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Full text of "Die Lebendigen und die Toten : in Volksglauben, Religion und Sage"

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Die 



Lebendigen 
und die Toten 



Rudolf Kleinpaul 




INDIANA 
UNIVERSITY 
LIBRARY 




Lebendigen und die Toten 



in 



Volksglauben, Religion ujid Sage, 



Von 1 



Rudolf Kleinpaul 



» — 



Wer da atirbet^ wann er teb^ 
I ^ wird leben, wann er sdrbc 



Leipzig. 

G. J. Göschen'sche Verlag-shandlungf. 

1898. 



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Vorwort 



Die Geschichte dieses Buches ist bald erzählt. Durch 
psychische Studien, namentlich seit meiner Bekanntschaft mit 
der Kulturgeschichte von Julius Lippert, war es mir zur Ge- 
wissheit geworden, dass die sogenannten Geister oder Seelen, die 
in der Weltanschaaung des Volks eine so hervorragende BoUe 
spielen, fast durchweg auf die Bilder der Yerstorbenen zurück- 
zuführen; dass sie mithin gar keine neuen Wesen, sondern die 
alten Menschen wieder seien, die in der Erinnerung fortleben, die 
Phantasie beschäftigen und den Hinterbliebenen im Traum und 
in der Einbildung erscheinen. Ich glaubte auch, das Gesetz 
entdeckt zu hahen, nach welchem sich diese Visionen bildeten 
nnd gerade so und nicht anders erscheinen mussten ; und hinter 
den Zusammenhang dieser Act Seelen mit der primitiyen Seelen- 
vorstellung des Naturmenschen gekommen zu sein. Nachdem 
ich in dieser Kichtung bereits in der „Gartenlaube", der 
„Gegenwart" und der „Allgemeinen Zeitnng" einige Artikel ver- 
öffentlicht hatte, beschloss ich, ein zusammenhängendes Buch über 
den Gegenstand zu schreiben, der mir der interessantesten einer 
und doch dem grossen Publikum noch ziemlich fremd, ja, völlig 
dunkel und unzugänglich zu sein schien. 

Ich gedachte damit zugleich ein grosses Kapitel aus einem 
anderen Werke zu erledigen, das mir einst von anderer Seite 
nahe gelegt worden war. Ich sollte einmal eine (rescklchte der 
mefuchUchm DumnUieii schreiben, und der Gespeosterglaube hätte 
einen Teil davon ausgemacht. Die Bezeichnung erschien mir 
damals anstössig und etwas grob — sie dünkt mich heute noch 
8o; auch ist es misslich, alles was mit dem Unsterblichkeitsglauben 
zusammenhängt, und es hängt viel, sehr viel damit zusammen! — 



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IV 



Vorwort. 



einfach als Aberglauben und Dummheit abzuthun. Mit der 
£ziBteiiz und der MateriaUmiim von GreiBtern der Verstorbenen 
befasse ich mich darum noch nicht, sondern bin, wie gesagt, ge- 
neigt, alle einschlägigen Erscheinungen als subjektiye V^orgänge nnd 

Siniiestäuschuiigen zu betrachten, die psychologische Frklärung 
überall vorzuziehen, ja, eine solche selbst in dem verzweifeltsten 
Falle noch zu fordern. Das ganze Buch giebt sich eben als ein 
Stück Volkspsychologie, nicht bloss die Einleitung, die nur die 
notwendigen YorbegrifFe festlegt. Nach meiner Ansicht. ist es 
allerdings phantastisch, jemals eine Weisse Frau, einen Vampir 
oder einen Doppelgänger für wirklich anznsehn, wenn anch damit 
der Eintrit des Gesichtes selbst nicht geleugnet werden soll und 
die gesamte Vor^^tt Ihmg von der Welt auf keiner viel festeren 
Basis ruht ; den philosophischen Wert des Spiritismus habe ich in 
den beiden Abschnitten über die Gespenster furcht (Seite 188 ff.) 
hebevoll erörtert« Es gehört nämlich schlecht und recht ein wenig 
Kantische Philosophie dazu, spiritistische Phänomene yon reellen 
Sinneseindrficken und unzweifelhaften Thatsachen der Erfahrung 
zu unterscheiden, und es wäre unbillig, diese Philosophie von 
Laien zu verlangen. Das Volk bat gewissermassen recht, wenn 
es an Geister glaubt — es muss an die Geister glauben, sogut 
wie an die Menschen überhaupt. Häufig stellt sich das Buch 
selbst frischweg auf den Standpunkt des Volks und spricht in 
seinem Sinne, als ob die Erde ihrer voll wäre, von den G-eistem. 
Das geschieht um der Kürze willen; der aufmerksame Leser 
wird sich nicht tauschen lassen, sondern die Absicht eines Ver- 
fassers pn'rtton, der in dem Falle eines Irrenarztes ist und für 
einen Augenblick auf die fixen Ideen seiner Patienten eingeht, 
eingedenk der Worte Prosperos: 

We are anch stnff 

as Dreams are made on, and our litUe life 

ia rounded with a Sleep. 

Leipzig, 25. September 1897. 

Rudolf KieiupaaK 



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Inhalt. 



Einleitung. Dio Seele und die Eracheinungen der Seele 
Grundzuge der Volkspsychologie. 

Seit« 

aj Tod und Leben j 

b) Leib und Seele G 

c) Das Atmun^atierchon I J 

d) Die Seele als Mau.s. Gei.stesAhweseiilieit unter dem BiMe eines 

eatschlUpfenden Höhleutiers 17 

e) Die Seele wird flügge 1?4 

f) Die V^erwandlnng. Unsere Seele mit einem nenen Leib bekleidet 31 

g) V>a9 Jenseits. Himmel und Hülle o!* 

Ii) Das Tiaumbild . -IG 

i ) Doppelgänger 5'^* 



I Die Höllenfftuna. 

1 ■ Der Hnnd hat ihn gesehu, der Hund hat ihn gefressen . . . . f'G 

2. Der Menschenfresser, bildlich 09 

3. Die Leic-benfliege 7i> 

4. Die Geier und die Raban . . . . . . . . , . . . , . . ^ 

f). Die Feuerbestattung 87 

n. Todcsengel. 

1. Rqfende Geister 100 

L*. Pin Weisse Frau ^ . . . , . . . . . . . . , . , . . 1 | 0 

3. Der Vampir 119 

4. Der Alp; die Mittagstrau I :^'.> 

5. Nacht- and Dämmerungstiere. Eulen \ '^'2 



in. Der Kampf der Lebendigen mit den Toten. 

1. Die Geapengterlnrcbt 138 

2. Die Gespensterfurcht. Poltergeister ... 14!) 



VI 



3. Die Anwendung des kalten Wassers zain Geisterbanne .... 154 

4. Das Jobannisfeuer \{\7 

.5. Der Sommernacbtstraum . 171 

6. Hana Rechenmeister . . 177 

7. Die Zwölf Nächte. Das Schreckenlänten 179 

IV« Kultus der Seelen, ihrer Wohnsitze und Fetische. 

1. Das Hans qnd die Hansgeister 1M9 

2. Die Hausgeister zeigen den Ruin des IJanaes an . 200 

3. Hausgeister künstlich gezüchtet: die Eiumaiierung 212 

4. Die heiligen Tauben 218 

5. Der Rosengarten . 230 



V. Die Unsterblichkeit, die man hofit, und die 

Unsterblichkeit, die es giebt. 

1. Bembo nnd Melancbthon. Die Auferstehung ........ 238 

2. Der Vergleich mit dem Saatkorn 240 

3. Frühlingswehmat 241 

4. Die Fitigel der Psyche 246 

5. Der Bruder dea Todes 249 

6. Dieses hinfällige Kleid von Stanb 253 

7. Die weitergegebene Fackel 258 

8. Heimgegangen. Das Leben ein heimgefallenes Lehen 264 

9. Der Tempel des Nachruhms 266 

10. Das Denkmal 289 

11. Der Abschied des Woblthätera .... 272 

12. Das Testament des Philosophen 278 



Schluss. Totenkultus und Chri.stentum 287 



Sinleitung. 



Die Seele und die firsoheinungen der Seele. 
Grundzüge der Yolkspsychologie. 

a) Tod und Leben. 

Ein Rätsel — man sdUte iiu'iiuMi, es wäre nichts m verschie>len wie 
Tod und Leben — und doch sucht man diesen Gegensatz zu ignorioroii — 
wie ein Holateiner einen mystischen Gedanken des Altertums bestätigt — 
ist ^ Christ — das Cbristeutam vermengt die Begriffe des Lebens und 
dee Todee von jeher — dieselben werden bald eigentlich, bald nneigeotliob 
genommen, der philosophische Tod ^ das Leben wird aber auch wirklieh 
über den wirklieben Tod hinaus verlängert — 'Beweis» wie sieh ein Meeklen- 
faurger die Himmelsfrenden vorstellt — sonst machte der Tod dem J^ebens- 
gennss ein Bnde, jetzt erscheint er nur noch als ein Intermezzo 
Viva el Muerto — das Mittel, Tod und Leben zu versöhnen, bietet der 

Seelenglaube. 

Unter den mündlich überlieferten Rätseln Schleiermadiers 

steht das folgende obenan: 

"Wir sind s {jewiss in vielen Dingen, 
Im Tode sind wir es nicht mehr; 
Die sind's, die wir zu Grabe Itritifjen, 
Und eben diese sind's nicht melir. 
Dieweil wir leben, sind wir's eben 
Ton Geist und Angesicht; 
Diewdl wir leben, sind wir^s ebai 
Zur Zeit noch nicht. 

Man sollte wohl meinen, es sei nichts so sehr verschieden 
als die Lebendij:jen und die Toten; es giebt aber Leute, die 

Kletnpaul« Die Lebendigen und die Toten. 1 



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2 



Einleitung. 



alles untereiiiandermeiigen. Wenn man ibnen zuhört, so weiss 
man gar nicht mehr, wovon sie eigentlich reden, ¥om Leben oder 
vom Tode; sie führen gleichsam einen Becher mit doppeltem 
Boden, um wie Taschenspieler Kunststücke damit zu machen. 
In einer Kirche des östlichen Holsteins, in der Gegend von 
Plön^ ist das Grab eines Edelmanns. Er liegt geharnischt auf 
seinem Sarkophage, das Haupt auf den Ellbogen gestützt, die 
Füsse auf einem Hund; er schlummert. Das Denkmal stammt 
vom Ende des 16. Jahrhunderts. Darum herum läuft in schönen 
gotischen Buchstaben die Inschrift: Wer da sUrbet^ wann er Übt, 
icird Idten, wann er sHrbt, 

Da haben wir's; daraus mag nun einer klug werden. Da 
hat*8 zunächst der alte Euripides, der es wagte, daran zu zweifeln. 
Schon die Griechen haben nämlich über Leben und Sterben 
philosupliiert und Leben und vSterben geheimnisvoll verquickt. 
Wer weiss denn, fragt der berühmte Tragiker, der in so vieler 
Hinsicht zu dem alten Glauben in Gegensatz getreten ist, einmal^ 
wer weiss denn, ob das Leben nicht ein Sterben, der Tod ein 
Leben ist? Ti$ ciöev, ei td Cr^v fiiv kaji ttar^apeiv, to xor^mr 
Krjv? — Der unheilbare Riss, der, ähnlich wie jetzt in Deutsch- 
land, zu seiner ^^eit durch die Gesellschaft ji^ing, die grosse 
"Wandlung, wie sie sich seit dem relüpuiiii*'si>clien Kriege im 
griechischen Geist vollzog, klingt in diesen merkwürdigen Worten 
wieder. Die Verse werden yon Aristophanes in den Fröschen 
und von Plato im Gorgias angeführt. Ja, ja, ja, ja, meint. 
Sokrates, auch ein modemer Kopf und ein Freund des Euripides^ \ 
dazu, liberlege dir*8, mein Sohn: yielleicht sind wir alle tot; 
vielleicht, dass unser Geburtstag eiueii gro-^stn Trauertag bedeutet, 
nämlich für unsere arme Seele, die an diesem Tag in Ketten 
und Banden geschlagen und iu den Leib wie in einen Sarg 
gelegt wird! — 

Es ist aber tröstlich, wie der Holsteiner die alten Griechen 
in ihrem Unmute bescheidet; er lässt ihnen Hoffnung auf 
Unsterblichkeit. Gedanken über Leben und Tod machen sich 
die Menschen inuiRr wenn sie sterben; und gewühiilicli f illen sie 
recht resigniert und traurig aus. Die Grabschrift wird zu einem 



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a) Tod und Leben. 3 



Memento mcri für alle, die sie lesen; der Tote ermahnt die 
Überlebenden, des eignen Todes eingedenk zn sein und sich keine 
Illusion zu machen. Zum Beispiel der alte Römer, welcher sagt 
— ich habe gelebt, wie du itzt lebest. Du wirst auch einmal 
sterben, gleichwie ich gestorben bin. So rollt das Leben; tummle 
dich und geh an dein (Geschäft. VLn, ut vivü; mariem, ut sum 
mcriutus, Sie viia inmUtur, Abiy mator, in rem tuam. Ganz wie 
in Ägypten, wo einst zum Dessert ein hölzernes Totenbild an 
der Tafel herumgereicht ward, und der Tote einem nach dem 
andern die Gesegnete Mahlzeit wünschte: so ivirst du sein» 
In Plön klingt's milder. Das macht nicht so kurz Procedere, 
das eröffnet noch im Grabe eine gewisse Aussicht, ein Guck- 
fensterchen auf das Leben, freilich unter der Bedingung, dass 
man dafür bereits bei Lebzeiten etwas sterbe. Welch Chaos! 
Was ist denn das für eine seltsame Lebensphilosophie! — Niemand 
weiss nun, wo das eine anfängt und das andere aufhört* Wir 
werden am hellen Mittag mit Ilätseln geplagt, wie Odipus auf 
dem Sphinxberg! Wie lautet das alte Lied von den Lebendigen 
und den Toten? 

Wir alle smd'a, vir alle werde&'a win: 
Der ünterschied ist groat, der Untwscbied ist klein. 
Anfang und Ende dreht sich und wechselt wie der Wind, 
Weil die ersten die letzten, die letzten die ersten sind. 

Hilf, Gott, mir sterben, eV ich sterV, 

Dass ioh im Tode nicht YerderbM — 

Unter allen Keligionen ist das Christentum auf den mystischen 
Gedanken des Euripides äm bereitwilligsten eingegangen. Leben 
und Tod wie Quecksilber zu amalgamieren; täglich zu sterben 
ine der Apostel Faalns, um ewiglich zu leben wie der Herr 
Jesns Christus; das Grab als eine Goldne Pforte und den 
Todestag als den wahren Geburtstag zu betrachten — das ist 
die Maxime eines guten Christen, seine Kunst und sein Ge- 
heimnis. Der etruskische König Mezentius soll seine Verbrecher 
bei lebendigem Leibe mit Leichnamen, Gesicht auf Gesicht, zu- 
sammengeschmiedet und in dieser Verfassung, wo sie eine Gruppe 
bildeten wie die zwei Verdammten in Dantes Hölle und einer 

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4 



Einleitung. 



am Scbädel des anderen nagte (XXXII, 126), ihrem Schicksal 

überlassen haben. So kettet unsere Theolopjie die Lebendigen 
und die Toten ohne Unterlass aneinander. Zunächst hat sie in 
die Gedankenwelt der Gläubigen den Begriff eines uneigentlichen 
Todes eingeführt, der bei Lebzeiten eintreten soll und der dem 
philosophischen Tode des Pjthagoras entspricht. Unser un- 
sterblidies Teil, die Seele, kann sich schon vorlänfig in andächtiger 
Betrachtung der göttlichen Geheimnisse vom Leihe trennen, die 
irdischen Bande sprengen und sich selig zu Gott erheben; das 
nennen dann die Frommen: der Sünde absterben und mit Christo 
sterben. Auf Grund dieses uneigentlichen Todes und zur Be- 
lohnung für das tägliche Sterben wird dann aber auch das 
wirkliche Leben üher den wirklichen Tod hinaus verlängert. 
Der Tod ist nun kein Tod mehr, er ist nur der seidene Faden, 
der ein Leben vom anderen trennt. Hier haben wir den 
Schlüssel zu der paradoxen Grabsclirift des Holsteiner Ritters, 
der ein doppeltes Steri)en kennt. Ich denke, der fromme Mann 
wird in der Bibel gelesen haben! — Er hat aicli offenbar an 
dem Spruche des Heilands inspiriert: Wer an mich glaubet, der 
wird Üben, ob er gleich stürbe. Seine Landsleute kümmern sich 
um den philosophischen Tod wenig, sie lassen den lieben Grott 
einen frommen Mann sein, malen sich aber desto eifriger die 
Paradiesesfreuden im künftigen Leben aus. 

Es giebt noch andere Grabschriften von anderen Edelleuten 
aus dieser Zeit, zum Beispiel von den herzigen ostelbischen 
Junkern in der Kirche zu Doberan, die vielleicht mancher auf 
dem Wege zum Heiligen Damm gelesen hat. Diese sind kaum 
mehr im Sinne des Erlösers; sie lassen allzudeutlich durchblicken, 
dass sich die biedern Agrarier ihr Jenseits nur als eine Fort- 
setzung des irdischen Lebens denken. Dass sie sich durch kein 
Memento mori irre machen lassen. Dass sie dort oben wieder 
anfangen, wieder Kaltschale trinken wollen. 

In dieser Welt hab ich mein Luet 
Allein mit ktltet Selialen gebässt. 
Hilf mir, Herrt in den Freudensaal 
Und gieb mir die ewige Kaltesckal — 



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a) Tod ond Leben. 5 



was doch kaum geistlich gemeint sein dürfte wie jenes Yolkfilied 
des 15. Jahrhunderts, das Uhland in seine Sammlung alter 
hoch- und niederdeutscher Volkslieder mitanfgenommen hat und 
das: der geisüwhe Mcde Überschrieben ist. übrigens wird der 

Cyperwein, tleu dort die Engel schenken und an dem sich die 
edlen Seelen gütlich thuen, auch nicht viel allegorischer sein als 
die mecklenburgische Kaltschale. 

In den ewigen Ftenden, 

Do schenket man £ipperwein, 

Des Solln die lieben Seelen 

Von Minne trunken sein! — 

Bekainitlich fliesst auch im mohammedanischen I^aiadies der 
Wein, der auf Eiden verboten ist, in Strömen: und der heilige 
Bischof Cyprianus, namhafter Kirchenvater, entwirft für die 
Seligen eine reichhaltige Weinkarte, derzufolge jeder Bürger des 
Himmelreichs seine Spezialmarke, Sekt, Sherry^ Malvasier, 
Ohianti, Falerner und so weiter hat 

Also nicht bloss: lustig gelebt und selig gestorben! — war 
die Losung des Mittelalters. Es hiessr lustig gelebt, selig ge- 
storben, und noch lustiger gelebt! — Zu leben wird den Toten 
schon in den Katakomben fort und fort empfohlen. Sie sollen 
in Gott leben, in dem Herrn leben, sie sollen glücklich leben. 
Dergleichen Zurufe oder Acclamationen, wie man sie auf den 
Gräbern, auf Gläsern und geschnittenen Steinen häufig findet, 
sind auch an die Gemeindeglieder gerichtet worden, und es lässt 
sich nicht immer mit Gewissheit ausmachen, ob sie den Lebenden 
oder den Toten gegolten haben, nicht einmal bei den Grab- 
schriften selbst — dass sie zu den einen und zu den anderen 
gebraucht wurden, daran ist kein Zweifel, übrigens dachten 
die ersten Christen so viel und so fleissig an Zeit und Ewigkeit, 
dass dies fast auf eins hinauslief. Folgerichtig konnte man nun 
auch den Toten geradezu beim Leichenschmaus leben lassen, auf 
die Gesundheit des Verewigten anstossen und lu tipanien rufen: 
Viva el Muerto ! — 

Lebewohl! Lebe mir wohl, Patroklus! Auf Wiedersehn! — 
riefen freilich schon die Alten, wenn sie von ihren Toten Abschied 



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ß Einleitong. 



nahmen; man lie&t solche Qrüsse und solche Acclamationen auch 
auf ihren Leichensteinen. Wir brauchen sie heute noch. Ist 
denn ein Lebewohl, das man einem Toten sagt, gar nichts weiter 

als eine gedankenlose Formel? Ein stehender, aus alter An- 
gewülmheit gebraucliter, natürlicher Abschiedsgruss, der eigentlich 
keinen Sinn hat und mit dem wir uns selbst belügen? - — Er ist 
doch etwas mehr. Wir wissen wohl, was wir sagen. Die 
Philosophie hat es allerdings Terstanden, den Tod zu überwinden 
und ein Leben hinter dem Leben ausfindig zu machen. Lange 
hat sie sich gesträubt; endlich gab sie nach. 

Die Begriffe laufen freilich verzweifelt durcheinander. Es 
will dem gesunden Menschenverstände nicht ein. wie man in 
Plön in einem Atem vom Leben und Sterben sprechen kann, 
als ob das eine das andere nicht ausschlösse. Wo steckt denn 
eigentlich das Geheimnis? Woher nimmt denn der gläubige 
Edelmann seine überraschende Zuversicht? Worauf gründet er 
seine Hoffnung? — 

Ich will es sagen: das Geheimnis liegt bei ihm wie bei 
allen Religionen in der Seelenvoistellung. Seine Stärke, seine 
Ariadne ist die Seele. Nur weil er eine 8eele hat, kann er das 
Kunststück fertig bringen, das Unmögliche möglich machen und 
in einem und demselben Augenblicke zugleich leben und tot sein. 

b) Leib and Seele. 

Die Seele führt zu einem Leben nach dem Tode — denn sie ist un- 
sterblich — ist ein Leben in dem Leben, welches der Leib darstellt — das 
Salz des Leibes — verjässt 5?ie den Leib, so bleibt nur die Leiche übrig 
— gleichwohl scheint es, die Seele i*?t vom Leibe ^^-arnielit verschieden — 
sie ist eine lebendige Leiche — da» kann aber doch wiederum nicht sein, 
ein neaer Widerspruch — wir müssen die Brücke herstellen» die das Volk 

über den Abgrund geschlagen hat 

Wie ich sage: Das Glück der lebenslustigen Toten ist die 
Seele. Bs giebt ein Ding, das für Diesseits und Jenseits passt, 

das die Quelle des Ijebeiis ist und auch nach dem Tode noch 
fortlebt — ein Dinj?, das wir wie einen Anker des Lebens während 
des Lebens in uns bergen und das wir auswerfen könneu, wenn 



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b) Leib und Seele. 7 



dieses Leben Schiffbruch leidet — ein gutes, dauerhaftes, uasterb- 
Ucbes Ding: und das nennen wir Seele. 

Wir haben ein doppeltes Leben: das eine ist unser Leib. 
Das Wort Leib bedeutet gar nichts anderes als Leben; wer 
Mi entleibt, der bringt sich selbst ums Leben; das Leben hat 
ursprünglich: das Leib geheissen und beisst noch so im Engli- 
schen (ihe Life). In Italien bezeichnet man die sogenannte Taille 
oder das Leibchen als das Leben oder als die Vifxi. Wie reimt 
sich das zusammen? — Ganz einfach: zwischen Brust und Hüften 
sitzt das Lel)en, Hier pulsiert das warme konkrete Leben, das 
auf der Walstatt, wenn die Walküren ihre Wahl unter den 
Helden treffen und die Todeslose verteilen, erhalten bleibt — 
das blühende, schwellende, süsse Leben, das sich selbst geniesst 
und das andere geniessen können. Die Leibeshöhle mit den in 
ihr befindlichen Organen, der Bauch, tlie Bodi/, was wir im 
engeren Siiiiie Leib und Körper nennen und dem Kopfe und 
den Extremitäten entgegensetzen, das ist unser Leben. Dieses 
Leben kann sterben. Aber das andere Leben, das wir 
nebenbei besitzen, die Seele kann nimmer sterben! Sie ist ein 
Leben im Leben von neuer, unvergänglicher Art, eine unsicht- 
bare, an keine irdische Form gebundene Lebenskraft — mit ihr 
belebt sich erst das Leben — ohne sie ist das Leben, das wir 
den Leib nennen, wie ein Tisch, auf dem das Salzfässlein fehlt, 
sagt Plautus, ein kalter starrer Leichnam. Das ist's, an dem 
entseelten Leichnam werden wir gewahr, was wir an dem ge- 
wöhnlichen Leben haben, der Tod bringt die Enttäuschung ; wenn 
der Leib ein richtiges Leben wäre, so könnte niemals jenes über* 
irdische, grauenvolle, verhüllte Wesen daraus werden, das wir 
eine Leiche nennen. Ja, was heisst denn das eigentlich: eine 
Leiche? Was ist denn der Unterschied zwischen dem Leibe 
und der Leiche? 

Leiche ist von Haus aus so ziemlich dasselbe wie Leib und 
nicht notwendig etwas Totes. Es ist ein allgemeiner Ausdruck 
für die äussere Erscheinung und die G-estalt eines Menschen, was 
wir mit einem sehr edlen und schönen alten Begriffe: ein Mann»' 
bild oder ein Weibsbild nennen. Jedermann hat eine LeicJiCf be- 



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a 



Einleitung. 



reits bei Lebzeiten: stimmt unsere Leicht mit der Lmhe eines 
anderen überein, so sind wir dem anderen g4eich, will sagen; 

kon-fonn. Besitzt ein Individuum die Leiche eines Mannes, so 
ist es wä/m-/«e/i, engliacli : m ni-Hke^ das heisst: einem Manne «äw- 
lich. Das Wort bildet eins der wichtigsten, lebendigsten Form- 
elemente unserer Sprache. Und weil im Tode vom Menschen nur 
die äussere Erscheinung wie ein Wacbsbihl übrig bleibt^ deshalb 
hat man das Wort Leiche auf den Kadaver eingeschränkt 

Besagte Leiche hielt also nicht Stieb, das Wachsbild lag 
stumm und unbeweglich da wie ein Geheimnis ; deshalb klammerte 
man sich an die Seele. AV'enu die Christen, wenn sogar die 
alten Heiden das Paradoxon wagten und nacli dem Tode 
noch leben wollten, so war es, dass sie den Begriff einer Seele 
hegten, die unverwüstlich war. Die Seele überlebte das Leben, 
das unerbittlich hinschwand und zerstob. Die Seele war das 
posthume Töchterlein, das den Sterblichen nach dem Tode ge- 
boren ward — mochte ihr Leben viel oder wenig wert sein, 
einerlei : sie lebte. Die Griechen Homers beklagen sich über das 
freudlose, schattenhafte Leben, das sie im Hades iiihreu: sie 
nennen es ein Scheinleben und einen Zustand, schlechter als 
Armut und Proletariat. Plato schätzt die endliche Freiheit der 
Seele über alles und malt ihre Seligkeit, ihre überirdische Herr- 
lichkeit in glanzenden Farben aus. Nun, man sagt, dass der 
Tod alles gleich mache; dass ein armer Dorfgeistlicher und der 
heilige Vater in Rom unter der Erde den gleichen Raum ein- 
uelimen. So p;leicht aueh das Leben, wenn es nur überhaupt 
noch fortglimmt, alle Rangunterschiede aus, und Achill, der mit 
einem Handarbeiter in Thessalien tauschen möchte, ist doch selbst 
nur ein armer Mann, der es nicht so gut hat wie ein reicher 
und der ihn darum beneidet, der aber immerhin das Dasein und 
das allgemeine Glückslos mit ihm teilt. Der König lebt, der 
Bettler lebt, das hätte der kluge Odysseus dem ewig unzufriedenen 
Helden im .lunseits erwidern dürfen! — Odyssee XI, 491. Du bist 
freilich vom Pferd auf den Esel gekommen, lieber Achilles, und 
hast auch keine Aussicht, dass sich deine Verhältnisse wieder 
bessern werden. Aber du existierst doch noch, du sprichst mit 



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bj Leib und Seele. 9" 



mir, du hast deine alten Freunde, den Patroklua und den Anti- 
lochus um dich, und wenn dir nichts geblieben ist^ so doch 
wenigstens ein Ding, das deine Persönlichkeit fortsetzt uad dir 
ein ewiges Leben garantiert! — 

Aber, o weh, wie wird mir denn! Ist denn dieses Ding, das^ 
jetzt Achilles heisst, nicht ganz dasselbe wie der weiland mit 
Pomp bestattete und den Flammen Ubergehene Pelide? — £is 
sieht manchmal so aus, als ob die 3eele nur die alte, beiseite* 
gestellte Raketenkiste wieder und etwas recht Materielles, recht 
Körperliches wäre, das sich mit der geliebten Leiblichkeit in der 
verwegensten Bedeutung dieses Wortes deckte ; wenigstens mit 
einer Gegend des Leibes ist sie dann und wann identisch. Wir 
erwähnten vorhin, dass die Florentinerinnen ihre Taille samt dem. 
besagte Taille umschliessenden Leibchen .als ihre Vita zu bezeich-< 
]|en lieben. Die deutschen Frauen haben dagegen einen Sedett-- 
wämier. Eine wollene, gestrickte Weste, die eben auch weiter 
nichts ist als ein Leihchen, mit der sie sich die Seele warm halten 
wie den Puls mit dem Pulswärmer. Sie könnten ebenso gut:. 
Bauchwärmer oder Magenwärmer, wie Seelenwärmer sagen; sie 
spreclien ja in Leipzig auch von Seelemniraem, nämlich von» 
Dreilingen. Es ist eigentlich ein russisches Kleidungsstück, das. 
enganschliessende grasgrüne, mit weissem Hasenfell gefütterte 
Wams der Russinnen, die sogenannte Diuehagreika, SeeUnwärmr- 
ml die wörtliche Übersetzuug von Duschagreika. 

Leib und Seele fallen, so scheint es, in der Volksps} ciiologie 
zusammen — mit der ganzen Person deckt sich die Seele, zumal 
im kirchlichen Sprach ijebrauche. So lange noch der Geistlichkeit 
die Beurkundung des Personenstandes oblag, wurde kein Standes- 
register, sondern ein Seelenregister gefuhrt, wie es in Italien 
heisst: h Stato d*Anime gemacht. Der Seelsorger zählte seine- 
Seelen, wie der Gemeindevorstarul die Rekruttu , dieser Gebrauch 
klingt noch in der heutigen Statistik nach. Wie viele Seelen 
hat ein Kirchspiel? Zwanzigtausend? — Das sind ihrer ja soviel,, 
wie Odysseus im Hades oder Dante im Paradiese trifft I Hu,. 
Über den grossen Kirchhof, auf dem wir versammelt sind ! Wären, 
wir denn wirklich alle tot, wie Sokrates vermutet? Aber die- 



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10 



Einleitung. 



43e6l6 sollte doch etwas ganz Eigenartiges, ganz UnrergleichlicheSy 
ünkörperliches sein! — 

Davon ist nacli dem Tode vollends keine Rede; die ent- 
flohene Seele scheint nun erst recht in demselben Leibe aufzu- 
gehen, von dem sie geschieden ist. Und zwar niclit etwa so, 
•dass sie wie eine nachgelassene Tochter oder Witwe den Ver- 
etorbenen fortan in der Welt verträte und seinen Namen erbte. 
Nein, die Seele ist jetzt kurz und gut die Leiche, wie sie vorher 
4er Leib gewesen ist. Die Leiche, die einst unter den Lebenden 
wandelte und nun ausf^estreckt auf der Totenbahre liegt, sie wu J 
in der Vorstellung des Volks zur Seele. Für sie wird in Bayern 
der St'elnapf, in Russland ein Teller mit Milchreis hingestellt — 
für sie das SedgeräJt geschafft — für sie das Seelmahl oder der 
Leichenschmaus gegeben. Was sind denn die Seelen anders als 
-die Toten? — Ob man Totenamt oder SeeUnnmse^ SeelenkidiuB 
oAer Tctenkultu8 sagt, läuft doch auf eins hinaus. Die Katholische 
Kirche feiert am 2. November Allerseelen. Die Protestanten haben 
•einen Toteiusufutt'u/. Also die Kirche macht selbst keinen Unter- 
«chied. Wäre das etwa nur eine nachlässige Ausdrucksweise? 
Sollten die Toten p:enannt, aber die Seelen gemeint werden, und 
umgekehrt? — Was das Volk betrifft^ gewiss nicht; fiLr das 
Volk geht das eine rein und ohne Best im andern auf. Wie 
will man es denn erklären, dass eine Leichenwäscherin in München: 
eine Seelschwester und eine Beghine, die sich der Krankenpflege 
widmet, in Greifswald: ein >^eelenweih lieisst? Etwa, dass die 
Leichenfrau für die Seele zu beten, die Krankenwärteriu in der 
Sterbestunde die Seelalocke zu ziehen hat? — Das Beinhäuslein, 

_ • • • 

4as in Bayern und Osterreich an so viele ländliche Kirchen an- 
stdsst, führt insgemein den Namen des Seelhäusleim, Dass auch 
hier nur für die armen Seelen Fürbitte gethan wird, um sie aus 

•dem Fegefeuer, das nach der ehrwürdigen Marina von Escobar 
an fünfzig Jahre dauert, zu erlösen? — Die Gelehrten machen 
freilich so feine Distinktionen. Das Volk denkt nicht daran. 
In seiner Vorstellung fliessen Leichen und Seelen überhaupt 
-vollständig ineinander. 

Der landläufigen Auffassung nach tragen alle Seelen die 



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b) Leib und Seele. 



11 



Leiche der VerstorbeBen, in dem obenerwähnten Sinne 
dieses Wortes. Sie haben ganz die Gestalt und das Aussehen 
der Verstorbenen, sei es wie sie im Tode, sei es wie sie im Leben 

gewesen sind — hier diese Hände gleichen sich nicht mehr, sagt 
Horatio zum Prinzen Hamlet. Sie sind nur wieder aufgestanden. 
Wickele eine Leiche ins Totenhemd und lass sie durchs Zimmer 
gehen, so hast du die Weisse Frau — setze eine Leiche auf ein 
Pferd, das eine Leiche ist, so reitet der gespenstische Wilde Jäger, 
So oft noch Geister gerufen, gesehen, gemalt, geschildert worden 
sind, haben sie noch immer die Larve der Toten aufgesetzt. 
Nichts Neues. Vor Casars Ermordung haben sich in Rom, man 
weiss es ans der ersten Scene des für solche Dinge massgebenden 
Hamlet, die Gräber aufgethan : the sheded dead did .^queak and 
gihher m t/ie Roman streets. Dasselbe gescliah nach dem Evan- 
gelium (Uatthäi XXV II, 52) beim Tode des Erlösers in Jerusalem: 
und standen auf viele Leiber der Heiligen, die da schliefen, und 
gingen aus den Gi^bern nach seiner Auferstehung, und kamen 
in die heilige Stadt, und erschienen vielen. Calpurnia redet in 
Shakespeares Julius Cilsar von denselben Erscheinungen ; sie 
spricht von Geistern. A}id ;f/iosta did s/triek and squeal about t/ie 
streets. Man beachte die eigentümlichen quiekenden, kreischenden, 
zwitschernden, wimmernden Laute, die Shakespeare den Seelen 
zuschreibt; es sind dieselben, die Homer mit dem Schwirren der 
Fledermäuse vergleicht und als t^i^etv bezeichnet, und die in der 
Mnsik herkömmlich durch die leise, lispelnde, seufzende Stimme 
der Geistererscheinungen, die Deklamation in enger Toiilaf^e und 
das Tremolo des Streichorchesters wiedergegeben werden. Aber 
die Hauptsache : was hindert uns zu thun wie Calpurnia und aus 
den umgehenden Toten, den Leibern, die da schliefen und aus den 
Gräbern schlüpften, kurzweg Geister oder Seelen zu machen? — 
Die Auferstandenen sind Seelen. Die Seelen sind lebendige Tote. 

Da haben wir die Bescherung. Es scheint, wir finden uns 
trotz unserer Ariadne aus dem Labyrinthe nicht heraus! — Das 
scheint doch abermals ein krasser Widerspruch und dasselbe 
Abrakadabra wie die Grabschrii't in der holsteinischen Kirche, 
Liebe Seele, du kommst in so fragwürdiger Gestalt! — Das 

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12 



Einleitung. 



berühmte Lebensprinzip, das Leben unseres Lebens eine aufge- 
putzte Leiche; unser unsterbliches Teil eins mit dem, was eben 
gestorben ist. Oder wenigstens sehr ähnlich, täuschend ähnlich. 

Eine lebendige Leiche, sollte man denken, müsste der vorige 
Mensch wieder sein — Lazarus, der stinkende Lazarus, der alte 
Freund Lazarus wäre wieder da — keine Seele, die ein ganz 
anderes Leben vorstellt als der begrabene und abgethane Leib* 
Dessen Leben erlosch. 

Der Teufel meint, ein vollkommener Widerspruch bleibe 

j^leich geheimnisvoll für Khige wie für Thoren. Indessen alle 
Widersprüche sind da um gelöst zu werden; denn niemand widir- 
spricht sich. Niemand will sich widersprechen. Aufgabe der 
Wissenschaft ist es, die Gegensätze zu versöhnen und eine Brücke 
über die Abgründe der Vernunft zu schlagen. Auch die Seelen 
haben eine Brücke gebraucht, um ans Ufer der anderen Welt 
zn gelangen — sie sind nicht so ohne weiteres, mit einem Salto 
mortale aus dem Tod ins Leben hineingesprungen ; sie ziehen 
wie auf der Tshinvatbrücke, über die nach der heiligen Sage des 
Zendvolks alle Toten gehen, oder wie die Mohamuiedaner über 
die Brücke Sir;it, die feiner als ein Haar und schärfer ist als 
ein Schwert. Wollen wir ihnen mit der Schnelligkeit des Blitzes 
folgen und die Phasen beleuchten, die sie auf ihrer Beise dar* 
bieten wie der Mond? — Zunächst müssen wir Brückengeld 
bezahlen. 

c) Das Atmangstierchen. 

Der Brüc.'kenpfennig ist f'iiie richtige Etymologie — Plautus uud Gustav 
Freytag — die Zusarameiibtellung mit See genügt nicht — vielmehr sind 
alle Worte fQr Seele aof die Laft und »af den Mechanismus der an 
einen Blasebalg erinnernden Bewegungen zurückzufahren, die man als £in> 
nnd Ausatmung bezeichnet — das Organ zur Luftalmung ist die Seele, sie 
ist das Atmungstierchen — das Volk schiebt der unbekannten Funktion ein 
eigenes Wesen als Ursache unter — erst von hier aus gelangt es zu dem 
Begriffe einer See, indem diese mit einer Seele verglichen wird — die Atem- 
züge der Natur, der Mensch ist das Hass dw Dinge — die Regelmässigkeit 
der Bewegungen giebt den Ausschlag — wie die Seele zur See, so verhSlt 

sich der Geist zum Geiser» 



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c) Das Atmungstierchen. 



18 



WaB heisst Seele? — das ist die IVage, die an der 
Brücke an uns ergeht. Wenn wir nicht richtig antworten, so 

dürfen wir nicht passieren. Der Erzengel Michael, der in der 
Brücken wage sitzt, lässt uns nicht liinüber, bis wir gesagt haben, 
was die Seele eigentlich ist. Während wir noch nachdenken, 
flattern zwei gute Seelen, zwei Lustspieldichter auf um zu, ein 
römischer und ein deutscher. Beide wollen uns helfen. Der alte 
Piautas raunt uns zu: ScMLuml Sidülum animae! Greife in das 
8ahfa89t Die Seele ist wie das Sahffüsslein, das mitten auf 
deinem TiscJte steht! — Gustav Freytag dagegen bestürmt uns 
.mit der See. Die Seele ist die See! Die Hälfte, die Hälfte! Bd 
-dem Worte Seele sah der fJeutsehe eine wogende See vor sich! Die 
unablässig arbeitende Gewalt seines Innern verglich er mit der Ve- 
wegten See! Auf die Düne von Westerland^ lieber Detase/ter! In 
^em Strandkorbe wirst du siegen! — Aber der Engel ist nicht 
dtunit zufrieden, er beut uns die Spitze seines Schwertes. Wir 
siegen noch nicht. 

Koch einmal dran! Eine bessere Etymologie! — Nun, warum 
nehmen wir nicht einmal einen andern lehrreichen Begriff, zum 
Beispiel den des Geistes? Und warum sehen wir uns nicht ein 
bisschen in den andern Sprachen um? Es giebt ja so viele 
Worte für Seele! Wozu haben wir studiert? Sollte uns die Ge* 
labrtheit nicht auf den Trichter helfen? — 

Sie thut es auch. Sowohl die griechischen als auch die 
lateinischen, sowolil die indischen als auch die indianischen, die 
hebräisclien, tlie arabischen, die russischen Ausdrücke für Seele 
«ind ja absolut durchsichtig. Sie bedeuten durchgängig die 
Xiebenslttft, den Atem und den Hauch. Der Philosoph Schopen* 
hauer hatte einen Hund^ einen allerliebsten schwarzen King 
Oharies mit lohfarbenen Abzeichen, seinen einzigen Freund. Er 
meinte, mün finde bei den Hunden den Verstand der Menschen, 
aber nicht ihre Falschheit wieder. Diesen Hund nannte er Atma, 
was ein Sanskritwort ist und die \\ eltseele bedeutet (Atm(fn). 
Man kennt das Wort von den theosophischen Schriften her, in 
denen es häufig Torkommt; die Theosophie ist die Atma-Vidjaj 
die Wissenschaft der Seele, die Theosophen selbst nennen sich: 



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14 



Einleitung. 



Mahatmas, grosse Seelen. Zunächst bedeutet es nicht Woltseele, 
sondern Überhaupt Seele ; und zuallererst bedeutet es den Atem. 
Es ist eins mit unserem Atem. Aus dem Lebensodem haben die 
alten Inder den Begriff des Lebens gewonnen, dem dann ein 
eigenes Wesen als Lebensgrund untergeschoben ward: das Atmen 
erscheint ja als das vornehmste Symptom des Lebens, mit dem 
Atem entweicht das Leben, wie es mit dem purpurnen Blut 
dahinströmt« atmen ist soviel wie leben. Und so geht es in allen 
Sprachen: alle pflegen sie von dem lebendigen, uns bei der 
Schöpfung eingeblasenen Odem ein Atmungstierchen herzuleiten, 
das den Leib bewohnt wie ein Schmarotzer und wohnen bleibt, 
bis es am Ende wieder auszieht. Ein Lüftchen belebt uns und 
beseelt uns ; regt es sich nicht mehr, so sind wir entseelt. Atem, 
Leben, Wind und Seele, diese Begriffe tauscheu sich in der Sprache 
gegeneinander aus. 

Wer sähe nicht, dass die griechische Psyche nach dem 
xpvyHv, dem Hauchen oder Blasen, das Hagion Fneuma nach dem 
Ttvelv benannt ist ? Dass der Spiritus in der Retipiration, der Eaj- 
sjyiration und Inspiration besteht? Dass das lateinische Auhnas 
mit dem griechischen "Jvefxog, Wind, zusammenhängt, wie tfvfiog 
mit Fiimus? — Denselben Sinn hat das hebräische Rudia^ das 
arabische Nefs und das russische Buscha^ alles zugleich Wind- und 
Seelenworte. So oft die Menschen auf ihre Seele zu sprechen 
kommen, zieht's. Von Tornherein lässt sich also vermuten, dass 
auch unser Seele von jenem eigentümlichen Luftzug, der Atmung 
hergenommen sein möge. Und so ist es auch. Seek lautete alt- 
hochdeutsch: SeiUa oder Seicla, gotisch: Saiicafai das voraus- 
zusetzende Femininum Saiwcdö aber wird etwa soviel wie eine 
Pfeife oder eine Flöte gewesen sein. Es ist genau so gebildet 
wie das lateinische SibUm^ womit das Pfeifen von Menschen, 
Schlangen und Instrumenten bezeichnet wird; das Charakteristische 
daran der Zischlaut. Das «S, das ebensowohl das Einsaugen wie 
das Ausstossen der Luft zu malen berufen ist. Hiermit gelangen 
wir aut die leichteste Weise von der Welt zu unserem Ziele. 
Das Verbum sibilare bedeutet pfeifen und zischen; eine Neben- 
form von sibUare ist: tubuläre. Für sibilare konnte auch: sifilare 



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15. 



gesagt werden; für nthidare: mfulare. Die letztere Form lebt im 

französischen soitß'ler, wie sijllare in dffler fort; man hat nicht 
nur nicht nötig, es ist aucli einfältig, zur Erklärung von sonffler- 
ein Kompositum subflare herbeizuziehen. SouffUr ist blasen^ 
Soufflet ein Blasebalg; ein solcher wird gleichsam als ein Pfeifer, 
ein Plötenspieler, ein Subuh gedacht. Er bläst wie der Mensch^ 
selbst bläst, der den Blasebalg regiert. Wir haben einen kleinen 
Blasebalg in unserem Inneren. Es ist unsere Seele. 

Das wäre nun wohl angängig, den Begriff der See auf de» 
der Seele zurückzuführen ; nur ungekehrt ist die Etymologie vom 
Übel, lieber Gustav J?'reytag. Die See, gotisch: Saiws könnte 
mit den ebenentdeckten Naturlauten allerdings zusammenhängen. 
Ob Luft oder ob Wasser eingezogen und ausgestossen wird, 
bleibt sich, was den Mechanismus der Bewegung anlangt, völlig* 
gleich; daher sagt man auch im Orient: Raneh trinken und bei 
uns: J^uj'f f'rMiieken; seufzen neben smifen. Nun, Neptun zieht 
beständig Wasser ein und giebt es wieder von sich. Das Meer- 
wasser ist in fortdauernder Bewegung; es hat nicht nur seine 
tägliche Periode der Gezeiten, sondern auch seine Brandung» 
vermöge deren die Wogen an der Küste auf- und niederrauschen, 
was auf ein empfängliches Gemüt unfehlbar den Eindruck eine» 
mächtigen Lebens macht. Ein erhabenes, unendliches Wesen 
wälzt bicli iim Strande hin und her, in seinem Innern schlägt es 
wie ein Her/, donnernd schlürft und gurgelt es. Das scheint in 
regelmässigen Pausen zu atmen wie ein Mensch: der Wellen- 
schlag ist gleichsam eine kontinuierliche, Ebbe und Flut eine 
periodische Atembewegung. Warum hätte der Germane den 
Katurlaut, den er für die letztere gefunden hatte, nicht auf die 
grosse Bewegung dort unten anwenden sollen? • — Der Stamm> 
eignete sich ebensogut dazu, die gewaltige Respiration des Meer- 
gottes, wie den Zorn eines reissenden Tieres zu malen, das die 
Kömer saevm nannten, weil es schäumte und den Geifer von Zeit 
zu Zeit wie eine Saugpumpe aufzog. Nur wird man nicht die- 
See gebraucht haben, um die unablässig arbeitende Gewalt des 
eigenen Inneren zu begreifen — bei Yergleiclien der grossen und. 
der kleinen Welt empfiehlt es sich gewöhnlich von der letzteren^ 



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1f) 



Einloitun^. 



«Is der unmittelbar bekaunten auszugehen. Nicht vom Winde 

hat der Mensch gelernt, den eigenen Odem zu bezeichnen, sondern 
dem Winde leiht er die eigenen Pausbacken. Und zweitens ist 
es nicht das rastlose Wogen im allgemeinen, was der Gote mit 
4em Worte Salws treffen wollte; sondern das gleichmässige Auf- 
itnd Niedergehen des Elementes, das sich wie eine Brust im 
Takte hob und senkte. Das Hauptgewicht ist auf den regel- 
mässigen Wechsel Ton Ebbe und Flut zu legen^ der eben an 
eine Ein- und Ausatmung erinnert, diese Regelmässigkeit der 
eigentliche Vergleicliungspunkt. Nur die Atembevvegung und ihre 
zwiefache, entgegengesetzte Kichtung kommt in Betracht, und 
das Atmen besorgt eben in erster Linie die Seele. 

Stehen nicht zwei andere Begriffe in einem analogen Ver- 
hältnis wie die Seele und die See? — Das sind die Begriffe des 
Oeistes und des Geisers. Hinter Geist scheint sich ebenfalls ein 
Naturlaut zu verbergen, den man in dem altnordischen gern' zu 
finden geglaubt hat. Dieses Zeitwort bedeutet sprudeln, der 
Name Geiser oder Gei/sir, Sprudel, ist davon abgeleitet. Der 
Karls!) ader Sprudel wäre demnach ein Geiser. Indessen zwischen 
«inem Sprudel und einem Geiser ist ein wichtiger Unterschied, 
nur dieser, nicht jener ein Bild des Geistes, wenn auch der Witz 
bisweilen sprudelt. Der Karlsbader Sprudel springt stossweise, 
aber un iufhörlich in Mannsdicke einen 'Meter hoch empor. Unter 
eijiLiü <ji eiser versteht man dagegen eine periodische Springquelle: 
die Auslnüche des grossen isländischen Geisers wiederholen sich 
bekanntlich in regelmässigen Zwischenräumen von anderthalb 
Stünden; aller vierundz wanzig Stunden erfolgt ein grosser Aus- 
bruch, donnernd steigt ein mächtiger Wasserstrahl turmhoch 
himmelan, dann fällt die prachtTolle Erscheinung wieder in sich 1 
zusammen. So dass auch hier wieder, wie bei den Schwankungen j 
des Meeresspiegels, jener Wechsel und jene rückläufige Bewegung 
statt hat, die eben für die Atmung das Charakteristische, bei 
ihr zuallererst beobachtet und erst dann auf die betreifenden 
'Naturerscheinungen Übertragen worden ist. Der Geiser thut j 
gleichsam aller 90 Minuten einen Atemzug; einmal am Tage < 
holt er recht tief, mit ganzer Kraft Atem, als ob er seiner Ge- ' 



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c) Das Atmungstierchen. 



17 



smidheit lebte. Dadarch koinmefi wir m eittem GeUer, Erst der 

Geist, der wie die Seele zunächst den menschlichen Atem be- 
deutet; dann der Geiser. Niemals würili' der Älensch die Atem- 
züge der Natur verstainieo und für ihr Leben einen Ausdruck 
gefunden haben, wenn er nicht an seiner Brust ein Modell ge- 
habt und von dem eigenen Heben und Senken auf das Steigen 
und Fallen der Wasserfläche hätte Bcbliessen können; er lieh der 
Welt seine Seele wie ein indischer Theoeoph, er lieh sie sogar 
den Bäumen. Bleiben wir bei der -Seele, dem fleissigen Atmungs- 
tierchen, das mit dieser Rolle debütiert, aber allmählich auch 
die eines Denkor<^ans übernimmt und in dieser Eigenschaft ge- 
legentlich heraus und bis vor die Thüre kommt. 

d) Die Seele als MauSt Geistesabwesenheit unter dem Bilde 
eines entsehlüpfenden Köhleniiers. 

Oestalt, die das Atmunf^stierchen anniiruiit — es rmisa ein Ding sein, 
das tief im Innern sirrkt — ein Eingeweide^ eine Kiiintribcl iiiart t/erin — 
nach unseren ßegritien wäre die Seele* die Lunge gewesen, aber iu der 
Vorzeit wusste man noch nichts von einem Organismus — der Körper steckte 
vielmehr voller Tiere und Geister, die ausfahren konnten — im Schlaf war 
<iie Seele weg — im Traum kam sie aus ihrem Versteck hervor wie eine 
Schlange, eine £idechse, ein Wiesel, eine Kaus, eine Haselmaus — sie kroch 
dann in anderen. Löchern herum und endlich wieder in die Hundh5ble surfick 
— dw Traum des heiligen Guntram, eine yerchrisUi<diung der Siegfriedsage 
— die abwesende Seele und die abwesende Gebärmutter. 

I warum nicht gar, ein Mäuschen? Auf das Weitnieer ein 
SO verächtliches kleines Tier? l^arturiunt montea^ naacetur rüUcultts 
muaf Welche Gestaltung! Welche Phase! — 

Haben wir denn nicht schon das Atmungstierchen. Wir 
müssen uns jetzt, da es mit der See und dem rastlosen Wogen 
liichts ist, ein wenig tiefer mit diesem interessanten Schmarotzer 
einlassen. Zur Annahme eines solchen wurde eine vorsiindilut- 
licbe Spekulation gewaltsam hingetrieben. Das Lüftchen, das 
zum Munde ein- und ausging, wehte doch nicht von selbst; es 
war offenbar nur der Odem und das Verlauten eines eigenen 
IjebewesenSy das im Hintergründe weilte. In Bothenburg hoch 

KleiBpaal, Di« L«lwiaic*ii vnd die INiten. 2 



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18 



Emleitttog. 



ob der Tauber, in dem Thorweg unter der Hauptpfarrkirche zu 
Sankt Jakob^ sieht man die Seele eines Bauern oben am Bogen 
kleben. Der Earsthans fuhr an einem Feiertage durch den 
Thorweg und stiess einen gotteslästerlichen Fluch aus — flugs 
wischte der Teufel zum Fensterchen herein und nahm ihn beim 
Schlafittchen. Er schmiss den Frevler an die Mauer, dass er 
zerbrach wie ein rohes Ei. Die Schale fiel herunter, das Dotter 
haftete — es war gelb und sohwarzfleckij» : der braune dunkle 
Fleck dort oben an der Wölbung, das ist die Seele des alten 
Sünders. Hier hat man ein Stückchen Volkspsychologie; so 
diSnket es den Bothenburgem hoch ob der Tauber um die Seele. 

So dünkte es dem sechzehnten Jahrhundert um die Seele 
des Doktor Faust, mit dem der Teufel genau so verfahren war 
und den er bald hier, bald dort an die Wand geschleudert haben 
sollte, dass man noch einen grossen, unvertilgbaren Blutflecken 
oder einen hängen gebliebenen Spritz von seinem Gehirne sab ; 
SO dünkte es den Naturvölkern überall. Die Seele musste 
ein Ding sein, das tief im Innern steckte, unsichtbar wie eine 
Schnecke in ihrem Häuslein oder wie eine Maus in ihrem Loche. 
Alle Spuren, die wir von dieser kleinen Verbrecherin finden, 
weisen darauf hin, dass sie sich mitten im Lcil r ;uif und hier 
verborgen hält; dass sie eine Art Eingeweide abgiebt. Der 
Begrifi' Eingeweide passt nicht, weil die Naturvölker noch gar 
nichts von Eingeweiden wissen und sich die inneren Organe, wenn 
sie etwas davon spüren^ als eigene kleine selbständige Wesen 
denken; nach volkstümlicher Auffassung ist die Seele vielmehr 
eine Binnenschmarotzerin. Wir würden ja heutzutage gar nicht 
in Zweifel sein, wie wir die Seele anzusprechen hätten. Im 
gegenwärli'jen Stande der Naturforschung wird das Gtliirn als 
Organ der Öeelenthätigkeit angesehen — es hat in dieser Eigen* 
Schaft das Herz abgelöst, das Mcnenius Agrippa in seiner be- 
kannten Fabel den Gelteimenrat betitelt und das noch Hippokratea 
als den Sitz des Mutes, der Liebe und des Denkens bezeichnete. 
Das Herz ist heute noch populärer als das Hirn, und ob wir 
jemand etwas ans Hu: legen oder ob wir's ihm wie einen Gebet- 4 
riemen, so dass es nicht herunterfallen kann, auf die Seele Omden, 



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d) Die Seele ais H.aus. 



19 



läuft ziemlich auf eins binatts. Neben dem Herzen figuriert auch 
noch die Leber als Sitz der Liebe , des Zornes nnd anderer 

LeidenschafteO; Plato macht sie in seinem Timäus sugai zum 
Organe der Weissagung. Wenn aber die Atmung in Betracht 
kommt, so wäre die Seele offenbar die Lunge, das sieht doch 
Lehmann! — Aber was hat eine hahnebüchene Anatomie der 
Vorzeit mit Lunge, Herz und Gehirn zu schaffen! Diese war 
überhaupt noch nicht einmal za der Yorstellong eines geschlossenen, 
ans sich und in sich selbst lebenden Leibes durchgedrungen. 
Sondern die Vorwelt gefiel sich, und zwar keineswegs bloss alle- 
gorisch, eine ganze Menagerie von Schmarotzern in den Menschen 
hineinzupferclien und nicht bloss die Glieder einzeln zu personi- 
fizieren, sondern auch alle seine inneren Zustände, Kräfte und 
Unkräfte auf selbständige Lebewesen zu schieben, die den Körper 
bewohnten und nach Oefiallen wiederrerlassen konnten. Es war 
ein Unterschied zwischen diesen Wohntieren, einzelne überfielen 
den Organismus nur dann und wann und verschwanden dann 
wieder ohne bestimmte Regel — dazu gehörten zum Beispiel die 
Krankheiten, die man als Würmer, die Launeu, die man als 
Grillen, die Leibschmerzen, die man als Plagegeister, die Epilepsie, 
die man als Besessenheit ansah; der Dämonen, die den Menschen 
▼orttbergehend in Besitz nehmen konnten, gab es eine ungeheure 
Menge. Andere waren Stammgäste, die ihren Wirt nur ausnahms- 
weise yerliessen, ohne doch an ihn gebunden zu sein und ohn» 
ihrer Freiheit völlig zu entsagen. Zu ihnen gehörten z. B. die 
Muskeln, die man sich als kleine, unter der Haut hinlaufende 
Mäuse dachte und die wir heute noch so nennen — das Mäuschen, 
die Stelle am Ellbogen, wo der Ellbogennerv nahe der Haut 
ttber das Gelenk läuft — die Gebärmutter, die von Alters her 
für eine Mutter in der Mutter, besonders aber, in Alpengegenden, 
für eine im Körper des Weibes ansässige Kröte gehalten wird, 
die }){ stiindifj Fütter haben will und, wenn sie keins bek jiamt, 
unruhig und bissig wird und im Bauche herumrumort wie eine 
Wanderniere — und die Seele, die nun eben für das Atmen 
und das Leben selber eintrat. Die Seele, nur eine Nummer in 
der inneren Menagerie, aber die Hauptnummer. 

2» 



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20 



Einleitong. 



Was Plato im neunten Buche seiner Eepublik (588 c) als 
Seele beschreibt, ist nicht ein einzelnes Eingeweide, sondern ein 
ans sämtlichen Eingeweidetieren zusammengesetztes Monstrum^ 
eine komplette Schimäre^ die in der grossen SehimSre wie in 
einem Futterale drin steckt. Der natürliche Zweck der Seele 
geht dabei ganz verloreu. Zunächst ist die Seele ein einzelnes 
Organ, das Organ zur Luftatmung. Und dieses atmete für den 
Menschen. 

Nicht der Mensch, die Seele holte Atem; er lebte nicht 
selbst, es lebte etwas in ihm, und wenn ihm der Atem ausging, 
so ging thatsächlich etwas aus. Man glaubte nichts dass ein 
Organ seine Thätigkeit einstelle, sondern dass das Lebenstierchen 

den Körper verlassen habe und dass dieser infolgedessen tot sei. 
Es war nicht bloss ein Abschied vom Leben, sondern ein Abschied 
des Lebens selbst. 

Der Mensch glich einer hohlen Kngel, die brummend auf 
dem Tisch herumrollt, weil ein Käfer darin steckt — die Kugel 
ist nicht lebendig, sie scheint es nur. So war auch der Leib, 
das Leben nicht lebendig, es steckte nur ein Käfer darin, die 
Seele. In Florenz gehen sie am Himmelfabrtmorgen in die 
Cascinen; die Kinder suchen dann Feldgrillen und bringen in 
einein kleinen Bauer die sogenannten Grilli Canterini mit nach 
Hause. Sie werden wie Stubenvögel gehalten und mit Lust 
angehört So eine zirpende Grille ist auch ein gutes Bild für 
die Seele. 

Im Bauer eines Menschenleibes würde so ein Insekt yer- 

schwinden; Grillen haben wir gemeiniglich nur im Kopfe. Der 
menschliche Körper beherbergt ganz andere Gäste; er stellt, als 
Hülse des Atmungstierchens angesehen, ungefähr eine lange Röhre 
dar, die bis in die Lunge reicht und im Gesichte mündet, die 
Luftröhre. Es war natürlich sich .Torzustellen, dass die Seele 
diesen Kanal ausfülle wie einen JElintenlauf, dessen innere Bohrung 
bekanntlich Seele heisst; zum mindesten musste sie den Seelen- 
wänden folgen, wenn sie hinauswollte. Und das wollte sie in 
der That, bereits bei Lebzeiten, indem sie sich dann c^ewisser- 
massen teilte und in eine atmende und denkende Häiite schied j 



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d) 0i« Seele ab Heus. 



21 



denn frühe ist das Atmungstierchen zugleich als ein Denktieroben 
gedacht und wie Plates Schimäre mit einem Kopfe Teneben 
worden^ der allmählich als die Hauptsache erschien* Allnächtlich 
im Schlafe hört das Denken auf, nur die unbewussten und unwill- 
kürlichen Verrichtungen des Lebens, vorab die Atmung, vollziehen 
sich noch, das Bewusstsein ist weg; das heisst in der Sprache 
des Naturmenschen: die denkende Seele, die sich so schon fort- 
während vom Körper ablöst und in tiefer Betrachtung auf sich 
selbst zurückzieht) ist jetzt ganz abwesend und entflohen. Wir 
sprechen von einem Traum — der Traum war nach dieser naiven 
Auffassung mit einer Entzückung oder einer Ekstase gleich- 
bedeutend, im eigentlichen Sinne dieser "Worte: die Seele ward 
wirklich entzückt, entrückt und hingerissen, das Gredankentierchen 
trat tbatsächlich aus dem Leibe heraus, es verliess vorüber- 
gehend seine Wohnung, um ferne Länder zu besuchen und sich 
in anderen Gkgenden umzusehen, wie es auch hinwiederum von 
Freunden Besuche erhalten konnte. Des Dichters Auge, in 
schönem Wahnsinn rollend, blitzt auf zum Himmel, blitzt zur 
Erd hinab — ursprünglich flog der Dichter leibhaftig hin und 
her und seine Seele glich der des Sehers Aristeas: sie ging in 
seinem Körper wie zu einer oÖenen Pforte beliebig ein und aus, 
bis sie zuguterletzt als B&he abstrich. Macheu wir indessen keine 
Sprünge ; wir haben vorderhand nur eine ganz primitive Seelen- 
vorstellung, mit der wir rechnen müssen. 

