkung", also ein-
silbigen Takten, sollen zu der „taktierenden" Klasse gehören.
Aber wird denn etwa der erste Faustmonolog, Künstlers Erde-
wallen und ähnliches (wo wir manche einsilbige Takte treffen)
von unsem Scliauspielern oder auch nur von gebildeten Laien
„taktierend" voi*getragen? Umgekehrt können auch die Verse mit
regelmäfsigem Weehsel von Hebung und Senkung sehr wol
taktierend vorgetragen werden. Nach bievers wären z. ß. alkäische
Strophen in die ^iieoitierende" Klasse zu stellen; Brdcke hat
sie taktierend gesprochen und mit seinem Apparate bestätigt, dass
er sie taktierand sprach. Und sollen wir glauben, Goethe habe
seine Stanzen nicht taktierend empfunden und gesprochen? u. s. f.
Würde denn Sievers, wenn er das metrische Schema irgend einer
„recitierenden" nendeutschen Versart aufzeichnen sollte, eine
Form, die nicht takthaltig wftre, aufstellen?
Die Beobachtung des lebenden deutschen Versvortitiges
gibt kdnerlei Anhalt dufOr, y^recitiierende" d. h. nicht
taktierende, des metrischen Taktes entbehrende Versma&e
m statuieren. Will man aus der Menge der verschiedenen Vor-
tragsarten zwei als gegensätzlich herausgreifen, so ist damit doch
keine Zweiteilung fElr den Versbau, also auch keine Zweiteilung
fttr die Theorie des Metrikers gegeben.
Und treten wir nun an den altgermanischen Vers heran:
den Erwägungen von Sievers aber den Vortrag der Stabreun-
gedicbte, der widerholten Versicherung, dass die erhaltene Poesie
ans Sprechversen, nicht aus Gesangsversen bestehe, mag man
rttckhaltslos zustimmen, ohne dass dadurch jene eigenartigen
Rhythmisieruugen im mindesten gestatzt eFSCht^en. Sievers spricht
viel von den rhetorischen Bedürfnissen des Vortrages, von rheto-
rischen Pausen, von Tempowechsel u. a.; er gibt Vorschriften
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
11
fQr die einzelnen Verstypen, ob sie in „lebhaftem" oder in ,,ver-
laiigsamtenr' Tempo zu sprechen seien; er ^eht so weit, den
langen Eingan ^^ssenkungen und Auftakten einen bestimmten Vor-
trag, als „kurzes Staccato" „mit leiserer und tiefeier Stininnj**
(§ 176) anzuweisen; - man masr davon denken, wie man will —
(lies ist doch klar: mit der metrischen Bestimmung der Verse hat
dies alles nichts zu schaffen. Die Rliythmisierung irgend welcher
Verse hat ihre idealen, al>soluten Rhytlunen zu ermitteln; die
manigfachen occasionellea Vei'schiebnngen, die der Vortrag mit
seinen Tempowechseln, seinen Pausen und Fermaten hinzubringt,
die entziehen sich joder Normierung — schon im heutigen Vers^
vortrage, wie viel mehr in dem der alten Jahrhunderte.
Alles was Slevers über „Spreclivers", Uber „recitativisch
freien Vortia^^", liber die Ali; dieser Vortragsfreilieitcn ftuCsert,
das betiifft doch einzig und allein — den Vortrag ; die zu Grunde
liegenden Rliythmon werden davon nicht berührt. Die metrische
Kritik darf von jenen Vorschriften oder Vermutungen ganz ab-
sehen and sich auf die Frage beschränken: welche Formen werden
als die feststehenden, aber den individndlen Vortrag erhabenen
entworfen? Wie sind die Rhythmen beschaffi»n, die der streng
Scandierende mathematisch genan hervorbringen konnte, die aber
meist, in belebterer Recltation, dem i'econstmierenden rhythmischen
Sinne des HOrers gleichsam erst zum Auffinden gegeben wurden?
Und als solche oder an Stelle solcher absoluter Formen finden
wir bei Sievers die o. S. 2 ff. beschriebenen Rhythmen ....
Da stellt sich denn die Frage ein: mit welcher Analogie
statzt Sievers die Möglichkeit dieser Rhythmisierungen?
Dass die Vortragenden der altgermanischen Zeit pedantischem
Taktieren aufs flullBerste abgeneigt waren, konnte man zugeben,
und nach wie vor bliebe die Frage: womit wird es gerechtfertigt,
dass die idealen Rhythmen der Stabreimdiclitung keine bestimmten
Zeitproportionen, keinen metrischen Takt, kein einheitliches Gnmd-
mafs besitzen sollen? Wenn Sievers diese Eigenschaften in § 6
dem „Sprechvers" aberkennt — wie will er es glaubhaft machen,
dass dies nicht blofs für den occaslonellen Vortrag, sondern auch
fbr das ideale Metrum des Sprechverses Geltung habe?
Heusler, Oerm- Verabaa. 2
18
In dem genannten Paragraphen verweist Sievers auf den
Sprechvers der Griechen. Diese Analogie vermochte seinen
Rhythmiaierangen schwerlich Halt zu geben. IMe Hauptvertreter
des griechischen ySprechverses** sind der Hexameter im Vortrage
der Rhapsoden und der jambische Bohnenvers (Westphal a. a. O.
l § 10). Man wird doch nicht bezweifeln, dass die Schemata
dieser Verse nicht anders als in echt metrischer Weise, mit Takt-
gliederungi aufgestellt werden können. Zu den Sieverssehon
Schemata liefern diese griechischen Vem keine Parallele. Wenn
der t'ot^agte Hexameter seinen Daktylen die „kyklische Messung'''
gibt lind der Jambische Trimeter seine Spondeen anders misst als
dor gesungene, logaödisehe Vers, so sind dies Vorändei uui, cn
des Versmarses, die nach o. S. 14 zu beurteilen sind, koiue
grundsiltzliclien Autiösung'en dos nietrisuh geurdneteu Rliytiimus,
wie sii* uns in den wSeheuiala von Sievers entgeprentreten. Das
„fyjJ^xoct^s;" scheint die Abweichungen des froieru (Sprech-?) Vor-
tra^'os von den (ira {liXoc?) streng verwirklichten Zeitproportionen
zu bezeichnen: Aiistoxenos in Westplials Ausg. Bd. IT 8. 93
des Originaltex tt»s: pi>{JLO*to£t; oe [/povot] ot TYjv ]i£v slpr^^ievriv dx^'-pzia-^
[rrjv xpo;; dU.yjA-^ stipufr|>.ov -ri^tv] \y^^ '3Y'>'^fi'i r/f/vTs;. — Die von
Siovers vor*,'esclilai:enen Stabreimi'hyUuuen, worin kein Versgliod
in rationaler Zeitproporlion zu deiu andern stellt, wären vom
Standpunkt der Aristoxenischen Lehre nicht als pi^tAosti^sii;, sondern
als apput^O'^ bezeichnen: ebd. dpp!ifr{i«t ^ [xp^votj oi xavtr^ xat
Kttvto)^ ap(ü3T0t iywtxz icp9^ dÄ,'^X.(»!^ aovfteotv.
Den Metrikem, die f(lr den vStabreimvers nach einem metri-
schen Taktuiafse gesucht itaben, hält Sievers entgegen, sie fassten
die allitterierenden Verse als „eine glatt fortlaufende Ueihe gleich-
artiger Takte im modernen Sinne^ (Agerm. Metr. S. 10). Was
das „im modernen Sinne" soll, veUls ich nicht. Dass je ein Mensch
in dei* metrisclien Taktgltederang ein modeiiies Phänomen erblickt
hatte, ist mir unbekannt; nicht einmal Sievers selbst — wie man
doch nach dem ausgehobenen Satze wol erwarten könnte ~ ver-
tritt diese Ansicht; denn dem indogermanisclien Urverse und noch
dorn prähistorischen Verse der Germanen schreibt Sievers die
yighitt fortlaufende Reihe gleichartiger Takte** zu. Auf der andern
AllgomoliMS «ar Vontlebre.
19
Seite bat sieb vol kein Metriker, der aieb bisher z, B. nber
Otfrid ttuitorte, einer falschen Anwendung modemer Begriiffe
selmldig: zn machen gegktubt» wenn er dem Otfridischen Verse
jene nttmliehe metiische Eigenschaft beilegte. Wenn dnzig and
allmn bei nnsern stabreimenden Denkmälern das Suchen nach dem
metrischen Takte als Anachronismns, als ungebariiches Yorgehn
„im modernen Sinne* gelten soll, so d&rfen wir den Bewms daftir
erst erwarten. Allgemeiner gefas.st: wenn der |?esammten srcrmani-
schen Vci-slittei-atur endixiimonder Zeit, ganz untei-scliiedslos ub
Gesangesvers oder Spreclivoi-s, die metrische Takteinteilung für
ihre idealen RlivUinien als conditio sine qua non zuerkannt wird,
so wird es erst eines Beweises bedürfen, dass unter der Ilorschaft
des Stabreims Verse oline diesen constituiercndon Factor über-
haupt möglich und denkbar waren.
Sievers Agerm. Meti*. lässt es unerklärt, weshalb für den
Sprechvers im Beownlf, im Hildebrandslied, in der Edda andre
psychophysi.sclie Grundgesetze gelton sollen, als für den Sproch-
vers im King Morn, bei Ohauc.er, bei Wolfram, odei- bei (Toethe,
Tennyson, Tegner. Sie lässt es unerkläi t, wieso di(^ l^ostrennung
von der Musik im Beginne de-s Mittelaltci*s grundsätzlich andere
Wirkung^ auf den germanischen Versbau jrehabt haben kann
als später, im 11. Jahrhundert und so oft sieh diosor Vorgang
widerholte; denn wo liefse sich ein einziger späterer Fall aof-
findeu, dass der Uebergang zum Sprechvortrag den metrischen
Takt zei-stört hätte?
Unerklflii und unorklärbar ISsst die Agerm. Metr. die manig*
fachen Beziehungen zwischen der stabreimenden und der end-
reimenden Poesie, wie sie uns zumal in England entgegentreten.
Man sehe z. B., in welche Schwierigkeiten Luick in dem Auf-
sätze AnglUk 12, 487 ff. geräti da er die englischen Stabrdjnverse
des 14. — 16. Jahrhunderts für taktfi^i hält und sie dennoch aller
Enden in innigster Berührung mit offenbar takthaltigen Versen
findet. Eine reale Hebung dieser Schwierigkeit gibt es nicht
Zwei so innerlich verschiedene rhythmische Principien kOnnen
nicht Jahrhunderte lang neben einander her gelaufen sein; es
kOnnen nielit in mnem und demselben Gedichte, wie etwa im
2*
Digiii^cu by Google
Kapital I.
ae. Bestiary, Verse verbunden worden sein, die von zwei von Grund
aas anders gearteten F^ormgefUlilen hiitton erfasst werden mtlssen.
Ich hokonne micli zu der Ansicht, die Sievers, nach stünom
neaeeten Werke za scblicrsen, nicht einmal einer Discossion wert
erachtet: dass esVersmarse ohne rationale Zeitproportionen, ohne
metriflchea Takt nnd ohne geregeltes Grundmofe nie und niiigends
gegeben hat Auf das Vorhandensem eines „Versmaises* In
diesem Sinne aber darf man mit Sicherheit sddiefsen, sobald sich
in irgend einer Dichtung Beigelungen der sprachlichen Quantität
oder der Silbenzahl flndon, wie dies z. B. in der Stabreimpoeste
der Fall ist
Es zeigt sich hier, wie weit die Ziele der Metriker aus ein-
ander liegen. Was Sievers (S. 5. 82) mit dem Tadel belegt ,,in
ein festes Taktsehema bannen", „in ein hypothetisches MaCs ein-
zwängen", das erscheint andern Metrikem als (üe unerUlssliche
Aufgabe der Forschung 1
Es sei nur erlaubt, die obigen Andeutungen Qber die metri-
schen Grundbegriffe zu vervollstttndigen.
„Rhythmus** als terminus technicus kann man widergeben
mit „wamehrabare Gliedemng". In dieser allgemeinen Fassung
kann „Rhythmus" auch auf die i-aiiinliclieii ErscheinunK^on ange-
wandt werden; der Aiis(iru(:k „Symmetrie" f?u<;t luciiL dasselbe
und kaiiii das Wort „lihythmus" nicht ersetzen.
Die Vci-skunst, als 's.'/yr^ (louotxr^, hat es nur mit dem zeit-
lichen Rhythmus zu tun. Mit dieser Einschräükuiig köouen wir
definieren :
Rhythmus entstellt durch jede Gliederung der Zelt
in sinnlich warnehmbare, messbare Teile.
Die iiiiythmen zerfallen zunächst in ungeordnete und geordneto.
Der geordnete Rhythmus entsteht durch eine war-
nehmbare Widerholung gleicher Teile.
Die Widerkehr gleicher Zeitabschnitte bildet die Basis fftr
die geregelten einfachen Zeitproportionen, die von der rhythmischen
Empfindung als das wesentliche des geordneten Rhythmus
erfasst werden.
AllgenriiMS rar Tcnlehre.
21
Aristoxenos und ihm folgend Westphal verstehn imtor
Rhythmus nar den geordneten Rhythmus; den ungeordneten
nennen sie äppul^a Rhythmuslosigkdt Auch im gemeinen Sprach-
gebranch fignriert Rhythmus in diesem engem Sinne: „Das ist ja
gar Icein Rhytiimus'* sagt man von einer sehleeht gespielten Me-
lodie und meint «kein geordneter Rliythmns*. Auch Wnndt,
Grundzflge der physiol. Psychol.' II S. 72 f. gebraucht Rhyth-
mus und rhythmisch in dieser engeren Bedeutung. Fttr wissen-
schaftlichen Gebranch empfiehlt sich die Anwendung des Wortes
im weitem Sinne. Denn auch der ungeordnete Rhythmus ist ja
ein positives Phftnomen und kann nicht als blofse Negation des
geordneten Rhythmus gefasst werden.
Geordnete Rhythmen der untersten Ordnung bestehen aus
lauter congnienten Zeitgliedem. So der Pulsschlag des gesunden
Menschen; die ungehemmte Pendelbewegung:
r r r r * ' '
(Als Einheit orfasst hier der rhythmische Smn | f 1 I i dies
wird unverändert widerholt.)
Mftn mag dies einfachen Rhythmus nennen.
Der zusammengesetzte Rhythmus besteht aus Glie-
dern höherer und niederer Ordnung.
Die Analyse und Synthese, der wir die Zeit unterwerfen,
rechnet mit Haupt- und Nebenabscbnitten.
•)Trf rff-
f rrfrr"-
Trrrfr ff-
'>)rrrrrr--'
fr'f'rr"---
ofrr frr---
Sobald die einzelnen (xlieder des geordneten Hliytlnnus zeitlich
oder dynami^ich differenziert sind, entsteht der zusammengesetzte
22
Kapitol L
Rhythmus. Rein dynamische Differenzierung haben wir unter »);
mn zeitliche Difforcnzierang anter b); beide Factoreo wirken za-
sammen in den Rhythmen anter c).
Die bisherigen Beispiele vertraten den nn gemischten zn-
sammengesetztcn Rhythmus; d. h. die einzelnen Glieder höherer
Ordnung waren unter sich congruent (das erste Beispiel bestand
ans oongruenten I 1 i das letzte aus congruenten | ^ p | u. s. f.).
Gemischten Rhythmus statuieren wir da> wo unter
oder ttber den gleichen Gliedern ungleiche Teile bezw.
Gruppen vorhanden sind.
Die gleichen Glieder, die als Trüger des geordneten Rhyth-
mus fiiiictionicren, sind hier | I ; sie zerfallen aber in wech-
selnder Weis« in l iiterabschiiitte, sodass kpino, Congruenz beisteht.
Den Jiiidcni Fall von gemischtem JAliythmus veranschauliche
dieses Beispiel (der I'iinkt soll eine schwacliore, das Sforzato-
zeichen eine stärkere nervoriicbiuig ausdrucken; ;
'')?r?rrrfrrrrrTrrr
Auch hier die gleichen Abschnitte | • f | ; aber von diesen
ist bald hier, bald dort einer ilynainisch übergeordnet, sodass
(Truppen entstehen, die unter sich nicht congruent sind. (Statt
\ff\ auch I • I u. s. w.)
Der in a) und der in b) wirkende Factor können sieh zu-
sammen äofeem:
c)rcrlrrMr
Der gemischte Rhythmus vereinigt Gleichheit mit Manig-
fultigkeit; er ist die eigentUche Eurhythmie.
Im Tersban ist nur der gemischte Rhythmus verwirklich
Das abstracto metrische Gerüste, das jeder Versart zu Grande
liegt, hat ungemischten Rhythmns. Indem der sprachliche Inhalt
in diesen metrischen Rahmen hineingelegt wird, entsteht der ge-
mischte Rhythmus der concreten Verse,
AllgetueineB tat Venlelure.
28
Beispiele. Die beiden Beowalfirerse
458a beadusenida beUt
2617a eatd meord eotmke
haben den metrischen Rahmen
d. h. ungemischten zusammengesetzten Rhythmus.
Durch die sprachliche FQUiuig entstehen die ooncreten Vers-
rhythmen
Trrrf"
* r Jrh ■ ■
d. h. gemischter Rliythmus, nach dem Princip oben a).
Die beiden Verse (aus Goethes Schatzgräber)
Moide Augen ich bHnken
Unter dichtein Blumenkrmee
haben die abstracte Gnmdform
tiniromisclitoii Kliythmiis. Durch die VersfUllung sind die ge-
mläclitcn Kh^Uimen (nach oben b)
rrrrrrrr
r rr''*rr
entstanden. (Man könnte nat (Irlich in der Unterscheidung der
Stärkeabstu fangen weiter gellen.)
Die beiden Otfridverse
I 26,8 drühtin, qttdd er, u4o mag sin
I 25,26 joft ihae m&mmnnti
haben die nngemischt-rhythmisclic Grundform
• ■ « •
! i • 1 I I I .
Die Versfhlhing piiigt diesem Grundmafs zu den gemischt-rliytii-
mischen Gestaltungen aus
?ffrrrf
. rrf r n
(wie obeu unter c).
Digiii^cu by Google
24
Knpltel I.
ßei dor Bcstimmong einor Versart ist also aus otDander
zu haiton: der cotistante mottische Rahmen und die variable Vers-
miong.
Die rhythmischen Glieder des metrischen Rahmens sind,
von unten nach oben aufsteigend: Mora, Takt, Vers, Periode
(als Periode höchster Ordnung die Strophe).
In diesem Organismus ist der Takt das eigentliche metrische
Organ. Die Takte sind das liObenselement des metrischen
Rhythmus. Denn vermOge ihrer g-oringem Aiisdelinung werden
sie, in liöliorra Mafte als der Vors, unmittolbar als die gleichen
Z'Mtabsclmitte empfunden, luif denen die Natur des geurdneten
Hhythinus beruht. Dazö kommt, dass Vers arten versclüedener
Ausdehnung viel häufiger combiniert werden als 'Pakte ver-
schiedener J^äuge (s. u.), sodass der Takt viel häufiger das ideale
Mafs abgeben kann. Der Mora gegenüber hat der Takt als
metrisches Oi-gan den Vorrang, weil er auch bei mauigfacher
Versfüllung als immer widerkehrendos Glied markiert wird, wo-
gegen die Morae einerseits unter sich verschmolzen, anderseits
pausiert \verden kOnnen nnd deshalb im con(!reten Versrliythmns
weniger als Träger der rhythmisciien Ordnung hervortreten. Die
Takte sind die ihythmisclien Glieder, die zu den zeitmessenden
Organen des menschliciien Körpers in directe Beziehung treten
(vgl. Leumann, Wundts PMlos. Studien 5,620 ff.); daher die
Unterstützung der vorgetragenen Metra durch das Taktieren, das
Auszeichnen der Takte durch y^rr^a^^ om^iatocil^.
Es ist bekanntlich keine Forderung des geordneten Rliyth-
mus, dasB jeder Takt mit dem vorausgehenden und nachfolgenden
congruent m. Die Verbindung von Takten ungleicher Dauer
und ungleichen Taktgeschlechtes, der Takt Wechsel, die
{utaßoXiJ der Griechen, ist nicht als partielle Aufhebung der
rhythmischen Ordnung zu betrachten, sondern als weniger ein-
fache rhythmische Ordnung, indem hier nicht nur mit einer,
sondern mit zwei oder mehreren ZeitgrOfsen gerechnet werden
muss; es wird dem rhythmischen Sinne zugemutet, die wider-
kehrenden gleichen Abschnitte zu empfinden, obwol sie nicht
AligeoieineB zur Venlelue.
25
in ungemischter Folge stelm. Daram scheint Taktwechsel nur
in strophischer und gesungener Dichtung vorzukommen — am
leheosfiUiigsten er sich in der Verbindung mit Tanz^) — ,
wo die Wideiliolung und die Melodie erl^tera, den compli-
dertem Autbau zu behei^schen.
Das bekannteste Beispiel ihr Taktwechsel ist „Prinz Eugen,
der edle Ritter^S den man gewiss nicht mit Wes^hal (Aristoienos
I 48) in lauter fbnfgliedrige Kola ohne Taktwechsel aus einander
legen darf (mit einer Aenderang in der ersten und in der dritten
Zeile); die ftbliche Vorzeichnimg 7« scheint auch nur eino gewisse
praktische Berechtigung zu haben: der rkjihmische Aufbau ist
m. E. als eine Verbindung von 'A- nnd y^-TMea zu fassen,
etwa so: Auftakt, "A, 'A, V4, 7*, 74, 74 (Fermate); Auftakt,
^4, 74, 7*, 7*, V*, V* (Fermate); die Verbindung der bdden
Taktarten zeigt also eine gewisse Symmetrie. Man tkSxt deuttteh,
wie dne derartige Form keineswegs eine Annäherung an nnge^
ordneten Rhythmus bedeutet.
Taktwechsel innerhalb der unstropliisclum und gesprochenen
Dichtung hat auf get manischem Gebiete bislier nicht wahrschein-
lich gemaclit werden k iinen.
Was wir hier Taktwechsel gcua;i;il haben, ist eint? Er-
scheinung des metrischen Raliinens. Das Wort Taktunistellung
findet man bisweilen gebraucht für Eigentümlichkeiten der Vers-
füllung, so z. B. wenn in einem ,Jajnbischen" Versmaise statt
des Eingangs
vorkommt (z. B. ten Brink, Chaucers Sprache und Versknnst
S. 155). Der Käme Taktumstellnng scheint mir nicht gltteklich;
denn wie man sich auch die Bhyihmisierung im einzelnen denken
mag, daran wird doch, nach Ausweis der modernen Fälle, nicht
zu zweifeln sem, dass bei solchen Verseingftngen in ruhigem
1) n'Miii:^^ Hcschiclito dos Tanzes; Stoonatrup, Vore Folkoviser QraMiddol*
der Eingang
26
Kapitel L
Fhissp w oiter taktiert wird und nur die VerteUang der Silben
auf die Takte wechselt.
Ein Taktweclisel in der Art, dass die gleiche Taktdaner
gewart bleibt» aber das Taktgeschlecht verilndert wird, kommt
(nach Westphals AnfTassuDg) im antiken Yen» sdir hJlofig vor,
— sobald die FOfse | ^ | nnd | u | innerhalb eines Verses
zusammentreten (rhythmische Messung | ^ | = 6.3.3, also
zweiteilig; | £ u | ^ 8.4, also dreiteilig; Tlieorie der mm Künste
I 289 ff. XL 0.).
Man kann im Zweifel seui, ob diese Art von Taktwechsel
dem germanischen gesprochenen Yerse zuzuschreiben sei. Bei
dem Vortrage moderner Kunstdichtung, auch wo die Taktab-
stande leidlich gewart werden, wird die TaktItlUung gewiss in sehr
freiem Belieben bald zweiteilig, bald dreiteilig rhythmisiert werden.
Also etwa
Wer
reitet $0
spät durch
NaeM und
Wind
1 1 1
IV* IV«
2 1
3teaig
2teilig
Steilig
Aber die Frage ist, ob d^r Wechsel im Taktgeschlecht zu den
occasionellen Verschiebungen des Vortrages zu stallen ist, oder
ob er eine principielle Bedeutung für den Versbau hat Mir
scheint die Fi*age im ei-sten Sinne zu bejahen. Denn man kann
beobachten: je strenger die Verse scandieii werden, um so mehr
tritt einheitliches '^L\ikt<i|-eschleclit hervor. Und die rliytliiniseh
so scharf articulieitca Kindei'spriiclio wissen nichts von einem
Wechsel des Taktgeschleclites. .lulserdcm wird sich schwerlich
nachweisen lassen, dass der Uebergang des Vortrages von zw ei-
teiligem zu dreiteiligem Taktge>5chleclit und umgekehrt an bestimmte
Bedingiuigeii der TaktfUllung gebunden wäre (wie dies ja im an-
tiken Verse der Füll ist). Um den dotitschon Tlexameter als
Beispiel zu nehmen: filr seine di-eisilbiL-en (duktylischen) Takte
darf man dreiteiliges Taktgesclilecht ansetzen^): ! J f J ' oder
eher | ? f 1. Nun wird doch wol niemand die zweisilbigen
. Takte dann dreiteilig scandieren, wenn sie „trochäisch" sind d. h.
») Vgl. Paul, Gruudriss n 1,955.
AUgemeiiies snr Vcrelebre.
27
eine .schwachtoniK''' Si.Mikiintrssilbe Imbon, dnnn aV)(?r zwoitoilig,
wenn sie „spondeiseh" sind d. Ii. eine starktonige Öenkiingssilbe
haben, also z. B. in dieser Weise:
Läss nicht ünf/ini/nnt micJi zi't den Sr.'intten hitUibgehn
ic'p'ircifp'irMCjcic'f'-
d. h. far die „spondeischen'' Täkte | Laaa nicht \ , -^rUknU mtcA |
das zweiteilige I ^' ^' | , ftlr die „trochaischen" Takte | unge- 1 ,
I den I das dreiteilige I f C 1 •
Ich halte es fftr nadeokW, dass Jemals eine derartige prin-
ciptelle SonderoDg auch nur für ein par Verse unternommen
wQrde. Ob die SenknngssUbe stark- oder schwaehtonig ist» das
bedingt kein verschiedenes Taktgeschlechi Dero dreiteiligen
Takte der daktylischen Fnfse folgend, nehmen die Spondeen eben-
sowol wie die Trochäen die Form | p ^ 1 an; was der Vortrag
dazu oder davon tut, gehört nicht mehr zu dem uormiorharen Be-
stände des Metrums. Deshalb wird ja auch heute wol allgemein
zugegeben, dass die Fordern nu^ der Vossischen Scliiile, für die
zweisilbi<,'en Hexametertakte nur .,Spondeen" zu verwenden, prak-
tisch f^ar keinen Wert hatte, weil eben ein | lefmn \ und ein | leb-
los I nicht veischieden rhythmisiert werden; weil dein naUlrlichen
rliythuiischen Gefilhl die beiden Fdllungen ganz gleichwertig
erscheinen. Das wär»^ nielit der Fall, wenn \ leben | und | kblos \
zu versehiiMlenem Takt^-'eselileclite hindi'iinjrten.
Diesen Fall darf man wol zn dem Satze verallj^'-eineinein:
Der neudeutsclie V eisbau kennt keinen grundsätzlichen Weclisel
des Taktgcschlechtes innerhalb einer Vei-sart.
Ich glaube, dass auch der schriftlich ttberlieferte altere Vers
keinen Anlass gibt^ wechselndes Taktgesehlocht zu vermuten.
Wir dürfen die rhythmischen Schemata für jede Versart in ein-
heitlichem Taktgeschlecht entwerfen — vorausgesetzt, dass uns die
Behandlung des Rbythmizomenon Oberhaupt zn Schlüssen auf das
Taktgeschlecht in Stand setze.
Der Umstandi dass zuwdlen ein und dasselbe Gedicht sowol
in zweiteiliger wie in dreiteiliger Taktart vorgetragen werden
kann, aberhebt den Metriker nicht der Aufgabe, das Taktgeschlecht
26
Kapiua L
«eioes Uaterancbungsobjectes za bestmiiiieii: in dem genannten
Falle rodste das Vorkommen der beiden Messun^ren constatieit
und womöglich der Nachweis gegeben werden, welche der beiden
die ältei-c ist.
Damit der metrisch'^ Rahmen einer Dichtung voUstftadig
bestimmt ^'i, nmss ni.in wissen:
wie viclo Takte den Vers ausmaclif^n:
welches (loschlecht die Takte haben;
in wflrlirr Zahl und Ordnung die Verse zu Perioden ztt-
samnu'iilretcn.
Dor jjrci iiianischo Versbau kennt, soviel ich woi fs. nur Verse
von gerader Taktzalil: Zwoitaktor, Vioitakter, Öechstakter,
Achttakter. Ist eine ungerade Zahl von Hebungssilben vor-
handen, so tritt ein pausierter Sehlusstakt hinzu. Der jambische
Bttboenvers, der sich mit spinnn Enjambements dieser Auffüllung
aaf sechs Takte widersetzt, tut damit einen entscheidenden Schritt
aus der metrischen S'tm tm- lieraus. In strophischer Dichtung,
in Stanzen, Sonetten, Terzinen u. a., ist der fünffufsige Jambus
nnverkennlNir ein Seclistakter. Fünfteiiige rhythmische Motive
sind tOff uns kaum fassbar.
Es bildet einen der wichtigsten metrischen Unterschiede, ob
die Takt zahl der Verse geregelt ist oder nicht Ein Versbau,
der sich an das Princip der gebundenen Taktzahl hält, verwendet
Verse von nngldcher Zahl der Takte nur in strophischen Gom-
positionen: Jeder zwei-, vier-, sechstaktige Vers u. s. w. hat
seine bestimmte Stelle; es ist kein unsymmetrisches Durcheinander.
Das Princip der freien Taktzabl finden wir m zwei Gruppen
der deutschen Dichtkunst: in den sog. freien Versen, die von
Klopstock aufgebracht, von Goethe in den Oden und der Proserpina,
von Heine in den Nordseebildem verwendet wurden und die sich
noch heute (üiii^'ei- Lebenskraft erfreuen; liier ist zugleich die
Versfalkii%^ ungeregelt; — ferner in den im 17. Jahrhundert
auftauchenden Versen, die den italienischen Madrigalen und den
franzflsischen vers irreguliers (libres) nachgebildet sind: sie befolgen
geregelte Taktfüllung (meist zweisilbige Takte): dramatische Partien
bei (iryphius, Loheusteinj Geileii^ Fabeln, Wielaads Qberon,
Digiii^cu by C
Allgomeinos sur Vertlehre.
29
grofse reile ilos Kaust zeigen diese ungeregelte Mischung von
zwei- bis achttakti^^^en Versen.
In diesem Piincip äulsert sich eine Lockeiimg des metrischen
Bandes. In altertamlichen Stadien des Versbaues wird wol immer
die geregelte Taktzahl hersehen: der mittelalterliehe Vera der
Germanen steht nach meiner Ansidit noch nneingeschrllnkt unter
diesem altem Gi-undsatssc. Misst man die allitterierenden „Schwell-
verse*' und einen Teil der LJödahÄttrzeilen mit drei Haupt-
hebungNi, oder sehreibt man den frnhmittelhochdeutschon Epen
fttnf- bis stebenhebige Verse zu, so betrachtet man das Princip
der freien Taktzalil als ein altgermanisches.
Die Versftillang kann, genau genommen, nur dann be-
stimmt werden, wenn die Ermittlung des metrtsohen Rahmens
geglückt ist Denn die Zahl der Silben, ihro sprachliche Be-
tonung und Quantität sind zwar der Beobachtung unmittelbarer
zugänglich als jene Bestandteile des mctiischen Rahmens; aber
mit dcj- Ik»stimmung dei- Silben nach Zalil, sprachlicher Daner
und Betonung,' ist die Versliilhiny nuch nicht fixiert: es kommt
darauf an, wio sicli diese Silben iu ih\s metiiiiche Mafs einordnen;
zu wckduM^ rhythmischen Piguren sie gestaltet werden.
Um diese Fraffon zu lösen, muss man das (ii-iindmars kennen.
Die Untersuchung; der sciuiftlicii, olnie Notenzeichen Überlieferten
Veisc kann naturgemäfs niclit auf dem Wege vorgehn, dass man
zuerst das Grundmafs ermittle und dann die Fragen der Vers-
ftUlung in Angriff nehme: man muss vom Rhytlimizomenon aus-
gehn, und durch gegenseitige Schlosse und Combinationen kann
sich gleichzeitig der metrische Rahmen und seine Füllung auf-
hellen.
Bei der Betrachtung der Vei-sfüUung empfiehlt es sieh, drei
Regionen des Verses zu unterscheiden: den Auftakt (die
Region vor dem ersten guten Taktteil); das Versinnere; die
Gadenz (Versschluss, Versansgang).
Die Vomrlen zerfallen iu drei matrische Klassen, je nach-
dem sie
Digiii^uu by G(.)0^1c
30
Kapitel 1.
1) dio Silbcnsurome des Voi'ses und damit zugleich die Silben-
zahl der einzoliion Vcrsrcfi^ioncu IVei geben;
2) die Silbenzahl des ganzen Veiises wie seiner einzelnen
Teile regeln;
3) die Silbensuininc des Verses fixleroo, aber dio Silbenzabi
der einzelnen Versgliedcr fioi geben.
Das erste Princip ist das luinrnclisigsto; es behrvr>;chte, wio
ieh glaube, den indogci*manischcn Urvers and ist bei den
germanisclien V())iiern bis auf heute das Lebensprincip aller echt
heimischen Vei-skiinst geblieben.
«
Das zweite Verfahren zeigt in England zuerst das Onmilum,
in Deutschland die entwickelte höHsdie Lyrik, dann die Meistor-
singer. "Was man als specifisch modernen Vei-sbau bei den
germanischen Völkern bezeichnen kann, das huldigt diesem
Princip.
Die dritte Art hat man vormntlich im ältesten avestischen
und im vodiächon Versbau zu erkennen; sie ist das leitende
Princip in der Verskunst der romanischen Völker. Ans der
germanischen Vei^sgesehichto ist zu dieser Gruppe zu stellen der
in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert vorhersehende
littorarische (unsangbarc) Vers, der „Hans Sächsische Vera^ —
wofern man ihn nicht mit HOpfnor, Yilmar^rein, Koberatein,
Paul u. A. für jambisch hält, sondern ihm, nach Goedekes und
Andrer Aaffikssang, wechsebde Füllung zuw^t. — Die genannten
Verse dieser Gruppe geben alle (der avestische vielldcht aus-
genommen) nur dem Auftakt und dem Versinnem erhebliche Frei-
heit der SUbon Verkeilung: der Cadenz, als dem markiei*testen
Teile des Verses, ist die FoUung mdir oder weniger Strang vor-
geschrieben. —
Werfen wir einen Blick auf die Fttlinng der Versregionen
im einzelnen.
1. Beim Auftakt
ist die Zahl der Silben zu beobachten: Auftakte von 0, i, 2,
3 u. s. w. Silben. Es ist zu unterscheiden zwischen freiem und
gebundenem Auftakt. Eine Versart mit freiem Auftakt erlaubt
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
AUgemeinoa nur Venlebre.
81
jedem Verse, unabhängig von seiner sonst itron Fa]]unt( oJor seiner
Stellung- im Zusammenhange, mit oder ohne Auftakt aufzutreten.
Hieher gehört der altdeutsche Rcimvcrs (mit Ausnahme der
spätem Lyrik) und der volkstilinlieho Vors noch in heutiger Zeit.
In der Regel ist dann auch die Silben zahl des Auftaktes frei,
d. h. Auftakte von dner und mehr Silben werden ohne plan-
mäfsige Unterscheidung gebraucht. Doch wird man z. B. für den
epischen Vers Konrads von WUrzburg im allgemeinen die
gebundene Siibenzahl (Einsilbigkeit) des Auftaktes statuieren
dürfen, wfthrend das Vorhandensein oder Felden des Auftaktes
frei gegeben ist.
Bei gebundenem Auftakt ist es den einzelnen Versen nicht
frei gestellt, ob sie auftaktig oder auftaktlos erscheinen. Entweder
wird das Vorhandensein des Auftaktes bedingt durch die übrige
FOUung des Verses; oder durch den Schloss des vorausgehenden
Verses; oder die Verse mit und ohne Auftakt sind dergestalt zu
versclüedenen metrischen Arten dififeronziert, dass sie wie etwa
Verse von verschiedener Taktzahl gesondert werden: bei dieser
Technik besteht ein Gedicht aus lauter Versen der einen Art,
oder ein Nebeneinander auftaktloser und anftaktiger Verse in
einem Gedichte wird als eine Mischung zweier Versarten em-
pfunden, ist also meistens an eine gewisse Ordnung gebunden.
Auf diese! Stute steht der Versbau der nieistm spätem Minne*
siiiirei-. des Meistergesanges, besonders aber der luüdernen Kunst-
püesic: jambische und trochilisehe, anapibtische und daktyüsehe
Vei-se werden als gegensätzliche Ciattungen verwendet. Auch
hiebei kann die Siibenzahl des Auftaktes eine gewisse Freiheit
waren: z. B. in den modernen A uapästversen woeliselt einsilbiger
Auftakt planlos mit /ANeisilbigem, während m\ Kehlen des Auf-
taktes als ein Herausfallen aus der Versart empfunden würde. —
Auch der epische Stabreimvers, der in den meisten Dielitnniren
das Fehlen odei- Vorhandensein des Auftaktes regelt, gibt seine
Siibenzahl frei, d. lu einsilbiger, zweisilbiger, dreisilbigei- Auftakt
u. s. f. werden nicht gegensätzlich verwendet: wo einsilhiger
Auftakt zugelassen ist, könnte auch zweisilbiger eintreten; ein
Gedieht, das Auftakte von vier und mein* Silben gebraucht,
Digiii^cu by Google
32
Kapitel L
schreibt doch k'»iner Versform den vicrsübigeo Auftakt als Mini-
mum vor u. s. w.