Zum Fli^n ist die Seele in dieser Phase noch nicht ge^ 
schickt. Solange sie noch an den Leib gebunden ist und wieder 
in den Leib hmeiüniuss, tritt sie nur als ein Höhlentier auf, 
beschränkt auch ihre Forachungsreisen auf die Hohlen; Liicher 
und Höhlen sind ihr zum Aufenthalt angewiesen, dieweil sie 
hinieden vegetiert. Soll sie dabei ihre Bequemlichkeit haben, 
80 mnss sie ein dünnes, schmächtiges, langgestrecktes und lang- 
gescbwänztes Wesen sein, das leicht zum Munde heraus und auch 
wieder zum Munde hineingeht — es muss sich gleichsam heraus- 
schlängeln können wie eine Schlange. Eine Schlange hat wirklich 
viel Verwandtschaft mit einer Seele; sie versteckt sich wie eine 
Seele, wirft den Kopf vor wie eine Seele, zischt und pieiit wie 



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22 



Einleitung. 



eine Seele. Es giebt aber noch drei seblaogenähnlicbe Seelen- 

tiere, die in unserer Brust wie in einer tiefen Höhle wohnen und 
alle drei die Gewohnheit haben, zeitweilig aus ihrem Schlupf- 
winkel hervorzugucken und ihren Zufluchtsort zu verlassen, um 
auf Erden herumzustreifen, worauf sie sich wieder in ihrem Loch 
einstellen. Diese drei Tiere sind : die schlanke muntere Eidechse, 
die im Winter unter der Erde schläft — das ebenfalls lang- 
gestreckte Wiesel y das bald in bohlen Bäumen, bald in Stein- 
haufen, bald in altem Gemäuer nächtigt und in dem alle Nationen 
etwas Menschliches, zumeist etwas Weibliches, ein Fräulein, eine 
Gevatterin, ein Bräutchen entdecken — und das Tierchen, das 
ob seiner Anmut, Heimlichkeit und Stille in hervorragender Weise 
zu dem Vergleiche passt^ das jedermann kennt, das auch zufällig 
in seinem Ijoche singt und pfeift und ein auffallend langes Mäuse- 
scbwänzchen bat: die Maus, beziehentlich die Haselmaus, 
womit man den Siebenschläfer meint. Derselbe heisst so, weil 
er sieben Monate lang in tiefen Erdlöchern und hohlen Bäumen 
schläft. Die meisten Winterschläfer würden sich am Ende eignen. 

Ach, mitten im Gesänge sprang ein rotes Mäuschen ihr aus 
dem Munde, sagt Faust ganz erschrocken zu Mephistopheles, wie 
er in der Walpurgisnacht mit einer jungen Hexe getanzt hat. 
Ach! Während eines Mittagsschläfchens auf der Cote d'Or sprang 
dem heihgen Guntram, dem frommen Merowinger, seine gute ' 
Seele in Gestalt eines Mäuschens zum Mimdc heraus. Der König 
birschte eben in Burgund auf Hochwild — es war recht heiss; 
ermüdet sass er unter einer hundertjährigen Tanne am Kande 
eines Bächleins ab, frühstückte ein wenig, legte dann sein lockiges < 
Haupt einem treuen Untertbanen auf den Schoss und schlief ein. 
Er entschwebte, wie man dazumal sagte, er war weg ; er schlief 
mit offenem Munde. Da schlüpfte aus diesem seinem Munde ein 
Mäuschen hervor und bemühte sich über den Bach zu kommen. 
Diensteifrig zog der Knappe, der den König stützte und beob- 
achtete, sein Schwert und hielt es über das Wasser: das Tier- 
eben lief über die Klinge und verschwand in einer Felsenspalte. 
Nach einer Weile kam es wieder zum Vorschein und kehrte auf ^ 
demselben Wege in die königliche Mundhöhle zurück. Ah, sal 



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d) Die Seele als Haas. 



2S 



rief Guntram gähnend und sich die Augen reibend, ich habe da 
eben etwas erlebt! Mir träumte^ aU ginge ich auf eiserner Brücke 
über ein grosses Wasser urul fände einen jScJiotz wie die Meichtümer 
SalomosI Am Ende ffiebt*8 so was hier herum! — Man grab in der 
G^end nach und fand in einer Felsenhöhle wirklich einen nn- 
ermesslichen Schatz ans den Zeiten des Bomerreichs. Kostbare 
Gefässe, Säcke voll Silber und Gold, Seidenstoffe, Teppiche und 
Brokat, mit einem Worte einen vollständigen Nibelunj^enhort. 
Das meiste verwandte er zu Almosen und zu frommen Stiftungen 
in die Kirche des heiligen Marcellus in Chalon sur Saöno, seiner 
gewöhnlichen Residenz. Hier sah noch Paulus Biaconua, ein 
Zeitgenosse Karls des Grossen^ ein Ciboriumi das von dem Manse- 
loch herstammte. Vielleicht ist die Vermutung nicht allzukühn, 
dass die ganze, von dem genannten Geschichtschreiber und auch 
anderwärts mitgeteilte Legende nur eine Verchristlichung der 
Siegfriedsage darstellt; dass die Kirche den Nibelungenhort in 
einen Römorschatz, die Gnitaheide, auf der Fafnir den Schatz 
hütete, in die Cote d^Or, den Zwerg Kegin in den Schildknappen, 
das Schwert Gram in die eiserne Brücke und den Lindwurm in 
die Seele des heiligen Guntram verwandelt hat. Das ist näm- 
lich ein altes germanisches Motiv, dass die träumende Seele als 
Maus unter die Erde huscht; die Geschichte wird mit vielen Ab- 
änderungen, zum Beispiel auch von einem Landsknechte im Ge- 
folge des Erzbischofs von Keims erzählt. 

Wie es in den österreichischen Alpen feststeht, dass den 
Frauen gelegentlich ihre Kröte, will sagen : ihre Gebärmutter im 
Schlafe abhanden kommt, zum unteren Maul herauskriecht und 
zeitweilig untreu wird — sie nimmt etwa ein Bad, dessen sie 
eben bedarf, und findet sicli d inn ^^ekräftigt wieder an ihrem 
Posten ein. Es giebt eine ^ienge wäclisemer und eiserner Kröten 
mit kurzen gespreizten Beinen, die von unfruchtbaren und hyste- 
rischen Weibern der Gottesmutter geopfert worden sind, als 
VotiTbilder unter anderen wächsernen menschlichen Gliedmaasen 
an Wallfahrtsorten gehangen haben und noch hängen und sich 
jetzt vielfach in Sammlungen, z. B. im Museum zu Wiesbaden 
und im Bayrischen Isationaimuseum zu München linden. Der 



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24 



Einleitung. 



Untendued ist nur der, das« dieser Kröte ein reales Eingeweide 

eben die Gebärmutter entspricht, der Maus dagegen keines, weil 
die Seele in unserem abstrakten Sinne nur eine Fiktion und 
weder durch die Lunge, nucli durcb das Herz, noch durch das 
Gehirn zu ersetzen ist. Solche Kinder der Phantasie leben gleich- 
sam ein eigenes Leben; sie entwickeln sich und wachsen wie 
wiifcliche Geschöpfe. Und sie haben ihre Katurgeschichte wie 
wirkliche Tiere» das beweist eben unsere Seele, die nun nach- 
gerade etwas menschlicher wird und sich einem Engel nähert 
oder doch wenigstens einem hübschen Vogel, beziehentlich einem 
Buttervogei gleicht. 

e) Die Seele wird llfigge. 

Luthers Schreibfeder, der Traum Friedrichs des Weisen — im Tode 
wird die Seele herausgezogen — von einem himmlischen Gerichtsdiener, der 
ein Engel oder ein Teufel ist und die Geburtshilfe versteht — Beste der 
alten Seclenvorstellung — in frühen Zeiten weiss man von solchen Hanllanger- 
diensten nichts — Naturvölker stellen sich vielmehr vor, dass die »Seele den 
Körper freiwillipf verlasse und wie ein Vogel in die Luft aufsteige — dazu 
muss sie Flügel haben, die Hauptsache -— wie sie sonst beschaffen ist, ver- 
schlägt nicht viel, häufig wird ihr Rlenschengestalt erteilt — sie erscheint 
als geflügeltes Kind, als Engel — neben dem Encreltypus laufen noch andere * 
Mischgcstalten nebenher — oft ist die Seele auch ein reiner Vogel oder 
Schmetterling — die Schlacht bei Marathon, die Bunnenschlacht, die Mem- 
noniden — der Vogel, das beliehteste Sinnbild der Seele im Angenhlicke 
ihrer Emanzipation — der leere \ Og^ lbauer — die Flügel kommen der Seele 
nur in dem Angenbiicke zu, wo sie den Leib verlSatt^ niobt vorher und nicht 
nachher — die Vorstellung erstarrt und bleibt auch noch in Kraft» wenn 
die Sede bereits alt geworden und zu einem göttlichen Wesen heran- 
gewachsen ist — die Taube, der Hauptseelenvogel des Morgenlands, die Taube 
Semiramis — Gottvater und Gott der Heilige Geist, eine jfingere Phase neben 

einer älteren. 

Im Tode verliess das Atmun^stierclicn seine alte Wohnung 
tlct'iiui iv. Es wurde von den Tü(lt's( iii:t lu zum Mund herausge- 
zogen wie eine Heringsseele oder wie die abgestorbene Zotte 
einer J^'edor, die man die Federseele nennt« Friedrich der Weise 
soll einmal geträumt hahen, Luther hesitze eine ganz hesonders 
schöne, lange und harte Feder; er liess den Mönch fragen^ wo 



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e) Die Seele wird flügge. 



er dieses seltene Schreibzeug herliabe. Der Befonnator meinte^ 

die Feder wäre von einer alten hundertjährigen Gans und das- 
Geschenk eines Schulmeisters ; ihre Festigkeit aber rühre daher,, 
dass man ihr den Geist nicht nehmen oder herausziehen könnte, 
darüber er sich auch selbst verwunderte. Dieser Luthersche- 
Geist scheint viehnehr etwas von einer Menschenseele als to& 
einer E€der8eele gehabt zu haben ; die letztere ist nämlich selbst 
eine kleine Leiche^ eine Art Immortelle, die Ton der Papille ab- 
geschiedene und vertrocknete Haut. Die Feder des Reformators, 
aus der sich die Seele nicht herausziehen liess, wäre streng- 
genommen das Bild eines unsterblichen Manns gewesen. Für 
gewöhnlich wird die lebendige Seele aus dem Kiele, welcher tot 
ist, herausgezogen. 

Herausgezogen wie der Brief aus der Federspule, die a» 
der Schwanzfeder einer Brieftaube befestigt gewesen ist 

Das Abnehmen der Seele besorgen in der indischen Mytho- 
logie die Boten des Gottes Jama, des Gottes der Unterwelt; in 
der mohammedanischen trennt der Todesengel Asrael, den Hermine 
▼on Preuschen gemalt hat, die Seele von dem Körper. W&m 
der 2'od dem Gerechten nahet, heisst es in der . Sünna, kommen 
Engel fnü, einem schönen wetsseeidnen Tuche und eprechen: Zeuch aus,. 
0 reiner Geist! Der Herr zürnet dir nie/d. Und er zieht aus wie 
Moschusduft, Wenti aber der Böse sterben soUy dann kommen Flage- 
geister mit einem alku J^appen und rufen: Heraus mit dh\ unreiner- 
Geist I Komm hervor mit Graus, Der Herr ist gegen (lieh evqrumnt^ 
Und er zieht aus mit Aasgestank. Sobald aber der Hann begraben 
isti muss die Seele in den Leichnam zurückkehren, die beiden' 
schwarzen Engel, Mnnkir und Nekir kommen dann, richten dei^ 
Toten im Grabe in die Höhe und nehmen ihn in das erste Verhör^ 
um ihm vorläufig Seligkeit oder Verdammnis anzukündigen. Wie 
es im Christentume zugeht, ist von den italienischen Weltj^erichten. 
her bekannt. Auch hier sind die Engel und die Teiilel bei 
der Arbeit; die letzteren zerren den Gottlosen die verdammten 
Seelen mit Gewalt heraus. Auf einem alten deutschen Bilde 
der Kreuzigung Christi sieht man Über dem guten Schacher 
Dismas einen Engel schweben, der seine Seele wie einen Säug- 



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£ioleitung. 



ÜDg auf den Armen hält, während ein böser Dämon damit bei» 
-schäftigt ist, seinen Gesellen, den lästerlichen Gesmas zu ent- 

«eelen und ihn wie ein Geburtshelfer zu entbinden. Wirklich 
werden dabei die Seelen wie kleine Nackl'i oschchen, sagen wir: 
wie Kinder, ohne Angabe des Geschlechts, gedacht und gemalt; 
-oft läuft das EigUrchen unten wie eine Eidechse oder wie eine 
Haus in einen langen Schwanz aus, so fest haftete diese or- 
eprungliche, auf die Länge und Enge der Geburtswege gegründete 
Anschauung. 

Das ist jedoch eine sehr, sehr späte, in Polizeistaaten ge- 
machte Eriiiidung, dass die Seelen von himmlischen Schergen 
AUS den Leibern herausgezogen, wie Verbrecher vor Gericht ge- 
schleppt und hier abgeurteilt werden — in alten Zeiten weiss 
man Ton solchen Handlangerdiensten nichts. Natur?ölker stellen 
sich TOr, dass die Seele den Körper freiwillig yerlasse und wie 
-ein Vogel entfliehe — Mv nsq Xaßtfri fte xcrl exfpvyio v^ucig, 
wie der sterbende Sokrates zu seinen Schültni meint (Phadon 115c). 
Sokrates, der sein Leben lang auch ein Geburtshelfer und be- 
müht gewesen war, die Seelen mit der Geburtszange der Philo- 
sophie aus dem Körper herauszuziehen. Wie hätte die Seele 
ihre Fesseln nicht freudig abgeworfen! — Sie war ja ein luftiges 
Wesen, das Atmen ihre ursprüngliche» niemals auigegebene Be- 
schäftig uug — sie schnappte nach Luft wie ein Fisch nach 
Wasser und kehrte jubelnd wie eine Lerche in ihr Element zu- 
rück, sobald sie konnte. Solange sie noch Arrest hatte, durfte 
sie wohl einmal ein ötündchen im Gefängnishofe spazieren gehen, 
Aber nur ein Stündchen; sie musste immer wieder wie eine Maus 
in ihr Loch zurückkriechen. Jetzt war sie frei, und ihre Freiheit 
^renoBS sie im weiten Himmelsraum, selig und leicht aufsteigend. 

Dazu musste sie Flügel haben; das £[auptmerkmal in dieser 
neuen Phase ihres Lebens sind die Flügel. Die ehrwürdige 
Jtfarina Escobar, eine Spanierin, war die letzten dreissig Jahre 
ihres Lebens leidend und ans Bett geiesselt — da wuchsen ihr 
die Flügel; sie pÜegte zu sagen, ihre Seele gleicJte einem mit einem 
JPaden am Fu8$e angebundenen Vöglein: immer ßaUere sU im Ver- 
gangen nach dem ewigen GoU, In demselben Masse wie der Leib 



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e) Die Seele wird flügge. 



27 



hinsiecht; wird die .Seele flügge, das ist der Trost des griechischen 
Weisen, der sich seine Psyche als ein zartes Mädchen mit 

SchmetterÜDgsflügeln denkt. Mit Flügeln, mit Flügeln — wie 
die Seele sonst beschafl'en ist, verschlägt im Grunde wenig. 
Fliegen muss sie können. 

Häufig wird ihr allerdings MenscheDgestait erteilt. Es ist 
natürlich, dass die Seele Ton dem Augenblicke an, wo sie selb- 
ständig wird und die untergehende Persönlichkeit allein noch 
erhält und nach anssenhin vertritt, auch die Form derselben 
annimmt. Sie erscheint also ala gclliigeltes Kind, denn der neue 
Mensch, der jetzt gleichsam wiedergeboren wird, steckte ja im 
alten wie eine Frucht — diese jungen Seelen, die auf der ersten 
Stufe des anderen Lebens stehen, sind so wenig mit fertigen, 
ausgewachsenen Geistern zu verwechseln wie Säuglinge mit 
Männern. Als Engelchen erscheint sie — die Engel des Juden- 
tums sind solche neugeborene, befreite, ideale Seelen, wie sie 
von den Philosophen des Altertums ersehnt und geschildert 
werden, rein wie die Seelen, leicht wie die Seelen und kindlich 
wie die Seelen. 

Neben dem Engeltypus gehen noch andere Mischgestalten, 
menschenköpfige Vögel, vogelköpfige Menschen, Sirenen, Harpyieo, 
Genien nebenher; oft aber war die Seele auch ein reiner Vogel 
oder ein Schmetterling. Von vielen erbitterten Schlachten geht 

die Sage, dass nocli nach Beendigung des Kampfes in der Nacht 
von den Geistern der Erschlagenen fortgekämpft worden sei. 
Das geschah z. B. auf der Ebene von Marathon, wo des Stechens 
und Handgemenges, des Getöses, des Getümmels, des Pferde- 
gewiehers und -getrappeis gar kein Ende werden wollte — das war 
der Fall vor den Thoren Roms in der sogenannten Hunnenschlacht, 
wo die Geister der gefallenen Hunnen und Römer in den Lüften 
weiterstritten, als auf Erden schon alles still war. Man kennt 
Kaulbachs grossartige Komposition. Nun, wenn die Feinde in 
den Lüften aneinandergeraten, so kann man sie auch gleich in 
Vögel verwandeln, das ist ein fast unmerkbarer Fortschritt der 
Phantasie. Vermutlich der Sinn des Mythus von den Memno- 
niden, den Vögeln, die alljährlich, in zwei Heerhaufen geteilt, 



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28 



Einleitung. 



Über dem Grabe des homeriacben Helden kämpfeD und sich 
gegenseitig zerfleischen mnssten, bis sie tot herunterfielen. 

In unzähligen Fällen ist die Phantasie diesen Weg gegangen 
und der Vogel geradezu das beliebteste Sinnbild der Seele im 
Augenblicke ihrer Emanzipation geworden. Der Tod bestand 
darin, dass der Kanarienvogel fortflog — husch zum i'enster 
hinaus! Weg war er — ganz weg, über alle Berge war er — 
und der entseelte Leichnam sah ans wie ein leerer Vogelbauer, 
dessen Thürchen auf und dessen Freude und Schmuck dahin ist. 

Animula vac^ula, Llaudula, 
Hospes coniesque corporis, 
C^uae nunc abibis in loca 
Pallidala, rigida, nadnlft 
Keo, ut sole8| dabis jocos — 

80 dichtete der wassersüchtige Kmaesr Hadrian zu Bajä auf 
seinem Sterbebette, ganz so wie Röschen, das in dem kleinen 
Yogelhause einen Piepmatz hatte. Vogelbauer sieht man in den 

römiscben Katakomben des Öfteren abgebildet: sie sollten jeden- 
falls ein Symbol des Fleisches sein, in dessen Banden die Menscben- 
seele liegt, schwerlich ein wirkliches Gefängnis, etwa den Kerker 
eines Märtyrers darstellen. Das Bild passt insofern nicht, als 
der Seele die Flügel erst wachsen, wenn die Kerkermauem ein- 
stürzen, und den Pferden gleichen, die am Thore bereit stehen 
und den Verbrecher entführen, nachdem er der Haft entronnen 
ist. Solange der Gefangene noch brummt, nützt ihm der draussen 
haltende Wagen nichts. Die Seele schon im Leibe als Vogel 
denken, heisst eine l'liase antizipieren, zu der sie noch nicht 
taugt. Die Seele wird strenggenommen erst üügge, wenn der 
Käfig aufgeht. Das letztere aber ist eine uralte, ebensogut 
heidnische wie christliche Auffassung« 

Dabei konnte es nicht fehlen, dass man mit seinen Gedanken 
auf bestimmte Vögel verfiel, und die Seelenvorstellung an einzelnen 
nusß^ezeichneten Individuen haftete. Bereits oben erwähnten wir 
den Raben des Dichters Aristeas — die Pieriden, die sich mit 
den Musen in einen Handel einliessen, wurden in Elstern ver- 
wandelt — Tiele Metamorphosen Orids finden auf diese Weis» 



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e) Die Seele wird flügge. 



29 



ihre natürliche Brklärang. Hit Verliehe wühlte man^ zamal im 

Orient, die Taube, die aus verschiedenen Gründen der Mensch- 
heit heilig war. Sie ist der Hauptseelenvogel des Morgenlands 
gewesen. 

J^och heute werden die Fenster geöffnet, wenn jemand ge* 
«torhen ist, um die Seele wie einen Vogel hinanszulasaen — die 
«raten Christen sahen die Seelen ihrer Märtyrer, zumal der jung- 
fräulichen, in Tauhengestalt entschweben, und noch am 30. Mai 

1431, als die Jungfrau von Orleans zu Reuen den Feuertod starb, 
soll eine weisse Taube aus den Flammen zum Himmel empor- 
gestiegen sein. Goldene Täubchen legten sie in die Gräber; 
Tauben malten, schnitten, meisselten sie in die Katakomben- 
wände; sogar die Grablamipen bekamen die Form von Tauben. 
Aof den Armen ihrer Kreuze sassen die zwölf Tauben, gerade 
«o wie Paulus Diakonus von den Longobarden erzählt, dass sie 
auf ihren Kirchhöfen für die auswärts Verstorbenen Vogelstangen 
aufgerichtet hätten, die nach der Fremde blickten. Wir müssen 
hier einen Artikel berühren, der etwas abseits liegt, auf den 
aber von diesem Gesichtspunkte aus ein überraschendes Licht fallt. 

Die Vogelgestalt kommt der Seele, wie gesagt, nur im 
Aogenhlicke des Todes zu, wenn sie eben den Leib verlässt, 
nicht früher und auch nicht später. Sie bedeutet nur ihre end- 
lich erlangte Freiheit, ein Emblem, das wahrscheinlich überhaupt 
gar nicht eigentlich zu nehmen, aber, wie es zu gehen pHegt, 
vom Volke grob und materiell verstanden worden ist. Die ent- 
flohene Seele lebt keineswegs beständig als munteres Vögelchen 
fort; sobald sie in der Luft ist» beginnt sie ihre irdische Hülle 
langsam, aber unwiderstehlich anzuziehen und sich mit einem 
neuen ätherischen Leibe zu bekleiden. Das werden wir gleich 
erürtern. Aber die Menge folgt ihr nicht immer bis zu dieser 
neuen Phase. Wie es wiederum zu gehen ptlegt, erstarrt die 
Vorstellung und bleibt lokal auch dann noch in Kraft, wenn 
die Seele nach fortgeschrittener Auffassung bereits im Himmel 
angekommen, in der höheren Welt erstarkt und zu einem gött- 
lichen Wesen herangewachsen ist. Eine und dieselbe Seele kann 
dann, je nach dem Stadium, auf welchem der G^Uube steht, zu- 



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30 EinleituDg. 

gleich ein Geist und ein Vogel seiu. Wir haben mehrere Fälle 
dieserart, in denen eine jüngere Phase neben einer älteren vor- 
kommt. 

Die grosse Frau, die in Vorderasien Astarte, in Griechen- 
land Aphrodite, in Italien Venus hiess, ist auch einmal wie eine 
andere Seele zum Himmel aufgestiegen. Semiramis, die den 

Thron Assyriens nach fünfzigjähriger Regierung ihrem Sohne 
abgetreten hat, verscliwmdet : sie verwandelt sich in eine weisse 
Taube und entfleucht. Mit andern Worten : die Königin stirbt, 
ihr edler Geist verschmäht den Staub der Erde und schwingt 
sich zu den Wolken auf; er wird als Taube gedacht. Semirami» 
ist nach Diodor der syrische Name der Taube. Inzwischen 
geht die Seelenvorstellang ihren Weg, sie entwickelt sieb wie 
ein Ei, sie wächst wie eine Pflanze. Semiramis wird zu Unserer 
lieben Frau in Assyrien : diese neue Vorstellung überwuchert 
das ursprüngliche Bild der Taube, das indessen neben der 
semitischen Göttin noch immer fortbesteht und als Fetisch der 
Göttin gilt. So erscheint nun Semiramis am Euphrat und am 
Tigris zweimal, als Göttin und als Taube, obgleich die Taube 
von Bechtswegen in der Göttin aufgeht und nur eine frühere 
Phase der Göttin darstellt. Die Taube besass noch gewisse 
äusserliche Qualitäten, die ihr beim Kultus zu statten kamen 
und sie hier zu Linde zu eiiieni luetisch prädestinierten, wir 
werden sie kennen lernen ; zunächst brauchen wir sie nicht. 
Wir wollen uns vielmehr anjetzt mit der gewonnenen Einsicht 
nach dem Heiligen Lande wenden, wo ebenfalls, und zwar nodi 
vor Christi Geburt, die Taube heilig war, wo, wie TiboU 
([, 7) sagt, 

volitat crebru iotacta urbes 
alba Palaestino sancta Columba Syro. 

Und, heisst es im Evangelium (Mattbäi III, 16), Johannes sähe 
eine Taube herabfahren und über Jesum kommen. Es war der 
Geist Gottes, derselbe Geist, der bei der Schöpfung üher dem 
Urgewässer schwebte und sich nun auf das Taufwasser nieder^ 
Hess, ja, nach dem Hebräereyangelium, in den Getauften einging. 
Die Taube war der Heilige Geist. 



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f) Die Verwandlung. Unsere Seele mit einem neuen lieibe bekleidet 31 



Gott ist selbst ein Geiste wie der Sohn Gottes sagt, der 
als solcher ein menschliches Bbenbild des ewigen Vaten abgiebt» 
Der hebräische Jehovah ist mithin seihst einmal eine Seele 
gewesen, die einen Leib als Taube yerlassen hat. Aber diese- 

Seele denkt sich der Jude jetzt nicht mehr als Taube, sie ist 
eine Gottheit geworden, die ein Michelangelo in der Sixtinische» 
Kapeile in der Gestalt eines majestätischen alten Mannes malt, 
während sie in den ersten vier Jahrhunderten nur durch die 
Hand, die ans den Wolken reicht, symbolisiert wird; bei der 
Taufe des Messias zeigt sie sich noch einmal in der alten, längst 
überwundenen Phase. Die Dreieinigkeit hat nichts Unbegreif« 
Hohes; sie setzt nur die ältesten Gottesbegriffe neben dem 
jüngeren voraus. In gewissem Sinne kann luan näniiich sagen» 
der Heilige Geist war älter als Gott Vater. 

f) Die Terwandlnng. Unsere Seele mit einem nenen 

Leibe bekleidet« 

Die neae, endgilltijre Phase» die enf den Vogel folgt — die Erkeantni» 
bricht sich Bahn, dass die Flügel nur allegorisch siod — darch die Er- 
scheinangen des Todes wird die Phantasie auf einen ganz andern Weg 
l^eleitet — auf die Annahme, dnss die Seele das Fleisch nach sich ziehe^ 
daas sich das letztere in Luft auflöse und mit der Seele zu einem Luftwesen 
vereinige — wir sind Luft und sollen zu Luft werden — die natürliche 
und die künstliche Verbrennung — erst trennt sich die Seele vom Lei)>e, 
darauf das Fleisch vom Skelett — der neue Leib frleicht dem alten, nur 
die Bbittrefässe, die Kinj^eweide und die Knochen fehlen — die denkende 
Seele leiilt ihm dagegen nicht, sie ist ja die Hauptsache an dem neue» 
"Wesen — das was den Geistern die Unsterblichkeit verleiht — wenn die 
homerischen Seelen besinnungslos sein sollen, so wird Homer einerseits 
falsch erklärt, anderseits ist in die üdysee selbst ein fremder £lut- 

aberglaube hineingetragen wurden. 

Im allgemeinen ersdieint der Vogel nur als ein Übergangs* 
Stadium. Sehr selten hält sich die Allegorie, und seihst wo- 
noch eine zurückgebliebene Seele wie ein Mädchen im Flügel^ 
kleide geht, geniesst sie doch daneben ein huheres, halbgöttliche» 
Dasein. Oft ist die Phase überhaupt gar nicht eingetreten ; oft 
wird sie übersprungen, Dass die Menschen ihre Gestalt aufgeben. 



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32 



Einleitnog. 



und ihre unsterblichen Seelen als Schmetterlinge oder Täubchen 
herumüattern sollten, hatte doch etwas Märchenhaftes — man 
fühlte, dass die Flügel nur ein Emblem der Freiheit und der 
«bsoluten Beweglichkeit sein sollten, die mit dem Tode anhob. 
Der grosse Haufe will einen Mosen haben mit Hörnern, sagt 
Luther. Wie die Homer des Moses sind freilich die Flügel 
-der Psyche vom Pöbel missverstanden und eigentlich genommen, 
von der bildenden Kunst verewigt worden. Aber selbst die 
Künstler endeten doch damit, den Seelen vögeln , um sie als 
solche zu kennzeichnen und von gewöhnlichen Vögeln zu unter* 
ischeiden/ einen Menschenkopf au&usetzen, wie sie damit ange- 
fangen hatten, den Menschenleib zu beflügeln. Die Leiche 
stand immer im Hintergrunde der Allegorie, wie sie überhaupt 
das allein Reelle an der ganzen Verwandlung war. Ein wichtiger 
XJmstand kam noch hinzu, die Phantasie von dieser anmutigen 
Ausgeburt zurück und auf den richtigen Weg zu bringen. 

Der entseelte Leichnam sah aus wie ein leerer Vogelbauer. 
Aber dieser Bauer war nicht wie ein hölzerner Käfig, aus dem 
das Vögelchen heraus ist — der Bauer stieg, der Bauer ver- 
flüchtigte sich, der Bauer zog seinem Vogel nach. Er fing auch 
an sich zu verwandelnj er ward ebenfalls flügge. Damit ging 
•der Tod eigentlich erst recht an — denn hätte sich nur das 
Häuschen gut gehalten, so wäre der Verlust des Vögleins gar 
nicht so sehr bemerkt, so bitter empfunden worden. Die Toten 
hätten dann wie Wachsbilder herumgestanden und wie die römischen 
Penaten am Herde den Ehrenplatz eingenommen. Die Lebenden 
^ären freilich am Ende von den Toten erdrückt, aber übrigens 
nicht weiter behelligt worden. So aber wendete sich das Blättchen. 
Mit der Seele ging nachgerade Fleisch und Blut, ja, das ganze 
Individuum bis auf die Knochen flöten und imter halb ab- 
schreckenden, halb widerlichen Erscheinungen die Auflösung des 
^ilühenden Leibes vor sich, sofern derselbe nicht vom Feuer 
verzehrt oder von Baubtieren gefressen ward. Es erfolgte aber- 
mals eine Trennung: erst machte sich die Seele aus dem Staube, 
dann schwand, indem Fäulnis und Verwesung eintrat, auch das 
J^'ieisch; der tote Leib begab sich seinerseits auf Keisen, nur 



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f) Die Verwandlans;. Unsere Seele mit eioem neuen Leib bekleidet. 33 



das Gerippe blieb übrig. Knochen, Birkenrinde und J^acksteine 
sind bekanntlich sogufc wie unverwüstlich; mit ihnen kann 
es nicht einmal der Hamletsche Lohgerber aufnehmen. Die 
Verwesung musste dem mit chemischen Prozessen unbekannten 
Wilden womöglich noch rätselhafter erscheinen als das Aasbleiben 
des Atems; sie musste einen viel tieferen Eindruck auf ihn 
machen, ihn zu ganz anderen Folgerungen treiben. Nicht der 
Tod an sich, alles, was darum und daran hing, gab dem Über- 
lebenden zu denken. 

Von der Seele hatte der Wilde in Wirklichkeit niemals 
etwas gesehen; die Maus, die Taube war nur ein Phantom. 
Wenn sie fehlte, so fehlte nur etwas Unbekanntes, Aber auf 
dem hingestreckten Leibe, der jetzt zu Grunde ging, beruhte 
ja das ganze Bild des Verstorbenen, wie er bei Lebzeiten gewesen 
war und noch in der Erinnerunf]^ fortlebte. Und sothanes Bild 
veränderte sich zusehends, es ward unheimlich entstellt, es ent- 
erbte sich, es entartete fürchterlich, es verbreitete den Leichen* 
geruch, es zerfloss. Was ward aus diesem Leichnam, wo kam 
das Manoshild hin, das ror kurzem noch leibte und lebte, welch 
ein grausenerregendes Wunder begab sich hier? — Es ist merk- 
würdig, dass der Wilde auf diese Fragen im ganzen und grossen 
dieselbe x4ntwort fand wie die moderne Wissenschaft. 

Von wannen sind wir? — Die Naturwissenschaft sagt es 
uns. Sie zeigt, dass wir im wesentlichen aus drei Luftarten 
besteben, die aidi mit einer festen Substanz, dem Kohlenstoffe, 
chemisch verbunden haben: aus Stickstoff, Sauer^ff und Wasser- 
stoff. Der Gehalt an mineralischen Substanzen ist untergeordnet; 
hauptsächlich sind wir Luft. Fortwährend geben wir der Natur 
diese Gase wieder ab, durch die Lungen, die Haut und die 
Nieren verlieren wir tagtäglich Pfunde Wasser und Kohlensäure: 
wenn wir tot sind, werden wir durch die Verwesung vollständig 
zersetzt. Das heisst, wir lösen uns in Luft auf, wie ein Scheit 
Holz, das auf unserem Herde Terbrennt. Die Produkte der 
Fäulnis, durch welche die Leichen von der Natur verbrannt und 
in den allgemeinen Kreislauf der Stoffe zurückgeführt werden, 
sind zum grüsslen Teile gasförmig — Kohlensäure, Kohlen- 

Kleiapaul, nie LeUendigea aad die Toten. 3 



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34 



Einleitung. 



Wasserstoff, Phosphorwasserstoff, Schwefelwasserstoff, Stickstoff 
und Ammoniak; dieEntwickelung giftiger Gase, die des Phosphors 

und des Schwefels wegen meist sehr übel riechen, ist neben der 
Bilduijg der Totenflccke und der grünen Färbung des Unterleibs 
das Hauptkennzeichen der Verwesung,. Die Verwesung ist eine 
Vergasung. 

Unser Leib kehrt also zuguterletzt in die Luft zurück, von 
der wir hergekommen sind, der wir zeitlebens angehören und 
zeitlebens anheimfallen — während des Lebens verbrennen wir 

stückweise, im Tode verbrennen wir ganz: bei der Leichen» 
Verbrennung wird die Rückkehr nur beschleunigt. Du bist Erde 
und sollst zur Erde werden, heisst es in der Bibel — wesentlich 
sind wir Luft und werden demnach zur Luft. In die Luft 
müssen wir, auf dem Kirchhofe sogut wie im Krematorium; 
anch wenn wir gar nicht bestattet werden, gehen wir dennoch 
in Bauch auf. Wenn nicht etwa ein Hnnd kommt und ans 
auffrisst. Das ist nämlich die Hauptsache, dass die Toten zur 
Luft werden: es ist unsere Bestimmung, uns in Luft aufzulösen. 
Das hat man nicht gerade gesagt, noch viel weniger erklären 
können, aber längst gewusst. 

Die Naturvölker betrachteten die Verwesung als eine Art 
Sublimation und sahen in den Produkten der Fäulnis ein höherea 
Wesen aufgehen. Sie kamen folgerecht zu dem Schlüsse: dasa 
die ausgeflogene Seele ihr Kest wie ein Vogel nach sich ziehe, 
dass sie gleichsam alles mitfortnehme, was an ihrem alten Hause 
nicht niet- und nagelfest sei, und dass sich die entwickelten 
Gase mit dem vorangegangenen Lufthauch vereinigen, ja, zu 
einem neuen Menschenbilde verdichten. Der neue Leib glich 
ganz und gar dem alten, nur die Blutgefässe, die Eingeweide 
und die Knochen fehlten, wenn nicht etwa, wie bei Tityus und 
Prometheus, die Leber zur Strafe erhalten hlieb: es gab gleichsam 
eine zweite Auflage der Persönlichkeit, aus der die saftigsten 
und die kernigsten Stellen herausgestrichen waren. Wie hätte 
denn das feste und wohlgeformte Fleisch spurlos in den Winden 
verwehen sollen? — Es war doch ungleich wahrscheinlicher, 
dass der Geist, den das Aas absonderte, bestrebt sei, die ent- 



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f) Die Verwandlung. Unsere Seele mit einem nenen Leib bekleidet 35 



flohene Seele einzuholen, sich an sie anzuschliessen und an dem 
Anker seines Lebens sehnsüchtig anzuklammern. War dieser 
Frozess, der je nach Umständen schneller oder langsamer vor sich 
ging, Tollendet, so lebte der Tote wieder, er konnte wie jener 
Ahb^, von dem der Bitter Ton Tschabuschnigg erzählt, womöglich, 
am Fenster stehend, seinem eigenen Leichenbegängnisse zusehen, 
er gehörte nur einem anderen Elemente an. Die Leichtigkeit 
und die Freiheit, wie sie die geflü^^elte Psyche genossen hatte, 
zeichnete jetzt das ganze verwandelte Wesen aus, das sich wie 
Ariel tummelte; der Auferstandene besass die Züge, die Stimme, 
die Tracht des Verstorbenen, er schien sein YoUkommenes £ben* 
bild zu sein, aber er war unfassbar wie die Luft. Die Ägypter 
nannten dies den Ka, die Griechen das IM (eYdioXov). Es war 
dasselbe und nicht dasselbe; die Vergeistigung hatte ihre zwei 
Seiten. 

Das Individuum hatte sich in vieler Beziehung zu seinem 
Nachteile verändert. Ich will nicht davon reden, dass der beste 
Mensch für die Hinterbliebenen sofort nach seinem Ableben 
seine unangenehmen Seiten heryorzukehren schien; dass seine 
Nähe schreckhaft, seine Berührung gefährlich wurde und der 
abgesonderte Geist, nach dem Gerüche zu urteilen, ein hässlicher 
und ein übelwollender Geist war. Wenn jemals antipathische 
Duitstoffe Angst und i^^ntsetzen hervorzurufen imstande ge- 
weepii sind, so hat es der Leichengeruch gethan; und wenn nach 
der Theorie des MarsUius Ficinus in den Ausdünstungen gewisser 
Personen ein Lebendiges, ein übertragbarer Geist enthalten ist, 
so stehen wir hier an der Wurzel alles Geisterglaubens. Nein, 
dii sich uiiterschied sich das Luftgebilde auffällig von dem 
Original auf Erden; der aus lauter Dunst zusammengesetzte 
Geist hatte leichtes Gewicht wie eine Münze. Aus dem ganzen 
Kerle war nachgerade ein eigenartiges, haltloses Ding, ein 
Schemen ohne Bückgrat und ohne Schwere^ ein Eierkuchen ohne 
Fleisch und Bein geworden. Herr Professor Michael Weber, 
der gelehrte Theologe, bekam einmal in einem sächsischen Pfarr- 
hause einen riesigen Eierkuclien, den sogenannten Superintendenten- 
Eierkuchen vorgesetzt. Wie das Ding auf den Tisch kam, riet 

3« 



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36 



Einleitang. 



er in seiner excentrischen Weise: Ein Geist! Ein Geist! — und 
da ihn alle ansahen, fügte er hinzu: es hat nicht Fleisch noch Bein» 

Denn ein Geist hat nicht Fleisch und Bein. Evangeliam 
Locä XXIV, 39. 

Er hat, wie sich Achilles bei der Erscheinung eines wirklichen 

Geistes ausdrückt — keine Phrenologie; womit der Held 
schwerlich das Bewusstsein und die Verstandeskräl'te meint, wie 
die Erklärer wollen. Wie Achilles den toten Patroklus im 
Traume sieht und ihn umarmen will, aber nicht greifen kann^ 
schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen und ruft aus, 
es gebe wohl auch noch in der Unterwelt eine Seele und ein 
Gespenst» aber Besinnung, Geist und alle geistigen Kräfte seien 
hin (Ilias XXIII, 104). Ei, wie käme denn Achill auf diese 
ungerechtfertigte Vorniutung. wo Patroklus doch eben noch mit 
ihm gesprochen und ihn in ganz vernüuttii;en Worten, in mehr 
als zwanzig Versen um eine schleunige Bestattung gebeten hat? — 
Man muss annehmen, dass Homer unter den (pQinSj die dem 
Gespenst abgehen sollen, ganz etwas anderes verstanden hat, 
als die Philologen behaupten. Etwa die Eingeweide oder die 
sogenannten edlen Teile. Das Wort bedeutet bekaontlicli im 
Singular das Zwerchfell; später hat man das Gehirnj am Eade 
gar den Schädel daraus gemacht, daher eheu Fkrenohgie soviel 
wie Schädellehrö ist. Man sieht, es kann alles mögliche be^ 
deuten. Im Plural, in welchem das Wort gewöhnlich vorkommt, 
wird der Begriff erst recht weit gewesen sein. Was einem Ge- 
spenste fehlt, sind in erster Linie die Gebeine — sodann die 
Sehnen und die Muskeln, die wie Zugseile um die Knochen ge- 
schlungen sind — endlich die Eingeweide, die inneren, das 
animalische Leben enthaltenden Organe und Gefässe. Es schlägt 
kein Herz in seiner Brust. Die Eingeweide haben sich mit dem 
J^Jeische in der Verwesung verflüchtigt und vergeistigt; sie sind 
2war der Seele nachgezogen und eine neue Verbindung mit 
ihr eingegangen, haben aber nichts Festes, nichts Körperliches 
mehr. Die geistigen Kräfte dagi ^« n. Vernunft und Sprache, 
•Gedanken und Worte fehlen dem Gespenste nicht, denn sie 
eignen der Seele selbst, der Trägerin des Bewusstseins, die nun 



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f) Die Verwandlung. UDsere Seele mit einem neuen Leib bekleidet. 37 



erst recht gescheit wird, der Seele, die man vod Anfang an 
nicht bloss als ein Atmungstierchen, sondern auch als ein Denk- 
tiercben betrachtet hat. 

Allerdings ist in die homerischen Gedichte selbst ein Blat- 

aberglaube hineingutragen worden, wonach die Seelen wirklicli 
keine Besinnung mehr haben und erst wieder zu Verstände 
kommen, woTin ihnen Blut zu trinken gegeben wird. Bloss 
Tiresias hat noch seine fünf Sinne in der Unterwelt beisammen 
(Odynee X, 495); alle anderen Seelen werden erst wieder zurechnungs- 
fähig, wenn sie Blut erhalten, z. B. die Mutter des Odysseus, 
die ihren eigenen Sohn erst dann erkennt (Odyssee XI, 153). Nun, 
die gaiize Hadesfahrt des Odysseus schmeckt, wie Erwin Rohde 
in seiner P^ij<'lie , Seite 45 if. überzeugend nacliweist. nach 
einem Einschiebsel später Zeit; besonders aber ist die Unter- 
stellung: dass die Toten erst durch Blutgenuss wieder vernünftig 
werden, eine verdächtige Ausgeburt. So etwas glaubte nicht 
Homer — nicht etwa, dass die homerischen Seelen nicht lüstern 
nach Blut gewesen wären — der Seele des Patroklus werden 
ja blutige Opfer haufenweis dargebracht; aber von einer Wirkung 
des Bhites auf die Verstandeskräfte weiss der echte Homer nichts, 
fiben Patroklus ist ein Beweis dafür: man merkt keine Abnahme 
der Intelligenz, keinen Verlust des Gedächtnisses, nicht einmal 
eine Veränderung der Stimme, und doch hat er noch kein 
Tröpfchen Blut getrunken. Blut bekommt er erst hundert Verse 
später (Ilias XXIir, 171 ff.) Auch in andern Fällen erscheint die 
geistige Zurechnungsfähigkeit keineswegs vom Blutgenuss ab- 
hängig; im letzten Buche des Odyssee unterhalten sich die 
Helden erst untereinander, dann mit den neubackenen Freiern, 
ohne dass sie vorher die nötige Stärkung zu sich genommen 
hätten. Nein, das Totenopfer des Odysseus setzt bereits die 
Übung der Nekromantie voraus, bei der man das Blut auch 
nicht etwa brauchte, um den Schatten die Vernunft zurück- 
zugeben, sondern nur um sie anzulocken und gesprächig zu 
machen ; es ist eine regelrechte Totenbeschwörung, wie sie einem 
tbessalischen Zauberer anstellen wurde, die aber eigenthch mr\\i 
nötig ist, weil Odysseus selbst zu den Toten geht, und nun duich 



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38 



Einleitung. 



die Fikticm gerechtfertigt werden soll: dass die Toten ohne Blut 
überhaupt nicht reden könnten. 

Ein Geist Iiatte weder Fleisch noch Bein noch Blut — es 
vftr nur ein Gedanke Yon einem Lebewesen, ein Schatten der 
Lebenskraft, der ebendeshalb auch schlechthin ein Schatten hiess 
— es war weiter nichts mehr als Seele. Hiebt dass diese von 
vornherein mit dem Gespenste zusammenfiele; Homer, der von 
der Psyche und dem Eidolon (Ilias XXIIF, 104) in einem Atem 
spricht, würde das doch nicht Wort haben wollen. Die Psyche 
ist der Seelenvogel, wie er im Augenblicke des Todes fortfliegt; 
das Gespenst oder das £idolon ist eine Seele im Staat, eine neue 
Person, eine Seele, die abermals eine menschenähnliche Hülle 
ausfüllt und belebt. Nur wenn ihr der Schlafrock gestohlen, 
von Aastieren weggefressen worden ist, bleibt sie im strengen 
kSiiiiie eine Seele ; sie muss dann nackt und bloss wie eine Bett- 
lerin abziehen, der Fall ist si4ir fatul. Er tritt auch ein, wenn 
der Leib wie im alten Ägypten einbalsamiert und dadurch die 
Verwandlung gehindert wird ; Patroklus, dessen Leiche von Thetis 
mit Ambrosia und Nektar (Ihu XIX, 38) bebandelt worden ist, 
kann nun auch nicht fertig werden und zur ewigen Buhe ins 
Totenreich eingehen (IHm XXIII, 7lff.). Hier sieht man recht 
deutlich, wie sich die Seele durch die Verwesung erst zu einem 
Gespeii.~>ie auswachsen muss. Aber auch das normal entwickelte 
Gespenst erhebt sich nicht viel über eine blosse Seele, es fällt 
immer auf die Seele als seinen einzigen Halt zurück, es reduziert 
sich im wesentlichen beständig auf die Seele. Eben weil der 
neue Leib so leicht und so luftig ist, hält er gleichsam der Seele 
nicht mehr die Wage, er wird gewissermassen von der Seele, die 
sich gleich bleibt, vergewaltigt. Die Seele wohnt nicht mehr wie 
früher im Leibe wie in einer tiefen H()hle versteckt ; sie scheint 
jetzt durch den Leib, den sie fast vollständig aufgesogen hat, hin- 
durch, wie eine Balletttänzerin durch die Gaze, dass man sie gar 
nicht verkennen kann. Sie wird also von nun an als die eigentliche 
Trägerin der Persönlichkeit gedacht — die Gespenster heissen 
Seelen und die Verstorbenen schlechtweg Geister, wie die Arbeiter: 
Hände, die Indianer: Kothäute und die Lieutenants: Schnurrbarte, 



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g) Das Jenseits. Himmel und Hölle. 39 



nach dem hervorstechendsten Teile. Die Seele hat freilich schon 
zu dem alten Leibe das beste hinzugethan und sein Leben wie 
eine Flamme genährt und unterhalten; damals wusste man sie 

noch nicht recht zu schätzen. In der Kirche alkui wurde ihr 
Wert erkannt. Jetzt merkt man erst, was man an ihr hat — 
ein ewiges Leben. Leben, Auferstehung, Unsterblichkeit. Wer 
nämlich einmal eine Seele vom Körper ablöst und ein Atmen 
ausserhalb des Brustkastens fiir möglich hält, der hat die Un- 
sterblichkeit in der Tasche. 

g) Das Jenseits» Himmel und Hölle« 

Eine Lftbensgeschtchte der Toten — die VorBtellnng eines Totenreiohs und 
eines Totengerichtes das letztere führt zu einer Teilung: das Osirömische 
und da^^ Woströmisc he Reich — das alte Keich bleibt als eine Strafanstalt 
unter dem Namen Hölle, das neue Reich wird aus der Erde herausorerissen 
and in den Himmel versetzt — die Walhalla, der Himraelssaal — die Priester 
machen den Deutschen die Hölle heiss — die Gehenna bei Jerusalem — 
aher das alte ständifje Totengericht fiel wepf, der Totenrichter sollte erst 
kommen, infi)l(,'edesseti musste ihm die Kirche vorgreifen — Dante, die 
Vision des heiligen Bruno, Theoderich der (xrosse, die Weisse Krau — die 
(iegner der Kirche werden nun in die üöUe geschickt — mehr als eine 
Hölle auf Erden kommt dabei freilich nicht heraus. 

Aus solchen Voraussetzungen ist nun nach und nach eine 
vollständige Lehensgeschichte der Toten und eine andere, jen- 
seitige Welt hervorgegangen, die hinter dem Diesseits steht. 

Diese Welt wächst fortwiihrend und droht iiachf^erade das Dies- 
seits zu erdrücken ; sie ist ein unentdecktes Land und doch besser 
eingeteilt, genauer beschrieben, gemalt und besungen worden als 
irgend ein Kontinent. Zunächst bildete sich bei den Völkern, 
welche ihre Toten begruben, die Vorstellung von einem gemein- 
schaftlichen Aufenthaltsorte aller Verstorbenen unterhalb der Erde. 

Zu dem Ende brauchten die Grabkammern nur vereinigt 
und die Wände durchgebrochen zu werden. Jeder Friedhof ist ja 
ein kleines Totenreicli. das der Kapuziner mit Geistei-n hevrdkern 
kann, indem er Krebse mit brennenden AVachslichtern auf dem 
Rücken darüber laufen lässt ; wo immer die Lebendigen die Toten 
zur Erde bestattet haben, in Felsenhöhlen oder auf Bergabhängen, 



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40 



Einleitnng. 



an Ufern oder an Strassen, überall entstanden Ansiedelungen 
von Bürgern der anderen Welt, gefürchtete und unantaetbare 
Kolonien und gleichsam Enklaven im Beich des Lebens, die 
allmählich zusammenwuchsen und unermessliche Nekropolen mit 
eigener Verfassung und eigenen Königen darstellten. Diese Reiche 
sind notwendigerweise finster, stockdick finster, grässlich, un- 
fruchtbar und dumpf, weil sie unter der Erde sind — man muss 
sich wohl hüten, das Friedhofsareal selbst^ das grün und freund- 
lich sein kann, mit ihnen zu verwediseln, wenn es auch natürlich 
ist, dass der charakteristische Anblick eines Friedhofs, z. B. der 
Gräberschmuck hin und wieder auf die Unterwelt Ubertragen 
wird. Wenn z. B. die Odyssee in der Unterwelt Asphodelus- 
wiesen kennt, uut denen die Schatten der Toten umherwandcln. 
so ist das so eine Friedbolsphantasie; denn den weissen Aspbodelus 
pflanzte man eiii^^t in Grieclienland, gleich dem Sellerie, auf Gräber, 
wie bei uns Bingelblumen und Eosmarin. Auch die Japaner 
pflanzen den Aspbodelus, eine Art weisser Lilien, auf Qräber 
und stellen Asphodelusstöcke in ihre Begräbnishallen, Trotzdem 
hängen beide Welten, Ober- und Unterwelt zusammen: grauen- 
volle Gegenden, wo sieb die Erde spaltete und man tief in ihr 
Inneres hinabblicken konnte, galten als Vorhallen des Toten- 
reichs ; der Haupteingang war das Abendland am Ende der Welt, 
iin Westen. Wo die Sonne unterging, wo Tag und Nacht auf- 
einanderstiessen, musste auch das Beich des Lebens in das Beich 
des Todes übergehen. Solche schaurige Totenreiche, in welche die 
Züge der Generationen allmählich hinunterwallten, waren der 
ägyptische Amen th es, der Hades in Griechenland, der Scheol 
bei den Juden und die Hölle bei den Deutschen. 

In alter Zeit wurden sie einfach, wie das grosse Grab der 
Menschheit vorgestellt, die hierherunter musste, ohne dass noch 
ein Unterschied gemacht und jedem einzelnen, jenachdem er ge- 
handelt hatte bei Lcibesleben, es sei gut oder böse, sein Plätz- 
chen angewiesen wurde. Homer, der seine Schatten nicht sinnlos, 
sondern nur herzlos und freudlos denkt, weil ilmen die Organe 
aller Jjebenslust notwendigerweise abgehen, lässt die Schafe noch 
nicht von den Böcken scheiden. Zwar kennt auch Homer bereits 



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g) i>as JenseiU. Himmel und Holle, 



41 



ein Eljsmm, in dem die auserwählteu Liebliuge der Götter 
herrlich leben, und einen Tartarus, in den Zeus die Anarchisten' 
stürzt, so dass schon in seinen Gedichten die Vorstellungen tod^ 
Paradiesesfreuden und Höllenqnalen dämmern; aber noch giebt es in 
seinem Hades kein Gericht, wo sich der Weg zum Eljsinm und* 
zum Tartarus teilt und wo sich's entscheidet, welchen Weg die 
Seele einzusclilagen hat. Wenn Minos in der Odyssee (XI, 569), 
das goldene Scepter in der Hand, den Toten Kecht spricht, bo 
thut er das nur aus alter Angewohnheit, weil er bei Lebzeiten 
soviel Prozesse zn fuhren gehabt hatte; jedermann spielt eben* 
dort unten noch die BoUe^ die er auf Erden gespielt hat. Erst 
nach Homer wurden die GebHider Minos bestallte Totenrichterr 
nachdem unter ägyptischem Emtliiss die Vorstellung eines solennen 
Totengerichts aufgetaucht und in das iiomerische WeltgedicUt 
die Idee einer ewigen Vergeltung gekommen war. 

Dadurch ward nachgerade das ganze Jenseits verschoben und- 
umgestaltet. Von dem allgemeinen Scliattenreiche, das die Toten 
wie ein Massengrab verschlang^ zweigte sich nun ein Paradies- 
und eine Hölle förmlich ab, so dass das Totenreich am Ende 
wie das Römische Reich in ein OstrÖraisches und ein Weströmische» 
Reich geteilt ward und zwei grosse Staaten unter eigenen Königen 
entstanden, die beide als mächtige Faktoren in den Weitlauf 
eingriffen. Eigentlich zweigten sich nicht zwei neue Reiche ab, 
sondern die Teilung erfolgte so, dass sich das eine Reich von 
dem andern, wie das Ostrdmische von dem Weströmischen ablöste, 
mithin nur das eine wirklich neu war, das andere dagegen inr 
seinen alten Grenzen verblieb. Dieses letztere ist eben die Hölle, 
die mit dem alten Totenreiche zusammenfällt, während das neue 
in den Himmel erhoben worden ist. 

Für die Hölle ist gegenwärtig nicht mehr die FinsterniSf 
sondern das Feuer charakteristisch; diese Yorstellung von deiK 
Juden ausgegangen. Wie der griechische Hades in ein Elysium 
und in einen Tartarus, so zerfiel der jüdische Scheol schon seit 
dem Babylonischen Exil in ein Eden, den Paradiesgarten der 
Gerechten, die hierher dem ersten Gerechten folgten; und iii' 
eme Gehenna, die Strafanstalt für den üüsen und die Busen.- 



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42 



Einleitung. 



Die Gehen na war eigentlich ein Thal bei Jerusalem, das als 
Öchindanger der heiligen ätadt diente, in dem man das Aas ver- 
brannte» und wohin unter anderem auch die Leichen von Ver- [ 
brecbern geworfen wurden; Gehenmf ein Wort, das noch in dem j 
französischen Folterworto Gene und damit auch in unserem 
genieren fortlebt, die griechische Darstellung des hebräischen Orts- | 
namens [ Ge Hinnom, Feewu). Diese tief eingeschnittene Schlucht, 
eine wahre Höllenthalklanim, welche Jerusalem auf der West- 
seite begreuzti übrigens heutzutage kein besonderes Grauen mehr 
«inflöfst, war zu Christi Zeit geeignet, ein Bild für die ewige 
Verdammnis abzugeben. Wenn die Toten im Thale Josaphat 
auferweckt und gerichtet worden waren, strömten die Ver- 
dammten in das von Westen her einmündende Höllenthal, um ihre 
Strafe anzutreten; der Heiland hat das (re Uinnoiii vor Augin. 
da er von dem Wurme, der nicht stirbt, und dem ewigen Feuer 
«pricht (Marci IX, 46). Allmählich verlor dann die Phantasie den 
Boden, auf dem sie geboren war, und es blieb nur ein feuriger 
Pfahl im allgemeinen übrig, eine Hölle, die vom Himmel durch 
«ine ungeheure Kluft getrennt war. Hier litt der Eeiche Mann, 
der keine andere Schuld hatte als eben seinen Beichtum; der 
arme Lazarus ward vou den Engeln in Abrahams Schoss ge- 
tragen (Lucä XVI, 22). i 

In den Himmel — von der persischen Zeit an wurde Jehovah, ' 
Tom alten Israel auf dem Berge Sinai oder in Jerusalem ge- 
sucht, im Himmel thronend gedacht; er hiess zum Unterschiede 
Ton den heidnischen Gröttern der Himmelsgott. Demnach kommen 
im Neuen Testamente auch die Seelen der Gerechten in den | 
lliuimel, wo sie nun denen, die auf Erden, und deneii, die ^ 
unter der Erde sind, entgegengesetzt werden können (Fhilipper II, 10). 
Abraham, der Stammvater der Israeliten, der Freund Gottes, | 
vertritt in der evangelischen Parabel Jehovah selbst. ' 

An die Stelle des Elysiums waren bei Hesiod die Insehi 
der Seligen getreten, die man in den Kanarischen Inseln hat 
wiederfinden wollen; bei den Juden hiess es der Grarten Eden 
oder das Paradies. Jetzt stiess es wie ein Luftballon ganz vou 
der Erde ab, um zu den Wolken aufzusteigen und in höheren 



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g) Das Jenseits. Himmel und flölle. 



43 



Sphären zu verschwinden. Die christliche, mit unseren Begriffen 

von einem unendlichen Himmelsraum schwer vereinbare Idee 

eines Himmelreichs begeisterte die Menschheit. Von nun an 

konnten auch die Germanen nach Asgard kommen. Asgard ist 

das alte nordische Himpielreich, die Walhalla ein Stück davon. 

Der Walhallaglaube ist zwar noch nicht christlich, aber doch 

ziemlich jung und schon nicht mehr ganz vom Christentum un- 
abhängij:^. 

Auch bei uns kamen ursprünglich alle Menschen nach dem 
Tode ins Totenreich, in die Unterwelt oder in die Hölle, in das 
unterirdische Beich der Hei. Das heisst: in ein kaltes, dumpfes 
Loch, das yielmehr nass als heiss war, und in dem man sich 
den Rheumatismus hätte holen können. Darin mag nun zunächst 
aus Anstandsrücksichten für die Könige und Helden, die nach 
damaligen Begrififen allein Gott wohlgefällig lebten, ein Hot ab- 
gegrunzt worden sein, so dass in der grossen Hölle nur die 
Kanaille, was an Krankheit oder Altersschwäche gestorben war, 
verblieb. Später wurde die königliche Loge vollständig von ihrer 
Umgebung getrennt, aus der Erde herausgerissen und in Odins 
Wohnungen versetzt, wo nun die Einherier herrlich und in 
Freuden und gleichsam von der Sonne selber lebten, indem sie 
Tag für Tag gekochtes Schweinefleisch bekamen, denn der Kber 
Sährimnir, der niemals zu Ende ging, sondern sich inunerfort 
erneute, war die Sonne; die Walküren kredenzten ihnen wie den 
mecklenburgischen Junkern ihre Kalte Schale. Endlich ver- 
wandelte sich die Walhalla in den christlichen Himmelssaal. 
Zugleich wurde fortan, in den Zeiten des Christentums, aufs 
Herz gesehen, eine reinliche Scheidung der Toten vorgenommen 
und der blaue Himnielssaal, an dem die f^iilthu ii Sterne pranjjen, 
den Frommen einji;eräumt. die nun die ewige Seligkeit erlangten, 
auch wenn sie nicht zu den privilegierten Klassen gehörten und 
nicht auf dem Felde der Ehre gefallen waren; die Hölle da- 
gegen, aber jetzt als Zuchthaus und Marterkammer, den Gott- 
losen angewiesen. Und zwar machten ihnen jetzt die Priester 
die Hölle heiss: wie die Mönche auf der Kanzel predigten und 
den Sterbenden erzählten, war die Hölle ein Feuermeer im Innern 



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44 



Einleitung. 



unserer Erde, dessen Riesenwogen den Boden erschütterten, dessen 

Schlote in vulkanischen Gegenden qualmten^ das brannte, ohne 
zu verbrennen, womit die Pater auf die Jerusalemer Gehenna 
zurückkamen und das i\icbti«5e trafen, ohne es zu wollen. Diniit 
war auch in Deutschland die famose Teilung in das Oströmische 
und das Weströmische Keich vollzogen, die eigentliche Unterwelt 
in eine Strafanstalt verwandelt und für das Gute und das Bdse- 
in jener Welt ein Ausgleich geschaffen worden. 