2. Die Takte im VersinDern.
FQr den rfaythmischeD Habitus des Veraes sind besondere
zwei Punkte von Belang.
1) Die relative Stärke der Silben, auf denen die Icten anage-
piügt sind.
V'j^'l. die Beispiele aus OllVid und Goethe o. S. 23. Der
moderne Jaral)en- und Tiodi Denvers erhält, da er allen Takten
k'leic.}! viel Silben zuteilt, aUo keine Contraste der Zeitwerte kennt,
den Clmruktcr des ^^^'inischten Rhythmus nborhanpt imi dadnrcl»,
dass die tfebungen in wedmelnder Folsre dynamiseh ab<,a\stnrt sind
(vg-l. Stolte, Metr. Studien S. 45, Paul Gnmdr. II 1, 909).
Sobald die Lagerung der stärkern und schwächern Hebungen in
jedem Verse unveiündert widerkehrt, haben wir nicht mehr eine
Eigenschaft blofs der Vers ftil hing vor nns, sondern eine dos
metrischen Rahmens. So ordnet das i,'ormanis('ho Versmafs (der
Stabreimdiclitung und der Kinderlieder) regelmälsig die erste und
dritte gehobene Mora der zweiton und vierten Uber; dies gehört
also zum festen Bestände de.s GrundmaTses:
Diese Abstufung wii d nicht erst in einzelnen Versexomplaren
durch die zufällige Versfillluug erreicht, sondern sie ist von vom
lierein fQr die Versfüllnng, für die Rhythmisierung der Spi*ache
nialsgebend. — Neben dieser coustanten, dem (ilrundmafso ange-
hörenden Zweiteilung der Hebungen hat der Stabieimvers noch
andre dynamische Abütufungen, die von dem jeweiligen Takt-
inlialt abhängen, also variabel sind: einerseits sind die stabenden
Haupticten (Iber die stablosen erhoben; anderseits sind die Neben-
icten stärker oder schwilcher ausgeprägt, je nachdem sie auf oiue
sprachlich starktonige oder schwachtonige Öilbe fallen.
Als zweiter Hauptpunkt bei der Ftlllung des Versinncrn ist
die Silben zahl der Takte zu betrachten: Takte von 1, 2, 3
11.8. w. Silben; auch Takte ohne sprachliche Füllung (pausierte
Takte). Aebnlioh wie beim Aaflakt ist aueh hier zwischen einer
Allgemaines sur Veralebre.
freien und einer gebundenen Füllung zu unterscheiden. Der Oir
fHdisehe Vers ist ein Beispiel fUr das erstere Princip: seine
Takte können, ohne planmft&ige Sonderung, eine bis vier Silben
in sich aufnehmen. Der Stabreimvers geht noch veiter in
wediselnder Silbenzabi der Takte, wobei jedoch die epische Technik
das Yersinnei'e in Beziehungen zum Auftakt und zum Versschluase
setzt und 80 seine Freiheit einschränkt.
Gebundene TaktftÜlung, schon von den Lyrikern des 13.
Jahrhunderts und von den Meistersingern erreicht, beherseht den
grOsten Teil der deutschen Kunstpoesie seit Opitz. Der Hexa-
meter ist bemerkenswert als die Versart, die zuerst wider freie
Fällung des Yersinnem mit mtk brachte — wenngleich in engen
Grenzen (Wechsel von zwd- und dreisilbigen Takten): Klopstock
hat dieso Freiheit als einen Hauptvorzug des neuen Mafses ge-
priesen (lieber Sprache und Dichtkunst S. 110; Von der Nach-
almmng des griech. Sylbenma&es im Deutschen: der Hexameter
„kann sich immer durch vier, bisweilen auch durch fünf Vor-
üiidrungen, von dem vorhergellenden oder nachfolgenden Veise
unterscheiden . . .").
Die „vermisciiftrn" uder „milnortrittigen" Verse*) des 17.
Jahrhunderts, die impiira sou inixta Dactylica Zesens*) vertraten
die gebundene Taktfillliin},', da sich die zwei- und die dreisilbigen
Takto an bestiniintor Stollo dos Verses bezw. der Strophe ein-
finden musten. Dasselbe ^äit flir die antÜvisieivnden Odenmai'se.
Der Hexameter (Pentameter) und die anapiLstischen Metra sind
aul'serhalb des volkstttmlichern Versbaues — und abgeselni von
den „freien Versen" — die einzigen Formen, die sieh der ge-
bundenen TaktflUlung entziehen. Bei einem Dichter wie Platcn
hat alles, was nicht in den besagten zwei Versarten gedichtet
ist, mag es Lied, Ballade, Ghasel, Sonett, Ode, Hymnus heifsen,
die streng vollgeschriebene Silbenzahi fUr jeden Takt im Versinnom.
Vene, die nur einerld Taktfhllung zuUssen, gebrandien ent-
weder zweisilbige oder dreisilbige Takte; das letztens, viel seltnere
») J. H. fladfjwi^', WolgrogrUndoto teatsche Voi-aoknnst (1G60) S. 300.
*) Phil. Ciiosii S.uila Bolioonis Toutonici (1043) S. tiö.
Ueusler, Ocrm. Versbsu. 8
34
z. B. bei Gryphius (Majuma 11 V. 95— IßO, III V. 91—108,
Piastns IV V. 1 — 22), bei Johann Klaj, Sigmund von Birken
(Wackeraagel Lb. 514. 517), in i^alladen von Bürger, in Balladen
und GeseUschaftsliedern von Goethe (vgl. auch Stolte a. a. O. S. 20,
Paul Grundr. § 66).
Wenn ein Verstakt nach seinem (ie.sclilecht und seiner Silben-
zahi bekannt ist, tritt die Frage ein, wie dieser Taktinhalt rhyth-
misiert wird: z. B. bei einsilbiger Füllung fragt es sich, ob die
Silbe über den ganzen Takt ausgehalten wird oder ob eine Pause
hinzutritt; bei zweisilbiger Füllung eines %-Taktes sind beispiels-
weise die Rliythmisierungen [ * f 1 und I f " f I denkbar. Bei drei-
silbiger FiiUung desselben Taktes ist mit der Möglichkeit von
{ f j neben | [j' f | zu rechnen a.8.f. Bei diesen Fragen macht
sieh z.T. die spraehliche Quantität der Silben geltend: ahd.
I manöUi \ wird anders rhythmisiert als V« | geigöta | , as.
I inminges \ anders als V« I hslages |. Bei einem zosammen-
gesetzten Takte wie dem */i'T9ktd ist die Tonabstafnng der
Süben von Bedeutung, weil ein Nebenictus vorhanden ist, auf den
die Anordnung der Silben Rücksicht nunmt: as. ^4 i eUuHican ]
ergibt one andre rhythmische Figur als V« I irmn&tiod {, ebenso
wie ün nhd. Kinderiiede V« I Sefihtf, Kindchen \ gegenüber
*/4 \ Si^nßtk im JSam |.
8. Die Verseadenz.
Die Art ihrer Füllung ist für den Charakter des V ei'ses von
besonderer Wichtigkeit Verse desselben Grundmafses können
vermöge ihres verschiedenen Ausganges als ditferenzierto Arten
erscheinen und ün Periodenbau gegensätzlich verwendet werden.
Die Nibelungenstrophe setzt sich aus 8 Versen zusammen, die in
ihrem metrischen Gerüste übereinstimmen; auch die Füllung des
Auftaktes, tmd des Versinnem ist frei und dient niclit dazu, die
8 Strophenglieder zu contrastieren. Es ist einzig die Oadenz,
die Ui dreifecher Ausprägung gegensätzlich verwendet wird: sie
sehafiFt aus dem einheitlichen Grnndmafse drei Vers typen,
woraus die Strophe aufgebaut wird. Sehr viele kunsti-eiche
Strophen in der alten und der neuen Dichtung sind nur mit
dem einen Bausteine, dem Viertakter, aufgeführt und erhalten
AUgonioiaos sar Verelobre.
ihi'cn fj:anzeii rhytlimisclion Reiclitiim, ihre ganze Architektur
durch vorscliiedene Fülhmg der Vers.schlüsse.
Bei der Einteihing der Cadenzen ist wol das wichtigste
Moment die Ausprägung" des letzten Yersictus: je nachdem dieser
auf eine starktonige oder auf eine schwachtonigo Silbe oder in
dne Pause fällt, entstehen 3 deutlich vei^schiedene Vei*sschlü88e,
Die drei Yersgattnngen der Nibelungcnstrophe sind nach dem ge-
nannten Princip differenziert. Diese Dreiteilung scheint iiiii- für
die deutsche wie für die englische und skandinavische Vers-
gcschicbte, für ültere und neuere Perioden, gleicher Weise frucht*
bar za sein und viel zu einer klaren Auffassung beizutragen.
Als Namen fdi" die drei Cadimzen möchte ich die Ausdrucke
^voll, klingend, stumpf" nicht preisgeben (Möller, Z. alid. Allitt.
155 ff., Verf., Z. Gesch. d. ad. Verskunst 49 ff.). Wol empfinde
ich es mit Paul (Grundr. S. 919 Note) als einen Uebelstand, dass
sieh der Wortlaut dieser Termini z. T. mit dem der Laehmanni-
sehen deckt, während ihre Bedeutung hier und dort eine ganz
verschiedene ist; aber es dürfte doch kaum möglich sein, diese
kurzen, dentsehen, anmittelbar ansdiaulichen Namen durch neu
erfundene von Shnlichen Vorzogen zu ersetzen.
Die Dreit^ong voll, klingend, stampf ist nicht blofs auf den
viertaktigen Vers anwendbar. Der Zweitakter erscheint in
den dr^ Fomen (Eirk, Liederhort Nr. 26. Nr. 8 a):
voll: ja tcändt sieh üm,
ja Kinhe Hm;
klingend: ja Schtvisiim,
hekäihi;
stampf: ja st^dkikt. ^
Ebenso der Sech st akter.
Aolkor dieser Dreiteilimg kann noch mehreres an den Ca-
denzen unterschieden werden. Ich erwähne nur den Punkt: in
den vollen Versen kann die letzte Hebung die letzte Silbe dos
Verses s^n oder es kann ihr noch dne Senkungssilbo folgen.
Diese bdden Gadenzen — einsilbig- und zweisilbig -voll kann
man sie nennen — werden schon von den mbd. Lyrikern gegen-
sätzlich verwendet, wenn die gehobene Paenultima eine sprach-
8*
Sd
Kapitel L*
liehe Länge Ist, — sodass ftlso zwei Zeilen wie die Beimars von
Hagenau (MF. 201, 33)
ich enbin von n^neti \ jären
nicht 80 ivfse daz ich \ wd
dem Strophenbau als zwei ontorachiedene Glieder dienen können
and sich in den Strophen eines Gedichtes in der gleichen An-
ordnung widerholen. Dagegen die Schlüsse wie j lebeii^ \ tügent
werden von den einsilbig-vollen, o]j«,^leich sie sieb doch rhjrthmisch
unterschieden haben mUssen, nicht pUuimftfaig gesondeit : die einen
Verse können für die andern an coirespondierender Strophen-
stelle eintreten. Der Hans Sachsischen Verskunst gegenüber, die
in der nnsangbaren Dichtung den letzten Verstakt beliebig ein-
oder zweisilbig bildet, tritt die moderne Technik gleich schon in
Paul Rebhuhn mit der planmäfsigen Scheidung der beiden Ca-
denzen auf. Die moderne Kunstlyrik widcrum behandelt die
beiden Formen als gesonderte Arten: eine Periode wie
Mit des Bräutigams Behagen
scJituingt sich Ritter Kurt aufg Soss
besteht für das Formgeftthl dieser Technik aus zwei kaum minder
stark dllferenzierten Versen als etwa die Periode
Der Subd reist «m tkutselien Land,
der frommen LeiUen frommt.
Auch die stumpfe Gadenz zerföllt in eine einsilbige und
eine zweisilbige Form. Die beiden Formen werden im Stabreim-
verse nicht durchaus gleichwertig gebraucht: in dem Verse Beow.
120 a wonseeaft wera könnte die zweisilbig-stumpfe Gadenz nicht
durch eine einsilbige ersetzt w^en.
* Die mhd. Lyrik hat, soviel ich selie, die beiden Spielarten
nicht zu gegenstttzlidier Verwendung gebracht. In der neuen
Knnstdichtung fragt es sich, ob man Verse wie
Es war em Künig in TJnUe
noch als Idingend (2%^d) verzeichnen will, — was mir zum
mindesten filr die sangbare Dichtung unerlflssllch scheint. Von
diesem Standpunkt aus hätte man gar kdne zweisilbig-stumpfen
Verse, weil die undebnbaren Starktonsilben verschwunden sind,
folglich jede Paenultima, die in den vorletzten Versictos tritt,
üy Google
AllgomeinM sv V«nlclm.
87
Uber ihren Takt ausgebaltea werden kann. Wil] man die klingende
Measnng der Theorie des neudeutschen EunstverseB nicht mehr
einräumen, so erscheint ein Vers wie der soeben angeführte als
zweiälbig-stampf. und dann ist zu oonstatieren, dass der einsilbig-
und der zweisilbig-stumpfe Scblnas als fanctionelli^cgcnsfttzlieh
gebraucht werden: in der Periode
Eb wdr ein Konig in ThfUe, *
gar treu bis 6n das Oräb '
eracheint die einsti^'e Zweiheit kliiigeud: stumpf (Xibelungen-Lang-
zeile) als ein Gegensatz von zweisilbig-stumpf: einsilbig-stumpf.
Die unstrophische Diclitung ist auf die Ausbildung gegen-
sätzlicher Versformen weniger angewiesen und bleibt darum oft
in der Differenzierung der Cadenzen um (Mueu Schritt zurück.
Man vei-gleiclie z. B. mit dem filnffilfsigen .Jambus in der Stanze
und in den andern Strophen formen den dramaiisclien .Tambenvers,
der seinen fünften Takt beliebig mit einer oder zwei Silben füllt.
In der mhd. Periode schreit.^t die stroi)iiischc Dichtung (Lyrik,
Spnichpoesie ) vor unsern An;.ren zur stren^'-ern Sonderung der
Versschlüsse vor und entfernt sieii von dem Branche des un-
strophischen (jedichtes. Der Kürenberger, Herger, einige namen-
lose Lieder zeigen noch deutliche Reste von dem Zustande, den
die Reimparpoesie viel länger warte: gelegentliches Vertauschen
stumpfer, klingender und voller Cadenzen.
Die volkstümliche Technik hält Entwicklungsstufen
fest, über die die Kunstdichtung hinausschreitet. Dies zeigt sich
sehr deutlich an der freien d. h. undifferenzierten Cadenz.
Instructive Belege liefern die dAnischen Folkeviser und die
forOischen Balladen. Aus den erstem v^leiche man das Stttck
Tord af Havsgaard (Grundtvig, DGF. I Nr. lA). Die Strophe
besteht aus zwei achttaktigen Langzeilen; ihr Grundmafs ist also
gleich dem der halben Nibelungenstrophe. Aber viel freier ist
die Handhabung der Cadenzen: wir finden ^erseits die beiden
Langzeilentjpen
20]. d)^ di kUnnper
der hämmeren bar ind paa tros
{— klingend: stumpf),
Digiii^cu by Google
88
8i f'/'/ fißg luhitl tili Xerre-field
ali öffuer thet säWie vdnd
voU: stampO
— dies die beiden normaleD Formea des Kibeloiig«ii*Laiigverse8;
daneben aber
Hämmer äff gM
oe b^r&te vor händ na lingi
(— voU: klingend),
8] ihn vor liden LöM
9iUer sig i fUdder-'hänmi^
(— klingend: klingend; oder ist der zweite Vers voll zn lesen?),
4s säa gkk händ i stöffuhi
ält fcr Ihm thäm-greßuB ind (?)
(= klingend: voll),
i9t y ^jv dage fick htm idce mdd
saa häfftwr hun stundet ki^ täl diu
(= voll: voll),
4i mit üdi den gäard
they dxler händ sin skiwid
f= stumpf: stumpf).
Aus Uen öjürdai Kviedi (herausg^. von Hanimershairab, Nr. 1)
nehme man diese Strophen, die in einem Gedichte neben einander
hergehn (die spraclilichen Accentstriclie lasse ich weg):
Ö4 So hoggür hann iSJurdür
fästltga tu
.fifvdir kUyv hann stidjän
og stdbbän vid,
(= k : s, k : s),
41 Sjürdiir kCistar rhjdum släldri
nidur a doklm föld,
td id hann Jir i/rJi sin fddirs d^da,
haim aärtnadi rätt mm
(= V : s, V : s),
89 Hdnn vor a UikvHUum (?),
hann miUum mäma hirßr
rivur ufp elkiMvi stör (?),
AUgemeinee mt Venlebra.
39
kann Umjw aimmair tü hiljär
(= V : k, V : k),
119 Sjürdur stäkk til hjärtäd,
to v^gnrin var trängür,
steikti kann täd a teini,
id triati älin var längür
(= k : k, k : k),
51 B^gin sn/oAdtir hj^
firi händm d
Mnum Mit tu hira
hem av^MüH M
(» 8 : 8| 8 : s).
Die englische Dichtung des 12/18. Jahrhunderts zeigt
ebenfalls das Stadium der undifTerenzierten Cadenz in bemerkens*
werter Dentüchkeit, Besonders ist anf die Gedichte hinzawdsen,
deren Verse von Schipper als „ Alexandriner im Verein mit dem
SeptenaH* definiert werden (Engl. Metrik I 114; Panls Grandr.
IT 1, 1049 f.). Die Anwendung dieser fremden Namen mag im
Hinblick auf die lateinischen und französischen Master eine ge-
wisse Berechtigung haben. Aber es ist dabei nicht zu fibersehni
da-ss sich unter den Septenaren und Alexandrinem der Engländer
nichts anderes bii^t, als die achttaktige Langzeile, dieselbe, die
auch in der Nibelungenstrophe vorliegt, nur dass in den betreffenden
englischen .Stilckon der Cadenz noch mehr l^'reiheit gegeben ist^.
Ein „s('chstaktit(oi' jambischer Vers" ist der mittelon^discho
Alüxandiiiiei keineswegs, auch wenn wir von der frou rii 1 'iiUiuifi-
des Auftaktes und des Versiniieni al)solm. Er ist so wmhj^ sechs-
taktig und jambisch wie sein tVanzösischcs Vorbild. Denn dass die
Franzosen hn 12. Jahrhundert so wenig wie heute scandiert liaben
que desiis cv6cuuc ärhre avoH une piiceUe,
wird man wul zugeben. Der Alexandriner des 12. Jahrlumderts
war, ebenso wie der Alexandriner bei Curneille und Uacine, kein
sechsteiliger, sondern ein vierteiliger Vers (man vergleiche die
*) VgL SchriJer Anglia 5, 238 ff.; Wissnmnn ebenda 482 ff.; Einenkel
eben^ Anseiger S. 36.
40
Ka]>itel I.
Rhytlimisieningcn bei Becq de Fouquieres, Traite gcneral de versi-
fication franraiso, Paris 1879): dieses Grundmafs konnten die
Engländer gar nicht genauer nachbilden, als mit ihrer aplittakti^'on
Langzeile, — ebenso wie die Deutschen im 17. Jahrhundert dea
Alexandriner durchaus folgerichtig als aciittakügc Langzeile
nachbildeten^).
Wir find«! nun z. B. in dor Passion of oor Lord (An
old english Miscellany ed. by B. Morris 8. 37 ff.) diese Typen
der Langzeile:
klingend: stumpf
189 Pe^. quep vre Umerd. nv pu t&jst bo\
klingend: klingend
110 Mayskr, am ich püke» pat Pe wüe so dyhte;
stumpf: klingend
246 And pene pridde day, htm aedf a newa a^reare ;
stumpf: stumpf
87 pQ eeyde ihesu crist, Pet ia godea 9une;
voll: klingend
9 purst* and Hunger, chde, and hek, pis beop strmge inji%e\
voll: stumpf
55 Dunibe speke, Deiie iliere. and pe holte gon,
271 pe Gytves pat lieolde ihesn crist. Muchele schäme him diuh.
(Die vollen und die stumpfen Cadensien sind bald ein-, bald
') Gogon dio hvBehoido Aimahmo, das« der Kltere doatacho Aloxaudriiicr
ein sedistaktlger Ve» sei, sich also ron dou Trimefeor nur dvrch die (rein
syntaktische) CIsur untenehoide, boweisett unter ander» die Melodien, lek
kann Paul nicht beistimmen, wenn er im Grundr. S. 950 meint, der Ale-
xandriner in Rinkarts „N'un danknt alle Oott" sei seiner eigentlichen Natur
entkleidet tind der W'eisf dos volkstümlis^hnn Kin^hong'esang'es angepasst^'.
Diu gesprochunun Alexandriner batton kcmcu andern Rhythmus als dieser
Choral ( — dies neigt Meh da, wo aie in direclw Traktion auf liettte vererbt
sind, wie in den Leberrrimen — ), und sie nltherten sioh damit dem firanaOsi-
schon Vorbilde so weit, als es innerhalb des Opitzischen VersfüUungsprininpea
Überhaupt möglich war. Vor-Opitzische Alexandriner von P. Melissas und
R. Weckherlin, dio sich dem Jambentrab mit Bewustfiein widprsctzori, stehn
dem wechselnden Tonfall dos französischen Verses noch näher (s. in i^inlcgrcfs
Auserloiionon Gedichten Nr, 9 und 16).
Ly Google
A]lgem«bes sor Yerslelin.
41
zweisilbig; voller Ausgang findet sich nicht im zweiten Kurzvere.)
Die vier ei'sten dieser Ijangzeilenformen betrachtet Schipper
als Alexandriner, die folgenden als Septenare. Was er (Engl.
Metr. 1117) mit den Worten sagt : „Für die Verschiedenheit beider
Versmafse hatte der Dichter offenbar keUi klares Verstilndniss^,
das ist wol zutreffender so auszadrOcken: „Die verschiedenen
VersschltlSBe wurden vom Dichter niebt als functionell gegen-
sätzlich empfunden nnd verwertet". Man stellt diesen Versbau in
eine fiilsehe Beleuchtung, wenn man von einer ,,Mi8chung zweier
yersmafee" spricht: die Differenzierung zweier Versarten ist eben
auf diesem Stadium noch nicht eingetreten. Der Dichter gebinncbt
eine Versart in den sechs genannten Variationen, die ihm noch
als gleichwertig gelten. Nur die Bescbrilnkung legt er sich auf,
die volle Gadenz vom zweiten Kurzverae auszoschlieüton: darin
mag sieh wol das französische Muster äafeem, doch ist auch hier
daanit zu rechnen, dass die germanischen Volkslieder gleichfalls
den zweiten Teil der iAngzeilen am seltensten voU aus-
gehn lassen').
Von den hier aufgeführten sechs Formen der Langzeile sind
^ Die Metrik hat Überall, wo es sicli nni .Nadiahniaiigen aniiUtndiacher
Veno bandelt, die Fragte zu stellen: geschieht die Nachbildung mit ein*
heiniischciu Vtnsniatcrial oder wprdon j^anz nonc, frctndartitre Formon ver-
anlasst? — Das letztero ist der Fall 7.. B. beim fllnffUfsiijfMi Jambus, beim
Hexameter. Du» oiiitore trifft zu t)ci den oben besprochenen engl. Lang-
seiloD wie aneh bei den »koraen Reimperen* (Schipper, Engl. Metr. I § 62 (f.,
Pauhi Grundr. § 83): diese Fonuon sind teils gar nkbti tdls nar graduell
vorschieden von den Veiscn des Brut und des King Horn. Insofern man die
lotztcrn für cüo Zok um 1200, also zwei Jahrhunderte nach ihrer Ein-
bürg-onui«,^ als „national" gelten lässt, darf mau gewiss auch den erstercn dieses
Prildicat nicht versagen. Die im Grumlriss vorgenommene Zweiteilung der
englischen Versgoschichtc in »beimische Ilblctra'' und «üemdo Metra" scheint
mir nicht sa billigen. Es ist doch ein Uebelstand, woim untiff den „fremden
Metra** ein Gedicht wie die Passion of our Lord auftritt, worin Verse tou
dieser Art begegnen :
()9 As he com ithto ße hureh. a6 r^^dSndi.
70 J5c children of ße twite, cömen »yngynde.
247 J)U we ihvrde. her-of ir*; hercp icitnesu,
2iltJ ^ önswerede, more. and pe kuße^
L/iy u^-Lu üy Google •
42
Raplfd f.
(ür ei-ste und die letzt <• (k: s und v: s) die beiden Typen des
Nibelun|,'enverse8. Alle sechs sind uns schon in den dänischen
und ftlröischen 1/iedern bi^reg-net; diese stehen auf einer noch
freiem Stufe der metrischeii Tccbnik, als die Piissiun of our honii
noch sind die Keime von einer Schale umschlossen, woraus auf
genetisch jttngerer Stufe die getrennten SchOssliuge hervorwachsen.
^ Alle diese Dichtongen werfen auf die Vorgeschichte der
Nibelnngenstrophe helles Licht: sie geben die Anhaltsponkte, um
den Entwicklongsgang der Strophe Ober das erste historische
ZeugnisSi den Ktlrenberger, hinaus nach rQckwärts za erschlieCsen.
Im deutschen Volksliede ist mir so freie Handhabung
der Cadenzen wie in jener nordischen Dichtung nicht bekannt.
Doch ist das eine den deutschen Liedern in weitestem Umfange
gewart geblieben: die Freiheit, die sich auch das Nibelungenlied
noch in den vorliegenden Versionen des 13. Jahrhunderts nicht
versagt, nftmlich der Wechsel der klingenden Verse mit den vollen.
So z. B. in dem mündlich llberlieferteu Liede bei Erk Nr. 82:
Es waren zwai Gcsjudcn,
die yiciiyen beide spazierm:
die eine führt ein frischen Muth,
die andre itf/ut so sehre
k: k, v: k. Auch die er«te Zeile kann voll sein. z. ß.
Arh Gei^pinfp, lii>hsh' Gespiele mein
und die dritte Zeile kann klingend sein:
(Str. 7) weJid icJi micJt zu d'r Ar?iien,
(Die <reraden Zeilen, die den Lan.L'vers schliefsen, koinien
diesen Wechsel von klin^-^end und voll im allj^emoineu, so viel ich
seile, \ iel seltener. l)age<,'en liudet sieb der Wechsel oftmals aucli
in kui-zen-Reimpar-Strophen.)
Die Erscheinung ist bekannt genu^. Simrock liat schon
auf sie aufmerksam gemacht und sie als Argument fur die ver-
kannte klingende Messung verwertet (Nibelungensti'ophc S. 17 ff.).
Viel seltener werden klingende und stumpfe Verse deich wertig ge-
braucht. Ein Beispiel aus Böhmes Altdeutschem Liederbuch Nr. 136:
Str. 1 Jungfrewkin, 80Ü it^i mä euch gan
in ittem rösengdrien?
Digiti/ea by Gc
AUgcmeiuu» aur Vowlobrc.
48
verglichen mit
Str. ä IcJi kam zu ir in (/arten,
wie manch gut gseü mer tut
v: k correspondiert mit k: s.
Bei Erk Nr. 18d:
Str. 1 Was tv'irst mir mittehringhi
Str. 8 Es ist zwar Euie iiinnk
In dea übrigen Strophen correspondiert die stumpfe Form:
Ack Jimgfer, hUt «cA^n.
Die Melodien solcher lieder zeigen, wie der Wechsel musi-
kalisch behandelt wird: die stumpfe Gadenz wird tlber die zwei
Töne der klingenden ausgedehnt; die metrische Zweiheit wird
musikalisch ausgeglichen. In solchen Fällen ist also der metrisch
stumpfe Schluss dem Vortrage nach ein klingender. Dies ist
schon eine gröfsere Freiheit dem Texte gegenüber, als wenn
klingende und volle Schlüsse auf dieselben Töne gesungen werden;
darum ist es nicht so hiliiti^,^ wir das letztere.
In dem Liede Nr. 22(; bei Böhuie, das metrisch von tnüfscin
Interesse ist, leider aber ohne Melodie überliefert, teil ii sich
sogar alle drei Hauptformen in dio erste Zeile der Strophen:
Str. 4 Mein t^dUoMn, mem t^terUAn (= v)
Str. 2 Die fäM, dis Utih^ (= k)
Str. 5 Ehi jär, \ ein jär \ s).
Der volkstümliche Strophenban des 14. und 15. Jahrhunderts
mnss sieh dieser Freiheiten in liohenn Mafse bedient haben ( Iki-
spiele findet man in Ii. von Liiiencrons Historischen Volksliedern
I Nr. 33. 35. 66. 78. 79. 80. 81. 82. 91. 99): daraus erklärt
es sich, dass die damaligen Beaibeiter mittelhochdeutscher Volks-
epen unter den (irad von Regelmäisigkeit, den die Originaie des
13. Jahrhunderts erreicht hatten, wider tief herabsanken«
Noch freier sls die eigentlichen Volkslieder sind die Kinder-
spräche. Ihre metrische Altertttmlichkeit nnd ihr Wert fUr den
Verstheoretiker schienen unangefochten zu ma; aber sobald man
Digiii^cu by Google
44
Kapitel L
Ernst maehte, sie ftlr die Aufhellimg älterer Perioden zu ver-
werten, regte sich Zweifel und Widersprueh, Sofern sich der
Widersprach mit dem Schlagworte „UebersdAtssung der Kinder-
verse" begnügte, verdient er keine Berdcksichtigung. Dagegen
mochte ich auf die Bemerkung Heinzeis im Anz. f. d. Altert
17, 4 folgendes erwidern.
Heinzel fragt: „Soll sich etwa in der nnverdorbenen Kinder-
seele die altgermanische Metrik erhalten haben, während sie in
der der Erwachsenen durch Schale, Antike und Fremde flber-
wuchert und erstickt wurde ?^ Ersetzt man den Begriff der
„Unverdorhenheit" durch einen passenderen, und sagt man statt
„Kinderseele** Eanderpoesie, Tradition der Kinderpoesie, so mfiste
man in der Tat zu emer Bejahung dieser Frage a piioii, schon
aus allgemeinen versgeschichtlichen Erwägungen genügt s^.
Dass der litterarische Versbau von heute den altgeiinani-
sehen nicht unmittelbar fortsetzt, bezweifelt niemand: Einwirkung
von aolhen hat er im 9. Jahrhundert, im 18., dann im 17. und im
vorigen Jahrhundert erfahren. Dass die Neueiningen Otfirids, der
hofischen Lyriker, der Renaissanoedichter und der neuem Gasm-
eisten nicht bis in die Region dieser volkstümlichsten, nnllttera-
rischsten Dichtung reichten — das dürfte schon von vorh herein
eino ge\>i8se Wahmheinlichkeit haben. Heinzel misst diesen Er-
wägungen kein Gewicht bei; er sagt: „Die Kinder singen und
declamieren, wie sie es von Erwachsenen gelernt haben, in der
Schale oder im Haus, ntarkieren nur den Rhythmus st&rker, weil
sie das podische oder dipodische Greklapper noch mehr ergötzt,
als der Inhalt^. Darnach hätte der Kindervers zunächst seinen
Ursprung in dem der Ei^wachsenen, d. h. doch wol in dorn litte-
rarischen Verse: aus diesem wäre er durch eine Umsetzung
ins Geklapper, ins monotone Scandieren. entstanden, ünd so
wüi'de der Vers der Kindersi)rilclie ci*,^entlich eine Um-
bildung des litterarischen Verses bedeuten, eine genetisch
jüngere Stufe.
Dem gegenüber liefse sich ja darauf iiinweisen, dass die Ueber-
lieferung der Kinderspruche zwar naturgemäfs durcli die Erwach-
senen erfolgt, aber doch nicht in der Weise, dass sich immer
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
AUgameines snr Vfinlehre.
45
wider, bei jeder (ieneration, der höhere Versbau g"leichsam als
Zwischenglied einscliöbe : diese niedere Dichtungsgattung hat ihre
abgeschlossene Tradition für sich — was man als deren wich-
tigste Organe gelten lassen will, sei dahingestellt — , eine Tradition,
von deren enger Geschlossenheit, deren ziüiem Festhalten schon
der Inhalt, die inhaltlichen Uebereinstimmungen der deutschen
Landschaften wie dar verschiedenen germanischen Völker Zeugniss
ahle^'-en. Aber vor allem scheint mir gegen Hcinzel dieser Ein-
wand zu erheben: was die Kinder singen und declamieren, das
unterscheidet sich ja nicht blofs durch den Vortrag, „das po-
disdie oder dipodische Geklapper" von der höhern Dichtung,
sondern nicht minder deutlich und bestimmt durch die objectiven
rhythmischen Fonnen, durch die Grundsätze des Versl)aues. Und
alles das, worin der Versbau dieser Liedchen von der littei arischen
Technik abw eiclit, erklärt sich keineswegs aus dem Princip der
Monotonie. Wäre der littorariscbe Jamben- and Trocbft^vers in den
Gebrauch der Kinderstabe übergegangen und erschiene nun in dem
plappernden Vortrag aus Kindermunde, so hätten wir einen Yera-
bau ungleich monotoner und völlig anders geartet, als er uns
tatsächlich entgegentritt; dann hätten alle Kinderverse Formen wie
etwa diese:
wÜl Khffne K&dim bddeen.
Nun gibt es aber bekanntlich daneben ganz andre Formen.
Ueberblicken wir das Forraenspiel dieser Sprüche, so sehen wir:
die rhythmische Abwechslung ist viel gröfser als in den meisten
Versarten der Kunstiliclitunf^:. Ks kann gar nicht die llede davon
sein, tl;iss dieser populäre Versbau seinen eigenartigen Formen-
reichtum aus der liöher stellenden Diclitung geschöpft habe.
Schon die dipodische Abstufung der Icten
kann fUglich nieht als eine Simplificierang des monopodiscben
erklärt werden. Gienge unser Eindervers auf den Viertakter der
mhd. Dichtung oder Otfrids zurttck, so wäre durchaus zu erwarten.
Kapitel L
i
(lass vier gleichstarko Takte markiert würdeu: die,«? wäre die
nächstliegende Folge der klapperrulen Recitation. Aber wir wollen
hier von dem Gmndmafse abseha und uns nur auf die Vers-
fdllun^^ bpnifen: sie stellt uns unzweideutige Tatsachen vor die
Ansron. und wenn wii- vDibin sagten, der ultertlunliclie Charakter
düs Kmdorverses «ei a priori wahrscheinlich, so lilsst sich das an
den (Grundsätzen seiner Vorsfullung im einzelnen beweisen. Man
bmuelit dafdr kein neues Material hinzustellen: was von 8tolte
a. a. 0. S. 16 f., von Sievcrs Jieitr. 13. \m. 132, von HiUlo-
brand Zs. f. d. d. Unterr. 3, Heft 1, von mir Z. Goscb. d. ad.
Verskunst S. 10. 45 angeführt worden ist, j^ena^rt, urn ■ Vers-
t'üllunfj: der Ivinderlicder nach iliron wichtigsten Seiten hin zu
verfolgen, ich hebe dies hervor:
1) der Auftakt uA frei: zwischen auftaktigen und auftakt-
losen Versen wird nicht planmä&ig geschieden; ebenso venig
zwischen «nsilbigen und mehrsilbigen Auftakten.
2) Die Fiüluug des Yersiunero, also des ersten 74''^^^tes,
kennt diese Formen:
( o I vgl. das von mir a. a. 0. citierte Beispiel und den
Schlnssvers von „Hä.«?lein in der (^rul)e", den ich mehrfach in
dieserForm aus Kindermund gehört habe: Hos Itüpf J o | j^;
I 1^ I z. B* 1 safa und |, j kriecJi aus |,
I 1^ p * I z. B. j ßiiko von I , i Zucker und ^ ;
I f f f I z. B. I Sekneek im Haus | , | anhe hrot | ;
I * f ' f I z. B. I backe, bcicke \ u. s. f.;
I f f I z. B. |<lm lääerig];
z. B. j 's Sünmli schint |i
I r f r £r I B. I soU go *a Joggdi |;
1 r lT r r I z. B. l HdnscUma het |;
Allgemeines sur Venlebre.
47
I f f I z. B, I bringen im Maitdi |;
I r r rrr r i b. i «wf jßtMß* 1.
(Die letzten sechs Hoispiele, mir aus mündlichem Vortrage be-
kannt, sind anfgezeiclinet bei O. A. Seiler, Die Basler Muadart
(1879) ö. 185. 147. 181. 162. 20:5. 15S.)
Diese Formen lassen sich wol noch vermehren. Sie reichen
an^, um ilie ofse Manigfaltigkeit der Takt füll an«? zu zeigen; die
Sübeuzahl beweg^t sich zwischen 1 und 6; der giöste metrische
Wert ist achtmal so giofs als der kleinste. Man bemerke, dass
alle diese Takttypen piomiscue ficbiaueht werden k(5nnen: es
sind ans diesen Vci'scliiedenheiteQ keine gosondcrtea Yeimi'ten
entwickelt worden.
3) Die Filllung der Cadenz, d. Ii. des zweiten V*-Takte8,
kennt u. a. diese Formen (wofür sich die Beispiele an den an-
geführten Stellen bieten):
IT;
irr . ITT ;
irr . irrr . irrrr .iror-irc/rr.
Aucli diese TersschlQsse sind nicht fanettoneU differenziert;
man kann sagen: an jeder Stdle der „Strophe'' kann jede Cadenz
eintreten. Dies ist der Grund, dass die Periodenbildung d^
Kinderlieder von primitivster Einfachhdt ist Entwickeltere
Strophenformen aus Versen desselben Grundmabes sind nur
dann möglieh, wenn die Grenzen gegensätzlich verwendet
werden.
Den hier angedeuteten BigentUmlichkeiten der Versfbllang
steht man ohne Erklärung g^peaflb^, wenn man mit den metrischen
Grundsätzen unsrer Kunstdichtung an sie herantritt. Aber es
genOgt auch nicht, auf den Versbau etwa des Nibelungenliedes
oder auf Otfirid zurackzugehn: ans dem altdeutschen Beimvers
lassen sich diese Taktformen nicht herleiten. Dagegen finden sie
sich alle ausnahmslos wider im Stabreunverse, wenn man diesen
nach der Zwcitakttheorio rhythmisiert. D&c Versbau unsrer
Kinderüeder — ebenso wie der unsrer metrischen Sprichwörter
48
Kapitel I.
und Fornieln — mnss unmittelbar an den altgermaniselien ange-
knüpft werden.
Sollte jemand die Ansiclit Kauffmanns teilen (Zs. f. d.
PhU. 25,558), dass man den Kindervers „nicht an die Alliteration&'
dichtung, sondern an die vulgaren lateinischen Rhythmen unmittel-
liar ansehlie&en^ müsse, so hätte er sich um den Naehweis zu
bemühen, weshalb die Kunstdichtung, die ihrerseits von den
vulgären lateinischen Rhythmen beemflusst war, in alter wie in
nener Zeit einen Versbau zeigt, gänzlich verschieden von dem
oben skizzierten.
Ist uns irgend ein poetisches Denkmal ohne Notenschrift und
ohne klare theoretische Belehrung (wie etwa die Aristoxenische)
überiiefert, so kann der Versuch, seine Rhythmen zu reoonstroieren,
meines Brachtens nur dann gewi|gt werden^ wenn man sieh auf
lebendige Formen stützen, sich von einem realen überlieferten
Fbrmgefllhle leiten lassen kann. Bei jedem schriftlich dai^botenen
Verse wird schon die Betrachtung seiner sprachlichen Struetur
zu einer Anzahl von Schlüssen führen. Aber diese aus dem
Texte allein gewonnenen Schlosse reichen niemals aus, eine genaue
metrische Definition, d. h. eine Bestimmung von Gmndmafs und
Versfüllung zu erlauben. Fehlt der Zusammenhang mit lebenden,
sinnlich wamehmbaren Rhythmen, so müssen alle jene unmittel-
baren Beobachtungen am Texte vieldeutig bleiben. In solchen
F^en muBS sich die Metrik mit allgemeinem, unbestimmtwen
Formolierungen beschmden, wie etwa beim avestisohen, beim
vedisehen Vei'sbau, auch beim dr6ttkv»tt der Skalden: das Form-
gefühl dieser Verse lebt nicht nach. Ich kann nidit mit Sievera
Agerm. Metr. S. 24 glauben, dass das ästhetische Experiment —
d. h. die Ueberlegung, in welchen Rhythmen uns die Verse am
besten gefallen — Ansicht auf Erfolg hat, wenn es die Stütze
einer traditionellen metrischen Formensprache entbehrt.
Die metrische Forschung war sich nicht immer bewust, in
welchem Mafise sie einem ererbten FormgefQhle folgte. Lachmann
hat sich, als er den Vers Otfrids deutete, nicht auf den volks-
tümlichen Viertakter im lebenden Brauche berufen. Abei* es ist
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
Allgomeines nur Venloln«.
4d
keine Frage, er hätte die vier Hebungen, die einsilbigen Takte,
die mehrsilbigen Auftakte, die klingenden Schlüsse nicht mit der
Sicherheit postulieren können, wenn ihm niclit ein concrctos Forni-
geilUhl die Wege gewiesen hätte. Wie sehr ohne diesen Factor
ein verhältnissmaföig so durchsichtiger Versbau wie der Otfridische
missdeutet werden kann, zeigt das Buch von Kawczynski, Essai
comparatif sur l'origino et riiistoim des rhythmes (Paris 1889)
S. 48. Die Irrtümer in Tjacbmanns Metrik fangen immer da an,
wo die latente Vereempfindung nicht mehr w irkt, und wo spracli-
liche Beobaehtungen unmittelto metrisch gedeutet und zu Regeln
verallgemeinert werden.
Wie die geschriebenen Worte irgend einer Spiache nur da^
durch phonetisch erläutert werden kOnnen, dass sie, durch viele
oder wenige Zwischenstufen, an lebende Sprachlaute angeknflpft;
werden, so gibt es für geschriebene Verse keine metrMe Inter-
pretation, die nicht in letzter Linie von heutigen Bhythmen
ausgienge.
Die Methode der Verslehre ist von der der andern histo-
rischen DIsciplinen, üb besondem der Sprachgeschichte, nicht
grundsHtztich verschieden. Deseriptlve Buchstabenlehre und
historische Lautlehre können nicht scharf getrennt werden: schon
bei der Statistik der I/autzoichen muss die Einteilung, die Grup-
pierung von phonetisdien und geschichtlichen RUcksicliten bestimmt
werden. Die Formenlehre kann nicht zuerst die Flexionen aus
8i<di selbst erklären (also z. B. den gotischen Genitiv dagia aus
dem Nomuiativ dags durdi Einschnb von t), um hernach diese
Erklärung von historischem Gesichtspunkte zu modiflcieren. So
ist auch in der Metiik die descriptive Untersuchung des Vers-
materialiBs durch mancherlei Fäden mit der rhythmischen Deutung
verknüpft Es wäre unmöglich, ^nen poetischen Text zu classl-
ficieren und Regeln der bescheidensten Art aufizustellen, ohne dass
schon rhythmische Kriterien vorschwebten und die Einteiiungs<
linien vorzeichnetmi. Tatsächlich ist denn auch niemals auf Grund
rein statistischer Beobachtung ein Versbau beschrieben worden.
.Auch Sievers Fanftypensystem ist schon in seinen Anfängen von
gewissen ihythmischen Postulaten ausgegangen, die das Material
UeuBler, Oerm. YarslMUi. 4
50
Kapitel I.
nicht entgejfenbrachte, die hypothetischer Natur waren. Uebor
das objectiv Erkennbai*e und Beweisbare schreitet auch der Teil
der Agerra. Metr., der nach Sievei-s S. XI imi die Praxis ent-
halten soll, weit hinaus. Die dualistische Fors(:liiin<jrsmethüde, die
Sievers für die Verslehre verlanprt, die Trennung von jjPraxis und
Theorie" d. h. von Beobachtung und Conibination, ist mir an-
scheinend durclifdlirbar. Wenn man auf die Kntatehungshypo-
thf^'=on dor Stabreiniiiietiik hinweist, um das Unsichere und
Piolilf'iiKitisclie des hypothetischen Yerfalirens an einem hervor-
ragenden Beispiel zu zeigen, so dai-f dies doch nicht darüber
hinweg teuschen, dass, auch Ijei vollständigem S'ei-zicht auf jode
prähistorisclie Ableitung, des Ryi)ot]i('tischen genug übrig bleibt.
In der Verslehre wie in tIfMi vei wandten Disciplinen wird das
Verfahren als das beste gelten müssen, worin sich Beobachtung
und Combination, sprachliche Statistik uad rhythmische Deatimg
am ionigston dmchdringon.
Kapitel II.
Metrisehe Streitfragen.
In § 3 der Agerm. Metr. änfsert wSievers eine Reihe von
Bemerkungen „zur Kritik der älteren Theorien". Soweit sich
diese Kritik gegen die Zweitakttheorie richtet, möclite ich einiges
darauf erwidern. Mit „Zweitaktthoorie" bezeichne ich die Auf-
fassung dos Stabreim vei-ses, die zuei"st von Jordan (1868) ge-
ahnt, von Amelung (I STI ) Nkiz/iert, soüanu von Möller (1888)
eingehender begründet worden ist.
Iiideni sich Sievers zunäclist der subjectiv {Isthetischen Seite
der Frage zuwendet, bemerkt er speciell gp^ren die Zweit akttheorie,
dass sie „wenij^stons die ;i1h'rLrn»I)sten Verstul'sc gegen Satz- und
Sinnesaccent" vermeide, aber nur allenfalls auf eineu zugestutzten
HildebrandsUod- oder Muspillit«xt anwendbai* sei. Von den starken
Verstöüsen gegen den Accent, die demnach der Zweitakttheorie
immerhin zur Last fallen sollen, ist mir nichts bekannt. Die
Haapticten vrerden den nämlichen Silben zuteil wie bei Sievers
(wenn wir von den Seh well vei*sen und vom LjVjdaliattr abeebn,
die an dieser Stelle offenbar nicht ins Auge gefasst sind), und
dareb die Nebenicten, die Moller abweichend von Sievers statuiert,
wird niemals eine sc]jwii('hei*e Silbe über eine stärkere erhoben;
das spracbliehe NacbdruoJcBverh<niss der Silben bleibt in der
Zweitakttlieorle stäts gewart. — Der Vorwurf aber» dass eine
VergewaltigunGT der Texte nOtig sei, trifft die Zweitaktlehre am
allerwenigsten; denn sie kann aneh die Verse, deren Zosammen-
Setzung von dem vorhersehenden Brauehe abweiobt, immer nocb
als Verse, als metrisehe Gebilde, die ans ilirer Umgebung niebt
voUstllndig herausfallen, begrdfiich maehen.
4*
Digiii^cu by Google
Kapitel iL
„UnertillgliclL*' aber Beont Siekers die Cpniraste von „U«l)er-
dehnnog auf der dum und Ueberhasttmg auf der andern Seite",
und er glaubt, die Verse im Hildebrandsllede [Dohjmaht du nu
aodWiho If. mflsten wohl anf die meisten HOrer den Eindruck des
Grotesk-komisohen machen. Ein Streit de gustibus wäre nicht am
Platze; doch erwSge man folgendes. Dass eine Beihe von vier
und mehr Silben schneller gesprochen werde, wenn sie im Auf-
takte steht, , als wenn sie das ganze Versinnere aoamacht, das be-
zweifelt niemand. Nach den Bemerkungen Agerm. Metr. S. 204
denkt sich auch Sievers die silbenrächen Auftakte oder „Ein-
gangafüfee" in schnellem Tempo gesprochen. Das AnstOfeige kann
also nicht in der Ueberhastang an und fllr sich liegen, sondern
nur darin, dass ein and derselbe Vers sehr kleine Zeitwerte mit
sehr grofiißn verbindet Ich neige hier vielmehr zu der entgegen-
gesetzten Ansicht: die sObenreiehen Auftakte eilangon nur da-
durch ihre kdnstlerische Wirkung, dass sie in den ausgehaltonen
, Langen des ersten Verstaktes- ihr starkes Gegengewicht finden.
Diese metrischen Contraste betrachte ich als das Ausdracksmittel
des Pathos, das dem altgermanischen heroischen Stil eigen ist:
der contrastraiche Versbau ist die angemessene Form ftir diese
Poesie, die unermQdlich im summum genus dicendi einhersohreitet
Die Entwicklung des germanischen Vorsbaaes ist die, dass die
metrischen Contraste mehr und mehr ausgeglichen werden. Otfrid
ist nivellierter als das Hildebrandslied; die Wiener Genesis ist
wider weni^'oi glatt als Otfrid, weil altortnmlicher, der niedem
Tradition nälier stehend; Konrad von Würzbarg erreicht einen
hohem Grad der Ausglättnng als Otfrid; der Versbau des 14.
15. Jahrhunderte und der Hans Sächsische Vers sinken von dieser
Stufe wider zurück, was die Fällung der einzelnen Takte und
dos Auftaktes betrifft; mit Opitz setzt sich die letzte Nivelliernng
des Veri^ durch, und diese so durchgreifend, dass die Contraste
der Zeitwerte völlig ausgeglichen sind ; die Entwicklung seit Opitz
zeigt, unter dem Einfluss der Antike und des deutscli-volkstdm-
Hehen Verses, eine erneute Reaction gegen jene Nivellicrung : der
.Tarabeiitiab boluuiptet nicht mehr das ganze Feld; in einzelnen
Dichtungon, wie etwa in dem Goethischen Kllnstlers Erdewalleu,
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
Metrische Streilfiegen.
69
wird ein Contrastreichtum gewonnen, der dem des 12. Jahrhunderts
ebonbüi-tig ist. Die Entwicklung des detttschen Versbaues weist
darauf hin, dass eine Teehnik, reicher an Gegensätzen der Zeit-
werte als alle folgenden, am Anfange steht. Der Stabreimvers
und der Jambentrab sind die beiden Extreme in der germanischen
Yersgeschidite.
Kehren wir zn den Versen ans dem HildebrandsUede zurOidc,
die die ungewollte Komik wecken, so ist nieht zn Uberseheni dass
die starken Contraste, die Urheber dieses Eindnudces, nieht ohne
Plan angebracht sind.
Die beiden Silben, die Je einen ganzen y^-ltki ftlllen, | o | ,
sind aod- in dem Verse
maht du nu aodlMo
und reht in dem Verse tbu du dar Snic reht haXies; der Fiatt,
dass zwei Sflben den ersten Verstakt füllen, 1 T ^ | , tritt ein bei
dien in dem Verse
ibu dir ^ dien taoe
und bei wSwurt in dem Verse
tvSivurt skihit.
Dies siüd die einzigen ,,Ueberdeliiiuii^'-en", die Uber das prewöhn-
liche Mafs des altdeutschen Reimverses hinau.s;^^chn. Mir scheint,
dass der bogritfliche Gehalt dieser Worte, der rhetorische Nach-
druck, der sie trifft, ihr langes Aushalten motiviert. Die beiden
Auftakte sodann, die eine Spaltung in kleinere Zeitwert« als J
fordern, sind ihn dir dfn und Um du dar enic; sie be,stehn also
aus naclid rucklosen l^'ormwurtern; in beiden Fällen folg-t eine
der vorliin *(enannteu ,.nel)erdehuuDgen", worin die Aufiakie ihre
Stutze linden; auch dem au.strehaltenen aod-ffhho gelit dreisilbiger
Auftakt vüi'aui;. Mag man diese Disposition de?- Zoitwerte schön
finden oder g-rotesk-komisch planlos ist sie jedenfalls nicht;
von groben Verstöfsen gegen den Aceent ist keine Si)ur. Soll
nach Siovers Vorgang der Appell an das Gefahl des Lesers
oder Hörers erlaubt sein, so kann man darauf hinweisen, dass
Wilhelm Jordan, dem das Stimmrecht in dieser Frage nicht
wol abzusprechen ist, von aller philologischen Theorie unbeirrt,
nur seinem Formgefhbie folgend, altgermanische Verse in einer
Digiii^cu by Google
54
Kapitel IL
Weise rliytlmiisiert hat, die sich mit der Zweitakttheorie aufs
nächste berührt (Der episclie Vers der Germanen, Frankfurt a. M.
1868, bes. Beispieltafel bei S. 16). Man vergleitihe etwa
tr I n rp
mt dih es so wd ht^,
Abgesebn von dem pdncipiellen Punkte, dass Jordan auch die
sprachlich Inirzen Starktonsilben dehnt, z. B.
PI rci rp
ne svahr unnir,
weicht seine Auffassung nur in Nebendiiigen von der Amelung-
MOllorschcn ab.
Jordan befindet sich in einer ähnlichen Lage ^vie Amelung:
ohne den Versbau der Sprichwörter und Kinderlieder zur Stütze
heranzuziehen, rhythmisieren sie instinctiv aus dem Formgefilhle
dieses germanischen Mafises heraus und gelangen unabhSagig zu
wesentlich gleichen Yersblldem. Ich kann nicht Iftugnen, dass
mir dieser Umstand — neben den versgeschicbtlichen Erwugungen
— nicht bedeutungslos ist für die Abschätzung der Zweitakt-
theoiie. Es ist schwer zu denken, dass je der Formensinn eines
Dichters darauf verfiele, die attgermanische Poesie in den Rhyth-
men des FUnitypensystemes zu hOren. — Mag man Jordans
genannte Rhythmisiernngen f&r gut oder schlecht halten, sie
verdienen jedenfalls ihre Stelle in der Geschichte der Metrik,
weit eher als z. B. Schmeller; schon dadurch sind sie bemerkens-
wert, dass sie zum ersten Male — neben Edvin Jessen and un-
abhängig von diesem — fbr den nordischen, den englischen, den
deutschen Vera eine einheitliche Form aufteilen; das Problem,
woran die ältere Vierhebungslehre gescheitert war: Hildebrands-
lied und Vpluspi metrisch zu einigen, ist von Jordan gelost worden.
Auf S. 13 sagt Sievers: „Auch MOUers Scansion verstofst wie
die alte Vierhebungstheorie gegen wolbekannte Tatsachen der Vers^
technik und lasst andere uneiklärt''. Da Movers für den ersten
Teil dieses Einwandes kern Beispiel gibt, weif^ ich nicht, woran
er bei den Verstoßen gegen die Tatsachen denkt. Dass andere
Punkte bei der Zweitakttheorie unerklärt blieben, wird mit
Metrische Streitfragen.
55
folgendem gezeigt. Verse wie arist söht^ ^trest h9 h\m ge-
Mü u. a. (so DACh Möllens Seandon) siiul im Engliadieii lAnfig,
man darf sie „richtig*' nennen; sie legen den Nebenietus des ersten
Taktes anf eine sprachlich schwachtonige Silbe; „nun werden abor
Verse ^vie c^hta söht^^ ünldide scetdn oder gar (er^ta ges^hUf
ünhltde gesditön tatsächlich gemieden, obwol sie genau dasselbe
Versbetonungsschema geboten hätten, wie die oben angeführten
jiiclitigen' Vei-se. Der Grund hierfür könnte doch nur darin
liegen, dass Wer die zweite liebung [der erste Nebenictus] nicht
auf eine sprachlich unbetonte, sondern eine nebentuiiige Silbe ....
gefallen wäre. Man gelangt alsu zu der für germanische Metrik
sichtlich absurden Re<:pl : schwächere Hebungen dürfen nur auf
an sicli« unbetonte, niclit auch auf nebentonige Silben fallen!"
Ich gebe zu, dass diese Regel keine mildere Benennung verdiente.
Allein, auch abgesehn von dem Einwand, den Sievers selber
gleicli in den folgenden Sätzen ei-liebt, möchte ich den angedeuteten
spracidichen Tatsaclien einen andern Schluss entnehmeu. Zuerst
ist festzustellen: Verse nach der Art von a^resta s6hU sind nicht
durchaus gemieden; sie koiunion in der Kdda. im ITeliand, im
iiildebrandsliede vor und, wenn man beim hnglischen bleiben
soll, auch z. B. iiu Beowulf, und werden vou Sievers selbst
registriert; vi^l. Beitr. 10, 227 f 250 Note. 277 f. 310; Agerm,
Metr. § «5, 2. Die zahlreichen Verse wie
1j. 1517 ffürgrip' flodcs 1066 (jomcnwudu gn ted
sind bei der Besprechung dieser Frage mit in Betracht zu -'.ielm,
da die Lagerung der Acccnto fdio sprachlich starktonige Silbe
im ersten Ncbcnictus, bei dem Ausgang _ v,.) hier dieselbe ist.
Nur unter bestimmten Bedingungen, im Beowulf, wenngleich niclit
ausnahmslos, in den geraden Kurzvereen, werden diese Formen
gemieden, und deshalb ist nicht daran zu denken, dass der-
artige Silbengruppen für die metrische Khytlimisierang untaug-
lich gewesen wärcn: es kann sich nor um eine Speciahregel
der Versfüllung handeln. Darnach mnss sich die zu formu-
lierende Vorschrift richten: ein ganz allgemeines „darf" und
„darf nichf* ist hier unstatthaft. Nach der Zweitakttheorie ist
die Sache so aufzufassen: wenn ein Wort wie ieresta, fSrgrijpe
56
Kapital U.
in einen */t'TM i x X x X I gestellt ^^ild, so fällt dio dritte
M(»ra dieses Tulttes, der schleciitü Taktr< il, auf die sprachlich
starktonigc Silbe -f^ff-, gri-\ dadurch wird dieser schlechte Takt-
teil stärker ausgeprägt (x). Man kann die 'i'akte mit dieser
Füllung „voll" nennen. Fällt der schlechte Taktteil auf eine
sprachlich schwachtonige Silbe, wie in den Takten | wrest |, mrest
he Jiine^, so wird er schwächer ausgeprägt (x). In Ermangelung
eines bessern Namens kann man diese Takte „klingend" nennen
fobwol die Bezeichnung nur ftlr Füllungen wie | wrest |, mäclum \
zutrifft). Die vollen und die klingenden Takte sind, vermöge
der ungleichen Ausprägung des Nebenictus, rhythmisch ver-
schieden und wei^den deshalb als functionell ungleichwertig
gebraucht: es kann nicht beliebig ein voller Takt in (Me Stelle
des klingenden eintreten und umgekehi-t
In ansenn speciellen Falle ist die Regel so zu formulieren: einige
Godiclite oder (im Boowulf) die geraden Kurzverse verbinden klingende
Gadenz wol mit klingendem, oiebt aber mit vollem erstem Takt
Der Einwand, dass diese gegenseitige Abhängigkeit von Ca-
denz und Yersinnerm etwas Unmögliches sei, könnte sich jeden-
falls nicht auf allgemeine Gesetze des Rhythmus berufen, sondern
nur darauf, dass im Keimverse diese Abhängigkeit nicht mehr
besteht. Ich glaube allerdings, dass in diesem Punkte, in der *
Balance der Yersglieder, eine Eigentümlichkeit des Stabreim-
verses liegt, die später nicht in der Weise widerk^rt — denn
der Hans Sächsische Vers bietet in der Tat keine genaue Parallele
(dievers S. 15 Note), weil er die Balance der Yersglieder nur
nach der Silben zahl, nicht nach der Tonstftrk» und Quantitftt
regelt. Aber man darf fi-agen: ist jemals eine Deutung des Stab-
roimversss untemommen worden, die ihm nicht sehr tiefgreifende
Abweichungen von der Beimversteehnik hittte zuteilen mttssen?
Sievers selbst behandelt Stabreimvers und Beimvers derart als
incommensurable GrOfeen, dass von seiner Seite jener Einwand
nicht zu erwarten ist.
Was Sievers im Anschluss an die vorhin citierten Sfttze
(S. 18 f.) bemerkt, darauf wäre ans dem gleichen Gesichtspunkt
^sti orwidcm. Das „Taktiemngssystem** fordert el^en iiich^ filf
L.iyui<.LU Oy VjOOQle
Mebriaclio Stroiifingeii.
Ö7
den sclilpchteii raktteil „genau gleiche Betonung". Der metrische
ßahnien stellt die dritte» Mora des Taktos als neutralen Wert zur
Verfügung; durch die jeweilige Taktfüllimg- erluilt sie ihre concrete
Ausprat^ang (vgl. o. S. 32); dabei sind die drei FiUle zu unter-
scheiden: sie wird pausiert; sie ruht auf einer sprachlieli schwach-
tonigen vSilbe; sie l uht auf einer sprachlich starktonigen Öilbe.
Ein weitrer Punkt. In Versen wie
hringneU heran
panon tvöc fela
fasst Sievore die Cadenz ^ ^ als gleichwertig wii L sj . In den
Versen gnmmmna fela
ofer landa fela
fasst er die Cadenz ^ ^ als „Auflösung von i Dies berulit
darauf, dass in Versen der ersten Art statt eines heran, fela
(v/ ^ auch ein hceron, fengel {L -) eintreten kann, wogegen in
Versen der zweiten Art mit dem fekk {C ^) ein tiän (S.) wechselt.
Es wäre also nichts einzuwenden gegen die Regel: ^ ist
in einigen Fällen functionell gleichwertig mit S, w, in andern
Fällen fimctioiiell gleichwertig mit 1. ; oder, anders ausgedrttokt:
gewisse Verse gebrauchen beliebig die Cadenzen ^ w und ±
gewisse andre beliebig die Cadenzen ^ w und Jl .
So weit und keinen Sehritt welter führt die Beobachtung der
Tatsachen. Sievers jedoch geht darüber hinaus und deutet die
Verhältnisse so, dass w w in den beiden genannten FäQen „ein
verschiedenes Zeitmal^*' erhalte. In § 171 wird dies dahin
erläutert, dass ^ w, wo es mit 1 ^ abwechseln kann, auch
seinem realen Rhytlimus nach dem ± ^ „annähernd gleichwertig"
sei; dagegen wo ^ ^ durch 1 vertreten werden kann, da hat
^ w die normale Dauer einer Silbe (§ 170). Wenn Sievers
§171 sagt, diese Deutung beruhe „auf festgestellten Tatsachen''
und zu weiterer Bekräftigung diese Tatsachen noch einmal vor-
führt, so ist ausdrdeklioh zu betonoi, dass die Tatsachen aber das
Zeitmafö der Silbengruppen nichts aussagen: Sievers Erklärung
gehört schon dem Bereich der Hypothese an; man kann sie be-
zweifeln, ohne festgestellte Tatsachen zuläugnen. Das tatsächlich
grweisbare hält ^icU ^u den Grenzeii des vorhin formulierten Sa^zest
58
Kapitel U.
Da der gesaminte Kt'rraanische Versbau alter und neuer Zeit,
soweit er noch mit den kurzen vStarktonsilben rechnet, die zwei-
silbii,'--sluinpfe Cadenz ^ w (fcla) von der klingenden Cadenz
(h(pron) rhythmisch aufs bestiumiteste unterscheidet, indem
jene die Messung: ! x x . diese die Messnnjf | 1 x erhält, ist
CS m. E. bedingungslos ausgeschlossen, dass der stabreimende Vers-
bau von diesem alt germanischen Bmuche eine Ausnahm'^ niacliB
und den beiden Cadenzen in bestimmten Fällen annähernd die
gleiche Messung verleibe. Der Ausgang fela hat ia Uea beiden
Versen
jHtnon wOe fda nnd
ofer Umda fda
die nftmliche rhythmische Form | x x > und er ist von der Cadenz
hmfdm oder tvicum in den Versen
g^tOn haefdm
geworden in iv^m
— 1 ^ >< bestimmt antersehieden.
Der ..gesteigerte 'ryiius A 2" (trfsffpsf wordum) und der
„gekürzte Typus A 2 (niih'üd irarum) werden im ßeowulf und
wol in den ineisLen andern Dichtungen nicht in gleicher Häutigkeit
auf die beiden Kfir/verse verteilt (s. z. B. Sievers, Agerm. Metr.
§ <S4, 3 b, Proben iS. :i8): der zweite Kureve!*? begünstigt viel
mehr die ,,gek<lrzte" Form. Diese ("^nterscheidimg, die über den
Zufall hinausgeht, zeigt, dass auch in diesem Falle der klingende
und der zweisilbig-stumpfe Schiuss nicht ganz gleichwertig functiü-
nierten; schon darnach ist es unwahrscheinlich, dass sie ihrer
rhythmischen Ciestait nach annähernd gleich waren. Vielmehr
wird Fuhr das Richtige getroffen haben, dass nämlich der gerade
Kurzvei's im allgemeinen größere Vorliebe für den stumpfen Schluss
hat (Metr. d. wgerm. AUittverses § 41. 72).
S. 14, 7 kommt Sievers zn dem Auftakt Nach der Zwei-
takttbeorie hat der Vera
pone god sende
einen zweisilbigen Auftakt: pme. Man dürfte den Vers dieses
Auftaktes nicht berauben, weil damit seine Ffillnng unter das
Metriacbe Streitfragen.
50
Normalmafs des episclien Verses herabsänke, ümgekelirt dtlrfte
man einem Vers wie
(efter cenned
nicht unter allen Umständen einen Auftakt beifügen. Also das
Vorhandensein oder Fehlen des Auftaktes ist bedingt dui*ch die
Füllung des Versinnem und der Cadenz. Der Auftakt ist nicht
principiell frei.
Sievers erklärt dies ftlr rätselhaft und unverstäodlicb, denn
— „ein echter Auftakt steht aufserlialb der mit einer Hebung
beginnenden rhythmischen Reihe, und diese selbst erleidet dui*ch
Synkope keine Verttnderung'*. Dieser Satz ist in seinen beiden
Teilen schwer verständlich. Was soll es bedeuten, dass der Auf-
takt „aultorhalb der rhythmischen Reihe" stehe? Ist es denn fCir
den Charakter eines rhythmischen Motivs gleichgiltig, ob es mit
nachdruckstosen Teilen beginne oder mit dem guten Taktteil?
Jedes musikalische Motiv wird aufs fühlbarste vei-ändert, sobald
ich ihm seinen Auftakt entzielio oder dem auftaktlosen einen Auftakt
zusetze. Beim gesprochenen Vci-se ist es nicht anders: ein Vers
mit Auftakt ist rhythmisch nicht dasselbe wie ein Vors ohne
Auftakt. Daduicii dass die graphische Bezeichii iiu dcu Takt-
strich vor den Ictus lo^^t, soll die Bedeutung de^ Aiiftakte~s uiciit
abgeschwächt worden. Der Auftakt steht vor dem Taktstrich,
keineswegs aufserhalb der rhythmischen llcihe.
Auch bei den \'crsen, die das; Princip des freien Auftaktes
befolgen, wie die volkstilmliche gci-manisclie Koiindichtniiy, ist der
Auftakt keine rhythmische Null: ob ein Auftakt vorhanden ist
oder nicht, emptindot Dichter wie Hörer. Nur ist hier dieser
(Unterschied nicht im yiinie einer metrischen DitTerenzierung ver-
wertet (vgl. 0. S. 30 f.). In der episclien Stabreimdichtung- ist der
rhythmische rntorschicd zu ciniMn Functionsunlerschicd(> erhoben.
Ist der eine \'erstakt klingend, der andre stumpf, oder sind beide
Takte stumpf, so ist Auftakt gefordert :
pone I god \ sende
him on \ caxlc \ l(sg
tö I West" I denum.
Weniger scharf hat sich die functiouelie iSonderung ausgebildet
Digiii^cu by Google
60
Kapitel II.
in dem Falle, dass beide Verstakte klingend geMlt sind: neben
den stark Uberwi^enden anftaktlosen
I rSde \ cempa
(womit funcüonell gleichwertig
I iviht ge- \ wyrcan)
zählt der erste Kurzvers des Beowulf eine nicht ganz kleine
Zahl, ö7o nach Sievers S. 15, von auttaktigen
pwi pec I ytnhe- [ sitfend,
wogegen der zweite Kurzvers hier den Auftakt, nach Sievers, nur
in 7—8 Fällen aufweist, also eine ähnlich strenge Sonderung
trilft, wie die Mchraalil der eildischen Fomyrdislaglieder. Bei
den Skalden ist der Auftakt unter allen Bedingungen gebunden.
Wenn Sievers in dem citierten Satze schlielst : die rhythmische
Reihe „erleidet durch Synkope keine Verändernng'^ — wonach
z. B. die drei Reihen
\ L \ 1 \ 1 \J.
l)^xlxxlxxU '
Ixv^wl :^x l}5:v^vy| ^cx
ein nnd dasselbe rhytlunische Motiv wäreo — , so kann ich mir
den Satz nur aus der Verwechslung von Gmndmafis und Vers-
flQUung erkUren. Die „Synkope" sowol wie der Auftakt shid
wesentliche Factoren des Versrhythmus; und dass sie ia eine
gegeaseitige Abhängigkeit gebracht werden, kann man nicht als
metrische Unmöglichkeit bezeichnen (vgl. o. S. 56).
Sievers Leiilhrt weiterhin den Umstand, dass die Auftakte in
den erstgenannten Versen (Typus B und C) häufig das Mafs von
3 — 5 Silben erreichen, wogegen sie in andei'n TjT)en (A, D) kaum
je über zwei Silben hinausgehn ; er fragt : „warum genügten denn
da [in B, C] nicht auch die ein- bis zweisilbigon Auftakte?"
Aber man kann dof'l! nicht sagen, dass diese nicht genügt liätten,
da der l>eowulf die C- und B- Verse mit ein- bis zweisilbigem
Auftakt zu Hunderten aufweist. Eine gegensatzliche Verwendung
des zweisilbigen und des drei- und mehrsilbigen Auftaktes ist
nicht zu statuieren, da sich jeder auftaktige Verstypus mit ein-
silbigem oder zweisilbigem Auftakt be^aU^n kann, Daraus tes
ICdttisdhe Stioitfragen.
61
die einen (schwerern) Versformen den Auftakt nur selteii zogen
und gleichzeitig seine Silbenzahl beschränken im Gegensätze zu
andern (leichtern) Yersformon — daraus kann docii nicht gefolgert
werden, dass wir es nur in dem einen Falle mit „echten Auftakten",
in dem andern Falle aber mit dem rhythmisch undefinierbaren,
metrisch unbrauchbaren Begriff der „Eingangsaenknng" zu tun hatten.
Wie schwierig es ist, den Beirriff der „Eingangssenkung'*
anschaulich nnd sicher festzohalten, zeigt sich bei Sievers eigenen
Rhythmisierungen in Abschn. Vn. Man beachte diese zwei
Punkte. Der Heliand giebt der „Eingangssenkung^' der Typen
B und C häufig eine bedeutende Silbenzahl. In diesen Fällen soll
man nach Sievors § 176 die „Eingangssenkung-'' in zwei Teile
zerlegen: in ein „einleitendes Staccatostttck" und in ein ,.Liudsttlck,
in dem der st<'igende Rhytluniis e?.st eigentlich durchbricht". Ich
gestehe, da^s mii* diese erkdnstelte Vorschrift unklar bleibt; aber
hier kommt es nur auf diesen Punkt an: die silbenreicho ,,VAn-
gangssenkung" enthiilt als erstes Stück genau dasselbe, was
Sievers in anderm Falle (z. B. im Typus A) „Auftakt'* nennt;
also die „Eingangssenkung" besteht, wenn sie eine gewisse Silben-
zahl erreicht, aus „Auftakt" + „eigentliche Eingangssenkang".
Damit wiid die sonst so naclulrilcklich geforderte Grenze zwischen
den beiden metrischen Grüfsen merklich verwischt; aufserdem
bleibt man im Ungewissen, bei welcher Silbenzalil jene Zerlegung
in zwei Stücke zu beginnen habe: dürfen fünf Silben noch als
einheitliche „Eingangssienkuag"' behandelt werden?
Der zweite Punkt betiifft den Malahattr. Einem Verse
wie feldi 9tod störa in den Atlamäl giebt Sievers das Schema
— X ^ i -1 X (§ ^dO)* Vergleicht man damit den Vers ans
der ypluspA leika Mms ssfmr
XX ^ I v:, X »
so dürfen, nach Sievers, die beiden Emgänge feldi und leika ja
nicht gleich vorgetragen werden — dies höbe den Untei-schied
der beiden Metra auf I feldi mass, wie das Schema zeigt, stärkern
Nachdruck haben als leilca. Nun ist aber dieses leika keines-
wegs em Auftakt, sondern eine „Eingangssenkung", darf also nicht
62
Kapitel n.
80 kiirz und schwaeh wie ein Auftakt gwproelien werden (man
vgl. § 190 Anm. 1), Dennoch steht es hinter dem feMi an
Nachdruck zurflck; dieses seinerseits aber darf darchans nicht als
eigentliche Hebung gesprochen werden« es moss merklich schwacher
sein als die zweite, schwllchere Hebung itö-i denn der Vers soll
ja kein dreihebiger sein wie die Schwellverse. Ich weiAi nicht,
ob sich ein Anderer in diesem Lab3rrinth von Stilrkograden zu*
recbtflnden kann. Mir ist die ytEin^angssenkung*' in ihrer Mittel-
stellung zwischen dem Auftakt und jener sehwftohern ESogangs-
hcbun{,' ein rliytlimiseh unfassbarer Begriff.
Wenn man den Auftakt „aiifserhalb der rliythmisolipn Reibe"
stellt, so ist es nur conseqiient, mit Sievers § lö Aiim. 3 zu
sagen, dass es sich „beim Steilen und Fehlen der Auftakte stilts
um etwas Willkürliches handelt, die Auftakte imiliin nicht als
wesentlich angesehen weiden können". Aber wie sehr diese
Consequenz den statistisehen Ergebnissen der Sieversschen
Forschung, den fe^itgestellten Tatsachen widerspricht, liegt auf der
Hand. Hat doch Sic vors selbst gezeigt, dass Verse wie cefte}-
ceniml, mid iddfürdüHy yohlfäJnie Jielm im zweiten KnrzvcT'se
des FiODwulf oltenso wie in der grofsen Mehrzahl dor Fornvidislag-
Lieder verschwindend selten, so gut ^ne g;iv nie einen Auftakt
zulassen. Es war dies eines der wicliti^^eii und schlagenden
Resultate, wodurch ilie tVilher geglaubte Freiheit des Süibreim-
versCvS widerlegt wurde. Und jetzt annuUiei-t .Sievei-s diesen JSatz,
indem er den Auftakt etwas Unwesentliches, das Stehen und
Fehlen des Auftaktes etwas Willkürliches nennt. Die Dichtc^r,
die in Hunderten von Versen des Typus A, D, E den Auftakt
sorglich vermieden oder aber die erste Kurzzeile planmillsig vor
der zweiten auszeichneten, indem sie nur jener den Auftakt in
diesen Versformen vergönnten — diese Dichter iiaben sicherlich
den Auftakt nicht willkürlich behandelt; für sie war er nicht un-
wesaitlich und stand er nicht „auTserhalb der rhythmisdien Reihe"
Dm vuu Siekers iu Abscliu. Vll oatworluuc EuUtohungäg^oschichte deji
StahreimferaeB iHsst aehon desbalb nnbofUedigr, weit sie doD Aaftidct als
etwas bebandelti das «steben und fehlen kann* (§ 146, 8), nnd daium niebt
eHdBrt, tranim er aas vielen Versfonnen planrnftfaig rerbannt ist.
MetriiMsbe Streitfiragen.
63
— Indem ich za S. 15 der Agerm. Metrik zumckkelire, räume
ich gerne ein, daas der von mir gebrauchte Ansdrudc (Acta Germ.
I lld), dem metrischen Rahmen werde ein gewisses Mittelmafis
Yon sprachlichem Stoff zugewiesen, die Aofstellnng der Special-
regdn nicht überflüssig macht und in diesem Sinne „unzulänglich'* ist.