Dennoch hatte die Sache ihren Hahen. Wer sagte denn, 
dass der eine Tote gut, der andere gottlos sei; wer schickte 
denn die Leute in die Hcille? — Die Zweiteilung ging doch 
eigentlich nur an, wenn die Toten wie im ägyptischen Anienthes und 
im Hades unmittelbar nach ilirer Ankunft abgeurteilt und an den 
Ort ihrer Bestimmung gebracht wurden ; hätten sie lange darauf 
warten müssen, so wäre doch wieder eine Unterwelt» gleichsam 
eine Untersuchungshaft, in der sie vorläufig blieben, von nöten 
gewesen. Der Fall trat sowohl bei den Juden als auch bei den 
Christen ein. weil beide die Ankunft des Messias, beziehentlich 
seine Wiederkunft und erst dann die Auferstehung der Toten 
und das Jüngste Gericht erwarteten und noch erwarten — erst 
neulich liat wieder am fihein ein Schuhmacher einer Sekte das 
Tausendjährige Boich verkündigt und 12 Uhr mittags sein Dach 
bestiegen, um den Messias zu empfangen. Das alte ständige 
Totcngoricht war also weggefallen, es sollte erst noch kommen^ 
man wartete auf den Herrn Jesus, den neuen Totenrichter, und 
immer vergeblich. Jcis war eine grosse Ausnahme, wenn einmal 
einer, wie der Lehrer des heiligen Bruno, der tiefgelehrte Mann^ 
gleich nach seinem Ableben vor Gericht kam. Er war noch gar 
nicht unter der Erde, der Sarg stand noch in der Pariser 
Kathedrale und die Tagzeiten wurden eben für die Rahe seiner 
Seele noch gesungen, als der Leichnam sich im Sarge aulnchtete 
und rief: h-h in>r<le vor Gottes Riclifcr.^fnlil <ii' fordert! Dann 
richtete er sich zum zweitenmale auf und rief: Ich werde an^ 
geklagt! — Endlich erhob er sich zum drittenmale und rief mit 
einer Stimme, dass es einem durch Mark und Bein ging : lefi bin. 
verdammt! — Die Begebenheit soll auf den heiligen Bruno eiaen 



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g) Beb Jenseits. Himmel und HöUe. 45 



solchen Eindruck gemacJit haben, d Rss er stehenden Fasses die 
Welt verliess, den Entschluss fasste. ein Biisserleben zu führen, 
und den Kartäusororden stiftete. So etwas war selten; selbst 
das oben geschilderte Verluir, in das die beiden Engel Munkir 
and Nekir die mohammedanischen Toten gleich nach dem Be* 
gräbniB im Grabe nahmen, doch nur ein vorläufiges: freilich geht 
auch bei den unglaui lgen Mohammedanern die Pein gleich nach 
dem Verhöre los, sie heisst die Pein im Grabe. Das Jüngste 
{jrericht stand jedenfalls nicht sofort parat, auch bei den Mo- 
hammedanern nicht, bei denen Gott selber richtet und Gott 
Allein den Anbruch des Jüngsten Tages kennt. Wo blieben nun 
idso die Toten in der Zwischenzeit, bis ihr Schicksal entschieden 
ond der Himmel und die HöUe aufgethan ward? Trieben sie 
«ich in der Welt oder wie die Weisse Frau im Berliner Schloss 
herum, des obersten Erkenntnisses gewärtig? — Judicium mihi 
adlnic .viprresf: soll sie geäussert liaben, als sie im Jahre 1628 
zum erstenmal erschien. Man kann hier nicht umhin, den Dante 
einmal mit grossen Augen anzusehen und seine ganze Wanderung 
ein wenig naiv zu finden. 

El, wie konnte er denn in der Holle so viele Sträflinge, im 
Himmel so viele 8(^1 ige antreffen, wo noch gar nicht Gericht 
gewesen war? — Von Kechts wegen musste noch alles leer stehen. 
Es müsste heute noch leer stehen. Dasselbe gilt eigentlich von 
allen Offenbarungen, von der neuentdeckten Petrusapokalypse 
an, in der die Höllenqualen zum erstenmal mit raffinierter Wol- 
lust beschneben werden, bis zu the pilgrinCs progrm from Ud» watld 
U> tkat.toküA ü to eome^ der berühmten Schrift Bunyans — sogar 
von den bildlichen Darstellungen des Weltgerichts, den furcht- 
baren GuiDiUden eines Orgagna und eines .Michelangelo, die voller 
Inkonsetiuenz sind und eine Hölle vorwegnehmen, die es noch 
gar nicht giebt. Nur geben sich besagte Offenbarungen bloss 
als Visionen, sie schildern nur die Zustände nach dem Tode 
und die Strafen, wie sie einst der ewige Richter über die Bünder 
verhängen wird, während die Göttliche Komödie mitten auf dem 
Boden der Gegenwart steht und über lauter historische Personen, 
sogar über noch lebende, wie den Papst Bonilacius V I II. den 



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46 



Eioleituiio:. 



Stab bricht. Freilich beruht eben darauf zum gaten Teil der 

Keiz und die "Wirkung des Gedichtes; aber man kann doch dem 
Dichter den Vorwurf nicht ersparen, dass er den Eichter spielt, 
ohne dazu berufen zu sein, und eine Privatmeinung, die sich an- 
fechten lässt, für den Urteilsspruch des unfehlbaren Gottes aas- 
giebt. Das ist nämlich die Manier des Bonifacius, der die Leben- 
digen und die Toten in den Bann thut> selbst. 

Die Kirche setzt sich von jeher an die Stelle des höchsten 
KicbterSj dem sie vorgreift. Durch die Teilung des Totoiireichs 
und die Aufschiebung des Totengericbts ist im Christentum eine 
ziemliche Kouiuäion entstanden: jedermann kann nun befinden. 
Der erste beste Einsiedler in Italien kann Visionen haben und 
die Seele Theoderichs des Grossen, des verfluchten Arianers^ in 
den Krater von Lipari fliegen sehen. Er hofft es Grott recht 
zu machen. Das Volk hat bei der neuen Reichsordnung gar 
keinen l'latz mehr für die Toten, die noch nicht gerichtet sind; 
es weiss nicht immer gleich, wo es mit den Toten hinsoll. Da 
braucht es einen sicheren Mann, dessen Stimme Gewicht hat 
und der ihm eine Uberzeugung beibringt. So einer muss rufen: Der 
da kommt in den Hvmnd, Do» Ut FvAUr für Satana$, Abgemacht, 
sda! — Gott loirePs bestätigen. Diese Autorität hat die Kirche« 

Auch in Zeiten, wo sie noch nicht sUmächtig war, hat sie 
ihre Gegner gern dem Teufel überantwortet. Es ist immer so 
gewesen, dass die herrschenden Religionen und die herrschendea 
Klassen den Himmel für sich in Anspruch nehmen und alle, 
die nicht zu ihnen gehören, in die Hölle expedieren. Es ist 
gut, dass sie nicht mehr als eine HöUe auf Erden damit erreichen» 

h) Das TranmUld. 

Kekai)'>i!lation : die Erscheinungen der Seele — jedermann spricht von 
ihr, ni II i id hat sie gesehen — auch die Tritume sind Seelen — man träumt 
von Verstorljenen, man träumt ab*^r auch vfin Menschen, die noch lehpji — 
natürliche Erklärung dieses Vorganges: ein Uespenst, das sich nach Ana- 
logie des 'J'odes im voraus gebihiet hat — Übertragung der Todeseraeheinungeii 
auf das Leben — der Schlaf, er ist dem Freiwerden und dem Gewahrwerden 
der Erscheinung am günstigsten — wir selljst vermögen uns im Schiale 

von unserem eigenen Ich zu lösen. 



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b) Das Traambtld. 



47 



Man kann die Seele mit einem alten Mütterchen vergleichen^ 
das in einem Borkenhäuschen sitzt und in seinen vier Pfählen 
emsig kocht und spinnt, ohne jemals herauszukommen. Niemand 

hat die kleine Hexe je gesehen, sie hat bloss manchmal den 
Kopf zum Fenster herausgesteckt, und man will wissen, es sei ein 
listiger grauer Mausekopt' gewesen. Aber da es in dem Wald- 
hause immer arbeitet und singt, so oft man daran vorbeikommt, 
so zweifelt niemand an ihrem Dasein. Auf einmal ist in der Hütte 
alles still — die Thüre zu oder doch wenigstens angelehnt, aber 
nichts regt sich mehr — und nun bildet sich um das geheimnis* 
volle Wesen ein eigener Sagenkreis. Die einen haben das Ding 
auf einer Ofengabcl zum Schornstein herausfaliren sehen. Die 
andern- behaupten, sie habe sich in eine Unholde verwandelt, 
Nach einer dritten Version ist sie über Nacht als goldgelber 
Vogel davongeflogen. Das eine steht fest: fort ist sie; über 
ihren Verbleib kann man nicht ins Klare kommen, soviel wird 
über sie geklatscht und gefabelt. Der Mythus geht seinen Weg; 
am Ende ist auch das Borkenhiiuschcu weg. Es ist allmählich 
verduftet; nur ein kleiner steinerner Hest bezeichuet noch die 
Stätte, wo das alte ^lütterchen gekocht und gesponnen hat. 
Demun'geachtet fährt das Weiblein fort, gesehen, getroffen und 
gesptlrt zu werden — es wird sogar gefürchtet, obgleich es bei 
Lebzeiten niemand etwas zu leide getlian hat. Sonderbar! Weil 
die Hexe weg ist, erscheint die Hexe, und zwar jetzt tagtäglich, 
während sie sonst so gut wie niemals zum Vorschein kaui. Dass 
sie gestorben sein könne und dass infolgedessen auch das Häus- 
chen nicl)t mehr halte, kommt den . Leuten nicht in den Sinn. 
Und doch träfe das wirklich zu. 

So wissen wir von den Seelen der Verstorbenen Wunder waa 
zu erzählen. Wir verkehren mit ihnen, wir leben mit ihnen, wir 
holen de^n Apostel Paulus auf dem Bahnhofe ab und lassen bei 
Tische für ihn decken, setzen den Herrn Jesus wie der Grai Zinzen- 
dorf ne})en uns aufs Sofa und sagen zu ihm: En bleibt (ilhjx beim 
Alten. Die Geister besuchen uns im Wachen und im Traume, 
wir zweifeln an ihnen so wenig wie an den Menschen, die um 
uns sind. Und das alles ist nichts als Phantasmagorie, 



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48 



Umleitung. 



Phantasmagorie? — So fassen wir nämlich die Sache auf. 
"Wir wissen freilichi dass die Bilder der Verstorbenen, die uns 
umschweben, anf eine freie Thatigkeit des Gehirns, auf unsere 
Einbildungskraft und unser Gedächtnis zurückzuführen sind. 

Das ist lÜL-ht die Meinung der Naturvölker, die sich um so 
-eil'riger ins Jenseits vertieleu, je weniger sie das Diesseits kennen. 
Sie sind zu dem Schlüsse gekommen, dass die Toten in Form 
iron Seelen oder Gespenstern auferstehen. Wenn aber die Toten 
noch leben, so müssen sie auch noch sichtbar werden und er* 
scheinen, sogut wie die eigentlichen Menschen. Da sie vor den 
letzteren die grossere Freiheit und Beweglichkeit voraushaben, 
so können sie sogar leicliter und häufiger erscheinen als wirk- 
liche Personen. Der Begritf des Traumes, als eines subjektiven 
Vorgangs, fällt bei den Naturvölkern ganz weg. Wenn Achill 
in der mehrerwähnten Stelle von dem toten Patroklus träumt, 
-ao beisst es ganz einfach: die Seele des armen Patroklus 
Je am (IHas XXIli, 65). 

Das hat Methode. Wie ist es nun aber, wenn man von 
einem noch lebenden Menschen träumt? Wie vermag sich der 
grübelnde ^Naturmensch diese autiäilige Thatsaehe zurechtzulegen? 

— Er kann es nur durch einen Analogieschluss, indem er die 
Todeserscheinungen auf das Leben überträgt. Media väa in mork 
-sumus. Bereits bei Lebzeiten kann nach der Meinung des Volkes 
«in Geist abgesondert, ein zweites Ich gebildet und damit zur 
Erscheinung gebracht, der einfache Mensch verdoppelt werden. 

Von selbst konnte sich das Volk seine Träume jedenfalls 
nicht erklären. Man muss sich hüten, ihm Kombinationen in 
die Schuhe zu schieben, die eine fortgeschrittene Zeit gemacht 
hat. Es ist bekannt, dass infolge der sogenannten unmerklichen 
Perspiration von unserer Haut fortwährend ein unsichtbarer Dunst 
aufsteigt, der unter gewissen Umständen zum Schweisse wird 

— die Duft- und Biechstoife, die von einem Individuum aufs 
andere, Liebe und Hass, Sympathie, Antipathie erzeugend, über* 
gehen, haben grosse Anlage zu einem Geist — ( mllich wissen 
die Spiritisten von einem Fluidum, einem (3d, einem i'erisprit 

melden, das den ganzen Körper durchdringe, das die söge- 



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h) Das Traombild. 



49 



nannten Medien im Ubertlusse besitzen und das uns gelegent- 
lich schou im Leben verlassen und einen Aatraileib bilden könne. 
Indessen würden diese Aasströmungen, die realen und die bloss 
hypothetischen, doch nur ein sehr schwaches Analogen der 
mächtigen Geister sein, die bei der Verwesung entbanden werden, 
die das Bild des Entschlafenen mitfortzanc^imen und es dort 
oben neu zusumnienzusetzen scbeinen. Sie besitzen gleichsam 
keinen Trieb zu einer neuen Organisation, weil der alte Organis- 
mus nicht zerstört wird; der Naturmensch hat sie vermutlich 
gar nicht bemerkt, geschweige denn für seine Psychologie ver- 
wertet. JBs ist vielmehr in hohem Grad wahrschetnhchr dass 
der Wilde, der im Traume einen anderen, noch lebenden Wilden 
eah, dieses Traumbild für eine vorläufige Seele hielt und dass 
er in seiner Ratlosigkeit die Zustände des Jenseits auf das Dies- 
seits anwendete. Durch die Erfahrungen, die er mit dem Tode 
gemacht hatte, war seine Phantasie gleichsam geschult und auf 
solche Sprünge eingerichtet worden — wie der KafFer im Traume 
von seinem toten Bruder Besuch erhalten konnte, so mochte 
ihm auch der lebende Bruder» das heisst, in seiner Hütte ein 
Gespenst erscheinen, das nach Analogie des Todes gleichsam im 
voraus, bei Leibesleben ausgetreten war, und zwar ohne dass der 
gute Bruder das geringste eingebüsst und von seinem Bestände 
verloren hätte. 

Man verstehe mich nur recht : der Geist, der bei «der wirk- 
lichen Verwesung aufsteigt, ist natiirhch genau so illusorisch 
wie dieser vermeintliche Doppelgänger. Aber es kommt doch 
hier nur darauf an, der Spekulation des Naturmenschen nach- 
zugehen und die Richtung 2u erraten, die smne Gedanken not- 
wendig nehmen niussten. ii^r lial. wie gesagt, zwei Brüder, einen, 
der gestorben, und einen, der noch am Leben ist: heute träumt 
er von dem toten Bruder, morgen von dem lebenden Bruder. 
Beides ereignet sich alltäglich bei allen Menschen. Beidemale 
träumt er, beidemale ist es eine einfache Hallucination oder 
Sinnestäuschung; aber die Deutung, die er derselben giebt, ver> 
schieden. In dem einen Falle besitzt er einen starken Grund, 
an eine Verwandlung und an ein Fortleben nach dem Tode zu 

Kleinpanl. Die Lebendigen and die Toten. 4 



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50 



EiDleitung. 



glauben — vor seinen Aufjen liat sich ja gleichsam die Seele 
aus dem verwesenden Leib gebildet, und wetm sie nun wieder- 
kommt, 80 ist das kein Wunder. In dem andern Falle fehlen 
ihm diese Anhaltspunkte. Benselben Bruder» von dem er in 
der Nacht geträumt hat, sieht er am nächsten Morgen frisch 
und gesund, in seinem Kaross wieder; keine Spur von einer 
Veränderung, von einem höheren Wesen. Im Gegenteil, er hat 
geschlafen wie ein Ratz. Was soll unser Kaffer nun davon 
halten? — Dass dieser Bruder über ^acht vorübergehend ge^ 
sterben sei. 

Der Seelenglaube, wenn er einmal ins Bollen gekommen ist, 
bringt dergleichen mit sich« Der Weg Ist einmal beschritten; 
auf den Geist des Verstorbenen folgt der Geist des Entschlafenen^ 

das scheint nur konsequent. Man hüte sich die Sache umzu- 
kehren und vom Leben auszustellen — die Menschen haben nicht 
etwa geglaubt, wenn ihnen die Schlafenden im Traurae erscheinen 
könnten, so könnten es auch die Toten. Von den Toten träumt 
man in erster Linie. 

Das Volk der Träume wohnt in der Unterwelt^ oder wenigstens 
auf dem Wege zur Unterwelt, das ist ein sehr wichtiger Finger- 
zeig, den uns Homer im letzten Buche der Odyssee (XXIV, 13) 
in Bezucr auf seine Auffassung erteilt. Die Träume sind Seelen, 
bald von wirkliciien Toten, bald von einstweiligen, die bewusst- 
los im ;^iefen Schlafe wie tot daliegen. Agamemnon, der im 
zweiten Buche der Ilias von Nestor träumt, empfängt genau so 
einen Besuch wie Achilles im dreiundzwanzigsten; auch hier hätte 
es heissen können: die Psyche des greisen Nestor trat an Aga- 
meuinons Bett. Wenn Homer die Sache zur Abwechslung ein- 
mal so darstellt, als ob der Traum, der Traumgott in Gestalt 
des !Nestor und auf höheres Geheiss zu Agamemnon komme, so 
ist dies nur eine künstliche Einkleidung des Vorgangs. Im Hinter- 
grunde steht immer die Vorstellung, dass die Seele Nestors er- 
scheine, wie die des Patroklus. Die Toten bahnen den Lebenden 
den Weg. 

Noch einmal: man kann die Sache nicht umkehren. Da- 
gegen versteht sich eine andere Umkeiiiung von selbst; wir er- 



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h) Du Tnnmbild. 



51 



halten nicht bloss Besuche, wir machen auch Besuche. Wir 
selbst, die Empfänger der Traumerscheinung, vermögen uns im 
Schlafe vorübergehend von unserem eigenen Ich zu lösen und 
wie Gespenster vor einen vielleicht in weiter Feme Schlummern- 
den zu treten. Der Schlaf, dieser Bruder des Todes, ist sowohl 
dem Freiwerden als auch dem Gewabrwerdeii der Ersclieinung 
am günstigsten, weil die Seele dann so wie so aus dem Körper 
tritt und sich draussen zu schaffen macht; gewöhnlich werden 
^\(^ Besuche im Schlafe ausgetauscht. Allnächtlich ist ein 
Kommen und Gehen von Seelen wie von Soldaten auf Urlaub. 
Die Bekannten treffen sich vor dem einen oder vor dem andern 
Hause oder an einem dritten Orte. 

Was die Seele bei diesen Ausflügen zu sehen bekommt, 
braucht nichts Menschenähnliches, überhaupt nichts Lebendiges 
zu sein; es ist niclit nötig, dass unnier eine Seele zur andern 
Seele komme. Wir können leblose Dinge, Tote, richtige Tote 
im Traume sehen, die uns nicht wieder sehen und deren Augen 
geschlossen sind, so dass der Verkehr gar nicht gegenseitig ist. 
Dieser Fall tritt z. B. ein, so oft wir von Leichen als solchen 
träumen ; er ist mit der Geistererscheinung nicht etwa zu ver- 
wechseln. Wenn sich Achilles im Traume mit dem Patroklus 
unterhält, so thut er das mit der Seele des Patroklus, mit dem Ka- 
daver könnte er es nicht, dieser vermöchte dem Achill überhaupt 
nicht zu erscheinen. Die Geister sind auch Leichen, aberiebendige 
und auferstandene. Wohl aber vermöchte Achill den entseelten 
Leichnam seines Freundes im Traume zu erblicken, wie das oft 
genug geschieht ; Homer würde sich das so erklären, dass Achills 
Seele im Schlafe ausgeflogen und, um mich so auszudrücken, 
auf den Friedhof gewandert sei. In allen Füllen, wo das Traum- 
bild seiner Natur nach unbeweglich ist und nicht zu uns ge- 
kommen sein kann, wird vorausgesetzt, dass wir wie der Prophet 
Mohammed zu ihm gegangen sind, mag es nun ein Berg und 
eine schöne Gegend oder eine Leiche sein. Das ist wenigstens 
die Theorie der Indianer, die hierin alle Naturvölker vertreten; 
man würde sehr wenig Scharfsinn beweiöcn, wenn man wähnte, 
dass sie dem Seelenglauben im geringsten wiederspräche. 

4* 



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52 



Einleitmig. 



i) Doppelgänger. 

BoppelgRDgar im engeren Sinne — Doppelgänger, die wirklich vor- 
kommen und zn Brangen, zu Betrügereien Anlen geben — nnechte 
i>oppelgänger: die alten 0ötter — dae Soheinbild der 8oh6nen Helena — 
unechtere Doppelgänger: Viefonen, wachend geträumte Träume — das 
Phnntora Alexanders des Grossen in Babylon — solche Erscheinungen werden 
vom Volke auf einen vorläufigen Tod geschoben — der Tod spukt vor — 
der Professor De Wette in Basel — anstatt des Gespenstes kann auch der 
Tote selbst gesehen werden — das Zvv i! » Gesicht, Entzückung — das aller* 
seltsamste Paradoxon — Schluss der Einleitung. 

Wenn die Erscheinung am hellen lichten Tage und während 
des Wachens eintritt, so führt sie im engeren Sinne den Namea 
Doppelgänger. Es wird angenommen, dass sich die Persön- 
lichkeit wie während des Schlafes verdoppele und das Ebenbild, 
das sich nach dem Tode ablöst, jetzt gleichzeitig mit dem Original 
über die Erde gehe, so dass beide nebeneinander existieren und 
der Mensch an verschiedenen Orten gesehen werden kann. 

Der Zufall schafft nicht selten wirkliche Doppelgänger, in- 
dem er zwei wildfremde Individuen zu Zwillingen stempelt. Wie 
oft bemerkt man den charakteristischen Kopf des ersten Napoleon! 
— Sogar in den Stanzen des Raffael, auf dem Gemälde, welches 
die Erteilung des Geistlichen Rechts zum Gegenstande hat. 
Man kann sagen, es giebt keinen europäischen Potentaten, der 
nicht seinen Doppelgänger hätte. Der junge russische Zar hat 
einen in dem Herzog von York^ der Polizeiminister von Peters* 
bürg erhob dagegen Einspruch, dass sich der Hof von St. James 
hei der Zarenkrönung durch diesen Prinzen vertreten liesse — 
der Prinz von Wales hat einen in London, einen reichen Kanf- 
iiKUin. und einen anderen ni Kalkutta, einen Soldaten der Indischen 
Arnae, der bei der Leil)kompagnie des Prinzen stand, als dieser 
seine Indische Keise machte — die Königin Viktoria hat einen 
in einer Bettlerin, die an den Kirchen steht und den Andächtigen 
die Thtire aufmacht. Aus der jüngsten Vergangenheit ist be- 
kannty dass der Portier des Ischler Bahnhofs genau so aussah 
wie Napoleon III,, der Freiherr von Lutteroth in Triest, der 
deutsche Generalkonsul, an Kaiser Wilhelm l. erinnerte, luid ein 
iJchuhmacher in demselben Triest dem König Viktor Emanuel 



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i) Doppelgänger, 



53 



wie ans den Augen geschnitten war, ein Umstand, der den Mann 
bewog, über seinen Laden ein Schild mit der Firma su setzen: 

AI Re ^ Italia. Und der Zufall will wieder dass der jetzige 
König von Italien, Humbert, wirklich ein guter Schuhmacher ist. 

Manclie Komödie der Irrungen entsteht durch ein solche 
frappante Ähnlichkeit, nicht bloss bei Plautus und bei Shakespeare, 
sondern auch im wirklichen Leben; gar häufig wird sie auch, 
von den Tagen des falschen Smerdis an, zu ernstlichen Betrügereien 
und zu politischen Umtrieben benutzt Einer der bekanntesten 
Fälle ist der des Uhrmachers Naundorf, der in den dreissiger 
Jahren als der Sohn Ludwins XVT. und der Königin Marie 
Antoinette auftrat und dessen Sohn noch heute als König Karl XI. 
in den Niederlanden lebt. Das sind die unechten Doppelgänger, 

Es giebt aber noch andere, die noch unechter sind. 

Zum Beispiel die alten Gtötter, wenn sie die Gestalt des 
ersten besten Individuums annehmen. Wer erinnert sich nicht, 
wie Achill im zweinndzwanzigsten Bnch der Iliade auf den 
Apollo schimpft, weil ihn dieser in Agenors Gestalt geäfft hat? 
Wie die jungfräuliche (Toitiii sich nicht schämt, in der Odyssee 
das Geschlecht zu tauschen, bald als Mentes, bald als Mentor 
aufzutreten und in letzterer Gestalt mit dem Telemach sogar 
in den Peloponnes zu reisen? — Einer der spasshaf testen Ein- 
falle aus dem Altertum ist die Fiktion des Stesichoras: dass 
die schöne Helena niemals nach Troja gekommen und der ganze 
Trojanische Kriepr nur ein Krieg um ein Scheinbild f;ewesen sei, 
das Paris an Steile der wahren Helena irrtümlich in lie Hände 
bekommen habe. Enripides hat diese Ij'iktion in seiner Helena 
▼erwertet. Diese Art Doppelgänger ist, wie gesagt, erst recht 
unecht, weil hier nicht einmal eine zuföilige Ähnlichkeit besteht. 
Nicht nur, dass der Doppelgänger lügt, das Abbild selbst ist 
Blendwerk. Es giebt aber immer wieder Doppelgänger, die 
immer noch unechter sind. 

Ich meine tiiejenigen Phantome, mit denen sich die Menschen 
selbst betrügen, indem sie Sinnestäuschungen unterliegen. Es 
kommt vor, dass man, vermöge einer lebhaften Hallucination, im 
Wachen bestimmte Personen sieht, bekannte Stimmen hört, die 



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54 



Einleitung^. 



gar nicht zu sehen und zu hören sind und die einem Traume 
gleichen — der Träumende ist dann von der B^alität seiner 
Phantasien aofs innigste überzeugt. Es kommt vor, sage ich, 
dass man einem guten Freunde, der sein Alibi beweisen kann, 
urplötzlich im Korridor begegnet; es kommt vor, dass man 
schaudernd sich selbst gegenübersteht. Da ist eine alte Kammer- 
frau im Schloss erkrankt : sie hat, wie sie angiebt, eines Abends 
auf der Wendeltreppe iliren Geist gesehen. Ihr Geist ist ihr 
entgegengekommen! wie sie hinunterstieg, und stillschweigend an 
ibr vorbeigegangen. Da hat die Gräfin Solms auf Braunfels 
▼or ihrem Tode mehrmals ibr Spiegelbild gesehen, so deutlich 
gesehen, als guckte sie in einen wirklieben Spiegel. Da steht 
der Professor Ue Wette in Basel, im Spiesshof und sieht lu seine 
AWtlinung hinüber: wen erblickt er am Fenster seines Schlaf- 
zimmers, ein Licht in der Hand, im Schlafrock? — Er erkennt 
sich selbst. Er träumt; er glaubt zu träumen. 

In der Tbat ist die Erscheinung ganz und gar bescbaffen 
wie ein Traumbild, nur der Schlaf dient ihr nicht mehr zur 
Entschuldigung, weil sie mitten im Wachen eintritt. Man kann 
sie sich auch nicht anders erklären als den Traum, wenn inan 
noch die Naivetät bat, an eine transcendente Ursache zu glauben. 
Es bleibt wiederum nichts anderes übrig als anzunehmen, es 
habe sich vermöge einer vorläufigen Verwesung ein Ding abge- 
sondert, wie es im Tode gebildet wird; und dass der Doppel« 
gänger, wie er auch heisst: ein Geist sei. Weil sich aber dieser 
Geist bei Tage entbindet und sehen lässt, muss er in heryor* 
ragender Weise ominös und vorbedeutend sein : ein wacher Traum 
hat etwas Ungewöhnliches und Ausserordentliches. Ein solches 
Gesicht wird ernster genommen als die nächtliche Traumerscheinung, 
wenn es auch mit ihr verwandt ist. Die Verwandlung, der wir 
alle entgegengehen, spukt yor^ um mich so auszudrücken. Der 
Mensch, dessen Geist unter so besonderen Umständen gesehen 
worden ist, muss sterben — sterben wie Alexander der Grosse 
in Babylon, nachdem sich der unheimliche Gesell iK^hrend des 
Ballspiels in seine Kkidir gesteckt und auf seinen Platz gesetzt 
hat. Es ist ebensogut^ als ob er schon tot im Sarge läge. 



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i) Doppelgänger. 



55 



Das wäre nur eine andere Form der Hallucination ; dieselbe, 
die man in den Schottischen Hochlanden: Zweites Gesicht 
zu nennen pflegt. Sie stehen in der Nacht auf und sehen einen 
Leichenzug — sie sehen, wie John Knoz auf dem Kirchhofe 

eingescharrt wird — der Schäfer am Loch Lomond sieht plötzlich 
den Kelpy über das Wasser springen, an der Stelle wird das 
junge Paar, ich hätte bald gesagt: der Pastor Rosmer mit 
seiner unglücklichen Braut ertrinken — Ibsen hat diese Vision 
den Schotten entlehnt Freilich besitzen die Schotten nicht 
gerade ein Privilegium aufs Seeond Sight\ seihst Don Juan 
soll -einmal durch die Strassen von Sevilla geschlendert^ in eine 
Kirche eingetreten und hier schaudernd Zeuge seines eigenen 
Leichenbegängnisses geworden sein. Man erkennt leicht, worin 
sich das Zweite Gesiebt vom Doppelf^ätjger unterscheidet: es 
beruht nicht auf einer Erscheinung, sondern auf einer Entzückung. 
£iS ist ein Traum, in welchem die Seele selbstthätig in die Ferne 
und in die Zukunft schweift. Es entspricht der Leiche, die 
man im Traume aufsucht und die nicht seihst erscheinen und 
kommen kann. Der Doppelgänger ist ein Geist. 

Er liegt nicht im Sarge — er geht wie sein zweites Leben 
neben dem Mensclien her, der noch das erste Leijen führt — 
er ist kein grösseres Wunder als die nächtliche Traunierscheinung, 
aber in noch höherem Qrade mystisch, mystischen Kombinationen 
und Folgerungen vorzugsweise günstig. 

Die Idee, dass einer bei Lebzeiten verwesen und nicht nur 
anderen, sondern sogar sich selbst als Geist sichtbar werden 
könne, hat etwas über alle Massen UiibeuulRlas — der einfache, 
einer gewissen Ln^ik nicht entbehrende Gespensterglaiibe versteigt 
sich hier zu einem schaueriicUen Paradoxon. Wie wir schon gesagt 
haben : der Seelenzauber, wenn er einmal ins Rollen gekommen ist, 
treibt die Menschen zu Voraussetzungen, die absolut nicht mehr 
verständlich sind, und verdreht ihnen mit dem Leben und dem 
Sterben vollständig den Kopf. Wer da lebet, wann er stirbt^ 
warum sollte er nicht auch sterben, wann er lebt? Wer weiss 
denne. wer weiss denne ! — Der alte wunderliche Sterber, der 
philosophische Querkopf in der Flöner Kirche ist an allem schuld. 



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I. Die HöllenfSBiUiia, 



1. Der Hund hat ihn gesehn, der Hund hat ihn gefressen. 

Die T iriiie des Schweigens, BeprKbnispTatze der Parsen — Auaset^ung- 
der Leichen nach den Vorschriften Zoroasters — der Parse stirbt im 
Anpfesicht eines Hundes — der Hund soll ihn eigentlich auffressen — er 
ist mit dem Cerberus identisch — warum Hunde und Wölfe für rreister- 
sichtig gelten — der Instinkt der Aastiere — die Hündn tn?id ihres Amtes 
entsetzt worden, die Geier noch in Funktion ~- die i'i i is^ebunor der Toten 
geht der Bestattung vor — die alten Ägypter Menschenfresser — bei 
Völkern, wekhe anfingen, ihre Toten zu bestatten, heftete sich dann an 
die Preisgebung ein Makel — sie erscheint als Unglück, wird als Strafe 
verhängt — Antig^one, Bombay und Theben — aber der Hund lebt noch 
in der Eriunerui.g dieser Völker — sie ▼ersetzen ihn in die Unterwelt, 
deren Scbrecken eich aus den Leicbentieren der Oberwelt rekrutieren 
der Cerb^us ftrbeitei der Pietät entgegen, die alte möglichen Vorkehrungen 
getroffen hat, daa Scheuaal abzuhalten — ein unTerständlichee Rudiment — 
die Ablötung mit dem flonigkuchen — allmählich verlor sich der Gedanke 
an das Auffressen, der Hund ward zu einem finstern Damen, er floss mit 
dem Höllenfürsten zusammen, er bedeutete den Tod. 

Wir sind in Bombay, wo so viele Rassen und Kasten neben- 
emander wohnen ; und stehen auf der Esplanade, vor dem Stand- 
bilde der Königin Viktoria. Wir blicken über die Bai nach 
Malabar Hill hinfiber. Was sind das für runde Türme, um die 
die Geier fliegen? Doeb keine Gasometer? Wie Babensteine 
ragen sie unter Tamarinden und Palmen schweigend in die 
Höhe, im Sonnendutt verglühend? — 

Unsere Frage hört ein Parse, der eben an der Bucht, gegen 
das untergehende Gestirn des Tages gewendet, sein Gebet ver- 
richtet hat. £8 ist Sir Dschamschedschi Modi, ein Enkel des 
berühmten Parsikanfmanns, dessen Name einen guten Klang in 
dieser Stadt bat. Er lüftet seinen hohen schwarzen Hut und 



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1. Der Bund hat ihn gesebrii der Hund hat ihn gefressen, 



57 



erteilt uns ungefähr folgende Anskimft: Das sind die Türm»- 

des Schweigens, unsere Begr.ibnisplätm. Wir nennen sier 
Dakhma; der Käppis Khaoo hat Kaum für 237, clor ßanajee für 
262 Leiclieii, der dritte und der vierte fasst etwas weui^'er. Auf 
ihnen werden die Verstorbenen nach der Vorsclirift des Avesta, 
unserer heiligen Bücher, ausgesetzt and den Raubvögeln zuni 
Frasse überlassen. Es sind hohle, ans Stein gebaute Cylinder^ 
oben offen, so dass die Geier hinzukönnen, von einem dreifachen 
Mantel umgeben. Auf die Plattform, in die einzelnen Bogen 
des Mauerrings werden die Leichname gelegt — nackt, mit dem 
Kopfe nach Osten, das Gesicht nach oben. Der innerste Kreis 
gehört den kleinen Kindern, der mittlere den Weibern, der 
äusserste und grösste den Männern. Zwischen den drei Kreisen 
laufen Gänge für das Personal. Die Vögel sitzen wie die 
hungrigen Erben zu Hunderten auf dem Bande der Umfassungs- 
mauer und stürzen sich gierig auf jedes Individuum, das hier- 
hinaufgetragen wird, sobald die Träger fort sind. Die G«ier, 
die Adler und die Weilien treten die Erbschaft an, Krähen und 
Marabus mischen sich darein; dank diesem Zuzüge sind sie auch 
während der diesjährigen Pest mit allen Leichen fertig ge- 
worden, trotzdem dass während der ersten vierzehn Tage des 
Januar ihrer anderthalbhundert hinaufgeschafft werden mussten. 
Jenachdem sie mit ihrem Schnabel das rechte oder das linke- 
Auge zuerst aus der Höhle ziehen, gilt der Verstorbene zun^ 
Reiche des Lichtes oder der Finsternis gehörig. In ein paar 
Stunden sind die Weichteile aufgezehrt, und nur das Knochen- 
gerüst ist übrig. Die Geheine bleichen und dorren dann in der 
Sonne; sind sie ganz trocken, so werden sie gesammelt und in 
den mit Steinfliesen ausgelegten Cylinder hineingeworfen, wo sie 
in Staub zerfallen. Beich und arm geht diesen Weg; der Tod 
macht alle gleich. Von niemand bleibt eine Spar; er ist aus- 
gestrichen aus dem Buche der Lebendigen. Er hat keinen Teil 
mehr an den Dingen dieser Welt. 

Wir wählen besagte Form, damit wir nach dem Tode die 
Welt nicht infizieren und die von Ormuzd rein geschaffene Erde 
nicht Terunreinigen. Der Tod ist ansteckend wie die Pest; der 



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I. Die iJöUenfaana. 



Dew der Eäulnis bat in dem Leichnam seinen Wohnsitz auf- 
geschlagen: er will Gottes heilsame Schöpfungen zerstören. 
Deshalb ist es uns verboten, die Toten zu begraben — die Toten 

sind Gift. Die Nasasalars, die Leichenträger, die uns an den 
Ort unserer Bestimmung bringen, verwahren sich so gnt sie 
können; sie stecken in weissen Säcken, an den Händen liaben 
sie Handschuhe, um den Mund ein Tuch, was alles sofort 
nach dem Gebrauch zerrissen und in den Turm geworfen wird; 
nur das Gesicht bleibt frei. Trotzdem hüten sie sieb, den 
Leichnam anzufassen: sie regieren ihn mit Hilfe eines Tragbands, 
des sogenannten Paiwandy damit heben sie ihn auf eine Bahre, 
die von Eisen ist; und wenn sie ihn entkleiden, um ihn den 
Raubvögeln preiszugeben, ziehen sie ihm das Hemd, das gleich- 
falls in die Gruhe wandert, mit eisernen Haken ab. Sehen Sie 
wohl? — Die Menschen sind in Gefahr, die Erde ist in Gefahr; 
Auch sie Tor Ansteckung zu schützen. Gestattet es irgendwo 
die Jahreszeit nicht, die- Leiche auszusetzen, so enthält der 
Vendidad eigene Vorschriften, was bis zu diesem unerlässlicben 
Akte zu geschehen hat. Erst wenn das Fleisch weg ist, gilt 
der Tote nicht mehr für unrein." 

Sir Dschamschedschi Modi fahrt in seiner Auseinandersetzung 
fort; Der Leichenträger müssen aus diesem Grunde immer zwei 
sein, selbst wenn es eine kleine Kinderleiche ist, die Einer recht 
gut auf den Arm nehmen könnte. Auch die Hunde, deren 
Licht auf den sterbenden Ormuzddiener fallt, die seine Seele 
bei ihrem Gang über die Tshinvatbrücke begleiten, müssen in 
mehreren Exemplaren vorhanden sein, dies aber nur, wenn der 
weisse Hund mit den gelbeu Abzeichen an Augen und Ohren 
nicht zur Stelle ist. 

Der P^rse stirbt im Angesicht eines Hundes. Ursprünglich 
bat nicht der Gleier, sondern der Hund das Totengräberamt 
Terrichtet. Der Hund, der den Verderber allnächtlich am 
Sternenhimmel abwehrt, der hochlautend seine Stimme gegen 
den Bösen Feind erhebt, durch dessen Verstand die Welt be- 
steht. Das scheint mit zieihlicher Sicherheit aus einer Zeremonie 
iiervorzugeheu, die während des Todeskampfes vorgenommen zu 



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1. Der Hund hat ihn gesehn, der Hund bat ihn gefressen. 59 



werden pflegt, die angeblich zu dem Zwecke gescblebt, damit 
der Hund durch seinen Magnetismus das Leichengift an sich 
ziehe und das Hans davor bewahre, die aber offenbar ein Uber-. 

lebsei von einer aitehrwiirdigen Restattiingsweise ist. Wenn der 
Feueranbeter im Sterben liegt, winl ein Hund ins Zimmer ge- 
führt; ist es eine SchwaDgere, die abiebt, so braucht es der 
nnansgetragenen Frucht wegen zwei Hunde. Der Hund soll 
den Sterbenden ansehen, ehe der Fliegendämon kommt und über 
den Leichnam herfallt; der Hund schlagt den Fliegengeist. Da 
man dem Verwandelten nur auf neun Schritte nahe kommen 
ilarf, so wird, um den Blick des Hundes auf ihn zu Iciikeii, ein 
Brot in vier Stücke geschnitten und in der Richtung nach dem 
Sterbebett zu geworfen. Die abendländischen Gelehrten denken 
hier an den Honigkuchen, die MüurovTTa , die einst in 
GriechenUnd für den Oerberus neben die Leiche gelegt ward. 
Dreimal muss der Hund auf den Toten blicken; erst dann darf 
man sich ihm nähern. Nun kommen die Leidtragenden herein, 
um den Entschlafenen ihrerseits anzusehen und sich vor ihm 
zum Abschied zu verneigen. Dann verhüllt man dem Toten das 
Gesicht und die weiteren Pflichten haben ihren Lauf. Diese 
Zeremonie heisst das Sägdid, wörtlich: der Hund (ßäg) hat ge- 
sehen {did). Es ist das Visum des heiligen Tiers, das 'Vidimus 
des Todes. 

Sie wird, wie angedeutet, bei der Überführung zum Turme 
noch einmal wiederholt. An der Pforte der Ewigkeit setzen die 

Nasasahirs die eiserne Bahre nieder und enthüllen das Toten- 
antlitz, um es noch einmal durch den iilick eines Hundes zu 
feien. Mittlerweile knarrt der Riegel , das Todesthor wird 
sperrangelweit geöffnet. Sobald der Hund zum zweitenmal ge- 
sehen hat, sein Blick abermals auf die bleichen Züge gefallen 
ist, wird die Bahre wiederaufgenommen und der Tote hinauf- 
getragen." 

Ja, ja, Sir Dschamschedschi Modi, Ihr habt recht; dieser 
sehende Hund ist Euer Cerberus. Es ist das Tier, das die Toten 
brauchen, um die Reise in jene Welt zu machen; die Schwelle, 
auf die sie treten. Was er eigentlich in Kurem Sterbezimmer 



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60 



I. Die Höllenftana. 



soll, Ihr habt es rückhaltlos aasgesprochen — er soll den 
Leichnam auffressen wie der Oerberas. Der Oerberus, der auch 
niemand heransUtost» sondern den Ausreisser einholt cind rer- 
schlingt. Er soll die irdischen Beste des abgeschiedenen Vaters 

als Fetischtiti m sich aufnehmen, und er hat das von jeher 
gethiiD, darum ist er den Persern heilig. Alle Hunde, Schakale, 
Wölfe, Füchse, Hyänen und eigentliche Hunde, Pariahunde, 
Haushunde, wilde Hunde, zahme Hunde sind Aastiere; sie nehmen 
nicht nur Aas an, sie gehen es auch an, lieben es leidenschaftlich 
and ziehen es frischem Fleische vor. Wo ein Aas ist, da 
sammeln sich die Adler, heisst es im Evangelium, wo beiläufig 
die ägyptischen Aasgeier gemeint sind — wo ein Leichnam auf 
der Erde unbestattet liegt, da sammeln sich du H mde. Raub- 
vögel und Hunde thuen sich zusammen, um renien Tisch zu 
machen und den Verunglückten bis auf die grossen Knochen zu ver- 
zehren, das weiss schon der Schweinehirt Eumäus (Odyssee XIV, 133); 
dass der Zorn des Achilles ungezählte Seelen zum Hades schickte 
nnd für Hunde and Baubvögel ein gefundenes Fressen war, 
liest man in den ersten fönf Versen der Iliade. Mit den 
hungrigen Geiern bestehen die lluiule, die sehr brotneidisch 
sind, oft heftige Kämpfe, am Fnde bekommt jeder, sogar noch 
mancher schwächere Gast das Seinige ab. 

Vielleicht haben die Hunde so grosse Anhänglichkeit an 
ans, so viele menschliche Züge^ weil sie mit unserem Fleisch 
genährt sind; jedenfalls hängt es damit zusammen, dass Hunde 
nnd Wölfe geistersichtig nnd prophetische, dem Apollo heilige 
Tiere sind, eine bekuiinte Thutsache, wofür die Mythologie noch 
keine rechte Erklärung gefunden hat. Wenn die Hunde heulen, 
so ängstigt sich das Volk, es giebt ein Unglück, unser Herr wird 
bald fortmüssen — sie besitzen geradezu die Gabe der Weissagung^ 
und auf den Kultstätten des Apollo, z. B. in Delphi, wurden^ 
wie aus einer Anekdote hervorgeht, die Plutarch im Leben des 
Perikles (Kapitel XXI) erzählt, eherne Wölfe aufgestellt. Das 
geht ganz natürlich zu. Aus dem scharfen (Ta uche der Hunde 
und der Wolfe, mit dem sie das Aas auf grosse Strecken hin 
wittern, wurde, wie bei den Geiern und den E,aben, die dem 



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1. Der Hund hat ihn gesehn, der Huud hat ihn gefressen. 61 



Apollo gleichfalls geheiligt Bind, eine Klugheit, eine Voranssicht 
abgeleitet, die sich zunächst auf einen bevorstehenden Todesfall 
bezog, die sich in der Schätzung des Volks nnmerklich erweiterte, 

aber imiiier aiii Geister und Geistwesen beschränkt blieb. Gerade- 
sogut wie sie «Irs Fleisch selion rochen, wenn es anfin«^ zu ver- 
dunsten und bicii zu vergeistigen, spürten sie es auch, wenn es 
YoUkommen abgelöst und zum Geiste geworden war. Alle Seelen 
«ind, wie gesagt, sublimierte und in die Luft gegangene Leichen, 
sie haben gleichsam den Leichengeruch an sich; infolgedessen 
▼erraten sie sich den Hunden. Biese sehen den Gkist des Ver- 
btuibenen, der umgeht und sich verderbenl)rniL:rii(] luilit; der, 
nach der gemeinen Annahme aller Naturv()lker, seilest wie^ler den 
Tod bringt. Wie es Longfellow in der Goldenen Legende einem 
^bbiner in den Mund legt: 

the dogB howl when, with ioy breathi 
great Sammael, the angel of deatb, 
tflkes tbro' the town bis fligbt 

Die letzte Konsequenz dieses Gedankens ist, dass die Hunde 
überhaupt alle Geister sehen und dass auch die Götter ihrer 
guten Nase nicht entgehen. Im 16. Buche der Odyssee erscheint 
Pallas Athene dem Odysseus. Telemach sieht sie nicht — aber 
die Hunde bemerken sie sogut wie Odyssens. Winselnd stieben 
sie durch den Hof. Und anderseits erklärt es sich nun leicht, 
wie Hunde und Wölfe Fetischtiere und mit gewissen Göttern 
selber gleichbedeutend sind. Sie haV)en ja einzelne Seelen mü(.s, 
wie man auf Universitäten zu sa<^en pHegt, indem sie die Toten 
gefressen haben; sie stellen die ewigen Wohnungen, die ambu- 
lanten Tempel der verewigten Eltern dar. Während die Geister 
der Verstorbenen nur immer eingebildet und geglaubt, aber that* 
sächlich niemala gesehen werden, schweifen die Aastiere, welche 
«ine Leiche verzehrten, wie leibhaftige und greifbare Erinnerungen 
geheimnisvoll umher : und da ihr Geschlecht nicht ausstirbt, sondern 
unverändert durch die Jahrtausende fortbesteht, so glauben die 
Menschen immer noch das heilige Individuum zu sehen, das einst 
in grauer Vorzeit den Urältervater oder die Ahnfrau verschlungen 
hat, das den Geist des Verstorbenen in sich schliesst wie ein 



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62 1* HöUfflifiiana. 



Gefäss und das nun mit seinem Verstände die Weit regiert Ihr 
Instinkt hat die Aastiere gross gemacht. 

Diesen Instinkt haben also die alten Perser, deren Religion 
die indischen Parsit ihre Nachkommen^ bis heute treugeblieben 

sind, benutzt, das heisst, sie haben ihre Toten, um sie aus der 
Welt zu bchaffeu, den Aastieren methodiseh überlassen. Der 
Hund hat dabei jedenfalls ursprünglich die Hauptrolle gespielt, 
aber allmählich den Baub vögeln weichen müssen, so dass er 
gegenwärtig nnr noch als Zuschauer erscheint^ die Geier in 
Funktion sind. Er hat nur noch den Pass zvl yisieren und dem 
Wanderer bei seiner letzten Reise das Sägdid auszustellen, als 
ob das von jeher notwendig gewesen wäre. Das ist das Schicksal 
aller Knltusformen, dass sie von der Folgezeit nicht mehr ver- 
standen, verdreht, verballhornt, verhimmelt, aber immer noch 
beibehalten werden. Der Hund, dieser uralte Gefolgsmann des 
Menschen, waltete einst seines Amtes wie der ostindische Adjutant, 
die Abfälle freiwillig beseitigend, nachdem sie Tom Menschen 
verlassen oder in die Heide hinausgeworfen worden waren. All- 
laaiilich trat er in den Gesichtskreis und daiait m die Dienste 
und in die Obliut der menschlichen Gesellschaft, der er das 
Luder abnahm, wie eben auch die Marabus in Ostindit n. die 
Geior in Ägypten öffentlichen Schutz geniessen und die Tötung 
eines Aasgeiers in Kairo mit schwerer Strafe geahndet wird; 
dasselbe geschieht auf Jamaika und auf Cuba. Auf dieser Stufe 
stehen noch gegenwärtig die sogenannten Pariahunde im Orient, 
die von den Moslemin geduldet, ja, sogar ausdrücklicli eihalteu 
und mit eignen Vermächtnissen bedacht zu werden püegen. ^un. 
wurde der Hund zum ofhziellen Menschenfresser, dem man die 
Leichen mit derselben Feierlichkeit übergab, mit der wir sie in 
unseren Erbbegräbnissen beisetzen. Zuguterletzt war er nur 
noch eine stumme Person, die beim Leichenbegängnis mit- 
zuwirken und den geliebten Toten verständnisinnig anzublicken 
hatte. Die Sitte änderte sich, der Hund, nicht überall geachtet, 
erscliien nachgerade zu gemein, zu roh, der gebildete Geschmack 
verlangte etwas Erhabeneres, Vornelimeres — Türme und Raub- 
vögely die in die Luft aufstiegen. Wenn sie sich gesättigt er> 



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1. Der Hund hat ihn gesehn, der Hund hat ihn gefreBsen. 6S 



hoben und in unabsehbaren Höhen verloren, schienen sie den 
Verstorbenen mit zum Himmel hinaufzunehmen, nicht andera 
als wie bei der Apotheose auf dem Marsfeld die Seele des 
Augttsttts Yon eioem Adler emporgetragen wurde. 

Bei denjenigen Völkern, die anfingen» ihre Toten za bestattent 
sie in Höhlen beizusetzen, der Erde oder den Flammen zu über- 
geben, haftete nachgerade an der Atzung mit Menschenfieisch 
ein Makel. Sie ist jedenfalls die älteste und verbreitetste Form 
der menschlichen Exequien gewesen, wobei bemerkt werden muss, 
dass man bei vielen wilden Völkern und sogar bei höheren Tieren 
die Sitte beobachtet hat, die Leichen ihrer Angehörigen selber 
zu yerspeisen und dann die Knochen zu begraben. Seitdem 
W, M. Piinders Petrie in mehreren ägyptischen Felsengräbern 
aus dem vierten Jahrtausend vor Christus, teils in Särgen, teils 
in einfachen Hüllen von Leinentüchern sorgsam gruppierte 
Menschengebeine vorgefunden hat, die eine kunstvolle Zerstücke- 
luDg des Skeletts verraten, ist er geneigt, diese Sitte, die als 
Endokannibalismus bezeichnet worden ist» auch den alten 
Ägyptern zuzuschreiben« Sie dürfte bereits der Pietät entsprangen 
und eine Art Fortschritt gewesen sein ; man rührte mit religiöser 
Scheu selbst an den geliebten Leichnam, um ihn nicht den Aas- 
tieren preiszugeben, vielleicht auch um seiner Seele, seines ]\rntes 
teilhaftig zu wenkii. Allmählich sträubte sich das GefiUil gegen 
die eine und gegen die andere Form. Den Toten zu stören und 
in das überirdische, verhüllte Wesen einzugreifen, erschien mit 
einemmal undenkbar ; man legte den höchsten Wert darauf, dasa 
die irdischen Reste so lange wie möglich erhalten und dabei doch 
vor den schändenden Bissen der Hyänen des Landes und des 
Wassers geschützt blieben. Odysseus beklagt es, wie er auf dem 
Jonischen Meere Schiffbruch leidet, tief, nicht vor Troja gefallen 
zu sein, wo ihm doch ein ehrliches Begräbnis zu teil geworden 
wäre (Odyssee 7,311) — es galt für ein grosses Unglück zu er- 
trinken und von einem Haifische verschlungen zu werden. So 
seihr lag es den Griechen daran, unter die Erde zu kommen, dass 
sie wenigstens eine Handvoll haben wollten, wenn sie ausserdem 
Hause \eiuii^liickten — jedem Toten, auf den sie stiesseu, ver- 



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•64 



I. Die Höllenfaoiia. 



halfen sie durch Aufstreuen von drei Hampfeln Erde zur ewigen 
Ruhe. Archjtas von Tareut» einer der hervorragendsten Männer 
des Altertums, ein Zeitgenosse des Plato, der l)ei einer Seereise 
an der Apuliscben Küste ertrank, bittet in einer Ode des Horaz 
<I, 28) den Schiffer um diese Gunst, injecto tej- pulvere möge er 
weiterfahren; und wenn in Deutschland und England noch 
heute bei einem richtigen Begrühnis jeder drei Handvoll Erde, 
in neuerer Zeit auch Blumen auf den niedergchissenen Sarg 
hinunterwirft, so ist das unzweifelhaft ein liest der altgriechischen, 
vorchristlichen Gepflogenheit. Auch bei den Juden galt es für 
•ein frommes Werk, das Ghrab mit schliessen zu helfen, sich an 
der Türmung des Grabhügels zu beteiligen; daher kommt es, 
-dass sie beim Besuch ihrer Friedhöfe ein paar Steinchen auf die 
Gräber legen. Diese Sitte könnte freilich auch aus der Steinigung 
hervorgegangen sein, mit der man sich der schädlichen Geister 
zu erwehren sucht und die besonders von Mekka her bekannt ist. 

Nur nicht bloss daliegen, nur nicht offen und unbedeckt ver- 
modern, dass jedes Scheusal hinzukann. Es war ein so grau* 
sames Schicksal, von den Aastieren verzehrt zu werden, dass man 
ihm aus Humanität nicht einmal den Todfeind, nicht einmal den 
gemeinen Mörder ausgesetzt wissen wollte ; dass man anderseits 
die Todesstrafe durch Abspruch des Begrähnisses verschärfte, 
^u allen Zeiten gab es Rabeusteiue und Schindanger, wohin 
die Leichen von Verbrechern geworfen wurden — auf Jesreelland 
9oUen die Hunde der Jeebel Fleiadi fressen, sagte Elias der Thisbiter; 
£/ir Gebein soll die Erde düngen, dass niemand mlir sagen mag: 
das ist Isebel (2. Konige IX, ü6 ff.). Das war auch das harte Urteil, 
das den Polynices traf, weil er das Vaterland verraten hatte, 
gegen das sich seine edle Schwester Antigene mit Heldenmut 
auflehnte. Sie begrub den Bruder, obgleich es der König Kreon 
bei Todesstrafe verboten hatte ; sie setzte jedwede Rücksicht aus 
•den Augen, wenn es galt, den geliebten Leichnam den Krallen 
der Raubvögel zu entreissen. Theben war kein Bombay. 

Aber der Hund lebte noch in der Erinnerung dieser Völker^ 
und sie fabelten noch von einem reissenden Cerberus, als schon 
lange kein Gerberus mehr existierte. Der Cerberus war wie 



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1. Der Hund hat ihn gesehii, der Hand hat ihn gefressen. 65 



ein Werwolf, ein Butzemann, mit dem man die Kinder ängstigt 
— wie dieser die kleinen Kinder, so frass der Cerherus die 
Toten und die Yorschriftsmässig Begrabenen. Es war ein Molosser 
Hund, ein Tier wie ein Leonberger, das aber die Phantasie ins 
Ungeheure vergrdsserte und mit einer Mähne von eitel Schlangen 
und hundert Köpfen auf einmal begabte, die hundert Aastiere 
der Erde zu einer einzigen Bdua Cmticeps zusammensetzend. 
Der Cerherus war ein Hund, meinetwegen auch ein Wolf, eine 
Hyäne, ein Schakal — wie gesagt, verstehen wir unter dem 
Hunde nicht IjIoss unsere eigentlichen Haushunde, sondern alle 
Kaub- und Aastiere, welche zur Familie der Hunde gerechnet 
werden; Schakale und Hyänen sogar vorzugsweise, denn diese 
beiden Tiere werden im Altertum den Hunden schlechtweg 
gleichgesetzt ('Taiva = Kvaiva), Das Ungetfim lag also ror 
dem Thor des Hades, wie der schakalköptige, beziehentlich: 
liuiidsküptige Gott Aimhiö vor dem ägyptischen Amenthes am 
Bande der Ly bischen Wüste, oder wie der nordische Höllenhund 
Garmr vor Heiheim lag, alle drei sind sogar ganz dieselben 
Wesen« Dagegen unterscheidet sich der nnterweltliche Phylax 
sehr stark von einem gewöhnlichen Kettenhunde, und zwar aus 
gutem Grunde. 

Kommen die Toten, 
wedelt er mit dem Schwanz und mit d»'n Oliren, doch niemals 
lässt er sie wieder heraus, den Ausreisser packt er und frisst er. 

Dieser Zug der Theogonie (769 ff.) ist berühmt; er will 
offenbar nichts weiter besagen als dass es für immer aus ist, 
wenn einen der Hund holt, dass das Grab seine Beute nicht 

herausgiebt und dass niemaud vviederkelirt. Dass der Tartarus 
wie ein Kerker eherne Pforten hat ; das^ der Zaun, der Heiheim 
umschliesst, wie ihn die Edda schildert, ein eisernes Gitter ist. 
Aber wie wenig ähnlich sieht doch das Benehmen des Cerherus 
einem guten Hunde nach unseren Begriffen ! — Wo pflegt denn 
ein solcher die Fremden anzuwedeln und die Herrschaft, die 
hinauswill, anzufletschen? — Der Cerherus ist eben nichts 
weniger als ein Hund, der das Haus der Unterwelt bewacht; 
er ist der aufgesperrte Höllenrachen selbst. Bloss die Ausreisser 

Kleinpaal, Die Leliendigen and dio Toten. 5 



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66 



I. Die HciUenfauna. 



will er fressen? — Gott bewahre, er frisst die Toten überhaupt. 
Alle Leichen sind nftmlich für den Hund. Deshalb sieht er sie 
gerne kommen. Sie sind Wasser auf seine Mühle. 

Mit anderen AVorten : der Cerberus ]el)te in der Unterwelt 
fort, nachdem er oben abgeschafft worden war; er erschien wie 
ein Verhängnis; dem niemand entgehen kann» was für Mühe 
sich auch die Angehörigen flehen mögen, um es abzuhnltoD. 
Der Cerberus spielt im Hades eine Bolle wie der Werwolf, der 
Schakal in Ägypten oder wie die Hyäne, die Entweiherin der 
Grüfte, in Südostafrika: er frisst die Leichen, die doch he- i 
graben worden sind, ^uäbt sie wieder ans und arbeitet gewisser- , 
massen der Pietät entgegen, die alle möglichen Vorkehrungen 
getroffen hat, um dem Satan das Handwerk zu legen, aber beim 
besten Willen nichts gegen ihn vermag. Freiljch ist es auch 
merkwürdig, wie gut er's hat : er braucht die Leichen gar nicht 
erst auszuscharren, den Friedhof nicht zu durchwühlen — die ' 
Toten sprengen den Sargdeckel selbst, sie kommen dem Hund i 
freiwillig ins Gehege, ja, sie kommen sogar völlig mundgerecht. ! 
Er hat nicht mehr das Fleisch vom Gerippe abzunagen, das 
Fleisch ist ohne Knochen, da die Knochen oben geblieben sind, 
es schleicht wie ein Duft, wie eine Seele zum Thor herein, der 
Hund verschlingt es wie eine Auster. Das liegt in der Konsequenz 
des griechischen Seelenglaubens, der die Menschen gleichsam ' 
zweimal sterben läset: einmal wenn sie begraben werden, das 
zweitemal wenn sie ins Schattenreich geführt und vom Cerberus ' 
gefressen werden. Und es ist für die Zähigkeit der uralten ' 
Vorstellung bezeichnend, dass. um ihnen endlich den Garaus zu 
machen, zuletzt denn doch der Hund dran musste. 

Freilich wollten es die alten Griechen nicht Wort haben, 
was ihnen mit ihrem Oerberus eigentlich vorschwebte, und was 
jedes Kind herauszufinden imstande war. Sie sagten es nicht 
gerade heraus, dass der Hund sie fresse, sie konnten das über- 
haupt mit iliren modernen Anschauungen nicht wohl vereinigen, j 
Der Hund war ein ganz widerspruchsvoller Begriff und ein 
unverständliches Eudiment geworden, die Schrecken des Todes 
unnütz und auffällig vermehrend,' gar nicht mehr am Platze. 