Ebenso stimme ich Sievers (S. 16) bei, dass MOller im Un-
recht war, den Znsammenhang von sprachlicher Quantität und
sprachlichem Nebenton, nach Lachmanoischer Regel, festzuhalten.
Wenn nur wüa, nicht aber witm, zu i x gedehnt werden kann,
so liegt der Grund lediglich in der Dehnbarkeit des tcf-, in der
Undehnbarkeit des wi'. Hier spielt also nicht der sprachliche
Accent, sondern die Quantität unmittelbar eine Rolle. Hat
doch nach Axel Kocks bekannten Untersuch im«ren auch im
Nordischen die Endsilbe von mta mehr Nachdruck als die End-
silbe von Visa. Mit dem sprachlichen Levis hat die klingende
Messung i(4sä = x nichts zu schaffen (wie noch Kauff-
mann Zs. f. d. Phil. 25, 553 Note voraussetzt). In dem Streite
Uber den alten<,^lischen Keimvers wurde die Frage viel erürte)t,
ob man die Betonungen löre, wenden der englischen Sprache des
11. — 18. Jahrhunderts noch zutrauen dürfe. !)is ondlich Traut-
inann ( Anglia 5, Anz. S. III) den richtigen Gesichtspunkt
betonte: die klingende Mossnn«^ lori', ir(:tiiJhi gibt keinen Ab-
druck der Prosabetonnn<4-; es handelt sich nicht um ein sprach-
liches Accentgesetz, sondern um eine metrische Kunstform. Die
Prosa sprach mddmes indge; der Dichter dui'fte ohne Schwierig-
keit messen indflmes inögd. Der heutige volkstümliche Versbau
aller germanisclien SpracluMi zeigt uns, dass die klingende Messung
zu Recht besteht, obwol die Kndsilben keinen sprachlichen Nach-
druck besitzen. Das accentuierende Princip der germanischen
Yersknnst wird eben durch den Satz „Versietus und Sprachaccent
müssen sich decken" ungenau bezeidmet; man sollte vielmehr
sagen: der Veractus darf keine schwächere Silbe tiber die stärkere
erheben.
Dem altgriechischen Versbau ist die klingende Messung im
Versschluss wie im Versinnem geläufig: z. B.
voopdtac «icXiO|io6c _L ^ JL »-/ 1 A
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64
Kapitel It.
itaiptöoyc ^0}tot>c ... ^ ^ L '
f W^estplial-Rossbacli Hl 1,.'330); aucli dem Satarnier uird sie
^'owiss mit Recht von den ijicisti'n Foi-sclioi'n zugeschrieben (sie
ist mit der acccntuierenden wie mit der quaatiticreaden Auffassung
vereinbar), z. B.
triümp^ triümpd
(ITscncr, Altgi*. Versbau S. 78). Auch der Ri^veda kennt neben
dem aclitsilbigen Päda als typische Abweichung den siobonsilbigen,
mit dem Schliiss | ^ _ , katalektiseii liocli wol im «ri iechischen
Sinne, d. h. = | 1 (01denbei*g, Die Hymnen des Rigvoda
I 85; vgl. auch Klahnau, Die Trishtubh-.Iagati-Familie S. 219) ^).
Einen Zweifel halte ich darnacli nicht für niö^dicli, dass schon
der indo5,'"ormanische Urvers die kiin^^'nde Messung besals; und
. dann ist ja klar, dass ein exspiratuiisclier Naclulrnck auf den
Endsilben hier aufser Spiele ist. Die metrische Dehnung eines
zweisilbigen Wortes oder Woilteiles mit delinbarer Paenultima
zu der Form ' x ^^ht von Anfang an auf einen rein vers-
technischen Brauch, nicht auf eine sprach) iclio Notwendigkeit
znrdek. Ftlr die CailcM/ speciell lässt sich die Regel so fassen:
fällt die dehnbare Paenultima des Verses in den vor-
letzten Versictus, so wird sie ausgehalten, sodass aaf
die Ultima der letzte Versictus trifft.
Die Metriker, deren Aciifseruugen über den Urvers der Indo-
germanen mir bekannt sind, ziehen die klingende Messung, die
TCatalcxe — oder allgemeiner: die einsilbige Taktfiillung — nicht
einmal in Bctraciit, - mit Ausnahme von Kilhnau, der a. a. 0.
den einsilbigen Takt nur fUr das Versinnere läugnet, was er im
Hinblick auf die von L'sener besprochenen volkstumlichen Vei'se
der (kriechen schwerlich aufrecht halten wQrde. Sievers erklärt
z. H. Agerra. Metr. § 154 Anm. 2, einen Verschluss *
fdihä könne man dem Urgermanischen nicht zuschreiben. Aber
wenn man auf diefiem Qebiete tlberliaupt von Sicherheit redea
1) Die klingenden Gadeozea im altirischen Vrastatt sind nach Zimmer
erst das Prodoct sprachlicher Synkope (KeU. Stadien, 2. Heft, Berlin 1881^
S. 162); dttfitr spricht, dass die vierfaebigron Verse oonstant 7 Silben, die drei*
hebigen 6 Silben enthalten.
Motrisobo .Stroit£ragen.
G5
wiU, wQste ich keinen Punkt, der sicherer wftre als dieser.
9
Zu Agerm. Meti-, S. 16, 9. Dw Zweitakttheorio misst
seulidäfite, JUmuiin hanrütcco als | ' L \ ' XX» dugegeii
sld Dedtrihhe, der si duh ml a njusto als or^jy 1 1 -
d. h. Wörter des Baues I _ ^ werden bald zu der i^'onii
I X X h l>ald zu der Foi jii 1 ^ 1 _1 x rhytiimisiort, j.> nacli-
dem die ZtisammeaseUiuig des Vei'ses, imd)esondei-e der Stab-
reim, voi'schreibt.
Sievers findet, dass „mit vollkoiiiineuistci- Willkür verschiedene
Betonungen" angesetzt werden. Zunächst ist za erwidern, dass
sich auch Sievers dieser WillkUr schuldig maclit. Auoli er
l)ezeichnet Veerse der erstem Art als Typus D, wobei die Wörter
liäante, harmlicco als
« %
rrr
erscheinen; dagegen Vei-se der zweiten Art als Typus C, wobei
die aualog gebauten Worter als
—
rrr
auftreten fS. 196). Man sieht, dass die Rhythinisieningen nach
Dauer und Stärke der Silben vorschiedon sind. Ob deshalb, weil
die Versclüodenhoit kleiner ist als bei Möller, auch die „Willkür'*
geringer sein soll, wciCs ich nicht. Aber zu beachten ist, dass
jene Messungen der Zweitakttheorie in dem einen wie in dem
andern Falle die gleichen Zeit- und Starkeproportionen
austeilen: 1^1^ x ist gleich dem auf das doppolte Mafö
gesteigerten l ^ x ; motiviert ist die Steigerung dadurch, dass
dort das dreisilbige Wort alleiniger Trflger des Stabreimes ist
Nun beruft sieh aber Sievers auf Otfrids Vers — dne Be-
rufung, die seine eigne Scansion nicht stutzen kann, aber die der
Zwdtakttfaoorie widerlegen soll. Otfrid misst güutUiel^, whrkSntd^
Mimägä u. s. f.: jede der dm Silben erhält ihren eigenen Takt.
Diese Rhythmisierung stimmt zu keiner der beiden Arten, die
Moller dem Stabreimverse zuschreibt. Indessen lilsst sich leicht
nachweisen, warum Otfrid die beiden ftltem Messungen verlassen
Udusler, Uerui. V«rabau. 5
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66
Kaplltt IL
und nch «af die erwilmte neae RhythmiBieniog beschrinkeii
moste. Die Form I ^ | 1 x war aosgeschloseen, da Otfrid ttber-
lunpt kdne Zeitwerte grOfoer als % bildet: sein vieiYliedriges
Gnmdmafli untersagt ihm das. Die Form | Z i ^ x t im Vers-
Innern ohne Bedenken, war in der Gadenz nieht branchbar, weil
Otftid den letzten Verstekt nnr einsilbig bildet: er bindet sich
in diesem Punkte an sein lateinisches Vorbild, den Duneter
jambieus, der dem vierten Takte nur ^e Silbe gibt. Da nun
eine Messung wirkentö, ärüreniä (von giialUiehö, ältmäffä ganz zu
schweigen) im Versschlusse sprachwidiig war'), so blieb fOr
Otfrid nur Jio Möglichkeit, die betrelfonden Worte dreitaktig zu
messen: . . ! I | J. 1 X- -^»f Otfrid darf man sich nicht berufen,
wenn man dem Stabreiinveise du Messung | I x x abspreclien
will ; denn es hat seinen guten (irund, warum Otfrid diese Form
preisgeben muste.
Wenn Sievers die Cadenz lidänte, hänniicco rhythnuscii nicht
bolriedi^^-'iul ündet, su kann ich ihm nicht beistimmen; ich habe
vielmehr den Eindruck, dass die dreitaktige Rhythmisierung,
wlrkentöj drür^täf wobei die erste und die zweite Öilbe gleiches
Zeitmafs bekommen, die natUrliclien Zeitproportionon der Spi-ache
in hülienn Gi'ade verschiebe: der monopodische Viertakter war
hier zu einer ausdruckslosen Abweichung von der naturlichen
Sprache gedrängt, währond der altgermanische Zweitakter mit
seinen beiden möglichen Scansionen die spiach liehen Verh^toisse
glQclüicher stilisierte. Die Proportion 2: 1: 1 ist der ange-
messenere, belebtere Ausdruck für jene Silbengruppen, als die
Proportion 2: 2: 1.
Die frtthmittolhochdeutecbe Dichtung ist von dem kirchlichen
Dimeter jambieus nicht in dem Mafse abhängig wie Otfrid; sie
steht der alten, volkstümlichen Tradition der Yerstoebnik nllher.
Untei* andern legt sie sich nicht die Schranke auf, den letzten
Terstekt nur einsilbig zu bilden. In Folge dessen treffen wir
hier jene alten Cadenzen wider an, die wir bei Otfiid vormissten:
man vergleiche aus der Wiener Genesis
1) Bubatrhul Gorm. 23, 371, Vert Änz. f. d. Mtort, 17, 14.
Uetritdie Streitfragon.
67
51iT do du Bähe io$b sednitte^)
5448 die UUten die z&ten jüngdinge
62i dae ime si göt Jtete gig&>en in HUnk
674 der dUtesU an deme s6dd hMste,
der minnüi ee dUer nideHste
74tT ei dntumrHn ime mi mdndAnge
88]t Jdeob eküi unterdiufare,
'Israhel göfes peseöuwäre.
Daneben ^brauchten die Dichter dieser Zeit auch die drei-
bebige Messung, nach Otfrids Weise; es gibt kein objectivea
Criteriom, wie häufig die eine,- wie häufig die andre Art an-
gewendet sei.
Die Wörter von der besondem Form 1 L y kOnnen je-
doch nicht getrennt worden von den Wörtern L iin allgemeinen.
Es ist eine der wichtigern Fitigen des altdeutschen Versbaues,
üb man füi* die Wöi'ter i. y in der Cadenz nur einerlei Messung,
die klia^^eiide. — | | x ? zulassen will, uder ob nidii .liicli, je
nach der Fülluiig des \'erses, diese beiden Silhcn dum vierten
Takte llberliisst, | x x I j "od die so entstellende Cadenz, zwei-
silbig voll oder „vierhcbig klin<fond" (nacli alt«r Bezeichnung),
dem (lentschon Roimverse als altes Eigentum zuerkennt.
Paul vertritt Grundr. § 27. 31. 44. 40 sehr entschieden die
erstere Auffassung. „Der alul. Keiravers ist durchaus katalektisch",
er stellt in den letzten Vei stakt nur eine Silbe — diese Tatsache
wird nicht aus der Nachbildung des Dimeter jamhicus erklärt,
sondern als ein Gmndgesctz dei' deutsclien Versteehuik aufgefasst.
Auch wie dann in mhd. Zeit die Yerssehlüsse hahm, tragm auf-
treten, sollen sie einen „katalektisclien" Sehluss bilden, d. h. sie
sollen nur den Hebun<,'sttMl des Taktes auslullen; der zweite Teil
des Taktes bleibe frei ; ua(-h unsrei- BezeicliTiun<r • . > . \ ^ v \ ,
Für diese Annahme kenne ich kinrie Begründung; durch den
lebenden Vorsvortra<^ wird sie, soviel ich sehe, nicht bestätigt.
Die entschieden „akatalektiächea" Verse aber, ^wie
•) Ein Roiui wie sconiste: liebesU ist zu vorglcichon oinersoits mit oincru
Otfridiijchcn wie IV 23, 'iA »wtgitä: gühägitä^ «ndoraeits niifc den Mhaihd.
wie Gen. 51« mme: ime,
5*
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es
Kapicei IL
wie [ süre \ n mUn | herie | Uvingett
woMlbsl 1 raf den Schluastakt eingeachrftokt ist, — diese
fassl Paul als eine „einschneidende Veraanderung, die aar romani-
sclten Kinfluss znrOckznfÜhren ist^.
I)as8 romanischer Einfluas bei dieser ganzen Frage im Spiele
war, halt*' ith auch tllr sicher. Aber mir scheint, er kaiiii sich
wesentlich nur in der negativen Weise geäufsert haben, dass die
klingenden Scldiisse twinffet = j ^ j x vermieden oder zuriick-
gedriln^'t wurden. Diose Cadonzen fehlten, wie es scheint, den
romanischen Versen und ihren Melodien: es ist leicht verständlich,
dass dies di«« Xa' halnnnr in Deutschland dazu filluen konnte,
diese altgowoiiutea Rliythinisierungen bei Seite zu üchiebon. So
ist es bei Thomasia von Zirclaria: er gebraucht zwar die volieu
Ausgange wie
6737 daz übermüot und smdcMit
6576 und kk dm ändern mit ätmüai,
dagegen der klingenden Ifuti : hiuU enthalt er sich, weil ihm
keine national deutsche Tradition derartiges an die Hand gab
und der welsche Versbau dafür kein Vorbild gewStte.
Bei den Minnesingern finden wir diese negative Wirkung der
fremden Muster nicht so durchgreifend: neben den Liedern, die
die klingende Cadenz ausseid iofsen, dichten sie solche, die sich
derselben bedienen. So ist es wenigstens der Fall bei Friderich
von Husen, Heinrich von W^ldeke, RuodoU vuu Fenis, Albrecht
von Jühansdurf, Heinrich von Kugge.
Sobald aber liie klin^^efiden Verse zurückgedrängt wurden,
war die Zunainno dei' /weisilbig-vollen mit lanj^er Paeiiultima
(der ,,vierhebig-klingenden*') eine natürliche Folge. Deren Häutifj-
keit bei manchen Minnesingern, bcs ikUms aber bei Tlioniasin, ist
somit auch eine F(dgo des fremden i^nitlusses. Insofern hat das
romaniselie VorI)ild nicht blofs negativ crewirkt.
Naeii l'aiil aber wäre die Einwirkung so zu beurteilen,
dass üiuo Versmeaaung wie
JSSr I kam von \ ttmbee | herren | röte |
X X
Motriaebe StMltfniiren.
69
Oberhaupt erst durch die Naehahiniing der Franzofion gelehrt tmd
ermöglicht warde. Nach dem detitschen Formgefühle hfttten diese
Gadenzen als »ein Bruch mit den rhythmischen Grundgesetzen**
erBcheioen müssen; es ftofeere sich in ihnen ein ganz anderes
Princip des Versbaues. Ich habe dreierlei dagegen einzuwenden.
1) Wio gieng diese fremde Einwirkung vor dch? Im ro-
manischen Versbau steht der Vers mit weiblichem Ausgang neben
dem Verse mit mäiinliclioin Ausgang, wobei der letztere eine Silbe
weniger hat. Aher wenn doi deutsche Dicliter dieses Veihältnis.s
nachbilden wollte, so brauchte er ja mit keinem Sehritte den Hoden
seiner heimischen Tradition zu verlassen. Die Parallele von
dieses Nebeneinander war ja jedem deutschen Dicliter des 12.
Jahrhunderts geläufig, und es entsprach genau der Parallele von
weiblichem und männlichem Ausgang bei den Romanen. Es gab
keine Veranlassung, dem romanischen Brauche damit nachzaeifenii
dass man Wörter mit langer Paenultima fllr den weiblichen, zwei-
silbigen Schlusstakt verwendete — wofern namiicli diese Beliand-
lung aller Tradition, allem Formgefühle zuwiderlief. Etwas
anderes ist es, wenn diese Messungen von jeher dem deutschen
Dichter zng&nglich waren: dann konnte er sie jetzt ohne
ScliWierigkeit heranziehn» um den weiblichen Versschluss seiner
Vorbilder nachzuahmen. — Weshalb sich der Brauch festsetzte,
den Ausgang | tage von dem Ausgang | rate zu sondern^) und
jenen gleichwertig mit dem einsilbigen | toß zu verwenden, ist
nicht leicht zu erklären, sobald man die tatsAchliche Zweisilbig-
keit von tage, lesen u. s. f. zugibt Weist dies vielleicht auf
Melodien in dreiteiligem Takt, worin räte zu | ^ ^, dagegen
tage zu | f ' i rhythmisiert wurde?
2) Dass Otfrid mit seinem einsilbigen Schl}isstakt nichts für
^) Veldeke hat uocb ein par bckaiiiito Fälle, wo sie gleichwertig gebraucht
MF. 57. 03 (irre führend als tagi, lobit gedruckt).
dan'fmffp svbi icir n'iht verzagen
iiiil mit rehtcm Jierzen mhinen göt,
und von icai kh ir umlih stU/cn
mit trun viohtc ueyde}i rät —
70
Kai»it«l II.
den echt f,'erraanischen Brauch beweisen kann, iiaben wir erwähnt
Dio frnhmhd. Dichtung aber» die sich hierin ganz anders stellt,
wird von Paul in diesem Zusammenhange nicht zu Rate gezogen,
obgleicli er geneigt ist, diesem Vei'sbau einen alteii;tlmlich-
nationalen Charakter zuzuerkennen (S. 028). Icli kann mir nicht
voi-stellen, wie man din silbenrciclieu Verse dieses Zeitraumes in
den Rahmen der vier Takte hineinbringen will, ohne sehr Iiäufig
die „überschlagende Silbe** einzuräumen, — und auch Paul erklärt
sicli ja gegen die Theorie der fttnf bis sieben Takte.
Der Vers aus der Wiener Genesis
A7n dae er litU unde vfhe ttber dae toäzger brähUt
der Vers aus dem Anegenge
6 b die der vater und der e&n hüen in tr hMe
und zahllose andere sind gnt und wollantond in dieser „vierhebig-
klingenden** Messung; aber dürfte man es wagra, sie als wirklich
klingende Viertatäer zu behandeln? Sobald maQ aber zugibt»
dass in der volkstümlichen Versübnng des 11. 12. Jahrhunderts
diese Art der vollen Gadenz gäng und gäbe war, rückt die Fi^age
in ein andres Licht. Es sind dann nicht die höfischen Dichter,
die zum ersten Male wider s^t der stabreunenden 2Seit mit diesem
Philnomen hervortreten; denn dann wäre allerdings Kaulfinanns
Frage berechtigt (Zs. f. d. Phil. 25, 5d8): „Wie sollte höfische
Dichtung gerade in diesem Stück etwas einheuanisch Volkstüm-
liches conserviert haben?^ Tatsächlich beginnt gerade mit dem
Aufkommen der hofischen Richtung das Zurücktreten dieser
Gadenzen im Epos. In der Eneide und im Iwein sind sie, auch
wenn man ihre Zahl noch so hoch anschlägt, sehr viel .seltener
als in der Wiener Genesis oder im Voraner Alexander. Dann
kann es auch nicht mehr „bedenklich machen, dass man bei
Gottfried und Konrad, die doch sonst weiter von der alten
Tradition abweichen, keine solclien Verse finden kann" (Paul § 49).
Was für diese hülisclicn Epiker der Anstofs war, die bewusten
VersscUKlsso zu verbannen, das ist eine Frage fQr sich. Genug,
dass man in diesei' Tendenz keine Altertüralichkeit, sondern eine
Neuerung zu erblicken hat.
3) Weder Paul noch Sievers geben Gründe, weshalb diese
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M«triadie 8ti«ltfrftg«n.
71
Gadenssen nieht echt germamach seior sollen. Die Lachmanniache
Metrik hatte einen Grund: sie schrieb in Wörtern wie Ifäawtet
twmget der Endsilbe einen sprachlichen Neben ton zn; dieser
niaste un Versende berticksichtigt werden; deshalb dnrften -4$,
-et nicht in die Senkung des letzten Taktes fallen: sie musten
eine Hebung ftkr sich bekommen. Heute ist dieser Grand preis-
gegeben; aber die alte Annahme setzt sich, onbegrQndet, fort
Man vergegenwäi-tige sich diese Parallele:
Beow. 670 hüru \ Oeäta \ UM ^ 626 I grSttc \ GiOkt Uöd;
708 se I syn- I scdda ^ 713 | mynte se \ mdnscäda;
274 pcBt mid \ Soyld- } ingiim 53 j Bcowidf \ Seijld()iga:
es zeigt sich in den drei Fällen bei /. , ^ w und 1 ^ die zwie-
fache Art tlei- Rhythmisierung, die dem Dichter zur Verfdg^ung
steht; warum dies gerade; bei ' ^ Anstofs erregen soll, ist nicht
einzusoini, sobald man den spraclüichen Nebenton auf der Ultima
preisgegeben hat.
Dass die Volkslieder niclit blofs katalektisch sind, ist bekannt.
Nicht selten weciiselt zweisilbig- volle Cadenz mit der einsilbig-
vollen. Vgl. Erk, Liederhort Nr. 1:
15 Jdi wUn9^ ifm 90 viel gute ZeU,
80 vid als Stern am Mtnmd «ein.
16 Ich tß^imek ihm so vid Qlüdt und Segen,
die Tr&pßein, die vom Hwmd regnen,
die beiden vSchlnsssilben werden natürlich auf die erste Takthälfte
eiiiguschrilnkt, sobald der nächste Vers mit Auftakt beginnt. —
Don vorhin besprochenen Cadenzen des Stabroimverses steht nälier
Erk Nr. 46 Str. 18:
Dein vöryer Mann lässt dir mittmägen,
du söllst nicht so ivHnen und wefiklägen*
Vielleicht lässt Sievers dies als Analogon gelten, obgleich
ich nicht sicher bin, ob nicht
. . . . Und wehklägen
gesungen wird (wie So müet du äuäi darüm mfg&ien u. ähnl.);
derartige Tonverachiebnngen kann sich der gesungene Yers leichter
erhuibeO} als die gesprochene Allitterationsdichtong. Man vgl.
Digiii^uu by C(.)0^1c
72 Kapitel II.
noch FaTosk Aiithologi Nr. K» Str. 21 ÜÜ i midjum graagardi,
Str. 27 tad er imf/a Jatrardi u. a.
Zum Scliliiss bi-inprt Sievers (S. 16 f.) oinen Einwand vor,
den einst Vettei* ^regeti die Vierliebunpslehre erhoben hatte und
dem auch Schipper Gewicht beimafs (Engl. Metr. I 47; Anplia
5, Anz. 88 ff.). Der Zweitakttheorie gegenüber ist es nicht
schwer, diesen JBinwaod zu entkräften. NäinUch „dem vier-
taktigen Reünvers entsprechen in der gelebiten Miscbpoesie . . .
deutlich vierhebige lateinische Verse, wie nuno älmt»
lUsh ftUüs II thero hudghro thiemün u. s. w.". Dagegen die
Mischungen allit toriercnder und lateinischer Verse „lassen in
ihren lateinischen Teilen ebenso deutlich die nackte Zweihebig-
keit hervortreten"; z. B. im Phönix
Hafad üs älyfed htcis auctor u. s. w*
Die Zweihebigkeit dieser lateinischen Zeilen kann man nicht
bestreiten. Aber nichts steht im Wege, sie in derselben Weise
ssnreihebig zu messen, wie die englischen Verse, d. h. sie anf dss
Ma& von zwei */4"*Mii&a zu bringen. Die folgende Scansion,
scheint mir, drängt sich geradezu auf und ist diesem feierlichen
Hymnus durchaus angemessen:
Bafaä üa Slüfed J )<: X X X Ii X r I
aiMihr, Iii I 1 X
pcH WS msttm /ift" ^ 1 1 1 I ^ rr
merueri, I 1 J_ I 1 X ^
gSMöedtm begietan \ J. i(y^y^ I X X
gaudia in cdo, I x X X X 1 1 X
pcer w§ mStim I J. 1 I ^ x
numma regna I x X I x i*
s&nm and gesiUan I x X x X 1 i x r
sedibug alHs, I X X 1 I l. X
Ufgan in lisse I ^ x X I jl X r
litcis et patna I x X 1 X
u. 8. w.
Der Einwand, dass sich das mittelalterliche Latein mit solchen
Dehnungen nicht vorti-a^e, wird widerlegt durch das Gedieht
Hartinanns \om glouben (Mafsnumn, Deutsche Ged. des 12. Jhs.
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Metrischo StreUfrngon.
• 78
S. 1 ff.): hier sind genau eboni>ülche lateinische Vei*8e, denen
Sievers die „nackte Zweihebigkoit" zuerkennen inüste, mit „(löuÜich
vierhebigen"' deutschen Versen zu l'ai en verbunden. Man vergleiche:
189 Ich yiMuife an sinen einbom tstm
ihvsum a'htum ;
275 U7ise harre der heilige crist
sapienciä i/ttrts;
881 m o- löufe in sinem circitlö
ni zödiaco;
447 unser lierre der hHlige crist
uArbnm piitns;
568 descmdlt de ci'l/s
des süle mr (jelöulten v'd ffwi$\
787 der stäm der heizet Ussä
de ctnns radii^l
956 dem snle wir vdste widersten
f6rüs in fidä.
D&8S 80 gemeBsen werden miissi wird zam Ueberllass dureh
den Reim liestHtigt, and es gibt aacb keinerlei Anstois, sobald
man nicht meint, derartige lateinische Silbengruppen konnten nur
schlechthin „zwdhebig", wie in der Prosa, nnd nicht anders
rhythmisiert werden^}.
Der englische and der deutsche Dichter standen dem Latein
nicht wesentlich anders gegenüber als der Muttersprache: ein und
denselben Wortcomplex konnten de v^cbiedmi rhythmisieren,
Je nach dem Bedürfniss ihres eigenen VersmaTises.
Ich möchte weiter gehn und behaupten, dass jene Schluss-
zeilen des Phönix entschieden gegen die Sievei-ssche Messung
0 Die Zeilen Tollonils, die Si hippor Engl. Metr. I 228 «Is Beweis der
Zweih^iglcMt anfUlirt, kenn mm aidi sehr schwer in andrer Form als in
den swei Vr^aktcn vorstollen. Diesem Ifofso fQgt deh schon die erste Strebe
Cernite qui statt a quod nürae «im probitätia ti. s. w.
ohne Schwierigkeit; und wenn dann Kurzzeilon kommen wie
rapietur Ifir oculoriim
ne tendam vim brachiorum^
80 kann man eine iin^eidenti(;ere Bestätigung dieees Mafses nleht verlangen.
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74
der Stuidvimverso sprocheii. Man iiiaclu' den Versuch und reciiiere
in der Tartic fif/nn tnrdinga bis snic fme tlic t u^h sehen Verse
nacli tlen Vorschriften von A|,'erni. Metr. S. I'ki. 2UH: es wird
schwer haiton, diu lateiniäclion llillfton so daiml zu vereinen, dass
auch nur eine Spur von metriscber Zasammeogehöiigkeit und
Qemeinsaiiikeit empfuDdeo werde.
Nachdem ich bisher den kritischen Bemerkungen von Sievers
gcfoI^H bin, will ich zum Sohluss noch versuchen, den Gegensatz
seines Typensystems zu den taktierenden Anffassnogen, q;Mciell
znr Zweitakttheorie, von einer andern Seite zn beleuehten.
Dem Sieversschen Systeme, anch in seiner nenesten Radaction,
kann, wie ich glaube, der Vorwurf gemacht werden, dass es za
eng Ut — nicht weit genug, am den Ponnenreichtnm des alt-
germanischen Versbaues zu umschlieil^ Die Ursache davon liegt
am Tage: Sievers ist von den Skalden ansgegangen, deren innerer
Versbau nivelliert, auf eine verhaitnissm&feig kleine Auswahl von
FQllungst> pcn beschränkt ist Als sich dann Sievers der eddiscjbiea
und der westgermanischen IHchtung zuwandte, da hat er die neu
herzutretenden Firmen zwar fast alle verzeichnet, aber es wurde
kein neues Gebäude anfgeftihrt: die Grundmauern des altrai
wurden nicht eingerissen, nur da und dort, so gut es gieng, aus-
gebuchtet.
Durch die Typen in aller ihrer Vielheit und Bimtliüit sieiiL man
immer noch jenen ei-sten Entwurf, das eine iSciicma ^ i-? | v^;
durchblicken.
Es ist kein Zweifel, wäre Sievere Ausgangspunkt der Beo-
wulf gewesen, so wäre bei son>t >:leicher Methode ein völUg ver-
sciiiedenes Typonsystem zu Staii le gekommen.
Der folgenreichste (jegensatz dos Fünftypensystomes zu allen
andern A iitfassungen, der Zweitakttheoric, der von Hirt, von Fuhr,
von ten Brink, liegt darin, dass diese letztern - mehr oder
minder consequent - ein constantes Gruadmafs für die Stab-
reimverse anfstollen (vgl. o. S. 22 ff.).
Die wichtige Folge davon ist, dass die von Sievers ge-
fnndeneu Tatsachen der Versstraotur eine andre metrische
'igili^cu by
75
Deutung eifahren als im FUnftypensystemo. Die durch Siovers
ennitteiteii Regeln über Silbenzalil,-quantitüt und -accent berühren
nicht die Ausdehnung, das iiufsere Volumen des Verses —
denn dieses ist mit dem (irundmafse ge^'f^beti, und zwei stark-
tonige Silben genügen schon, um den Vevs, sprachlich zu ver-
körpern — jene Vorschriften stellen sich dar als Regelungen
der VersfüUung. Man erinnere sich an das o. S. 5G, 59
Gesagte: der epische Vei*s ceresta slöh darf nicht zu ce^est yeslöh,
der Vers poiie god sen'h> nicht zu po^tp drihten sende gciliKlert
worden, obgleieli der äulsero UinfaDg dadurch nicht angetastet
würde.
Nacli der Sievereschen Deutung liängt von diesen Vor-
scliriften unmittelbar die Ausdehnung des Verses ab: der Vors
cerest geslöh hätte ein Glied zu wenig, er wilre zu kurz; der
Vers pone drillten sende hätte ein Glied zu viel, er wilre zu
lang u. s. w. Sievers schreibt dem epischen Verse im allgemeinen
vier „Glieder^' zu: unter diese Zahl darf er nicht herabsinken;
ttberschreitcn darf er die Zahl nm- unter bestimmten Bedingongeii
und innerhalb gewisser Schranken. Die Einzelregeln werden
wesentlich so gefasst, dass sie das Innehalten der 4 {e\i. 5)
Glieder waren. (Charakteristisch für diese Auffassung ist z. B.
das in § 190, 3, Anfang, ttber die „relative Einheit des Rhythmus"
im Mälaliattr Bemerkte.)
Es fragt sich, wie wdt man mit diesem Erklärungsprincip
auskommt
Schon innerhalb des epischen Verses treffen wir eine Stelle,
wo Sievers za einer grundaitzlich andern Dentuug gi-eift.
Es kommen im Westgermanischen wie im Nordischen ver-
einzelte Kurzverse vor, die unter das gewöhnliche Minimahnalä
der VersftUlung herabsinken; z. T. in der Weise^ da«8 eine Aende-
mng zwar leicht, aber nicht aberzeugend wäre, da man besondere
rhythmische Absichten des Dichters vermuten möchte: so im
Paternoster des Heliand V. 1600 ff. ; altengUsehe Fälle bespricht
Lawrence, Chapters on alliterative verse (London 1892) S. 82 f.
Einige Eddalieder scheuen vor diesen magern Versen weniger
ssnradc man vergleiche ans der Ri^s|)ul£^
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76
Kapitel II.
8 t flngr digrir
7 4 Jietu prcel
8 ft lotr hryggr.
Diese Verse haben nach Sievers § 45. 180 nur bezw. drei
und zwei Glieder. Gleicliwol sollen sie den viergliedrigen an
ftufserm Umfange nicht nachstellen: die Glieder /im/r, prcßl^ htr^
liryggr sollen, durch Dehnung oder Pause^ so viel Raum einnehmen,
wie sonst die Silbenfolge j_ w .
Man sieht, hier tritt ein ganz neues Erklftrungsprincip auf:
das Minus eines Gliedes bewirkt nicht mehr ein Minus an Lttnge;
es gibt ein Mittel, diese drei- und zweigliedrigen Yerse mit ihrer
viergliedrigen Umgebung in Zusammenimng zu bringen.
Damit gibt Sievers zu, dass die „vier Glieder" nicht die
innerlich notwendige Voraussetzung für einen epischen Stabreim-
vers sind; drei und zwei Glieder sind im Stande, da-sselbe Mafs
zu fallen. Wenn nun die Mehrzahl der Stabreimgedichte diese
letztere Füllung meidet, so muss consequenter Weise niclit die
Rücksicht auf die Ausdehnung des Veerses, sondern die Rücksicht
auf seine innere Füllung als Ursache betrachtet werden — es
ist das Erklärungsprincip, das Sievers S. 13 ff. an den andern
Theorien tadelt.
Aber im epischen Versbau sind die besprochenen magern
Verse von keiner grofsen Bedellt^nL^ Sie stehn doch iiiim<^r nur
als Aiisnalimpn fla. ^fan könnte fragen, wie sich das Fünftypen-
system mit einem unregelmäfsigern, vielleicht altertümlichen Vers-
bau wie dein der altenglischen Zaubersegen abfinde? Doch könnte
hier der Verdaclit einei- späten, in Verfall geratenen Form nicht
objectiv widerlegt werden. Auch den Hinweis auf die eddischen
Lieder Hamdism^l und Atlakvida (Vdlundarkvida) will ich nicht
ausführen, obwol man doch schwerlich umhin kann, in ihrer
Mittelstellung zwischen den beiden statuierten Versmafsen, dem
viergliedrigen und dem fünfgliedrigen, ein entschiedenes Zeugniss
gegen das ganze Sjstem zu erkennen; der Begriff von „Misch*
oder Uebergangsformen" oder gar von „freien Rhythmen" (Agerm.
Metr. § 52), so sehr er sieh der Betrachtungsweise des Fflnflypen-
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Metriflohe Streitfrigim.
77
systemes aufdrängten mnss, scheint mir diese Gredichte ia eine
schiefe Stellung zu bringen (vgl. auch o. 8. 41).
Dagegen stellt der Ljödahättr mit allem Nachdruck die
Fi'ag-e: wie können Verse von höchst verschiedener GliederzaUl
dooh noch als metrisch irgendwie zosammengehOrig und verclntiar
dargetan werden? Die ungeraden Kurzzeilen des Ljödahdttr
zeigen auf der einen Seite Füllungen wie pytr Piind, auf der
andern Seite Füllungen wie Ratatoskr heitir Hcorni, enn cUdna
jptun ek sötta: also dort eine Form, die unter das epische Normal-
mafs herabsinkt, hier Formen, die fflr den epischen Vers im all-
gemeinen viel zu scliwer w&im Die Vollzeile ihrerseits bew^
sich zwischen den Extremen ä fleti fyrir und ok svdgr Jtann
aüan SUgfydur: sie kennt also auch eine viel grOfeere Spannweite
der sprachlichen Füllung.
Man sieht, mit dem Begriff einer bestuouDten Anzahl der
„Glieder*', wie im FOnflypensystem, ist hier von vornherein nichts
anzufangen. Das würe so, wie wenn man ein Versmars, das sich
zwischen zwei und sieben Silben bewegt, ans dem Prinzip der
SUbenzaiilnng erUaren wollte. Die Grondsütze des Typen^stems
musten sich also dem Ljödah&ttr gegenllber als machtlos er-
weisen. Und was tut Sievers? Elr verzichtet darauf, den Ljöda-
hdttr in irgend welchen metrischen Zusammenhang mit dem epischen
Verse zu bringen^); er tragt ihn auf einen andern Boden hinüber,
wo andre Gesetze des Bhytlimns, der Sprachbehandlnng herschon:
er gibt ihm den metrischen Takt. Womit Sievers diese höchst
aberrasehende Trennung des gnomisohen vom epischen Versmafse
zn rechtfertigen sucht, bleibe hier unerortert. Uns genüge der
Hinweis, dass der Ljödahättr, wiewol aus dem Machtbereich
der fttnf Typen verbannt, doch noch gegen das Birklärungspi incip
des Typensystemes Zeugniss ablegt
^) Donii wenn in § 57 Typ<mnamoti wio AA, OB, AB gfebrancht w«rden,
80 iiiTohtert dioa k^ne wdten» Verwandtschaft mit don (Hgentliehon Fünf-
typenvcrsen, als dass eben auch lango und kurze, starktuuigfo und schwach»
tonige Silben das Versniatorial bilden! Die metrische Auffassun'^^ diesor
Silbongruppcn, worauf es alleiu ankuuitut, ist eiue vullkoiumeu hoterogoue;
s. Agenu. Metr. S. 231 ff.
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78
Ktpitd IL
Auch der LjöcIalwUtr nämlich, trotz der erwähnten gröfsern
Freiheit der Vcrsfüllung, kennt gewisse Fullungsregeln, die mit
denen des epischen Verses ttbüreinstimmen. Ich nenne hier die
einey die Regel für das Minimalmafs der Yollzcile: ist die Cadenz
stampf, so ist der erste Takt voll oder es findet sich ftoltorer
Auftakt« An Beispielen: tneinblandinn n^dr
ok sölar syn
eda söl it sama
um skodask skyli
stellen normale Vollzeilen dar. Spreche ich dagegen im ersten
Falle * meina mjpdr und in den drei folgenden Fällen auftakt*
los * siflar spn u. s. w., so sind die Yerse zu mager. — Diese
Regel ist vollkommen sicher gestellt; die Ausnahmen sind derart
spärlich, dass die Regel so wenig wie irgend eine des epischen
Verses bezweifelt werden kann; s« Acta Germ. I 146 ff.