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1. Der Hand hat ihn gesekn, der Hund bat ihn gefresBen. 67 



Wessen sie sich eigentlich zu dem Cerberus versahen, sie ver- 
rieten es mit der Mehrovrra, dem Honigkuchen, den sie der 
lioiche mitgaben, um den Gerberos zu beschwichtigen — dieser 
Kuchen ist nämUch keineswegs wie ein Bissen zu betrachten, 
den ein Dieb dem Biller hinwirft, um ihn zu beruhigen oder zu 
vergiften. Er ist auch nicht mit dem Obolus zu vergleichen, 
der den Toten ins Portemonnaie, das heisst: in den Mund ge- 
steckt ward, damit sie dem Charon die Überfahrt bezahlen 
könnten; er ist keine Abgabe, sondern eine Sühne. Ohne die 
letztere würden die Seelen nicht unsterblich gewesen sein, sie 
wären eben wirklich gefressen worden. Man wollte sich mit 
dem Kuchen lösen, den harten Gläubiger mit einem Stück Brot 
abfinden; man war einfältig genug, seine Hoffnung auf dieses 
erbärmliche Surrogat zu setzen. Der lluml war gleichsam ein 
Gott, dem man sich im Tode zum Opter bnugeu juuöste. Der 
Gott wartete auf seine Mahlzeit, die von Hechts wegen ])ereit8 
beim Tode fällig gewesen wäre, um die er durch das Begräbnis 
gekommen war, die er aber jetzt, beim Eintritt in den Hades, 
unwiderruflich forderte. Nun sollte er sich wieder mit einem 
Pfefferkuchen zufrieden geben, das Fleisch ward ihm vorenthalten, 
wie Hammel- und Schweinebraten im Kultus so oft mit einem 
Kuchen ahrrelöst worden ist. Und siehe da, das gute Tier, es 
nahm wirklich vorlieb, es Hess die Seele, die ja nichts weiter 
als das vergeistigte Fleisch war, in der That passieren, nur 
unter der Bedingung, dass sie niemals wieder herauskäme; so 
beyölkerte sich der Hades. Es ist kindisch, was sich die Menschen 
einreden, um ihre arme Persönlichkeit zu retten und an die 
Unsterblichkeit glauben zu können; der Honigkuchen ein so 
naives Opfer wie der bayerische Seelnapf, eine Schüssel mit 
Mehl und Eiern, die besonders am sogenannten Dreissigst, am 
dreissigsten Tage nach der Beerdigung, nebst einem Brotlaib 
auf die Bahre gesetzt zu werden pflegt 

Allmählich verlor sich der Gedanke an das Aastier ganz 
und gar, und der Cerberus ging so ziemlich rein in einem 
finsteren Todesdämon auf. Der Hund, bereits von früher her 
Tergöttlicht, wurde abermals ein Gott, aber ein schrecklicher,. 

5* 



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68 



I. Die Hollen&iinm, 



* 



imbarmherziger Qott» der furchtbare Gott des Todes. Er floss 
mit dem Fürsten der Finsteniis zusammen, das beweist die 
Hundsfellkappe, der aas der Eopfhant eines Hundes bestehende 
Helm des Pluto — das beweist die hundsköpfige, als schwarze 
Hündin, ja, geradezu als Cerberus angerufene Hekate — das 
beweist der Scliwur, den der Richter der Unterwelt einführte 
und der dem Sokrates so ^^eläufig war wie uns etwa: 7o(f nnd 
Teufel, Die Formel: vri %6v vtvva, die noch heute im Volke 
fortlebt und gelegentlich ins Italienische (af^ di Cmie) und 
Deutsche übersetzt wird (beim Hund). In Ägypten ist der 
Schakal sogar zu einem milden Herrn des Grabes und, welch 
ein Widerspruch ! — zu einem Gotte geworden, der den Menschen 
nach einem laugen Leben im hohen Alter eine gute Bestattung 
gewährt. 

Als Todesgott ist der Hund von dem Fetischtiere sorgfältig 
zu unterscheiden. Das letztere hatte seine Heiligkeit daher, dass 
es als ehemaliges Leichentier einzelne gute wohlwollende Seelen 

in sich trug und gleich einem Reliquienschrein das Heiltam 
verschloss. Der Cerberus ist vielmehr eine Personifik atiun des 
Todes, der nichts verschont, der unersättlich, unabwendbar, 
unbezwinglich im Hintergrunde stellt, gegen den kein Kräutlein 
wächst. Wir pflegen uns den Tod, der Offenbarung gemäss, 
wie einen Satumus vorzustellen, der die reifen Trauben mit 
seiner Hippe schneidet und die Ähren des Feldes mit seiner 
Sense abmäht, denn alles Fleisch ist wie Gras — die Griechen 
sahen in ihm mit altertümlicher Deutlichkeit den Hund, der die 
ganze iVJenschheit aulTrisst. Er geht wie der Teufel umher und 
suchet, welchen er verschlinge ; Dante hat gewiss an ihn gedacht, 
wenn er seinem Luzifer im Mittelpunkt der Erde drei Köpfe 
giebt und ihn mit den drei Mäulem die drei grossen Verräter: 
Judas Ischarioty Brutus und Oassius zermalmen lässt In Ur- 
izeiten frass der Hund; allmählich frass nur noch der Tod. 

Den Hund aus der Unterwelt heiaulzuhuleii, war die letzte 
und schwerste Arbeit des Hercules, wie er fOflyssee XI. 623) 
selbst erzählt. Das hiess nämlich den Tod überwinden. Christi 
JiöUenfahrt hat keine andere Bedeutung. Vielleicht, dass auch 



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69 



der Hand, der den Äskulap begleitete, den Tod Torstellen sollte? 
Aakulap war auch ein Heiland, ein Sieger über den Tod? — 
Denn der Hund wird doch nicht die Kranken, die dem Äskulap 
starben, beseitigt und den Vorschlag des zechenden Mediziners 
gehört haben: Lass mich^ ich verspreche dir meine Kranken lialb 
dafür \ — 

Der Hund galt in Griechenland für einen alten Professor 
der Medizin. £r hatte die Qaeckenwurzel, den Hundsweizen 
und verschiedene andere gute Mittel in den Arzneischatz ein- 
geführt. Er heilte auch das Leben, das gleichsam eine lange 

Kiaukiieit war. In dieser Eigenschaft wurde er den Menschen 
freilich unbequem ; es wäre herrlich gewesen, ihn aus der Welt 
zu schaffen. Wie sehnte man sich, den Triuiiiphgesang auzu- 
stimmen: Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg? — 
Leider ist bisher noch jeder irdische Hercules am Ende selbst auf 
den Bund gekommen, auch wenn er ihn vorübergehend in Fesseln 
geschlagen hätte. Der Hund hat ihn gesehn; der Hund hat 
ihn gefressen. 

2. Der Menschenfresser, bildlidu 

Poetisohe Aaffassung des Sarge«: das Tier, das den Uenachen frisst — 
Sarg und Sarkophag, undeatscher, griechisch-römischer Begriff — eigentlioh 
moBS ein Sarg Ton Stein sein, später wurde es nicht so genau damit ge- 
nonmen, es entstanden auch hölzerne Särge — ganz eigentlich mosste ein 
Sarg nicht vom ersten besten Stein, sondern von einem ganz besonderen 
Stein, Ton Sugstein, einer eigentümlichen Steinart, einer Art Atzkalk und 
Höllenstein sein, der zu Assus gebrochen ward — das ist ein Märchen: ein 
Fleischfresser hätte etwas Anstössio:es g'chaV)t, für Heiden wie für Christen 
— nur bildlich zu nehmen, nur bildlich — Personifikationen des (i^rabes 
und des Todes — die LeicheDtliege und die Hekate — ein wohlfeiles 
Wortspiel des Altertums — sonderbares Sohicksal des Wortes äarg. 

Ein Japaner berichtete an den Taikun : Die Europäer toissen 

einem grossen vierßissigen Tiere melodische Töne zu enüoeken. Ein 
Knabe oder ein Mädchen setzt sich zu dem Tiere: indem sie ihm auf 
den Schwanz treten und mit den Fingern auf die icei'fsen Zahne 
schlagen^ bringen de es zum Singen, Der Klang seiner Stimme ist 
bezaubernd sehän. 



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70 



Mau könnte vielleicht hinzufügen : m der Eeke des Zimmers 
steht ei» anderes grosses Tier, das sie mit Kohlen füttern und 
an das sie treten, wenn sie an die Finger frieren, weil es einen 
warmen Atem hat — es brennt, es raucht, es knattert, es bat 
Zugt 68 besitzt einen mächtigen Bauch| einen Schlund, eine Bohre 
und ein Mundloch, und sie nennen es den Koksfresser. 

Die Alten hatten ein geheimnisvolles, schwerfälliges, stummes 
Tier, dem sie die Leichen zu fressen gaben. Sie wurden ihm 
ganz in den Bauch gelegt, den es aufsperrte wie ein Fafnir; die 
Bauchdecke konnte abgenommen werden. Dann scimappte es zu. 
In Zeit Yon vierzig Tagen hatte es die Leiche aufgezehrt, rein 
aufgezehrt, nur die Zähne waren übrig. Man nannte das Tier 
den Menschenfresser oder den Sarkophag. 

Dieses Tier lebt noch; es verschlingt jeden Christenmenschen. 
Wir nennen es auch noch so wie es die Alten nannten: wir 
nennen es Sarg. 5ar</ ist aus Sarkophag verkürzt wie Photo 
aus Photographie oder wie Spec aus SpecuLation oder wie Ja]^ aus 
Japanese (amerikanisch). Alle Versuche, das Wort Sarg aus 
dem Deutschen zu erklären, sind verunglückt; mit ein wenig 
Verstand hätte man diese Versuche, die eine Ausnahme von der 
Begel schaffen und in die Kirchensprache einen Best von 
deutschem Heidentum bringen wurden^ überhaupt nicht gemacht. 

Die Deutschen haben ibre Worte lüi das kleine Haus, in 
das wir einst eiukeliren ; es war in vorchristlicher Zeit eiu 
Baumstamm, das heisst die iiäli'te eines BaumstammeSj die aus- 
gehöhlt und mit der anderen Hälfte zugedeckt ward. Daher 
spricht man an manchen Orten noch von Totenhäumen. 
Ähnlich werden vielfach die Schiffe und die Wiegen hergestellt. ■ 
Ein anderes altes deutsches Wort für Sarg ist Leichkar^ | 
woraus niaji in Prankfurt: Leichenkorbf in Frankreich : Corhlllard , 
(mit der Bedeutung: Leiclien wagen) gemacht bat. Man nimmt ' 
wenigstens an, dass hier Korb erst auf Kar gefolgt sei, obgleich | 
auch das englische Wort für Sarg: Coffin von Haus ans einen ' 
Korb bedeutet; und dass sich Leie/tenkorb aus LMenkar ent- 
faltet habe wie Bienenkorb aus Bignmkar, Der Bienenkorb heisst 
in Bayern und Tirol heute noch: das Beikar, Kar ist soviel 



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2. Der Uenichenfresaer, bildlich. 



71 



wie Kasten oder Beute. Es giebt uocU ein drittes deutsches 
Wort lür Sarg, das Wort Bahre, das von Schiller in diesem 
Sinne gebraucht wird und in dem französischen Büre fortlebt 
— Bihe bedeutet keine Bahre mehr, sondern nur noch Sarg, 
80 gut wie Cereueily das mit unserem Sarg identisch ist. Der 
griechische, griechisch-röinische, heidnisch-christliche Begriff hat 
Leiclikai . Bahre und Toteubaum verdrängt, und so werden denn 
auch unsere V erstorbenen einem Xa^-^oipayogy das heisst: einem 
Fleischfresser übergeben wie irgend einem Aastier. 

Unsere Sarkophage sind freilich bescheidener als jene monu- 
mentalen , marmornen, mit heniichen Eeliefs geschmückten 
Truhen, die wir in Ägypten und Rom teilweise noch an Ort und 
Stelle gesehen haben. Unsere Särg« sind gcwuluiiich von Holz, 
manchmal von Metall ; die der Alten waren von Stein, und zwar 
zumeist aus Marmor. Die hölzernen oder tbönernen Nasen- 
quetscher, welche die Griechen und die Bömer für gewöhnlich 
nahmen, wenn sie die Leichen nicht verbrannten, nannten sie 
nicht Särge oder Sarkophage, was, wie gesagt, eins und dasselbe 
ist. Solche einfache Kästen hiessen in Griechenland :^oqoL oder 
Ja^i aAi^, in Rom : Arcae oder Locidi. Auch die ei dttui Christen, 
die Wort und Sache vom Heidentum entlehnten, ja sogar ge- 
gebenenfalls heidnische iSarkopbage ohne Umstände benutzten, 
brauchten den Begrifif nur für die steinernen Behältnisse, in 
welche die besser situierten Brüder und Schwestern zu liegen 
kamen und die frei in den Grabkammern der Katakomben standen, 
während die für die Armen bestimmten und mit einer Tafel ver- 
schlossenen Wandnischen als Loci bezeichnet w'urden. Seit dem 
vorigen Jahrhundert ist es in den Katakomben Mode geworden, 
hier das Uiminutivum Jjoodus zu gebrauchen, dieser Gebrauch 
nichts weniger als korrekt Ein Loculus war nämlich ein Toten- 
schrein in unserem Sinne und wie eine Bahre tragbar. Allmäh- 
lieh freilich bekamen die Armen nicht bloss einen beweglichen 
LoeuluSf sondern sogar einen Sareophagus, Area, in qua martuus 
ponltur^ (juod omnes jam luQxocpdyov i-ocant^ sagt der heilige 
Augustinus um 425 in seinein Grottesstaate fXV^III. r>). 

£s war lange der Ehrgeiz des Proletariats gewesen, em 



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72 



• 

L Die HoUenfamift. 



eigenes kleines Ruhebetilem zu erhalten, bei den Christen so gut 
wie bei den Heiden, Das trat nnn im 4. Jahrhundert wirklich 
ein. Als nach dem Siege des Christentums liicht mehr in den 
Katakomben ; sondern in den Kirchen und auf den Kirchhöfen 

begraben ward, bekam auch die Armut ihre Särge. Damit war 
ein grosser Stein des Anstosses hinweggeräumt. Wenn auch 
nicht jeder ein Erbbegräbnis hatte, so doch wenigstens sein 
eigenes Grab; und wenn auch nicht jeder in Marmor gebettet 
ward, so doch wenigstens in Holz. Die Form des Sarkophags, 
namentlich der auszeichnende, dem* Nasendrücker abgehende 
hohe Deckel wurde nachgeahmt, das Ding dann immer wieder 
Sarkophag genannt, mochte auch das Material gering sein. Auf 
den 'Sarcoy'/«/(///.s kani es an ; der Sarcopharrrts war anständig. Der 
vornehme BegriÜ wurde usurpiert und wohlfeil wie der Titel 
Hochwohlgeboren — wie das immer geschieht, wie die Menschen 
immer nur auf den Schein sind, hat man nachgerade auch jede 
TotenladCi und wenn es nur ein paar zusammengenagelte Bretter 
gewesen wären, zu einem Sarg gestempelt. Und so ist der 
Öarg IUI weiteren Sinn, der unechte Sarg entstanden^ so macht 
nun den Sarg der Sclireiner, der, wenn er stirbt, auch in den 
Sarg gelegt wird, während sicherlich kein alter Steinmetz je- 
mals in einen Sarg zu liegen gekommen ist, sondern er seine 
Särge gebaut hat wie der Maurer die Paläste — ohne darin 
zu wohnen. 

An den Namen Fleischfresser stiess man sich nicht. Es 

ist allerdings merkwürdig, dass die alten Christen ein Wort an- 
nahmen und beibehielten, das ihren Annchauungen allem An- 
scheine nach schnurstracks zuwiderlief. Sie liessen ihre Leichen 
nicht verbrennen, weil sie bald auferstehen und nur ein wenig im 
Grabe schlummern wollten; sie balsamierten sich ein, wie Christus 
einbalsamiert worden war — die Heiden konnten ihnen keinen 
grösseren Schur anthun, als wenn sie die Leichname der Ver» 
folgten den Raubtieren vorwarfen. Und sie trugen kein Be- 
denken, sich dem Fleischfresser preiszugeben! — Ja, wie 
gerieten denn eigentlich die Heiden, wie kamen die Griechen auf 
diesen verwunderlichen Abweg ? Wie verstanden sie sich denn dazu^ 



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2. Der KenaohenfreMer, bildliob. 73. 



ihre Vorangegangenen auffressen zu lassen, was ihnen doch eil» 
Greuel war? Wollten sie denn den Hund, den de längst ab> 
geschafft hatten, aber immer noch fürchteten, ntiit in Ens nnci 
Marmelstein ausfuhren? Konnten sie denn das verhasste Tier 

gar niemals loswerden, so wenig wie den Tod? — 

Es scheint so, dass sie das nicht konnton. Allerdings war 
die Sache hier nicht so. gefährlich ; weder Christen, noch Heidea 
hätten etwas von einem wirklichen Fleischfresser wissen 
wollen. Sie würden sich gehätet haben, einen Scarknphag zu be» 
stellen, wenn das mehr als ein blosses Bild für den Totenschreia 
überhaupt gewesen wäre: er frisst die Leiche nicht anders als 
das Grab. Das Fleisch ist der menschliche Leib, der wie der 
Prophet Jonas von einem grossen Fische verschlungen wird ; der 
Sarkophag gleichsam ein Fleischtopf, in den die Köchin da»^ 
Fleisch legt, aher das Fleisch hält sich in diesem Topfe nicht, 
es verwest und schwindet mit der Zeit» und darum bildet maii 
sicli ein, dass der Topf das Fleisch auffresse. Nur das Gerippe- 
kann er nicht verdauen. Es giebt eine Fliege, deren Larven- 
sich thatsächlich von Fleiscli nähren, die Schmeissfliege; und 
eine Leichen fliege, die ihre Eu r an menschliche Leichname legt, 
deren Brut sich von Leichen nährt. Ich meine die ayQin fpila^ 
fwiag, cti qa t£ qi&iag aqrit^TWjg -i^aTtdovoiv {IIia^ XiX,31j. Diese- 
beiden Fliegen werden von Linn^ wirklich Sareophagae genannt» 
die Schmeissfltege ist die Soreophaga Camaria, die Leichenfliege^ 
die Sarcophaga Mortuorum» Schon die Petrusapokalypse kennt, 
diese Bezeichnung: sie redet von d^rjgta Xmja aagxofpaya^ die 
sich in den Leichen bilden und das Fleisch auffressen, nämlich 
von den Maden. Minder eigentlich ist es gemeint, wenn die Hckate 
Sarkophag heisst, obgleich sie bisweilen mit den Leichentiiegea 
identifiziert worden sein mag; in alten Hymnen wird ihr nämlich 
der Titel Fleisohfresserin (aa^xo^yog) gegeben, er wechselt mit 
andern schönen Prädikaten, wie Blutsäuferin (aliio7tLng)y Herz* 
verzehrerin {-KagdiSiktixog) und was dergleichen mehr. Wer sieht 
nicht, dass das nur bildliche Bezeichnungen der furchtbaren 
Todesgöttin sind, die alle Menschen hinwürgt, die wie eine Tyrannin 
im Blute watet, das Herz ausisst wie eine Hexe, Blut säuft wi» 



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I 



74 Bdllenfanns. 



-der Krieg und sich von Leichen nährt wie ein Hund? — Der 
Tod wird wie vorhiu der Cerberus als das grosse Aastier auf- 
^refasst, er ist der allgememe KarniTore, der Fleischfresser, der 
Sarkophag. 

Einem solchen Wesen die Lade zu yergleichen, die den 

Verstorbenen auf Nimmerwiedersehen einsehlackte, war gewiss 
kein grosser Sprune^ der Phantasie, umsoweniger als man den 
Hund, wie der Oerberu«? beweist, in Griechenland beständig vor 
Augen hatte. Die Menschen beleben alles, sie leihen jedem 
Stuhle Beine und jeder Flasche einen Bauch, sie machen selbst 
aus dem Föhn, der im Frühjahr weht und den Schnee w^frisst^ 
'einen Scbneefresser, ja, wenn sie schreiben und ein Löschblatt 
nehmen, um einen Tintenklecks abzulöschen, so thuen sie als ob 
■das Löschjjapier eine Art Urtier, ein Dalkeufresser wäre - das 
Schwert, den Rost, das Feuer, den Krebs, den Gram, den ^eid 
lassen sie fressen, warum sollte das Grab nicht fressen ? — Der 
Vergleich lag um so näher, je grösser, schwerer und individueller 
.gebildet der Sarg war. Die mächtige Truhe, die im Trauerhause 
gähnte und dann hermetisch yerschlossen mit dem Toten in die 
Unterwelt wanderte, erschien wie ein Schrecknis aus diesem finstem 
Reiche ; sie sah wie ein Ungeheuer, wie ein dunkles Märchenbild 
aus. All sie lieftete sich demnach in Grieclienland der jjoeiische 
Ausdruck Sarkophag, keineswegs an die schmucklosen, aus Ziegeln 
und Thonplatten zusammengesetzten Kasten. Bei diesen hätte 
•er lächerlich geklungen. So giebt man wohl dem Löwen einen 
Bachen, aber nicht den Mäusen. 

Die ersten Sarkophage sind die Mammutsteine gewesen, 
-die man in den Pyramiden, in dem Serapeum bei Sakkara, in 
<ier Kekropole zu Sidou getuuden liat; in Grieclienland selbst 
hat man erst seit dem 5. Jahrhundert v. C. Särge im engeren 
•Sinne gehabt. In Rom wurde L. Cornelius Scipio Barbatus, der 
Im Jahre 298 v. 0. das Konsulat bekleidete, in einem Sarge 
Ton Peperin beigesetzt, den mancher Leser in der Antikensamm» 
lung des Vatikans, in einem Vorzimmer des Belvedere gesehen 
haben wird. Mode wurden die Särgr erst im zweiten Jahr- 
liundert nach Christus, zugleich mit dem Begräbnis. In republi> 



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2. Der Menschenfresser, bildlich. 



75 



kanischer Zeit üessen sich nur einzelne vornehme Familien be- 
graben, wie eben die Scipionen; sonst war damals das Verbrennen 
der Leichen an der Tagesordnung. 

Im allgemeinen wird durch die Anwendung von Särgen die 
Verwesung der Leichen beeinträchtigt und verzögert, und das 
konnte den Alten nur erwünscht sein. Der Sarg hatte einen 
ähnlichen Effekt wie das Einbalsamieren. Schon hölzerne Toten- 
schreine halten die Fäulnis auf, aber diese verwesen doch end* 
lieh selbst; steinerne und irdene Särge bieten noch mehr Garantie; 
in luftdichten Bleisärgen mit doppelten Wänden ist eine Ver- 
wesung der Leichen überhaupt vollständig ausgeschlossen. Die 
letzteren gehören freilich erst der Neuzeit an. Die antiken 
Särge bestehen, wie gesagt, meist aus Marmor — mitunter aus 
Porphyr, wie der der heiligen Helena, der Kaiserin Mutter, der 
ebenfalls im Vatikan, in . der Sola a Croce Greca steht — die 
Särge der Apisstiere im Serapenm sind ans Granit, auch die 
Mnmien der alten Ägypter selbst, die in doppelte und dreifache 
Särge von Sykomorenholz eingeschlossen wurden, kamen zuletzt 
in einen Granitsarkophag zu liegen — es giebt auch Sarkophage 
aus Basalt, aus Alabaster und, wie wir gesellen haben, aus Peperin 
oder Albaner Stein. Angeblich hätte es auch Särge aus Höllen- 
stein gegeben. Daher schriebe sich überhaupt der Ausdruck 
Sarkophag. 

Höllenstein ist bekanntlich Silbersalpeter, der ätzend wirkt 
Es giebt noch einen andern Höllenstein, den Cremor Tartarij dieser 

aber beisst nur so, weil sich der Weinstein am Boden der Fässer 
ansetzt und gleichsam den Tartarus derselben bildet. Des Höllens 
äteins bedienen sich die Chirurgen, um krankhaft entartete Ge- 
webe des Körpers zu zerstören. Ein solcher Lapis In/ernalü 
soll nun bei der Stadt Assus in Mysien, am Meerbusen Ton 
Edremit gebrochen und zu Särgen, beziehentlich zum Auslegen 
von Särgen genommen worden sein; er frass die Leiche binnen 
sechs Wochen bis auf die Zähne auf. Das wäre der eigentliche 
fleischfressende Stein, der '/JO-og ouu/jjff äyog gewesen, worauf man 
auch von einem fleischfressenden Behältnis {oaQAOcpayog goqoq) 
und schliesslich yon einem Sarkophage schlechthin gesprochen, ja, 



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76 



I. Die HöUen&uDa. 



den Ausdruck auf alle möglichen Totenschreine übertragen hätte» 
So wird im Anfange unserer Zeitrechnung von Piinius und Dios* 
korides berichtet und dieses Märchen Ton Jahrhundert zu Jahr- 
hundert weitert^egeben. 

Danach wäre also der Sarkophag von Haus aus eine be- 
sondere Stemart gewesen, welche die Eij^enschaft ?:^ehabt hätte, 
das Fleisch vom Gerippe wegzufressen wie ein Hund, wo mög- 
lich auch noch die Knochen zu verdauen. Man spricht von In* 
sektenfressenden Pflanzen ; in Assus fand man den Eletscbfressen» 
den Stein. In unserer Zeit hat man sogenannte Tachyphage, 
das heisst Särge hergestellt, die aus einer Mischung von Gips, 
Dextrin und kieselsaurem Natron bestehen, in feuchtem Boden 
rasch zerfallen und so die Verwesung beschleunigten. Rei den 
alten /Sarkophagen wäre auf die Verwesung gar nicht gerechnet 
worden, sie sollten audi keineswegs zerfallen* Sondern der Stein 
sollte die Leichen aus eigener Kraft zerstören und gleichsam 
kanterisieren, wie das eben unser Höllenstein oder Vitriolschiefer 
oder Atzkalk thut, welcher letztere in London, im G^fängnishofe 
von Newgate über die Leichen ] ungerichteter A'erbrecher ge- 
streut zu werden pllegt. Auch ih i Sarkophagstein sull mitunter 
gestossen uud aufgestreut worden sein. So ein Sarg hätte 
weniger einem Hunde, der die Knochen benagt, als vielmehr 
einem Haifische oder einem Biesen geglichen, der den ganzem 
Menschen hinunterschlingt und bewält%t. 

Das Wort Sarkophag hat ^in merkwürdiges Geschick gehabt. 
Einerseits ist es seinem genauen Sinn entwendet und unrecht- 
mässig verallgemeinert; anderseits ist es wieder zu genau, zu 
exklusiv genomuien worden. Wenn der Assische Stein wie in 
London auf Verbrecherleichen und in das commune Sepnhrfim der 
ndtera Flebi geworfen worden wäre, so hätte er den Titel de» 
Fleischfressers reichlich verdient; den Ätzkalk, den Höllenstein 
könnte man ja gerne als Sarkophagstein gehen lassen. Nun ist 
er doch aber in erster Linie zu Totenladen, und zwar für her- 
vorragende Personen genommen worden; man hat überhaupt zu- 
nächst unter einem Sarkopliage keine besondere Steinart, 
sondern einen einzelnen steinernen, gewöhnlich einen marmomea 



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2. Der llenBchrafreMW, bildlidi. 



77 



Sarg verstanden. Wir müssen also schliessen, dass der bildliche 
Ausdruck missverstanden und nur ihm zuliebe der poetische 
Menschenfresser von den Naturforschern in fressenden Ätzkalk ver- 
wandelt worden ist. 

Man yersteht, was den Plinius Terführt hat. Der Ausdruck 
Sarkopbagstein lief auf dasselbe hinaus wie unser Leichenstein, 
nur dass er kein blosses Denkmal, sondern die Totenlade selbst 
bezeichnete. Ein Leichenstein mag aus Marmor, aus Serpentin, 
aus sonst einem Steine sein; so bestand der Sarkophag bald aus 
Marmor» bald aus Qranit. Nun könnte aber einer auf den Ge- 
danken kommen, dass Leichenstein ein Begriff wie Mauerstein, 
wie Chausseestein, wie Mörserstein, wie Feuerstein, wie Mühlstein 
sei und dass es eine besondere Steinart gebe, die den Namen 
lieichenstein führe, weil sie regelmässig zu Grabdenkmälern 
diene. Einen solchen Leichenstein giebt es aber nicht. Das ist 
der Grundintuni des Plinius, dass er den individuellen Steinsarg 
mit einem augeblichen Sarf,'steiiie verwechselt. Daraus folgte 
dann der zweite Irrtum: der Etymologie zuliebe anzunehmen, 
das Material müsse Atzkalk gewesen sein. Soleher ist nie zu 
Särgen genommen worden. 

Sonderbar! Demnach wäre die fleischTerzehrende Kraft des 
Assischen Steines ganz und gar auf die phantastische Anschauung 
zurückzuführen, wonach der Sarg als ein Glied in der unterwelt- 
lichen i^'auua und als ein Höllenhund erscheint? Aber man hatte 
ja sogar eine bestimmte Bezugsquelle für den Sarkophagstein, 
nämlich eben die Stadt Assus, nach der er Lapis Amua, ^'/laatog 
Jil^os hiess? — Hier stehen wir abermals vor einem Mythus. 

Die Stadt Assus könnte ja recht gut durch ihre Steinbrüche 
berühmt und die Fundgrube für die Grabsteine gewesen sein, 
wie heutzutage Carrara. Dennoch scheint ihr liuf nur auf 
einem ziemlich wohlfeilen Wortspiele zu beruhen. Es heisst 
wohl bei uns, dass die Ehemänner nach Plagwitz, die Kranken 
nach Kurland» die Trompeter nach Blasewitz, die Betrübten nach 
Klagenfurt, die Bankiers nach Wediselburg, die Hutmaoher nach 
J5[errnhut, die alten Leute nach Grabau, die Frommen nach 
jEIimnielspforte und die Gottlosen ins Höllenthal gehören. So 



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78 



I. Die Höüenfaaiia. 



gehörten im Altertum die Toten nach Assus. Die Stadt Assus 
war mit dem Tode gleichbedeutend. Geh nach Assus, hiess ee, 
und renne in dein Verderben. So redete angeblich in der 

Iliade (VI, 113) Diomedes den Fürsten Glaukus an. Er sagte 
nämlich : 

aaoov i9^, die xev d'Soaov iXid'^ov nti^nd'^ ixt^at. 

Das heisst: komm uäher^ so bist du ein Kind des Todes. 
Für den Komparativ daoov aber gefiel es einem Witzbold: "Aaaw 
KU lesen, als hätte Diomedes gerufen: komm nach Assus. Der 
Witz muss sehr populär gewesen sein, denn es giebt mehrere 
Variationen dairon^ auch eine lateinische Übersetzung (A&son tm^ 
ut cititt8 ad exitii tenninos ensi). Assus liegt zufallig nicht allzuweit 
von Troja. Der Platz, der das allervollkonimensto und reinste 
Bild einer griechischen Stadt gewährt, von den Körnern gänzlich 
unberührt, aber in der Apostelgeschichte erwähnt, neuerdings 
durch die Ausgrabungen des Amerikanischen Archäologischen 
Institutes bekannt geworden, enthält noch die grossartigsten 
Rainen, auf der Gräberstrasse auch verschiedene freistehende 
iiiäclitige Sarkophage. Die Alten stellten sicli auf Gruiid jenes 
homerischen Verses ganz Assus als einen einzigen Sarkophag 
und den steilen Felsen, auf dem die Stadt liegt, wie einen grossen ^ 
Grabhügel, etwa wie das Kap Misenum vor. Kein Wunder, 
wenn dort die Särge wuchsen, wenn der Assische Stein gefürchtet 
wurde wie der Manschinellenbaum, in dessen Schatten man ein- 
schläft, um nicht wiederaufzustehen. 

Wir sagen heutzutage nicht mehr: Geh nach Assus! — 
sondern: Du kannst dich begraben lassen! Berlin, lass dir be- 
graben mit deiner Intelligenz ! — Wir könnten auch sagen : ' 
Lege dich in den Sarg! — Aber wir scheuen dieses Wort. fSs 
ist als ob ihm immer noch etwas von dem Menschenfresser an- 
haftete, der ursprünglich darin gesehen ward. Das Grässlichet 
was der Tod hat, konzentriert sich für uns in diesem einen Be- 
griffe, wie bei den Griechen der Cerbenis der Ausbund alles 
Furchtbaren war. Das Wort Tod selbst ist verbkisst. Sarg ' 
und Cerberus schrecken uns mit der konkreten Gewalt der alten 
entsetzlichen Höllenfauna. 



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3. Die Leichenfliage. 



7^ 



3. Die Leichenil lege. 

Sarcopbaga Mortuorum — die Schrneissliiege, der Böse Feind, Beelzebub- 
— klpinpre Arteii, die in das Urab «Tf^langen — Insektenlarven sind Bladen, 
keine Würmer, noch weiiifjer Schlan«^en — die letzteren vielmehr Sinnhilder 
der Seelen und der Unsterblichkeit, beziclienf Heb der Gesundheit — die 
Fliege selbst zugleich ein Öinnbild der Unaterblichkeit. 

Während das Gefass, das unsere irdischen Reste aufnimmt^ 
so wenig es uns auch anmutet^ dennoch ziemlich unschuldig in 

den Ruf eines Cyklopen und Kaunibnlen gekunnuen ist und nichts 
für die Fäulnis und die Verwesung kann, die vielmehr durch die 
Bakterien besorgt wird: giebt es noch ein Weaen, das wie der 
Hund und wie der Rabe wirklich auf Aas erpicht und dadurch 
ebenfalls zu einem Greuel geworden ist — die Fliege, Die 
Schmeisbfliege^ die Leichenfliege, die denselben Namen führt wie 
der Sarg: Sarcophaga Mortuorum. Sie legt ihre Bier au die 
menscliliclien Leicliname, die sie gleich den Hunden und den 
Kaben aus weiter Ferne wittert — fast unmittelbar darauf 
kriechen die Maden aus; diese beginnen alsogleich zu fressen, 
den Körper zu durchwühlen und die Weichteile zu zerstören, 
wachsen unglaublich schnell und sind sclion nach acht Tagen zur 
Yerpuppung reif. Auf diese Weise fressen wenige Schmeiss- 
fliegen ein Pferd so schnell auf wie ein Löwe. Das ist frühe he- 
nicrkt und deshalb dem Teufel, merkwürdigerweise im Gegensatz 
zum Hunde, die Gestalt der Fliege gegeben worden: 

wenn man euch Fliegengott, Verderber, Lügner heisst. 

Als Schmeissfliege brummt Ahriman durch die Schöpfung, 

und Beelzebub ist nichts anderes als der Baal oder der Herr 
der Fliegen {Z('l'nl>). Angst iicii bemüht man sich, den Dämon 
zu vertreiben und den geliebten Toten vor ihm zu schützen; 
man bedeckt das Gesicht mit Gaze und wehrt dem Ungeziefer 
mit Fächern und mit Wedeln. Schon einer schlummernden 
Mutter wehrt man die Stubenfliegen ab ; wie vielmehr wird man 
den Schatz der Verstorbenen vor den schwarzblauen Geistern 
iiüten, die thatsächlich von ihm leben. 

Hat man den Leichnam glücklich im Sarge und unter der 



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so 



I. Die Hölienfauna. 



Erde, so ist er zwar vor dem bösen Feinde sicber, denn zu den 
begrabenen Leichen kann die Schmeissfliege nicht gelangen ; 

sollten aber ihre Eier trotz aller Vorsorge auf die Leiche ge- 
fallen sein und mitbegraben werden, so hat das Verderben seinen 
Lauf. Nur entwickelt sich unter der Erde keine zweite Generation, 
denn die Leichenfliege gedeiht in der Tiefe des Grabes nichtl 
Im Winter fallt diese Gefahr ganz weg; bei Leichen, die in der 
kalten Jahreszeit beigesetzt worden sind, findet sich von dem 
ficheusslichen Gewürme keine Spur. 

Wohl aber von anderen Insekten. Es giebt kleine, winzige, 
von den Sammlern genau bestimipte Fliegen- und Käferfornien, 
die. namentlich in durchlässigem Boden, in Sand und Kies. 
Mittel und Wege ünden, von der Oberfläche der Erde in das 
Grab und ins Innere des Sarjges zu gelangen, ihre Eier auf der 
Leiche abzulegen und allhier einen Samen wie Staub zu hinter- 
lassen. Bei allen Leichen findet man nach einigen Jahren 
Larven, Puppen und sogar ausgebildete Insekten verschiedener 
Arten, insbesondere schwarze Buckelfliegen und rostfarbene Holz- 
käfer, die liier leben, deren Mission es ist, mit dem organischen 
Stotie aufzuräumen, und die nachholen, was Ahriman versäumt 
bat. Nirgends erfolgt die Auflösung des Organismus durch 
physikalische und chemische Einflüsse und die stille Thätigkeit der 
Bakterien allein, überall sind auch richtige Gräbertiere daran 
beteiligt, Insekten, beziehentlich deren wurmfSrmige Larven. 

Die letzteren sind die Maden, die in der Krattsprache 
Luthers und Geiiers von Kaisersberg den anncn Madernfack an- 
füllen — die Würmer, denen wir zur Nahrung dienen und 
über die Prinz Hamlet so spitzfindig philosophiert — die 
Schlangen, die auf dem TViumph des Todes die Leichen der 
drei Könige umwinden und aus den Augenhöhlen, aus dem 
Brustkasten der Gerippe giftig herauszttngeln. Man hat viele 
alte Bilder dieser Art, auf denen die Toten den Schlangen; dem 
Otterngezüchte nicht entrinnen — die mittelalterlichen Maler 
machen es wie JStzel in der Nibelungensage nach nordischer 
Uberlieferung: sie werfen uns wie den König Gunther in eine 
Grube, in der zahllose Schlangen kriechen und durcheinander 



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3. Die Leichenfliege. 81 



wiramelu. Was bildest du dir ein, mahnte der Domprediger 
auf der Kanzel, du elender, dürftiger Madensack! 

Im Grab verborgen, warten dein 
Tiel Efoten, wie auch Schlangeni 
Die werden dann dein HaoMind aein, 
Dieh grüssen mit Verlangen. 

Die Mähne und der Schweif scheint in der christlichen 
Mythologie von dem Höllenhunde allein übrig geblieben zu sein 

— dass er Speise für Würmer, Coro data Vermibw, Co'da'Ver, 
Cadaver sei, musste der Mensch des Mittelalters immer hören; 
Würmer aber, noch heute ein sehr unbestimmter Begriff, mit 
dem man alles bezeichnet, was anderwärts nicht gut untergebriicht 
werden kann, hiessen nicht bloss die Regenwürmer, sondern auch 
die Schlangen und die Kröten. Sämtliche Kriechtiere wurden 
mit den Würmern in einen Topf geworfen. Wo ist Polonius? 

— Beim Abendessen, antwortet Hamlet. Er speist nicht, er 
wird gespeist. Wir mästen Ochsen, und uns selber mästen wir 
für Würmer. Der fette König und der magere Bettler sind nur 
verschiedene Bissen; zwei Teller, aber für Sine Tafel* Das ist 
das Ende vom Lied. 

Mit Verlaub, mein Prinz, es i^L ein kleiner Irrtum: der 
fette König und der magere Bettler kommen nicht auf eine und 
dieselbe Tafel. Die fetten Leichen werden von den Larven einer 
kleinen Aaskäferart, des Uhizophagus Parallelicollis, die magern 
Leichen Yon den Maden einer kleinen Mücke mit eirunden Flügeln, 
der Phora Aterrima verzehrt. Diese Erbschaftsteilung ist merk- 
würdig, aber konstant. Weder die Käferlarven, noch die Larven 
der Phora -Mücke aber sind Würmer, mein Prinis, wenn sie 
auch der Volksmund so bezeichnet; das iieisst die Gräberfauna, 
über die zuerst Orfila und Reinhardt sichere Angaben gemacht 
haben, bedeutend überschätzen. Nur Insekten hieben sich in 
die Unterwelt zu den Toten hinab, zu den Insekten werden aber 
die Würmer Ton den Naturforschern nicht gerechnet. Also nicht 
einmal eigentliche Würmer sind die Maden, geschweige denn 
solche Würmer, aus denen sich die Drachen und die Lindwürmer 
rekrutieren und die wir heutzutage unter dem Begritfe der 

Eleinpaul, Di« Leb«ndigaa and die Toten. 6 



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82 



L Die fiöUenfauQa, 



Schlangen zusammeniassen. Was sollten wohl die lichtfrohen 
Schlangen in den Gräbern? — Sie nähren sich keineswegs, wie 
man wohl fabelt, von Leichenstaub. Sie fressen lebende Tiere 
und eher die Leichenwürmer als die Leichen; dasselbe thun die 
Kröten, die auch gleich mitherhalten müssen, weil sie so häss- 
lieh nnd so unheimlich sind. Ein Grab ist doch keine Wolfis- 
schlucht. Einen unterirdischen Zug haben die Schh\ngen allerdings. 

Die flache Erde bewohnend, brauchen sie Schlu})t\vinkel, 
um sich zu verstecken; solche Verstecke und Zufluchtsorte ge- 
hören geradezu zu ihren Lebensbedürfnissen. Jetzt sonnen sie 
sich harmlos auf der grünen Halde, einen Augenblick darauf 
sind sie wieder in der Kluft verschwunden. Sie können sich 
also wohl auch einmal in einem Grabe verkriechen, und dann 
machen sie den Eindruck von Seelen, die den Verstorbenen 
eigneten, die einst in ihrem Leibe gewesen und beim Tode aus- 
gefahren sind, aber noch in seiner Nähe weilen. Wie Äneas 
in Sizilien am Grabe des Anchises opfert, huscht eine Schlange 
aus dem Erdinnem hervor, gleitet zwischen den Opferschalen 
hindurch, nippt von dem Blute und dem Weine und verbirgt sich 
wieder in dem Grabhügel; Aneas weiss nicht, ob es ein Genius 
des Ortes oder ein Fetisch seines Vaters gewesen ist (Äneide V, 95). 
In dieser Beziehung haben die Schlangen viel Ähnlichkeit mit 
den Mäusen, die den Leuten im Schlaf aus dem Munde schlüpfen, 
und geben; wie früher erörtert, selbst ein Bild für die aus- 
wandernde Seele ab, während sie anderseits, als Symbole der 
Verjüngung, an den Schmetterling und an die Unsterblichkeit 
erinnern. 

Alle Schlangen häuten sich jährlich mehrmals, indem sie 
die alte Haut vom Kopfe nach dem Schwänze hin umstiili)en ; 
die Häutung ist für ihr Leben noch wichtiger als die Mauser für 
das der Vögel. Genau so wie die Metamorphose der Insekten 
als ein Emblem der Auferstehung und der Schmetterling ala 
Typus der unsterblichen Seele betrachtet wurde, konnte es auch 
die Schlange — doch begnügte sich hier die Phantasie mit der 
Gesundheit, deren Sinnbild bekanntlich die Schlange des Äskulap 
ist, der Gesundheit, die der Unsterblichkeit zwar ziemlich nahe 



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4. Die Geier mid die Raben. 



83 



kommt, aber doch nicht an sie heranreicht. Aus der Haut zu 
fahren, bedeutete nur eine Wiedergeburt auf Erden wie ein 
Bad; aus einer formlosen Puppe wie aus einer Mumie auszu- 
schlüpfen; hatte etwas Mysteriöses, Wunderbares, dem antiken 

Spiritismus und Seeleiiwabn Gemässes. Aus diesem üiuude 
blieb die Schlange bei der Medizin, während der Schmetterling 
auf die Särge, in die Katakomben und auf die Campi Santi 
flatterte.. 

Eine Fliege ist auch ein Schmetterling. Sie macht genau 
dieselbe Entwickelung durch wie ein Falter; sie legt Eier, aus 
den Eiern kriechen Larren, die Larven verpuppen sich und aus 
der Puppe arbeitet sich wieder das reife Tier liervor. Auch 
die Fliege ist geflügelt; die Fliege heisst vom Fliegen. Ein 
Unterschied besteht höchstens insofern als die Puppen der Fliegen 
die Form von Tönnchen haben, während die der Schmetterlinge 
eckig und mehr mumienähnlich sind. Wie seltsam, dass auch 
die Leichenwfirmer wie die Baupen auf das künftige Leben 
deuten und die Puppen, die man in den Gräbern findet, die 
Flügel der Psyche in sich tragen! — 

4. Die Geier und die Baben. 

Die Raben Odins, des Gottes der Soblachten — keine Symbolik, nichts 
weiter als Instinkt - dieser treibt sie auf die Sclilachtfelder und auf die 
Rabensteine, sogut wie auf die Türme des Schweigens — die Raben bringen 
den Tod nicht, wenn sie auch ihre Rechnung dabei finden — aber der In- 
stinkt ist später missdeutet und übertrieben worden — der scharfe (Toriich 
der Leiclienvcigel erschien als eine Todesahnung und als eine Weissagung 
— sie verwandelten sich in böse (.leister, was sie nicht waren — sie wurden 
nur wie der Hund in die Unterwelt versetzt. 

Wo sind denn Eure beiden Raben? — fragt die Hexe in 
der Hexenküche den Mepbistopheles, der als Nachfolger Wodans 
die heiligen Yögel des G-ottes auf seinen Schultern hat, wie denn 
auch der Pferdefuss ein Best des acbtfüssigen Bosses, des Sleipnir 
ist. Wo habt Ihr denn Hugin und Munin gelassen, die Boten, 
die tagtäglich über das Erdenrund hiniiiegen und Euch von 
ihren Erfahrungen berichten? Die allsehenden, die allwissenden,, 
die alldurchdringenden? — 

6* 



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84 



J. Die Höllßafauna. 



0S 



Auch wir möchten so fragen. Wo sind denn deine Rabeo, 

0, Fürst der Hölle? — Üie typischen Gestalten der Schlacht- 
felder und der Galgen, die vom Babenstciii bis zum Himmel 
emporgestiegen sind, die Vögel, die iiebH!i dtiii Dreilusse des 
Apollo sitzen wie der Steinkauz neben der Athenf^, die man 
gleichwohl noch immer dem Galgenstrick auf den Hals wünscht, 
wenn es heisst: Hole dich der Geier! 'Eg Ko^agl — 

Die Raben vollen einen Geier haben^ sagte Kurfürst Fried- 
rich der Weise von Sachsen im Jahre 1519, als ihm nach 
Maximilians Tode von den Kurfürsten die Kaiserkrone angetragen 
wurde, indem er ablehnte und die Wahl von Maximilians Kiikel, 
Karl I. von Spanien, befürwortete; mit den Raben meinte er 
offenbar die deutschen Fürsten, die das Bedürfnis hatten, sich 
einem Mächtigen unterzuordnen, und sich ihm auch unterordneten 
wie die schwächeren Gäste dem Geier bei einer Geiermahlzeit. 
Sagen wir lieber: die Toten wollen einen Geier haben und einen 
Raben dazu; oder noch besser: die Geier und die Raben wollen 
einen Toten haben; sie sind neben den Hunden und den Wölfen 
die hervorragendsten Aastiere. 

Und sie teilen mit ihnen das Zweite Gesicht und die ver- 
borgene Wissenschaft Auch bei ihnen ist der scharfe Geruch, 
«der sie beföhigt, das Aas meilenweit zu wittern, als eine Todes- 
rahnung und als eine Weissagung erschienen. Wenn die Raben 
aus weiter Ferne geflogen kanieu, um Leichname anzugehen, 
ihnen die Augen auszuhacken und den Leib zu zerreissen, so 
liess sich das freilich auf die natürlichste Weise von der Welt 
erklären. Sie rochen den Braten, in dessen Striche sie sich eben 
befanden, und eilten mit der Leidenschaft eines Liebhabers darauf 
zu. Aber es lag nahe, einen Schritt weiter zu gehen, den Aas* 
tieren etwas Prophetisches zuzuschreiben und die Leichenvögel 
als Unglücksvögel und Todesboten zu betrachten. Sie rochen 
gleichsam das Aas, der Leichengeruch erfüllte schon die Luft, 
wenn es noch gar keine Leiche gab. Bakler lag noch gar nicht 
erschossen auf der Erde, als auch schon Odins Raben zugleich 
mit den Walküren eingetroffen waren. Dieser Gedanke musste 
dem Volke um so leichter kommen, als die Raben in der That, 



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K 



4. Die Geier und die BsbeD. 



85 



durch lange Erfahrung belehrt, den Kriegsheeren zu folgen pflegen 
und eben aus diesem Grunde, gleich den aasgierigen Wölfen, 
Btehende Begleiter des Schlachtengottes sind. 

Sie erwarten ihren Frass* Keinerlei einfältige Symbolik, 
die Aussicht auf eine reichliche Mahlzeit fesselt sie an den Gott 
Odin und treibt sie auf die Walstatt, wie derselbe iiunger irn 
Jahre 1812 die Geier uiul die Kaben mit der Grossen Armee 
nach Osten über den Niemen trieb. Wenn die Normannen bei 
ihren ßaubzügcn als Feldzeichen den Raben auf ein-^r hohen 
Stange Tor sich hertrugen, die englischen Templer den Haben 
mit einem Totensehädel in den Krallen in das Schlachtenbanner 
setzten, so brachten sie gleichsam den Tod getragen ; wahrscheinlich 
ist auch der Adler nur deshalb zu einem Feldzeichen geworden, 
weil er Aas frisst, zum inmdesten nicht verschmäht. 

Dieser Instinkt ist also später missdeutet und in eine geheime 
Wissenschaft verwandelt worden, so dass nun die Raben wie die 
Hände für geistersichtig galten : daher hat man die Habenbotschaft 
bereits im Altertum gefürchtet. , Der Habe ist heiser, sagt Lady 
Macbeth, der Duncans verhängnisvollen Einzug tnter mein Dach 
krächzt (that croahs the fatal entranee of Duncan uncler my hatäe" 
iiie/its). So krächzten schon die Raben den Einzug Alexanders 
des Grossen in Babylon ; so krächzten sie die L indung des ge- 
ächteten Cicero bei seinem Landgut in Formiä. Und was krächzten 
sie? — Es wird bald eine Leiche, bald etwas zu fressen geben. 
Sie sind hnngrig. Ihr Tisch ist schon gedeckt. Sie harren. 

Ja, die Schicksalskunde wurde nachgerade zu einer Art 
Allwissenheit und zur Weisheit schlechthin erhoben, so dass der 
Rabe mit der Eule rangieren koiuiiu der Hund verlieh den 
Cynikern Weisheit, der Wolf unterrichtete die Schüler im Lyceuni 
und der Rabe half dem Orakelgotte sogut wie Odin ein. Raben, 
Krähen, Geier und Adler waren die Weissagevögel, auf die der 
römische Augur vorzugsweise achtgab. Es ist lächerlich, diese 
Weisheit darauf zurückzuführen, dass der Habe ein Wetter* 
prophet sei — in erster Linie verkündigte er keinen Regen, 
sondern Tod, und das machte ihn zum weisenden Vogel der 
Vorzeit. Wirklich haben die Raben, welche die Normannen auf 



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66 



I. Die HdUenfaunft. 



ihren i^ ahrteu mit sich führten, nicht bloss zu Feldzeichen, sondern 
auch zu Wegweisem gedient: sie haben ihnen im 10. Jahrhundert 
Grönland entdecken helfen. Die kühnen Wikinger, die von Island 
weiter nach Westen stenerten, liessen ihre Rahen von Zeit zu 
Zeit fliegen, oh die Vögel wohl Land finden möchten: und so 
sollen sie eben Grönland gefunden haben. Gewöhnlich haben we 
den Menschen Kunde von jener Welt gebracht, die westlich von 
der Insel der Circe gelegen war und die Odysseus besuchte ; und 
darüber sind sie zu den Propheten der Oberwelt geworden. Es 
ist gewiss auch nicht zufällig, dass der Prophet Elias in der 
Teuerung gerade von Raben gespeist ward und dass der Thisbiter 
das geflügelte Wort schuf; Bist (lu% Jakoh, mein Hahef — Han 
gab der Sache aber auch noch eine andere Wendung, die häufig 
wiederkehrt. 

Man sali gelef^entlich im Propheten den Mcirder. Es ist 
immer misslich, eine Hiobspost zu l)ringen — Hiob glaubt am 
Ende, der Postbote sei an dem Unglück schuld. So kam man 
am Ende im Mittelalter zu dem Schiasse, dass den Baben an 
sich etwas Dämonisches inwohne, wozn sie schon die Freundschaft 
mit Wodan stark eignete. Im August des Jahres 1214, an 
einem sehr heissen Tage wurde zu 2veuss am lihein ein Turnier 
abgehalten, das einen unglücklichen Ausgang nahm. Die edlen 
Ritter bekamen in der erstickenden, rait Feuchtigkeit gesättigten 
Atmosphäre fast alle den Hitzsclilag; sie fielen hin wie die 
Fliegen. Der Chronist» der diese Begebenheit erzählt, der Mönch 
Alberich mit dem Beinamen Trhm Fontium^ fügt hinzu: die 
bösen Geister seien in Gestalt von Geiern und Rahen hemm- 
geflogen. Das Volk hat häufig so gedacht und den Geier wie 
den Raben mit dem Teufel selbst verwechselt. Der Geier, der 
den Verwunschenen holt, der Kabe, dem der Täufling im Mai- 
länder Baptisterium (nach der Erzählung des heiligen Ambrosius) 
entsagt, er ist mit seiner Schwärze ein rechtes Gegenstück zur 
weissen Taube. Alle Aastiere haben Anlage zum Teufel, zu 
jenem bösen Wesen, das nicht bloss auf Leichname erpicht ist 

Selbstredend ist das nichts als Übertreibung und eine raben- 
schwarze Verleumdung. Die Haben sind keine bösen Geister; 



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4 Die Geier und die Kaben. 



87 



sie haben den Sonnenstich und den Hitzschlag wahrlich nicht 

verschuldet. Die Raben bringen den Tod nicht, wenn sie auch 
beim Tode ihre Rechnuno: finden. Der fluider sietkt anderswo. 
Der Than mordet den König. Wenn die bösen Geister ge- 
flogen kommen, so braucht's keinen andern Mörder. Die bösen 
Geister macbeo den Dancan eigenhändig kalt. Wir werden 
sie kennen lernen. Alles was man diesen Unholden nachsagen 
kann; ist, dass sie sich von Leichen nähren nnd ihren Frass atich 
noch in der Unterwelt fortsetzen. Wie der Huiül, so ist der 
Geier von den Griechen in den Hades versetzt, aber hier für 
die Frevler zum Peiniger ausersehen worden. Neun Hufen mit 
seinem ungeheuren Leib bedeckend, lag der Riese Titvus, der 
sieh an der Leto vergriffen hatte, ausgestreckt anf dem Boden 
des Tartarus, und zwei Geier, die zu seinen Seiten sassen, frassen 
an seiner Leber, genau nach der Gewohnheit dieser Raubvögel, 
die mit gieriger Hast in den Eingeweiden wühlen und die Leber 
und die Lunge nicht herausreissen, sondern in der Höhle selbst 
auffressen (Odyssee XI, 578). Wer denkt hier nicht an den Prome- 
theus, den Zeus an einen Felsen des Kaukasus schmieden lässt 
und dem ein Adler tagtäglich die Leber zerfleischt, die immer 
wieder nachwächst? — Die Leber ist eins der vielen Eingeweide, 
die für die Seele gegolten haben, vergleiche Seite 19. Prometheus 
war aber offenbar auch ein Toter, längst im Tartarus gewesen 
und nur zu seiner Quid wieder auf die Oberwelt, wie auf ein 
Fülterbett, gelegt worden. Was du nicht willst, das man dir 
thu, das füg' auch keinem andern zu, sagt man zu einem Kinde. 
Was die Griechen ihren Leichen nicht zugefügt wissen wollten, 
das verhängten sie über ihre armen Unsterblichen. 

5« Die Fenerbestattnng. 

Wie die Hunde und die Raubvögel, so die Flammen: sie verzehren den 
Leichnam — die Leichenverbrennung geht neben der Beerdigung nebenher, 
Iis auf das Christentum — drei f euerbestättungen aus der Vorzeit: Homer, 
die deutsche Heldensage, Born — JuHiis CSsar, die Zeremonie der Apotheose 
— was von dem grossen CStar übrig gebliebig ist: ein Hiafohen Asehe — 
alles andere ist in Form von 0asen entwichen — der Adler, der die Seele 
'des Kaisers gen Himmel trSgt wie der Gott die Bejadere — die Verfarentniiig 



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88 



1. Die HöUenfauna. 



iat ja nur eine Verwandlung gleichwie die Verweeang — im Grabe geecliah 
eie langsam, rapid auf dem Scheiterhaufen — die Verbrennung ersparte die 
Beerdigung, kürzte die Uetamorphoae ab — der Embryo des Hades — die 
Phantasie brauchte einen Ort» Moliin sie die nengebildeten Wesen ihnen 
konnte — schliesslich gelangten die Griechen auch wieder zu einem Feuer 
an diesem Ort, denn die Schrecken der Unterwelt rekrutieren sich aus den 
Bestattungsfornien der Oberwelt — man setzte die einzelnen Scheiterhaufen 
zu einem FeuerstroTn zusammen, der die "Rückkehr abschnitt — nllmälilich 
wurde der Feuerstrom reguliert und um das üefängnis der verdammten 
Seelen herumireleitot — nw Ende wurden die Missethäter selbst ins Feuer 
gesteckt, um den Feuert /.u erleiden — so entstand die christliche Hölle 
— das Thai Hinuom, die Vulkane, der Fegefeuerberg — Idee einer Götter- 
dämmerung. 

Ein letztes mächtigeB WeseD, dem man die Toten überliess, 
das, zu dem Totenbett hInzugefÜhrt und losgelassen, den Leich- 
nam alsbald ergriff^ gierig an ihm emporzüngelte und leckte und 

ihn wiederum bis auf die Knochen verzehrte; das aber dann selbst 
nicht weiterlebte, sondern gesättigt wie mit einem Seufzer starb, 
aushauchte und verging — war das Feuer. Die Feuerbestattung 
ist so alt und so heilig wie das Feuer; bei den meisten Kultur- 
völkern ging die Leichenverbrennung neben der Beerdigung 
nebenher, und schon unter den prähistorischen Gräbern finden 
sich solche, die nur die Asche des verbrannten Leichnams ent- 
lialten. Man sali den Leichnam wie den des Sokrates entweder 
verbrennen oder begraben (/^ /.ctioiuror r /xdOQVTio^ievov). Erst 
die christliche Üeligion hat dem Verbrennen ein Ende gemacht, 
weil es den Traum vom Todesschlummer und von der Auf- 
erstehung des Fleisches härter als eine andere Form der Be- 
stattung mitnahm. Das Verbrennen galt für heidnisch; nur 
eine Feindin des Christentums konnte von der eignen Mutter 
verlangen^ mitsamt ihrem Bräutigam in Flammen zur Ruhe 
gebracht zu werden. 

Wenn der Funke ?!prüht, 

Wenn die Asi:he glüht, 

Eilen wir den alten Göttern zu. 

Die Hindu, die ihre Leichen nackt durch die Strassen zum 
Scheiterhaufen tragen, auf der Verbrennung mit Mango- und 
Sandelholz, zumal wenn es Brahmanen sind, besteben, ja sogar 



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5. Die Feuerbestattung. 



89 



verlangen, dass sich eine treue Frau mit ihrem verstuiLenea 
Gatten mitverbrennen lasse, befinden sich in einem bemerkens- 
werten Gegensatze einerseits zu den Mohammedanern, die sie- 
Terscharren, anderseits zu den Färsen, die sie den Raubvögeln 
fiberlassen, wenn sie gleich in der Praxis auch nicht viel über 
die letzteren hinauskommen. Die armen Kasten, nicht imstande 
die Kosten einer Verbrennung zu erschwingen, begnügen sich,, 
die Leiche auf 8troh zu betten und dieses anzuzünden, damit 
der Gestorbene des reinigenden Feuers niclit entbehre. Dann 
werfen sie den angesengten Leiclinam in den heiligen Ganges, 
der ihn dem Meere zuträgt. Mit fortschreitender Verwesung 
treiben die Leichname auf der Oberfläche des Gewässers dahin 
und werden nunmehr ebenfalls den Geiern zugänglich, die sich 
mit ausgebreiteten Schwingen auf ihnen niederlassen. Steuert 
der schwimmende Körper etwa einer Sandbank zu, so finden 
sich sofort andere Geier und Marabus ein, und der Hindu wird 
mitten in seinem heiligen Flusse aufgefressen wie ein Feueranbeter. 

Homer kennt gar keine andere Bestattung als die durch 
B'euer. Patroklus ist gefallen; Achill hat den Tod seines 
Freundes blutig gerächt, den Hektor erlegt, ausgezogen^ an den 
Wagen gebunden und geschleift; Tage sind vergangen. Da er- 
scheint Patroklus dem Achill im Traume. I>Lstatte mich sa 
schnell wie möglich! — Hebt er; ich kann sonst nicht in den 
Hades, die Seelen lassen micli nicht über den Fluss. ßaitte 
OTT* rdxiaral — Das Wort O-uTtruv ist wie unser bestatten ein 
gänzlich unbestimmtes; es bezieht sich auf das Verbrennen so- 
gut wie auf das Begraben. Achilles erfüllt also diese letzte 
Pflicht, er lässt Holz anfahren, einen mächtigen Scheiterhaufen 
schichten und den Toten darauf legen. Eine Herde Schafe und 
Kinder, vier herrliche Pferde und zwei Kassebunde werden ge- 
schlachtet und mithinzugegeben, dazu Krüge voll Houig und 
Salböl; endlich noch zwölf edle trojanische Jünglinge geopfert 
und draufgeworfen. Dann entfesselt er, wie sich der Dichter 
ausdrückt, die eiserne Wut des Feuers, wirft es wie einen Jagd- 
falken auf den Kdher und ruft den Freund : I^e wofd, PatroUwl 
Alles halte ich, was ich dir versprochen habe, zwölf juinjc Trojaner 



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I. Die Höllflofauna. 