Man sieht sofort, daas die nämliche Regel auch fftr den
epischen Vers gilt. Aach in der Ypluspä, im Beownlf, im
Heiland wären die aufgeführten Verse durchaus normal'), wo-
gegen die angedeuteten Veränderungen (Entziehung dos Auf-
taktes IL s. f.) eine ao&ergowOlmliche Form herstellen würden.
Nun nüsst Sievers nach Agerm. Metr. § 57, 8 . § 19^^ die
Verse ck sölar eda <^ U Mtno, um ikodatk (Scyli genau
ebenso, wie sie die Zwettakttbeorie misst: er rhythmisiert mo auf
zwei Vierviertelstakto'):
oXr ^äar affn X I ^ _l I l
wn tkodatk skjßi X I X j_ I x x
n. s. w.
Nach Sievers müste es nun unerklärlich sein, dass diese
^) mit Ausnahme dor Form um skodask akyli x I X X i^r) I x X i Uber
deren auch im Ljb. boscbränkted Vorkommen vgl. Acta Germ. I 151.
In § 196 , 3 orwägrt Sieven allerdiugä aach dio MOgliehkrit, ttlnon Vom
wie ok tüar agn and Umliche auf drei */fTBkt» «unMimniion. Di^e An*
nähme ist ao bedrakUeh (irflO die Fleiionasilbe •ar, die im opisehon Vene
nicht einmal eine starke Nebenbobung zn bilden vcrniUchte, einen ganzen
</4-Ttikt füllen 8oll!), dass Sioven selbst daran zweifelt und dass whr fUgUck
davon Abstand nubmeu dürfen.
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79
Vene den Auftakt nicht entbehren dürfen. Denn es shid Ja
Verse, die eich zu tinem „Taktierangs^tem" bekennen; es sind
Verse von genan derselben Taktstmctar, wie sie nach der Zwei*
takttheorie auch der episehe Vers besitzt. Also alle die Em-
wSnde, die Sievers (Agerm. Metr. S. 15, s. o. S. 58 f.) gegen die
Zweitakttheorie erhoben hat: ein Auftakt stehe anüserhalb der
rhythmischen Reibe, Synkope verttndre den Vers nicht, ein Za*
sammenhang zwischen Aaftaktsetzong und innerer Synkope
sei rein unrerstSiidlidi — diese Sinwinde, die recht eigenflich
den Kern der StreitArage berühren, richten sich hier gegen Sievers
selbst. Beim Ljödahättr muss er, seinen eigenen Rliythmisierungen
zufolge, dasselbe annehmen, was die Zweitakttheorie beim episclien
Verse annimmt. Und warum sollen die nämlichen metrisclien
Erscheinungen in dem einen i^aiio statthaft, in dem andern Falle
widersinnig sein?
Der Ljödahättr darf, wie die besprochcno Erscheinnng neben
vielem Anderm zeigt, von dern epischen Vei*se nicht losyeiissen
werden; er ranss im Zusainraculiang mit diesem erklärt werden.
Die Zeilen des Ljödahättr haben das gleiche Gr undmafs wie die
opisoben Verse: den Zweitakter, der, wie es sclieint, das einzige
Material der aufsei*skaldischi'ii Stabreimpoosio gebildet hat.
Dieser üebercinstiiumung stellt die vorhin erwähnte Ab-
weichong gegenUl)er: die sprachliche Füllung ist viel manig-
faltigcr; sie bewegt sich in viel weitern Grenzen; es gibt viel
mehr Verstypen. Die Fullungsregeln, wie sie den epischen Vers-
bau beliersclien und dem FUnftypen^ystem zu Grunde liegen,
iQttsten fast nach allen Seiten hin erweitert und umgestaltet
werden^ um den Formenschatz des Ljödahättr in sich aufzunehmen.
Der Loödah&ttr gibt eine sichere Bestätigung des Satzes:
Die Versfullungsregeln der epischen Dichtung sind
nicht die Grundgesetze des germanischen Stabreim-
verses an und fQr sich; sie bilden, wenn ich mich so aus-
drucken darf, nicht die notwendige Existenzbedingung für den
Zweitakter. Es kann Verse geben, die die Formen des Typen-
aystemes nach der oder jener Seite hin Überschreiten und deshalb,
an epischem Mafse gemessen, exceptionell (wenn man will: fehler-
80
Kapitel IL
halt) silid, und die dennoch lebenskitfUge nnd in Bich voll-
Tierechtigte Zweitakter dBratellen. Die Follungitgesotze des epischen
Verses sind Speciahtigeln der einen, wichtigsten Dichtgattung.
Wenn man fragt: was war für das FormgefÜhl der stabreimenden
(Germanen ein Vers? so darf man den ESntscheld nicht allein auf
die Speciahregeln des epischen Versbaues begründen.
Diese Forderung macht sich geltend den altgerauniselien
Formeln gegenQber. Neben dem I^iddahAttr sind es die metrisch
geprägten und mit Stabreim geschmfickton Spnichformeln, die
uns lehren, dass das Wesen des germanischen Zweitakters nicht
aus den PuUunK^stypen der episclien Dichtung erschöpfend bestimmt
werden kann, dass sich die (irundgcsetze de.s germanischen Stab-
reiiiueise^ und die Ke^'eln der episclien Technik nicht decken.
Die Hauptquelle dei- stabendeu Fürmein älterer Zeit sind —
aufser den Züsainnu nliiingenden Dichtungen selbst — die Gesetze.
Hier stehen also die Stabreim furmeln in prosaischem Context.
Ich will die Frage nieht di^cutieion : inwieweit ist der Begrifif
der „stabreimenden Prosa" zulüssig? in\vi«nveit ist es voi'ge-
kommen, dass man planmäfsig Stabreime baute, uiine zugleich
metrischen Rhythmus herzustellen-* Sicher ist, dass ein sehr
grofser Teil der allittorierenden Foiineln in prosaischem Context
Versnatur hat. Man darf mit Heyne und E. H. Lind kurz-
weg von Gesetzesversen, lagvärser sprectien
Es fragt sich, nach welchen Kiitenen man die stabenden
Verse aus ihrer prosaischen Umgebung auszusondern hat Ich
gUkube, dass man sich an zwei Bedingungen, eine formale und
eine inhaltliche, binden muss.
>) H Heyne, FonnolM alUttenntoa, Hall» 18S4; den. Germ. 9,437 f.
EL H. Lind, Om rim och ventominngar i de srenska UndskapBlttganie, Upsals
UnifenitetB iUnakrift 1881, bes. S. 50 tf.; ders. Yänifikation i Gulatings-
bgm, Uppsalastudier (1892) S. 140 ff. - O. TToffinaun, Reimfoniioln im
Wi,'erra., Leipzig 1886. Hoffmanii. der S. 12 tf. dem rhythinischoii Bau der
Foniuiln eine feinsitiiiige Uotrachtmig widmet, geht an der Tatsache vorüber,
dass dieser Baa in der grufseii iMenge der Fälle nichts Anderes bt, ab der ger>
manische Zweitakter.
Metrische Streitt'raguu.
81
1) Die Stäbe müssen im Einklang mit den bekannten alt-
germanischen Satztonregehi stehn. Die Allitteration darf keinen
Satzteil übergelin, der in einem Gediclite am Stabreim teilnehmen
müste. Denn was unsre Stabreimpoesien in dieser Richtung vor-
schreiben, berulit offimbar nicht auf einer technischen Convention,
sondern auf spiacliliclier Notwendigkeit: darum muss es fllr den
stabenden Vers iu weitestem Umfange gegolten haben*).
2) Der Inhalt der Formel darf nicht rein individuelles, er
muss ein typisches Gepräge liaben. (Bisweilen kommt als weiteres
Kennzeichen dazu das Abgehn von der prosaischen "Wortstellung.)
Beispielsweise darf der Satz (Schmid, Gesetze der Ags. S. 72)
gif hu'd ci/ninc/es borg ährccc, geböte pone tyht
aus den beiden angeführten Gründen, trotz den drei ^-Anlauten,
nicht als Vors verzeichnet werden: cyninges dürfte vom Stab-
reim nicht übergangen sein, und der Inhalt ist nicht typisch.
Liad hat eine grofse Zahl von angeblichen Versen aus-
gehoben, die ich für Prosa halte, weil sie einer der genannten
Bedingungen oder beiden niclit genügen. Z. B. Uppsalastudier
8. 141 Nu er kirkia g0r
oe gardr %m\
ebenda S. 146 >ar setd um arf dcema
mn damn vor
mllsten» nm Yerse zu sein, die Nomina JHrkia bezvr. arf in den
Di« Exintonz vöUii»' reimlos or und doch int tiisclKi l^ormoln will
ich damit niclit, läujfiieu. Man vcrgluiubo in der Rechtsformol bei R. Sr.hmid,
Qesetee der Angclsachson, S. 408 lUe Pnrtie ne rük ne rüm \ wwlea ne
fdde$ \ kmde» ne Btrandet: hior steht xwtsciaen einer atabroimenden und einer
silbenrcimeuden Zolle eine roiml(«o, die swelfolloB ein motriachor Zweitakter
ist, wie ihre Umgobung^. Eine längere Partie reimloser Verse von dem Grund-
niaf^^o der ^erm. Langweile glaube ich in der Excommunicationis forma bei
iSchmid S. 422 zu erblicken :
bwn hl nwergode elende and drincemie,
bem hi Tnoergode gangende and sittende u. s. w.
äwergode beön keom eägan and heora eäran u. a. w.
Auch in den fneaiaohen Formeln bei Heyne, Formnlae Nr. 278 ff. sind manche
reimlos nnd Mi wel metrisch.
H«asl«r, Qenn. V«nba«. 6
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82
Kapitel II.
Stalireim setssen; aiifsordem mangelt hier die vcrallgeineinenide
Prägung.
In dem Satze ebenda iS.
eigi vcera eUri en atta refrn
wilrc der .Stabreim in Ordnung'; al)ci' <1<t li halt ist .so indivi-
tiüüll, ihuss ich keinen Vers beabsichtigt ylaiibe; ilto »h'ei Wörter
ei(/i, fliri, nffa mustcn sich ja. nin diestMi (Jodankon auszudrücken,
uucii uhue kiUistlürisclie Absicht znäamnientniden. Das;solbe sclieint
mii' bei
S. 14.^ ('/" müdiT pi'u rti er muwli keypt;
S. 147 l^üt rr jbxkr er finim menn eio sanian;
ef pH t^nnr mann t'egenn a morku uti
und bei vielen andoru zu gelten.
Umgekehrt konnten
af . * , fisei oe oUom rettom fongum (S. 141),
späm ne goUdnm ne gemmgum iUtan (ebenda)
Ibm begrifflichen Gomposition nach als Vei-ae gedacht sein; aber
der Stabreim dürfte in den Nomina rittom und späm nicht fehlen:
man mOste Umstellungen vornehmen, die an diesen Steilen nicht
wahrscheinlich sind. — Auch unter den von Brate und Bugge
herausgegebenen schwedischen Runenvorsen (Stoekholm 1891) wird
vieles den Anspruch auf metrische Prägung nicht erheben kdnnen.
Die reichste Lese an tadellosen Gesetzesvei^sen gewftrt das
Kapitel der GrUgis Konungsbök, das die berühmten t r y g d a -
m i 1 , den Vorbannungsfluch gegen den FriedensbrUehigen, enthält.
Die Stadarhölsbök der Gragas gibt diesen Passus in veitkrmter.
zusammengeschrumpfter Form (Amamagn. Ausg., Kopenhagen
1879, c. 388, S. 406 f.). Nfther zu dem Texte der Konimgsbök
sthnmen die Fassungcu in der Heidarvijjfasaga c. 33*) und in d^
Grettissaga c 73*): die eratere teilt überwiegend den Wortlaut
der Konungsbök, während die Grettissaga nicht unerhebliche Er-
weiterungen bringt. Ich setze den Text der Giigas Kb. her
1) Islond. äo^rnr II (Koponh. 1847) S. 879 IT., vgl. eboudA & 484 ff.
<J Norditko Oldskrifter Bd. Itt, Kopoulu 1859, 8. 164 f.
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Metriwbe Streitfiflieon.
'(nach der Ausg. von V. Finson, Kopenh. 1852, c, 116 S. 205 f.),
um die metrisclie Hesclmffonheit der (iesetzesverse an einem zu-
sammenhäDgcndon Beispiel zu voranscliaulichcn. Die nach meiner
Ansicht metrischen Teile rücke icli in gebrochene Zeilen; in
Klammern fllge ich die von der Grettissaga gebotenen Zusätze
bei; die Orthographie ist noimalisiert (die Aceente bedeuten hier
nicht die metrischen Icten).
Tryydam^* Sakar v^o d mUle peirra N. N, ok N. N.,
enn nu ero peer aeUar ck fi hMtar
8€tn
6k tdkndr tpldo
ok ä&mr ddmäe
ok ßiggiendr p^o
ok padan h^o
med fe fidlo ok fr am konmom cyre,
peim l hpnd seit er luifa skylde,
pii akolot Vera menn
sdtter ok samvcei'er
at ^dre ok at die,
ä pinge ok ä piödstefno,
at hirkna sölm ok i konanys käse.
Ok hvervelna pess er mayina funder verda, pä skolot pit svä sam-
säHer, sem ahlrcgc höfez petta ffkkar a medal* pit skolot deila
knif ok ki^tstykke
ok alla hlute ykkar % mille ■
sem frmAt em eige (sem) fiändr,
[Vgl. Grettissaga : Btr set ek grid aUra manna d mülom ....
tü gamam, gitmo ok ffieäe aürary
tu JUrvistar ok hemferiar, .
hvart er kann parf at fara
d lege eda Umde
eia fkUninge; skal Hann hafa griä % ^ßom stgäom nefndom ok
dnefndom, svä lenge sem kann parf
tü heiUar heimkv^mo at hpldnom trygd&m.
Set ek pesse yrid fyrei' o$s ok vdra frwndr,
6*
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84
vine ok vetulamenn,
8va konor gern karla,
Pyiar ok prodaf
sveina ok siälfrdda menn.]
Sf takaar geraz sidan ä mäle pmrra mnat erm pat er vd er^p<U
skfd fi bäta mn eige /fein rMa,
Elm ad ffkkar
er QCngr & ggrvar satter
eäa wgr ä peiüar trygder,
pä akal Jumn
svä vida vargr
Ttekr ok rekenn
[GrottiBsaga: raiki' ok rekmn
frä goäe ok godom m^mni
br himenrike ok frä ^Uim M§om m^nom,
ok hverge häfr
tnayina i müh
oksvA frä ^Uom üt fiämdr, sem vidast . . . ],
8&n menn vidast varga reka,
krigtner menn kirkior iäkia,
heidner menn hof Udfa,
eldr wpp hrennr, ip'd grir,
mpgr mddor koBar^)
ok möder fSder,
alder Mi kynäa,
Mp Oaidr, skäder bISkia,
skSnn, «na Uggr,
Fmnr äkridr, /%tm veac,
valr fl^ pärlangßn
gtenär h^nom ftyrr bemn under b&da vm^ige,
himenn hverfr, hemr er ^ygdr,
vmdir p^tr, vptn tU emfxxr fiM),
Jboitiiciir kerne eä»
1) GretL: ftuelt bfu-n niödw kaliar.
^) Qrett.: ok vinär «NV«r v^n tU teemr^
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Metrische Styoitft»gen.
85
kaum tkail firra»
kirkittr ok krishia metm
€U>äs hÜ8 ok guma^)
heim hvem nema helvite.
Nu haJdet pH Md^ & höh ebine, enda VKjijr nu fc d hbk er N. N.
häter fyrer sik ok sinn prjiiujxi idmn ok Oborenn, qctenn ok
ögetenn, nefmlan ok oncfndan. N. N. tekr trygder, eim N,
veiter wventrygdor . pipr (b skolo hcUdaz
rmdan mold er ok menn lifok*
Nu ero peir N. N. ok N. N,
satter ok mviniäfn
[hrcrr vid ayinan
hvar sem peir hittaz^)
. . d lande eda lege
[d fiaUe eda fipro]
skipe eda d skide
[i^do eda igkle]
i hafe eda d hests bakOf
i huga gödomj
eda austskoto,
ef Parfer gmug
i mJtne fimne
ä braut finnej,
ärar midla
ßopto eda püio
[ivd sem vin smn
eda brödor Hirn
iafnaäUr hvärr vid annan
sem fader vid ton
eda sonr vid f^dor.
i smfpnm pUtm»
Nu leggia peir hendr sinar saman N. N ok N N: haläet vd
trygder at vüia Krists ok aUra manna peirra er nu heyrdo
trygdamgL
hafe sd hyUe gods er heldr trygder^
*) Hieftr QxvtL: heidna hnlda,
hüs ok hella.
*) Bin Vers? Grett. uod Heidarviga haben kvdrt «em vir finnomak.
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86
Kapilpl 11.
nin sü i'tidt' er riifr rittur (rijf/drr^),
cnn hyU»' «i h^äit ! hafvt heHcr atfU,
etm per sem vdttar er vid crom stadderi
Ks ist keine Prag^, daM von stabreimender Prosa hier nicht
die Rede sein kann. An Poesie des Inhalts lassen diese Zeilen
nichts za wünschen nbri^. Wegon der poetisch invertierten
Wortstelloni? voi gloiche man Hoinzel, Beschreibung der isl. Saga
S. 191. Die Stftbe ftlgen sich allen Anforderungen des Satss-
toncs«. Ihre kStellun*^' ist auch insofern regclniafsi^^ als in den
l-.an^'ZfMbMi slilts der erste Ictus des zweiten Kur/verscs stabt.
Die ersten Iviir/.verse einer Langzeile haben fast dnrchweg den
Suibreini in heitien letcn mlor in dem ersten; die StabverteiluDg
X a constatiere ich nur in dem Verse
s' )n »u )in vidust varga reka^
wofür btadarhiilsbök hat
svä vida sem menn varga reka;
die Verse
pehi{ i hfnd sdi v^v^ I ^ I
8V& sem tnn ginn 1^1-
medan mM er | ^ |
hafe sA hyUe gada y^y^s^ I ^ J_ I —
sind wol in der hier bezeichneten Weise zn lesen ; dass die beiden
letzten Verse den Ueimbuclistab zuirleich als Anlaut des Auf-
taktes zeigen, kann schwerlich An^^tuI« ci regen (s. u. S. 05),
obwol dies allerdings die beiden einzigen l'oletre aus dem vor-
geführten Materiale sind. UmsclUielsonden .Stabreim zeigt nur
die Versgruppe
sem fader vid son
eda so7ir vid ffdor.
llire metrische Natur kann nicht bezweifelt werden ; der zwiefache
Stabreim ist wegen der Satzbetonung unentbebrlidi: fader darf
*) HiofOr bat die HeiAMrrfga:
enn sä ffrcme ffods
er r^fr rettar irygiar»
MatriM^ho Sl^roitfragen.
87
nicht stablos bleiben^). Ob man die folgende Zeile
vermöge des Bmmstabos s an die voransgehende angliedern oder
sie als stabloses, ungebundenes Stdck betracbten soll, ist fraglich
(die er»te Auflbssnng kann sich auf den widerkelirenden Vers
der getspeki Heidreks bemfen: getid er pehwr).
Der groDse, augenfüUigo Unterscliiod der Stabsetznng von
dem Gebiiiache der Poesie im engem Sinne liegt darin, dass un-
gcparte, selbständige Knrzverse, mit zwd Stäben, nach freiem
Belieben wechseln können mit Langzeilen d. h. mit zwei durch
die Stabreimordnung a a | a x oder a x | a y goparten
Versen. Es ist dies, wie man leicht sielit, ein Unterschied der
Stabsetssung und nichts weiter: die Periode, die wir Langzeile
nennen, wird in diesen Gesetzesversen nur durch den Stabreim
geschaffen; die gepaitcm Verse shid von den ungoparten im Übrigen
nicht rh3^hmisch differenziert. Auch das syntaktische iUnd ist
nicht enger zwischen den gemeinsam, als zwischen den einzeln
stabenden Versen. Ob die beiden Zeilen
mpfp' tnodor kallar
ok moder mgg fade)-
als zwei .selbständige Verse oder als ein Verspar empfunden worden
seien, ist wol nicht einu gegenstandslose Frage: da in allen
andern l'^ällen, wo sich e i n Stabreim auf zwei Verse ausdehnt,
der zweite Vers nur mit dem ei-sten Ictus stabt, ist vermutlich
nur unt^r dieser Be(ling"ung die engere Zusammengehöiis^^keit der
beiden (jlieder gefühlt wui deu, und die soeben angeführten Zeilen
musten demnach in dei-selbon Weise als selbständig erscheinen,
wie 2^^•ei Verse mit vorschiedenem Reimlaute.
Tst also die AiUtteration nichts woniger als locker und
pl<ifi!n^. SO wird man sich ancli den Vortrag einer derartigen
(jesetz«'sst('l](^ sicheiiit-h nicht als prosaisch, sondern nls metrisch
im voUstcu Öinue vorstellen. Wer nicht des Glaubens ist, dass
>) Einon ontsprochenden FaU Uetot die Edda In VA. 87 Vihmdr
lidanfle um langan veg: der Reim aaf v wird von dem ersten, der Reim enf
l Ton dem zweiten KnxcrerBe gefordert.
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88
Kapitel IL
der metrische Takt nur der Mudk angehöre, wird, wenn irgendwo,
80 bei diesen tr.vgdani&l die Unentbebrlichkeit und die Macht des
Taktes anerkennen. Wenn Hafr, Sohn des (»örarinn, ein ordma&r
mUtSl^ wie ans die Grettissaga erzählt, diese Sätze mit ihrem
wuehtigcn Gehalt und ihrer ehernen Ausprägung med mkiM
reksemd vortrug, so wird wo! taktgebondene Bede tlber s^e
Lippen gekommen sein. Durch den Takt erlangten diese For-
meln ihre Plastik und gruben sich dem Sinne der HOrer ein.
Und wie ist ihr Rhytlimus beschaffen? Man braucht keine
Aeconte und Schemata hinzuzusetzen; auch ohne diese Nachhilfe
kann sie jeder lesen. Diese Verse haben etwas Selbstverständ-
licheSj da uns iln-e GruiuUunn in sprich würtern und Formeln bis
heute furtlcbt und uusorn rliytlimisclien Sinn sicher leitet.
In ein par Fällen kann man violleicht zweifeln, ob eine
Langzeile oder ein Kurzvers zu sprechen sei; z. B.
oik a//a hlute ykkar i müle
könnte allenfalls als eine Kurzzeile gefasst werden. Aber wu:
dürfen beifügen: in deraiügen Fällen standen gewiss schon dem
Ipgsfgumadr der alten Zeit die beiden Vortragsformen zur Ver-
fügung; es war mOgUch, gewisse Silbengmppen ungezwungen bald
zn einem Verse, bald zu einem Verspar zu rhythmisieren.
Das gemeinsame Mafö aller dieser Verse ist der Zweitakter
IxxJ:xI:k:xxx|.
Auf den ersten Blick zeigt sich, dass die Füllnng dieses
metrischen Rahmens überaas manigfaltig Ist. Auf der einen
Seite sehen wir die leichteste Fttllung | ^ | j_ in zahlreichen
Versen und mit hedentender Wirkung augewandt:
ship skridi'\
sÖl skinn snce leggr
und andre; oder mit zweisilbig-stumpfem erstem Takt:
fura vex;
Jiimmn hverfr.
Auf der andern Seite begegnen gedrängte FüUungeu, wie z. B.
ok from komnom eyre;
ä pinge ok d pidästefno;
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Metrische Strcittragou.
89
er gmgr a gervar säMer
eda vegr ä veittar trygder;
i hafe eia d heitts hoke*
Die Zwischenstufen sind in grOster Maalgfaltlgkoit vertreten. —
l)or Auftalrt kann als vüUig frei bezeichnet werden: er darf ol)en-
sowol vor den schwer gefttllten Talrten vorhanden sein, wie vor
den leichtesten Farmen fehlen. Auch seine Silbenzahl ist frei:
wir haben Auftakte von ein, zwei und mehr Silben.
AVie frei sich die sprachlichü FilHung innorlialb der weiten
Schranken bewegt, erkennen wir auch an den \ ariiinitiu der ver-
schiedenen Texte. Ein ok oder eda als Auftakt kann unbedenk-
lich zugesetzt oder weggelassen wei-deu. Für den dreisilbigen
Auftakt der Kb. in
sfetidr höyiom byiT beinn
hat die Heidarviga den viorsilbi^^on
starule hötiom • . • >
die Gretla den fünfsilbigen
ok sfrt)/.!.j hönom . . . ,
wogegen die Stadarholsbuk den Vera in der silbenärmeren Ge-
stalt aufweist
ok I stände \ byrr under | bäda \ wenige,
FUr die Lesart der Kb.
efär npp brmnr
hat die Grett. die leichtere Füllung
ehlr brennr,
die Heid, die schwerere
eldar upp brcnva.
Bei diesen Varianten ein „richtig" und „fehlerhaft" oder ein
„ursprünglich" und „abgewiclien" zu unterscheiden, würde einen
falschen Begriff hineintragen: alle diese Formen waren gleich
möglich und gleich berechtigt.
Dass dieser Versbau nicht an die Füllungsregeln der epischen
Dichtung gebunden ist, bedarf nach dem Gesagten keiner Aus-
ftihmng mehr. In keinem epischen Gedichte, weder neidisch
noch westgermanisch, finden wir anch nur annähernd diesen Reich-
tum an Typen, diese Spannw^te der FUUunf smOglichkeiten wie
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90
Kapitel n.
in ansenD kurzen Gesotzosabschnitt Dag^en darften wol alle
die hier vorhandenen Formen wider in dem Versmafls der Sprüche,
im I^ddahittr, begegnen.
Will man die alpliabetischen Zeichen des Fünftypensystems
mit ihren Exponenten u. s. w. auf die Gesetzesvcrse anwenden,
so mag man das tun, wofern man nur nicht den Schein wecken
will, als ob damit das Mindeste für die rhytlimiache Deutung
dieser SSeilen getan sei, oder als ob dieser Versbau aus den
epischen FOllungsfcgeln erklSrhar werde. Wenn Lind, Uppsa-
lastudter S. 141, meint, die Gesetzesverse begegneten sich mit
dem epischen Verse in dem „gormanischen viersilbigen Allite-
• rationsverse", so erschaut diese Berufung auf eine fixierte Silben^
zahl wenig förderlich bei einer Versteclinik, die ihre Zeilen
zwischen zwei und neun Silben spielen lässt! Sollte aber die
Meinung die sein, dass ein urgermanischer Vers mit der gerogelten
Zalil von vier Silben der gemeinsame Stammvater sei, so wftre
das tatsftchliche Verhältniss auf den Kopf gestellt Wo wir in
der altgermanischen Versknnst die Annilherung an die normierte
Silbenzahl finden, nämlich bei den Skalden, da haben wir secundäre
Neuerung. Dem gegenüber bezeichnet der Bau der Cxesetzesverse
nicht u'iiler eine jllngere Entwicklung, Jiondern die genetisch
ältere Stufe.
Die Verwandtschaft der Gesetzes-, Formel- und Spruchverse
mit den epiticlien beruht — von der Stabroiratechnik abgeschn —
einzig und allein auf dem geinoiiis;nnen Gruudinaiije. Hier wie
doit haben wir die zwei Yiorviortclst.ikte.
Die metrische Bedeutung der (jlesützesverse kann nicht darin
liegen, dass sie „unsere Kenntniss d(\s feineren Details im alt-
noidischeu (episciien) Versbau" veriijehren (man \gl. liiiid a. a.
O. S. 151). Ihien grofsen Wert erha1ti»n sie violiiichr dadurch,
dass sie diost's foinoio Detail, d. h. die beschriinkendon Füllungs-
gesetze der episclieii Dichtung, als eine Summe kuastiiiäfsiger
Hotrein dartun, die niclit zu den constituierenden Factoren des
germanischen Stabreimverse.s gehören.
Die (iosetzesverse voioinigen sich in diesem Zeugniss mit
dem l4j()dahattr, und da man die ei'stera nicht wol als Gesanges*
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Metrisdie Streitfragen.
91
verse betrachten und auf Grand davon von dem epischen Verae
gänzlich lostrennen kann, wird die Nötigung nicht mehr Iftnger zu
umgehen sein, die verschiedenen Grappon des altgernianischen
Versbaues auf einen Boden m stellen und ihre Besonderlieiten
von einer oiiganischen Ginmdlage aus zu erklAran.
Ob der gen^ltere Versbau im Epos oder der freiere Vers-
bau in der Spruchdichtung das chronologisch ältere sei, mag
vorläufig unentschieden bleiben. Sicher und A'on dieser Frage
onabhftngig ist, dass die fraiern Sprachverse den primitivem
Versbau zeigen. Sie lelu'cn uns, welche sprachlichen Be-
dingungen notwendig vorbanden sein müssen, damit ein
Vers zu Stande komme. Indem wir den epischen Vera daneben
halten, kOnnen wir unterscheiden, wie viel hier als spradilich not-
wendige Voraussetzung des Zweitakters, wie viel als kunstraftfsige
Norm zu geltea hat. Ebenso zeigt ans die freiere Versübung,
welche Grenzen der FQllung des Verses durch die Natur
der Sprache und des Grundmafses gezogen suid. Wideram
Ubast uns dies beim epischen Verse erkennen, wie weit seine Ein-
sehränknngra diesen piimären Charakter haben oder aber durch das
üebercinkommen einer könstleiischen Sclmlung vorgeschrieben sind.
Die freiere metrische Teclmik der Spi ilche bietet uns gleich-
sam die tragenden (i rundmauern des altge»-manischen Verses.
Eine Tliooiie der stabreimonden \'erskunst muss der An-
for(l(M(i:iL y^iMitigcn, U ass sie die Ivunstfornien der Dichtung in
orgiiiiiMlieiü Zusammenliango mit den primitivpin Formen der
»Sprüche u. s. w. erkläre. Da.ss d;Ls Typensystem „zu eng" ist, zeigt
sich am deiitliclisten dem Ljödahättr und den Sprüchen gegen-
(Iber: die auf die „Gliodei/ahl'' gefn-ündete Definition des Verses
— mag man ihre RiclitiLrkeit bei der opisclien Poesie zugeben —
versagt bei dem aiilsfMopisctien Vei'se, weil sie nicht die primi-
tiven Eigenscharten de^; Verses, soikUmii eine dem Wesen nach
sccundäio l\egol ausdrückt. Es kann sicli niclit darum handeln,
das epische Vor.smaterial aus seiner gebietenden Stellung in der
Stabreimmetrik zu verdrängen oder die Wichtigkeit der epischen
Versfüllungsregeln herabzusetzen. Aber nur dadurch, dass man
diese traditionelle^ liunstforiqen an dem freiem Versbau misst,
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92
Kapitel IL
gelangt man zu ihrer klaren Würdigung, vermag man die primären
Factoren des Veraee von den Beschränkungen einer verfeinerten
Technik zu nnterschddeii und dem germaniacben Versbau m
festes und weites Bett unterzubreiten.
Die nendeutsche Verslehre hat sich idluflg auf die Jambeo-
und Trochaenverse und etliche andere anttklsierende Kunstformen
beschrftnkt nnd ist mit einem halben Dutzend griechisdier Takt-
namen leidlich ausgekommen. Aber die gesamte metrische
Auffassung blieb unorganisch und erwies sich als unzureichend,
sobald em complioierteres Odenmaä oder ein urwüchsig volks-
tümlicher Vers unter Dach und Fach gebracht werden sollte:
sie passten in die fertigen Kategorien und Definitionen nicht
hinein; denn diese waren mit Rücksicht auf die überwiegende
Masse der Kunstverse zurecht ge«^nlttan. In emer ahnlichen
Lage befindet sich, mutatis mutandis, das FQnftjpensystem beim
Versbau der alten Germanen.
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Kapitel III.
Taktzahl im Ljödahättr.
An das gnoraische Strophenmafs der nordischen Dichtung
knlipft sich die Frage: setzt os sich aus zwei- und dreitaktigen
Veraen in unsymmetrischer Misclumg zusammen? oder besteht es
aus lauter zweitiiktigen (i Hedem, die sicli nicht in dem Grund-
mafs, nur iu der VersfUlluni; von der Form der episdiea Poesie
tmterscheiden?
Die erste Attflaasupg findet man in der metrisclien Litte-
rattir im allgemeinen vertreten. Ich war za der Ansicht gelangt,
dasB man damit nicht das Richtige treffe, und hatte Acta Germ.
1 122 ff. 3SU zeigen gesucht, dass sich die Ijddah&ttnseilen auf
das Malh von zwei Vierviertelstakten rhythmisieren lassen. Gegen
diesen Versuch erklärt sieh Sievers Ag«in. Metr. § 511
an& entsduedenste; er will die wechselnde Tnktzahl der Zeilen
aufrecht halten, und zwar in dieser Verteilung:
„Die wdtaus grOste Masse aller Voll Zeilen ist ohne all^
Zweifel mit drei gleichhereehtigten Hebnngen (dr^ Haqithebungen)
IU sprechen" (§ 57); eine unbestunmte Anzahl vier hebiger Voll-
ssoilen wird zweifelnd angesetzt (g 57, 9); ungefilhr 75 Vollzeilen
lassen es fraglich, oh sie drei oder zwei Hebungen bedtzen
(§ d7i 7); uagefthr 45 Vdhieilen smd nach § 57, 8 „sicher
zweihebig^, nach g 195, 3 aber doch vielleicht z. T. dreihebig; —
die ungerade Kurzzeile „besteht ttberwiegead aus sieher
nur zwei hebigen Veisen", daneben aus dreihebigen (§ 58); —
die gerade Kurzzeile „nihert sich dur^ den Ubef^
wiegenden Gebrauch drei heb ig er Verse der Vollzeile'' (§56, 5).
Die ganze Frage ist von allgemeinerer Bedeutung: für die
Beorteilang des stabreunenden Versbaues ist es weseotlkdi, ob
94
Kapitel m.
wir ihm neben dem Zweitakter aneh einen Dreitakter (iiud einen
cäsurlosen Viertakter) zuscbreibcn, und ob wir — da die Zeilen
von drei und zwei Takten in regelloser Misdmngr stelm sollen —
das Princip der freien Taktzahl (s. o.S. 28 f.) der Stabreimpoeaie
zuerkennen.
Darch die Ausführungen in der Agerm. Motiik scheint mir die
frühere Ansicht nicht gestützt zu werden. Ich will den Nach-
weis versuchen, dass 1) ein objcctlvcs Argument fUr dreitaktige
Messung nicht anfgestellt worden ist, und dass 2) die CSadenz-
regel der Vollzeilo^) ein objectives Zcngniss gegen die drei-
taktige Messung ablegt.
Prüfen wir die GrrOnde, die Sievers § 56 f. gegen die swei-
taktige Messung vorführt
An den subjectiveren Bedenken, wie „Aufopferung alles rhjlh-
misclien Wollaiits" und Ähnlichem, gelin wir vorüber, da in diesen
Dingen, wie wir schon oben S. 52 sahen, die Meinungen allzu
geteilt sind und da die von Sievers selbst entworfenen Ljödahatti -
Rhythmen ;iuf S. 235 ff. die gi'ofse Divergenz der Geschmacks-
ricliLuiigiii bcsidilgcü. Wenn Sievers weitcrliin sagt, „grund-
sätzliche Ignorierung all der Regeln über das Verhiiltniss von
Satz- und Version, welche sonst in der gesamten nordischen
Dichtung durchgeführt sind," liege meinen zweitaktigcn Hliyth-
misierangen zu Grunde, so fehlt dieser Behauptung der Beweis
— oder, wenn das in § 57 (spoc. Amn. 1) V^orgebrachte der
Beweis sein soll, so ist er hinftlllig.
Wir finden da erstens die Berufung auf ,,drci fache
Allitteration". Von 1080 untersucliten Vollzeilen haben (nach
§ 57, 3b) ungefälir 40 drei übereinstimmende Anlaute. Sievers
glaubt, dies sei nur mit dieitaktiger Messung vereinbar, „da
Doppelallitteration an stelle ret,^elreoht einfacher Allitteration in den
übrigen N'ei'snial'sen streng gcnneden wird". Die Fm^resteihmg
ist damit verschol)en : hier kann es sicii g-ar nicht um die i^'iagc
der doppelten Allitteration an Stelle einlacher Allitteration handelu,
sondern einzig um die Frage:
Diesen Namen gebrauche ich für die unparigc^ selbständig: allUteiierouda
2oile der LjüdaUättratropbon noch Siovoiü Voroulilag & 80 Note.
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Taktzubl im Ljüdabattr.
9d
ist der Laut, der den Stabi-eim bildet, auch auiseriiaib
des Stabreimes als ictusloser Wortanlaut geduldet?
Denn sobald man zweiukiig misst, kommeu nur zwei ßeiin-
stäbe in iietraclit.