/risst das Feuer mit dir; den Ilektor aber gebe ich ntcJd den Flammen, 
sondern den Hunden zu verzehren. 

Schlagen wir die deutsche Heldensage anf : die nordische 
Überlieferung von Siegfrieds Tod. Brunhilde, die betrogene 
Walküre hat Siegfrieds und seines Söhnleins Tod beschlossen; 

ist in seinem Bett an der Seite Gudruns ermordet worden. 
Nun geht sie selbst zum Tode. Hoch aufp^erichtet stellt sie in 
ihrem Saal und lässt Gunther zu eich entbieten. Höre meine 
letzte Bitte: für mich und den Weisung schichte dram^pn auj dem 
Felde einen Scheiterhaufen» An immer Seite aoU er liegen^ wir 
wollen selbander verbrennen. Zwischen uns aber blitze das nackte 
Scivwert wie einstmals^ da er mein Gatte hiese, Tarmhocb ragte 
<ler Holzstoss, Siegfrieds und seines Söhnleins Leiche und den 
herrlichen Hengst Grane tragend, der seinem Herrn in den Tod 
gefolgt war. Da befahl Brunhilde Feuer anzulegen und bestieg 
•den brennenden Sdi 'iterhaufen selbst. Die Waberlohe schlug 
um die beiden Liebenden wie damals auf dem Feh der Hindin. 
Aber sie gingen nimmer daraus hervor. 

Noch eine dritte Feuerbestattung — in Rom, in der Kurie 
des Pompejus ist (Jä-?ar ermordet worden. Die Welthauptstadt 
befindet sich in hellem Aufruhr wie eine hrandende See. Die 
Verschworenen liessen den grossen Toten, den sie hatten in den 
Tiber werfen wollen, liegen ; durch treue Diener wurde der Leich- 
nam der Witwe Oalpurnia überbrachte die ihn nach der damals 
lierrschenden Sitte den Flammen ttbergab. Die Börner hatten 
die Leichenyerbrennung frühe eingeführt, das Zwölftafelgesetz 
-erwiihiii sii' ; ni den letzten Zeiten der llipublik w«ir sie end- 
gültig an die Stelle des Begräbnisses getreten, Sulla w^ar der 
«rste Cornelier gewesen, der verbrannt wurde; Marius wurde 
beerdigt. Und zwar fand die Verbrennung gewöhnlich auf dem 
Marsfelde statt. Bereits stand hier der Scheiterhaufen; aber 
•erst musste auf dem Forum nach altem Brauch die Standrede 
gehalten werden. Der Leichnam des Diktators wurde also auf 
den Markt getragen und die Bahre vor den Rostris niedergesetzt ; 
Antonius stieg hinauf. Seine Worte zünden, das Volk braust 
leidenschaftlich auf, seine Wut gegen die Mörder kennt keine 



5. Die Kenerbestattung. 



9i 



Orenzen mehr — sie stürmen zar Kttrie, die lichterloh bremit, 
reissen Feuerbrände heraus und setzen den Verschworenen den 
roten Hahn aufs Dach — dann geht es wieder zurück zu dem 

geliebten Toten, der im Jupitertempel selbst verbrannt werden 
soll. Da die Priester Einspruch erheben, tragen sie ihn wieder 
aufs i'orura, vor die Kegia, die Amtswohnung des Cäsar Pontifex 
Mazunus. Im Nu wird ein neuer Scheiterhaufen errichtet: sie 
hauen die Bänke^ die Bichterstüble, die Wechslertische klein; 
4ie Soldaten werfen ihre Speere, die Veteranen ihre Kränze, 
ihre Ehrengeschenke, ihre Dekorationen, die Frauen ihren 
6chmLick zusamuiLn uiaii glaubte die Dioskuren zu sehn, wie 
«ie mit brennenden Fackeln aus ihrem Tempel traten und mit 
abgewandtem Gesichte den Holzstoss entzündeten. Sabjectam 
more parentiim aversi Unuere facem. Das Volk verbrachte die 
ganze Nacht beim Scheiterhaufen. . Ein Komet erschien gerade 
recht, um die Menschen vollends aus Rand und Band zu 
bringen : der Divus Julius war unter die Götter aufgenommen 
worden. 

Bei den Kaisern wurde eine solche Apotheose wirklich in 
Seene gesetzt. Nachdem der Augustus bereits einmal ioimlich 
bestattet worden war, kam er noch ein zweites Mai, als Wachs- 
%ur, daran. Die ganze Stadt legte Trauer an: die Wachsfigur, 
möglichst bleich und kränklich, wurde auf einem elfenbeinernem 
Bett im Vorhofe des Palastes ausgestellt. Senatoren sassen in 
schsv.trzer Toga auf der linken, die Damen der Aristokratie in 
Weiss, ohne Schmuck aiü der rechten Seite im Halbkreise um 
<ien Katafalk herum. Diese Sitzung dauerte eine ganze Woche 
lang; inzwischen traten von Zeit zu Zeit Arzte ans Kranken- 
bett, um den hohen Kranken zu besuchen, sich um ihn zu 
bemühen und den Kopf zu schütteln, weil er schlecht, sehi* 
schlecht aussehe. Endlich sagten sie, er habe ausgelitten; dann 
nahmen Söhne aus den vornehmsten Kitter- und Senatoren- 
famili ri die Bahre auf und trug(!n sie die Via Sacra entlang 
aufs Jb'orum, wo Sängerchöre standen und erliebende Trauer- und 
Loblieder anstimmten. Dann ging es mit dem Vater des Vater- 
Jandes auf das Marsfeld; allhier war ein vielstöckiges, wtirfel* 



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92 



I. Die HoUenfaoQft. 



förmiges, sich stetig nach oben zu verjüügeudea Gebäude aus 
Zimmerholz uod KeiBig aufgeführt, das von uaserem Gewährs* 
manne, dem Geschichtschreiber Herodian, mit einem Leucht- 
turme Yerglichen wird. Im zweiten Stocke befindet sich der 
reich mit Wohlgerüchen versehene Katafalk. Nach einer glän- 
zenden Prozession von Keitern und Wagen darum herum wird 
an allen vier Ecken Feuer angelegt, das sich im Nu ausbreitet, 
zuc^leich aber vom Gipfel ein Adler aufgelassen, der nach dem 
Glauben des Volks die Seele des Kaisers gen Himmel trägt, 
wie der Gott die Bajadere. Man kann ihn auch gleich selbst 
als die Seele des Kaisers ansehen. An der Tonnenwolbung des 
Titusbogens, der dem vergötterton Titus errichtet ward, ist so 
ein Adler abgebildet und heute noch erhalten: er hat die Liebe 
und die Lust des Menschengeschlechtes auf dem Rücken. 

Das hiess doch die römischen Kaiser in Ejfyie verbrennen I 
— Im Mittelalter wurden die Ketzer, während des Bevolutions- 
jahres 1848 die politischen Verbrecher, wenn man ihrer nicht 
habhaft werden konnte, so exekutiert. Auch bei dem sogenannten 
Bildzauber verbrannte man ein Bild; im Städtiselien Museum zu 
Leipzig l)eHndet sich ein Gemälde aus der Flandrischen Schule, 
wo ein nacktes Mädchen mit Hilfe eines Feuerzeuges Funken 
auf ein Wachsherz stieben lässt, um dieses zur Liebe zu ent- 
flammen. £s ist auch vorgekommen, dass man die Leiche eines 
Missethäters wiederau^gegrahen und verbrannt oder an den 
Galgen gehängt hat, zum Beispiel die des Papstes Formosus 
und die Cromwells; wenn man aber die Leiche nicht kriegen 
konnte, so hielt man sich an das W^ichshild. Die Kaiser, die 
man vergöttern wollte, hatte man eben auch nicht mehr, denn 
sie waren ja bereits verbrannt worden, und bei der Verbrennung 
bleibt leider nicht viel übrig. Die Asche von den Knochen, die 
eine feste, kalkige, bröckelnde Masse bildet und die einzelnen 
Gebeine wohl noch erkennen lässt, aber im ganzen keine Gestalt 
mehr hat. wie sie doch noch ein Totengeripp besitzt, daher aucli 
ohne iStliwierigkeit in einen kleinen Aschenkrug geht. Das smd 
die ^Oociu 'uv/.a, von denen Achilles spricht und die er mit 
heissen Thränen sammelt — es ist keine Gefahr, dass er sie mit 



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5. Die Feuerbeatattong. 



93 



den Opferresten verwechsele, deiiu Patroklus lag für sich allem 
in der Mitte des Holzstosses; die ^Oin4a ua /a', die man in einer 
antiken oder modernen Urnenhaile gedankenvoll durch die Finger 
gleiten lässt. Das ist das Ende vom Lied, wie Hamlet sagt. 
Der grosse Cäsar, Staub und Lehm geworden, verstopft ein 
Loch wohl vor dem rauhen Norden — das römische Volk glaubte, 
er stecke in der kleinen Kugel, die der Obelisk auf dem Peters- 
platze trug. Die römischen Obelisken dienten ursprünglich als 
astronomische lustruniente zur Bestimmung der Sonnenhr»he und 
hatten zu dem Ende auf der spitze eine Kugel, die sogenannte 
Seaplie. Auch den grossen Obelisken auf dem Petersplatze krönte 
ursprünglich nicht das Kreuz, sondern eine hohle Kugel von 
vergoldeter Bronze, und in ihr sollte der Sage nach die Asche 
Julius Oäsars enthalten sein. Ein Dichter machte die Choriamben: 

Caesar, taiitus era», <maiitas et orbis; 
Sed nunc in modico clauderia antro! — 

Cäsar, wärest so gross als wie der Erdkreis; ach, dasa ein 
Krügelein jetzo Dich einschliesst ! — Er hätte dazu setzen 
«ollen, dass alles Übrige entwichen und in Form von Gasen gen 
Himmel gefahren sei. Das war ja der Sinn und die Raison der 
Vergötterung. 

Die Wahrheit ist, dass die Hinter Llu bcnen das bisscheu 
A<?che niemals mit der Person des Verstorbenen vereiiu'rleien 
konnten. Nein, diese lebte in den gasförmigeu Verbindungen, 
die fühlbar und sichtlich mit den Flammen in die Höhe stiegen, 
die sich im ewigen Kaum verloren, aber dort oben zu der voran- 
geeilten Psyche fanden und um sie herum zu einem neuen Menschen- 
bilde verdichteten. "Wir wissen, dass die Verwesung nur eine 
langsame Verbrennung ist, die von der Natur selbst besorgt 
wird; wir sehen in dem Feuer die Erscheinung einer lebliaften 
Oxydation. Hier wie dort wird der Organismus durch einen 
chemischen Prozess in seine einfachsten Verbindungen aufgelöst» 
Kohlensäure, Wasser und Ammoniak aus ihm gebildet; die mine- 
ralischen Bestandteile, die Knochenerden, bleiben übrig. Zwischen 
einem Grabe und einem Siemensschen Ofen besteht nur ein 
Wärmeunterschied: im Grabe erfolgt die Verbrennung bei mitt- 



94 



I. Die Höllenfauna. 



lerer, im Ofen bei hoher Tempemtun So exakt hätten das die 
Alten freilich nicht ausdrücken können ; aber ungefähr so. Jeden- 
falls fühltiii sie, (lasjs im Feuer sogut wie im Grabe eine Vcr- 
geibtigung eintrat, deshalb machten sie zwischen der Beerdigung 
und der Verbreiiuuug wenig Unterschied; es lief auf dasselbe 
hinaus. Das Gespenst des Menschen ging nach der Verbrennung 
so gut in den Hades ein wie nach der Beerdigung. Das konnte 
aber nur seiu, wenn der Körper auch im Feuer nicht völlig yer- 
nichtet wurde. 

Mit dem Tode trat die wichtige Metamorphose ein ; das 
Fleisch ward gleichsam Ilügge, es hatte kein Bleibens melir, es 
machte sich auf und holte die äücbtige Psyche ein, um sie neu 
zu bekleiden und nun als Gespenst im Hades fortzuleben. Diese 
Umwandlung war das Normale, das Wünschenswerte, sie musste 
abgewartet werden. Ehe sie der Leichnam durchgemacht hatte^ 
kam die Seele nicht zur Ruhe, weil dann die Bildung ihres neuen 
Leibes noch nicht erfolgt war; sie war noch nicht hadesreif. 
Selbst nur ein feines himmlisches Lüftchen, bedurfte sie sozu- 
sagen eines Schlafrocks, um zu schlafen; und sie sehnte sich nach 
diesem 8chlafro( k, der nichts weiter als ihr auf Erden gelassener 
Leib, ihre frühere Wohnung war. Sotbane Verwandlung dauerte 
nun je nach Umständen längere oder kürzere Zeit: im Grabe 
geschah sie langsam und allmählich; rapid auf dem Scheiter^ 
hauleu. Die Yerbieiiniing' ersparte gleichsam die Beerdigung, 
deun nicht auf die Erde, sondern auf die Verwesung kommt es 
an — die Freier der Penelope ziehen unbeerdigt, überhaupt ein 
wenig frühe in den Hades (Odyaaee XXIV, lö7). Das Grab diente 
nur dazu, die Aastiere abzuhalten, sonst hatte es keinen Zweck, 
der aber war wesentlich; denn hatten die Hunde das Fleisch 
gefressen, so kam die Seele niemals wieder zu ihrem Leibe und 
niemals zu ihrer Ruhe, ebendeshalb wurden die AasLiere so sehr 
gefürchtet. 

Mit einem Worte, die Feuerbestattung kürzte das lang- 
wierige Geschäft der Metamorphose ab : aus diesem Grunde wurde 
sie vorgezogen, so oft man sie haben konnte; bei geringen Leichen 
verbot sie sich von selbst. Ein Timoleon, .ein Philopömen wurde 



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5. Die Fefterbestattttiig« 95^ 



den Flammen übergeben, so gut wie Patroklus und Achill. Dem 
Patroklus aber dauerte es zu lange: Mutter Tiietis hatte ihm 
den Leib mit Ambrosia und Nektar einbalsamiert, um ihn vor 
den fliegen und ihren Maden zu bewahren, und das war nacb 
griechischen Begriffen ein Hemmnis für die Entwickelung der 
neuen Persönlichkeit, die augenblicklich keimte wie ein Fötus^ 
Die Seele konnte sich nicht bilden, w il das Fleisch, das seiner 
Auilösung harrte, durch Zauber gebunden war. Daher seine 
An^st, sein Drängen, sein stürmisches Verlangen : verbrenne mich 
so schnell als möglich ! — Der Embryo des Hades ist erkrankt, er 
wird in seiner Entwickelung gestört, er vermag nicht auszuwachsen» 
Erst die lichte Lohe bewirkt das Wunder. Das ganze pracht- 
yolle Schauspiel einer antiken Feuerbestattung — der moderne 
Ofen wirkt nicht auf die Phantasie — war dazu angetlian, den 
Glauben an eine höhere Bestimmung des Menschen zu erwecken. 
Die Verwandlung ging hier mit Glanz und ohne jene unheim- 
lichen Nebenerscheinungen vor sich, welche Grabesnacht und 
Moderduft mit sich bringen — das mächtige Feuer schien den 
Unsterblichen von allen Schlacken zu reinigen und den letzten 
Erdenrest in ihm zu tilgen. Der Tod vergeistigt den Menseben 
immer, indem er von der harten, starren, erdigen Knochenniasse ein 
edleres Teil al)l(:')st : der Tod erhöht den Ton, aus dem das Stück 
geht, wie ein Kreuz. Aber bei der Verwesung scheinen wir durch 
den Verlust der Gebeine leicht zu werden wie Gold und zu einem 
Schatten herabzusinken ; die zurückbleibende Asche siebt dagegen 
aus wie ein Stoff, der unserem besseren Teile anhing, den wir 
wie einen Ballast mit uns herumgetragen und den wir endlich 
abgeworfen haben. Ausgestossen haben wir jeden Zeugen mensch- 
licher Bedürftigkeit. 

Die Menschen, die von der Erde einen so glänzenden Ab- 
schied nahmen, hätten, sollte man vermeinen, auch ohne Apotheose 
zu Göttern werden müssen. Trotzdem wurden sie das nicht, 
Patroklus musste in den Hades, er wollte ja gar nichts besseres^ 
und hierher folgte ihm auch sein Freund Achill nach, der ebenso> 
feierlich veibrannt wurde wie Patroklus, der aber darum nicht 
minder sein freudloses, schales Scheinleben im Hades führt. £e- 



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96 



I. Die HöUenfauna. 



schönige mir den Tod nicht, berühmter Odysseus. Lieber möchte 
ich bei einem armen Bauer als Tagelöhner dienen als über die 
Leichen herrschen. Im Hades leben beisst nicht leben. Sprechen 
vir von etwas anderem (OJyesee XI, 488). 

Mit andern Worten: die Verbrennung änderte am Schicksal 
der Seelen gar nichts. 8ie mag \\oh\ in der römischen Kaiser- 
aseit als die Vorbereitung zu einem höheren Leben angesehen 
worden sein : nach homerischer Anschauung war sie nur die Ver- 
nichtung dieses Lebens, auf welches zwar auch ein Leben, aber 
ein sehr tiefgradiges Leben folgte. Kicht dasa die Menschen 
nach der Feuerbestattung weggewesen waren, sie hatten sich 
nur verwandelt; aber die neuen AVesen kamen so gut wie alle 
Seelen in den Hades, wo die Verstorbenen nach ihrer Verwand- 
lung zusammenwohnten, nachdem es feststand, dass sie auf Erden 
ohne Rückgrat nicht fürder zu existieren imstande wären. Der 
Hades war so gut wie der Tod, er hiess ja auch der Tod. Dass 
jetzt nach den Lebendigen die Toten an die Existenz gekommen 
waren, half ihnen g»r nichts: auf die Erde kehrten sie doch 
■ nie wieder zurück. Nach deutscliem Volksglauben nimmt Frau 
Holle die Seelen der Verstorbenen iu Empfang und bewahrt sie 
in einem Brunnen auf, aus welchem sie der Storch, der Kinder- 
bringer, wiederabholt. Die griechische Unterwelt war kein 
Depot, in dem die Seelen nur zeitweilig gelegen hätten, so wenig 
wie die deutsche Hölle; sondern ein lebenslängliches GefKnguis. 
Damit ging also die Unsterblichkeit halb und halb verloren, sie 
konnte fast für nicht eingetreten gelten. 

So viel fehlte daran, dass man den Scheiterhaufen als eine 
goldene Wiege betrachtet hätte, dass er schliesslich nur dazu 
dienen musste, die Schrecken des Todes zu erhöhen und die Un- 
geheuer der fressenden Tiefe um eines zu vermehren. Er war 
thatsäcblich eine Wiege, in der sich ein neues Leben entfaltete 
und der Gott flammend vom Menschen schied ; man hätte ja gar 
keinen Hades gehabt, wenn uiclit bei der \ erbrennung ein Un- 
sterbliches übrig geblieben wäre. Weil es aber die Griechen 
nicht lassen konnten, ihrem Phantom von Unsterblichkeit nach- 
zuhängen und den einmal eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen, 



5. Die Feuerbestaitong. 



97 



SO gelangten sie, im Widerspruche mit sich selbst und mit der 
Armut der sich selbst überlasscnen Einbildungskraft, nicht bloss 
zu allen möghchen unpassenden Vorstellungen vom Jenseits^ 
sondern am Ende auch wieder zum Feuer. Wie sie den Cerberus 
von der Oberwelt In die Unterwelt versetzten und die Hunde, 
deren Beruf es war, mit den Leichen aufzuräumen» zu einer 
Belua eentüsepB zusammenfassten, die das Lebensende yersinn- 
bildlichte: so setzten sie alle einzelnen Scheiterliauten der Erde 
zu einem grossen Feuerstrom. dem Pijri-phhfjethon zusammen, der 
seine flammenden Wop^en um das Toten reich herumwälzte und 
den Einwohnern die Kückkehr unwiderruflich abschnitt wie der 
Hund. Das war zunächst gar nichts weiter als die Philosophie 
des bekannten deutschen Sklaven, Schmidt geheissen : vB€r einmal 
tot daliegt^ mrd nteht mehr lebendigy oder: wen dcts Feuer einmal 
ye/re.'iseii lutt, mit dem ist es mis. Aber indem sie aus den Seelen, 
die doch erst aus dem Feuer hervorgeganf^cn waren , Wesen 
machten, die sich wieder die Finger verbrennen konnten, und 
gleichsam neue verletzliche Menschen schufen: schössen sie über 
das Ziel hinaus und verwickelten sich in ein Knäuel von Absur« 
ditäten. Leute, die einmal abgebrannt sind, sehen im Traume 
immer noch das Feuer, nachdem es doch längst ausgerast hat. 
Denselben Eindruck machte die Leichenverbrennung auf das 
(jremüt. 

Das höllische Feuer war nun nicht mehr zu löschen ; mit 
reissender Schnelligkeit griff es um sich. Der nächste Schritt, 
den die Phantasten thaten, war: den Feuerstrom speziell um 
das Gefängnis der verdammten Seelen herumzuleiten, damit sie 

nicht entwischen könnten; denn während der Hades ursprünglich 
über die Qualität der Verstorbenen nichts aussagte, sondern 
wie eine allgemeine Versorgungsanstalt ohne Unterschied alles 
aufnahm, was nicht mehr lebte: bekam er nach und nach zwei 
Dependancen, ein Zuchthaus für die Verbrecher und eine Pension 
für die Guten. Das Mittelgut verblieb im Hauptraum. Nun 
war es wiederum nur ein Schritt, die Missethäter gleich selbst 
ins Feuer zu stecken und ihnen eine Strafe angedeihen zu lassen, 
die schon im Altertum bestand und als Feuertod neben der 

Klainpaul, Die Lebendigen nad die Toten. 7 



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98 



I. Die Ilöllenfauna. 



Leichenverbrennung herging, aber vornehmlich unter dem Christen- 
tume lildlite und im Mittelalter Ketzer, Juden und Hexen traf. 
Die Flammen der unzähligen Scheiterhaufen, die Europa während 
jener grauenvollen Zeit in eine einzige ungeheure Brandstätte 
yerwandelten, mussten zaguterletzt noch auf das Jenseits über- 
tragen and jene bereits charakterisierten Feuerscblünde gescbaffen 
werden, in welchen die Ungläubigen Pein litten, ohne jemals zu 
verbrennen. Die Vorstellung ist, wie gesagt, eine von langer 
Hand her überlieferte und durch Perser, Juden und Grieclien 
ins Christentum gekommen. In der persischen Hölle, dem Duzakhy 
brennt natürlich niemand, so wenig wie in der altgermanischen, 
sie bedeutet die tiefe Finsternis ; sie hat sich erst bei den Juden 
und den Griechen in einen feurigen Pfuhl verwandelt, in dem 
Pech und Schwefel brennen. Späterhin boten die Krater der 
italienischen Vulkane den Priestern eine willkommene Gelegen- 
heit, den Feuerpfulil zu lokalisieren und den Sündern ins Ge- 
wissen zu reden; den Malern der Weltgerichte das Modell zu 
ihrem Bravourstück. 

Audi zu Dantes Hölle hat offenbar der Vesu? oder der 
Ätna das Vorbild abgegeben, da sie einen Trichter bildet, dessen 
Spitze in den Eingeweiden der Erde steckt und dessen Wände 
nach Art eines Amphitheaters rangweise abgeteilt sind ; ihr 
konvexes Gegenbild ist der Berg des i^'egeteuers, auf dem nach 
einer abendländischen Yorstellung die lässlichen Sünden abgebüsst 
und die Seelen in den Flammen nicht gemartert, sondern gefegt, 
will sagen : geläutert werden. Diese Läuterung nimmt nach der 
ehrwürdigen Marina von Escobar Jahrzehnte in Anspruch; 
Katharina Emmerich spricht von Seelen, die Jahrhunderte im 
Fegefeuer zubi iiii^eii mussten. Bei der heiligen Francisca Romana 
war ein ewiges Kommen und Gehen von solclien noch nicht 
gänzlich reingefegten, halbyerkohlteu Seelen, die entweder noch 
lichterloh brannten oder wenigstens noch glommen. Ein eng- 
lischer Jesuit, Pater Munford, stellt folgende Berechnung an. 
Wenn der Gerechte siebenmal am Tage fällt, so werden wir 
annehmen dürfen, dass der gewöhnliche Sterbliche mindestens 
zehnmal sündigt. Macht im Jahre oGüO, in JO Jahren 3ÜöU0, 



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5. Die FenerbeaUttang« 



99 



in 20 Jahren: 73000 Sünden, die hoffentlich alle lässlich sind, 
£8 kann daher wohl sein, daas ein Kind, das mit acht Jahren 
stirbt» sechzehn Jahre Fegefeuer braucht. 

Die gesamte Höllenfauna lieferte nicht so yiel Stoff zu der 

Lehre von den letzten Dingen wie das Feuer. Den Germanen 
aber hat das Element, das ihren alten rilauben vernichten half, 
die Idee der Götterdümmerung eingegeben, die eintritt, wenn 
Baldr stirbt, die Söhne Muspels von Süden herangeritten kommen 
nnd das grosse Leichensobiff, das aus den Kägelschnitzen toter 
Männer gefertigte Na04»^ bei der Überschwemmung flott wird. 
Bann verbrennt die ganze Welt. 



n. Todesengel 



1* Bufende Geister. 

Aus dieser Zeitlichkeit in die Ewigkeit abgerufen — der Glaube an dM 
Abrufen — wir sollen abgerufen werden wie auf den Eisenbahnhöfen 

— die Meinung ist di^ daes der Tod nicht anangemeldet komme, sondern 
Boten voraufschicke, um die Menschen von seiner Ankunft zu verständig'en 

— Tf riesboten darf man aber nicht mit Kreaturen des Tode?, z. B. nicht 
mit Krankheiten verwechseln, die gleichsam der Tod sell»st sind — Todes- 
boten miissten den Menschen bloss rufen, ihm aber nichts thun — wie die 
Frankeiihäuserin den Schulmeister auf dem Kytfhäuser rief — solche Rufer 
aber giebt es nicht, sondern die Geister, die man jetzt ToJesboten nennt, 
sind ebenfalls ursprünglich MiWder und Halsabschneider gewesen, sie werden 
nur jetzt bescbuiiigt — es waren Seelen von Verstorbenen, diese versahen 
das Henkeramt — man wollte, dass die Toten die Lebendigen nach sich 
zSgen — da'ts sie den Lebendigen eine Hand reichten wie der Steinerne 
Gast — der Tod, der mit nns tanst, ist ja telbat ein Toter — ursprünglicher 
Sinn des Totentanzes — solche Erscheinungen werden dann irrtttmlich für 
Boten ausgegeben — besonderes Motiv, das einzelne Seelen haben — Bache- 
geister, die den Bmtns, Theodericb, Richard III. yerfolgen. 

Wird abgerufen? — so fragt einer wohl im Bahnhofs» 
reBtaurant den Kellner. Diese Frage ist überflüssig; es muss 
abgerufen werden. Seitdem das dreimalige Läuten der Perron- 
glocke in Wegfall gekommen ist, werden die Züge abgerufen. 

Die Eiseiibahnverwakuiii^^'n sind reglemcntantch dazu verptliclitet : 
die Auliurderung zum Einsteigen in die Wagen, heisst es in 
der Yerkehrsorduung für die Eisenbahnen Deutschlands, hat i 
durch Abrufen in den Warteräumen zu geschehen. Allein 4ie 
berliner Stadt- und Ringbahn macht eine Ausnahme hiervon. 
Das Abrufen besorgt der Portier, der mit einer grossen Klingel 
<den Wartesaal durchschreitet. 



1. Kufende Geister. 101 



Wer besorgt es denn im grossen Wartesaal, in dem männig- 

lich wartet? — Die Züge ins Jenteits geben täglich und stünd- 
lich ab. Nach einer Berechnung, die vielleicht schon veraltet 
ist, sterben auf Erden alljährlich 42403000 Menschen, täghch: 
115200, in jeder Stunde: 4800, in jeder Minute: 80. Sie alle 
wollen befördert, alle in die andere Welt gefahren werden; der 
Verkehr hat hier das Eigentümliche, dass jedermann fortwill 
und niemand wiederkommt. Wer raft nns nun ab, wenn wir 
unsere letzte Heise machen? — Ach, Gottchen! Das Abrufen 
ist hier schon lange eingeführt. Der Tod hat seine Portiers so 
gut wie die Eisenbahn. Er hat auch seine «KUngeier, die den 
Wartesaal durchschreiten und sich ehern vor den armen Fahr- 
gast pflanzen, wenn er eben noch ein Glas Bier trinken will: 
Fort musst dnl Deine ühr ist abgelaufen. 

Den einen trifft die Botschaft mitten auf der Reise, den 
Feldhenn auf dem Schlachtfeld, den Fürsten in seinem Schlosse, 
den Schulmeister auf dem Kyffhäuser. 

An einem heissen Sommertage des Jahres 1834 bestieg ein 
preussischer Schulmeister von Tilleda aus den Kaiser Friedrich. 
Auf dem Bergrücken angelangt, warf er sich neben dem so- 
genannten Erfurter Tbore erschöpft ins Gras und rief in guter 
Xiaune: Ach, Kaiser Roibart, ich wollte^ du sehicktest mir eine Tasse 
Kaß'eel — Er hatte es nicht sobald gesagt, so trat aus dem 
Rahmen des Thors majestätisch und ernst eine Jungfrau hervor 
und kredenzte dem müden Wanderer — eine Tasse Kaffee, Aber 
das Schnlmeisterlein erschrak, als habe es der Gottseibeiuns an- 
gerührt: aufspringen, die Beine unter den Arm nehmen, den 
Berg wiederhinunterrennen und die Geschichte in Tilleda er- 
zählen, das war eins. Der Mann zitterte am ganzen Leibe, er 
wurde thatsächlich kraiik vor Schrecken und musste sich im 
Gasthofe niederlegen. Das koiiüte er nicht iasbcn, dass eine 
Gesellschaft aus Frankenhausen oben in den Kuinen gewesen 
war, im Thorgewölbe Katfee gekocht und seinen Wunsch ver- 
nommen, dass hierauf ein Fräulein die gütige Fee gespielt und 
ihm gewährt hatte, was er wünschte und was er so sehr be- 
durfte — auch dann wollte es ihm nicht ein, als die Herrschaften 



102 



II. Todesengel. 



nachkamen und die Hebe selbst erschien, den Unglücklichen 
anfzuklären. Er blieb dabei, dass es ein Greist und die yer- 

zauberte Tochter des Barbarossa gewesen sei, die mit ihrem 
Vater im Berge sitze und nach den Raben schaue. Keine 
irdische Erscheinung, die Walküre hatte ihn gegriisst, sie hatte 
keine Kaffeekanne, sie hatte ihr Boss am Zaume, und er hörte, 
wie sie ihm zuflftsterte: 

Nor Todgeweihten 

tftogt mein Anblick; 

wer mich erschaut, 

der scheidet vom Lebenslicht 

Der Tod hatte ihn gerufen, das war sicher; und er selbst, der 
Vorwitzige, hatte den Tod haben wollen, während man doch in so 
emem Falle nicht einmal imtworten soll, wenn man gerufen wird! 

Eüi Brautpaar zu Tüleda soll einmal zur Zeit der Sommer- 
sonnenwende in den Kyffhäuser geraten und ganze zweihundert 
Jahre, seiner Meinung nach aber nur eine Stunde darin geblieben 
sein, so dass es ihm wie den heiligen Siebenschläfern ging — der 
Schulmeister hatte nicht solange geschlafen und doch während 
einer kurzen Minute einen Blick in die Ewigkeit gethan. Die 
Anekdote erinnert an eine andere, die sich unlängst auf einem 
Gleichen-Schlosse^ in der Ruine der Burg Mühlberg, der so- 
genannten Mühlberger Gleiche abgespielt hat Hier waren vier 
junge Kaufleute aus Erfurt heraufgestiegen. Sie versenkten sich 
tief in die deutsche Vergangenheit, und einer der vier Kumpane 
richtete im Kitzel des Kittertunis und mit viel Bombast eine Her- 
ausforderung an den weiland Grafen von Gleichen« der, den 
Satzungen des SitUichkeitsvereins entgegen, in einer Doppelehe 
lebte. Der Fähndrich Fistol in K&ni^ Heinrich dem Fünften 
hätte es nicht schöner machen können. Die Absage vernahm 
ein alter Förster, der eben in dem (noch benutzten) Burgkeller 
seine Gewehre putzte, und mit Donnerstimme rief er, dass es 
schaurig widerhallte, durch die Grabestiefe; Ktn-t, reiche mir das 
Schwert! Knapp, satde mir mein Dänenross, dats ich dm Frevler 
züehiigel leh kotnme^ ick kommet — als worauf die Herren Pistol, 
Nym, Bardolph und Kompanie abermals ausrissen und in rasen- 



1. Rufende Geitter. 



103 



dem Laufe die Drei Gleichen hinunter trollten. Wir wollen 
lieber an die wirklichen Todesengel denken» die den Todes- 
kandidaten ihren Tod haben ansagen sollen und angeblicb aucb 

angesagt liaben und deren die Weltgeschichte voll ist. 

Todesboten - besinnen wir uns einmal. Es ist nicht alles 
Bote, was den Tod wie ein Vorläufer ankündigt und die Livree 
des Todes trägt. Es ist überhaupt nicht notwendig, dass sich 
der Tod immer erst meldet, ehe er erscheint. Bäsch tritt der 
Tod dea Menschen an: ohne erst anzuklopfen, unerwartet, plötz- 
lich platzt er herein wie auf Holbeins Totentanz. Der dürre 
Kiiochenmann, der Sensenmann ist da, als hätte ilin der Erd- 
boden ausgespieen: in Italien siebt man die Morfe wie eine 
Jj'ledermaus durch die Abenddämmerung flattern, in Hussland 
die Smerinitza um die Häuser schleichen und endlich in einem, 
wo man's gar nicht gedacht hätte, verschwinden. Sind das etwa 
Todesboten? — Es ist der Tod selbst, der die Menschen wie 
ein Sturmwind wegrafft und nicht viel Umstände macht; er 
kommt ohne alle Begleitung. Namentlich in Zeiten allgemeinen 
Sterbens fühlt er sich ausser stände Rücksichten zu nehmen, 
seine Opfer zu benachrichtigen und Herolde voraufzuschicken; 
dann mäht er die Menschen ab wie Korn. Es ist Erntezeit für 
ihn; er hat dann unmenschlich viel zu thun und nur immer zu 
schneiden, zu schneiden. 

In solchen Zeiten ist das Volk freilich voller Gesiebte und 
Todesengel. Es sieht die ansteckenden Krankheiten wie die 
• Apokalyptischen Reiter tlnrcli das Land ziehen, die Pestjungfrau 
von Haus zu Haus und von Hütte zu Hütte wandern, die Cholera 
urplötzlich auf einem Maskenball auftauchen und die Influenza 
am Ufer landen. Im Januar 1890 trieb sich der Satan auf dem 
Joniscben Meer herum. Ein nach Korfu bestimmtes Segelschiff 
lichtete eben an einer der mittleren Jonischen Inseln, im Hafen 
von Hamaxiki, die Anker, als ein altes Woiblein hüstelnd htian- 
trippelte und nucL an Bord begehrte; der Kapitän nahm sie 
auch noch auf. Als das Schill' nun beinahe am Ziele und die 
Citadelle von Korfu bereite in Sicht war, erschien plötzlich ein 
Mönch, ein sogenannter Kalogeros anf dem Verdeck und ging 



Digitizca by Liov.*v.i^ 



104 II. Todeseogel. 

mit erhobenem Kreuze sclmurstracks auf die alte i^Vau zu, die 
angstvoll vor ihm zurückwich, immer weiter und weiter, bis sie 
endlich hinterrücks Über Bord fiel und in den Wellen ertrank. 
Damit war auch der piUe Greis verschwunden. In Korfu begab 
sich der Kapitän alsbald in die Kirche des heiligen Spiridion, 
um eine Danksagung zu thun, und siehe da, wie er den heiligen 
Schutzpatron in seinem Kasten von Ebenholz näher ins Auge fasste, 
erkannte er den Mönch, der die Alte von seinem SchiÜe weg* 
gedrängelt hatte. Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: 
die alte Hexe war die Influenza gewesen und der heilige Spiridion 
hatte ein Wunder getban, um die Jonischen Inseln von der 
Crrippi zu befreien, wie er vor Jahren die Cholera bannte. Aus 
Dankbarkeit veranstalteLe Khren-Geistlichkeit eine schöne Pro- 
zession. 

Alle Krankheiten werden vom Volke auf Rechnung eigener 
Krankheitsdämonen gesetzt, zu denen in katholischen Gegenden 
auch die Heiligen selbst» die sogenannten Plagheiligen ge- 
hören, wie denn z. B. Sankt Blasius mit Halsschmerzen, Sankt 
Urban mit Gicht und Podagra, Sankt Valentin mit dem Bösen 
Wesen, der heilij^e Fiacrius mit Feigwarzen, der heilige Antonius 
nach einer in Frankreich und Spanien verbreiteten Anschauung 
mit der Kriebelkrankheit plagt — die Krankheiten führen zum 
Tode, sie sind tödlich, und in einem weiteren Sinne könnte man 
diese Unholde Todesengel nennen, weil sie dem Tode den Weg 
bereiten. Sie wären gleichsam Kreaturen und Arme, das heisst 
Formen des Todes selbst, der sich in sie Terwandelt — eine 
Epidemie ist zwar nicht ganz der Tod, aber aucli nicht viel 
bessri-, Bekanntermassen liiess die furclitbare Pestilenz, die im 
J4. Jahrhundert die halbe Welt verheerte, kurzweg: das grosse 
Sterben oder: der Sehwarze 2od^ wie das Fliegengift kurzweg: 
Fliegentod genannt wird. Aber wie wenig entspricht doch eine 
so grausame Rolle dem stillen Amte eines Boten, der ernst und 
feierlich, aber schuldlos nalit. Die Krankheitsdämonen gleichen 
dem Henker, der dem Verbrecher den Kopf abschlügt, aber 
nicht dem Staatsanwalt, der am frühen Morgen in seine Zelle 
tritt: Ihre Stunde ist gekommen. Der arme Sünder wird 



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105. 



freilich zwischen dem Beamten^ der ihm den Tod ankündigt, und 

dem Scharfrichter, der ihn exekutieren soll, so wenig Unterschied 
machen wie zwischen dem Scharfrichter und dem Richter, der 
ihn zum Tode verurteilt hat. Aber ein Engel, ein Todesengel 
dürfte auch gar nicht zu einem hochnotpeinlichen Halsgerichi 
gehören. Er durfte den Tod nur wissen. 

Zwischen Todesengeln und Todesengeln ist ein Unterschied t 
Die eine Art bringt das Verderben selbst, sie schlägt, wie e» 
im Alten Testamente heisst, alle Erstgeburt in Ägypten, das 
Volk Israel, das Lager Sanheribs; die andere sagt das Ver- 
derben an. Die letztere macht allein ihrem Namen Ehre. Was- 
ein richtiger T od e s h o t e ist, darf das würgende Schwert nicht 
selber schwingen, so wenig wie ein Herold, der den Krieg er- 
klärt, die Feindseligkeiten in eigener Person eröffnet. Eiiii 
Todesbote müsste weiter nichts zu thun haben, als die Tode^)- 
kandidateii zu rufen — den Zug abzurufen wie der Portier,. 
damit sich die Leute 7Air Abreise rüsten mögen. Giebt es nun 
solche Rufer und Herolde des Todes? — Mit Schrecken gewahren, 
wir, dass sie eine nachträgliche Illusion, ein Euphemismus sind» 
Harmlose Todesboten hat es nie gegeben. 

Das Volk glaubt jetzt freilich daran. Es hat tausend Qe- 
schichten, wie die frommen Menschen Ton Gott benachrichtigt 
worden sind — wie dem König am hellen lichten Tage die 
Weisse Frau erschieneu, dem Cid der Apostel Petrus begegnet 
ist; wie Ninon de Lenclos den Besuch eines kleinen schwarzen- 
Mannes empfängt, wie der Kammerherr Leutgeb bei Mozart ei» 
Bequiem bestellt; wie ein Genius winkt und den Gottlosen 
der Teufel holt. Jetzt weiss iofi, dass es nun bald mit mir av»- 
sein wird, erzählt eine vornehme alte Dame : des Nachts kam meine 
f<elige Mutter und meine kleine verstorbene Alhertine in mein Zimmer; 
m Leyteii sich, die eine rechts^ die (Dufere links zu mir ins Bett und 
waren eisig kalt, aber sie freuten .sich unendlich^ dass ich nächsten» 
bei Urnen sem würde. Gerne sieht man sich in seinen letzten- 
Stunden von seinen Verstorbenen umgeben, gerne ruft man dem- 
vorangegangenen Bruder zu: Ja, Max^ ich komme nach» Und so 
giebt es viele freundliche Beziehungen zwischen Diesseits und. 



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i06 II- Xodesengel. 



•J^enseits, als ob die Toten von unserer Ankunft hörten und 
Uns bis an die Grenze ihres Reiches entgegenführen^ um uns 

abzuholen. Das Volk täuscht sich aber; es verkeimt seine 
■eigenen Schöpfungen. Es weiss nicht mein , was es mit den an- 
geblichen Todesboten, den rufenden Greistern auf sich gehabt hat. 
Sie haben ihr .Opfer ursprünglich nicht gerufen, sondern kalt- 
gemacht wie der Ohoierabacillus. Sie haben wie der Engel des 
Herrn ihre Hand über Jerusalem ausgestreckt, und das Volk 
geschlagen. Sie sind weit schlimmer als sie aussehen. 

Sie sind Reste des alten furchtbaren Seelenglaubens, der 
.männiglich beherrscht und angesteckt hat und unter Gebildeten 
und Ungebildeten heute noch mächtig ist. Ein Geschlecht nach 
dem andern fällt wie Laub Tom Baume der Menschheit ab: den 
Eltern sterben die Kinder nach, solange die Erde steht; 
die G^attin folgt dem Gatten, der Bräutigam der Braut, 
oft auffällig schnell. Nicht selten ist es möglich, eine direkte 
Beziehung zwischen den beiden Todesfällen anzugeben, einen 
Kausalnexus aufzufinden und zu behaupten, dass der eine 
..am andern, wie bei der Leichenvergiftung, wirklich schuld ge- 
wesen sei. Die Teilname an einem Begräbnis, der Besuch d^ 
fViedhÖfe, vor allem aber die Sehnsucht, die tiefe und ungestillte 
Sehnsucht hat schon manchen krank gemacht und getötet. Es 
lag also nahe, hinter dieser ewigen und gesetzmässigen Aufeinander- 
folge eine dunkle Gewalt zu «hnen und den Toten ein Verlangen 
Dach ihren Hinterbliebenen, einen Durst nach ihrem Blute und 
nicht bloss körperlich die gefährlichsten Eigenschaften und Gifte, 
sondern geradezu eine Art Mordlust zuzuschreiben. Man kam 
zu dem Schlüsse: dass die Toten die Lebenden nach 
eich ziehen, und er führte zu jenen schaurigen Phantasien, 
die namentlich von den unteren Donauländern liur bekannt, durcli 
die Kultur verwischt, keineswegs auRtrerottet sind. Man darf 
sagen: alle Menschen glauben an Vampire, wenn sich auch der 
"Glaube in civilisierten Ländern abgeschwächt und nicht so rein 
-erhalten hat wie bei den Serben und bei den Griechen. Die 
Weissen Frauen sind nicht um ein Haar besser als die Wer- 
^ölfcy die dort wiederkommen und den Schlafenden das Blut 



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J. Bufeude Qeisier. 



107 



abzapfen, bis sie ihnen folgen ; wir haben nur vergessen, was sie 
eigentlich von uns wollen. Sie wollen uns t5ten ; wir haben gut- 
mütig Todesboten daraus gemaclit. Moderne Hermesse, bestellt, 
die Seelen ins Jenseits zu geleiten. Sie raffen dru Menschen 
vfeg. die Zeit hat ihr Amt gemildert, sie sind nur noch Klinger 
und Kufer, die den Pilger aus dieser Zeitliclikeit abrufen und in 
ihren Himmel zu Gott einführen — der Teufel, der den Doktor 
Faust erdrosselt, hat den dämonischen Charakter aller Seelen 
am ersten noch bewahrt. 

Er nlltin haust ja auch noch in der Hülle,, das heisst, 
wenigst (TIS dem Namen nach: in der Unterwelt, im Grahe, 
während die seiigen Geister, die vornehmUch rufend sind, schon 
jetzt in einem eigenen Seelenreiche, im Himmel wohnhaft gedacht 
werden. Ein solches Seelenreich ist auch der himmlische Brunnen, 
in dem Frau Holle die Verstorbenen aufbewahrt, um sie dann 
als Kinder durch den Storch auf die Erde zurückbringen zu 
lassen ; in erster Linie ist die Hölle ein grosses Reich, in dem 
der erste der gefallenen Engel als Fürst der Finsternis regiert. 
Aber dergleichen Seelenköuigreiche enstehen langsami indem sich 
die Könige ihre Ilnterthanen selber werben; denn zunächst be- 
herbergen die Götter keine Seelen, sondern sie machen Seelen, 
indem sie die Lebenden entleiben. In Ägypten schlägt der Gott 
Israels alle Erstgeburt vom Kronprinzen an, dazu alle Erstgeburt 
des Viehes ei. Mose Xir, lm»,; aher auch für ihre eigenen Kinder 
sind die Gottheiten von Haus aus schrecklich gewesen, man 
fürchtete sich, ihnen zu begegnen, ihre Erscheinung blendete, ihr 
blosser Anhlick tötete, was offenbar ein E-est der uralten An- 
schauung ist, dass alle Geister, und das sind die auferstandenen 
Toten, den Lebendigen das Leben zu nehmen imstande sind. 
Mag die Weisse Frau eine blosse Ahnfrau oder eine germanische 
Göttin, Berchta, Frau Holle sein, immer l)edeutet sie den Tod, 
wenn sie gesehen wird. Die Aastiere werden gefürchtet, weil 
sie die Leichen fressen. Die Toten werden gefürchtet, weil sie 
die Menschen zu Leichen machen. 

Die Toten töten; jeder Tote streckt gleichsam eine Haud 
zum Grabe heraus, die er den Lebenden reicht und mit der er 



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108 



II. Todesengel. 



sie zu sich ins Grab liinunterzieht. In der frühesten drama- 
tischen Bearbeitung der Don Juan-Sage gewinnt der Held am 
Schlüsse des Stücks das Herz Amintas. Er yerspricht sie zu 
heiraten. Auf ihr Verlangen leistet er einen furchtbaren Eid; 

verflucht Gott und will, wenn er nicht Wort halte, von einem 
toten Manne getutet weiden. AVas tot ist, beisst nicht mehr, 
sagt das Sprichwort; die Sage straft es Lügen. Don Juan, der 
den Vater Amintas erstochen hat und von seiner Statue zu 
Gaste geladen wird, stirbt in der Gruft yom Händedrack des 
Toten. Der tote Mann hat ihn getötet. Dieser einfache 
Grundgedanke ist nach und nach abgeschwächt und mehr oder 
weniger verballhornt worden, bis schliesslich der Komtur nur 
noch als Todesbote erscheint und dem Uon Juan verkündet, dass 
er am folgenden Morgen sterben werde. Und doch hat seine 
Seele gerade ein besonderes Motiv, dem Frevler den Garaus zti 
machen. Was ist denn der Steinerne Gast? — Ein Bild des 
Ermordeten. Er giebt die eiskalte Hand dem Mörder. 

Unter den Seelen» die mörderisch umgehen und wieder^ 
kommen, besteht eine besondere, zornige Klasse, die von der 
Rache getrieben wird. Es sind die Seelen derer, die nicht aus- 
gelebt haben, gewaltsam ums Leben gebracht, ermordet oder hin- 
gerichtet worden sind und die nun nicht bloss Blut saugen wie 
alle Seelen, sondern die Blutrache, die sonst den Blutsverwandten 
obliegt, gleich selbst in die Hand nehmen. An der Stelle, wo 
einer erschlagen worden ist, soll man aus Vorsicht Steine ab- 
werfen, um sich gegen den hier hausenden Dämon zu sichern, 
auch wenn man an der That keinen Teil gehabt hat ; der Geist 
ist schrecklich in seiner Wut, wie viel mehr wird ihn der Mörder 
fürchten müssen. Die Alten haben ihre Furien gehabt, die aus 
der Unterwelt aufstiegen, um den Verbrecher von Meer zu Meer 
zu jagen. Was den Orestes j^einigte und verfolgte, war der 
blutende Leichnam selbst, der Schatten der ermordeten Klytäm- 
nestra, der zürnende Geist der Mutter. Genau so wird Brutus 
in seinem Zelt von dvm öcheniLii des ermordeten Cäsar, seines 
Freundes und Wohlthäters, heimgesucht und Richard III. auf 
dem Felde bei Bosworth von den Geistern seiner Erwürgten, von 



1. Rufende Geister. 



109 



König Heinrich VI , yon Clarenoe, von den beiden jungen Prinzen, 
von der PriDzessin Anna» von Backingbaniy von HastingSi von 
nnzähligen anderen geschlagen, was wir non matt- und sinnlos so 

ausdrücken : dass i/mi die Geister erschienen seien. Das ist Teils 
Geschoss, sagt der Landvogt, wie er bei Küssnacht getroffen 
wird. Das ist Symmachus, er will mich fressen ! — ruft Theo- 
dericb, der König der Ostgotcn, in seinem Palaste zu Kavenna 
zitternd aus, wie der Kopf eines grossen Fisches bei Tafel Yor 
ihn gestellt wird; er Yerßlllt in eine tödliche Krankheit, legt sich 
zu Bett nnd stirbt (nach Prokop). 

Der Tod, dei- mit uns tanzt und den Reigen der Verstorbenen 
anführt, wird bekanntlich selbst als ein Gerippe dargestellt. Das 
heisst: der Tod ist selbst ein Toter. Andere Zeiten, andere 
Völker haben im Tode den allgemeinen Scharfrichter gesehen, der 
mit dem Schwerte ansholt, die Menschheit zu enthaupten — den 
Priester, der dem Opfer mit dem Opfermesser eine Locke ab- 
irennt — eine Parze, die den Lebensfaden mit einer Schere 
durchschneidet. Das Christentum wählte ein Skelett, das die 
Dienste eines Gärtners oder eines Schnitters versehen sollte und 
xlem es eine Hippe oder eine Sense in die Hand gab. Kann der 
Oedanke, dass es die Toten sind, die uns das Leben nehmen 
und die Lebendigen nach sich ziehen, deutlicher ausgesprochen 
werden? — Das Totengerippe ist freilich keine Seele, die blut- 
dürstig wiederkommt, am wenigsten eine bestimmte, von Sehnsucht 
oder Rache getriebene Seele — es ist der unbrauchbare Rest, 
der übrig bleibt, wenn sich das Fleisch verwandelt und die wahre 
Seele Keissaus genommen hat, um in den Lüften herumzuirren — 
durchaus keiner Auferstehung fähig, sondern tot und aber tot. 
Daraus folgt, dass ein Gerippe auch niemand etwas thun kann 
und nicht die Macht hat, auch nur einen Säugling umzubringen ; 
ein Gerippe nimmt keinen Doktor Faust beim Kragen, es be- 
deutet kein neues Leben wie ein Geist, es bedeutet das alte 
Leben und das unwiderrufliche Ende dieses Lebens. So wirst 
du sein. Ein Gerippe ist deine Bestimmung, dein erhabenes 
Ziel, dein Vorbild; ein Gerippe führt den Zug des Menschen- 
geschlechtes an, in dem auch du mitziehest. Das ist der Sinn 



110 



II. TodetengeL 



des Totentanzes, wie er in Kirchen und auf Kirchhöfen^ an der 
Pforte des ewigen Lebens, geschildert wird — der Tod von Basel 
kein Dämon, der uns holt und der uns im Schlaf erwürgt^ 

sondern unser gemeinsames Ende, dem wir alle entgegengehen» 
Erst Holbein dn Jimgerc hat in seinem Totentänze dem Toten- 
gerippe eine eigene dämonische Kraft geliehen, iiuleia er die 
Menschen mitten im Leben überfallen, vom Lotterbett wegzerren 
nnd wie in der Bibel mit eiserner Hand schlagen lässt. Das 
Skelett hat wider seinen Willen die Rolle eines bösen Geistes 
fibemommen, und der Unhold, der einen gesunden Leib zum 
toten Manne macht, iät ein anderer toter Mann. 

2. Die Weisse Frau. 

Die Abnfrau, die ihr Geschlecht abfordert — sie heisst häufig Bertha — 
Frau Holle, die ihre Kinder und Kindeskinder noch sich zieht, ihre Seelen 
verwahrt und sie dann auf die Erde zurücksendet — das ]ilärchen vom 
Storch ohne mythologischen Hinter<^rutid, den Kindern wird etwas weis- 
gemacht — die Weisse Frau trägt sich so wie sie sicli l)ei Lebzeiten ge- 
tragen hat, ist aller in das weisse Totenhemd gehüllt — die Weisse Frau 
der Heilen von Xeuliaus und Rosenberg in Böhmen — die Weisse Frau 
im Berliner Sclilosse vielmehr die Gräfin A^nes von Orlamünde - wie die 
«Sasre gewöhnlich erzählt wird — so liat sie keinen Sinn — mau muss die- 
jenige Version zu Hilfe nehmen, wonach sie auf der Feste Plassenburg hin- 
gerichtet wurde und schwur, sich an dem Burggrafen zu rächen und sein 
ganzes Geschlecht wiederumzubriugen — die Furie der Uohenzollern — 
Ettnigunde, kommst da schon — das Portrftt der Weiss«! Frau in Bayreuth 
— Komödie, die mit Napoleon gespielt ward — das Gesp<»ist in der Katho- 
lischen Kirche zu Dresden. 

Die Weisse Frau, die in den Schlössern der HohenzoUern 
den bevorstehenden Eintritt verh&ngnisvoUer Familienereignisse^ 
namentlich ?on Todesfällen anzeigt, wird bisweilen für die Abn- 
frau der Herren von Rosenberg ausgegeben, die sich von Böhmen 

nacli Preussen herübergezogen hätte. Auf einem Felsen an der 
Moldau, in der KezirksluiuptDiaiinschaft Kaplitz. 527 m über 
dem Meeresspiegel liegt das alte Schloss Koseuberg, das jetzt 
dem Grafen Buquoy gehört. Ehemals war es Sitz des mächtigen 
Geschlechtes der Herren von Kosenberg, die in die Geschichte 



2. Die Weisse Frau. 11,1 



des Landes tief eingegriffen haben, die aber eigentlich aus einewt 
andern böhmischen Schlosse stammten, nämlich ans dem Schlosse 

Neuhaus, das gegenwärtig dem Grafeii Czernin gehört, dalier sie 
es auch mit in ihrem Titel führten und sich : Herren am Nea- 
ham und Rosenberg Dannten. Es hegt an der Staatshahnlinifr 
Obercerekwe-Weseli ob der Luschnitz und wird von den Tschedie» 
Heinrichsbnrg genannt. Dieses Scbloss ist noch älter als Bosep;- 
berg, an sechs Jahrhunderte alt und die -Wiege der ganz^i» 
Familie, denn hier hauste die Stammmutter, die mythische Baba 
der Grafen von Rosenberg, die wie so viele Ahnfrauen den 
Xamen Bertha führte. Sie hatte das Haus gegründet, wie 
die Fee Melusine das Schloss der Girafen von Lusignan in Frank- 
reich, sie war in Neuhaus gestorben und begraben und sie bliej» 
fortan der gute Geist des Schlosses, an Wohl und Wehe d^r 
Bewohner^ nicht bloss ihres Blutes, sondern aller ihrer Leut^ 
und Hausgenossen bis in die späteste Zeit den innigsten Anteil 
nehmend. Ich will nur ein Beispiel geben. 

Neunundzwanzig Jahre war an iSeuliauä gebaut worden; 
als es endlich fertig war, gab die Gratiu den Maurern einen 
ßichtscbmaus, und zwar setzte sie ihnen Karpfen in schwarzer 
Sauce vor. Dieses Traktament erhielt sich jahrhundertelang in 
der Form, dass alle Ostern am Gründonnerstag vierandzwanzig^ 
alte Leute mit Karpfen bewirtet wurden. Das geschah regel» 
massig bis zum Dreissigjährigeii Kriege: aber in den Kriegs- 
läuften quartierten sicli die Schweden im Schlosse ein und die 
•Speisung iiel einmal aus. Das liess nun Frau Bertha nicht 
iiingelien, obwohl sie sich damals schon nicht mehr viel um 
das Haus kümmerte: sie schreckte und ängstigte die Besatzung 
und rumorte so lange, bis endlich auf den Rat eines alt^o 
Kastellans wieder Karpfen auf böhmische Art mit Blut gc* 
dünstet wurde. 

Aber das Hauptgeschäft der Weissen Frau von Neuhaus 
war doch ein anderes: durch ihr Erscheinen den Tod von 
Glied ern ihrer Familie, vor allem des jeweiligen Familienhauptes 
anzuzeigen und ihr gesamtes Geschlecht nach Art der Torhin 
erwähnten Todesboten abzurufen, ein trauriges Amt, das sie mit 



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* 



« N'A Li— 

112 ^ II. Todesengel. 

-i 

allen berühmten Aluifrauen JBülimeiis und auderer Länder teilte. 
Wenn man mich einst in der Lnft über fAisipna/i sclnreben sieht. 
sagte die 8cli<")ne Melusine vor ihrem Scheiden, dann sollt ih 
wissen, dass das Schloss einen andern Herrn bekommen wird; ich 
werde aber den Freitag zuvor gesehen werden, ehe das Schloss seinen 
Herrn ändert — so sitzt die Urahne der Grafen Sanvitale, diej 
-Grilfin Bona in Parma, im Palaste der Sanvitali gebückt am! 
Kamin, wenn einer sterben soll ™ so zeigt sich die (rood r^ueen 
Jicss, die jungfräuliche Königin Elisabetl), die Mutter von Eng- 
lands Grösse, in schwarzem Schieier vor dem Tode der epg- 
lischen Könige im Schlosse von Windsor — und eine andere 
Schwarze Frau, angeblich die Kurfärstin Marianne, die Ge- 
mahlin Maximilians III. Josephs, mit dem die jüngere Hauptliniej 
des Hauses ausstarb, in München vor dem Tode jedes Wittels- 
bachers. Man erinnert sich in Bayern noch sehr gut, wie im 
Winter 18(33 unter der Regierung des Königs Max ein Hof ball 
im B.esidenztheater stattfand, bei dem alle Tänzer im Kostüme 
•des vorigen Jahrhunderts und die Mitglieder der alten Familien! 
in den von ihren Ahnen bekleideten Hofchargen erscheinen! 
mussten. Prinz Luitpold gab den Kurfürsten Maximilian HL 
Joseph, die Königin Marie stellte eben jene Marianne vor und 
trug ihre Juwelen. Man sah's im Volk nicht gern, und als im 
selben Winter Prinzess Luitpold und bald darauf auch König 
Max plötzlich starb, meinte man, es sei doch ein Frevel gewesen, 
und die Schwarze Frau habe den Maskenball bedient. 

Bertha von Rosenberg ist also eine jener Stammmütter, diej 
^Is Todtesengel ihres eigenen Geschlechtes gedacht werden, wie die! 
Göttin Berchta, die auch Frau ilulle genannt wird, offenbar 
•selbst eine solche verewigte Mutter gewesen ist — die letztere 
gilt zugleich für eine Hüterin und PBegerin der abgerufenen 
Seelen, die sie in einem himmlischen Brunnen wie in einem 
Depot aufbewahrt und zur rechten Zeit wieder auf die Erde 
.zurücksendet, wo sie dann als Kinder wiedergeboren werden. 
.Auf diese Weise erhält nämlich die Ahnfi*au ihr Geschlecht, i 
einer fruchtbaren ^lutter gleich, die neue Kinder in die Welt 
•setzt, nachdem die ersten gestorben sind. Gewiss ist das über-i 



2. Die Weisse JVaa. 



113 



hanpt der Sinn dieser weiteren Phanfasie, der Bruuaea der 
Mutterschoss und nun vollends clor >?torcli, der rotbeinige 
Storchf der Kinderbnoger, an den die G-elehrtea so viel Tiefsinn 
gewandt haben, nichts weiter als ein Janniges Bild für das gern 
mit einem langen Halse, einer Gkns oder einem Storche ver- 
glichene Organ gewesen, das die kleinen Kinder thatsiicldich auS 
dem Mutterleih herausl.olt. Wer nicht auf den Kopf gefallen 
-ist, der hört in diesem Falle eben die Kinderfragen: wo kommen 
denn die kleinen Kituler herf — und die Eltern Yerblümt ant- 
worten : der Storch hat sie gdmteht, > Wae fehlt denn der Mutter^ 
<(a88 sie eeehs Wochen lang nieht auft^htf — Der Storch hat sie 
ihs Bein gehissen. ünnStig, ein üebreres darftber zn verlieren. 
* Der Brunnen und der wiinderliebliche Garten d irunter ist 
augenscheiidich nur eine AusscliniiK'kuiig der Sa^^e von der 
Mutter, die im weissen Totenhemde aus dem Grabe aufsteigt, 
um ihre Kinder und Kiodeskinder abzuholen und ku sich zu 
nehmen ; denn «die richtigen Ahnfrauen siiid eben Weisse Frauen, 
weil sie tote Frauen und ins Leichentuch gewickelt sind, aus 
diesem Grunde pflegen überhaupt die Geister weiss zu gehen, 
während sie sich übrigens so tragen, wie sie bei Lebzeiten ge- 
gangen sind, also zum Beispiel in unserem Falle eine weisse 
Haube, das sogenannte Gebende auf dem Kopfe und an der Seite 
ein Schlüsselbund haben, weil sie' ihrerzeit die Schalfnerinnen 
des Hauses gewesen, sind. Bertha von Rosenberg, die Weisse 
Frau der Herren von Neuhaiis und Bosenberg that nichts weiter 
für die Seelen, nachdem sie gerufen hatte, sie mochten sich 
selber kümmern ; sie war schon so christlich gebildet, sie dem 
Himmel zu überlassen. Als Joachim Herr von Eosenberg, einer 
ihrer spätesten Enkel in Sterben lag, holte sie ihm einen Jesuiten* 
pater,. damit er beichten könne. 

Im Jahre 1612 war sie nun mit ihrem Geschlechte fertig, 
und" um diese Zeit soll sie sich den Hohenzollem endgültig zu- 
genendet haben, nachdem sie das .Berliner Schloss schon lange 
geliebt und sich aiicli in An<?bach und Bayreuth heimisch ge- 
macht hatte. Beziehungen der Kosenberg zu der Mark Branden- 
burg bestanden schon seit Jahrhunderten: Markgraf Otto III.» 

Klalnpaal, Di« L*b«iiillf«ii aod die Tttm. 8 



114 



II. Todetengel. 



der Fromme, der im Jahre 1230 am Frischen Haffi zwischen 
Balga und Königsberg, eine neue Brandenburg ^baute, war der 
Schwager einer Frau von Bosenberg^ und der Vormund ihres 
Sohnes. Im Jahre 1285 erfolgte dne weitere Annäherung der 

beiden Häuser, indem eine Hohenzollern, die Prinzessin Sophie, 
Tochter des Kurfürsten Joachim TL einen Herrn Wilhelm von 
Bosenberg heiratete. Es wäre also nicht gerade verwunderlich 
gewesen, wenn sich die böhmische Ahnfrau in die Kurfürsten* 
bürg und die kurfürstlichen Anlagen längs der Spree begeben 
und in dem anverwandten Hause ein neues Heim gefunden hätte, 
wenn nicht eine andere Dame existierte, die ein noch grösseres 
Anrecht auf Berlin und einen viel triftigeren Grund besitzt, 
auf das preussische Königshaus zu fahnden und das glorreiche 
Blut der Hohenzollern an sich zu reissen. 

Die Gräfin Agnes Yon Orlamünde. 

Diese sagenhafte Frau, die dem 14* Jahrhundert angehört, 
ist ein altes Erbstück der Hohenzollern selbst und in die 
fränkischen und österreichischen Erinnerungen des Fürstenhauses 
verflochten. Sie war eine geborene Herzogin von Meran und 
Gemahlin des Grafen Otto von Orlamünde im sachsen-alten- 
burgischen Westkreis; von ihm, der im Jahre 1293 mit Tode 
abging, hatte sie zwei Kinder. Das herzogliche Haus Meran ist 
eigentlich das Haus der Grafen von Andechs, die an der Etsch und 
am Inn begütert waren, aber auch halb Franken besassen ; hier 
gehörte ihnen die Herrschaft Plassenburg mit der Stadt Kulml);K'lu 
desgleichen die Markgrafschaft Ansbach und Bayreuth. Auf die 
Plassenburg zog die verwitwete Gräfin, als sie mit ihren Kindern 
Orlamünde verliess. Dort besuchte sie der ßurggraf von Nürn- 
berg Albrecht von HohenzoUem, ein weitläufiger Yerwandtert 
denn seine Grossmutter Elisabeth war ebenfalls eine Herzogin 
von Meran gewesen und hatte ihrem Gemahl Bayreuth als 
Allodialerl)e zugebracht. Sie verliebte sich in den schönen 
Mann; bald lebten beide auf der Plassenburg freundschaftlich zu- 
sammen. Aber aus einer legitimen Ehe konnte nichts werden, 
hatte der Burggraf einmal gesagt: vier Augen standen ihrer Ver- 
heiratung entgegen. Vier Augen sind zwei Menschen : er meinte 



2. Die Weisse Frau. 



115 



damit seine alten Eltern, die ilire Einwilligung nicht gaben, den 
Fürsten Friedrich IV. und dessen Gemahlin Margareta, Tochter 

des Grafüii Albrecht von Görz-Tirol. Dia Giäßii Agnes aber 
verstand es von ihren Kindern erster Ehe, und nun machte sie 
die Liebe wieMedea zur Kindesmörderin. Sie wollte das Hindernis 
ans dem Wege räumen und tötete die beiden Kleinen, indem sie 
ihnen eine goldene Nadel in den Hinterkopf bohrte. Die Un« 
glückliche! — Sie hatte sich verrechnet 

So schadeten der Frau von Orlamünd die vier Augen und 
zwei Kind. Wie gesagt, die Geschichte ist völlig sagenhaft : die 
Gemahhn des Grafen Otto von Orlamünde hat nicht Agnes, sondern 
Beatrix geheissen, und diese Beatrix war die Grosstante Albrechts 
desSchönen, die Schwester seiner Grossmntter; immerhin waren mit 
der Tradition die Elemente zu einer Weissen Frau gegeben. Durch 
den Fortgang der Erzählung wird die Weisse Frau gar nicht moti- 
viert ; die Agnes von Orlamünde, wie sie weiter beschrieben wird, 
wäre als Weisse Frau noch weniger wert als die Bertha von Rosen- 
berg. Es heisst, die Kindesmörderin sei von Albrecht, den ein 
Grauen ankam, alsbald verlassen worden — sie habe dann eine 
Wallfahrt nach Rom unternommen, in den Sieben Kirchen Busse 
gethan und nach ihrer Bückkehr das Kloster Himmelskron un- 
weit Bemeck gestiftet — endlich sei sie im hohen Alter (1361) 
in Hof gestorben und in der Klosterkirche zu Himmelskron, 
und zwar an der Seite des Burggrafen Albrecht, der sich wahr- 
scheinlich mit ihr versöhnt hatte, beigesetzt worden. Und trotz- 
dem und alledem soll sie noch immer umgegangen sein, nicht 
bloss in den fränkischen Schlössern, sondern auch in Berlin, ja» 
sogar in Darmstadt und Altenhnrg, in Detmold, in Teltsch, in 
Sagan und in der Schwanenburg m Kleve, kurz überall, wo ein 
Reis vom Stamme der Hohenzollern blüht! — Aber wenn sie 
mit unauslöschlicher Liebe an allem hing, was diesen Namen 
trug, so hütete sie sich doch wahrscheinlich, sich mit ihrer 
Rabenbotschaft verhasst zu machen und es so zu treiben, dass 
die Leute am Ende grob werden und wie der Berliner Ober- 
staQmeister Borsdorff fragen: o6 ne nun noch nieht genug Färsien- 
Mui gesoffen habe! — und sogar auf sie schiessen. Was hätte 

8* 



jlti II. Todesengel. 



denn eine Agnes von Orlamfinde Uberhaupt für einen Grand, 

für einen Beruf, das Fürstenblut zu trinken? — Sie ist ja gar 
keine W eisse Frau im eigentlichen Sinne, will sagen eine Ahn- 
frfiu und eine grosse Mutter, die der Erde gleich wicdervor- 
schÜDgt was sie geboren hat. Sie ist nur eine grosse Sünderin 
nnd ein unseliges Weib, das die Leidenschaft verblendet und 
zum Verbrechen getrieben bat, Wohl luöglicli, dass sie trotz 
aller Bussühungen keine Ruhe im Grabe findet, dass sie wie 
Hamlets Vater verdammt ist, eine Zeitlatig nachts umher- 
zuschweifen, bis die Verbrechen ihrer Zeitliclikeit hinweggelüutert 
sind. Aber dann hat sie mit sich zu thun, schwerlich eignet 
sie sich dazu, als Todesbotin zu fungieren und die' Lebendigen 
vor Gottes Richterstuhl zu rufen, vor dem sie angeblich selbst 
noch gar nicht gestanden bat (45). Sie ei^et sich nur dazu, 
in der Plassenburg umzugeben, wo sie ihre süssen Kiemen er- 
mordet hatt( , und allnächtlich um den blutigen Stein zu schweben, 
auf dem die zwei Kngel al)gebildet sind. In der Kiensburg ob 
der Weistritz liauste so eine Kindesmörderin, die es aber bleiben 
Hess, in ganz Deutschland die Weisse Frau zu spielen. 

Jahrhundertelang liess sich hier im Turmzimmer eine 
pechschwarze Gluckhenne mit ihren Küchlein sehen. Sie pflegte 
mit ihren Jungen unter dem Ofen hervorzukommen und wieder 
hinter dem Ofen zu verschwinden, daher man sich endlich ein- 
mal entscbloss, den Ofen wegzureissen. Unter dem Gediele ent- 
deckte man ein Kästchen, in welchem zwei Kindergerippe lagen. 
Sie wurden dem Abt von Grüssau übergeben, der sie begraben 
liess, worauf die Gluckhenne Ruhe gefunden haben soll. Man 
nimmt an, dass sie wie Agnes von Orlamünde die Mutter und 
die Mörderin der beiden Kinder gewesen sei, und dass sie auf die 
Stelle, wo die Gebeine versteckt waren, habe aufmerksam machen 
Wüllen. So benimmt sich eine reuige Sünderin, die, von Ge- 
wissensbissen gequält, wie Lady Macbeth das Blut wegwaschen 
möchte. Weg, du verdammter Fleck ! Hier riecht es noch 
nach dem Blut ! Alle Wohlgerüche Arabiens machen nicht sUes 
duftend diese kleine Hand! — Aber die Agnes von Orlamünde 
ist so wenig wie Bertha von Bosenberg ein Geschöpf der Christ* 



2. Die Weisse Frau. 



117 



liehen Phantasie. Sie ist wie die Ahnfrau ein Rest uralten, 
heidnischen Yolksglaabens, des Todesengelglaubens. Sie ist ein 
£acheengel und eine moderne Furie. 

Den Zusammenhang siebt man erst ein, wenn man eine 
andere Version der Sage zu Hilfe nimmt. Danach überlieferte 
der Burggraf Albrecht die Verbrecherin in gerechtem Zorne 
einem Heimlichen Gerichte: die Unglückliche wurde auf der 
Plassenburg angeklagt und verurteilt und in demselben Gemache, 
in dem sie ihre Kinder ermordet hatte, mit dem Schwerte hin- 
gerichtet. Ehe sie nun das Haupt auf den Block iQgte, schwur 
die Grufin, sich noch über den Tod hinaus an dem HohenzoUern 
und seiner Familie zu bezeugen. Joseph, Joseph, auf entfernte 
Meilen jage dir der grimme Schatten nacli ! — Das heisst, sie 
wollte ihn und sein ganzes Geschlecht wiederumbringen, nach- 
dem sie das Schicksal um Leben und Liebe grausam betrogen 
hatte. Wirklich bezeugte sie sich nun auch, und zwar logischer- 
weise zunächst an dem Geliebten selbst^ der inzwischen die 
Gräfin Sophia von Henneherg geheiratet hatte, aber als erstes 
Opfer ihrer Rache fiel. Es währte nicht lange, so sollte er 
plötzlich in der Nacht gerufen haben: Kunigunde, kommst Du 
srhoit! — und tot in seinem Bette aufgefunden worden sein. 
Hierauf raflte der Vampir einen HohenzoUern nach dem andern weg. 

Kunigunde, kommst Du schon! — Als der erste König 
TOD Preussen, schon lange kränklich, eines Abends allein in 
seinem Zimmer sass, überraschte ihn seine Gemahlin Sophie 
Luise in weissem Nachtgewande , am ganzen Körper blutend« 
Sie war die Tochter des Herzogs Friedrich von Mecklenburg 
und etwas überspannt; sie litt an relifriösem Wahnsinn und 
quälte alle Welt mit ihren Bekelirungsversuclien. Für gewöhn- 
lich überwacht, war sie diesmal ihrem Gewahrsam entkommen 
und hatte sich wahrscheinlich beim Aufstossen der Glasthüre 
verletzt. Der König erschrak heftig; er glaubte die Weisse 
Frau zu sehn. Wirklich erkrankte er schwer ' — er pflegte zu 
sagen, die Welt sei doch ein Schauspiel, das rechl; bald zu Ende 
gehe; man habe wenig davon. Für Friedrich I. war das Schau- 
spiel aus: er starb acht Tage darauf (2ü. Februar 1713), während 



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118 



IL Todetengel. 



ihn seine Weisse Frau, die vermeiutliciie Kuai^uade^ an zweiuad* 
zwanzig Jabre überlebte. 

Kunigunde wird die Gräfin Yon Orlamände so gut genannt 
wie Agnes; als der Kastellan Schlüter in Bayreuth dem ersten 
Napoleon Über die Weisse Frau Vortrag halten und wegen 
ihrer Übergriffe Rede steheu aiusste, sprach er nicht anders als 
von Kunigunde von Orlamünde. Am 14. Mai 1812 übernachtete 
Napoleon im neuen Residenzschlosse zu Bayreuth, allwo ein altes 
Porträt der Weissen Frau hing; sie war in langem weissem 
Kleide, aber mit keinem weissen, sondern mit einem grossen 
schwarzen Schleier und einem kleinen pelzverbrämten Mantel 
gemalt. Bs giebt viele Bilder der Weissen Frau, einen Holz- 
schnitt vom Ende des vorigen .Jaliihuiiderts, auf dem sie einen 
Lilienstengel trägt, findet man auch in dem Burlte der Hohen- 
zoliern von Max Ring — aber dieses lebensgrosse Porträt war 
gleichsam die Weisse Frau selbst, so erschien der Geist in 
Bayreuth, so sah sie der Markgraf Erdmann Philipp, als er 
1678 im Schioeshofe yom Pferde stürzte, so der General d'Espagne, 
als er (1809) hier einquartiert war und in der Nacht unsäglich 
viel von dem alten Laster auszustehen liatte, auch gleich darimt 
in der Schlacht bei Aspern fiel, Nap(deon beauftragte deshalb 
obgedachten Kastellan, die Weisse Frau auf dem linken Flügel 
des Schlosses, in einem Kabinett neben dem Audienzsaal sicher 
zu Terschliessen. Indessen diese Vorsicht half ihm wenig. Zwar 
das grosse, schwere Bild selbst war nicht gut zu Fusse, und als 
es ihn trotz des Verschlusses suchte und bis in die Ghtlerie über 
dem Zimmer des Kaisers gekommen war, stolperte es und fiel, 
Avas nur zur Folge hatte, dass Napoleon durch das Gepolter in 
der Nachtruhe gestört ward. Aber jetzt trat die Weisse Frau 
aus dem Rahmen des Bildes heraus, stieg mit Geistesgewalt zu 
dem- Kaiser herunter und schritt auf sein Bett zu. Dieses Bett 
rückte sie mitsamt dem Kaiser Ton der Wand ab, ja, sie stürzte 
es um, setzte Napoleon selber grimmig zu, rang mit ihm, würgte 
ihn und warf ihm dabei auch noch den Nachttisch um. Es 
war wirklich eine schlimme Nacht für den armen Napoleon, der 
ziemlich yiel Scb weiss vergoss; schliesslich mussten sich zwei 



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2. Die Weisse Frau. 



119 



Kammerdienert Oooataot und Boustan, mit geladenen Pistolen 
vor das Bett pflanzen und Wache stehen, damit er nur schlafen 
konnte. 

Man wird uicht fehl gelien, wenn man das (jranze fiir eine 
plnmpe Komödie liiilt, die der gute Kastellan nicht ohne peiadn- 
Uche Gefahr aufführte. Als Schlüter im Jahre 1821 starb, 
fand sich das weisse Gewand, das Mäntelchen und der schwarze 
Schleier in seinem Nachlass. Dergleichen Komödien werden auch 
anderwl^ts beliebt, aber nicht immer geglaubt. In den vierziger 
Jahren, unter der Begierung Friedrich August II., desselben 
sächsischen Königs, der nachmals in Tirol verunglückte, Hess 
sich in Dresden, in der Katholischen Kirche eine Weisse Frau 
sehen. Die Gestalt huschte bei der Königlichen Loge vorbei 
und die Treppe nach der Gruft hinunter. Schliesslich wurde 
vor der Königlichen Loge wie vor dem Bette Napoleons ein 
Gardereiter als Wache aufgestellt; er sollte mit gezogenem 
Säbel: Halt, wer da? — rufen und wenn er keine Antwort 
erlialte, einbauen. Er hieb auch wirklich ein; das Gespenst 
sank wimmernd zusammen. Es soll ein katholischer Geistlicher 
und die Absicht gewesen sein, den König durch seine Spukerei 
zur Zurücknahme des neuen Staatsgrundgesetzes zu bewegen. 
Schon 1706 hatte angeblich einmal der Beichtvater des Kaisers 
Joseph I. August dem Starken gegenüber die Bolle eines Ge- 
spenstes gespielt. 

3. Der Vampir. 

Eins der auffallendsten Merkmale (leg Todes ist die Totenidasse — den Toten 
fehlt mein bloss daa Knochengerüst, sondern auch das Blut — es schlägt 
kein Herz in ihrer Brust — wenn sie wieder zu Blute kämen, würden sie 
wieder lustig werden — aus diesem Grunde wird den Verstorbenen ge- 
opfert — xDftn schlachtet ihnen Kensdien nnd Tiere — die Bestattong des 
Patrolclaa, die römischen Fechterspiele — das wollte nicht viel sagen: der 
Blutdurst der Geister wurde dadurch noch lange nicht gestillt sie mussten 
sich selber Blut verschaffen — sie wurden zu Lustmördern, die ihrem Opfer 
das Blut aussogen — zumal die unbefriedigten Frauen thaten das — 
H&dchen, die vor der Hochzeit gestorben waren, besuchten den Bräutigam, 
die Braut von Korinth — die Sitte der Heiratzwischen Toten — der Tampir* 



120 II. Todesengel. 



glaube im Altertum und in der Neuzeit — Formen, die er im Mittelalter 
annimmt — er berührt sich mit dem Werwolf — gründet sich auf wollüstige 
Träume und nächtliche Pollutionen — von der Kirche benutzt, um ihre | 
Feinde in Verruf zu bringen — den Vampiren wird d^^r Prozess gemacht 
wie den Ketzern — reelle Vampire: die brasilianifichen Fiedermäuse . und I 

die Fliegentöter. 

Wichtig wie die Luft ist für die Lebendigen das Bkt 

Auf den Wellen des Blutstroms entweicht die Seele, sei es dass 
sie mit ilim zum Mund hinaussUirzt, sei es dass sie zur Wunde 
wie zu einer offenen Tiiür herausfährt und dass sich der Held 
verblutet. Es wird ihm schwarz vor den Augen, was Homer 
80 ausdrückt, dass ihm die Augen Todesnacbt umhüllt (Ilias XIV, 519). 
Aber auch wenn der Mensch eines natürlichen Todes stirbt^ 
ist doch die Totenblässe, das marmorlcalte Antlitz, die Blut* 
leere der Haar^^ciasse eins der auiiailendsten Merkmale der 
Y er Wandlung. 

. Weiss bist du, laein Mädchen, kannst nicht weisser mehr sein; 

Warm lieb' ich dich, mein Uädoben, kann nicht wSrmer mehr sein — 

Als sie tot war, mein Mädchen, war viel weisser sie noch, 

Und ich liebt' sie, ich Armer, viel wärmer dann noch! — ' 

Auch der Jüogling, der die Braut vor Korinth umarmte, j 
kann sich dem nicht verschliessen : 

Wie der Schnee so weiss, 

Aber kalt wie Eis ■ 
Ist das Liebchen, das er sich erwählt — 

der Bonibayer Konieo, der seine Julia noch auf den Türmen des 
Schweigens bcsuclion und ihren Leicimam den Kaubvögeln streitig 
machen wollte, kam um seinen Hinnesold, ja selbst Periander, 
einer der Sieben Weisen, der seine geliebte Melissa in der Bifer- 
sucht ermordet hatte und mit der Toten fortfuhr geschlechtlich 
zu verkehren, musste eich, wie Herodot erzählt^ sagen lassen: 
dass er seine Brote in einen kalten Backofen schiebe (V, 92). 

Der Menscii hat nichts Kostbareres als sein Blut: das Blut 
ist etwas viel Wärmeres, ßöteres, Lebhafteres als d is Lüftchen, 
das zum Munde ein- und ausgeht, ein ganz besonderer Saft, wie ; 
ein Wesen bemerkt, das keins hat, und gleichsam flüssiges Leben 



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3. Der Vampir. 



— die purpurne Quintessens des Lebens, die im Tode vergösse», 
wird und umkommt, nicht wie die Seele erhalten bleibt und mit 
dem üeste der Persönlichkeit verfliegt. 

Es ist also natürlich, dass die blutarmen Toten nach Blute- 
dürsten. Schon die Lebendigen, denen noch Blut in den Adera^ 
kreist, haben daran nicht genug; sie trinken fremdes Blut und 
ziehen das Herzblut der Erschlagenen^ deren Kraft nnd Mut sie^ 
sieh d<uluich anzueignen glauben, begierig ein. Wie viel mehr 
werden die Toten auf diese Herzstiirkung erpicht sein, wenn von 
ilmen noch etwas lebtl — Ihr eigenes Blut ist weg, sie sind ja 
Schlosskreide weiss — alles übrige hat sich bei den Geistern er- 
halten, es fehlt ihnen hauptsächlich zweierlei: das Gerippe und 
das Blut. Nun, mit den Knochen können sie in der Lnft nichta 
anfangen, im Gegenteil, sie sind jetzt viel freier nnd beweglichery 
seitJeju bic die alten schweren Gebeine abgestossen und au{ 
Erden zurückgelassen haben; um so mehr vermiüsen sie das Blut. 
Das warme Blut, die Quelle aller Lebenslust, der Liebe und jeg-r 
heben Genusses. Wenn sie wieder Blut bekämen, so würden 
sie nicht wieder aufleben^ denn sie leben ja;- aber sie würden» 
wieder den Freuden angehören, was die Braut von Korinth 
nicht tlint. 

Eb ibL also billig, den Toten Blut zu geben. Dies Gefühl 
hat die Hinterbliebenen dazu geführt, den Verstorbenen z» 
opfern. Die Toten wollen überhaupt essen und trinken wie die 
Lebenden — ihr Kauen und ihr Schmatzen dort unten sagt genüge 
£s ist ein alter Aberglaube, däss die Leichen an ihrem Sterbe- 
kleide saugen wie Kinder an einem Zulp; daher man es sorg«- 
föltig zu verhüten sucht, dass ihnen nicht ein Zipfel in den Mund 
kommt. Man legt iluien wohl auch einen Erdenkloss unter das 
Kinn^ damit sie den üntei kitt'er nieht bewegen können. Danach, 
müssten die Toten eigentlich verhungern ! — In alten Zeiten zog 
man eine andere Konsequenz. Wenn die Toten noch Hunger 
und Durst hatten, so wollte man ihren Durst und Hunger stillen». 
Man setzte ihnen Speise und Trank vor wie früher. Mit anderen 
Worten: man opferte den Toten. 

Nun muss man aber wissen, dabs die Hauptspeise des 



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122 



II. Tüdeseogel. 



ICenscken der Mensch gewesen, dass der Kannibalismus dem 
Menschen tief eingepflanzt nnd noch heute, an der Wende des 

neunzehnten Jahrhunderts in zahllosen Rudimenten, unter anderein 
auch in der Sage vom Werwolf, lebendig ist. Daher waren auch 
<iie Totenopfer Menschenopfer: nocli in den homerischen Ge- 
dichten werden die Toten als Menschenfresser gedacht. Was 
kann es denn für einen Sinn haben, wenn Achill in der Ilias 
<XXIII, 165 ff.) ffir die Seele des Patroklus zwölf gefangene 
trojanische Jünglinge schlachtet, als den: dass sie der Patroklus 
verschlingen soll wie ein Of^er? — Die Rinder und die Schafe 
sind nur eine Beilage, wie si«^ der Fleischer macht, wahrscheinlich 
auch die Pferde und die Hunde, obgleich diese wohl ihrem Herrn 
folgen und ilm in den Hades begleiten sollen. Späterhin bildeten 
Opfertiere das Surrogat des Menschenopfers, das allmählich ganz 
▼erschwand; Odysseus gräbt bei seiner Höllenfahrt nach An* 
weisnng der Circe am Eingang des Hades eine Grube und 
jiuicht eine Bowle dann zurecht, in die er das Blut eines Widders 
und eines schwarzen Schafes mischt. Auf das Blut kommt es 
den Seelen, die nun der Reihe nach trinken dürfen, an, die Zu- 
thaten dienen nur als Vehikel, das Fleisch kommt überhaupt gar 
nicht zum Konsum. Mit der Zeit bildete sich freilich die Vor- 
Stellung, dass die Toten das Opfer selbst» ja, die unblutigen 
Opfer geniessen sollten, mit denen das Tieropfer abgelöst ward; 
und von dem mit Blut vermischten AVeine, der im Ritus auf das 
reine Blut gefolgt war. hlieb nachgerade der reine Wein, der 
symbolische Bedeutung hatte, übrig. Ursprünglich musste den 
iSeelen Blut und nichts als Blut gespendet werden; als es noch 
3itte war, die Leichen zu begraben, gab es eigene Röhren, durch 
•die das dargebrachte Blut ins Grab hinunterlief. Hier, in der 
^ähe Ihrer Gebeine wohnte die Seele naturgemäss vorläufig, so 
lanjje der Verwesungsprozess dauerte, hier sah man sie brennen 
wie ein Flämmchen, hier bildete sie sich ja; auch nachmals 
kehrte sie aus alter Anhänglichkeit gera hierher zurück. 
Patroklus wird in der Ilias nicht begraben, sondern auf einem 
^heiterhaufen verbrannt; die Opfer finden also am Scheiter- 
Jiaufen statt. 



3. Der Vampir. 



123 



Darcli die alten Griechen sind diese Sonderbarkeiten in die 
Welt gekommen; gespukt haben sie Überall. Die römischen 
Fechterspiele haben auch keinen andern Ursprung. Auch sie 

waren Totenopfer, bei Leichenbegängnissen verunstaltete Toten- 
opfer; sie unterschieden sich von den grässlichen Darbringungen 
am Scheiterhaufen des Patroklus nur insofern, als die Gefangenen 
nicht geschlachtet wurden, sondern sich untereinander abmurxen 
mussten. Allmählich wurde die Bedeutung der blutigen Solennität 
yergessen, und das rohe Bömische Volk fand an den Duellen 
und dem todlichen Ausgange derselben so riel Vergnügen, dass 
sieh der Adil durch \'eraü8taUuiig solcher Si'iele bei ihm zu 
insinuieren suchte, d i^s sich die Leichenspiele in Schauspitile 
verwandelten und Amphitlieater im grössten Stile zu diesem 
Zweck erhoben. Auch in Italien wurden die Friedhöfe mit Blut 
gedüngt. 

Aber es liegt auf der Hand, dass besagte Schlfichterei nur 
eine Abfindung für die vornehmen Leichen war, und dass selbst 

diese nicht immer in Rosen waten konnten; dass vollends die 
armen Teufel menials satt Blut zu trinken bek:inn"ii. Es blieben 
also trotz der hingeschlachteten Hekatomben ungezählte durstige 
Seelen übrig — die paar Opfer wollten eigentlich bei der ungeheuren 
Menge von Seelen herzlich wenig sagen. Was sollten nun die 
unglücklichen, nach dem roten Lebenselixire lechzenden Geister 
thnn ? — Sie mussten sich selber Blut verschaffen. Sie mussten 
iiul" die Erde zuiück und die noch Lebendigen anzapfen. 

Zumal die alten Jungfern verfielen auf diesen Ausweg. Die 
Frauen, die nicht ausgelebt und das allen Wesen verheissene 
Glück der Liebe nicht genossen hatten, die Unbefriedigten, die 
vor der Hochzeit gestorbenen Bräute, sie haderten unversöhnlich 
mit der Natur. Es giebt keinen heftigeren Trieb als den Ge- 
schlechtstrieb, und das schone Geschlecht hat am meisten 
darunter zu leiden. Die Bremse der Venus verfolgt be- 
sonders die jungen Mädchen. Sie beweinen ihre JunL^fraii- 
schaft bitterlich auf den Bergen wie die Tochter deplithas 
und wie Antigene, wie die Braut von Korinth ; und hnden im 
Grabe keine Kuhe. Ach! die Erde kühlt die Liebe nicht. Sie 



i 24 II. Todesengel. 



besuchen ihren Verlobten, um nachzuholen» was ihnen im Leben 
versagt worden war; demnächst auch andere junge Männer. Aber 
sie können die Lust nur bttssen^ indem si^ dem Geliebten das 

wainie Blut entziehen, das ihnen fehlt, und ohne das sie zur 
Minne nun einmal nicht tücliti^ sind Sie bringen den jungen 
MäDueroy wie Semiramis den assyrischen Soldaten, den Tod mit 
ihrer Liebe. So macht es jenes korinthische Mädchen, dessen 
Abenteuer Phlegon von Tralles» ein Zeitgenosse Hadrians, in 
seiner: Wunderbare Begebenheiten (m^l d'Ctv^aalwv) betitelten 
Schrift erzählt und nach ihm der spanische Jesuit Ddrio in den 
berücbtif,'trn Ihst^uisithnes Maaicae behandelt: von dem letzteren 
hatte sie Goethe, der das gelabrliche, bei den Hexenprozessen 
vielgebrauchte Buch bei seinen Fauststudien in die Hand bekam 
und die Geschichte in die christliche Zeit verlegte. Das ist der 
Vampirglaube. 

üm den liebebedürftigen Seelen, die auf Erden zu kurz ge- 
kommen waren, etwas zu bieten, stifteten die Tataren die Heirat 
zwischen Toten. Wenn jemand eine Tochter hatte, die vor der 
Hochzeit starb, und in einer anderen Familie ein jnnger Mann vor der 
Hochzeit starb, so richteten die beiderseitigen Eltern eine Hoch- 
zeit für ihre armen Kinder aus. £in £hevertrag wurde ge- 
schlossen und aufgesetzt, und damit die jungen Leute die That- 
sache erfahren und sich gegenseitig als Mann und Weib be- 
handeln könnten, das Instrument feierlich bei den Gräbern der 
Verstorbenen verbrannt. Die Eltern betracliteten sich von Stund 
an als Verwandte, gerade als ob sie ihre Kind'-r wirklich zu- 
sammeugegeben hätten. Was als Morgengabe, Mitgiit und Aus- 
steuer zu entrichten oblag, wurde auf ein Papier gemalt und 
das letztere, in dem guten Glauben, dass es damit im Jenseits 
richtig sein würde, ebenfalls verbrannt. Die Ceremonie leitete 
der sogenannte Kweimei, der Geisterehestifter, den die Eltern 
als V'erojittler wählten und der als Kreiwerber fungierte. Die 
Sitte bestand nachweislich im Jahre 1121) n. Chr. im Norden 
Chinas, war aber von den Tataren, angeblich von den mand- 
schurischen Kin entlehnt ; der venezianische Reisende Marco Polo, 
der im 13. Jahrhundert am Hofe eines Tatarenchans lebte^ er- 



3. Der Vampir. 



125 



wähnt sie. Da sie aber nicht überall eingeführt worden ist, so 
bleibt den unverheinitelen Geistern nur der Vampirismns übrig. 

Die Vampire sind Lustmörder, die aus der Unterwelt 
aufsteigen. Lord Ruthwen, Marschners Vampir, der den jungen 
Mädchen das Genick durcbbeisst, um sich beiin Hülientürsteu 
eine Lebensfristung zu erwirken, und in vierun dz wanzig Stunden 
drei Bräute in seine Umarmung lockt, unterscheidet sich nur 
darin Yon jenen modernen Wollüstlingen, die ihre Befriedigung 
in der Tötung und Verstümmelung eines weiblichen Wesens 
finden, dass er von den Mondstrahlen zu neuem Leben erweekt 
wird, so oft er gestorben ist. Die Idee, den Schauplatz der 
Marschnerschen Oper in die Schottischen Hochlande zu verlegen, 
ist nicht glücklich ; zwar erscheint schon in dem angelsächsischen 
£po8 Beowulf ein Seeungeheuer Namens Grendel, das den Menschen 
das Blut ans den Adern trinkt und mit dem eben Beowulf 
kämpft, aber der Boden, auf dem die Vampire vorzugsweise wuchsen, 
war die Balkanhülbinsel. Vainjur oder besser: Wampir ist ein 
serbisches Wort und etwa so viel wie Blutsauger, wörtlich soviel 
wie Abtrinker; die erste Hälfte desselben eine slawische Präpo- 
sition, die anderwärts wch^ wo, u oder o lautet und eben : ab be- 
deutet. Die Tschechen nennen das Ding: Upir, die Polen: 
Upior, die galizischen Polen : Opir, In Griechenlnnd, einer Hanpt- 
stätte des Vampirismus, hatte man schon zu nlten Zeiten die 
Empusen, die Mormulyken, die Sirenen und Lainien; neuerdings 
fürchtet man daselbst den BQiyjj'/M/.y.ag oder den BoiQxolaKxcc^, 
ein Ausdruck, dem man ebenfalls den slawischen Ursprung an- 
hört (Wrokolak, Witkodiak, Wtulkodlak), Man kennt auch den 
KaKkantsaros {KaXujmvT^aQOs), der in den Zwölf Nächten 
umgeht und den Leuten aufhockt wie ein Alp — er hat Krallen, 
die mit türkischen Messern oder Handscbaren {xliiiZlc^i) ver- 
glichen werden und mit denen er einem das Gesicht zerkratzt 
wie Dantes Luzifer — wenn er fragt : Werg oder Blei {aiüricju 
^ ftoktf/Ji)? muss man antworten: Werg! — sonst wird man tot- 
gedrückt und zerfleischt Das beste Mittel, ihn .loszuwerden, ist, 
dass man ihm ein Sieb giebt und ihn die Löcher zählen heisst ; 
über die Zwei kommt er nicht hinaus. Indessen sind das nicht 



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126 



II. Todesengel. 



immer eigentliche Vampire, sondern Werwölfe, Menschenfresser 
und blutdürstige Unholde im allgemeinen; der Vampir hat sein 
eigenes, charakteristisches Gepräge. 

Wenn sich der Vampir über einen Menschen hermacht, ihn 
wie Dantes Luzifer zerkratzt oder zerbeisst und ihm das Hen 
ansisst, so thnt er das, um mit dem Blnte zugleidi die EVenden 
der Liebe zu gemessen; die Wollust ist ein Motiv, das nur bei 
ihm vorausgeseLzi wird, den Werwölfen gänzlich abgeht. Und 
gewöhnlich ist der Vampir ein weililicher Geist, eine Semi- 
ramis, die liebt und tötet, eine Lustmörderin. Diese Species 
wird in der Wirklichkeit nicht so oft genannt. Aber die Phan- 
tasie hat sich viel damit beschäftigt und von den Sirenen» die 
den Gfresang zu Hilfe nehmen, um die Männer zu beräckeni bis 
zu den serbischen Wilen, die mit ihnen tanzen, bis sie tot hin- 
fallen, eine Men^e Spielarten erzeugt. Eine dieser romantischen 
Junglrauen im Altertum hiess Gello. Eine andere ist die Braut 
von Korinth. 

Delrio behandelt die Braut von Eorinth als einen Suixtdfw, 
Er unterscheidet im Stile des Mittelalters die Suecubi, die zu 
den Männern ins Bett schlüpfen, von den IncuM oder den Auf« 

hockern, die mit den Weibern die kalte Buhlscbaft treiben. Der 
Doktor Luther war nach seiner Meinung von einem Aufhocker 
gezeugt worden. Delrio sollte vielmehr sagen: der junge Athener 
habe in Korinth eine nächtliche Pollution gehabt und das 
^m^waanv nach antiker Manier auf den Besuch einer Lamia ge- 
schoben. Damit träfe -er den Kern der Sache. 

Das ist nämlich der Grund des ganzen Vampir glaulvens : er 
geht aus den wollüstigen Träumen und den Halluciiiatioiicii her- 
vor, in denen üppige Männer und verliebte Frauen den Gej;jen- 
stand ihrer Sehnsucht wirklich ans Herz zu drücken glauben, 
und die folgerecht, nach der gemeinen Erklärung aller Traum- 
erscheinungen, als Geister gedeutet werden. Solche eingebildete 
Schäferstunden, die sich bis zur vollständigen Illusion sieigem 
können, schlagen schon, wenn beide Teile noch leben, wenn sie 
verheiratet und nur zutällig einmal Strohwitwer sind — es ist 
vorgekommeu, dass Ehefrauen behauptet haben, von der Seele 



3. Der Vampir. 127 



ihres auf Beisen befindlichen Gatten beBucht und befruchtet 
worden zu aein. Im Jahre 1637 bestätigte das Parlament zq 
Qrenoble die eheliche Geburt eines Knaben^ den der Vater auf 

Reisen erzeugt haben sollte, während die Mutter zu Hause ge- 
blieben war: der Mann war in Deutschland und volle vier Jahre 
weggewesen, aber in dieser Zeit hatte die Dame ihren Gemahl 
im Traume gesehen, was sage ich, gesehen? — Sie hatte ihn 
bei sich gehabt, mit Händen g^prifEen, betastet und gefühlt und 
dabei alle Wonnen des Beischlafs, der Empfängnis und der 
Schwängerung empfunden. Der Sohn war sein, wie der Bastard 
in Shakespeares Knnh Johann Sir Robert Faulconbridges; der 
merkwürdige Fall wurde in den Parlamentsakten als Lucina »ine 
Comubitu registriert. Ja, wenn die Phantasie bis zur Schwanger« 
Schaft führen kann, warum hätte dann jene Schöne, die einem 
jungen Manne im Traume zu Willen gewesen war» ihr Geld nicht 
bekommen sollen? Und wie deutlich wird dann die unttber* 
schätzbare Macht der Sinnestäuschung! — 

Dass der Geschlechtsakt mit einem Phantasiebild vollzogeii 
werden kann, lehrt die tägliche Erfahrung, und es versclilägt 
nun wenig, ob es das Bild eines lebenden oder bereits verstorbenen, 
eines bekannten oder gänzlich unbekannten, fabelhaften Wesens 
gewesen ist. Das subjektive Bild, das unvermittelt und plötzlich 
an ihn herantritt, wird von dem Naturmenschen für einen Geist 
genommen, das ist die Hauptsache. Und da ein solcher Phantasie* 
beisclilaf nicht immer zum Wohlbelinden beiträgt, sondern in 
hervorragendem ürade schwächt und eine trübe, missmutige 
Stimmung liinterlässt, die wohl in hartnäckigen Fällen einer voll- 
ständigen Kervenzerrüttung Platz macht: so liegt es nahe, den 
Geist des Blutsaugena und aller möglichen Greuel zu beschuldigen. 
Die Eratzwnnden und die blutigen Male an Brust und Nackm 
ergeben sich dann von selbst. Und das hat dann die Leiche 
gethan. 

Die Kirche, die den Geschlechtsgenuss überhaupt verpünie, 
benutzte den Aberglauben, um ihre Feinde in Verruf zu bringen, 
indem sie den Erscheinungen eine höiiere Schuld beimass, ihnen 
den streng erotischen Charakter nahm und ihre Herkunft dadurch 



,128 



IL Todesengel. 



:irerwischte. Die den scblafendeu Obristenmenschcn so zu schnöder 
•Sinnenlust verlockten, mussten mit dem Teufel im Bunde stehu, 
4im Ende wohl gar der Teufel selber sein; er, der Vampirmeister» 

.nahm die unreinen Phantasien der frommen Brüder und Schwestern 
natürlicherweise :iuf sich. Es waren Heiden, die sich nicht zum 
Ohristentum bekehrten — Hexen, die wie die Braut von Korinth 
yon den christlichen Priestern und ihrem Segen nichts wissen 
ivonten — arge Ketzer, die von der reinen Lehre abgefallen und 
-die schon bei Lebzeiten geschlechtlicher Ausscbweifungen und 
Unnatürlicher Laster bezichtigt worden waren — im Kirchen- 
•baiiüe Verstorbene, die von ihrem Herrn und Aleister beim Leben 
-erhalten wurden, die einen Leih bekamen wie eine Trommel und 
Nägel wie Greierklauen und in ihrer scheusslichen Gestalt arme 
Seelen verführten und verderbten. Denn dass die getöteten Per- 
jBonen selbst zur Hölle niederfubren und wieder Vampire Warden, 
lag in der Natur der Sache. Alle diese Teufel mussten aus- 
gerottet, ausgegraben und zu Asche verbrannt werden, dann be* 
kam die Christengemeinde Ruhe. 

Es giebt in den Donauiiindern nichts Gewisseres als die 
Existenz der Vampire; kein historisches Faktum ist so gut be- 
^iaubigty 80 durch unwiderlegliche Zeugnisse sicher gestellt, so 
wenig anzufechten. Als gemeinschädlichen Individuen wird ihnen 
4er Prozess gemacht, wie dem Papst Formosus in der Synode des 
Entsetzens und wie so vielen ausgegrabenen Leichen im Mittelalter. 
Es ist z. B. erwiesen, dass in dem ungarischen Flecken Kisolowa 
oder in dem serbischen Dorfe Medvegya viele Mensclien erkrankt, 
.ganze Familien ausgestorben sind. Da heisst es: hier ist ein 
Vampir ! Der Ilija, der Jowan, den wir neulich begraben haben, 
ist ein Vampirl 

Denn still und heimlich sag ich's dir: 
Der bleiche Mann ist ein Vampirl 
Bewahr' uns Gott auf Erden, 
Ihm jemals gleich zu werden! — 

Die verdächtigen Gräber werden geöffnet, die Leichen ge- 
wissenhaft untersucht, Protokolle aufgenommen, Zeugen verhör!;, 
Sachyerständige befragt, der Geistliche, der Arzt, der Bürger- 



4. Der Alp; die UitUgsfrau. 



129 



meister, der Dorfschulze zugezogen. Da seht! — Der Manu, 
obwohl schon vor vierzig Tagen gestorben, findet sich noch un ver- 
west und frisch, aber bktüberströmi Natürlich, wer sich gut 
nährt! — Es ist also heraus: wir haben den Vampir. Er soll 
bttssen; er soll bestraft werden wie ein hundertfacher Mörder. 
Man inuss ihm den Kopf abschlagen; man muss ihn pfählen; wir 
müssen ihn verbrennen, wir müssen ihn braten, seine Asche den 
Winden geben ; man muss ihn aus der Welt schaffen. Hab' ich's 
nicht gesagt? — Sowie man ihn anrührt, fliesst noch immer aus 
Mund und Nase frisches Blut. 

Im Westen hören wir vom Vampir nur in der Oper. Wir 
glauben höchstens an die brasilianischen Fledermäuse, die den 
Namen Vampir führen — an die Blattnasen, die des Nachts 
geräuschlos ins Zimmer fliegen, den Schläfer in langen Windun^^rii 
umkreisen und sich endlich auf ihr Opfer niederlassen, um ihm 
oinen Biss beizubringen^ an dem jedoch niemand stirbt, da die 
guten Tiere gleich auf die Stelle, wo es weh thut, blasen und 
dem Verwundeten mit ihren Flughäuten Luft zuflächeln. Wir 
glauben höchstens an die Empusen, an deren IJmarmungen 
die Stubenfliegen im Herbst elend zu Grunde gehen, eigentümliche, 
auf Tnseiiten schmarotzende Pilze, die man: JFliegentuter nennt. 
Es sind dies Fälle, wo die Wissenschaft den Namen des Grespenstes 
benutzt und auf thatsächlich vorliegende Todesengel angewandt 
hat. Das Volk macht es umgekehrt. In seinem Munde ver- 
wandeln sich die Geier in Teufel und die Eulen, die doch ge- 
wiss existieren, in Hexen und Todesengel. 

4. Der Alp; die Mittagsfraa. 

Der Alptraum — Mahr, Cauchemar, Nightmare — üeister erscheinen den 
Uenscben, so oft sie schlafeo, mag es in der Nacht oder am bellen Hittag 
liein — ein BSmon, der die Leute in der Itittagshitze heimsucht — sie 
ängstigt, mit SVagen quält, ihnen BSteel aafgiebt — die Sphinx von Theben — 
das Unterscheidende der Uittagsfrau, die in erster Linie ein Quälgeist ist, 

aber einer, der mit eich reden läset 

Ein Bruder des Vampirs ist der Alp, wie schlechthin der- 
jenige Alp, das heisst: derjenige böse Geist genannt wird, der 

KUi»p*al, Di» Lebendifcn und dU Toten. 9 



130 



11. Todesengel. 



den Mensehefi im Schlafe reitet, sich ihm auf die Brust setzt 
und ihn zu erwürgen droht. Man nennt ihn auch den Mahr 
oder, wenn er weiblich ist: die Mahre. Alp ist nur eine Neben- 
form von Alf», die darauf beruht, dass h im Auslaut in p über- 
zugehen pflegt ; in der Mehrzahl sagt man : die Elbe oder die Elberiy 
und diese sind wieder dasselbe, was wir sonst unter dem englischen 
Namen: Blfen kennen (englisch^/, "PlmXi Ehm), Die Elfen, 
die den dicken Falstaff in den Lustigen Wethem vm Windtor 
foppen, würden auf hochdeutsch: Alpe heissen. 

Für den Alp und das Alpdrücken haben die Franzosen und 
die Engländer den obenerwähnten Ausdruck Mahr, jene sprechen 
Ton einem Cauchemary diese nennen das Alpdrücken: Mare oder 
Niffitt-mare, wörtlich : Nachtmahr oder Nachtalp, Der Unhold ist 
aber keineswegs wie der Vampir an den Mond und an die Nacht 
gebunden; es gtebt nicht bloss einen Nachtalp, sondern auch 
einen Tagalp. Und zwar entspriclit dem Nachtmahr die Mittags- 
fr au, die am hellen lichten Tage, zumal in der Mittagsbitze, in 
der schwülen Stille vor dem Gewitter umgeht, die im Jfreien 
schlafenden Feldarbeiter quält, ein Examen mit ihnen anstellt 
und sie^ wenn sie ihr die Antwort schuldig bleiben, mit ihrer 
Sichel tötet. Die Grefahren, denen in der brennenden Sonne 
jedermann ausgesetzt ist, die Anfälle yon Hitzschlag und Sonnen- 
sticli, iKiiiientlich aber die äncjstliclicn Träume der ihre Mittags- 
ruhe lialti ndi n. unbequem gelagerten Landleute, die, in Schweiss 
gebadet, mit zerschlagenen Gliedern und schwerem Kopfe auf- 
wachen, haben die Veranlassung zu diesem Glauben gegeben, der 
uralt und weltweit verbreitet ist; bereits im 91. Psalmen wird 
die Seuche, die im Mittag verderbet, das Daemomum MemHanum 
erwähnt. Die alten Griechen kannten einen solchen Mittagsgeist, 
den Pan oder den Ephialtes. noch heute Name des AIi)driickens 
in Athen; auch ihre Sirenen und Empusen erschienen vorzugs- 
weise mittags — in Italien entsprach dem Pan der Faun — 
neuerdings hat der litterarische Beirat der Ck>tta8chen Buch- 
handlung, Ludwig Laistner, die Sphinx, die sich in der Nähe von 
Theben herumtrieb, den Leuten das bekannte Rätsel aufgab : was 
am Murgen vierfüssig, mittags zweiiiissig und abends dreiliissig 



4. Der AIp^ die Mittagsi'rau. 



131 



sd, vmd die UDglücklicheii auffrassy wenn sie es nicht errieten, 
scharfsinnig als eine Mittagsfrau erkannt. Den Namen Mittags- 
frau haben wir von den Slawen, bei denen der Dämon eine so 
grosse Rolle spielt wie der Vampir, er ist eine Übersetzung von 
dem böhmischen Pohdmcc, dem wendischen Pnpo/änira, dem PoUUche 
der Mark ßrandenburg und unzähligen anderen slawischen Aus- 
drücken, die sämtlich vom Mittag (tschechisch Foledne, russisch 
PMjen) hergenommen sind* 

Das Charakteristische an den Alpträumen ist die schreckliche 
Angstj infolge deren man unter einer furchtbaren Last ersticken 
zu müssen glaubt — diese Last, das Blei des obenerwähnten 
Kalikantsaros, verwandelt die erregte Einbildungskraft abermals 
in einen Geist oder eine Seele, das heisst in ein Gespenst, und 
zwar jenachdem in ein Ungetüm, mit dem man ringt, oder in 
eine wilde Fran, die einen nmarmt und einem die Zunge in 
den Mund steckt, dass man nicht schreien kann, oder in 
eine Sphinx, die einen peinlich fragt. In diesem Falle kann 
der Traum auch die Form annehmen, dass der Schläfer die 
Mittagsfrau zu unterhalten sucht und ihr selber Jäätsel aufzieht 
oder wenigstens alles haarklein vorerzählt, wie man den Flachs 
bricht, spinnt und webt, oder wie man das Korn sät, schneidet, 
drischt, mahlt und endlich zu Brot verbäckt, um sie damit hin- 
zuhalten und über die Zeit^ wo sie Macht hat, hinwegzukommen, 
geradt so wie niau die Geister anderemale etwas auszahlen lässt. 
Diese Gesprächsstoft'e, die bei uns an die Stelle des menschlichen 
Lebens treten, liegen den Bauern nahe. An der Denkarbeit, die 
ihm zugemutet wird, und an ihrem glücklichen Gelingen hängt das 
Leben, das macht den Schüler schwitzen« Kicht dass dem Tagalp 
die "Wollust ganz abginge und dass er nicht auch gelegentlich 
nach Liebe verlangte wie ein Vampir. Aber diese Seite tritt bei 
ihm gegen den (Quälgeist, gegen die Grausamkeit und die Gewohn- 
heit, Kein Opfer als ein Cauc/ieinar zu beklemmen und zu drücken, 
caxicher heisst eben drücken oder pressen, lateinisch : caicare, mehr 
und mehr zurück. Er will es eigentlich totdrücken, beweist indessen 
eine gewisse Langmnt und eine Geduld, die sonst den Todes- 
engeln fehlt. Er lässt mit sich reden. Man stirbt nicht am Alpdrücken.. 

9* 



J32 



II. TodeseDgel. 



5. Nacht- und Dämmerungstiere« Ealen. 

pminter Charakter der Eule — ich sehe den Totengräber, ich höre das 
iieichenhuhn — weil die Eulen Nachtraubvögel sind — (Jnterwelt, Dämmerung, 
und Westen, fliessende BegrifTe — ein Vogel, der im Dunkeln sieht^ muss 
auch im Totenreiche Bescheid wissen, schicksalskundig sein — wie der 
Steinkauz zur Minerva, der ühu zum Wilden Jäger vortrefflich paast — 
zwiefache Steigerang dieser Gabe: einmal wird die Wissenschaft vom Tode 
zur Todesbotsdiaft nnd zum Heokeramt; ein andermal zur Weisheit schlecht- 
hin gesteigert — infolgedessen leihen die Eulen den Würgengeln der kleinen 
Kinder, die man mit dem Weissdorn abhält, und den Klugen Frauen des 
Mittelalters ihren Namen - aber ihre Weisheit ist eine falsche Weisheit, 
die Weisheit der alten Heidengötter, die Kirche nennt es auf Grund alt- 
testamentlicher Vorst^lnngen eine Bahlschaft mit dem Teufel — sie führt 
direkt zur fi ölle — innerer Zusammenhang dieses Fetischismus mit dem 

Hexenwesen. 

Die fahlen, glotzäugigen, geisterhaften Vögel, die den Tag 
über in einer Kirchhofsniauer schlafen, gegen Sonnenuntergang 
aber mit leisem Flug abstreichen und die Nacht über umher- 
streifen, um den Erdboden nach Mäusen wie nach Seeleu ab- 
zusuchen^ die sie in der dicksten Finsternis erkennen — die 
Eulen, barmlose und nützliche Wesen, die das Aas verschmähen, 
sind, gleich den Nachtschwalben, den Fledermäusen, den Gk- 
spensteraffen oder den Koboldmakis, den Abendfaltern und 
Totenkupfen, ihres unheimlichen Gebahrens wegen seit alter Zeit 
zu Todesboten, ja, zu Würgengeln gestempelt worden ; cUra Ostenta 
9unt Wenn das sogenannte Kommmiteben des Nachts zufällig 
an das Fenster einer Krankenstube fliegt, in der ein Nachtlicht 
hrennt, und sich auf dem Fensterstocke wehklagend niederlässt, so 
ist es aus — es ruft: Komm mit, komm mitf komm mit auf den Kireh' 
liof! Es schreit wie der Tod selbst, dem alles verfallen ist. auf 
italienisch: Ditto e mioy tutto k imo! — Wenn die Ki/kuiraja 
neuerdings in Griechenland verehrt, ja, einziehenden Königen 
zum Willkommen überreicht wird, so beweist das eine schöne 
Anhänglichkeit an das alte Sinnbild der Stadt Athen; doch 
weisen Tielfache Spuren darauf hin, dass der Steinkauz auch in 
Athen nicht immer willkommen, sondern wie alle Eulen ein 
dirum Ostehiui/t gewesen ist. 



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5. Nacht- und Pämmeraogttiere. Eulen. 



133 



Das Käuzchen iliegt — es ist so gut als ob der Tod selber 
geflogen käme; man uentit es den Totengräber, die Wehklage, 
das Leichenhühnchen nnd fürchtet es schier wie die pechschwarze 
Glackhenne in der Kienshurg. O, weh 'über den Uoglückevogel! 
Über den Schatten, der aufsteigt! Über den Leichenbitter, der 
uns iiolt 1 - — Schlimmes, schlimmes Zeichen. 

Wie gesagt, die Eulen rühren kein Aas an; sie trachten 
nicht nach Leichen wie die Kuben und die Schakale, welche 
letztere ja anch Kachttiere sind und ihre Schlupfwinkel erst ver- 
lassen, wenn es Abend wird. Wenn die NachtraubTögel für 
Totenyögel gelten, so danken sie das der Kacht und gewissen, 
mit ihrem nächtlichen Wesen zusammenhängenden Eigenschaften 
ganz allein. Diese Kinder der Finsternis haben düstere Farben, 
ein sehr weiches Gefieder, um kein Geräusch zu machen und 
ihre Beute nicht aufzuwecken, und ausserordentlich scharfe 
' Sinne, namentlich gute Augen und feines Gehör. Lautlos fliegen 
sie in geringer Höhe Über dem Boden dahin, Ternehmen das 
leiseste Bascheln auf der Erde und unterscheiden, des Dankeis 
ungeachtet, das kleinste Säugetier. Was Wunder, dass man sie 
der Göttin der AVeisheit zugeteilt hat, die auch gleichsam im 
Dunkel liest und die Nacht der Zukunft und der Vergangenheit 
durchdringt! — Die nächste Veranlassung zu dem bekannten 
Fetischismus mag allerdings das thatsächliche Zusammentreffen 
der Athene und des Vogels auf dem Burgfelsen gewesen sein, 
in dessen erhabenen Ruinen der Steinkauz noch immer haust. 
Das bekannte homerische Beiwort: eulenköpfig (^fXavxmrig), an 
das soviel Gelehrsamkeit und soviel — Einfalt verschwendet 
wird, erklärt sich aus dem Fetisch ; Athene muss einmal eulen- 
köpfig, wie Hör US sperberköpüg, Hera und Isis kuhhäuptig und 
Anubis schakalköpflg gewesen sein. Der Zufall hat aber hier 
wunderbar gespielt und ein kostbares Sinnbild für die attisch® 
Nationalgottheit geschaffen» freilich nicht in dem trivialen, selbst 
nach Lampcnöl riechenden Sinne des nächtlichen Studierens, 
überhaupt nicht einmal auf Grund der Weisheit. 

Unter allen Gottheiten verwandter Völker stehen der Athene 
augenscheinlich unsere Walküren am nächsten; man darf ver- 



IL Todetengel. 



muteD, auch die kriegerische Pallas habe urspruDglich die Wal- 
kiesen und die Todeslose verteilen sollen. Sie war eine Sordh^f 
das heissty eine Hexe alten Stiles, sie warf die Schicksablose 

(lateinisch Sortes; SorcUr aas Sortiariiis). Analog schien nun auch 
die Eule besondere Erfahrung in Todessachen zu besitzen, das 
Abrufen, das Aussuchen, das Zeichnen der Seelenmäuse ihre 
Spezialität zu sein. Todesnacht, Grabesnacht und wirkliche 
Nacht sind für die Anschauung der Naturvölker beinahe gleich- 
bedeutend, wie es noch heute Lebensabend und Lebensende sind; 
diese Bilder schlugen sich sogar auf die Himmebgegenden. Die 
Unterwelt, an sich nichts weiter als das Grab, ein Begriff wie 
Hölle, ist allmählich zu einem eigenen Totenreich im. Westen, 
am schaurigen Ende der Welt geworden, was die arabischen 
Geschichtschreiber: Ma<jhril, Ma^hreb el-Aksa^ den äussersten 
Westen, das heisst: Marokko nennen — hier lagen die Gärten 
der Hesperiden und die Inseln der Seligen, in denen man die 
Kanarischen Inseln erkennen will, hier fristeten die Schatten 
Homers, von ewiger Dämmerung uniliossen, ihr IreuJ- und 
lichtloses Dasein. Dämmerung, sagt Feuchtersieben, ist Menschen- 
los; mit nichten, Dämmerung ist das Los der Verstorbenen. 
Also auch die Eulen wohnten im Westen und im Hades, weil 
sie Nacht- und Dämmerungstiere waren ; und sie sahen mit ihren 
grossen runden Augen alle Toten im Totenreiche, nicht bloss 
die bereits Begrabenen, sondern sogar diejenigen, die nächstens 
heruntermussten. Eine Eule war es, die dem Herrscher der 
Unterwelt, eben als er die geraubte Braut wieder beurlauben 
wollte, verriet, dass Fersephone von dem Granatapfel gegessen 
habe und ihr Schicksal entschieden sei. Von ihrem scharfen 
Gesicht wurde, wie Torhin von dem scharfen Gerüche der Aas- 
tiere^ die Gabe der Weissagung, die Schicksalskunde, die traurige 
Wissenschaft Tom Tode abgeleitet. Und darin begegnete sich 
die Eule mit der Athene, 

Die grösste Eule, der Uhu, erscheint wohl geradezu als 
König der Nacht und als Herr der Toten, In Deutschland hat 
man die Sage yon dem Wilden Jäger, der in den Zwölf Nächten 
mit dem Wütenden Heere über das Gelände braust und nut 



5. NschU und Dämmeningstiwe. Ealen. 



fortreisst, was ihm nicht ausweicht. Dieser Wilde, von seinen 
hochhiutenden Hunden umgebene Jäger ist eigentlich der UhUi 
dessen dumpfes Gebell die ganze Nacht hindurch im Walde 
ecbauerllch widerballt, den man bis an den Morgen herum- 

rasen und bald hier, bald dort rufen und heulen hört. So leise 
der Flug der Eulen, so laut ist ihre Stimme, und sie kann sehr 
wohl mit dem Gebell, namentlich aber mit dem Greheul von 
Hunden verwechselt werden — Eule ist ja soviel wie Uenle, ohne 
weiteres fUhlt man, dass Naturausdrücke wie Uhu^ Hibou und 
Chat-hxuxni dem Bcaihau unserer Rüden ausserordentlich nahe 
stehn. Die Phantasie foljBfte der Anregung, die ihr der mächtige 
Vogel gab und bildete ihn zu einem Gotte, zu Linem Odin 
und am Ende zum Teufel selber aus, zu jenem iV iifel, der auf 
dem Throne des alten Pluto sass und nur zeitweilig mit seinem 
Goisterhaufen zur Wilden Jagd heraufkam. Die gewöhnlichen 
£ulen entfernten sich von ihrer mehr theoretischen Bolle nicht 
80 weit, sie blieben bei ihrer Kunst und dienten dem Tod als 
Boten*, indem sie die Mäuse holten. 

Aber auch aus diesen Todesboten ist nachgerade eino dämo- 
nische Gewalt, ein tödlicher Zauber entwickelt worden. Vor- 
nehmlich in den beiden klassischen Ländern, wo die alte Tradition 
unabgeschwächt fortlebte. Nach den phantastischen Vorstellungen 
der Griechen und Börner war die Schleiereule der Vampir der 
kleinen Kinder; Noctua, Neetua. Die Bedeutung der Kinder- 
sterblichkeit für die Mortalitätsverhältnisse aller Länder ist be- 
kannt; ein Drittel, die Hälfte aller Verstorbenen besteht aus 
noch nicht fünfjährigen Kindern. Damit liängt es zusammen, 
dass alle Todesengel, auch die Vampire und Lamien, in erster 
Linie auf kleine Kinder versessen sind und dass man YOn jeher 
die Kinder mit ihnen schreckt; doch blieb der Makel an den 
Eulen haften. Die Nachtschwalbe, der sogenannte Ziegenmelker, 
molk den Ziegen das Euter aus — die Nachteule stahl sich in 
die Wiegen, sog den Kindern das unschuldige fromme Blut aus 
und molk ihnen dafür aus ihren eigenen Brüsten giftige Milch 
ein, wodurch sie verzaubert wurden. Sie erwürgte die armen 
Würmer und schnürte ihnen die Kehle zu, daher das Laster: 



136 



IL Todetengel. 