Die genannte Frage ist füi- das Westgermanische bekanntlich
zu bejahen. Im Nonlischen werden Vocale als überyciiiiissige
Anlaute unbedenklich zugelassen: von den bei Sievere genannten
Fällen mit vermeintlich dreifachem »Staljieim sind also die
vocalischen als be^vels^nkl•^lftig auszuschlielsen. Wortanlautende
Consonanten aurserhalb des Stabreims verbietet das Hattatal
(herausg. von Möbius 8. 2 o.). Auch die eddische Dichtung zeigt
diese Erscheinnnjjf seltener als die westgermanische. Doch ist sie
nicht consoquent ausgeschlossen; ich habe mir gelegentlich diese
Fälle an|:.^emerkt (die stabenden Consonanten in aofrocbtem Druck,
die hybriden in Fettdruck):
Vsp. 26 1 j)ö>T einn par ?4
Hym. 30« Hann er hardari
Völ. Iii sat hann avd hngi
H. Hj. 87 1 mik hefir Hdgi
89 t ßetta sinn
40? mir hefir hjprr komit
H. Hu. II 7 1 \ivar hefir pü hümir
85 a hafdu Mlfan heim
86 1 sWea ek sv& aad
Akv. 9i n6 ndungr annarr
12% hvars ykr hugr teygW
28 s h^ hjarta
Am. 70 6 «em pü ^jglf inlir
785 tr4 tekr at hniga
Hmd. 2? sonu sina nnga
27 1 huff Iiefdir pn Ramdir
[aus Skalden : Hgfudlausn 8 o fyr Utüs sveUi
Hakm. 7 7 feU (lod f/cina
vSighvatr i^Uuikr. 8. ,>L:2j {)('/• pidt \)in)i hayr stönim].
Wenn in den Ljödaluittrvollzeilen diese Fälle verhältniss-
oiäTsig häutiger sind, so liudet das seine genügende Erklärung
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96 KapiOil III.
in der durehsohnittlidi hohem SUbenzalil dieser Zeilen: ein acht-
silbiger Vers enthUt leichter einen UbersehOssigen Anlaut, als ein
viersilbiger u. a. f.
Denuuu^ kennen jene vieradg Verse mit drei ftbernnstinimenden
Anlauten nicht fUr dreitaktige Scansion beweisen. Es steht
nichts im Wege, nur zwei dieser Anlaute als Behnstabe, den
dritten als IlbersehOssigen Anlaut zu betrachten.
Es kommt dazu, dass selbst bei dreitaktiger Messung
die Annahme hybrider Anlaute nicht zu umgehen ist:
Lok. 30 0 hverr Jiefir pinn h6rr vhit
60 • ok pöttiska ipu) pä pbrr vSra
werden von Sievers in der hier angedeuteten Weise gemessen:
also stellt dort Jtcfir, hier pa aufserhalb ch^s Stabreims. Dana
muss mau aber auch zugeben, dass in dem Verse
Vaf. 23 a ok sva solar it s&ma
das sväf in dem Vei se
Lok. 58 3 h in präsir pü svä pörr
das sehr wol aufserhalb dos Stabreimes stelin kann.
Sievers beruft sich fernerhin darauf, „dass man bei sprach-
lich ganz gleich gebauten Versen die Allitteration beliebig ver-
schieben kann (Wechselallitteration), was bei keinem andern
Metrum der Fall ist: Il6m hnlln / Häv. 109 4 gegen jptm
g^rdum ör Hav. 108 3, oder verjni vatu/ d Hav. 158 8 gegen
verpumk ordi ä Vaf. 7 3. Dieses Verfahren beweist, dass die
drei Hebungen als völlig gleichberechtigt empfunden wurden"
(§ 57 Anm. 1). Die Beispiele sind nicht gut gewählt, da Hav.
109 4 schwerlich eineVoilzeile, sondern ein zweiter Kurzvei'S ist
mit der Messung
I Hpm hnllu \ 7, *
und da Häv. 158 3 vermutlich seine beiden Stabe auf vatni und
d hat (entsprechend den Fällen aus den Häv. bei Gering Beitr,
13, 203). Vor allem aber zieht Sievcrs eine unrichtige Schluss-
folgernng: die Möglichkeit, in analog gebauten Versen den Stab-
reim und damit die Hebung zu verschieben, ist auch dem epischen
Verse geläufig. Man erinnere sich an Verse wie diese aus dem
Beowttlf:
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1451 8 ßSban sundgdkmd
▼ergliohen mit
757 a iSean defffia gedrmg;
oder
858 a eifde eUenröf
yerglichen mit
641 b eöäe goldkrodm»
Daraus kann natttrlich nielit der Scbluss gewonnen werden,
dam wir dreitaktige Verse vor ans haben.
Noch irreführender ist der folgende Funkt Ein par Voll-
zeüen haben fehlerhaften Stabrdm, indem ein vorausgehendes
Nomoi vom Reime ttbergangen wird; z. B.
Grim. 8« hetri gjgld ffeta
H. Hj, 12 e kennid mer nafn konungs:
die Nomina hetri und 72afn dürfen nach den allgomeinen (iesetzen
in diesem Zusammenhang' nicht stablos bleiben.
Sievers glaubt, der Fall werde verständlich, wenn man
diesen Versen drei iliythmisch coordinierte Hebungen gebe. Er
verkennt damit das Wesen der Satztonrefrel, die wir aus der
AUitterdtinn ersciiliefsen können. J>m\ diese Regel lautot ein-
fach so: ein Nomen als ersfr (ilu l einer syntaktischen Ver-
bindung darf dem foh^/Mnirii (iluHle den Reimstab nicht abtreten.
Dafdr gibt es nur die i^j'klärung: das vorausgehende Nomen darf
sich dem folgenden Gliodo nicht dynamiscli unterordnen; sobald
es aber stablos blieboi müste es sich uaterorduen.
Somit hat sich in
betri gjpld geta
das dadurch, dass es stablos blieb, in sprachwidriger
Weise untergeordnet; die syntaktische Gruppe Mri ^;pM sollte das
Stabreimschema a x bekommen und hat statt dessen das Scliema
X a erhalten. Ob man nun dieses übervorteilte x (bein) in den
Auftakt stellt oder aber, mit 8ievers, in eine Hebung — das
ändert nichts jener objectiven Regel gegenüber. Denn diese be-
stimmt lediglich^ dass das Nomen nicht stablos bleiben dOrfe; sie
sagt nichts darüber aus, ob ein stabloses Glied im Verseingang
als Auftakt dienen dttrfe oder zum Bange einer schwächend (weil
H«utUr, 0«rm. VmbMi. 7
Digiii^uu by G(.)0^1c
98
Kapitel IIL
stablosen) Hebung erhoben werden mttsse. Wenn wir in dem
Beownlfverse 427 a brcgo lieorld-Dena statt des brego ein nicht-
stabendes cyning einsetzen, so haben wir einen falschen Vers
und bessern ihn nicht dadurch, dass wir diesem cynitig die erste
Vershebung einräumen.
Zu den Versen mit inconectem Stabreime gebOrt auch der
von öievera § 57 Anin. 1 mit verwertete
Vaf. 54 e själfr / cijni syni.
Alle diese Verse hatte ich Acta Germ. I 128 ff. vollzählig
zusammengestellt und ausdriU-klicli bemerkt, dass sie keine rich-
tigen Zweitakter seien. Zu dem Verse Heg. 19 e. 20$ lieül at
sverda svipun hatte ich boigefiigt: „Tcli sehe keinen Ausweg,
da heill nicht wol ziun vorausgehenden Verse gezogen werden
kann". Sievers schreibt hiezu: „Heuslers ^feinung, dass die
nicht allitteiierenden Nomina hier in den , Auftakt' zu setzen seien,
vermehrt nur die Schwierigkeiten, statt eine Erklärung zu schaffen"!
Eine selt.sanie Art der Polemik! Wir constatieren: alle die be-
sprochenen Verse, die als Zweitaktei" fehlerhaft sind, wären auch
als Dreitakter fehlerhaft. Ftlr die Frage nach der Taktzahl der
Vollzeile sind diese Verse mit falscher AlUtteraüon gar nicht zu
gebrauchen. Ueberdies sind sie so gering an Zahl — etwa ein
halbes Dutzend unter 1400 Volizeilea dass Sievers besser ge-
tan hätte, sie ruhen zu lassen.
Im Irrtum ist Sievers, wenn er unter diesen Versen auoh
Reg. 25 s iUi er fyr heül ait hrapa
anführt. Man vergleiche
Am. 2^% ÜU er m>efn sS/Osan
92 a «Kf er vin vSa
Hmd. Us HU er tHaudim hali
hier wird auch Sievers für das iXU keine Hebung postulieren. —
Der Edda kann man Uberhaupt den Brauch nicht ganz absprechen,
ein prädicatives A^jectiv reimlos seinem Substantiv voraus-
zuschicken; man vergleiche noch
Am. 78 t tf^Miim mm rö reidi
100 8 iik'angt vor an^ waigffi
Myndi. 5 • «finn er ff^r >tim
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Taktzahl im Lfjödahättr.
99
{)rk. 13 1 reid vard pd Freyja»
Da der Anfangsvers desselben Thiedes
reidi alt' pä Vinypör?- '
nicht anders beurteilt zu werden braucht, ist es geraten, als
Musterbeispiel ftlr den Reim vr : v einen andern Vers zu wählen
(Noreen, Aisl. Gramm.* § 228 Anm. 2). ;
Wir kommen zu dem letzteOi aUgemeinem Argumente gegen
die Zweizahl der Takte. Sievers sagt, viele Vollzeilen lUUten
eine „deutliche sprachliche Dreiteilung", die dem Pomyrdis-
lag und dem Mälahattr vollkommen fremd sei. Als Beispiele
dafttr, als entschieden dreiteilige Verse werden vorgeflUirt
H&T. 42 1 ok gjalda gjpf fdd gj^f
' Lok. 9 s Hendum lisdi Mmän
HäT. 44« fara ai finm opi
89 ff leid si, laun ef pagL
Wenn der erste dieser Verse in der zweitaktigen IQiyth-
imisimDg
oh gjalda gjpf vid gj^f
\^ W v-* I »1 X I ^
anstöfisig sein soll, so tragt wol nur der Infinitiv im Auftakt die
Schuld (wegen des sdieinbar dreifachen Stabrennes vgl o. S. 95).
Allein die Edda kann — wie auch die westgermamselie Dichtung
ausnahmsweise — den. Infinitiv dem folgenden Satzteile unter-
ordnen; man vergleiche
H. Hu. II 89 7 gefa svmum aod
Akv. 3 2 rida eyrindi
H at säkja heim Atla
14 u at vekja gram hüdi
83 4 0^ reifa gjgld rpgnis
Am. 13 0 reifa glödraudu . .
Hmd. 2 8 hefna SmtHiMar.
Damach ist gegen den obigen Vers in der bezeichneten zwei-
takügen Messung nichts einzuwenden.
Den ttbrigen drei Bdspiden stelle ich folgende Yersor deren
sprachlicher Bau nah verwandt ist, an die Seite:
7*
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100
t&pltol HL
Am. 18 2 verda ött memmn
30 B föro /imm sa7na7i
Vap. 49 1 u. ö. (f^j/r nü Gannr mj^k
Am. 2? af ömgdi bod scndi.
Diese Verse misst auch Sievers zweihebig. Man kann nicht ent-
decken, worin die „gröblichste Verletzung des Sinnesaceentes"
Ueg^eE soll, wepu wir aucii jene LgödahaUrseilei^ zweitaktig
sprechen.
Allerdings sind ja diese gedrängten VersfUllungen im LJödahdttr
nnglftioh hilufiger als im epischen Versmafse der Edda, und die
soeben angreftlhrten epischen Zeilen sollen diesen üntei-schied nicht
vcrdeckea. Almr dies können sie beweisen,, dass sich derai-tige
Silbengruppon der zweiteiligen Rhythmisierung nicht entziebn.
Sobald ein zweitaktiges Mafs gedrängtere FUllongen zul&sst, muss
66 häufiger geschehe, dass sich die Verse aus solchen Wort-
complexen bilden, die man auch drei taktig messen konnte. ?n!inn
die Atlamäl zeigen dies deutUcli: ihre silbenreichern Zeilen
konnten vi^ häufiger di-eltelUge Form annehmen, als dies bei
den andern epischen Eddaliedern der Fall ist. Jedem muss dies,
sdion hei flachtigem Ueberlesen der Atlamal, aufgesto&en sein,
nnd Rosenber.g . hat denn aadi tatcjüehlich den sogenannten
Milahä.ttr für ein überwiegond dreiteiliges Mal^ gehalten (Nord.
Univ.-Tidsknft 1862, 3, 47; älinlich F. Jönsson Arkiv 6, 123).
Das ist aber nicht durchführbar; auch Sievers ztfgert nicht,
AtlamÄlverse, deren spraehliche Dreiteiligkeit unbestreitbar . ist,
zweigipflig zu messen. So wenig in dieser Begehung zwisdien
den Atiamil und den ttbrigsn epischen Liedern ein principi-
eller Unterschied besteht, so wenig besteht er zwischen- den
Attam^ und dem Ljddah&ttr; zeigen doch auch .die Ijöda-
hättr- Vollzeilen alle Zwischenstufen von . der gedrängtesten Fällung
bis zu der sehr leichten, die man schlechterdings nur zweitaktig
messen kann.
Aber dies führt uns auf einen allgemeinem Einwand gegen
die Sieverssehe Auffassung: in der Agerm. Metr. wird, wie ich
glaube, das Verhältniss der sprachlichen Betonung zum metiisehon
Ictus nicht zutreffend dargestellt. Sclton bei. den aUgemeiueu
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TaktMlil im LjödaliAttr.
101
Bflgeln über den epischen Norroalvers macht ^ dies gettend,
und die Folge davon istV dan Stevers bei den westgermanischen
„Schwellversen'* wleb^ den (schwerern) Uödah&ttrzeilendrnhebige
Messung ftit das einzig mögliche hält. Anch bei den Schwell-
versen nämlich bemeriEt Sievers gegen Kanffmann Bettr. li^,
Se'Ö ff., das» „durch Prosatonfall, BedeniungsfUlle und -gUedemng*
«drei grleicbberechtigte FoCie'' erwiesen- wQrden (§ 91).
Ich will die hauptsächlichen Stellen der Agorm. Metr., die
sich Ober das TerfaSltniss von Sprachton zn Verstetus äofiiem,
hier widergobcn (der gesperrte Druck i lllirt von mir her, um
einige besonders zu beaclitendc Worte iiervorziiheben).
§ 8, 1. „Die noi iii.ile ilalUzcile zorfHUt in vier, seltener fUnf
Glieder, von denen zwei (sprachlich und daher auch im
Verse) stark betont oder Hebungen, die beiden resp. drei andern
schwächer betont sind.**
§ 22, 2 nach Erwiiiiiuiiig der sprachlichen Stärktiabstufungcn
im altgermanischen Satze: ,J)ie nach diesen Gesichtspunkten
stärkstbctonten z^\ ei Wörter oder Silben der Halbzeile müssen
die Hebungen liefern".
§ 23, 3. „Drei gioichtonige Nomina in einer Halbzeile
würden drei Hebungen verlangen, müssen also gemieden
werden." Dieser Satz wird dann in § 142 ausgeführt.
Diesen Aeuföerungen liegt der Gedanke zu Grunde: weil der
Sprachcomplex zweigipflig ist, ist es auch der Vers; wäre der
Sprachcotnplcx dreigipÜig, so mOste es auch der Vers sein.
Tatsäclilich muss er so gefasst werden: der Vers, seinem
metrischen Rahmen nach, ist zweigipflig; in Folge dessen wird
der Sprachcomplex zweigipflig rhythmisiert.
Man nenne es nicht einen bloften Wertstreit! Schon die
ganz gewöhnlichen epischen Verse enthalten einen Widerspruch
gegen jene Sieverssche Fönnulierung. Man nehme beispielsweise
diese Beowulfverse
496 a msinde Mir wered
897 a ft<fer on b4arm seipes
601 a ' onbdnd bkidurüne
nbidf'lra^eiche sie inli doli folgenden
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102
Kapitel m.
376 b söhtc höldne wine
264 ft gehad wrntra w6m
397 a imad hUdeb&rd,
Die beiden Haiipticten werden vod Sievers (wie aach vöd
der Zweitakttbeorie) in der hier angezeichneten Weise- ausgeteilt.
Wir sehen also: der Sprachcomplez Verbum 4- 'dornen -j- Nomen
ist in beiden Gruppen zweigipflig rhythmisiert worden, aber das
eine Mal so: v d n, das andre Mal so: ▼ ]& n.
Man kann nun füglich nicht behaupten, diese verschiedene
Behandlung sei sprachlich nutwendig gewesen, denn in der
zweiten Gruppe sei das Yerbum schwächer, das zweite Nomen
stärker: dies winde wol gelegentlich für den einen und anderen
Fall zutreffen, aber nicht für die ganze Reihe der Fälle, woraus
unsre Beispiele gegriffen sind. Vielmehr müssen wir constatieren:
rein metrische Rücksichten (zumal die auf den Stabreim) haben
diese zwiefache Messung bewirkt; der syntaktischen Stnictur
zufolge konnte die Messung v ü n ebensowol auf die zweite
Gruppe angewandt werden, wie umgekehrt die Messung v n n
auf die erste Grappe.
Wenn somit neben dem vorhandenen
segnete tdr tosrütt
aach ein
seencte «Hßr wSredj
wenn neben dem vorhandenen
söhte hdldne lolne
auch ein
aöh^ hsidne wim
möglich war, so ist Mar, dass anch der Messong
Bdnete sctr wired
. $$hte Mldne witte
der sprachliche Bau nichts in den Weg gelegt hätte. Und daraus
folgt unmittelbar: zu zweitaktigren Versen sind hier nicht zwei-
gipflige oder zweiteilige Sprachcomplexe verwendet worden; in
den syntaktisclien Gruppen v n n sind nicht durch die sprach-
liche Tonabstufung zwei Gipfel markiert; vielmehr sind es
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TAktnhl im I(i()d»hAttr.
108
dreiteilige Complexe, die der Dichter auf doppelte Art zu
zweiteiligen Versen rhythmisieren kann\).
Wir haben uns hier auf B<Mspio]p beschränkt, die nichts
ÜDgewöhnlichee haben. Nehmen wir etwa den Heliandvers
3117 stigun stkn endi herg^
den Sievers § 23, 3 d auch zweihobig misst, so zeigt sich das
soeben Ausgeführte noch deutlidier: wollte man hier die Gruppe
Verbum + Nomen + Nomen als sprachlich zweigipflig be-
zeichnen, so könnte das doch nur in der Weise geschehn: vÄn.
Aber der Dichter kann messen <i t n. Also bietet ihm auch
das erste syntaktisebe Glied v einen Gipfel dar: er hat eine
dreigipflige Sprachgruppe so rhythmisiert, dass er den dritten
Gipfel nnterordoete.
Deshalb sind Ja auch so manehe Verse rhythmisch zwei-
dentig; z. B,
pmt hie, pe9äen mfn
fipffr prn yfir
können als
poit hie ßiöden mtn
und als
P(kt hie, peoihn min,
als
flggr gm yfir
und als
flpgr (Jr» fffir
gemessen werden. Und diese Zweideutigkeit beruht nicht auf
unsrer mangelhaften Kenntoiss des alten Satztones — »Aon den
damaligen Recitatoren muss hier die zwiefache Möglichkeit der
Scansion zu Gebote g:e.standon haben - , sondera auf dem Um-
stände, diiss sich dl" ei sprachliche „(Jipfel" anbieten und dass
wir zwei davon für die Icten auswählen müssen.
Nicht zweigipflige Silbengruppen brauchte der
Dichter, sondern solche, die sich zweigipflig rhythmi-
sieren Uefsen.
^) Noben dioser sweitaktigen Meeaung: «nd der dreitoktigen (a. o.) wi»
ueh die eintaktige nU^licli: Beende nstr wered n. a. w«, wie rioli ebentUla
Mu d«r Verttoiahniig d«r beiden Orappen ergibt
A Digiii^cu by Gdo^Ic
104
Kapitel UI.
Dass ilas „rhythmische Seliema" dem sprachlichen Stoffe mit
einer gewissen Freiheit ^a'^^enüberstehe, wird von Sievei*s in
§ 8, 2 und in § 4. 5 berührt. Abor diese Andeutungen ent-
behren des innern Zusanimonh.intj^s mit den o. S. 101 ausgebobenen
allgemeinen Rotrcln; aulserdeni wollen sie nur zeigen, dass eine
äufserlich unteilbare Gruppe (wie pa ssleatan) doch einen zwei-
teiligen Vers, dass eine äufserlich zweiteilige Gruppe (wie war
80 jung U7id morf^ensrJtön) doch einen dreiteiligen Vers bilden
könne. Die weiteio Pols"erung, deren Notwen(ii^,'-keit wir vorhin
gezoig't haben, dass iiiunlicli auch dreiteilig-c (liuppen einen zwei-
taktigen (cvent. einen ointaktigen) Vers abgeben künnen, wird
§ 143, 5 ausdrücklich abgelehnt.
Zweitaktiger Messung fähig sind auch solche Sprachcomplexe,
die aus drei logiseil «.'^^^nau coordinierten Gliedern bestebn.
Weil hiebei zwei diespi (ilieder dem dritten vorgezogen werden
müssen, während docii alle drei den selben logischen Gehalt be-
sitzeUi sind diese Fälle selten. Man vergleiche ans; der
Vsp. 30? Gün7ir, Hildr, G^nduL
Man mochte wissen, ob ein derartiger Yei s den Hörem der {)ulir
einen inoorreeten Eindruck machte. ' Nach der Yorschrift von
Sievers § 23, 8 (oben S. 101) konnte diese Zdle nor .dreihebig
gemessen werden.
In dem Verse Ysp. 12« P&der, IMr ok VUr
sind die drei sprachlich ganz gMchgeordneten Nomina metrisch
sogar dreifach abgestuft: das erste hat einen Ictns, mit Reim-
stab erhalteii, das dritte einen rnndosen Ictus, das mittlere mnen
Nebenictus. Siehe nodi
Rfgsl». 24 5 HflU^, pegn ok Smdr
25 t SnSt, Brüir, Svanni
25» Mjöd, Sprunä.ok Vtf,
Die nächstliegende Abstufung dreier derartiger Glieder sehemt
11-1 gewesen zu sein.
W^en wür uns jetzt den Schwell versen zn. Ich kenne
keinen objectiven Beweisgrund gegen ihre Dreihebigkeii Aber
die Flage, die wir zu stellen berechtigt sind: können die SchweOr
verse ebenso wie ihre ungeschwellten Nachbarn zweitaktig rhyth-
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Takuahl im LJödabÄttr.
106
misiert werden? — diese Fiuge kann anf Grand nnsrer Kennt*
nias des alten Satztones mit SicherlieU bejaht werden.
Ich will nieht die Aosfhlirungen von Kauffmann Beitr.
15, 360 ff. widerholen, die' Luick ebda. S. 441 ff. nicht wider-
legt, Sievers nicht zu widerlegen vorsucht hat. Es genllge, auf
die von Sicvers § Ui in 18 lUibrikeii aufgestellten Schwell vers-
typen der englischen Dichtung einen Blick zu werfen und ihre
syntaktische Zusaramensetzung zu constaticien. Die drei Glieder,
die Sievers jedem Vei*se als „drei gleichberechtigte Filfse" zu-
schreibt, liaben diese syntaktische Beschaffenheit (n = Nuiueu
oder nominale Verbalform, v = Verbum; die stabenden Glieder
in Fettdruck):
Anszuschliefscn sind vor allern die zahlreichen Verse, deren
st ab loser Eingang den ersten Fufs bilden soll (sie sind unter
den verschiedensten Typen untergebracht); z. B. unter Nr. 1;
pü »ceaLt I ifeSmor hweorfan^
unter Nr. 6:
gif pü pfnm | hjfgecraft hyles
n. 8. f.
Dass die hier durch den Strich abgetrennten EiingangswOrter
keine Hebung zu tragen braacheUf sondern ohne jedes Bedenken
als Auftakt dienen können, versteht sich von selbst; wenn die
Yerse dieser Art als dreihebig gefasst werden, so verdanken de
das wol nur ihrer geschwelten Umgebung. Dasselbe gilt für
die Verse, die den einen ihrer drei FOfse mit einem zweiten
Compositionsgliede oder mit einem Ableitungssuffix bilden
sollen; z. B. unter Nr. 10:
wlitige Uf ^oorddnytte^
unter Nr. 12:
pS pcet weorc stadolade:
dass sich ii'orohhujtta und stadolade mit einem Hauptictus be-
gnügen können, kann niemand bezweifeln. — Es bleiben übrig
folgende Gruppierungen:
11 n u
grimme tvid god gesomnod (Ni-. 1)
gomolßrhd goldes brytta (Nr. 2)
r
106
KapUol nL
ärleiis of earde pfnum (Nr. 3)
sweord and mcätigne hdm (Nr. 16)
u. 8. f.
Dass sich das dritte Nomen dem zweiten untergeoi*dnet hat,
wird durch seine Reimlosigkeit objeetiv bewiesen. Wenn Sievors
sagt: die Unterordnung darf nicht so weit gehen, dass das dritte
Nomen in einen Nebenictus gestellt werde, es mnss doeh noeh
einen dritten Hauptlctos erhalten, so ist das eine subjective
Deutung, die wol nicht zu widerlegen ist, die man aber nicht
fUr beweisbar ausgeben darf. Die syntaktische Stroctnr ist
n n n und diese kann zweigipflig, alsänn, rhythmisiert werden.
T n n
geaeoh >A miffämod cyning (Nr. 6)
n n V
woiffra wUie mmaode (Nr. 18)
jfelMäm pw8 Ja gebmdm m mmg (Nr. 9).
Es wftre hier nur das eben Gesagte zn widerholen: dnrch
die Allitteration wird die Gruppierung v n n bezw. Ä n v er-
wiesen. Diese sind als Fallungen des zwelhebigen NomalTerses
bekannt: wenn Sievera sie in onserm Zusammenhange wegen der
vermehrten Silbenzahl drei hebig messen will, so kann er sich
auf die Abstolong des Satztones, den Prosaton&U nidit berafea. ^
Instroetiv ist der Sdiwellvera Beow. 1167 a
wi fShm scet f^reon Seyldinga,
Es ist gewiss einer von denen, die Sievers in erster Linie als
deutlich dreihebig hinstellen wttrde. Nun begegnet aber dieser
Wortcomplex, fast genau übereinstimmend, Beow. 500 als
Langzeile:
pe mt fotum scet fi'eän Scyldinga.
Hier also ist diese Wortgi'iippe mit vier „gleichberechtigten
Hebungen" rhythmisiert, ich verstehe nicht, wie man dieser Tat-
sache gegenüber noch behaupten will, bei den Schwellvci-sen sei
die sprachliche Dreiteiligkeit und damit die metrische Dreihebig-
keit scharf ausgeprägt. Da Sievers § 143, 5 das Gesetz aufstellt,
fUr den dreihebigen Vers (SchwoUvcrs) sei sprachliche Dreiteiligkeit
d^» QvlmhiQ Maximum, so muste er. fUr die WQrtgruppe
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Taktwüü im Ljddab&ttr.
107
(pe) cet ßtum scBt freän SnjJdinga,
die durch den Vers Beow. 500 als vierteilig dargetan wird,
überhaupt keine andre Messiinfir als die vierhebige ziigestehn. —
Ich erblicke in der Langzeile Beow. 500 eine Bestätigfungi dass
mnn auch den Schwellvers Beow. 1167a zweiteilig messen darf.
Die RbythmisieniDgea
600 pe at fötüm sdt \ fr4an Seftdki^
und 1167a ai fiiwn ^ ftiän Scyläinga
prägen genaa dieselben ss^tUchen und dynamisehen Proportionen
aus; nur ist das zweite Mal das Ma& nm die Hülfte redaclert
(vgl. 0. S. 65). Diese beiden Rhythmisienuigcii sind sidi viel
nAher verwandt, als wenn wir das eine Mal vierhebig, das andre
Mal dreohebig messen wollten.
Zu den allgemeinem Erwägungen , die Eanffmann a. a. 0.
S. 867 gegen die unsymmetrische Einmischnng dreihebiger Verse
geltend macht, mochte ich dies beifügeii. Ein Granderfordemiss
ftlr Jeden und jeglichen Rhythmus kann man in der gebundenen
Taktzahl nicht erblicken. Dagegen verwaren sich die modwnen
Dichtungen, die sich den beliebigen Wechsel längerer und kürzerer
Verse erhüben, ohne dass man ihnen doch ein SSeugniss niederen
Knnstiännes ausstellen darffce (s. o. S. 28). Aber es handelt sich
um eine Frage des metrischen Stiles. Je weiter man in der
Versgeschichte zurfiokgeht, um so mehr deht man die Taktzahl als
Unveränderliches festgohallcu^). Wirkungen, die ein neuerer
Dichter durch Wechsel in der Taktzahl anstrebt, erreicht der
ältere Versbau durch Wechsel in dei- Taktfllllung. Für den alt-
deutschen Reimvers scheint man diesen (irundsatz mehr und mehr
zuzugeben. Es hat vieles für sich, dass die deutsche Verskunst
erst dann, als sie ihren eigenen Traditionen entfremdet und aus-
ländischen Einflüssen unterworfen wurde, in dem Princip der
freien Taktzahl ein nenes künstlerisches Ausdnicksmittel über-
nahm. Dass schon die stabreimenden Germanen dieses Ausdrucks-
^) Ein plaiilosor Wecbsel vier- and dreibobiger Vene im Rigveda «cheint
mir durch Oldcnberg (Hjmnon dos MY. T 19) ebenso wenig; glaubliaft ge-
macht 711 sein, ^y\^■' nin «^nz fibulicliLT Wci hsol im lateinischen „ühj^thniD^*'
durch Wilhelm Mc^or (Sitzung$l>Of. der hair. Ak. 1882, I 58>t
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108
Kapitel lU.
mittel ^'•»jirtcKt liiUion, entüpriclit wtnii^' il m Stile ihrer Vcrs-
tctilinik. — In dor Versgcschiohtp wie aiuiri.swu ftthrt weitere
historischo Betraclitiini: zu i^'cwi^s.'n rntoisclioidiinL^on, ^(ewisseii
Walir.schHnliclik»nt>sat/.t"ii. die man im »Mn7<'liion Kalle nicht immer
beweisen kann, üeren lA'ituiig auf unsnhenn Boden mau doch
nielit versclimilhen winl. Ks ist nicht zu billigen, dass Sievers
deiarti^'e Kru-a^'un^en mit *I'm?i Ausdruck „lediglicli axiomatische
(irUnde" (§ Ml Anm. 1) kurzweg als bare Nicliti^'keiten abtut.
Dass die Schwellvorso auf bastimmte Wirkungen berechnet
anü den Nornialversen bewust ent^^^ireiiL'eset'zt sind, bezweifle
ich auch niclit. Aber das Kunstmittel, das dazu dient, ist ver*
toderte Taktfullung, nicht veränderte Taktzabl. Nur bei dieser
Annahme wird es verständlicb, dass die gesch wollten Langzaton
oft ganz isoliert stehn; dass mitunter nur ein einzelner Kurzvers
geeehwelit ist» und dass ttberhanpt die Grenze eine flOasige ist
Anf den ae» Andreas, ein Gedicht von 1720 Langz^len, rechnet
Sievers OVt geschwellte Langzeile (Beitr. 12, 45&): zweimal
folgen sich zwei SchweUverse nnmittelbar; die Qbrigen -5Vt stehen
vereinzelt In nngeschwellter Nachbarschaft. Ist es denn glanb>
lieh, dass ein formenbeherschender Dichter in derartig spotadischer
Weise Verse von abwuchender Taktzahl eingestreut habö?
wogegen sich die Annahme sporadisch gesteigerter YersfUUung
durch mancherlei Analogien stutzen IttssL
Wenn aber Sievers mit seiner Rhythmisiemng der Schwell*
vcrse ^ 181 ff. die KUift zwischen Scliwellvers nnd NormalverB
noch tiek 1 aufreil'st — fllr den erstem vei lau^^t er „gleichmäfsigen
RIiythmuÄ'', wirkliche metiisclie Form — , so scheint er mir die
liinio des Wahrscheinlichen oder auch nur Denkbaren immer weiter
hinter sich zu lassen.
Mit den we.stg-ermanischen Schweliversen stimmen die Voll-
zcilen dos Lj(')daliat(r in dem principiellen Punkte überein:
auch da, wo man iln-en s])rachHchon Bau dreiteiüg nennen kann,
vermag .sich ausnahmslos, den altgermanisehen Satztonregel n zu-
folge, das eine Glied einem Nachbar unterzuordnen. Zweigipflige
Ühythmisiening ist, soweit wir die Abstufungen des Nachdrucks
kennen, aberall möglich.
Taktaahl im I4ödahittr.
Es ist mir keine \ olUeile eiinneriich, die ilirem sprach liciieu
Bestände nach drei so dcutlicli coordinieiie Glieder hätte, wie die
oben (S. 104) erwähnten Verse aus der Vplnsptl und der Rigspiila,
denen ja (rl^i^hwol die zweitaktige Messung zukommt, (lieber
den Vers Skiru. 36» vgl. Acta Germ. I 132.)
Der Sicherheit, womit Sievers die drei Haupthebongen ohne
allen Zweifel hinstellt, stehn keiiiB beweiskiäftigen Argumente zur
Seite. Wul aber bietet uns der spracMehe Bau der Lgiktali&ttr-
Volizeile ein objectives Argument gegen die dreitaktige Messung.
Bei der grofsen Freiheit, die die Fttllong der Vollzeile ge-
niefot, unterliegt dodi ihre Gadenz einer einsehrlnkendeii Be*
Stimmung. Diese ist von Bngge, ihrer sprachlichen Seite nach,
beobachtet worden; ich habe sie Acta G«rm. I 185 fL metrisch
zn formulieren gesacht
SieTors fügt Agerm. Motr. § ß7, 4 dio Note bei «Housler übenticht im
Eifor dor Polemik gegen Buggo, da^^i er in letzter Instanz doch nur dessen
aiBpranglicbe Regel widerfaoratoUt, von der erst Beitr. 6, 354 .ff. abgewichen
wer*. SieviafB irrt sieh. EretUch bAt dch metne „Polenik** gegen Bngge
demof besdiränkt, das« ich seine Regel nunmotrieoh^ nannte (S. 140), was
man Terollnfltiger Weise nicht lüugiicn kann. Sudann aber ist es niclit wubr,
dass dio von mir S. 139 formulierte Regel, .,d>-'r Versau sg'aiiL' ist entweder
stumpf oder voll, nicht k]inf,'-PTnr\ die Bugg-oschc Uc^fcl (abf,'Lidruckt Beitr.
G, 853 f.), sei e» in erster oder letzter Instanz, „doch nur widerherütelle*'. Die
beiden Kegeln sind ihrer ganimi Achtung nach reiaehieden; auch Siere»
wird die« wel, bei neehmallger yergleichimg, dasehra. U. a. Ternteht Bogge
unter soinom „sidstc bovedtone" den letzten Worthauptton, nicht den le taten
aCabenden letna des Veraes; deshalb fallen die metriacb identiaeben
Off6g. 8 s falla at fjorlotum
11g meira en tnenn viti
unter zw i \ er sch i e d oii e Kategorien seiner Regel: im ersten Falle ruht
der „letzte Haupttuu uui dor drittletzten Silbe, im auduro Falle auf dor
sweitleüten Silbe; und aoa denuelbon Grande kann man «war wol einen
Vors wie
Skim. 81a < öfatnerdtt,
nicht aber einen Vers wie
Grini. 7 g unnir yfir glymja
mit der Buggcsoheu Regel Yoroiuigen: denn in dem letztem liegt der „sidste
hovedtono'' auf dor vorletsten ^Ibe (glym-), und l&r diese wlie spfaeh*
liehe Kttrae «u ferdom. Da nun Sievers diesen nXnnlichen Vers gelten llsst»
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110
Kftpitdt in.
baf T si«h nicht nn »ii»' Furinulieriing Huggeg gebuudüD; wie er trotzdom
diuu k^m. tlif ohoti litiortc Note drucken xii lojincn, l>odöjl'to einer ErkUlrang^.
Irreführend iitt auch die fulgondo Uoiuerkung dosselben Abschiiitteä
§ 57, 4 : .Dagogon bt der Ausgang ^ so vAUn bolflfpt, diM er trete dam
Widenpnioh von HeuslerS. 48 ebenso Bedenken erregt, wie der Awg9mgj_yc*
leb hatte die Soltonhoit de:* Ausganges ' J|_ inf S. 147 f. auvdrUcklidl be-
tont und die füllt Fällu citicrt' Stoverü hütto nur dio Ungonauigkoit rUgeo
kOnnon, dio darin lag, das« ich auf der von ihm citiortcn Seite sagte, dio
bctrotfcndtm Vcrjto «eion „nach Bugges Kugel ' tadellos, anstatt „nach Sie?en
Ilcgol".
Sehn wir vorerst von der metrischen Doutunjjr dieser Cadenz-
re^rel ab und pebcn wir nur die sprachlicli feststellbaren Tat-
sachen wider. Wenn wir als Ausgang der Vollzeile den Teil
hint^'r dem letzten Keimstabe bezeichoen, so üuden wir den Aua-
gang in folgenden Gestalten:
Uiv. 18 e sä er vitandi er \ tfits
Grim. 2 • Qewrßdar «onr | Quirn Imü,
Die zwei letzten dieser Ausgangstypen, mit spraclilich langer
Paenultima, sind am seltensten vertreten: zosaramcn 28 Fälle
(Acta (jürm. I 137 f.). Doch dürfen diese Verse als g^esichert
gelten und werden auch von Sievers § 57, 4 imd m der Auf-
zählung S. 85 ff. anerkannt.
Dagegen findet sich der Ausgang wie . • . | landi,
. . . I fn^7inum, also lange Stabsilbe -|- schwaclitonige Silbe, in
den altern Tjjödahattrgedichten man kann wol sagen in keinem
einzigen siciiern Falle. Und doch ist dieser Schlnss, lang
unbetont, in dem epist in ii Versmafse wol der hänfi^/'^to von allen.
Diese Erscheinung liisst sich bei der Annahme der zwei
yienriertelstakte unter dieser einfachen Regel zusammenfassen:
der Ausgang ist stumpf oder voll, niolit klingend.
Stumpf sind die Schlosse in den zwei zuerst aufgeftUirteo
15 • ok vlgdjarft
I Vera
I Pess vin, sehr selten]
I atnum Btoi
I mantir gwmn
[48 • pem ok
85 t ey %
47« ma^ tr
lOftt d/rykk ins
Sit ffestr ai
I wßdar
I gest hSünn
V
IHiktnhl im I<)Mah&ttr.
lU
Versen: ] int';, | vera. Vollen Scliliiss haben wir in den
weitem Beispielen. Der klingende Schlussi der gemieden wird,
wSre I landi, | mpnnum.