Strix oder Slrino! hiess, wie das Mittagsweibchen: Sp7dn.>- (argly^j 
angeblich von atringere), Procas» einer der fabelhaften Könige 
TOn Alba Longa, der Vater Ton Numitor und Amulius, wäre 
den Strigen als kleiner Prinz beinabe zum Opfer gefallen, wenn 
ibn nicht Oardea^ die Qöttin der Thürangeln» durch einen G-egen- 
zauber gerettet hätte. Sie nahm die Eingeweide eines Ferkel- 
cbens und schüttete sie vor das Haus, damit sich die Eulen 
darüber statt über das Kind hermachten^ und legte dann einen 
Weissdorn in die Fensteröffnung: so konnten die Unholden nicht 
herein, und das Kind blieb am Leben. Diese Gardea war die 
Geliebte des Qottes Janus, er hatte ihr einst den wunderthätigen 
Weissdorn, der die abscheulichen Vögel abhielt^ galant zum Gte- 
schenk gemacht, was offenbar nichts anderes besagt, als dass er 
das Haus einfriedigen lehrte und es mit einer guten Hecke oder 
einem lebendigen Zaun umgab, was der Weissdorn jetzt noch ist. 

Solche Vorstellungen leben nun eben in Italien und Griechen« 
land fort,, wo man die gespenstischen £ulen heute noch fürchtet 
und die Kinderstube namentlich in der Johannisnacht vor ihnen 
schützt. In beiden Ländern ist der Name zugleich auf die 
schlimmen alten "Weiber, die den Kindern etwas aiithun, das 
heisst: auf die Hcxeu übertragen worden, menschliche Nachtvögel, 
die in der Nacht umherfliegen und ihren Hexensabbat halten, 
die allhier noch immer: Streghe und iTqifUq oder Iv^iyykeg 
heissen. Der Kontertanz Le Streghe oder der Hexentanz um den 
Nussbaum zu Beneyent war ein Bravourstück des berühmten 
Meisters Paganini. Vielleicht ist mit Hexe, Waklfran selbst zu 
allererst die Eule genieiiiL - die Eule stellt nämlicli zur Hexe 
genau in demselben Verhältnis wie der Hiemkauz zur Athene. 
Das heisst, sie sind beide eins. Und leicht erkennt man, wie 
die schädliche Harpyie auf die Walküre folgen musste; wie die 
Todesahnung zur Todesbotschaft und diese zum Henkeramte ge- 
steigert worden ist. Freilich war noch eine andere Steigerung 
möglich: die Gabe der Weissagung konnte auch selbst verall- 
gemeinert und die Todesalniuiig wie bei Pallas Athene m die 
Klugheit, rlio A\'( isheit Bcblechthin verwandelt werden. 80 ent- 
standen dann die Klugen Prauen, die gottbegnadeten Hexen, 



5. Naeht- und J)ämiDeriuigfttiere. Eulen. 



13T 



die im tieitn Spiegel der Zeit nicht bloss einen Todesfall, sondern 
die Bilder der Zukunft überhaupt erblickten und in der Natur 
unendlichem Geheimnis mehr als andere Menschenkinder lasen. 
Die Hexen, die Idisen, die Seherinnen, die Sibyllen, wie man 
sie nennen will. Und ihr Fetisch war wiederum die Eule. 

Ihre hehren Gestalten sind im Mittelalter verzerrt und auf 
Umwegen zu dem Tode zurückgejagt worden, in dessen Reiche 
sie Heimatrecht besassen. Auf Grund der alttcstamentlicben 
Vorstellung, dass die Abgötterei eine Art Unzucht und Buhl- 
Schaft mit den Heidengöttern sei, wurden die Weisen Frauen, 
die der angestammten Beligion treu blieben, von den christlichen 
Priestern der Hurerei mit dem Teufel angeklagt und ihre Er- 
leuchtungen, ihre seltenen Gaben und Künste als Teufelswerk 
gebrandmarkt — der Teufel hiess früher Wodan, er vertrat in 
Deutschland das Heidentum, wie Pallas Athene in Griechenland. 
Der Hexen Weisheit war eine falsche Weisheit, die Weisheit 
jener Göttin, deren Fetisch die Eule war. Eine Eulenweisheit, 
die nicht zum Leben, sondern zum Tode führte; eine höllische, 
schwarze Kunst, ein Nachtgespenst und ein Blendwerk. Deshalb 
setzte man auf den Kopf der Eule das Kreuz, den Sieg des 
Christentums über die Minerva anzudeuten, wie man in Rom 
eine Kirche Santa Maria sopra Minerva hat und der Partlienon 
auf der Akropolis in einen Tempel der Mutter Gottes, am Ende 
in eine türkische Moschee verwandelt worden ist Die Eule mit 
dem Kreuz ist ein schönes Pendant zu dem sogenannten Eeichs* 
apfel, der seinerseits an die Stelle der Weltkugel mit der Sieges- 
göttin trat; die alten römischen Kaiser hatten die Weltkugel ia 
der Hand, und auf der Weltkugel stand eine Viktoria. Wie 
Mutterwitz und gesunder Menschenverstand über Stubengelehr- 
samkeit triumphiert, zeigt eine andere Eule, die einen Spiegel 
in den Klauen hat: sie ist auf dem Kirchhofe zu Mölln zu sehn^ 



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m. Der Kampf der liebendigen 

mit den Toten. 



L Die Gespeasterflirelit. 

•OeipemtergeBohickteii, alberne 0etebio)itea — Oetpentt bedeutet Trugbild — 
dM BrookeogeapenBt <— eber wer ea eiebt, spricbt ihm die £ziatenz niofat 
ab, er iat von derBealit&t der firaobeinnng iiberaengt — data man das Ge- 
spenst für einen wirklicben Sinneaeindruck balt| gebt ja auch ans der 
Beseiehnnng: Gesiebt hervor, weon man aneh damit an verstehen gtebt» 
-dass die Wabmehmang auf den Gesichtssinn besobr&nkt ist — Speotmm» 
Vision, Idol, Schatten — ' und doch gehören die Gespenster gewiss nnr ins 
üeich der Phantasie, es sind Halluzinationen — sie heissen daher aach 
Phantasma — ein Gespenst ist zwar ein Phantasiebild, aber kein Willkür- 
liebes — sondern ein Bild, ein treues Abbild des Verstorbenen — in dem 
•Gespensterglauben lässt sich eine Gesetzmässigkeit nicht verkennen — er 
beruht immer auf dem Anblicke der Toten, wie sie zuletzt oder bei Leb- 
zeiten gewesen sind — daher die weisse Farbe der Geister, die von der 
Totenblässe und dem Totenhemde kommt — die weissen Kleider der 
SeHn^en — die Weisse Friu, keine trauernde Witwe — tlie Tuten leben 
■wieder, es sind die llenhclieu von ehedem, der Körper ist nur luftfürmig 
geworden — infolgedessen besitzen sie absolute Freiheit der Bewegung, 
Allgpgenwart - - in dieser Form haben die Menschen etwas Unheimliches, 
Üüäartiges, Schädliches — man muss sich deshalb vor ihnen iu acht nehmen, 

sie bekämpfen und vertreiben. 

Gespenstergeschicbten sind nach landläufiger Ansicht alberne 
■Gescbicbten, aufgeklärter Zeiten unwürdig, gut fflr Einddr und 
Bockenstuben. Aberglaube, Mumpitz, blauer Dunst. Faseleien 

Ton Leuten, die sich selbst betrügen oder betrügen lassen. Dass 
Geister gesellen worden sind, sehr glaublich ! — Die Menschen 
sehen vieles. Sie haben alle Personen des Alten und Neuen 
Testaments, alle Heiligen und alle Teufel zu sehen vermeint 



1. Die Getpensterforcht. 139 



Die Menschen sind Schwachköpfe, die fortwährend halluzinieren 
und ihre Hirngespinste für Thatsachen ausgeben. Aber daas 
jemals ein Mevenant wirklich wiedergekommen sei, glaube ein 
anderer ! The undiseotfered eountry^ from whoH houm no Traveller 

retanis! — Es triebt überhaupt gar kerne Geister, ausgeüummen 
in den Spintistenversammlungen. 

Das liegt ja, heisst es weiter, schon in dem Namen Ge- 
spenst, der nichts weiter als ein ganz gemeines Trugbild, ein 
Blendwerk der Hölle, verruchten Zauber und etwas wie die 
Maja der indischen Mythologie bedeutet Das griechische Eidolon 
ist nur ein Abbild, freilich auch schon im Gegensatz zur Sache, 
die Ägypter sagten: Ka; das deutsclie Gespemt dagegen geradezu 
ein Trugbild. Es ist ^^ürtiich eine Gespaiist, soviel wie eine 
Versuchung oder Lockung, von dem alten Verbum apanenj reizen, 
locken, abgeleitet; des Bösen Feindes Trug und List heisst: des 
Teufels Gespenst Er gaukelt den armen Menschen etwas Tor, 
berückt sie mit Phantasmagorien, wie die Begie das Publikum 
im Theater mit Geistererscheinungen berückt, die von einer 
Glasscheibe als Spiegelbilder in den Zuschauerraum znriick- 
geworten werden und von denen die Schauspieler auf der Ijiihne 
selbst nichts sehen. Der riesenhafte Schatten, den ein Mensch 
auf dem Brocken bei Sonnenuntergang auf die entgegenstehende 
Wolkenwand wirft Speetre of t/ie Brocken, das der Opium- 
«sser in seinen Träumen ausmalt, ist so ein Phantom; denn man 
lässt sich dadurch täuschen, was mit dem Schatten eines anderen 
berühmten Berges, der ])urpurnen Pyramide, die der Ätna bei 
Sonnenaufgang über die insel Sizilien wirft, nicht der Fall 
ist — die Jünger hielten den Herrn Jesus, da er auf dem 
Meere ging, für ein Gespenst, X^yorreSj öre iPavmafiä ioriv^ 
dieentee, quia Phantasma est (Evangelium Kftttliäi XIV, 26). Phantom 
oder Phantasma, womit die Sache ins Kelch der Phantasie ver- 
wiesen wird, ist der gewöhnliche Ausdruck dafür in Frankreich, 
Italien^ Spanien, Griechenland; M^io/i und Sjmciruin, m den 
Bomanischen Ländern tbbiilalis lortlebend. besagen schon etwas 
mehr. Sie entsprechen unserem Gesicht^ dem griechisclien Eidolon. 
X>er Italiener nennt die Gespenster gewöhnlich Furchten (Paare), 



140 



III. Der Kampf der Lebendigen mit den Toten. 



Gespenst thut deo Begriff des Truges zu dem Gesicht 
hinzu. In vielen indogermanischen Sprachen ist eben Trug die 
stehende Bezeichnung. Ein Gespenst heisst im Sanskrit: Druft^ 
im Zend : Thuj und im Altnordischen ; Draugr. Wahrscheinlich 

liaiigl Hucii unser Traum mit Truq zusammeiij so dass ein Traum- 
bild, oft, aber nicht notwendier mit einer GespenstererscliLinung 
zusammenfallen rl, einer solchen nur sehr nahestehend, gleichfalls 
als ein Trugbild aufgefasst wird; Träume sind ja Schäume, 
Smges Mensonges, Besagter Trug braucht nicht gerade einen 
Betrüger und einen Teufel ▼oranszusetzen, der, genau betrachtet^ 
selbst ein alter Betrug und ein Gespenst sein w&rde; solche 
Betrug Li suid erst nachmals von der S])ekulation erdacht und 
untergesclioben worden, wie denn schon Homer den Traum 
personifiziert und wie einen ausserordentlichen Gesandten des 
Zeus behandelt, vergleiche Seite 50. Zunächst ist doch schon 
jedes Bild, selbst dasjenige, welches wir von uns selbst im 
Wasserspiegel sehen, ein Trugbild, ohne dass wir einen bösen 
Geist, der es uns vormachte, dahinter witterten ; ist das Gespenst 
ein Trug, so soll damit nur gesagt werden, dass es etwas zu sein 
scheint und das doch nicht ist. Honrn/ ffoit r/ni mal y ferne. 

Ein Spiegelbild, das wir alle Tage sehen, so oft die Sonne 
scheint, ist unser Schatten. Darum giebt der Schatten einen 
so geläufigen Typus für die Seelen der Abgeschiedenen oder die 
Gespenster her, nicht bloss im klassischen Altertum, sondern 
nachgerade auch bei uns, obgleich wir ihn erst aus dem Alter- 
tume haben. Ein Schatten oder ein Schemen entspricht dem 
Nebelbilde, das wir auf dem Brocken, dem Spiegelbilde, das 
wir im Wasserspiegel sehen; er ist genau so ähnlich und doch 
60 nichtig, so kraftlos, so unwesentlich wie diese Bilder. £r ist 
ein Gespenst. 

Indessen ein Gespenst, ein richtiges Gespenst ist doch kein 

Ebenbild, das von einem vorhandenen Objekte durch Licht- 
hemmuug oder Spiegelung erzeugt wird. Unter einem Gespenste 
verstehen wir ein Bild, dessen Urbild nicht mehr auf Erden 
weilt ; daher wir auch, seltene Fälle ausgenommen, unser eigenes 
Gespenst nicht erblicken können, wie unser Konterfei in einem 



1. Die Gespensterfurcht. 



141 



Spiegel. Ein Gespenst würde vielmehr dem Porträt oder der 

Statue eines Verstorbenen entsprechen, der auch darin noch 
fortlebt, wenn es nur nicht in anderer Hinsicht von einer künst- 
lichen Nachbildung so sehr verschieden wäre. Das Gespenst 
ist einerseits fast der Mensch selbst, es denkt, spricht, erinnert 
sich und bewegt sich wie ein Mensch — es ist anderseits ganz 
nnd gar nnkörperlicli und nicht einmal einem Schattenrisse, 
sondern nur dem Schatten selber ähnlich. Es ist Luft — leere 
und eitle Luit, die man nicht festlialten kann, nach der man 
vergeblich greift. Und dennoch siclit man es. Wie soll man 
sich das erklären? Wie kommt so ein wunderbares Bild, , 
wunderbarer als alle Achiro}>U<i des christlichen Altertums zu- 
stande? — Es ist gar kein Bild. 

Die Gespenster sind wir selbst* Das Gespenst ist unser 
lnftf5rmig gewordener Körper. These ottr aetors, sagt Prospero 
in Shakespeares „Sturm", teere all Spirrtf^, and are melted into 
atr, into thin air. In Luft sind sie aulgeiö.st, aus Luft sind sio 
gewoben. Das ist nicht bloss die Natur der Geister auf der 
bezauberten Insel Prosperos; sondern aller Geister. Die Luft« 
die unsere irdischen Beste bis auf das Gerippe aufnimmt, stellt 
nach allgemeinem Glauben das eigentliche Element und Wesen 
der Vorangegangenen dar. Die Seele war nichts weiter als ein 
Hauch: entfliuliend ging derselbe auf das neue Wesen über, das 
sich aus dem verwesenden Leibe formte, das fortan, und nun 
nicht mehr sterblich, in den Lüften lebte und das jetzt selbst 
den Namen der Seele trug. Das Fleisch hatte sich verwandelt 
und vergeistigt, es war aufgestiegen wie ein Bauch, zerstoben 
und wie ein Harfenton in den unendlichen Himmelsraum ver- 
weht. Aber es schien natürlich sich vorzustellen, dass sich die 
zerstreuten Atome jeweilig wieder sammeln und zu der alten 
Fornn, in der sie einst auf Erden gelebt hatten, verdichten 
könnten, ohne darum wieder recht stämmig und fest zu werden, 
weil ihnen das Rückgrat fehlte. Sie schössen wie Krystalle an 
die harrende Seele an, ohne sich abzukühlen und ohne jemals 
2Xk erstarren. 

Sieh, diese Senne war so stark, dies Herz so fest und wild, 



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142 



III. Der Kampf der Lebendigen mit den Toten. 



die Knochen toU von Bittermark . . . damit ist es für immer 

vorbei. Xur den Schein der Körperlichkeit vermögen die Geister 
anzunehmen, wie Dämpfe, die in steter Wallung begriffen sind, 
wie die weissen Rauch Wölkchen, die bei der Feier der Tenebrä 
um die verlöschenden Kerzen wirbeln. Zwischen diesem Doppel- 
sniBtand, der völligen Auflösung und der Verdichtung schwanken 
die Gespenster beständig hin und her, namentlich die frischen, 
noch nicht lange aufgestiegenen: sie können sich beliebig sicht- 
bar und unsichtbar machen, jeden Augenblick erscheinen und 
verschwinden. Man spricht von der freien Luft oder kurz: vom 
, Freien, in England vom open Air, in Italien von der Aria apertai 
die freie Luft wird der Luft im geschlossenen Baume entgegen* 
gesetzt^ als ob die Luft im Zimmer gleichsam gefangen sässe. 
Aber es ist yielmehr unsere Freiheit» die wir meinen^ wir sind 
dem Geföngnis des Zimmers entronnen, wenn wir im Freien 
sitzen, die Luft braucht keine Freiheit. Sie kann gar niemals 
eingeschlossen werden, sie ist nach gemeiner Anschauung immer 
frei und das Freieste auf der Weit. Jitre Ubre cotnme fAir 
sagt man in Frankreich. Der Wind blaset, wo er will, und du 
hörest sein Sausen wohl, aber du weisst nicht, von wannen er 
kommt, und wohin er föhrt, heisst es im Evangelium Johannis 
(III, 8); TO mf€Vfta ^rcov &4Xh fvvel. Nun, die Geister sind Luft. 

Absolute Freiheit der Bewegung bildet demgemass ein 
wesentliches Merkmal aller Geister. Sic sind allgegenwärtig wie 
der Wind; hic et ubique, wie Hamlet sagt; sie streichen ungehindert 
YOn einem Pol zum andern und sind gleich jenem wunderbaren 
Ariel zurück, eh zweimal euer Puls schlägt. Das sind die Vor- 
stellungen und die Schlussfolgerungen des Volks, das, wie man 
wohl merkt, den Gespenstern die Existenz nicht abspricht, sondern 
nur erleichtert. 

Es spricht ihnen die Existenz so wenig ab wie den Träumen, 
die, wie gesagt, bisweilen mit den Gespenstern zusammenfallen, 
auf den Schlaf beschränkt, aber dafür in anderer Weise be- 
günstigt sind; denn nicht nur die Toten, sondern die Lebendigen 
selbst können im Traume kommen, ja, wir selbst Termögen uns 
im Traume von unsern ruhenden Gebeinen wie Geister abzulösen. 



14a 



Die Gespenstererscheinungen sind gleichsam wache Träume, so 
unwesentlich wie Träume, so unbegreiflich und im eigentlichen 
Sinne ungreifbar wie Träume. 

Etwas rein Subjektives sind sie darum in den Augen dea 
Volks noch lange nicht. Die Philosophen haben das Wort Ge* 
spenst erfunden; wer sie sieht» spricht keinesw^ von Ge-* 
spen Stern. Was Gespenster! Blosse Phantasiebilder wären sie? 
— Hört, hört, wie unsere Geisterseher vemunften. „Von Himmel 
und Erde, Sonne, iViond mid Sternen," sagen sie, „haben wir 
eitel Vorstellung und nichts weiter als ein Bild, das gar keinen 
Anspruch auf Wirklichkeit machen kann. Wir glauben in einer 
reellen Welt zu leben, wir leben nur in unseren Ideen, um nicht 
zu sagen: in unseren Gespenstern. Unser ganzes Leben ist ein 
Traum. Es ist niemals mehr als ein Traum gewesen. Es kann 
nicht mehr als ein Traum sein. Aus gewissen Anzeichen geht 
allerdings hervor, dass hinter dieser unablässigen, drückenden 
Traum Vorstellung eine reale Welt steht, deren wahres Wesen 
dunkel und rätselhaft, die nichtsdestoweniger als Bedingung 
unserer täglichen Phantasmagorien anzusehen ist. Deshalb rechnen 
wir mit unseren Gespenstern und schicken uns wohl oder übel 
in ihre Launen. Wir sehen wohl, dass die uns zu teil werdende 
Vision nicht willkürlich, sondern aufdringlich und unvermeidlich 
ist; wir können uns des Trauraes nicht erwehren, und sollten 
wir auf dem Blutgerüste stchn. Mit den Gespenstern und den 
Geistererscheinungen ist es aber in der Regel geradeso — auch 
sie kommen ungerufen; plötzlich und unvermittelt steht das 
Schrecknis da. Sogar unsere verstorbenen Freunde» unsere Schutz- 
engel kommen so: was vorgeht, wenn sie uns nshe sind, das 
können wir von der blossen Krinnerung, von dem Spiele einer 
müssigen Phantasie sehr gut unterscheiden. Wir haben eben 
nicht an sie gedacht, und doch streift uns auf einmal ein Hauch 
des Jenseits — wir weilen mit unseren Vorstellungen anderswo, 
so erscheint uns ihr liebes Bild. Sie machen ganz den Eindruck 
von Begegnungen und Besuchen, wie sie den Tag Über in Wirk- 
Uchkeit stattfinden. Sie überraschen uns; sie stellen sich von 
selbst ein ; sie gehen ihren eignen Gang und leben ihr eignes Leben. 



1 
I 
I 



144 III. Der Kampf der Lebendigen mit den Toten. 



Deshalb können vir an ihrer BealitSt so venig zweifeln wie 

der des ersten besten Bekaniiien, den wir auf der Strasse 
trelien; wir sind ihrer genau so sicher wie der gesamten irdischen 
Phantasmagorie. Wir sehen unser lebelang nur Geister, und 
wenn wir uns Tor unsern Geistern fürchten oder uns an ihrem 
Anblick weiden, so thun wir nur dasselbe was alle Menschen 
ihuen. Wir würden überhaupt zwischen den Bildern, die Tor- 
<Iem bei uns waren und die uns jetzt umschweben, zwischen den 
Lebendigen und den Toten gar keinen Unterschied machen, 
wenn wir nicht allerdings auf einzelne Widersprüche stiessen, 
die sonst fehlten. 

Erstens stehen wir jetzt mit unsern Wahrnehmungen allein. 
Wir sind es allein, die von den Erscheinungen etwas merken, 
die andern, die mit uns zusammenwohnen und noch nicht ge- 
storben sind, bleiben gewöhnlich unberührt. Zweitens können 
wir unsere Gesichte beim besten Willen nicht durch das Gefühl 
ergänzen; die Erscheinungen sind wie Schatten unfassbar und 
nicht zu kriegen. Der zärtlich geliebte Freund kehrt wieder 
und tritt an unser Bett, er steht zu unseren Häupten und ruft 
uns wie Patroklus den Achilles — er hat das Aussehen, die 
Oestalt; die Stimme, die Kleidung unseres Patroklus — wir 
strecken die Hände nach ihm aus und lUegeii an seine Brust; 
er ist zertiossen. Wir begegnen, in Nacht und Grauen vorwärts- 
schreitend, auf einmal unserer lieben, uns vorangegangenen Mutter 
— sie ist aus Kummer, aus Sorge um uns gestorben, sie be- 
greift nicht, was uns hierhergeffihrt hat-, sie redet uns so gut 
und so tranlich zu wie damals, da wir uns noch an ihrem Herzen ] 
ausweinen konnten — Sehnsucht schwellt unser Gemüt, wir 
fassen nach ilu er Hand, wir wollen sie uiuariiien, dreimal machen 
wir Anstalt, ihr um den Hals zu fallen: und jedesmal entschlüpft 
sie uns wie dem Odysseus im Hades der Schatten der Autikleia. ' 
Deshalb weil wir unsere Verstorbenen bloss sehen, aber nicht j 
jnehr anrühren können, deshalb sind wir übereingekommen, so 
-eine Erscheinung: ein Gesicht zu nennen, weil sie nur noch | 
dem Auge, allenfalls auch noch dem Ohre zugänglich ist^ die | 
übrijjea Süine aber versagen — nicht als ob die Sache eiuti 



1. Die Oeapenaterfuroht. 145 



Hallazinatlon und eine Sinnestäuschung wäre, sondern wir wollen 
sagen, dass es eine besondere^ einseitige, auf den Gesichtssiim 
ausschliesslich beschränkte Erfahrung sei.** 

Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode. Wer wollte 

die Logik leugnen? — Dem Naturmenschen vollends könnte man 
ebensogut die Welt überhaupt abstreiten wie seine Visionen, von 
deren Wirklichkeit er aufs festeste tiiberzeugt ist. Wird es 
schon dem Philosophen schwer, eine genaue Grenze zwischen 
Binnesempfindungen und Sinnestäuschungen zu ziehen, für den 
Laien existieren diese Begriffe überhaupt nicht; er ist unfähig 
seine Gesichte zu kontrollieren und auf ihre subjektive Entstehung 
hin zu prüfen, und er wird noch eher an eine andorsf^eartete 
Welt als an Halluzinationen glauben. Wenn Achill den Schatten 
des Patroklus nicht greifen kann, so denkt er darum nicht an 
einen Traum, sondern an eine Psyche, deren Natur you der 
unsrigen Terschieden und die nicht mehr körperlich sei. Eine 
hysterische Person klagt über einen Geruch^ einen Geschmack, 
der sie nie verlasse: wird man sie überredeuj dass sie nichts 
rieche und nichts schmecke? — So wird man auch einer Anna 
Katharina Emmerich, der Nonne von Dülmen ihre Begnadigungen 
kssen. Die Sinne sind eine mächtige Gewähr, und darüber, 
was einer mit seinen eignen Augen gesehen hat, lässt er nicht 
mit sich reden. Wegen dieser ihrer felsenfesten Überzeugung 
machen alle Visionäre, zumal die religiösen Schwärmer solchen 
Eindruck aufs Volk. Das geht sowi^it, dass die Menge nicht 
mir an ihre Gesichte glaubt, sondern selbst Erscheinungen zu 
haben anfängt und dass die Haliuzmatioa ansteckt wie der 
Veitstanz. 

Das Schlimme ist eben, dass sich Sinnestäuschungen und 
Sinneseindrttcke dem Inhalte nach decken und erstere nur nicht 
so unmittelbar erfolgen. Die Halluzinationen sind wie Post- 
boten, die einen Umweg machen und bich verspäten, aber die- 
ßeibeu Briefe bringen. Ein Gesj)enst heisst ein Phantasma 
— es ist nichts weniger als ein Phantasma. Die Menschen 
haben überhaupt gar keine Phantasici sondern nur dann und 
wann etwas Geschick, ihre Ehrfahrungen zu verwerten, sie aus- 

KUinp»«!, Dia L«k«Ddlg*B «od die T»1«n. 10 



146 III. Der Kampf der Lebeodigen mit den Toten. 



zuspinnen und za kombiniercTi. In dem Gespcnsterglauben, wie 
er zu allen Zeiten und bei allen Völkern bestanden bat, iSsst 
sich eine gewisse Gesetzmässigkeit nicht verkennen. Er beruht 
auf GedächtDisbildero, das heisst: auf richtigen Bildern, die nur 
durch einen krankhaften Vorgang in der Hiriulude mit solcher 
Deutlichkeit \m Bewusstsein treten, dass sie nicht mehr für alte, 
sondern für frische Bilder gehalten werden. Er beruht, um es 
kurz, zu sagen, auf dem Anblicke der Toten. Die Gespenster 
sehen immer so aus, wie die Leichen im Sarge ausgesehen haben. 
Nicht doch; sie können auch aussehen, wie sie im Leben gewesen 
sind. Die Seele des Patroklus im 23. Buche der Ilias ist der 
ganze Patroklus urul auch so gekleidet ; und so erscheint auch 
der Geist von Hamlets Vater auf der Terrasse des Schlosses 
Helsingör in der Gestalt und im Harnisch des verstorbenen 
Königs. Ich kannte euren Vater: hier diese Hände gleichen 
sich nicht mehr. An der Weissen Frau rühmten wir das Stil* 
YoUe und die geschichtliche Treue des Kostüms schon ohen 
(Seite 113). Sagen wir also lieber schlechtweg; die Gespenster' 
sehen so aus wie die Personen, sei's im Leben oder im Tode: 
doch haben sie eigentlich von beiden etwas. Sie sind gleichsam 
eine Übertragung des Todes auf das Leben, denn die L3ichen 
werden als Lebende gedacht. Sie gebärden sich, als ob sie 
auferstanden wären und direkt aus dem Grabe kämen; ja, sie 
haben noch das weisse Totenhemd an, in das sie gewickelt, 
worden sind. Aus diesem Grunde gelten die Geister gemeiniglich 
für weiss. Sollte es mit dem Weiss eine andere Bewandtnis 
haben ? — Es wirkt hier mancherlei zusammen. 

Hamlets Vater ist auch gewissermassen weiss, weil er sehr 
blass ist. Pale or redf — A%, veiy pale, Natüriich: die Toten 
sind ja bleich. Gespenster müssen kreideweiss, dazu elend und 
eingefallen aussehen, wenn sie wandelnde Leichen sind. Von 
einem schwindsüchtigen, ausgemergelten, hohläugigen Individuum, 
dessen 2sase sich spitzt, heisst es, dass es herumschleiche wie 
eine Leiche; aber ebenso gern: es schleiche herum wie ein Ge- 
spenst. Cke pare vna Fantasima^ wie der Italiener sagt. Von 
einem Dlckbaucb wird man es nicht sagen; Hamlets Vater, 



1. Die Gespensterfurcht. 147 



obwohl in seiner Sünden Blüte hingerafft^ erscheint doch äusserst 
blass. Diese Eigenschaften hat dann die religiöse Schwärmerei 
mit den Augen eines Verliebten angesehen und gleichsam ver- 
klärt; sie bat das Dünne ins Ätherische, die Blässe in die 
Klarheit, die Wachsfarbe in Blütenweiss umgesetzt und die 
Toten dem Himmel angepasst. Wie die Spiritisten einen 
Astralleib kennen, also uragiebt die Seelen der auferstandenen 
Frommen nach biblischer Vorstellung ein himmlischer Glanz 
und ein Mantel von Licht — die Lehrer aber werden leuchten wie 
des Himmels Glanz und die, so viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die 
Sterne immer luul ewiglich^ sagt der Herr zu dem Propheten 
Daniel (XII, 3). Dann xcerden die Gererlifj'n lenclitejt wie die Sonne 
in ihres Vaters Reichy sagt Jesus za seinen Jüngern (Matthäi XIII, 43)* 
Daher jener Kapuziner Geister machte, indem er Krebsen 
brennende Wachslichter auf dem Bücken befestigte und sie über 
den Kirchhof laufen Hess. Es ist nun nur konsequent, wenn 
sich die Offenbarung Johannis wiederholt die Kleider der 
Gläubigen, die, Pahiiea in den Händen, vor dem Stuhle des 
Lammes stehen, als weisse Kleider denkt — ■ diese weissen 
Kleider sind offenbar nichts weniger als Totenhemden. Freilich, 
müssen wir hinzusetzen : diese Verklärten sind auch nichts weniger 
als Gespenster, die aus der Unterwelt aufsteigen und meistenteils 
sehr unselig umgehen. Sie gehören in ein künstliches Seelenreich, 
in den stilvoll ausgeschmückten Himmel, der Tom Volksglauben 
himmelweit entfernt ist. 

Hildebrand befindet sicli demnach auf falscher Fährte, wenn 
er (in Grimms Wörterbuch unter Geist, Spalte 2629) allen 
Geistern ein eigenes Leuchten und Glänzen zuschreibt und ihre 
weisse Farbe daraus erklärt. Analog hat man ja auch die 
Weisse Frau, die Todesbotin der HohenzoUem, die zufallig 
Bertha heisst, thatsächlich zu einer Bertha, nämlich zur 
glänzenden Göttin Berchta machen wollen und hinter der 
Weissen Frau die Sonnenfrau, die zur Zeit der Wintersonnen- 
wende mit ihrem Gemahle Wodan durch die Wolken jagt, 
gewittert. Das ist . ein weiter Umweg; man kann die Sache sehr 
viel nfiher haben« Die Weisse Frau ist weder eine Göttin, noch 

10* 



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.148 iii. -L>er Kampf der Lebendigen mit den Toten. 



eine Selige; sie ist einfach eine Leiche in einem Totenhemde. 

Das Glänzen der Geister haben die Theologen und die Kapn* 

ziner aufgebracht, die bereits hinieden Irrlichter über die 

Kirchhöfe laufen lassen; das Volk weiss nichts davon, jNacli 

der Auffassung des Volks würden höchstens die Hausgeister und 

die Herdmännlein glänzen, diese aber sind nicht sowohl weiss 

als Tielmehr brennend rot; haben rotes Haar, roten Bart nnd 

einen spitzen roten Hnt, weil die Fenerflamme rot ist. Die 

Gespenster dagegen denkt das Volk wie die Offenbarung in 

richtigen weissen Kleidern. Wenn die Kinder Gespenster spielen, 

80 wickeln sie sich in ein Bettlaken oder in ein Handtuch. Der 

Türmer schaut um Mitternacht hinunter auf den Kirchhof — 

da regt sich ein Grab and 6ia anderes dann: 
sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann, 
in weissen und sehleppenden Heraden. 

Wer es noch nicht glaubt, der lasse sich vom Siuiplicissimus 
belehren, wie*s gemacht wird — er befand sich einmal zur Kur 
in einem Kniebisbade und veruiass sich seiner Freigeisterei und 
Tapferkeit. Ein Schweizer will ihn auf die Probe stellen, zieht 
sich weiss an und schleicht in das Schlafzimmer unseres 
Helden, wo er anfängt zu rumpeln, in der Meinung, ihn gehörig 
zu ängstigen — aber der lässt sich in der That nicht ins Bocks- 
lioru jagen. Hollay Kerl, ruft er, wann die Geister iceiss f/e/icn, 
so p fiepen die Mänd, wie tnan sagt^ zu IVeibeni zu »rerden ; r^Atr 
hier wird der Herr GeiH irrffangen sein! — Und er karbatscht 
den Horm Geist gehörig durch (Continuatio, 15. Kapitel). 

Dies nur zum Beweise, wie zuallererst immer an das weisse 
Hemd gedacht zu werden pflegt. Man hat für die Weisse Frau 
eine allerliebste Auskunft gefunden: sie sei eigentlich nichts 
Aveiter frewcseri als die trauernde AVitwe. Die iiiittclalterliche 
Witwe verhüllte ihr Antlitz nach Nonnennrt mit einem weissen 
Schleier; beim Tode des Herrn erschien also thatsächlich im 
Schlosse eine Weisse Frau. Der wehende Schleier und die 
.Haube mit dem Kinnband ist ja gleich dem Schlüsselbunde ein 
Hauptkennzeichen der Weissen Frau. Nur schade, dass die 
Trauerkleidung im Mittelalter violett gewesen ist, daher in der 



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2. Die Gespensterfurcht. Poltergeister. 149 



KatholiBchen Kirche noch heute die Altäre in der Fastenzeit 
Tiolett bekleidet werden; und dass sie seit Anfang des 16. Jahr« 
hunderts schwarz war wie bei uns. Höchstens Einzelheiten: der 
Schleier, das Kinn und Wangen nmschliessende brel>ende, der 
Strick; der als Gürtel diente, und das mit aufgestickten Thränen 
besetzte Skapulier zeigten helle Farben. Die trauernde Witwe 
des Mittelalters war also nicht eigentlich weiss gekleidet» keine 
ganz weisse Frau wie das Schlossges])enst in Berlin, das höchstens 
schwarze Handschuhe trägt. Ich überlasse es dem Leser zu 
entscheiden, ob es wahrscheinlich ist, dass man eine schwarz 
gekleidete Frau eines weissen Häubchens wegen: die Weisse 
Frau genannt habe. Wie gesagt, die Erklärung ist nicht übel, 
aber um so weniger ernst zu nehmen^ als sie auf einer ganz 
falschen Voraussetzung beruht. Die Weisse Frau erscheint 
nicht, die Toten zu betrauern, sondern die Nachkommen zu 
holen. Sie ist ein höchst gefährliches Gespenst. 

Die Gespensterfureht. Poltergeister. 

Drei Schritt vom Leibe — sich nicht einlassen mit Qespenstern — man 
muBS sich ja schon f&rcbten, weil sie so schrecklich poltern — ihnen die 
Seelen, die mit einer Schuld belastet ans dem Leben gegangen sind — das 
Oeransch kann wohl dnmal anf natürliche Ursachen surackznfähren aein, 
dadnrch werden doch nicht alle Spukgeister ans der Welt geschafft — wir 
verstehen freilich nicht, was sie dgentlich vorhaben : das Haus, an dem sie 
langen, im Stande erhalten — nur ausnahmsweise sind sie t rzürnt und 
sobmeissen alles zusammen p^eradesogut könnte man die Handwerker 
Poltergpistpr nennen — die Unruhe wird ihnen angedichtet — auch die 
Weisse frau hat Homente, wo sie sich nützlich macht — wir grauen uns 

doch und möchten sie gern los sein. 

Der Offizier, der auf die Weisse Frau in Darmstadt an- 
legte, verfiel in Krämpfe. In Berlin weiss man, dass der Ober- 
stallnieibter Borsdorff, der der Weissen Frau ^roh gekommen 
war, die Treppe hinunterflog. Der tapfere Siiiiplicissimus, der 
im Sauerbrunnen den Geist heim Schlafittchen kriegte, scliwitzt 
nachmals wie ein Braten beim Feuer, da er in dem Schlosse 
des Schweizers übernachtet und hier mit echten Geistern Be- 
kanntschaft macht Mit des Geschickes Mächten ist es besser 



150 



III. Der Kampf der Lebendigen mit den Toten. 



nicht anzoflechten, wie der Dichter sagt; eben so gut könnte 
man mit dem Tode seihst anbinden. Man soll einem Qeiste 

nicht einmal die Hand geben, weil man sich die Finger an ihm 
verbrennt, geschweige denn Hand an ihn legen, wenn man nicht 
ganz genau weiss, dass das Ding Fleisch und Bein bat. Man 
muBS sich ja schon deshalb vor den Geistern fürchten, weil sie 
gelegentlich einen so grausamen Lärm verführen — weil sie so 
schrecklich im ganzen Hanse poltern, dass niemand ein Ange 
znthnt. Das Poltern ist zwar das Schlimmste nicht, es stört 
mehr als es schadet, es gebt mehr die Urheber selber an, deren 
grosse Unruhe, deren böses Gewissen, deren eigne Angst es ver- 
rät; es ist nur ein Zeichen, dass sie selbst den Schlaf nicht ge- 
funden haben, dessen sie bedürfen. Unangenehm und graulich 
bleibt es doch. £s bat in Amerika, im Staate New York, in 
der Familie Fox vor fünfzig Jahren znr Erfindung des Tisch- 
rUckens geführt. Qera le Paure, 

Aus den tragischen Figuren, die wie die Gräfin von Orla- 
münde mit einer grossen Schuld belastet aus dem Leben ge- 
gangen sind, rekrutieren sich nach gemeiner Annahme die Schloss- 
gespenster. Geister, die, ohne gerade blutdürstig zu sein, nur 
überhaupt noch spuken, in der Stille der Mitternacht umgehen, 
bald nur leise klopfen, bald entsetzlich rumoren und poltern, 
daher sie auch geradezu: Poltergeister heissen. Ach, es ist 
ein unlieimliclies Inventar, das die Einquartierung aufweckt und 
von dem einer das Gruseln lernt, und das in keiner alten ver- 
fallenen Abtei, in keinem Schlosse fehlt. Wer hatte denn noch 
niemals von einem Geisterturm oder von einer Rummelsburg 
oder von dem Kloster Tropea in Kalabrien gehört, in dem es 
irre geht, in dem es nicht recht, geheuer ist, in dem nach der 
Versicherung «Her guten Christen der Teufel haust? — Bald 
ist es eine Nonne, die eine Hlunic zei pliückt; bald ein Gefangener, 
der mit seinen Ketten rasselt; bald ein langer hagerer Mann in 
einem Talar von weissem geblümten Atlas, der alle Schränke 
und alle geheimen Fächer im Schranke aufscbiiesst und durch- 
wühlt; bald ein ehrwürdiger Greis, der dem zitternden Gaste 
die Bettdecke wegzieht, den Bart abnimmt und eine Glatze 



151 



schert — in Tropea ist es ein grosser, schwarzer, sottiger Hund, 

der zur Tliüre hereinspringt und sich dem Schläfer auf die Brust 
setzt. ,r,t, ja, ihr Herren Volksaufklärer, ihr habt freilich immer 
eine Erklärung bei der Hand. Es ist der Wind, das himmlische 
Kind! Das Fenster klappt! Es sind Katzen und Marder, die 
sich beiasen! Es sind Batten, die unter dem Dache hemm- 
schwadronieren wie ein wildes Heer! — Ach was, es sind Spuk- 
geister. 

Schon öfter hatten die Bewohner der Superiuteudentur in 
Tilsit gegen Abend ein altes abgesetztes Klavier angeben hören, 
das in der Kumpelkanuner stand. Als es nun wieder einmal 
spielte und eine ganze Tonleiter anschlug, war männiglich ob 
der Kammermusik erschrocken.' Dass sich die verstorbene 
ürgrosstante, Ton der das Instrnment herstammte, etwa wieder 
übte? Lasst sie, Kinder, lasst sie! — Aber der Sohn des Hauses, 
ein würdiger Primaner, fasste sich ein Herz und ging, mit einem 
Knotenstocke bewaflfnet, auf das Musikwerk zu; es spielte immer- 
fort. Plötzlich verstummte es. Vorsichtig hob der Schüler den 
Deckel in die Höbe, was seit Jahr und Tag nicht geschehen 
war. Siehe da! Ein Mäuslein huschte über die Tasten und die 
Saiten erklangen wie znror* Narrenspossen! — Es war der 
Geist der alten Tante, 

Die Anekdote erinnert an die sogrenannte Katzenfuge des 
Komponisten Domenico Scarktti. i^r sass eben an seinem In- 
strument; eine Katze, die er sehr liebte, lag neben ihm auf dem 
Stuhle. Auf einmal fiel es der Katze ein, emporzuspringen, auf 
das Klavier zu klettern und über die Tasten zu schleichen. 
Dabei schlug sie die Noten G, B, Es, Fis, B, Cis an. Domenico 
fügte ein D und eiücn kleinen Lauf hinzu. Das Thema seiner 
berühmt gewordenen Komposition war fertig. 

Und mich erinnert die Anekdote vielmehr an die südslawische 
Sage von dem Spielmann, der in einer Mühle übernachtet, die 
von Teufeln besessen ist — der Spielmann langt seine Geige 
hervor und spielt den Irrwischen zum Tanze auf, so schön spielt 
er auf, dass der Teufeloberste selbst Musik zu lernen begehrt 
— der Spiehuaau aber packt ihn und nagelt ihm die Pfoteu auf 



I 

■ 



152 III« Dpi' Kampf der Lebendigen mit den Toten. 



dem Tische fest und giebt ihn nicht eher wieder los, bis er Ter- 

spricht, die Mühle fortan zu meiden. 

Mit der Aufklärung werden nämlich nicht gleich alle Spuk- 
geister aus der Welt geschafft; man muss sich aber auch be- 
mühen, ihr Wesen zu ergritodeD. Zum Poltern sind sie freUicb 
nicht gekommen. Man missversteht sie nur, wenn, man sie so 
grober Arbeit, des blinden und zwecklosen Lärmens zeiht, Sie 
poltern nicht, sie sind geschäftig — ihre Absicht ist nicht zu 
spektakeln, soudern etwas Isülzliches zu vollbringen. Eben so 
gut könnte man sagen, dass der Zimmermann poltere. Die 
Poltergeister sind nämlich eigentlich Hausgeister, die Seelen der 
alten Hinzpeter, die das Haus gebaut und den Herd gegründet 
haben und nun am Fortbestand des Hauses ein natürliches. In- 
teresse nehmen. Sie haben das Haus ihren Kindern und Kindes* 
kiudem hinterlassen, aber sie hängen noch immer daran, es 
gehört ihnen von Rechts wegen, sie ruhen ja unter dem Herde, 
in der sogenannten Hölle und verlassen das Haus nicht eher 
als bis es abgebrannt ist. Vorausgesetzt, dass das alte Gebälk 
auf der Brandstelle liegen bleibt und nicht wiederum verbant 
wird, denn dann wird auch der Kobold wieder mithineiuTer* 
baut. Man muss sich vorstellen, dass in grauer Vorzeit, als es 
noch keine Kirchen und Kirchhöfe gab, der verstorbene Haus- 
vater im Hause blieb und am Sitze seiner Herrschaft, an seiner 
Feuerstätte begraben wurde, wie ja alte Familien noch jetzt ihre 
Familiengruft im Schlosse oder wenigstens dicht bei ihrem Schlosse 
haben; dass aber in noch älterer Zeit die Hütte, deren Inhaber 
gestorben war, von der Familie geradezu geräumt und dem Toten 
abgetreten wurde, wie in der Steinzeit die Höhlen den Toten über- 
lassen worden sind. Daher schreibt sich überhaupt die Heilig- 
keit des Hauses und des Herdes. Die römischen Laren und 
Penaten, die deutschen Kobolde, die russischen Domowojs sind 
alles Alterchen, alles Seelen von guten alten Leuten, die sich 
von ihrem Eigentum auch im Tode nicht trennen mögen, sondern ; 
nach wie vor ihren Platz am Feuer haben und hinterm Ofen 
hocken, bei Mondschein über den Hof springen und im Winter 
Schlitten fahren; sie heisseu daher aucli wie die alten Leute, 



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153- 



nämlich Jiemzelmann oder Petermann oder Wolterken (Walter) 
oder Chiemke (Joachim). Das Schweriner Peterm&nnchen, der 
Geist des Grossherzoglichen Hanses, hat sogar eine Statue im 
Schlosshof, in einer Nische rechts vom Haiiptportale. Weil diese 
Hauss^f istor gewöhnlich am Herde oder, wie es jetzt lieisst: am 
Ofen sitzen, indem dieser den Mittelj^unkt des Hauses repräsen- 
tiert: so ist auch ihre Leibfarbe die Feuerfarbe oder die rote 
Farbe, namentlich tragen sie alle einen spitzen roten Hut» der 
ein yerkleinertes Abbild des Schornsteins ist. Ihr Röcklein ist 
grau, weil die Herdasche grau ist; das Iludeken, auch das Haupt- 
und Barthaar immer rot. Viele Hausgeister, z. B. der von 
Beraijger besungene Kobold der Tuilerien in Paris, heissen des- 
halb geradezu: die Koten Männlein fle pefit Homme itouge), Voa 
ihnen hat die rote Farbe sogar der Teufel geerbt. 

Die alten Herrlein hängen also an ihrem ehrwürdigen Be* 
sitztumi mehr noch an den gewohnten Räumen als an der Familie, 
und haben für ihre Kesidenz zu sorgen. 0, es sind Hauswirte, 
wie sie im Buche stehn! — Sie spalten Hulz und legen ein 
Scheit au, klopfen an die Thüren, pochen an die Läden, probieren 
die Fenster, hämmern und scharwerken unablässig und üben eine 
Art Baupolizei. Wenn die Wand einen Kiss bekommt» so wird 
der Kobold gar unruhig — wenn sich eine Mauer gesenkt hat, 
trommelt er das ganze Haus zusammen — wenn ein Pfeiler ein- 
zustürzen droht, läutet er Sturm. Alles väterliclie Obhut und 
Vorsorge für sein Haus. Die M^itrosen haben etwas Ähnliches 
an ihrem Klabautermann: der klabautert und klabastert unten 
im Schiffsraum, wenn an dem Schiffe etwas in Unordnung ist. 
Freilich kann der Kobold auch einmal erzürnt sein und in der- 
Wut alles zusammenschmeissen und das Geschirr zerbrechen und 
wie der schlechtgelaunte Vater kollern und pollern ; gewöhnlich 
meint er es gut und wird nur verkannt. Das ewige Klopfen 
■und Arbeiten haben nun die Leute nachgerade satt bekommen, 
sie begreifen es nicht mehr und beklagen sich über das unerträg- 
liche Gepolter, als ob das nicht nötig wäre. 

Und es ist ctiarakteristisch» dass es besonders den Fremden 
auffallt, die zum erstenmal in dem alten Hause schlafen, und 



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154 ii-I* Kampf der Lebeudigen mit den Totea. 



deren Gesichter auch die Hausgeister noch nicht kennen. Diese 
iühlen sich dann bewogen» Hausrecht zu . brauchen und den Bin- 

dringlingen die Decke wegzuziehen. 

Die Weisse Frau selbst hatte viele Züge, die vielmehr auf 
•einen wohlwollenden Hausgeist des Berliner Schlosses als auf 
•eiiie Furie und auf einen Vampir schliessen lassen, öie wusch 
die weisse Wäsche des Schlosses und bleichte sie im Mondschein 
— sie wiegte die geliebten Kinder, wenn ihre Ammen schliefen 
sie sprang überall ein, wo's fehlte. Sie war ein rechtes Faktotum, 
Die Kuriürstin Luise Henriette sitzt vor dem Spiegel und fragt 
in Gedanken vor sich hin, was es an der Zeit sei. Die Kammer- 
frau ist gerade hinausgegangen; statt ihrer guckt die Weisse 
Frau hinter dem Spiegel hervor und antwortet: Ze/m Ukr^ Ew, 
lÄehden! — Die Gräfin von Montfort-Bregenz hat bei der Prinzess 
Ijeopold einen Krankenbesuch gemacht und möchte Urlaub 
nehmen : niemand ist da, ihrer Herrlichkeit zu leuchten. Aber 
die Weisse Frau kommt mit einem brennenden Wachsstock und 
begleitet die Gräfin die Treppe hinunter. Das sind so kleine 
Oefälligkeiten^ die einer guten alten umsichtigen Tante anstehn 
würden. Auch sie wird nicht mehr verstanden, sie wird nur 
noch gefürchtet. Diese guten Dienste waren nur Behelfe der 
Todesbotin, die eine Gelegenheit abpasste. Der Oberatallmeister 
würde es am liebsten niit ihr machen wie Tomyris mit dem 
-Cyrus. Furcht ist immer das erste Gefühl, das die Gespenster 
um sich her verbreiten; bleiches Entsetzen heftet sich an ihre 
Sohlen. Man möchte sie gern los sein; aber wie? — 

3. Die Anwendung des kalten Wassers zum Geisterbanne* 

Eine PhaDtasio — das Begräbnis zu Wasser in Venedig, im Spreewuld — 

das ist eine alte (iewnhnheit, <lie Toten iibers Wasser zu setzen — sia 
segelten ab — dalier glaubte man siiiitt-r, die Seelen nuissten übers Wasser — 
uian suelite die Toten, die man fürchtete, durchs Wasser /u isolieren, denn 
sie waren wasserscheu — wenn ich nur erst sterbe, so will ich dich schon 
pisacken, dagegen half nur das Wasser — man konnte sie au h mit Wasser 
vertreiben, indem man Wasser auf sie spritzte — sie wichen unwillkürlich 
davor zurück, wie sie auch zurückwciidien, wenn man Steine nach ihnen 
ivirft — Manipulationen der Mediziumanaer, der Zauberer, der Priester, 



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3. Die Anwendung des kalten Wassers zum Geisterbanne. 155 



der Heiligen — das Weihwasser — Wasser ist das souveräne Hittel, den 
Teufel auszutreiben — den bösen Geistern eu entgehen, konnte man sich 
auch selbst unter Wasser setzen: Sterbezimmer, Trauerhäuser, Begräbnis* 
gphräuche — Reinheit und Unreinheit im Sinne der Vorfahren — urzeit- 
Htber Zweck des Bades — die Entstehung der Kaltwasserkur — die Seelen 
selbst bedürfen Wasser zu ihrer Keiuigüng, wie die Kinder der Taufe — 
dies eine junge Anschauung, zunächst ist das kalte Wasser eine Schutz- 
uDd Trutzwaffe, mit der man sich der Seelen erwehrt, die nasse Waiie im 

Gegensätze zur heissen Waffe. 

Das ist die Toteninsel« Ein massiges, schroff ansteigendes 
Felseiland ; eine riesenhafltei einsame Katakombe^ vorn eine Bucht, 

mit mächtigen Cypressen bestanden, und zwei ägyptische Pylonen, 
auf denen Löwen lagern. Ein brauner Schiffer steuert mit einem 
Sarge zu dem Ufer — über den Sarg ist eine weisse Grestult 
gebeugt, und darauf liegen Granatblütenkränze, die einen roten 
Schein über das Wasser werfen. Der Himmel ist bedeckt, die 
Landschaft erhaben und ernst, die Schatten des Todes legen 
sich über sie; die Wipfel der Cypressen schwanken wie im 
Sturm. Ist dies das Jonische Meer, ist dies Korfu? Ist es 
das zur Büste gehende Leben überliaupt? — Es ist die 
Toteninsel. 

Wer kennt nicht das eigene Bild von Böcklin, das diesen 
Namen trägt und das den Beschauer wie eine dunkle Sage 
geheimnisToU anmutet. Man glaubt eine Vision zu haben : mau 
erinnert sich an die Unzähligen, die seit Anbeginn der Schöpfung 

so abgesegelt sind — au die Klosterbrüder von Heisterbach, die 
an (h'ii Rhein auhicn. wenn Sie starben — an den schlaftrunkenen 
Fäbriuann, der in stürmischer Nacht von einem Mönch geweckt 
wird: der Mönch verlangt, über die Donau gesetzt zu werden, 
und drückt ihm das Fährgeld in die Hand: der Ferge macht 
sich fertig, aber kaum ist der Nachen flott, so füllt er sich mit 
andern unbekannten Gästen, dass er beinahe sinkt und der 
Schiffer kaum noch stehen kann: mit Mühe rudert er hinüber, 
und der letzte Mann ist noch niclit ausgestiegen, so wird das Fahr- 
zeug von einem jähen Sturm an das diesseitige Ufer zurück- 
geworfen, wo schon wieder neue Reisende harren, die alle über- 
gesetzt sein wollen 



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iOG Iii« -L^^r Kampf der Lebendigen mit den Toten. 

Wenn man gelehrt ist, denkt man lieber an den alten 
Charon, der einst in Griechenland bestellt war^ die Verstorbenen 
tiber die Flüsse der Unterwelt zu setzen, und der einen Obolus 

bekam — an die Einbiiuino denkt man. in denen die Leichen 
der Wikinger, der alten nordischen 8f*eholden, auf den Wellen 
trieben — an das brennende Schitt, in das die Götter die 
Leiche des erschossenen Balder legten, das eine Riesin vom 
Strande ab nnd in die wilde See hinausstiess 

Warum denkt man nicht an Venedig? — Denn hier ist 
noch eine richtige Toteninsel, die Tag für Tag von Totenschiffen 
befahren und umschwärmt wird. In den Lagunen, halbwegs 
nach Murano lieiit die Insel San Michele, eine Insel der Selij^en, 
der meerumschiuDgene Kirchhof der Venezianer. Wenn mau 
auf dem Glockenturme des heiligen Markus steht und seine 
Blicke nach dem linken Ufer der Stadt, den Fondamenta Nucve 
achweifen lässt ; wenn man dann über die Türme der Oominikaner- 
kirche und das grosse Krankenhaus hinweg über die endlose 
WasserHiiche blickt : so sieht nuin die Cypressen und die Pylonen 
der venezianischen Toteninsel und die Michaeliskirche, die ihr 
den Namen gegeben hat. In Bom ruhen die Toten im Schosse 
des heiligen Archidiakonus Laurentius, in den am 13. Juli ld8i 
auch der Schöpfer dieses Oampo Santo, der Papst Plus IX, 
hinabgestiegen ist; in Florenz auf dem Berge, wo sich der 
heilige Minias zur Ruhe legte und auf den er sein Haupt ver- 
brachte, nachdem es ihm abgeschlagen worden und er mit dem- 
selben über den Arno geschwommen war — in Venedig breitet 
der Erzengel, den sie sterbend angerufen haben, Sanct Michael, 
in dessen Hände die Katholische Kirche alle Seelen legt^ die 
Flügel über sie: er wird sie am Jüngsten Tage auf seiner 
Wage wiegen und in den Bimmel geleiten, wenn sie nicht leicht 
befunden werden. Ist er doch der alttestamentliche Himmels- 
fürst und dichter, der die Seelenwage hält — auf altdeutschen 
Gemälden »ielifc- man oft, wie der Teufel daneben steht, das 
Gewicht kontrolliert und die Bechte der Hölle wahrt, womöglich 
dem Himmel ein Schnippchen zu schlagen sucht. 

Nach der entl^enen, aus einer Kamaldulenser-Einsiedelei 



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3. Die Anwendung dea kalten Walsen zum Oeisterbanne. 157 



zum öfi'entlicheu Begräbmsplatze gewordenen Micbaelisinsel führt 
denn tagaus tagein so manche einsame schwarze G-ondel, die 
müden Gäste ins Scblafgemach zur ewigen Rnhe bringend, be- 
gleitet von einem Priester — die Verwandten fahren nicht mit 
hinüber^ sondern bleiben am Ufer zurück. Nur bis zu der 
Kirche, wo er eingesegnet wird, erweisen sie dem Toten die 
letzte Ehre. Dafür erfüllen häutig gemi- tete Geleite die Pflichten 
der Pietät; vormittags gehen die prunkvollen Leichenzüge, die 
schwimmenden Katafalke der Pompa Funebre nach San Michele. 
Das christliche Begräbnis hat den Charakter eines TriamphSy 
Wachskerzen und Fackeln werden angezündet wie bei einem 
Fest, Palmen und Kränze folgen dem Sieger, der einen guten 
Kampf gekämpft und die Welt überwunden hat, und AVeihrauch- 
wolken wirbeln an seinem Ehrentage in die Lüfte. Venedig 
liülit sich gleich dem alten Frankreich beständig in Schwarz: 
alle venezianischen Gondeln müssen gemäss einer Bestimmung 
4es Magittraio &opra U Pompe bis anf den Ifassteppich von 
schwarzer Farbe sein. Aber diese majestätischen Kondukte, 
diese Paradebetten, die umflort und brennend über das Wasser 
gleiten, bringen doch einen unvergleichlichen Zug von Feierlich- 
keit und Trauer in das Bild der Lagunenstadt, das sonst so 
bewegt, so heiter, so lachend ist. Leider sind die Touristen, 
die Venedig besuchen, meist etwas einseitig, das heisst» sie kennen 
nur die eine weltberühmte Seite der Stadt» die Seeseite, den 
Markusplatz und das Ufer der Slawonier bis zu den öifentlichen 
Gärtbii hin, nebst der nialeriscli gegenüber gelegenen Insel San 
G-iorgio Maggiore. Die linke Seite des grossen Dreiecks, das 
Venedig bildet, bleibt links liegen. Infolgedessen sehen sie wohl, 
wie Venedig lebt, wie es isst und trinkt und badet und nach 
dem Lido ^hrt; aber nicht, wie Venedig stirbt* 

Dass nun die letzte Reise des Venezianers eine Wasserfahrt 
ist, hat ja weiter nichts Befremdliches. Wenn die ganze Stadt 
a,uf lauter Inseln liegt, so niuss es wohl auch der städtische 
Friedhof; und wo alles gondelt, mussen's wohl auch die Toten. 
In einem tSchiüiein ist das Kind wie in der Wiege zur Taufe 
getragen worden; auf dem Wasser ist es zur Schule, zur Kirche, 



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ibS III. Der Kampf der Lebendigen mit den Toten. 



zur Hochzeit, zu jedwedem Fest gegangen : wenn nun auch die 
Verstorbenen zum Begräbnis über die Lagune gefahren werden, 
80 seheint das nur stilvoll. Genau dieselben Verhältnisse finden 

sich bei uns im Spreewald, wo die Leichen ebeiilalls la Kulmen 
zum Gottesacker fahren und die Leidtragenden auf Külineii 
folgen. Diese Überfahrten gehören ganz und gar zu dem merk- 
würdigen Bilde von Venedig. Sie würden gar nicht so sehr 
bemerkt werden^ wenn nicht San Michele zu den eigenthcben 
Inseln zählte und dem Häusermeer gegenüber als etwas 
Selbständiges erschiene. Kein blosser Kanal trennt die Toten- 
insel von der Hindi ; entsprechend der Verordnunc:, dass die 
Begräl)nisplätze wenigstens lüU m nhVmy^en sollen, ist der Kirch- 
hof Yon den Wohngebäuden weitentfernt. Aber zufällig be- 
sitzen die Tenezianischen Leichenbegängnisse geradesowie die 
Spreewälder einen höchst altertümlichen Charakter, sie haben 
etwas Urzeitliches und Eisgraues wie die sogenannten Schiffs- 
setzungen and die Kahusärge, die sich in vorgeschichtlichen 
Gräbern, desofleichen bei den Finnen und den Ostjaken finden 
und die uuverätaudeue Budimente einer elementaren Yorsichts- 
massregel sind. 