Eine letzte Erklärung wird ja durch die eben erwälinto
Regel nicht geboten. Es bliebe immer noch die Frage: weshalb
ist es gerade die klingende Cadenz, die man aus der Yollzeile
verbannte? Aber so weit vermtigen unsre metriselien Deutungen
aberhaupt sehr selten vorzudringen. WiU man die ungezwungene
Verknüpfung manig&elier EincEelersclieinungen unter einem eln-
beltliehen Gesichtspunkte eine Erklärung nennen, so kann die
obige Regel, wie leb glaube, wol als Erklärung der Yollzeilen-
cadenz bezeichnet werden.
Notwendige Voraussetzung der Regel ist, dass der Ausgang
des Verses, d. h. das was dem letzten Reimstabe fol^^t, als ein
Takt (von der Form | x x x x I ) aufgofasst werde. Und
damit ist widerum solidarisch verbunden, dass man der gesammten
Yollzeile zwei Takte, also das Grundmafe
. . Ixxxxlxxxxl
ziiüikuüüe.
Da Sievers der ^^rofsen Masse der Vollzeilen drei V*-''^^'^ !'«
zuteilt, zerfällt fUr Ilm das, was uns den vollen Schlusstakt biklot,
in zwei Takte. Sievers rhythmisiert die oben angeführten
Yerso so:
f I Üfium I städ
m&dr er j nuimiz \ gdman
drykk ins ( dpra \ mjädar.
So weit hat es ansclieinend kein Bodenken; denn die so ent-
stehenden Schlüsse I sfad, | gmnan, | mjadur entsprechen dem Aus-
gang der beiden ersten ßeispiolsveröe j vits^ \ vera und können
wie diese als | ^ p oder | ^ h rhythmisiert werden (= stumpfe
Cadenz); Agerm. Metr. § 194 ff. Nun aber wu-d in den beiden
letzten Versen der obigen Reihe der volle Solüusstakt gMchfails
in zwei Takte geteilt:
, , , I gest I hmdinn
. . . I Oötna I landi.
Die notwendige Folge davon ist, dass der schließende V«'^^
die Füllung lang + unlK'tout erhält, fine Fällung, dio niwh aller
Analogie, nach den von bicvers selbst in § 1^4 vertretenen Gnmü-
afttzen nor diese rhytlimische Gestalt bekommeD kann:
I oder I rr*
Es ist klar, dass dies mit der statistisch nachgewiesenen
Beschränkung der CadiMj/. uuvinMiilKir ist. Es bleibt durchaus
rätselhaft, d'di>6 dur Ausgang _ ^ Uaun. wenn er nicht den
letzten Reimstab trügt, in 28 Fällen zugelassen ist, dass aber der
selbe Ausgang w als Träger des K^iiiistabes cunsecjuent ge-
miodoa wird; denn nach Sievers niüste in dem einen wie indem
andern Falle der Schlosstakt den Rhythmus
irr
erhalten.
Es bleibe nioht aaenrJIhnt, dass sieh Sievers flir die FftUe,
wo ein dreiaUbigea Wort des Baues l w den Vers eehlieftt,
nach einer Erklirung umsieht (§ 194, 2. 195, 8). Er sagt,, hier
sei der Aoagang lang -f anbetont gestattet, weil „in diesem
Falle die Dauer der Mittelsilbe dorch die vorhergehende Hebung
so weit herabgedrQckt wird, daas die Mittelsilbe als quantitativ
indifferent hier der apraeMchen Kürze gleich behandelt werden
konnte'^. Macht man sieh dies rhythmisch gegenständlich, so
erweist es sich als unbrauchbar. Ein Beispiel bietet der V'ers
iSigdr. l'J s ok aJlar plninar.
Nach § 57, 6 g verglichen mit § 194 tf. würde Sievers die beiden
ersten Takte so gestalten:
ok allar gl- .
Nun stelle man sich vor, dass von der Silbe p^, nachdem sie
einen vollen V«-Takt ausgedauert hat, noch die Wirkung avi^getie,
die folgende spf ru liliche Lange „herabzudiilcken^*, so dass -rurtor
nicht mehr als | ^ ^ gemessen werden könnte, sondern nur noch
^ I f f I '^^1^ ^^"^ Verse lof ok llknstaß ! Dies
kann nicht im Brnste discutiert werden. Und bei e|nein
Verse wie
Sigdr. 19 4 oft imeter m^nrüiMir
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Taktaahl im I^jiidaluLttr.
IIS
konnte m&a aaf diesen Ausweg gar nicht verfallen, ebenso wenig
wie bei den Versen
Grim. 7 s unnir yßr glymja
Älv. 16 s JcaJIa dvergar DvaHm leika
VL a. (auch der Vers Häkm. 1 a at kjbsa of konunga widersetzt sicli ).
Ich behaupte daraach, dass die Sioverssche Mcssun^^ der
Lj6dahättr-Vollzeilo, wonach die Mehrzahl der Verse drei g^ute
Taktteile besitzt, durch die bewusto Cadenzregel widerleg-t wird.
Ich erblicke in dieser Cadenzre^'el einen objectiven Beweis für
die Zweitaktigkeit der Vollzeile. Hier scheint mir einer der
wenigen Punkte in der Lehre vom stabreimenden Versbau vor-
zaliegeo, wo uns die Schlüsse aus der sprachlichen Structur mit
annihenider Sicherheit über die rhythmische Form aassagen
lassen. Mittelbar eigibt sich voo hier aus eine der Hauptstützen
für die Zwdtaktthecnle im aUgemeinea. — Es bleibt abzuwarten,
ob auf einem anderen Wege jene positiven Tatsachen des
Rhythmizomenon in gleicher schlagender Einfachheit metrisch
erklärt werden kOnnen.
Ueber die geparten Karzverse des I^'ödahättr ist wenig
beizufügen. Dass auch sie ein Gemisch von zweitaktigen und
dreitaktigen Exemplaren darsteliteUt kommt kaum mehr in Frage,
sobald man der Yolizeiie ihre geregelten zwei Takte zugesteht
— - Bei dem gerader^ Kurzvers fasst Sievers meistens die langen
AuftaktCi die für den Tonfall der Strophe charakteristisch sind,
als ersten Yerstakt Dass dies nicht begrUndbar ist, whrd man
zugeben, weil für den ganzen stabreimenden Versban der Satz
gilt: stablose Versemgaiijge braachen, ihrem natttriichen Ton-
gewichte nach, keine Hebung zu erhalten.
Die Allitteration der Langzeile soll nach § 58, 4 so be-
sobafien sein,- dass -der Hauptstab in dreihebigen Versen auf die
zweite Hebung üsdle, „sodass also das Hauptgewicht des Verses
in die Mitte der Halbzeile verlegt wird'*. Indes trifft dies
schön bei den wenigen Beispielen in § 197 f. nicht hnmer zu:
man sehe z. B.
H&v. 105 Günnl^^d \ mir um \ gäf \
gäUnum | \ d
Heutier, Qenii. Venbmn. 8
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114
Kapital III.
(ferner Lok. 3. 27): hier stabt ein dreitaktiger Vers nur mit dorn
ersten guten Taktteile. Man darf bezweifeln, ob dies mit dem
Princip des germanischen Ötiibri'ims voi-träfrlich sei.
Ferner beachte man, dafiü die dreitaktige Messung der ge-
raden Kurzzeile nicht ganz selten zwei consonautische llclnistäbe
verschafft ; in den von Sievere a. a. O. behandelten Versen linden
sicli diese Fälle:
H4v. 10 hyrdi \ betri \
bhrat tnadr \ bräutu \ &t
Lok. 57 pigi pu, \ vcettr, f
fH^ ikal nrnm \ Pr^d- | hdmarr
Vgl. noch
Häv. 104 m^rgcm Moni
nUlUtak l mlnn fröma;
Vaf. 8 u. ö. fjfld €k för,
fj^ de frMada
u. a. m.
Wenn Sievers hier nicht etwa an eine beabsichtigte Kunst-
form denken will, sollten derartige Verse sein Misstrauen gegen
die Dreihebigkeit erregen. Denn hier handelt es sich nun wirklich
um „Doppelaltitteration an Stelle regeli'eeht einfacher Allitteration^
— im Gegensatz zu dem oben S. 94 besprochenen Falle. Bei
zwei taktiger Messuug dieser Verse wird ^er Uebelstand vei*-
mieden (vergl. Acta Germ. I 127 f.). Die Fttlle von nicht zu
umgehendem zwiBfachem consonantischem Heimstabe — z. B.
Skirn. 23« mjbvaUf mdlfän — sind so selten, dass d^ Ljüda-
hattr in diesem Punkte gewiss nicht grundsätzlich andere zu be-
urteilen ist, als der epische Vers.
In welche Verlegenheiten man durch die droitaktige Scansion
gebracht wird, tritt einem bei den Rhythmen in § 196 ff. auf
Schritt und Tritt entgegen. Ich will nur folgende drai Punkte
erwähnen.
Die S. 284 unten vorgeschhigene Messung
kaUa II hverfända | hklju \ i
enthält nicht sowol eine „Schwierigkeit w egen der AUitteration",
als euie Unmöglichkeit w^en des Satztones: heljn % bildet eine
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115
syntaktische Gruppe, deren ci-stes Glied, das Nomen helju, sich
dem zweiten nicht unterordnen kann DasB sieh eine» derartige
Scanslon mit den mafslosen Anschuldigungen von § 56, 2 in einem
Buche zasammen finden kann, ist auffallend. — Vollkommen ge-
rechte wird dem Satztone die zweitaktige Messung
kaUa II Jtv6rfanda hi^i \ h^u ^;
denn hmfanda hvil bildet eine syntaktische Gruppe, worin sich
bekanntlich das zweite GUed dem ersten unterordnen darf.
Auf S. 885 begegnen wir folgenden Messungen:
ck Ii 8ig- 1 ja it \ sdma = j» | ® 1 T T I f f
ok\\ sö- \ Idr \ = p II o j o I p
um II ^g-{ nask j ^li = p || <=> | o | • p
Hier ruht also der zwdte der drei Haupticten auf den
sprachlich sehwacbtonigen Endsilben {seg-)ja, (8ö-)lar^ i's^^yy-)
msäti und die beiden letzten fallen einen ganzen Takt.. Wenn
Sievers sagt: „im ganzen widerspricht das doch der Üblichen
Taktfhnung", so ist die Sachlage ungenügend bezeichnet Das
jeglicher Analogie Ermangelnde liegt darin, dass unbetonte End-
silben, die im Pttnftypensysteme nicht einmal flir eine Nebenhebung
tauglich wären, hier als Träger einei- Haupthebung und als
Füllung eines {ganzen -»/^-'raktps dienen sollen. D iese Messnnfren
schreiben doiii LjudahaUr mne ^aii/.lich andere JSprachbeliandluiij.
zu, als dem epischen Vei*se, und nicht die gexlrängten Fdl hintuen
der Zweitakttheoriü ! Es genügte nicht, dass Sicvcrs die ubigo
Messung' als zweifelhaft hinstellte und die zweitaktige Scansion
als eine weitere MögUchkeit ollen liefs.
Zuletzt weise icii noch auf eine Erscheinung hin, die die
Bedenken gegen die drei Takle nicht uuweseutlieh verstärken
dürfte. Betrachten wir folsrcnde Rhytimiisierungen von iäievei'S
(sie sind dem § 57 entnommenj:
*) Dies wäre nur dann mOglich, wenn da» hclju dorn TonniigelieiMleii
IctaBdüiger Byiitektiach untergeordnet wilro; coireut, ist z. B.
8*
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116
Kapitel HL
HiT. 761. 77 1 I äiyr \ sjdlfr it \ ß&m,
Lok. 11t ok\ fU \ gfmhBÜvg \ fföä
Yaf. 87« 1 4f2to 1 mhm \ Üfir
F&f. Sit f \hm-^\ m Ihäfi^,
flo sehn wir» dass stablose einsilbige T^kte ünmittelbar
vor einem stabenden Iotas stehn (\d^.\, | | ,
I mem | , | 'leik | ).
Dies verattfM gegen ein man kann wol sagen Amdamentales
Gesetz der altgermanischen Yerskonst Das Gesetz beraht daimaf,
dass eine stablose Silbe schwftclier ist, als eine stabende Silbe.
Wir können es allgemein so formulieren:
Eine Silbe darf nur dann einen ganzen Takt fUÜen, wenn
sie der folgenden Hebungssilbe nicht dynamisch untergeordnet ist.
Dieses Gesetz, das seine leicht verständliche eurhythmisohe
Grundlage hat, spielt bekanntlich auch in der Periode des
deutschen Beimverses eine grolhe Rolle, wird aber von den
Dichtem alter und neuer Zeit, unter dem Zusammenwirken ve^
schiedener Umstünde, oft Übertreten. Die stabreiaienden Dichter
dagegen haben sich nut großer Stienge daran gebunden, was
ihrer Spraehbebandlung alle Ehre macht. Der Takt im Yers-
innern muss reimen, sobald er einsilbig geflUIt ist'). Aus den
Lj6dalidttrgedichten ist mir — die zweitaktige Messung aller
Yerszeilen vorausgesetzt — nur ein Widerspruch bekannt:
Häv. 60 4 piss vidavt
ein Vers, dessen Aenderung zu ök pess vidar vielleicht auch in-
iialtlich zu befürworten wäre, der aber jedenfalls in seiner Vor-
eiuzelung nichts beweisen kann. Bei d r e i taktiger Messung
dagegen entstchn nicht ganz selten jene reimlosen einsilbigeu
*) Na<!h Sievora ist os so zu formuliernii : Beim Zusaniiuenstors zwuiur
HobungcD, in den Typen C und D, muas diu crsto Hebung rciiuon (vgl.
§ 19« S). — Nach den Thoorion von Hlrfc und Fuhr vlipnelt dor Subroimr«»
von Foiuloson olnsilbtgcn Takton. Du* obig« Gesichtspunkt pht das olJoisMvo
Critctium dagogfcn, das Fuhr § 23 vcrniisst : die Sundoruiig dor boidon Voräc
onhdnil hmdunme uiul uus&nd Higeläce ist durcli die; Stabsotxang und dio
damit solidamchu Gcwiuhtüverteilung sehr wol mutiviort.
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Taktsabl im LjddahAttr.
117
Takte naeh Art der obigen Beispiele. Die Annalime, dass in
einem derartigen Pankte' der LJädah&ttr andern Gesetzen folge,
als der epische Vets, w&re immerldn ein hoher Kaufpreis für
die Theorie der drei Takte^).
, Doreli das bisher Ausgefülirte glanbe ich meine frühere
'Aqsiclit gestatzt zu liaben:
Der ijddah&ttr steht nicht anter dem Princip der freien
Taictzahl. Der einzige Baustein seiner Strophen ist der gemein-
germanische Zwdtakter.
Da man auch für den wcstgcrmanlsciien Schwellvers die
DrdZalfl ' der Hebungen nidit wahrsehdnlieh machen kann, sind
wir berechtigt — sow^ ans das lltterarisohe Matedäl Schlösse
erlaubt — , sowol die freie Taktzahl der Verse wie auch die
Existenz dreitakti^er bezw. dreihebiger Zeilen der altgei'manischen
Stabreiiiip(>osio abzusprechen.
Darnach ist es sehr wahrscheinlich, dass der im spätem
Strophenbau aller germanischen Stänimo auftauchende Vers von
sechs Zwei viertelstakten nicht auf einen stabreimenden
Vorfahr zurllck«,; lie, sondern als Nouschöpfung zu gelten lial)e:
als eine Verscinindzung der viei'taktigen Knrzzeile mit dem zwei-
taktipen Versikel, der in Volksliedern als refrainartiges vStroplien-
glied beliebt ist und sich vermutlich in dieser Function vou dorn
viertaktigen (irundverso abgespalten hat^).
Die Strophe dos ^ödahattr ist concinner als die des Forn-
yrdislag. Sie ist durch stilrkei*e Klammern als Einheit fest-
gehalten. Dazu trägt schon der Stabreim bei mit seiner Con-
trastieruhg der unpari^eh VoUzeile gegen die geparten Verse.
0 Der ervKhnte Oestcbtspunkt gibt in einigen Fftllen iwotfelhafterScanmon
die Bntocheidaii|r. ist z. B. xa loten: Hdv. 12t ^ «cü if^'^ 51 4 ^
pTi alöknar; 138 ^ ü ßeim mÜdi't Kl 4 oft ßann häl; Vaf. 37 4 dfhan» v»ngjum\
iSkirr;. H4 ök J)at svh-ä u. s. f. Darnach ist auch nioino Messung von Sigdr. 3|
V^ . in A( ta CJoriii. I 128 und 157 zu boricbtigen: hüü ddgr, hälir dägs
synir ; — hveims Pm- knä ttviUar,
■ ") Für das Verschmelzen des Zweitaktors mit dorn Viertaktor ist be-
»cbteuBwert die 'Wme I^etnii» m AUt MF. 88 1.
118
Kapitel III.
Derselben Wirkung dient aber aufserdeiii 1) dass die Cadonzen
der drei Halbstropbengiiedcr zwar nicht geradezu plaiiiuafsig
diffemuziert sind, aber doch zu einer vorscliiedenen Behandlung
neigen; 2) dass dio Kt'j)arton Kurzvorsc leichtere Füllung der
beiden Takte, die Vullzeile a-hwerere i^'lUlung bevorzu^^t ; 3) dass
sich dei* gerado Kurzvers gewöhnlich durcli seinen Auftakt von
dem un^^erailen inorklich abhebt; 4) dass die erste llalbstroplie
viel soiteuer als die zweite mit Auftakt beginnt.
Eine nietrisclie Form, deren strophisches (lefüge so manig-
fach gestatzt ist, kann m. E. uninuglich der ungebundenen Takt-
zahl hnldigen. Durch den Wechsel im Umfang der Verse wüide
die Abrundung und .Symmetrie, worauf jene Mittel hinarbeiten,
spurlos beseitigt — in ganz andrer Weise als durch das Ein-
mengen der zeilenreicheren Strophen Varianten. »Straffer Periodea-
bau und ungebundene Taktzahl schliefsen sich aus.
Sievers denkt sich seine Ljödahattr-Rhythmen gesungen. Aber
sollen wir uns voi-stellen, dass dreigliedi ige Halbstrophen, deren
Taktzahl nach § 198 folgend ermafsen wechseln konnte: 2 -|- 2 -|- 2
(V4-) Takte, 2 + 2 + 4 Takte, 2 + 4 + 4 Takte, 3 + 3 + 4
Takte, 4 4 + 4 Takte — dass alle diese Formen auf eine,
der Wandlung fallige Melodie gesungen wiuxien? Oder waren
die Ljödahättrüeder dui elicomponiert?
Aber dieses musikalische Bedenken will ich von meiner Seite
nicht betonen, da ich von dem LJödah&ttr als „Gesangsmetrum^
nicht aberzeiagt bin. Ueber diese Frage ziun Sehluss noeh ein
par Worte!
Dem Namen Ijödähdttr mochte idi keinen SchloBs, weder
fllr noch gegen die Sangbarkeit, entnehmen. Setzen wir einmal '
voraus, dass der Käme alten Uraprunges sei und dass zur Zeit
seines Aufkommens das Wort Ijöd die gesungenen Strophen
in Gegensatz znr gesprochenen Dichtung gestellt liabe, so
konnten ja doch die Dichter, die sieh des Ma&es bodienten,
Ittngst zum Sprechvortrage Qbergegaogen sein nnd gleichwol den
alten Kamra bis ins 14. Jahi^undert vererbt haben; denn in
litterartschor Zeit hatte Ijöd nicht mehr die ansschliersliche
Beziehung auf den Gesang, wie Sievers S. 22 hervorhebt.
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Taktasabl im LjödahAttr.
119
Ich glaabe, dass IjodaJtdHr „Versmafs der ZauberspiUohe'^
bedeatet, also ziemlieh dasselbe wie gaidralag. Man denke an
das Wort (Plar.) mit dem Sinne „Zanberspruch'' — um nur
die eddtschen Stellen zu erwllbnen — in den lUvam&l 146 1 Ijäd
ek pan karm . . . , 16!24. 168« ^ fu^gtr Ijdfy Icktm, wobei
an die achtzehn Zauberformeln gedacht ist, die nicht nach ihrem
Inlialt, aber gleichsam nach ihrer Uoberachrift Str. 146—168 auf-
gezählt werden und wofttr 149 4. 152«. 156«. 160 ffola und
galdr, 157 4 daa dazu gehörige rista ok i rünum fu gebraucht
wird; vor allem aber »Sigdr. 5 fiUlr er kann (hjorr) Ijöäa ok
liknatafa, (/Odra gdJtdm ok gamamivm^ worauf dann die Reihe
der — widej'um nur angcdontctcn — Zauborsprilcho folgt in
iln-em V'ersmafs, dorn l^üdaliiittr. [Vgl. jotzl liiezu Schröder,
Zs. f. d. Altert. 37, 258. 2Ü3 l.J
Obvvül in diesLiu Metrum aufser den Zaubersprüchen noch
sehr vieles Andre gedichtet wuixle, kommt ilini doch sein Name
mit unglpich grölserm Hechte zu, als der Xaine rnülahiUir dem
im llattiitiil 95 so bezeicbnoten fStiophennial'se. MdlaJiattr
konnte von y^cchts wegen, wie mir .scheint, nur den Sinn haben
„X'ersniiils dor Spiiichreden, Spruchweise" und wäre, nach all
den eddischon möl zu schlieisen, ciiv^ g-ceij^aieto, ergänzende P>c-
nonnun^'^ der Strophenait, die wir unter /jödaJiuttr voi-stelm^):
die lohrhaften vipl des Hohen, des Cxriranir, VafJ)rüdnii', Alviss,
der Sigrdrifa, des Fjplsvidr, die zauberwirkenden m^l des Öklrnir,
die sclioltenden m^I des Pafnir u. s. f. nehmen den Namen wuiia-
JuUtr f(h das gnomische Versmafs in Anspruch (vgl. die authen-
tischen Bezeichnungen -})uU bei Möbius, Hättatal II 132). Die
Ueberschriften bezw. Nachworte der Atlamal und Hamdismal im
Codex Regius kOnnen dagegen nicht aufkommen: diese (iedichte
mOfisen wol durch irgend ein Missverstttndniss den Titel
bekommen haben. Die Ueberschrift von Hättatal 95 wii^ man eher
mit den Bjarkamäl und Hjüconanmil als mit diesen b^den eddischen
Gedichten in Zusammenhang bringen.
<) [rgl. VigittsMn CPB. I 1. 439]
120
KaiMtel III.
Iiozo»( sich (irr Niuiie Ijudahättr von Hause aus auf Zauber-
luHler, 80 IQU88 Uicti»! StrophenmaDs allerdings auch goroiiipeDer
DichtunfT ^^odioiit hnbcii. Aber fttr nm kommt doch nor die
Pi-a^o in Hotrachi, ob die uns e r Ii a ] t e n e n Gedickte. Vlieses
Maises sangbar seien. Mir ist das nickt glaublich.
Einmal haben Inhalt und Stil der I^ödah^ttretOeke das
entschiedene (teprüge unsangbarer Dichtung. MytholopBche Be-
lehrung von der Art der Van^rddnism&l, Grimnis-, Alviss- und
Fjplsvinnsmil ist gewiss zu keiner Zeit gesungen worden. Einzehio
der Spruche, die in die HäVaniäl, Skimismil, FAfbismil» Sigrdrifa-
mäl aufgenommen sind, mögen als gesungene Formeln gelebt
haben; aber die zusammenhangend ausgearbeiteten Gedichte, die
sich zu den EmzelsprQchen etwa so verhalten, wie die EpopOe
zur Ballade, die wurden doch sicherlich sprechend vorgetragen.
Sodann weist auch die metrische Behandlung, die Vers-
fnllung, eher auf nnsangbare Poesie hin. Die Cadenz-
rcgel der Vollzeilo allerdings wird wol in dem Kreise der
pesunj^enen Ljödahättispiücho entstanden sein und sich
auf die gesprochenen Gedichte traditiunell furtgepfiaiizt hal>en.
Dagegen niüchte ich als Entwicklungen der unmusikalihclien,
recitierenden Technik betrachten 1) die grofse Silbenzahl der
Anfiakl*', 2) die aufseroidentUche Freiheit in der Silbensumme
der Verse. Zwei Strophen wie ( irminisiiiäl 21 und 23, die eine
mit so leichter, silbenarmor, die midic mit so gediangter Füllung
aller sechs Zeilen, könnten ja zur Not auf eine Melodie go-
sungen werden — die dllnischen und fürOisclien Volkslieder zeigen,
dass in dieser Richtung ziemlich viel möglich ist; aber wahr-
scheinlicher ist es doch, dass diese starken Ungleichheiten in der
vom Gesänge gelösten Versübung zum Durchbruch gekommen
sind. Wenn im epischen Versbau die Freiheit der sprachlichen
Fallung in weit hölierm Malse beschränkt ist (vgl. o. S. 79),
so darf man dies darauf zurückfahren, dass die epische Dichtung
viel länger als eine ausschliefslich gesungene verharrte. Darauf
führt ja auch das mutmaMclie Bild der altgermanischen, vor-
litterarischen Poesie: in die Region d^ Spruchdiditung im
weitesten ^nne wird sich seit Urzeiten das Sprechen mit dem
TiktMia im I<fiMtili&ttr.
121
SingBn geteilt haben; epische Poesie kann bei den Germanen vor
der Stamraestrennaog Schweich in andrer Form, als in sang«
baren Balladen helmisch gewesen sein. Und so ist es verstSod«
Uch, dass die metrische Technik der Lokasenna nnd der H&vamAl
vom Gesänge weiter abliegt, als die der |>iym8kvida oder der
Vpliispä.
Kapitel IV,
Zur Vorgeschichte des germanischen Verses.
Die Fniffen nach Uom Uimotraiii der tndogermanen und nach
der Entwicklung unseres Stabreimverses zu lösen, kann ich mich
nicht unterfangen, da ich zu einer selbständigen Darehforscbong
der ältesten aufecrgermanischen Verslitterataren nicht im Stande
bin. Auf den folgenden Seiten mochte icli nur die Aufmerksam-
keit auf zwei Punkte hinlenken, die ich in den bisherigen prft-
histonsehen Hypothesen vemachUls^ finde: 1) es ist nicht
bereclitigt, dem Urverse gebundene Silbenzahl zuzuschreiben;
2) bei der Umbildung des indogermanischen zum germaniscben
Mafse muss der Stabreim eine wesentliche Rolle gaspielt haben.
Wie kam mau dazu, dem Urverse geixigelte Silbenzalil, acht
»Silben, zuzuteilen?
Das Verhalten der verschiedenen Litteraturen ist folgendem;
Bei den (Jrif^chon finden ^\h■ weclisoliKlü vSiibenzahl im
liexametei-j nocii luflii- aber in den volkstüinliolien, z. T. insclirift-
lichen VicrtaktcrsprUchen, die Usoner, Agrifcli. Versbau vS. 7H ff.,
als altertnmücliste Denkmale hellenischei- \'erste( linik betrachtet.
Die Silbeusuiniiie des Viertaktei's bewegt sich etwa zui^ehen
fünf und elf Silben; und zwar haben alle Versiegionen an dieser
Freiheit Anteil: der Auftakt besitzt 0, 1 oder 2 Silben; die
Takte im Versinnern sind ein- bis dreisilbig gefüllt; der Schluss-
takt ist pausiert, oder mit einer oder mit zwei Silben marldert^).
^) Zu Usencr S. 84 mHcbte ich tiiir die Frage erlangen, oh rmht in
ThrofTTriH S^'hwalbenliode auch die Partie V, 10 hig zn Ende in aubttaktige
Doppel verse, statt in jambische Trimeter /.u j^liodorn ^ci:
el {tev tt Scöas;; S. L — L u. s. f. Es müsto dann nur in
Zur VoifreKchichte dos germiiniachen VetBes. I2d
Der Satnrnier zeigt Vhiiliclie Verbftltnisse; docb ist die
Spannweite der Silbenzahl im ganzen wie im einzelnen eine
geringere (Sunune etwa 5—9 Silben); insbesondre ist die Gadenz
in der Weise beecbränkty dass der vierte Verstalct stets eine
Silbe enthält, — doch hängt alles einzelne davon ab, ob man
die Satamier qiiantitierend oder aeeentuierend messen soll, ^vas
ich nicht zu entscheiden vermag.
Die Germanen zeigen uns in ihrem ältesten Versbau sehr
wdte Grenzen der Silbenzalü. Es ist wol kein Zweifel : ent^
würfe man nnr im Hinblick auf den Beowulf, den Heliand und
die Edda einen nigeiTnanischen Vers, so stünde er an Gegen-
sätzen der Silbenzahl den erwähnten, . griechisclion Versen noch
voraus.
Dem gegenüber haben wir im vedischen und im alter-
tttmlichsten avestisehen Versbau das Piindp dffl* constanton
Silbensumme. Der Vers, der als Naclikomme einer urindo-
germanischen Form in erster Unie in Betracht kumint, setzt dch
aus acht Silben zusammen.
Inder und Tränier bilden im Versbau nicht minder deutlich
als in den (Ibri^^en Beziehungen eine engere A^ölkerf^riippo (vgl.
Oldcnber^S Hymnen des Higveda 1 7). Dem geinein-ari.sclieu
Versbau imiss man das Priacip der gebundenen Silbenzalü zu-
erkennen. Die indo-Iranier treten als eine Stimme dem Zcugniss
der Grieclicn, der Ttalier, der (»ermaneu entgegen.
Der von Oldonbcig ai.a.(). 35 bcspiDolicnö vodiscbo Päda von siobun
Silben wbd vnA mit dem acbtsUbig«ii auf eine Vevsart; »uraekgehen.
Vielleicbt lit^ darin ein Zeagnin für die einstige frdiere Silbenzahl. Doch
mOate sich dor si< lii'iisi]l)i<.Mi Vers, der im Avesta nicht vorzukommen scheint,
schon in der ^cmoin-ariscbon Zeit von dem achtt»iibigen als besondere Vorsart
abgespalten hahon.
Der nltirisciio ^'( ishau ist bisher meines Wi^äons nicht uls Zougn
für die g«jbundeno Silbcnvuilil des Urvcrscs in die Schranken geführt worden.
Z. 14 «V ^ 'f epiQc; t», |i2-(a ^rj tt xai tpepotc = 1 ± J. ^
\^ \^ — \j J- SU 1. gelesen werden. Sonst fügt sich der Text ebne
Scbwieiigkeit; und es verdient gewiss den Vortugi wenn der Zusammenhang
der gut Tolkstümlichon Rhythmen niehl durch dio'firomdartigen und unbelebten
Trimetor unterbrochen wird.
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124
Kapitel IV.
Dio meistgobraacbten air. Vorso enthalten sieben Silben und scheinen zu-
nächst auf cinm achtüilbigen Viertakter zurilckzu führen. Es kommt darauf
an, ob diosiür Achtsilbonvors eine intpfn koltischp Entwicklunp oder eine
Nachbildung lateinischer rhythtai i^c. Zimmer, Kult. Studien 2, 162. 185 f.,
gibl Iroine Entsdieldung. Thnrnejrsen begründet die Anakiht,, &m die
gttainto flilbeuahlende iriadie Poesie auf lateiirischem Muster bernlie und
dass die Roste ,der alten, rhythmbchen Poesie der Urzeit" bei den Iren
aufserhalb der silbr iiziUilemicn Dichtung zu sucben seien (Revue Coltiquo G,
336 ff., bes. 34Ö f.). Trifft dies zu, su träte ck-r koltischo Stamm sAa nicbt-
silbcnzählend den drei andern europäischen versiiarkeiid an die Seite. — Dass
ttbrigonü auch ein Vors mit constanten acht Silben nicht ohne weiteres als
Bitotttck aus der Unelt m gelten Imuche, zeigen uns die latetaiachMi
rbfthmi, Toiglichen mit ilinm altitaliiwhen silbepfireien Vragingern.
Woiiii die bislierigen PTypothesen eiuoü Stimmo der Arier
den Entscheid Uber das Aussehen des Urvei-ses ftberliefsen, so mag
dabei das Ansehn unbedingter Altertümliehkeit, dessen sicli arische
Sprache und Cultur erfreuten, nicht oline Wirkung gewesen sein.
Finden wir doch bei Sievers, A^a^rm. Metr. § 144 ff., eine specielle
Versart desRigvoda. mit allen ihren Kinzelretreluni^en, als Vorfahr des
germanischen Verses, somit als uriudogermanisches Metrum behandelt.
Allein aufser dieser allgemeinen Stimmung- zu Gunsten der
Indoiranier bewirkte ein einzelner Umstand, eine Erwägung vers-
theoretischor Art, dass man die feste Öilbenzahl der arischen
Verse schon dem indogermanischen Stammvater zuteilte.
Regehmg der Silbenzahl erschien als das ursprünglichste
Versprincip. Die beiden andern Versprinciplen, das accentuieraide
und das qnantitiercnde, galten als höhere Enti^cklungsstufen —
etwa wie der agglutinierende und der flectiereode Sprachbau neben
dem einsilbigen. Dies schob die Ver^ der europäischen Völker
von vornherein in den Hintergrund, wo es gait^ den ältesten»
urwüchsigsten ^'orsbau zu reconstruieren. , . .V/
Diese Auffassnng ist erklärlich und in sich consequent, so-
bald man mit Geldner, Usener') u;.>A. von der Ansicht aus-
gieng, Silben^lung an sieh sei ein metrisches Princlp; es gel)«
Gedichte, deren Yersnatur nicht auf geordnetem Rhyithmtis, jBcm-
Geldner, üeber die Metrik des jüngeren Avesta (1877); üaener »«^O.
bef. S. 67 f. (T^i. aber ebenda S, &&. 56 Note 8), ,
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Zur Vcfgeiwbkhte doa geimftiilücbeii Venea.
125
dern auf abgezählten Silben bmilie. — Teil halte diese Ansicht
für innerlich unmöglich und will mich hier nicht dabei aufhalten.
Schwel* verstttndlieh ist es dagegen, dass Westphal, Allen*)
u: A., die der genannten' Auffassnng ansdracklicli widersprachen,
dennoch die fixierte Silbenzahl, als eine Iiolie AltertQmHehkeit,
für den i^. Ven; in Anspruch nahmen. Diese Ansicht hat
Richard Ktthnau, der die principielle Anschauung Westphals
und Allens teilty zu begründen versoclit in seiner Trishtubh-
Jagati-Familie (Gottingen 1885) S. 13: „Ausgangspunkt der
Entwicklung muss die sUbenzäblende Poesie sein. Wir können
uns keine rohere Form der Metrik denken, als die in ilir vor>
liegende. Sie muss daher auch die Poesie des Urvolkes gewesen
seüoi'*. „Silbenztthlend'' ist hier durdiaus in dem Sinne verstanden,
dato neben der geregelten Zahl von Silben eine bestimmte Reihe
von Takten, ein metrisches Grundmafs vorhanden sei. In einem
Anhang, S. 215 ff., sucht Kllhnau den deductiven Beweis zu
fuhren, dass ein aus Zweiviortelstakten bestehendes Grundmafs auf
pninitivstor Stufü des Versbaues notwendig jeden Takt mit zwei
Silben gefallt habe: eine Silbe fllr die Hebungsmora, eine Silbe
für die Senkunpsmora. Darnach wäre nicht nur die Silben-
summe des ältesten Verses, sondern auch die Verteilung dieser
Summe auf lUe einzelnen Vcrsglieder gebunden und unveränderlich
gewesen. Für den Viei tuktei- hätte es nur diese beiden Mög-
lichkeiten der spraciilicheu Füllung gegeben:
■ xl xxlxxlxxl X l^sSUbeo.
Ixxlxxlxxivx)
Diese beiden Fülluni/stypen werden denn auch von Möller, Z.
ahd. AlÜtt.-poesie S. 110, als die einzig möglichen vorausgesetzt;
Sievers, Agerm. Metr. S. 180, statuiert nur die erste der
beiden Formen.
Diese gleichmäfsig zweisilbige Taktfdllung kann sich nicht
einmal auf den indoiranisclien Vers mit Sicherlieit berufen. Es
ist zweifelhaft, ja unwahrscheinlich, dass der vedische Achtsilbler
seinen funf ersten Silben, deran sprachliche (Quantität manigfach
*> Westphalt Tböorio dor rnns. Kttnsto III I, 42 und Oftor^ Frod. Allen
Kuhn« Zb. 24, 558.
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126
Kapitel IV.
wechselt, den consUmten jambischen Tonfall gcf^eljen habe. Die
Tato'lie, (hiss nur die drei Schhisssilben des N'erses ilir festes
(^uantitäUsscliema haben, Aveist doch w ul mit Hestimmtheit darauf
hin, da.ss nur diese drei Sclilnsssilbeii, nur die Cadenz des Päda
iliren iixierten Rhytlimus luü, wülneiid die voraus«^ ehenden fünf
8ill>en in wechselnden rhythmischen Fifruien auf die erste Vers-
häifte verteilt werden — ähnlicli wie im romanischen Versbau.
Man sehe die Darlegungen von Oldenberfr a. a. O. S. 13 If.,
die nur darin nicht überzeugen können, dass vereiüüeite dreihebige
- Vei'se unter den vierhebijjren l>egegnen sollen. — Erwägt man
nun, dass einerseits der spätere indisclie Vei*sban die quanti-
tative Regelung auf alle Sill)en des Verses ausdeiint, und dass
anderseits de)' olfenbar altertümlichere ave.stische Achtsübenvers
eine Regelung dei- Quantitäten tlberhaupt nicht kennt, so wird
man die Entwicklung vom manigfach wechselnden Rhytiimus
zum streng fixieiten fttr die wahrscheinliche halten^). Der indo-
• iranische Urvers hat seine acht Silben nicht in einer Anordnung
auf die vier Takte veii;eilt. Mit der gegebenen Viei'zaUl der
Takte und der gegebenen Achtzahl <ler Silben wurde eine ganze
Reihe von rhythmischen Typen gebaut; die Manigfaltigkeit der
Silbenverteilung, die von sprachlichen Bedingungen irgend welcher
Art vermutlich ablüeng, wurde dabei nicht als be Wustes Kunst*
piincip angestrebt — so wenig wie im I lans-Sachsischen Verse;
darum gicng die kanstmäfsige Weiterbildung darauf aus, jene
Manigfaltigkeit Schritt für Schritt einzuschränken.
Also nur für die gebundene Silbensumme, nicht fUr die ge-
bondene Silhenzahl der etnzelden Vers^Uedef findet die hersclionde
Hypothese in dem Versbau der Indoiianier eine Stütze.
Aber wie verhalt es sich nun mit der unfreien Silbensumm'e?
Ist denn wirklich der Versbau der rolieste, der dem Dichter vor-
sehreibt: acht Silben, nicht melir noch weniger, sollst da zu
eüiem Verse zusammenfügen? Wenn man die angeführten
Sfttze von KQhnau list, drängt sich der Einwand auf : der Namö
I) Die«janibiscbe Measang des avestiscliea Verses erkllbi Mok Usener
«. a, 0. S. 66 Note d für sehr voreilig.
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Ükir V(H'go«chn;bto des gonuaniHcbcii Verses. 127
„silbenziililoiul" leitet in die Irre; man denkt dabei unwillkürlich
an etwas sehr Mcclianisclics, sehr Äufserlichcs, das wol «jceignet
wäre, die ersten Sclnitte einnr iiciiijnborenon Verskunst zu be-
stimmen. Und doch darf man niclit Ubei'sehn: die metrischen
Factoron, die der nicht-silbenzählende Vei*sbau besitzt: Verse,
Takte, Morac — die besitzt ja der silbenzilhlende Versbau auch,
und aufserdom besitzt er noch die „Silbonzählung"! Diese
Silbenzälduüg, d. h. das Vei'bot, eine bestimmte Zahl von Silbea
nach unten oder oben zu Überschreiten, kommt zu den metnctchen
Eigenschaften des nichtrsilbenzählenden Verses als reines Plus
hinzu.
Man darf sich nicht durch abstracte Berechnungen die höchst
einfädle Sachlage ren^irren: wenn das metrische Grundmafs 4: V«
1 xX 1 xX 1 xX IXX
von zwei Dichtei'n gehandhabt wird, von dem einen so, dass er
bald, vier, bald fünf, bald sechs und sieben bis zwölf Silben
hineinlegen darf, ganz nach Bequemlichkeit, wie es der Zusammen-
hang seiner Dichtung nahe legt; — von dem andern aber so,
dass jedesmal, der Inlialt mag sein wie er wolle, die acht Silbi'n
dastoiin mOssen nnd die Wald, die Stellung der Worte und Si&tze
dieser Aehtzahl dienstbar wird — dann liat der erste Dichter
die natnrwncl^lgere, der zweite die entwickeltere Technik. Oder
wofern man sich den Chor im Tanzschritte vorstellen will: wenn
auf die vier oder acht Scbrittej die 4en Vors tragen, bald mehr
bald weniger Silben gesungen werden dürfen, so ist das ein
einfudierer^Brauch, als wenn mit dem letzten Schritte stäts ein
sprachliches Kolon von acht Silben schliefsen moss. Dem Vei's-
geftlhle Opitzischer Bildung scheint allerdings nichts einfacheY,
als Ketten zweisilbiger Takte zu bilden. Man muss sich httten,
darauslj auf den primären Versbau - zu schliefsen. Selbst wenn
die Icten weder auf die sprachliche Betonung noch auf die sprach-
liche Quantität Rücksicht zu nehmen brauchten, erforderte es
schon tedinische Verfeinerung, nach jedei- achten Silbe die für
den Versschluss nötige Sprachcäsnr herzustellen.
Der theoretische Satz: gebundene Silbenzahl ist eine Eigen-
sdiafb primärer Versknnst, ist nicht haltbar. Dann aber sieht
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m
Kapitel IV.
man schwer ein, weshalb vor dem Zeuj/niss der Arier das ZoiignLss
der HolIcTif^ii. Iv<'inier und Deutschen vej>tiiin:iien sollt '. Hat doch
die Annalirae keinerlei Sehwieritrkeit, da.s.s über die iii spi ilii^lidie,
indogermanische Freiheit der Silbeuzahl, die sich die Gnerlü n,
Italier, Germanen vorerst noch warten, der eine Volks'^tamiii,
der arische, frühzeitig hinausgeschritten sei. Derselbe Vory^an^'
tiitt später fast vor unsern Ax^fea in dea versobiedenoa euro*
piischen Litteraturon ein.
Wie groDs man sich die Silben freilieit des indogermanischen
Viertakten zu denken habe, bleibt unsicher. Im Blick auf die
erwälmten griediischen Verse, den Saturnier und den gormanischon
Stabreimven mochte ich etwa folgendes fUr annehmbar halten:
Auftakt: 0, 1, 2 Süben;
Takte im yerainnem: 1, 2, 8 Silben;
Schlnsstakt: 0, 1, 2 Silben.
Setzen wir (mit Kühnaa, Moller. Sievers) V«*^kt an, so
wttrden die beiden Schemata
I ^ I ^ I ^ I r
die Grenzen der Silbenzald nach oben und unten bezeichnen. Die
altgriechisiäien Verse volkstOmlichen Charakters — wie etwa das
Schwalbenlied, Usener S. 82 wurden diese "IndogermaDische
Versart am getreuestra fortsetsten.
Von Regelungen der sprachlichen Quantität bestand wol
sicherlich von Anfang an die eine: der metrische Wert zwei
Viertel L kann nur durch eine sprachlich dehnbare Silbe j^^ebildet
worden. Zweifelhafter ist, oli die Spaltun^^ m Achtel ^ w nur
bei sprachlicher IvUize der betreffentlen zwei vSilben raöglicli war
(wie im Griechischen und vielleicht im Saturnier). Die Einzel-
mora X konnte gewiss in der Hebung so gut wie in der Seukaiig
von kui"zen und langen Silben gefallt werden. In dem letztern
Punkte tritt dann die Neuerung der „quantitierenden" Ijittointurcn
ein: im zwoisilhiL'^ftn Takte muss die Mebung von einer sprach-
lichen tiagen werden — womit vielleicht Verächiebungen
des Takt<(("S( hluchtes zusammenhiengen.
In den drei FfiUungstypea der Cadenz
Zar Voi^^esdikiite de» goBiaischcn Venes,
. X X 1 XX i X X I XX
\>i
'■ T
(wie Z. B. in xartH>OTV« •/i/jt>jw* y.<p. tjocubizav
xß/.a; «'»oa; cr/^c^sa
T, -av d-j&av _i w Oller
Usf'ner 8. 85) sind dio drei geniMuiiscbea CadeQzformea voll,
kÜDgeud, stampf voi^dbildet.
Die hier vorgebrachten Vermutungen enthalten, wie ich
glaube, mehr Wahrscheiiilichfceit aJs der \Ve«tpba1ische Entwurf
des acbt£ilbigen Urverses. Sie machen auch die Soudereotwickliuig'
der idg. Verskunst viel leichter vei-stftBdlicb.
Den riqrthmischen Unterschied unseres Stabreimverses von
flemem iadogenniaischen Voi^gaoger kann ich, wie aus dem Obigea
folgt, lange nicht so grotk ansetzen, wie dies Moll« ond Sie vers ton.
Den Gnmdsatz der freien SUbensnnune nnd freien Silben-
verteOnng nnd damit die metrischen Werte u x — « ^ mehr*
flilbigen Anflalcte^ die verschiedenen Gadenzformen — dies allea
glaube kk nicht als Nenenmg der Germanen betniditen zn aollen.
Die einzige Neuerung Ton tie^reifonder Bedeutung liegt darin»
dasB das vierteOige') Gnmdmalh
- • I XX I ^X > XX 1 X X
zn einem zweiteiligen Ma&e
- - i X XXX I xxxx
umgestaltet wurde: also eine Verschiebung der dynamischeii
") W«!gen der Aeufriening von Sierers, Agemi. Motr. $ 149, füge ich
ergänzend bei. da.*^s if h mir die vier L:t» ii. die i -b mit dem ein^n Akutz^ ichen
widergebe, keiue^weg'. von einflraiiL'er Sriirke deuke, sondern amh dem je-
weiligen Ver»iiili4»ii lumii^nüi ah^tuuii, Säds es dem idg. oder germ.
Recitator beliebte — nur d&aa diese Abstufung ron der indiridaelleii FflQiuig'
jedes Tenas bedingt war und sieht dem Grandmafs aogahSrte (a. o.
S. S2K Die vier Ittm waren prindpiell glelehweitig. Gende wie man auch
Z. B. dem Goetiuacbea «^Schat^-gräbef'' das obige Viertakterschema geben würden
ohne damit sa erfcUien, die rief Icten mIMm erafinmig gleich staik geqnodien
werden*
Heaeler, Oene. T«eba«. 9
Digiii^uu by G(.)0^1c
ido
Kapital IV.
Proportionen, womit aber eng verbunden war eine Bereicherung'
der Zeitwerte, indem das neue Taktmafs die Bildung von Drci-
uüd Vierviertolswerten und ^) ermöglichte. Weniger wesent-
lich ist, dass die Auftakte das Mafs von zwei Silben Itberechritten
und dass auch die gehobene Moi'a in Achtel gespalten werden
konnte.
Man bedenke noch dios. Sobald der üferniaiiische Nachdrucksaccent
-exi^rierto, also lange vor dou vocalisuheu Synkopen, waren die <;cnuauiscbcQ
Diuhtef gavangon, die metriudifn Icten mit den spracbUchen Aceeoten in
Einidang' in aDlzen. Dies moM der Hentettung von Venen fest nnfiber-
windlicbe Schwierigkeiten in den Wog u'tli'L,'t haben, wenn zu joner Zeit
wirklifh nur zM'fisilhi^'p TaktflilluriLr erlaubt war. Denn alle "Wörter, die
^hon in der urgenuanisciifti 8pra( lilorni die Gestalt jl ^ hatten (nominale
Ableitungen, u. a. die Patrüii^iuica mit einsilbiger Wurzel ; Fartt. Praos. und
Praot., schwache Praott., Comparatiro und Superlative), konnten dann dem Verse
nicht ohne eine Aceeotmuabendlnng einrerleibt werden, die bei dem ursprIlDg'
liehen Naehdrnck 4er betr. Blittelnlbeik »dir empfindlich sein mnst«, nnd die
gegen die dpUtere, litterarisi.h beglanbigte Schonung der Sprache grell abstär he.
(Dies bat Scherer schon IBÖÖ hervorgehoben, s. Kl. Schriften II 3(]f3). Dazu
kuiuiiicn viele s^iitiiktische Silhenverbindungon, die der liliythniisieriniq; auf
zweisilbige Takte widerstreben und nach dem ein- und droiäilbigon Takte ver-
Liogen. — Moller seist denn aach 8. 117 f. Verse in jirgermaoiBcher Laut-
form an, die doch schon den einsilbigen (Halb>) Takt j_ kennen. Aber mit
den Aeufserungon auf S. 110, wo deutlich ein „trochäischos" luul ein , Jambisches**
Schema als Ausgangspunkt g-enomnien werden, kann irh da.-s nicht voreinen.
Wodurch lässt Mbllor die Zwciviertelswerte im ur^-^ermanischen Verse entstehnV
Wer mit Miillcnhot f. Zur liunenlohre S. ö, die Zeile dos goldenen
Hornoä als einen Langvera gulten lüäst (so auch Möller S. 117; mir ist es
-aueb wahrschmnlich), der hat den Beweis in BXnden, dass die freie Silben*
^1 nnd die Bildung von Doppelmone j. nicht erat das Resultat spntddtcher
Verwitterung (Synkope) ist, sondern schon zur Zeit der unverwitterten, un-
«ynkopiorten urgermauiwhon Sprachforni ]f»bendig war. Eine Sammlung und
metri^chf! Untersuchung der Forme lverr<e, die wir als urgermanischen
Besitz in Anspruch uchmou dürfen, würde darüber die eudgiltigo Entscheidung
l}ringen. Die klingende Cadenz j_ x vindideren sie dem gemeingerm. VeE8>
ban mit Sicherheit, wie schon ein Blick auf Otto Hoffroanns Beimfermeln
S. 22 ff. (mit Vergleiiihung der nordisch belegten) zeigen kann.
Den Ucbergang vom viertaktigen zum zveitaktigen Grund-
mafse will M Oller aus der spradilichen Entwicklung erklären
(a. a. 0. S. 110 ff.). Moller betrachtet die sprachliclieü
Vorgänge, speciell den Eintiitt des germanischen Nachdruck-
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Zur Vorgeachicbte des germanischen Venes.
181
accentes und die Vocalsvnkopen, geradezu als die einzige treibend»
Kraft in dem Eutsteiiungsprocess des Stabreinivei-ses. Auch
Sievers, der in der einzelsprachliclien Entwicklung (nach Voll-
zug der >Synkoppn) einen zweiten Factor, den Ueber^ang zum
Spreclivorti ag \i, wirken lässt, füln-t alle Umgestaltungen des noch
gesungenen Verses auf spraehliche Ereit^misse zurück. Ich
glaube, dass beide Forscher die Wirksamkeit des spj-acligesehiclit-
lichen Momentes bedeutend überschätzen. Den Veränderungen
der Spracbe, als dem uodgestaltenden, zersetzenden Factor,
wirken zwei conservierende Mächte entgegen, die man nicht
ignorieren darf, nämlich ij das rhythmische (Tedachtniss : die
Pfleger der metrischen Tradition unterwerfen sich nicht sklavisch
den Veränderungen, die auf sprachlichem Wege in ihre Verse
eindringen mttsten. Jeder sprachlieh bedingten Antastung des-
Versmafees kann sich das rhythmische Gedächtnis« widersetzen
und sie ansgleiclien durch Einschub, Umstellung oder Aenderung
von Wörtern, sohinge sich die Poesie noch lebendig fortpflanzt;
^ 2) die unbewQSte Vergleichung Jedes Verses mit seinen Nach-
barn. Verse werden in den wenigsten Fällen isoliert tlberliefert.
Fast immer stehn sie im Zusammenhang, wenn auch nur einer
mehrzeiligen Periode. Sprachliche Umgestaltungen treffiBu selten
mehrere auf einander folgende Verse in der gleichen Weise.
Vers a wird mit Vers b und c u. s. w. verglichen; ist die Ver-
änderung von a derart, dass er aus dem gewohnten rhythmischen
Verbände mit b und c herausfiele, so kann sich die sprachliche^
Infection nicht halten: sie wird rückgängig gemacht.
Diese gegenseitige Abhängigkeit der Verse macht sich auch
^) Die §§ 150—162 der Agorui, Metr. ruhen ganz auf der Voraussetzung,,
dass der Uebergang zum SpracbTortr^r nach Vollzag der nordischen and
der westgermaniaclim Synkopen geachehen sei Also wäre entweder alle oder
doch die epische Poesie vor der Stammoetrennang geauiigen gewesen. Wie
ist damit § 4. 4 (und § 5, 2) zu verein igmi, wo «resa-^'t wird, man brancho für
das aUfrcniiaiiischo Epos vor der Stamm rrniniiniir kciiif .stidpliisrho Form anzu-
nehmen, und die Gleichstrophigkeit des Fumyrdislag habe sich offenbar erst
iu der nordischen Kunstdichtung entwickelt? Sollen die Germanen vor der
Stammeetrannung nnatropliiache Epen gesungen haben?
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182
Kapital TV.
bei der Trennunjf vom Gesangre geltend. Kin tresungener Tj*piis
A ^ ^ ^ ^ könnte, isoliert oder in der Nachbftrecbalt lauter gleicb-
gebauter Vene stehend, wol zu ein^ gesiNfochenen ^ * ^ t
(odf»r wie man es nnn l)ezeichnen will) umgewandelt werden, mit
Unterdrückung der beiden Ncbenicten, die aaf «prachlioh sehwaeb-
tonigen Endeilben nüieo. Steht aber vor oder hinter dieem
Vene ein ganz anders gearteter, wie z. B. Typoe £, nach Sfeven
Messung f> ^ 0 f , wo mit den sehwachen Nebeoieten dee
A-Versea stark betonte Güeder oorrespondieren, so ist jene Um-
bildong onmOglieh. Die beiden Verse können nicht getrennte
Wege gehen. Dorch ihr Zosanunenwirken mflssen sie das Vera-
mafe gegen die Sprache behaupten.
Dies kann man dorefa zahlreiche moderne Beispiele bestätigt
linden, unter anderm anch durch dasjenige Gedicht, das Sievers
§ 178,1 20 Gunsten seiner Theorie anftlhrt:
Wir hatUn gebauet em HatUi^ies Häm.
Standen diese Verse neb» lauter gleichartigen, so konnten m»
im Sprechvortrage ihr ursprüngliches Versmafs, wie es von der
Melodie festgehalten wird, iiiiinlich die achttaktij^e Lan^zeile,
preisgeben und sich zu einem vierlakligeu „auapäötischeu'^ Verse
wandeln, wie etwa
Wir singen tmd sagen vom Grafen so gern.
Nun folgt aber als Zeile 2
Und drin auf Gott vertrauet trot^ Wetter, ÜtKnn U7ul Graus,
und hm' kann von der Umbiidung zu einem vierhobigen Verse,
mit Untruh tlckung der geraden Icten, niclit die Rede sein.
Diese zweite Zeile hält das Versmais fest: sie verhindert die
erste Zeile, zu einem anapa.sti.schen Viertakter zu werden. Tat-
sächlich wird denn auch niemand beim Vortrage dieses Gedichtes ,
die Anfangszeile so sprechen, als ob es sicii um eine Versform
wie M% singen und sagen vom Grafen so gern handelte —
und wo es dennoeli geschähe, da wÄre es eine Rohheit, die zur
Aufhellung der altgermanischen Versentwicklung nicht geeignet
wäre. Geriete die Melodie dieses Liedes in Vergessenheit, so
konnte man dennoch um die Fortdauer seiner alten metrischen
Form unbesorgt sein: die zwdte Zeile mit ihren sprachlich mar*
•
V
Zur yoiSMeUolito dfls gwmraiidieii Ven«8. 183
fldertan Icten 2 und 6 wfirde von der ersten Zeile alle Gefohr
«des ZuBaminemehnimpfena abnreDden.
. Bei den Stsbreimvenen, eo wie Sievers ihre Rhythmen an«
setzt, war die Möglichkeit des letensehwundes noch nm ein
Bedentendee entlegener, weil vielfach der eine Vers seinen Haupt*
ietas an der Stelle hat, wo der andere eine schwache Neben-
liebnng fllhrt, was ja bei nnaerm neadeatschem Beispiele nicht
•der Fall war. —
Vor einer allzu hohen Veranschlagong der sprachlichen
.Ebittsse lunn der französische Versbau warnen. Zwischen dem
heutigen Französisch und dem Volgariatein liegfen tiefer greifende
Tocalsynkopen, als etwa zwischen der Sprache des Beowulf und
dem Indogernianischen. Und docli sind diese Sprachvorgaiige
nicht im Stande gewesen, weder das Princip der gebundenen
Sübenzalii zu zerstören, noch das (ii uiidiuals der einzelnen Vers-
arten aufzulösen (vgl. Ph. Aug. Becker, Über den Ursprung der
romanischen Versmafse, 1890, S. 44). Man sieht daraus, welch
kräftiger Widerstand vom rhythmischen Gedcidituiös und von der
metrischen Solidaritüt der Veise ausgeiin muss.
Dass hberhaupt das metrisch e Grundmafs einer Veraart
durch rein sprachliche Vorgänge umgewandelt werden könne, ist
mir vorhlufig nicht glaublich. Um zu unserm besondem Falle,
2u der Entstehung der germanischen zwei */4-T&kie aus den
indogermanischen vier ^t-Takten, ziullckzukohren, so kann
Möllers sprachliche Erklärung nicht befriedigen. Ein gorm. Com-
positum wie WTdasinpas, Hleiuagasüz^ sagt Möller S. III, „flUlte
zwei *li'lL2k\Af solange entweder neben dem musikalischen Accent,
-gleichgültig wo er stand, ein Nachdrucksaccent noch völlig ver-
schwindend war, oder das Wort zwei gleichwertige Accente hatte,
•oder der Hauptaccent auf dem zweiten Bestandteil stand; ....
in dem Augenblick aber, wo der Hauptton in diesen Wörtern
4kuf die erste Silbe trat, wfthrend die dritte sich an einem Neben-
ton genügen lassen muste, bekamen jene WOrter das Mafls eines
^/i*Ta]ctea . . . und entsprechend gieng es mit allen mindestens
•dreisilbigen Wörtern der Sprache und mit jeder unter einem
Bauptton gesprochenen Gruppe von WOrtem^. Dem kann man
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184
Kapitel IV.
beistimiiien — aber standen denn die Wörter dieses Baues immer
nur ira ersten -{- zweiten oder im dritten -L vierten Verstakte?
"Wir haben keinen Grund dies vorauszusetzen. Gewiss flllltea
derartige Wörter iiäutig auch den zweiten + dritten V'erstakt.
Und in diesen Fällen war die Folge der Accent Verschiebung^
eine andere; dann ordnete sich der zweite letus dem dritten
über: i
XX I <CX I ><X I XX oder
XX f XX I XX I XX .
Diese dynamische Abstufung lief den zwei ^/^'TMbsl zuwider. .
Mögen diese Fälle auch in Minderzahl gewesen sein, so
lUitten sie doch ausreichen mOssen, um der Unterordnung des
zweiten (und vierten) Ictus vorzubeugen. Sie hätten den zweiten
(und vieilen) Ictus immer wider als gleiehwertifr in Erinnerungf ge-
bracht Hebung 1 und 3 hätten sich nicht als die beiden guten
Taktteile schlechthin durchsetzen können.
Aus der sprachliehen Acoentverschiebong wird die Um-
bildnng des Grundmaü^ nicht verständlich, weil die verschiedenen
Versexemphire von jener Verschiebung in ganz ungleicher Weise
betroffen wurden, und der Ausgldek zinschen ihnen nur dazu
hatte führen können, die vier Icten als „prineipieD gleichwertig'*
aufrecht zu erhalten.
An diesem Punkte muss ein au&ersprachliches, d. b. ein
von der zufälligen Umbildung der Lautfoim unabhängiges Moment
eingesetzt haben — em Moment, das gleichsam mit souveräner
Gewalt den rhythmischen Sum des Dichters und des HOrers um-
modelte.
Der Stabreim, der den Germanen während eines langen
Zeitraumes als nahezu onerlässliche Vorbedingung ftir einen Vera
galt, wird bei der Ausbildung des aJtgermanischen Metrums nicht
untätig gewesen sein. Man muss sidi wundem, dassMOller und
Sievers den Stabreim in ihre entwicklungsgeschichtiüchen Ent-
wtlrfe nicht hereingezogen haben.
Die Frage ist so zu stellen, ob die Unterordnung der
geraden Versicten durch die ursprünglich rituell vorgeschriebene
Stabsetzung irgendwie verständlicher werde.
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Zur Yorgoiichidite des gonnamscheii Vensea.
185
Alle germanischen Volker, bei denen wir die Stabreimteebnik
in totem oder lebendigem Gebraache vorfinden, stimmen in den
Hauptgesetzen ibrer Anwendung ttberein. Der Stabreim hat die
zwei Functionen
1} in einem einzelnen Zweitakter die beiden Gipfel herror-
zuheben, zu erhöhen: so in der Yollzeile des Ljödab&ttr,
in Fonnelversen, Sprüchen bis beute;
2) aus zwei Zweitaktern — die unter sich noch rhythmisch
differenziert sdn können — eine Periode herzusteilen,
indem der Reimlaut des ersten Verses in dem zweiten wider-
kehrt: so als durchgehende Form der epischen Dichtung,
anÜ^erdem als Stropheüglied des Lgödahättr und gelegentlich
in den Formeln.
Beiden Verwendungen ist gemein, dass ein Vers nielit mehr
als zwei SUlbe fahren kann. In dem ersten Falle sind zwei
Stäbe, a a, selbstveretändliche Voraussetzung fllr den Reim, in
dem andern Falle finden wir neben diesem Typus a a noch die
Typen a x und x a, und zwar stchn dem ersten Gliede der
Peiiude alle drei Formen zui* Verfügung, dem zweiten aus-
schliefslich die Form a x^). Dies muss iu die gemeingermanische
Zeit ziirück^rehn. Wir dili fon veinniten: als sich der Stal)reim
des germanischen Verses bemächtigte, da galt als die erste feste
Norm: der Hauptstab eines Doppelverses erhält unter allen
Umständen die eine unvenindoriiclie Stelle im Beginne, d. h. in
der ersten Hebung des zweien Verses. Indem ich an die Dar-
legungen V. Liliencrons und Müllenhoffs Zur Kunenlehre
{zumal S. 17 f. 62 f.) erinnre, ohne die das Entstehn der Stab-
reimpoesie rätselhaft bleibt, möchte ich Uber die »formelle Ver-
bmdung von Rune und Vers" die Vermutung wagen, dass der
Hauptstab des Doppelverses von dem aufgehobenen Bunenstabe
geliefert wurde, während der oder die Stollen von der interpretatio
des sacerdos civitatis oder des pater familiae zugefügt wurden.
Dem Hauptstabe muste in dem langsam-nachdruoksvoU gesungenen
*) Von allen Ausnahiuon, fohlorUafter oder künstlicher Art, wird hier,
wo BS Stell nnr um die GrandUgen haudoltf notwendig abgesehn.
Digiii^uu by G(.)0^1c
186
Kapitel IV.
oder gosprocliencn Vorspare seine unwandelbare Stellung zuteiE
werden: denn er enthielt das von der Gottheit unmittelbar dar-
gebotene Wort, das der Woifsagung den Orund legte. Der Hörer
sollte wissen, in welchem Augenblicke dieses über die menschlichO'
interpretatio erhabene Wort an sein Ohr dringen würde. — Als der
Hauptstab noch in dieser Weise den ersten Keim des Verses-
bildete und dem vorausgehenden Verse seinen Stabreim vorschrieb^
da galt für ihn mit hesserm Rechte als in der spaten Skaidea-
kunst das sd stafr rcedr kvedandL
Zu dem aufgehobenen Runen wo tle hatte der Deutende^ am.
der Prophetie Richtung und Gestalt zn verleihen, ein oder zwei
stabende Worte ans eigner Eingebung zn gesellen : sie fielen dem
ersten Kuraverse zu. Setzen wir voraus, daas Anfangs ihre Ver-
teilung auf die vier Hebungen freigegeben war. Mit der Zeit
setzte sich das leicht verständliche rhythmische BedUrfniss durch,
die Abstände zwischen den beiden Stollen nnd dem Haaptstabe«
gleich za machen. In der Reihenfolge
XX I I XX I >< xll y:x • • • oder
a a a
*xlxxl>cXlx>flUX ...
a a a
drangen die drei gewichtigen Stabworte nicht so fassbar nnd klar-
zu Ohren nnd Sinn der Hörer, wie in der Folge
XXlxXlxXlxXlIxX " .
a a a
War diese Anordnung der Stäbe, also diese dynamische Abstufimg^
in dem ersten Kurzrerse yerwlrklicht, so teilte sich die Bewegung
von selbst dem zweiten Kurzverse mit: er Uelk seuier Hebung
mit dem Hauptstabe eine schwächere, eine stäricere und wider-
eine schwächere Hebung folgen. Diesem Princip fügte sich so-
dann auch der einsam stehende Stollen: es kamen jetzt für ihn.
nicht mehr vier gute ^Faktteile in Betracht, er hatte nur noch-
die Wahl zwischen zweien. Die Entwicklang hätte damit ab>
geschlossen, dass auch die selbständig reimenden Kurzverse, die-
in der Nachbarschaft der Lani(zeilen standen, ihre vStäbe nur-
noch au den beiden Stellen, uin ^Vnfaüg und in der Mitte, duldeten^
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Zur Vorgeschichte des gemanischen Venes.
137
Diese Umfomrang des Metnmis — das HeraiuarMten zweier
nicht versdiiebbaTer Gipfel — wirkte so weit, als der Stabreim
selber wirkte; Von der sacralen Poesie, die an das hrieta teina
ok A hlaniJt sjä (Hym. Is) gebunden war, also von Wei&ag^ng"
und Zauber, vsL apä ak ßoldr, verbrüteten sich die läedstabe
einerseits auf die Sprttcbe jeglicher Art, Rechtsfonneh, Gnom«]^
Lehrgedicht, — andersats auf die religiösen Hymnen und durch
sie auf die Heldensänge, die epischen Liedor, um zuletzt noch
das jüngste Brzeugniss altgermanischer Poesie, die westgermanische
Epopöe, zu erobern. Den Stabreim begleitete unzertrennlich das-
neue, zwdteifige Grondmafe.
Scheidet man von dem hier Gesagten die constmctiven HUfs-
linien aus — denen ich von geübterer Hand verbessernde Nach-
zeichnung wünschte — , so bleiben diese allgemeinen hypothetischen
Sätze zurück, deren innere Wahrscheinlichkeit ich zu erwä^^en ^^ebe:
Der wesenllicl)e Cliarakter des Stabreimverses hat sich schon,
in der sogenannten ^ üiuciiig L i nianischen Zeit, vor der scharfen Mund-
artentrennung, lan<;^e vor den einzelspracliliclien Synkopen, hei'aus-
gcbildct. Nicht Veränderungeü der liautfoi'm waren die treiben-
den Kräfte, sondern das Kunstmittel des Stabreimes, das allei dings.
eine spraciiliche Neuerung, den Nachdruckston auf der ersten Silbe,,
notwendig voraussetzt. Die Lautentwicklung der einzelsprachlichen
Zeit hat nur noch die Versfüllung nioditiciert, zumeist in der Weise^
dass die silbenärmem Fülhmgstypen und die stumpfen Takte, die
zui- Zeit der urgermanischen Lautform noch seltener waren, nach
Eintritt dei- Vocalsynkopen an Boden gewannen. Diese sprach-
lich bedingten Neuerungen haben sich fast durchweg an schom
vorhandene Foi men angelehnt. Nur dadurch ist es möglich ge-
worden, dass epische Specialrcgoln den zeitlich und räumlich weit
getrennten Beowulf, Heliand, Edda gemeinsam sind.
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Sachregister.
ihjh. = Ljddahdttr, llv. = Roiravers,
reimend, V.
•absoluter Rhythmus IL 13-
accentuierondes Versprinrip 03. 124.
Acc'entverschiebung, germ., LüL133f.
Alexandriner äfl f.
Allittcration s. Stabreim.
Anapästiäche Verse im Deutschen Sl»
23.
Aristoxonos. 13. IS.
dppu&ji'ia IS- 2L
Auftakt, im allgom. 3Öf. 5öff. Ifif., \
im idg. V. 128^ im Strv. 52. 50 f.
99. 130, in Gesotzesvorsen 89i in
Schwellvorsen 105, im Ljh. 11.'^-
avestiseher Vbau 3Ü. 123. 12Ö.
Betonung, sprachliche, ß3. TL IM ff.
llft. 13Ü.
Brückes motr. Methode 12.
'Cadenz, im allgom. 30. 31. 47^ im
idg. V. 128, in der Ljhvollzeilo
lÜÜff., zweisilbig-volle Ü2ff.
Daktylus (griech.) Ifi. (deutsch) 2Ö.
Differenzierung d. Versarten 3L 34. 41.
Dreitaktor, sir., 9i IQIf. UL
Dreiteiligkeit, sprachliche, fifi. Iü3f.
JIM.
„Eingangssenkung" fil.
einsilbiger Takt, im idg. V. ÖL 128,
ohne Stab im Strv. Il6j im neudtsch.
V. Ifi.
englischer Rv. im 13. Jh. 39f., Strv.
im 14.- lfi. Jh. Ifl.
epischer str. Vbau 25. HL 89 ff. 120f.
Formelverse 8Ü. 13Ü.
Strv. — Stabreimvers, str. = stab-
= Vers.)
freie Taktzahl 28. 1Ö2. 112.
„freie Verse", neudtsch., 28.
frühmhd. V. 15. 20. öfif. ID. (73j
gebundene Silbenzahl 30. 121ff., Takt-
zahl 2ä.
gemischter Rhythmus 22. 32.
geordneter Rhythmus 13. 2Ü. 21.
Gesang, sein Verhalten zur Recitation,
ft. 12.
Gosangsvers 5. L IL lÖ. 118. 12Q. 132.
Gesetzesverso 80 ff.
griechischer Vbau 18. ß3f. 122. 128f.
Grundmafs (metrischer Rahmen) 3f.
I f. 20. 22. 24. 28. 52. 24. ÖO. 133.
Hans-Sachsischer V. 30. 3fL 12Ö.
Hexameter (griech.) 18. (deutsch)
2Ö. 33.
hofischer mhd. Vbau 20.
Icten, ihre relative Stärke, 32. 35.
129^). 13i.
indogermanischer Urvers 30. Ö4. 122ff.
Infinitiv im Auftakt 99.
irischer Vbau 64»). 123 f.
irrationale Zeitwerte 3. 18.
jambischer Bühnenvers (griech.) Ifi.
(deutsch) 28. 32.
„katalektischer" Schluss im adtscb.
Rv. fifif.
Kindorsprücho 43 ff.
klingende Cadenz, im allgcm. 35 f. 5ä.
63f., im Strv. 130^ im Ljh. llOj im Rv.
42. 02 f., klingender erster Takt im
Strv. 5fi.
Sachregister.
189
JCorzverae, str., 136, erster und zwei-
ter differenziert 55. 58. 60. 62, in
Gesetzesversen 87, im Ljli. 113.
Laiigzeile, iiu ae. Er. 39 ff., in Volks-
U«dttii 87ff. 42f.
lateinucher »Rbythmus" (Dlmetor
jambieiia) 66. 1071). 124, lat. Verse
mit germaniaelieii gepurt 7211
Ijöd 119.
l^ödahttttr 29. 77 ff. »0. 93 ff. 108 ff.,
Kamo 118 f.
MäUOiAttr 61. 100, Name 110.
Mbra 24. 128.
.«miuilcalischer'' Rhythmus 15.
Nebonictas im Strv. 32. 34. 65t
Nibelttni*engtrophe 34. 42.
«ccasioiieller Rhythmus 11. 13. 26.
Odenroafse 33.
Opilsiiclie Reform 83. 62.
Otfirids Yen 23. 40. 66ff.
prSdicaÜTes Adjectir, BtaUos, 96.
Proportionen der Zeitwerte 2. 7f. 20.
65. 6(). 107.
(Quantität, sprachliche, 34. 63. 126. 128.
•quantitierendcs Versprincip 124. 128.
«recitierender*' Vortrag und Vbau
6f. 15f.
leimlose Veiae 81 0.
romanischer Vbau 80. 39. 68 f. 183.
püfr|ioei5e(; 18.
Rhythmus, im allgfcni. 10 f., .soine Art^n
20 ff., im gesungenen uud im ge-
sproohoncn Vorse 12 ff.
•Satumier 64. 123.
Satztott, altgem., 07. 105. 106. 115.
^cliwellvorse, str., 20. 101. 104ff.
Sochstaktor, im Tlv., 117.
Äilbi'iizahl, im allp^om. 'Of. lim Auf-
takt :iO, im Versiuneni 32) 124 tf.;
im idg. V. 122. 128, im Ötnr. 90.
123 (im Auftakt 60), im Ljh. 77.
120, im KinderlMe 47.
älniden 60. 74. 00. 136.
«Spondeen*, deutsche, 27.
Sprechrers, — vortng 6. 7 f. 15. 17.
19. 120. 132.
Stabreim 134 ff., sein Verhältniss zum
Setston 07. 106. 118. 116, in den
Gkeetsemnen 81* 86f., in der L|Jli.>
▼ollieile 04 ff., -langieile 118.
Stroplionbau, im allgem. 34. 47, tltr
gorm. 1311), jni Ljh. 117 f.
stumpfe Cadeiiz, im allgem. 35, im
Strv. 58, in der LjU.-voUzeile 110.
Synkopen, Toealische, 130. 137.
TUct, metriBtOier, 8. 71 12. 18f. 24. 88.
Taktmttttng 32. 125.
Taktgeschlecht 24. 26 f.
^taktierender" Vortrag und Vhau 6ff.
13. 15 ff.
«Taktumstellung" 25.
Takt Wechsel 24 ff.
TkktMh), im allgem. 28, im I4L Odff.,
im SdnrellTene 104ff.
«Trochäen', doutscbe, 26.
trygdamiU 82flr.
vedischerVbau 30. 64. 107 »). 123. 125 f.
«veroiisi iieto Verse* des 17. Jhs. 33.
VersfüUung, im allgem. 4. 15. 23f.
29, Im idg. V. 125ff., im Strv. 75.
79. 129 f., im GesetseBTeiae 881,
im Schwellverse 106, im IJh. 77.
120, im Kindorliode 45.
Verbinnores 29. 32.
Viertakter, idg., 125. 128.
Volkslied, dänisches 37, fiLröisches 38,
denttdies 411, 71.
volle Codenc, im ellgem. 85, in der
I^h.-Tollzeile 110; voller enter
Takt 56.
Vollzcilp des Ljh. 77 f. 93. 108 ff. 120.
Vortrag des .Sri v. 511". 16 f. 87 f. 118 ff.
Zweitakter, altgerm., 32. 72. 79. 88.
90. 117. 120. 187, im Ev. (wrei
«/i-Tekte) 35. 117.
Zweitekttheorie 47. 51.54.74. 113. 115.
Digiii^uu by G(.)0^1c
Druck T0& WiUitUn Dnpont, KooiU In Wpr.
Digiii^cu by Gdo^I
in
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III
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