Das ist nämlich eine alte Regel, dass die Toten auf Inseht 
zu liegen kommen. Dass sie Über das Wasser gesetzt und erst 
dann begraben werden. Von Olims Zeiten her bildet das Wasser 
die natürliche Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, 
allüberall scheidet ein Fluss das Leben vom Schattenreiche. 
Sowohl der griechische Hades als auch die deutsche Hölle ist 
von einem Styx umgeben, über den eine Fähre setzt oder eine 
Brücke führt. Ruhelos musste der Grieche an den Ufern des 
tiefen kalten HöUenfiiusses umherirren, wenn er nicht begraben 
war — weil er eben erst jenseit desselben begraben werden 
konnte. Diese Vorstellungen weisen luuiihch darauf hm, dass 
man einst die Verstorbeneu wirklich ülier einen Fluss gebracht 
hat ; die Sitte ist auch in vielen Ländern historisch nach- j 
zuweisen. Zum Beispiel in Ägypten, wo man noch heute über 
den liil setzen muss, um zu den Pyramiden und zu den Königs- 
gräbern zu gelangen — die Dörfer Kamak und Luksor, die 



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3. Die Anwendang des kalten Wassert sam öeisterbanne. 15& 

sich an die ungeheuren Reste des alten Thebens lehnen, liegen 
auf dem rechten Ufer des Nils ; die Memnonssäalen, das Bamessemik 
und alle Denkmäler der achtzehnten bis einundzwanzigsten Dynastie 
stehen auf dem linken. Gegenwärtig ist die ganze Stätte, wo 

einst die alte Hauptstadt Oberägyptens lag, so still wie das 
Grab; unter den Piiaraonen muss der Kontrast zwischen dem 
pulsierenden Leben der Residenz auf dem Ostufer und der 
Majestät des Todes auf der andern Seite ergreifend gewesen sein. 
Die Pyramiden waren allerdings von Memphis nicht durch den 
Nil getrennt, wie sie es Tom beutigen Kairo sind, sie liegen auf 
demselben Westufer wie die Ruinen von Memphis; aber hier 
wurden die Toten, so melden wenigstens die Geschieh tschreiber, 
über den uMörissee gebracht, an dessen Ufern das Totengericht 
stattknd. Inseln sind als Begräbnisplätze von jeher besonders 
beliebt gewesen, daher die vielen HelgoUmde und Halligen auf 
der Erde. Die Hauptsache war immer, dass die Leichname 
übers Wasser kamen, und zwar gedachte man sie durch das 
Wasser wie durch einen Graben gleichsam zu fangen und ab- 
zuscbliessen — aber nicht aus Rücksichten der Gesundheit. 

Die Furclit vor Körpern, die in Verwesung übergehen, ist 
den Menschen von Natur eingepflanzt; die Gespensterfurcht 
haben sie erst durch ihre Spekulationen über die Unsterblichkeit 
erworben. Bei dem felsenfesten Glauben an diese Unsterblichkeit 
traten die Toten in viel höherem Grade als jetzt mit den 
Lebendigen in Wettbewerb, ja, die Hinterbliebenen hatten mit 
ihren \'erstorbenen geradezu einen Kampf ums Dasein zu be- 
stehn, um ein Dasein, das doch noch so arm und so dürftig war. 
Die Toten waren die eifersüchtigen Nebenbuhler der lebenden 
Generation, ihre gefährlichsten Feinde, auf die die armen un- 
wissenden Leute alles Unglück, alle ihre körperlichen und 
geistigen Anfechtungen schoben, mit denen sie ihre liebe Not hatten 
und die sie erst nacli und nach durch Opfer zu versöhnen und durch 
einen geregelten Kultus günstig zu stimmen lernten; die Phantasie 
aber erwies sich wie gewöhnlich mächtiger und qualvoller als die 
härteste Wirklichkeit. Die Leichen, die dort unten hockten und 
Jcaoerteu, die neuen geisterhaften Wesen, die sich langsam^ aber 



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160 



III. Der Kampf der Lebendigen mit den Toten. 



unwiderstehlich bildeten, die Seelen, die schlimmen Seelen, die 
-wiederkommen und Schaden thuen konnten, sie beschäftigten 
-das Gemüt der Urmenschen mehr als wilde Tiere nnd grausame 
Kannibalen. Es ist nicht lange her, so lag in einem Armen- 

hause im Kreise Delitzsch eine Bäuerin krank : sie war mit der 
Abwartuiig unzufrieden und einmal dermassen aufgebracht, dass 
sie zur Ftiegerin sagte: Na, warte nury wenn ich nur erst sterbe^ 
-SO wUL ich dich schon pisacken! — Diese Drohung ist wahrlich 
aus dem ureignen Geiste der Steinzeit heraus entworfen. Das 
traute man eben den Toten zu, dass sie die Lebendigen pisacken 
wollten und pisacken könnten — sie verwandelten und yer- 
üüchtigten sicli ja, und selbst wenn sie mit der Zeit ihr an- 
gewiesenes Totenreich aufsuchten, war mau doch nicht vor ihnen 
sicher. Es half nichts^ dass man sie mit den Füssen voran 
jEum Hause hinausgetragen und die Thüre hinter ihnen zugemacht 
hatte, siie kamen immer wieder und rächten sich für jegliche 
ünhill, die man ihnen anthat — man hatte den Leichen gut 
Beinfesseln anlegen, ihnen die Glieder zusammenschnflren; sie in 
Steinkammern und Hünenbetten einscbliessen, es war alles um- 
sonst. Nur ein Mittel gab es, sich vor ihnen zu schützen : wenn 
man sie über ein Wasser brachte. Dann kamen sie wirklich 
nicht wieder; das Wasser scheuten die Geister, sie waren wie 
•die zwei Königskinder, die nicht übers Wasser konnten. Man 
hielt sich also für gesichert, wenn die Toten ühers Wasser waren. 
Wenn sie jenseits waren — die Ausdrücke Diesseits und 
-Jenseits sind hiervon ausL^^egangen. 

Ist es nicht ein eigenes Gefühl, wenn man etwas Liebes an 
Bord gebracht hat und nun am Ufer steht, dem Schiffe nach- 
gehend, das die Anlcer nach fernen Welten, lichtet *? — Schon 
Ooethe meinte, wenn man jemand Geliebtes so fortfahren sehe, 
müsste man vor Sehnsucht sterben. Ein Bach trennt manch- 
mal mehr als eine meilenweite Entfernung auf dem Trocknen, 
■wie selbst die Hunde wissen : wenn das Wild ins Wasser ge- 
gangen ist, verlieren sie die Spur. Man reist gegenwärtig zu 
Wasser ebensogut und ebenso sicher als zu Lande; dennoch 
fallt einem der Abschied an Bord besonders schwer aufs Herz. 



DiCJIiiZuU Ly ^i^J^.i-j^i'^ 



8. Die Anweadang dei kalten Wassers cum Geisferbanne. 161 



Wer auf dem Verdecke steht und zur Küste herübergrtot, 
ficheint sehr viel .erostlicber abzareifien als ein Eisenbahopassagier, 
selbst wenn der letztere weit fährt. Das liegt daran, dass man 
dem Schiffe nicht nachlaufen kann; man braucht zum mindesten 

einen Kahu, Aber auch der Seefahrer kann nicht ohne weiteres 
zurück : auch er braucht zum mindesten einen Kahn. Das 
Wasser ist und bleibt ein fremdes, unzugängliches Element; 
Wasser hat keine Balken. Ein lateinischer Dichter hat die 
Gebart mit einem Schififbruche verglichen; das neugeborene 
Kind ist in dem Falle Bobinsons, der nackt und bloss ans Ufer 
einer unbekannten Insel geworfen wird. 

Vi saevis projectus ab undia 
NavitSt nadas humi jacet. Luorex V, 222. 

Aber die Toten, die über das Wasser gesetzt werden, sind 
in dem Falle Napoleons, den man nach St. Helena deportiert 
hat: sie können nicht wiederkehren. Tfie umliaeavered aomtry, 
from whose boum no travdler retumt. 

Der Leser denkt vielleicht: aber es giebt ja doch Wasser- 
geister. Die Undinen und die Nixen werden sich doch nicht 
scheuen! — Das sind Elementargeister, dio weiter nichts als 
das Wasser selbst bedeuten. Mit ihnen haben die Seelen der 
Verstorbenen nichts gemein. Diese, die eigentlichen Spukgeister, 
waren im Gegenteil so hochgradig wasserscheu, dass man sie 
auch mit ein paar Tropfen Wasser vertreiben k uiiite, die man 
finf sie spritzte. Hitzköpfe durch einen kalten Wasserstrahl zu 
I kurieren^ Phantasten eine kalte Dusche zu verabreichen, um sie 
zur Vernunft zu bringen, Mondsüchtigen eine Schüssel mit 
Wasser als Fussteppich vors Bett zu setzen, ist eine alte Praxis 
— noch älter ist die von den Schamanen des Morgen- und 
Abendlands geübte: einen Geist mit einem kleinen Spritzer zu 
erschrecken und auf dem nassen Wege zu verjn^^^en. Ein 
Menschenkind ist durch verruchten Zauber in ein Kalb, einen 
Vogel, einen Affen verwandelt worden: um es wieder zu ent- 
zaubern, nimmt eine Kluge Frau, die seinen Zustand durch- 
schaut, eine Schüssel Wasser, murmelt einige unverständliche 

KUIspftttl, Di« LsiMndifen und dl« Toten. 11 



162 



III. Der Kampf der Lebendigen mit den Toten. 



Worte darüber und besprengt den Leidenden, der aufjenblicklich 
wieder seine recbte Gestalt aDnimnit. Diese Manipulation wird 
in den arabischen Märchen wohl hundertmal vorgenommen. 
Auch die Oirce, die die Gefährten des Odysseus in Schweine 
verwandelt hat, muss sie mit einer Arznei bestreichen, damit 
sie wieder zu Menschen werden fOdywee X, 392). Weisst dn, 
wie das zugeht, lieber Ijeser? — Das Individuum war in der 
Gewalt eines fremden Geistes, der von ihm Besitz ergriüen 
und sein Wesen entstellt hatte. Dieser Geist wird nun durch 
das Wasser wiederum verscheucht. £r nimmt Reissaus, wie ein 
Mensch unwillkürlich zurückweicht, dem man kaltes Wasser ins 
Gesicht spritzt« 

Genau so kann man den Teufel verjagen, indem man Steine 
nach ilim wirft; auch das lässt .er sich nicht bieten. Er läuft 
fort wie ein Hund. Die Steinigung des Schitän, das beisst des 
Satans, ist eine der Hauptpflichten der Mekkapilger, Im Thale 
Menaar hat einst der Böse in Gestalt einer Schlange den Freund 
Gottes Ahraham versucht, der aber den Vater der Lüge mit Stein- 
würfen zurückgetrieben. Zum Andenken daran werfen an dieser 
Stelle die Pilger alljährlich am zehnten Tage der Flucht des 
Propheten dem Teufel, das beisst: den ihn vertretenden drei 
Säulen, dreimal sieben Steine an den Kopf. Über eine Million 
Steine werden an diesem Tage im Thale Menaar aufgelesen und 
dem Widersacher an den Kopf geworfen. Man will, Mohammed 
habe diese Prozedur gleich anderen aus dem Heidentum über- 
nommen. Der Erfinder sei, wer er wolle, jedenfalls hat er sie 
aus der ISatur ühernommen ; die Steinigung, auch anderwärts , 
l)eliebt. ist ein ebenso natürliches, freilich auch ebenso kind- 
liches Verteidigungsmittel wie das kalte Wasser. 

Der Speichel verrichtet dieselben Dienste wie das 
Wasser, darum kann man das Kind auch anspucken, um ihm 
den Teufel auszutreiben; noch jetzt soll man ja dreimal aus- 
spucken, wenn jemand beschrien wird. Sogar der Harn spielt 
ja in der Volksmedizin eine Rolle. Das Ausspeien ist eine 
bekannte feindselige Gebärde, die allerdings noch mehr bezweckt 
als den Gegner ein wenig zu erschrecken. Aber immer wird 



3. Die Anwendoog det kalten Waiaers nun GeisterlMiine. 



163 



vorausgesetzt, dass sich der Geist durch dieselben Mittel ins 
Bockshorn jagen lasse, die einmal bei den Lebenden angeschlagen 
haben. 

Es ist wahr, dass von Bechtswegen ein paar unverständliche 
Worte dazu gehören ; sie haben den Sinn, dass durch eine Zauber- 
formel ein anderer, mächtigerer Geist, der den ersten Geist in 
die Flucht schlägt, in das Wasser hineingebannt wird. Doch 
erscheint das nur als ein nachträglicher Hokuspokus, durch den 
das Wasser, das eigentlich Wirksame, etwas mehr Ansehen be- 
kommen soll. 

Mit blossem Wasser hat sich zu allen Zeiten viel ausrichten 
lassen; durch dne Sündflat wird die ganze verderbte Welt 

gereinigt. Und es ist kinderleicht einzusehn. wie sich aus dem 
Verfahren die Kaltwasfccikur, die medizinische Einreibuncr, wie 
sie eine Oirce vornimmt, die gesamte äusserliche und innerliche 
Behandlung entwickeln konnte; die Arzneikunst war ja in den 
Augen des Volkes nur die Kunst, die Krankheitsdämonen zu 
vertreiben. Die Natur selbst schien diese Kunst zu Üben, indem 
sie nach einer langen Periode allgemeinen Sterbens, zum Beispiel 
nach der Mailänder Pest im 17. Jahrhundert, die Manzoni ge- 
schildert hat, endlich einen liegen schickte, der die Krankiieit 
wegnahm — der Greis, der die Pestjungfrau auf seinen Schultern 
durch ganz Bussland tragen musste, £asste schliesslich, wie er an 
sein Dörfchen kam, die Jungfrau mit der Kraft der Verzweif- 
lung an und sprang mit Ihr in die Wolga, in welcher er ertrank. 
Den Übergang bilden die wunderbaren Heilungen, die mit Weih- 
wasser in Fällen von Irrsinn erzielt worden sind; Geisteskrank- 
heiten werden vorzugsweise als Besessenheit angesehen. 

Der sogenannte Josephus Comes, ein Heiliger aus der Ära 
Konstantins des Grossen, nimmt einen Tobsüchtigen zu sich auf 
sein Zimmer, besprengt ihn mit Wasser, über das er das Zeichen 
des Kreuzes macht, und der Dämon entweicht unter furchtbaren 
Zuckungen. Der Kranke fällt mit einem Schrei zu Boden, 
Schüttelkrämpfe stellen sich ein, vor dem Munde bildet sich 
Schaum. Dann steht er vernünltig auf. In der Stadt Apamea 
soll im Jahre 385 ein Jupitertempel niedergerissen werden, ein 



164 ni. Der Kampf der Lebendigen mit den Toten. 



Teufel widersetzt sich der Zerstörung deB Heiligtums. Der 
Bischof sprengt A\ eiliwasser auf den bösen Geist und l)aiuio ihn. 
Durch dasselbe Mittel wurde der Zauber gebrocbeii. mit dem 
die Juden in der Stadt Tiberias den Bau einer Kirche hindern 
wollteD. So war niin der Weg geebnet» auch gewöhnliche Leiden 
mit Wasser zu kurieren. Der fromme Eusitius, ein fränkischer 
Einsiedler des 6. Jahrhunderts, dessen Qregor von Tours gedenkt, 
hat unzählige arme Kranke geheilt, die das Quartanfieber schüttelte, 
indem er ihnen weiter nichts als Wasser eingab, das er in seiner 
Zelle gesegnet hatte — das gebenedeite Wasser brauchte nur 
an die Brandmauer gesprengt zu werden, so genas das ganze 
Haus» Kurz, kaltes Wasser ist und bleibt das souveräne Mittel, 
den Teufel auszutreiben. Es wirkt noch unmittelbarer als der 
Exorzismus selbst. 

Damit mussten die Menschen auf den Gedanken kommen, 
das Wasser auch an sich selbst als Präservativ mittel zu gebrauchen. 
Den bösen Feinden zu entgehen, konnten sie sich auch selbst 
unter Wasser setzen, indem sie sich wuschen und badeten. 
Weshalb steht wohl im jüdischen Sterbezimmer neben der Leiche 
ein Glas Wasser? Warum stand schon im alten Griechenland 
vor jedem Trauerhause ein Waschbecken, "CknQcntov, 'jQddhov 
oder \ Jodcmov genannt? Weshalb pflegt man noch heute in Athen 
in dem Augenblicke, wo die Leiche zum Trauerhause hinaus- 
getragen wird, einen vollen Wasserkrug zu stürzen und zu zer- 
brechen und den zerbrochenen Krug dann auf dem Kirchhofe 
auf einen der beiden Stäbe zu stülpen, mit denen der Sarg ge* 
tragen worden ist und die hinter den Gräbern kreuzweise in die 
Erde gesteckt werden? — Diese Sitte, der zum Hause hinaus- 
getragenen Leiche ein Gefäss mit Wasser liachzuschmettern, ist 
ausserordeutlicli weit verbreitet, bei den verschiedensten Kassen 
und Keligionen und auf allen Kulturstufen anzutreffen; auch vor 
der jüdischen Leiche wird ein Topf zertreten, die Sdierben 
kommen mit dem Kies, auf den sie fallen, in das Kopfldssen 
des Toten. Wasserkrttge und Gläser, die als Blumentöpfe dienen, 
bemerkt man auch auf den thüringischen Friedhöfen, zum Bei- 
spiel in Berka an der Ilm; aber von Rechts wegen muss der 



3. Die Anwendung des kalten Wassers zum Geisterbanne. 165 



Krag, und zwar der ToUe Krug der Leiche nachgeworfen nnd 
erst der zerbrochene Emg auf dem Priedhofe wie eine Trophäe 

aufgepflanzt werden, wie es in Griechenland, in Ostpreussen, bei 
den Dajak auf Borneo und bei den Negern am Kongo geschieht. 
Die Grabhügel in der Nähe des Dorfes Sinda nordöstlich von 
MBoma gleichen, wenn man von ihrer Umzäunung absieht, den 
Plätzen auf unseren Höfen, wo das zerbrochene Geschirr zu- 
samqiengeworfen wird. Alle diese Vorkehrungen sind dem 
Wunsche entsprungen» den Schutz des Wassers zu gemessen 
und gleichsam zwischen die Lebendigen und die Toten einen 
kleinen Styx zu legen. 

Das Waschbecken an der Thüre ist augenscheinlich für die 
Leidtragenden hingesetzt, damit sie sich die Hände waschen und sich 
mit dem reinen, aus einem anderen Hause entnommenen Wasser 
besprengen können. Die Berührung eines Leichnams macht ja 
unrein. Aber unsere Reinlichkeitsbegriffe müssen wir hier aus 
dem Spiele lassen — in gewisser Hinsicht waren ja die Alten 
reinlicher als wir, denn sie betrachteten die Verunreinigung 
geradezu als eine Vergiftung und Ansteckung, so dass ihre üein- 
hnit etwa der medizinischen Immunität entsprach. Freilich war 
auch das, was Terunreinigte und befleckte, nicht der Schmutz, 
sondern das eigentliche Böse. Also das was Leib und Seele 
schädigte und verderbte, und das that in erster Linie der Menschen- 
leib selbst, wenn er im Tode umstund und verweste. Wenn er 
sich vergeistigte — jede Leiche verwandelte wich in einen bösen 
Geist, der Leichnam hat überhaupt den Begrif eines bösen Geistes 
erst geliefert. 

Wer sich aus Bücksichten der Pietät mit ihm befassen musste, 
ihm die Hand zum Abschied reichte und den letzten Kuss, den 

li '/.evTaiog, aüTTaajttog auf seine Lippen drückte, der suchte sich 
dann doch schnell mit Wasser zu entsühnen, gleichsam unter 
den Styx unterzutauchen, sich mit dem zauberkräftigen Elemente 
zu benetzen und zu feien. Die Bäder haben in der Urzeit fast 
niemals einen anderen Zweck gehabt als diesen magischen, der 
sich nur mit den Forderungen der Hygieine merkwürdig gut 
vertrug. Wenn aber die Leiche zum Hause hinaus auf den 



4 
I 



166 TTI. r»er Kampf der Lebendigen mit den Toten. 



Friedhof getragen wurde, musste man wieder dafür sorgen, dass 
sie nicht wiederkumine, die Hinterbliebenen mit tausend Plagen 
plage und am Ende gar nachhole. Dagegen sollte eben der 
Fluss helfen, über den mau die Toten brachte; man hatte aber 
nicht immer einen Flass in der Nähe. Man geriet also auf den 
Ausweg, einen künstlichen Fluss direkt ums Haus zu leiten, 
dem Toten einen kleinen Wassergraben zu ziehen, den er nicht 
überschreiten könne, alles Wasser im Hause auf die Gasse zu 
schütten, den AVasserkrug zu zerbrechen. Das Haus selbst ^ 
wurde überschwemmt, der Fussboden mit Wasser begossen, die 
Thürschwelle nass und damit ungangbar gemacht. Ausdrücklich 
geben die Griechen an, wenn der Krug nicht zerbrochen werde, 
so sterbe ein neues Glied der Familie bald nach, was natürlich 
keinen andern Sinn hat als den: dass dann der Verstorbene 
wiederkommt. Der Aberglaube ist vielfach verschoben und aus- 
gesponnen worden. In Oötpreussen heisst es, zu vieles und zu 
lautes Grrämen der Hinterbliebenen bringe den Toten auf — er 
stürze dann in der Küche die Wassertonne um und zersprenge 
die Fassreifen, so dass alles auslaufe. Mit andern Worten: er 
ist vom Hause noch nicht geschieden; er wird widerwillig im 
Hause zurückgebalten. Eis bleibt ihm nichts übrig als die not- 
wendige Überschwemmung selbst herbeizuführen und sich dadurch 
ein längeres Verweilen abzuschneiden. 

Die Seelen selbst zu waschen und zu baden und ihnen gleich- 
sam das Wasser auf die Reise ins Jenseits mitzugeben, war eine 
andere Wendung des Gedankens. Der gemeine Busse stellt audi 
ein Waschbecken und ein Handtuch neben seine Leiche, aber 
nicht für die Lebendigen, sondern für den Toten. Damit sich 
die Seele reinigen könne, ehe sie zum Fenster hinausfliege. Die 
Konsequenz haben ]i;inieiitiich die Hindu gezogen, indem sie 
nach Puschkar pilgern und durch Baden im See Vergebung der 
Sünden suchen, die Sterbenden aber nach Benares an das Ufer 
des Ganges tragen, damit sie dort im Angesicht des heiligen 
Stroms verscheiden, am liebsten gleich in den Ganges werfen. 
So heilig wie Benares bei den Hindu ist Amritsar bei den Sikb ; 
Amritsar bedeutet den Teich der LnsterblicJikeit (Amriia Sara; 



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4. Das Johtnnisfeaer. 



167 



ylmWto entspricht dem griechischen außgoiog). Kein Sikh geht 
nach Amritsar, ohne in dem Teiche der Unsterblichkeit zu badeo 
und sich Ton seinen Sünden zu reinigen; anch Neugeborene 
werden darin untergetaucht 

Am Ausgang des Lebens steht das Wasser wie an seinem 
Eingang; und derselbe Priester, der in Venedig das Kind ge- 
tauft hat, um die Erbsünde in ihm zu tilgen, wird de?i Toten 
auf San Micheie vor der Beisetzung mit Weihwasser besprengen. 
Auch zu Allerseelen werden die Gräber dreimal mit dem heiligen 
Kass befeuchtet. Wie weit liegen die Anschauungen der Vor- 
zeit in der Gegenwart hinter uns, und wie unTerwttstlich leben 
sie doch in zahllosen Rudimenten fort ! — Man kann behaupten, 
dass die Geister in der Länge der Zeit keinen Schritt vorwärts 
gekommen sind. Die Menschen haben sich an das Wasser ge- 
wöhnt; ihre Toteu scheuen es wie am ersten Tage. 

4. Das Johannisfeiier. 

Ein sweites wirkaames Mittel gegen die bösen Geister ut das Feuer — 
die Johaanisfeuer zunächst Sonnen festfenw — wie sie rite al? Notfeuer 
entsündet werden — es macht sieh aber von selbst, dass sie als Waffen im 
Kampfe gegen die Toten dienen — dasselbe tbot ja eben die Sonne selbst 
— der Segen des Johannisfeuers : die Menschen springen darüber, das Vieh 
wird hindurchgetrieben — es reinigt wie ein Bad, heilt Krankheiten, bringt 
Qliiok, feit — zumal für die Augen ist das Sonnwendfeuer gut — die 

Johannisnacbt auf dem Lateranplatz. 

Die Johannisfeuer, die in der Mittsommernacht überall, in 
Deutschland und Italien, in Russland und in England, in Serbien und 
in Böhmen, auf Bergen, Kreuzwegen und öffentlichen Plätzen 
lodern, sind gewiss zunächst nur als Sonnenfestfeucr aufzufassen. 
Sie heissai auch : Sonnwendfeuer. Sie sollen wie der Julbock^ der 
zu Weihnachten angelegt wird, bei diesem Sommerweibnachten 
das bimmliscbe Licht abbilden, das triumphierend emporgestiegen 
ist und nun wieder langsam scheidet. Ks ist wunderbar, wie 
auf die abnehmenden Tage de^ .[ohannisfestes und die zunehmenden 
des Weihnachtsi'estes die Worte des Täufers passen: Ich mu88 
abn^mm^ ^ mtiM waehnn {Mum oportet cresemt me autem mmuL 



168 



III. Der Kampf der Lebendigen mit den Toten. 



Erangetium Johannis III, BO). Die künstliclien Sonnenscheiben, mit 
Pecb bestrichene und mit Stroh uniwicktilte Wagciiiäder, welche 
die Berge hiiiabgerulit ; die brennenden Besen, die geschwungen, 
die feurigen Kugeln, die in die Flüsse geschleudert werden, sind 
irdische Symbole der Sonne, wie das Ewige Feuer von Baka 
im Parsismtts ein Symbol des Ormuzd oder wie die Osterkerze 
ein Symbol des Erlösers ist; das Sonnwendfeuer, das im Jabre 
J497 die scböne Susanne Neidhart in Gegenwart des Kaisers 
Maximilian I. zu Augsburg mit einer Pechfackel entzündete, 
worauf sie mit deui Prinzen Pliilipp den Keigen erullnete, hatte 
nur den Charakter eines Freuden feuers« Aber das machte sich 
ganz Ton selbst, dass die hellen Flammen auch als Orifiammen 
und als Schwerter betrachtet wurden, die man wie die Tizona 
des Cid Campeador den Mächten der Finsternis entgegenhalten 
konnte; sie glichen auch insofern der Sonne, als sie die Nacht- 
vögel verscheuchten, die Luft reinigten, dem Geisterunwesen 
steuerten. Die Ueister sollten das euer meiden wie andere 
Wesen, die sich daran verbrannten, obwohl sie sonst mit diesem 
Elemente mehr als mit einem andern befreundet waren. Schon 
die altarischen Völker schritten mit ihren Haustieren zwischen 
zwei Feuern hindurch, um sich zu reinigen. Das Feuer ist 
das zweite grosse Mittel gigen die bösen Gei&ter. 

Das geht schon daraus hervor, dass das Johannisfeuer von 
Bechtswegen wie das heilende Notfeuer oder das Wildfeuer, das 
namentlich bei Viehseuchen gebraucht wird, nach der Methode 
der Naturvölker durch fieibung zweier Hölzer angemacht werden 
muss. Versetzen wir uns in die Gegend von Luzern« Sobald 
die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat, hält man das nun 
ein ganzes Jahr lang unterhaltene Herdfeuer für alt und kraft- 
los; wo es noch flackert, wird es gelöscht. Es muss erneuert 
werden; zu diesem Zwecke sucht sich die Knabenschaft des 
Ortes an einem Bächlein in der Thalenge ein Haus aus, das zu 
der Oeremonie geeignet und dessen Wirt auch nicht abgeneigt 
ist, den Burschen etwas zu spendieren. Mit anbrechendem 
Abend bohrt man hier an einer alten Scheune in die Thür- 
pfosten zwei Löcher in gleicher Höhe, steckt eine an beiden 



4. Da8 Johannisfeuer. 



Enden zugespitzte Qnerstange wie ein Reck hinein und füllt 

sie noch ausserdem mit Kienspänen und ölgetränktem Werg. 
Hierauf wird ein langes Seil um das Reck geschlungen, zwei 
Knaben^ die Brüder oder wenigstens Namensbrüder und gleich 
alt Bind, fassen die beiden Seilenden^ ziehen sie wechselweise^ 
an und beginnen w> die Stange wie einen Quirl oder wie eine 
Welle herumzudrehen. Das wird so lange fortgesetzt » bis die 
abgeriebenen Holzfasern Feuer fangen und aus den Bohr- 
löchern Rauch und Glut hervorbricht. Funken sprühen, das 
Werg entzündet sich, nuin hält leinene Laj)i)en als Zunder unter 
und erzeugt andächtig das neue, das reine, das heilige Feuer. 
Ea wird mit lautem Jubel, mit hundertfachem Feuerjo begrüsst, 
es heisst: hhSf hhe^ hhe, brenne lichter Lohe! — und zwei Jung- 
frauen, blossen Leibes und blosse Schwerter in den Händen^ 
sprechen ihre Reime und Sprüche. Die religiöse Handlung 
selbst nemien die Luzerner Bauern: Ankenmüch bohren^ das 
heisst: Buttermilch bohren. 

Die Schweizer pflegen nun die Haufen von Bohnenstroh^, 
von Hanfstengeln, Weidengerten und zerrissenen Körben in 
Brand zu stecken, die zu beiden Seiten der Thalenge auf- 
geschichtet sind, Bretter mit Feuerbfischeln auf den Bach zu 
setzen, dass sie thalab getragen werden, und das Feuer in den 
W^ohnhäusern zu erneuern, wns sie: die J InsJnfiuki; oder aber wie 
die K.orybantea mit brennenden Kieufackeln auf die Allmende 
zu rennen, um die Gemeindeweide zu durchräuchern, was sie: 
die WeidbrwiM nennen. Damit vertreiben sie die Bilwitze und 
Boggenwölfe, welche die Frucht beschädigen, und die Hexen, die 
das Wetter machen und den Hagel kochen und die Kühe he- 
hcxen, dass sie keine Milcli mehr geben. Schliesslich werfen 
sie die Fackeln auf der Hutung aui einen Haufen zusammen 
und streuen die Asche auf die Saatfelder, die dadurch fruclitbar 
werden. Im Reich fällt die Ceremonie des Hotfeuers gewöhnlich 
weg; hier werden einfach auf den Bergen, zum Beispiel auf 
den Höhen des oberen Elbthales, auf der Kaiserkrone bei 
Schöna Hassen von Holz, Fässer, Karren und Räder, was man 
nur Brennbares hat, zusammengetragen und gewaltige Feuer ^ 



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170 III* Der Kampf der Lebendigen mit den Toten. 



aDgezttndet, die aber noch ganz die uralte Bedeutang des Geister- 
banoes haben. 

Die jungen Burschen laufen und springen durch das Feuer, 
<lie älteren Leute gelien andächtig und Gebete lULiimelnd darum, 
herum ; es soll sie gewissermassen feien und die Unkraft von 
ihnen nehmen wie ein Bad. Will jemand verreisen, so kreuzt 
er das Johannisfeuer dreimal, um Glück unterwegs zu haben 
— will er heiraten, so macht er sich im Johannisfeuer t&chtig — 
hat er ein Wagestück yor, so macht er sich im Feuer unver* 
wundbar wie ein Fakir. Wenn das Feuer matter wird, so 
kommen die Weiber dran : die ^ladchen flehen durch, um Männer 
zu bek'tininrn. unfruciit bare Frauen, um Kinder zu bekommen, 
schwangere Frauen, um einer Fehlgeburt vorzubeugen. Selbst 
Kinder werden über die Glut getragen wie im Lande Kanaan. 
Das Vieh wird hindurchgetrieben, um die Rinder vor der Pest| 
die Schweine gegen Milzbrand zu schützen; und ist das Vieh 
hindurch, so fallen die jungen Leute über die Äsche und die 
Kohlen her, bestreuen sich gegenseitig und ziehen am Ende wio 
ein wandelnder Aschermittwoch mit ihrem Vieh ins Dort ein, 
glücklich für lange Zeit. Sie sind wiederum gereinigt, sie sind 
gesund. Krankheiten, hauptsächlich Krankheiten, die bösen 
Geister, die in unserem Innern hausen, sollen durch das Sonn- 
wendfeuer gebannt und ausgetrieben werden; und unter ihnen 
stehen wieder charakteristischerweise die Augenkrankheiten obenan. 
Der Feldritterspora wächst wie die Kornblume unter dem Ge- 
treide ; er gilt für augenstärkend. Man setzt ihn vor das Fenster, 
um sich an seinem Anblicke zu erquicken; Gelehrte, die viel 
zu lesen und ihre Augen sehr anzustrengen hatten, hingen sich 
im Mittelalter ein Bündel Hitterspom in ihrem Studierzimmer 
auf. In der Johannisnacht nun war es üblich, blühenden Bitter- 
sporn zu nchriien und durch die blauen Blumen in das Feuer 
zu sehenj dann that einem das ganze nächste Jahr kein Auge 
weh — die Blumen waren wie blaue Brillen, durch die mau 
in die Sonne sah. Und die Sonne sollte das kranke Auge heilen, 
die Blindheit, die Finsternis vertreiben. Ich erinnere mich, 
dass in Born auf dem Lateranplatz, wenn hier die Johannisfeuer 



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5. Der Sommernachtstraum. 



171 



um die Spaeä dt Vino lodern, in derselben Absicht, die Augen 
zu stärken und zu heilen, gebackene Schnecken gegessen werden. 

Es geschieht Devozione, und zwar in ungeraden Zahlen. 

5. Der Sommernaehtstraain. 

Der Krautabend in Rig^a, in Kom und in Bologna — Treiben der Geister 
in der Johannisnacht, Vorsicht. Vorsicht — Blumen her, Knoblauch hnv 
Lavendel her, Farnkraut her, allerhand Zanberkräuter her — der Blumen- 

krioff auf dem römischen Lateranplatz — worauf sich der Glaube an die 
Zanberkraft jrcwi^ser Kräuter gründet : Wurmmittel , Insektenpulver — 
allmalilich wird cien Blumen eine andere Bf^^tinunung gegeben: man bringt 
sie den Seelen als Opfer dar — aus dem Kampfe wird ein Kultus — das 
russische Totenfest, die Cara Cognatio — der Joliannistag in Leipzig — 
das Jobannismännchen, das Johannishändchen, das Glückshändchen. 

In Riga nennt man den Johannisabend den Krantabend. 
Anf einem Platze am Ufer der Düna stellt sich das Landrolk 

mit allerhand Kräutern auf, die Städter strömen in hellen Haufen 
zur Düna, Dienstboten kaufen für ihre iierrscliaften, Lehrlinge 
für ihre Meister ein, alles schenkt oder empfängt die Traica^ 
das heisst eben das Kraut, beziehentlich ein Kränzlein oder 
einen Strauss. Anch von dem lettischen Landvolke wird Johanni 
auf den Höfen mit Kraut gefeiert, der Crutsherrschaft oder dem 
Pastorat unter Absingung eines immer wiederkehrenden Verses 
ein Kranz oder ein Strauss gespendet. Ganz dieselbe Sitte findet 
sich aber auch anderwärts, z. B. in Schweden, wo am .lohannistag 
ein besonderer Laubmarkt (Lf'ifmarhta(f) stattfindet; und selbst 
in Italien, wo der Johannisabend ebenfalls ein Krautabend heissen 
könnte und in Rom auf dem Lateranplatze, im Umkreise der 
«raten Johanniskirche der Welt^ eben der Lateranbasilika, ein 
grosser Blumenmarkt abgehalten zu werden pflegt. Es sind 
vorzugsweise zauberkräftige, medizinische, wuruiheilende, stark 
duftende und aus diesem Grunde für wichtige Schutzmittel ge- 
haltene Blumen, die man um diese Zeit begehrt. Johannis- 
blumen, Päonien» Scharlei oder Muskateller-Salbei, Königskerzei 
f^ette Henne und das gleichsam aus tausend Wunden blutende 
Hexenkraut y das vorzugsweise Johanniskraut genannt wird, 



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172 



III. Der Kampf der» Lebendigen mit den Toten, 



Fuf/a Daemonum; namentlich blühender Knoblauch und Iia- 
▼endel. 

Auch in der Gegend Ton Bologna gehört am 24. Juni ein 
grossartiger Knoblancheinkauf zur Landessitte. 

Es ist kein Zweifel, dass alle diese Johannisblamen nnd 

-kräuter wirklich Zauljerkräiiter und dazu bestimmt gewesen 
sind, die in der Johannisnaclit schwärnienden Geister zu bannen, 
und dass der allgemeine Gebrauch dazu geführt hat, am 24. Juni 
eigene Märkte für diese Schutzmittel abzuhalten, deren wahre 
Bestimmung im Laufe der Zeit vergessen worden ist 

Auch diesseits der Alpen setzt man am Johannisahend 
Kränze, Kränze ans Zauberkräut^rn, aus Beifnss nnd Eisen- 
kraut, auf, trägt sie die ganze Nacht und wirft sie zuguterletzt 
mit den Worten in das Johannisfeuer: niit diesem Kraute vergehe 
und verbrenne all mein Unglück! — Diese Sitte erwähnt noch 
Sebastian Franck im 16* Jahrhundert. Hier ist der Kranz 
gedacht wie jene Brombeerrankei durch die man in England 
durchkriecht nnd auf die man Krankheiten überträgt: er soll 
gleichsam das Unglück anziehn. Sonst pflegt die Meinung die 
zu sein, dass mau an dem Kraute ein Wehr und Waffen habe, 
die gespenstigen Wesen zu treffen und anzugreifen und einen 
Blumenkrieg zu führen. 

Die Bömer waffnen sich gleichsam mit den langen Knoblauch- 
stengeln und halten sie den Spukgeistern entgegen^ wie KafEael» 
Engel den Verstorbenen Lilienstengei entgegen tragen; nicht 
doch, wie Üdysseus der gefahrlichen Circe mit Moly entgegen 
tritt. Dieses Moly, das dem Dulder ein Gott eben noch zur 
rechten Zeit zuschanzte, war nämlich weiter nichts als eine 
Knoblanchdolde, die er ins Knopfloch steckte; ohne sie wäre im 
Koben der Zauberin ein Schwein mehr gewesen. Hätte Zettel 
der Weber in Athen nur eine Knoblauchzehe eingesteckt, er wäre 
im Walde nicht zu Schaden gekommen und mit keinem Esels- 
kopfe aufgewacht, der Elf hätte keine Macht über ihn gehabt. 
Die Araher pflegen an ihren Zelten, an ihren Kamelen, an 
ihren Kindern Knoblauch anzubringen, um sie gegen den ßösen 
Blick zu schützen ; auch die Griechen binden den Kindern Salz 



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5. Der Sommernachtstraum. 



173 



und Knoblauch ein. Der Knofi'ehMk wird bis nach Ostpreussen 
von Meli seilen und Vieh als Amulett getragen. Er ist ein 
^uiversalmittel gegen alle Hexerei. 

Neben der Knoblauchdolde spielt in der römischen Johannig- 
nacht die grösste Bolle die yiolette Blütenähre des Lavendels. 
Lavendel, Myrt* und Thymian, das wächst in meinem Garten, 
heisst es schon im Freischütz. Ben Layendel nannten die alten 
Eömer, weil er nach Nanle rocli: die Nardenähre, Sidca Nardt; 
tlas Wort Spica lebt in dem italienischen Spigo und in unserem 
Speik fort, ein Name, der auch anderen wohlriechenden Blumen 
gegeben wird. Weil man das Badewasser damit zu parfümieren 
pflegte, nannte man die Pflanze dann in Italien auch Spigo 
Xamnda oder kurzweg: Lavanda und Lavandtda; daher eben: 
Lavendel. Lavendelsträusachen nahm man sonst mit in die 
Kirche, um sich wach zu erhalten und die Geister des Schlafs 
zu vertreiben ; der gute Geruch vertrieb aber auch andere böse 
<xeister, z. B, das Böse Wesen selbst; und die schädlichen 
Insekten, die nach persischer Auffassung für Bilder des Teufels 
galten. Noch heute werden Lavendelblüten gern unter die 
Wäsche und in den Kleiderschrank gelegt, damit keine Motten 
und Kakerlaken hineinkommen; nun Motte ist auch im Sommer- 
nachtstraum Name einer Elfe. Er vertrieb auch die Würmer, 
die im Körper schmarotzten und die wie sichtbare Plagegeister 
in den Eingeweiden wühlten — alle Krankheiten dachte man 
sich gewissermassen als Wurmkrankheiten, auch diejenigen, die, 
vrie z. B. der Fingerwurm, auf einer Entzündung und auf der 
Einwanderung unsichtbarer Bakterien beruhten. Die Würmer 
waren einst dem Volke, was uns heutzutage die Mikroorganismen 
sind. Damit hängt es zusammen, dass Wurmmittel regelmässig 
auch Geistermittel sind. Zu ihnen gehört nicht nur der I^avendel, 
sondern auch der Knoblauch. 

Auch die Farnkrautwurzel gehört daza. Es ist charak- 
teristisch, dass der Wurmfarn, Aspidium, zugleich Famkraut- 
ZDännchen und Johanniswnrzel heisst. Die Wedel der Farne 
werden in der Johannihiiacht ebenfalls wie Schilde vorgehalten, 
und es besteht der Glaube, dass der Farusame, der sich an der 



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174 



III. Der £ampf der Lebendigen mit den Toten. 



Rückseite der Wedel befindet und der nur in dieser Nacht reift, 
die Kraft habe, den Träger unsichtbar zu machen. Alles was 
zu Hause die Brut Ahrimans vertilgt, wird in der Mittsommer- 
nacht hervorgeholt, die Nachtgeister auszarotten. 

Welch ein eigentümlicher Anblick, welch Märchen, dieses 
Heer, das, mit Johannisblumen gerüstet, einem G^isterheere eni> 
gegenzielit! Welch ein vollendeter Sommernacbtstrauml — Diese 
Waffen sind näniHch hauptsächlich bei den Partien nötig, die 
in der hellen warmen Mittsommernacht, zumal im skandinavischen 
Norden, aufs Land gemacht zu werden pflegen. In Athen pilgern 
die Liebespaare in den Kiefernwald, welcher die Abhänge des 
Pentelikon bedeckt, in Stockholm .in den Tiergarten, in Leipzig 
nach der Grossen Eiche und der Bürgeraue. Da kann man den 
Puck, die dann mächtig sind, den Elfen, die auf den Wiesen 
und den Feldern tanzen, mir nichts dir nichts ms Gehege icommen. 
Ja, wenn man auch nur im heutigen Leipzig auf den Johannis- 
friedhof geht und sich in ganz anderer Abbicht mit Blumen und 
Kränzen trägt, so werden einem doch noch die Glückshändehen 
angeboten, weil es nicht gut ist, sich ohne alles hinauszuwagen. 

Auch in Leipzig haben wir eine Johanniskircbe, die dem 
Johannismännchen gewidmet ist, das, ein Lannu auf dem Arme, 
an jedem Johnnistage im Hofe des alten Johannishospitals in 
einer blumengeschmückten Nische aufgestellt zu werden pflegt 
Auch in Leipzig wird wie in Bom an der Johanniskirche ein 
Blumenmarkt abgehalten. Mit diesen Blumen sollen die Gräber 
auf dem alten Johannisfriedhof geschmückt werden, der hinter 
der Kirche liegt und wo so viele berühmte Männer ruhen wie 
auf dem gleichnamigen Nürnberger und selbst Goethe, als er 
von Leipzig fortging, begraben werden wollte. Es sind keine 
Kränze von ßeifuss und Eisenkraut, keine Lavendelsträusse, keine 
Knoblauchdoldent die hier feilgeboten werden; sondern Hosen, 
Kornblumen- und Immortellenkränze und Zweige vom Lebens- 
baum, die man auf den grünen Hügeln und auf Gelierte Denk- 
mal niederlegt. Es scheint etwas ganz anderes zu sein; man 
sollte meinen, Leipzig hätte just seinen Allerseelentag. Es ist 
nichts anderes; die iSitte hat sich verwandelt. 



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5. Der SommerDachtBinttm. 175 



Den Blumen ist nach und nach eice andere, dem Geiste 
der Zeit besser entsprechende Bestimmung gegeben worden; sie 
sind ein Totenopfer nnd die Seelen der Verstorbenen, die ge- 
förchteten Geister, ein Gegenstand des Kultus geworden, der sie 
liebevoll pflegt. Die alten Römer hatten am 30. Februar ein 
Fest, das sie: die liehe Veitcandtschaft^ cara Cognatio nannten: an 
demselben trugen sie auf die Gräber der Verstorbenen Speisen, 
die den Manen geopfert wurden. Die Sitte erhielt sich bis in 
die christliche Zeit; die Bewirtung der Toten pflegte jetzt am 
22. Februar, an Petri Stuhlfest» stattzufinden, erst das zweite 
Konzil Ton Tours verbot sie im Jabre 567 ifimt dtam, gui in 
fetUviiaU Cathedrae Domini Betri ApastoH eiba» mortuis offervnt et p09t 
misms reämnteB ad domos proprias, ad gentUium rtvertuntur errores, et pott 
Corpvs Domini sacratas Daemoni escas accipiunt. Can. 22; Labbe, V, 863). 
Dasselbe pflegt heute noch in Russland, am russischen Toten- 
feste zu geschehn, das in den Sommer fällt: es wird dann auf 
den Gräbern förmlich gedeckt und mit den Toten gegessen und 
getrunken — der Samowar singt und die Rümka kreist, niemals 
fehlt die Kutja, Milchreis, der mit grossen Bosinen in Kreuzesform 
belegt wird. In den Erbbegräbnissen, hinter den Gittern he- 
merkt man hohe VVürdenträtrcr, gUiozend uniformierte Offiziere, 
reiche Kaiifleute, die mit ihren Familien an zierlichen Tisclichen 
sitzen und frühstücken. Man ist nachgerade mit den Toten ver- 
traut geworden^ genau so vertraut wie mit den Göttern, denen 
die alten Kömer von Zeit zu Zeit ein Leetisiemium vorsetzten. 

Wir geben den Toten Blumen. Wir bringen ihnen Blumen 
bei jeder Gelegenheit und pflanzen sogar zu Pfingsten Maien 
und zu Weihnachten ein Clirislbaumchen auf ihr Grab, ah ob 
sie noch lebten und Freude daran hätten; am Johannistage 
forderte der Umstand^ dass man so wie so schon mit Blumen 
hantierte, von selber dazu auf. Wir bekränzen nur noch die 
Gräber, genau so wie man im Altertum die Opferaltäre bekränzte; 
die Blumenkränze sind bei uns der einzige Rest der alten Toten- 
opfer. Es wiederholt sich hier im kleinen, was in der Religion über- 
haupt gescliehn ist, nur mit der Besonderheit, dass die zu Johannis 
dargebrachte Gabe die alte Verteidig ungswatfe oder wenigstens^ 



176 



III. Der Kampf der Lebendigea mit den Toten. 



80 ziemlich dasselbe ist. Ohne Kest hat sich die Umwandiung 
nicht vollzogen; Spuren der alten Sitte sind noch da. 

Die Glückshändchen. Am Eingänge des Johannisfriedhofs 
stehen Frauen, die ganze Teller voll kleiner weisser fleischiger, 
bandförmig geteilter Knollen zum Verkauf anbieten; Es sind 

die auf einer sumpfigen Niederung Naunhofs gesammelten Wurzeln 
zweier Orchisarten, der Orchis maculata und der Orchis latifolia; 
das Volk nennt sie Glückshändchen. Das Volk will ja mit 
seinem Zauber nicht bloss das Unglück abhalten, sondern auch 
-das Glück positiv erzwingen; es tritt in der Johannismitternacht 
unter eine Brücke, ttber die Hocbzeits- und Leichenzüge gegangen 
sind, und schnitzt sich neun kleine Kegel und eine Kegelkugel, 
um hinfüro p^ut zu schieben. Auih in liainburg kennt und 
schätzt num jene billi^^(*n Amulette, die zu Johannis massenweis 
feilgeboten werden; wenn der Liebste nach Kamerun geht, so 
wird ihm ein Johannisbändchen mit auf die Reise gegeben, da- 
mit er nicht umkomme, und wer ein Johannisbändchen in die 
Tasche steckt, hat immer Geld darin, denn in Hamburg heissen 
sie Johannisbändchen. Ein Beweis, dass sie zunächst nicht 
für Kamerun, sondern lur die Johannibiiacht bestimmt gewesen 
sind, die vielleicht auch einst in Hamburg im Umkreise des St. 
Johaunisklosters (des neuen Bathauses) gefeiert ward. Selbst- 
redend mussten, wenn es einmal feststand, dass die Geister in 
-der Johannisnacht wiederkämen, gerade die Johannisfriedhöfe 
am meisten ausgesetzt sein. Hier vor allem mussten sich, wie 
Puck, den Besen über der Schulter, sagt, die Gräber auftbuu, 

that thc gravefi, all ffnpxng wide, 
everv r.ne lets fort Ii his sprito, 

in the churcli-way paths to glide. Midsuunaernighl's Dream, Y* 2. 

Ja, der Name Jobannes musste am Ende auf den Teufel. 

ein anderes Haiist liiiiinnchen, selber übergehu, wie denn auch 
Hübezahl von den Kräntersuchern : IJeir Johannes genannt wird. 
Zumal in den Zeiten der plumpen Aufklärung, in denen man die 
Verehrung des buntbemalten, aus Holz geschnitzten Johannis- 
männchens als Möncbsalfanzerei yerlacbte. 



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6. Haas Bechenmeister. 



177 



6, Hans Recheuaie ister* 

Die achlechte Übersetzung — die Jobannisnacht keine gewöbnUohe Sommer- 
nacht — nur in der Mittsommernaoht ist der Teufel los — man mnss ihn 
beschäftigen, ihn etwas zählen lassen, so wird man ihn los, wie Emma den 
jBübezahl — Salzkörner, Besenreiser — das Pentagramm. 

Soii(?ner}iachfsfr<iu)n , Mmik zmn Sommer nachtstraum ist eine 
sclileclite Ubersetzung von dem Qn^\\%Q\\Qn Midsamyner-NujhiU Dream, 
Die Johannisnacbt ist keine gewöhnliche Sommernacht, sondern 
die Mittsommernacht, die auch im skandinavischen Norden 
noch: Midsfmmm' genannt wird; der Geisterspuk nnd Feenring, 
der gesamte Shakespearesche Zanber hat nur während derselben 
Sinn. Das Jahr wurde von unsern Vorfahren viel natürlicher 
und passender, auch dem deutschen Klima angemessener eingeteilt 
als jetzt; es zerfiel in zwei grosse Zeiten: Sommer und Winter. 
Die Juhannisnacht hildete die Mitte des Sommers, Weibnachten 
die Mitte des Winters — wir setzen anjetzt als Angelpunkte den 
21. Juni und den 21. Dezember an, aber der Kalender des Julius 
Cäsar liess die Sommersonnenwende oder das Sommersolstitium 
auf den 24, Juni (YIII. cal. Jim.) und die Wintersonnenwende oder 
das AVintersolstitiura auf den 25. Dezember (VIIL ml. Jan.) fallen. 
Auf diese Weise beschrieb das Jahr einen Bereis, dessen Scheitel- 
punkt der Johannistag, dessen Fusspunkt das Weihnachtsfest war; 
diese beiden Punkte lagen einander gerade gegenüber, genau in der 
Mitte Yon zwei Halbkreisen, die in den Tag- und Nachtgleichen zu- 
eammentrafen und die eben Sommer und Winter Messen. Mittsommer 
bezeichnete die Sonnenhöhe oder die Sonnenstärke : Mittwinter 
den kürzesten Tag, die ßrumaj die aussei. ste Sünnenscii wache. 

Hat das etwa der Teufel ausgerechnet? — Denn er ist ein 
grosser Rechenmeister und so erpicht aufs Rechnen, dass er alles 
andere darüber Tergisst und dass er einen in Ruhe lässt, wenn er 
etwas zu zählen hat. 

Plato, sagt Adam Biese in seinem berühmten Rechenbuche, 
wurde einmal gefragt, was ein Mensch vor den Tieren voraus habe? 
L)ll antwortete Plato: dass er rechnen kann und Verstand der 
Zahlen besitzt, als wäre Rechnen ein Fundament und Grrund 

Kleinpaal, Di« Ijeii«adi(«ii und die Toten. 12 



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178 in. Der Kampf der Lebendijfen mit den Tot«i. 



aller Kunst, wie es auch wahrlich ist. Kuii| der Teufel wiU 
auch etwas Besseres sein als ein Tier. 

Es glebt MeDSchen» die beim Geben ihre Schritte zählen 
und es, wenn sie eine Treppe hinaufsteigen, nicht lassen können, 
die Stufen zu zählen ; die Griechen haben die G-ewohnheit^ mitten 
im Feuer des Gesprächs die Perlen eines Rosenkranzes mechanisch 
zu zählen. So macht sich der Teulei über alles her, was auszu* 
zählen ist. 

' Und nicht bloss der Teufel, sondern jedweder böse Geist. 
Znm Beispiel Rübezahl, der die Rüben zählte und nochmals 
zählte und sich dabei zu seinem Yerdrusse immerfort verzählte, 

während seine Geliebte das Weite suchte. 

Die Prinzessin Kniina hatte diese Leidenschaft benutzt, um 
ihrem Anbeter durchzugehn; in der Johannisnacht pflegt man 
sich hinter eine Rechenaufgabe wie hinter ein Bollwerk zu ver* 
schanzen, um die lästigen Besucher zu beschäftigen, zu verführen 
und zu prellen* 

Die modernen Römerinnen ergreifen alle möglichen Mass- 
regelij, um iliie Saugliüge iii der Johannisnachi iestzLaiiachen, 
den Eulen die Kinderstube zu verleiden und das unschuldige Blnt 
vor den fliegenden Vampiren zu bewahren: die armen Würmer 
werden wie Stiefel geschmiert und wie Taue gelabsalbt und geteert; 
im Altertum barg man sie, wie bereits erwähnt, in einer Hecke 
von Weissdorn. Es giebt aber noch ein probates Auskunfbs- 
mittel : ein volles Salzfass vor die HausthÜre zu stellen oder zwei 
Besen kreuzweis über die Schwelle zu legen. Das zerstreut die 
Unholden und zieiit sie von ihrer Aufgabe ab, wie ein Spiel die 
Kinder vom Lernen : sie vergessen das beste darüber, sie müssen 
erst die Salzkörner und die Besenreiser zählen. War es nicht schon 
eine gute Art, den griechischen Kalikantsaros los zu werden, 
dass man ihm die Löcher eines Siebes zu zählen gab ? — Wahr- 
scheinlich dankt auch der Drudenfuss oder das Pentagramm seine 
bekannte Zauberkraft in erster Linie der mystischt^n, zum Nach- 
denken reizenden Gestalt des Zeichens, das drei Dreiecke in 
einander verschränkt und zwar spielend ausgeführt, aber doch 
nicht gut begriffen werden kann. Es gleicht einem Rätsel, mit 



7. Die zwdlf Nachte. Das Scbreokenl&ttteii. 



179 



dem man deu Besucher hinhält uud die gefährliche Mittagsfrau 
beschäftigt (Seite 131). 

7. Die Zwölf Käehte. Das Sehreckenläuten. 

Sommenonnenwende und Wintersonnenwende — die Ilias föUt auf die letztere 

— was die 65tter in Äthiopien wollen ond warum sie awSlf Tage wegbleiben 

— die Reisezeit und die Rundreise der Himmlisoben — unsere Yor&hren 
haben davon nur den Sohlus«, die Heimkehr und das Herumsiehn ini eigenen 
Land gesehn — die Götter segneten das Land und f&hrten das neue Jahr 
herauf — es war eine hohe, heilige Zeit and Stille angemessen — der Mensch 
fiberliess das Terrain zwotf Tage laug den Göttern — alles ruhte wie die 
Sonne, Weltfeiertag — mit der Bbfuhrung des Christentums verwandelten 
sich die Götter, tlie längst darüber hinaus waren, wieder in Löse Geister — 
Zwölftengeister in Griechenland, während der Zwölf i^Iächte geborene Kinder 

— mau rousate die Dämonen versohenchen, Feuer anzünden und Rauch auf- 
steigen lassen, die Glocken läuten — das Scbreckenläuten — das Schrecken 
ursprünglicher Zweck des Glockengeläutes überhaupt — Korrektur eines 

alten Spruches. 

Die verhäagnisTolleQ Hochzeiten im Nibelungenlied, das Fest 
in Worms, bei dem Siegfried ermordet warJ, und das Bankett in 

der Hofburg Etzels, bei welchem Kriemhild an den Burgunden 
furchtbare Rache nahm, fallen beide iu den Sommer, auf die 
Socimersonnenwende ; die Ilias beginnt in deu Zwölf Nächten. 
Zeus, sagt Thetis zu ihrem bekümmerten Sohne, Zeus ist gerade 
fort und mit dem ganzen Hofe zum Eissen nach Äthiopien ; zwölf 
Tage bleiben sie, erst naflh Ablauf derselben sind sie wieder auf 
dem Olymp (Ilias I, 425). Das war also, ins Christentum über- 
setzt, von Weihnachten bis zum Hohen Neujahr, was die Griechische 
Kirche das Dodehierneron und der wackere Deutsche, der nicht 
die Tage, sondern die Nächte zählt: die Zwölf Nächte oder 
auch summarisch, nach der letzten Nacht: die Zwölften nennt, 
englisch Twelftli Night, bekanntlich der Titel eines Shakespeareseben 
Lustatpiels. 

Was hatten denn die homerischen Gtötter in Ätbiopien zu 

bücheu? — Äthiopien war ein mythisches Land, in dem sich 
Apollo den Winter über aufhielt und das an den Enden der 
Welt, an den Küsten des Ozeans gedacht ward. An die Stelle 
der Äthiopier traten ein andermal die Hyperboreer, die Ultra- 

12* 



180 



III. Der Kampf des Lebendigen mit den Toten. 



moDtanen, die hinter den Bergen wohnten* Die GesohwiBter, die 
am Himmel periodisch leuchten^ Sonne nnd Mond werden, wie 

viele Sagen beweisen, von den Alten als Fahrende Leute auf- 
gefasst und ihre Wechsel damit erklärt. Sie verreisen von Zeit 
zu Zeit, ja tagtäglich geht die Sonne, um mich so auszudrücken, 
ins Seebad, um am nächsten Morgen gestärkt wieder heimzukehren* 
Gewiss spricht Homer von dem uralten Fest der Wintersonnen- 
wende, bei welchem die Götter weit weg nnd bei einem befreundeten 
Volke waren nnd sich's mit ihm an reichbesetzter Tafel wohl sein 
liessen: sie wurdcii grossartig aufgenommen. Zur Zeit der Winter- 
sonnenwende war nämlich die Sonne weg oder wenigstens so gut 
wie weg: sie stand niedrig, ihre Strahlen fielen schief auf und 
wärmten nicht, es gab die kürzesten Tage im ganzen Jahre. 
Dieser Zustand ward um den 24. Dezember herum akut, und er 
änderte sich eine ganze Zeit, zwölf volle Tage und Nächte laug 
nicht ; zwölfmal viernndzwanzig Stunden lang, vom 24. Dezember 
bis zum 6. Januar schien die Sonne gegen den Äquator voU- 
komiueu stillzustehn. Auch am 24. Juni stand sie in der 
Mittagsstunde still, doch ruhte sie dann nicht so lange, nur im 
Winter brauchte sie zwölf Tage. Das war nun einmal so an- 
genommen, ein Glaubensartikel der Vorfahren, dass die Sonne 
um Weihnachten herum zwölf Tage lang ruhen müsse; die Fiktion 
hatte eigentlich nur den Zweck, das Sonnenjahr mit dem Mond- 
jahr in Einklang zu bringen. Der Mond, dessen Phasen am 
leichtesten zu beobachten waren, bildete die natürliche Grundlage 
des Kalenders ; ein Mondjahr von zwölf Monaten mit abwechselnd 
29 und 30 Tagen enthält aber nur S54 Tage. £s ist also um 
lieiläufig zwölf Tage kUrzer als das Sonnenjahr, das, wie man 
bereits im 14. Jahrhundert vor Christus wusste, an 365 Tage 
dauert. Die Sonne musste also ihre zwölf Tage stehn bleiben, 
um mit dem Monde zurechtzukommen ; und zwar that sie das 
im Winter besser als im Sommer, weil sie da überhaupt nicht 
am Himmel zu stehen brauchte und sich in Äthiopien scblaien 
legen konnte. Die Übereinstimmung der beiden Jahre wurde 
später astronomisch durch Einschaltung eines Monats bewerk* 
stelligt, doch erhielt sich daneben immerfort die alte Fabel TOa 



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7. Die zwölf Nächte. Das Schreckenläuten. 



181 



dem SoUHtium und Ton den Zwölf Tagen oder den Zwölf Nächten 
md Ton der jährlichen Wanderung der Götter nnd aller Himmels- 
hewohner nach einem weltfernen, unbekannten Lande. 

Denn sie litt es auch nicht mehr in der trübseligen Finsternis. 
Die Sonne war abwesend, und in an stellte sich vor, dass die 
Himmlischen die Erde mit ihr verlassen hätten, ihr in der Fremde 
Gesellschaft leisteten nnd gleichfalls die Gastfreundschaft, die 
Opfermahlzeiten des nnstiilflichen Sonnenvolks genössen. Der 
ganze Himmel hegah sich also anf Reisen, die ganze Welt ruhte 
gleichsam zwölf Tage, wie eine Maschine, die nicht mehr funktioniert, 
wie eine Uhr, die stille steht, oder wie ein Schnellzug, der Station 
macht — die Zeit, nichts weiter als die Bewegung dieses Zugs, 
hörte auf, und aus der tiefen blauen Ewigkeit lugte das «lenseits 
in die ausgestorhene Werkstätte hinein — es war die grofse Pause 
des Konzertes, in der eine höhere Zwischenaktsmusik aus un- 
ermessener Feme leise herfiberklang und an das Ohr der Sterblichen 
anschlug. Nach Ablauf der Zwölf Nächte war die Sonne wieder 
auf ihrem Posten, die Maschine kam wieder in Gang, der Zu^^ 
setzte sich wieder in Bewegung, und die Himmlischen kehrten in 
ihre Residenz zurück, das neue Jahr in der Tasche. 

Das sie inzwischen auf geheimnisvolle Weise bereitet und 
Yorgebildet hatten. Denn während der Pause wurden die Dinge 
gesäet wie Korn; und was gesät war, ging im folgenden Jahre 
auf, wie der Zorn des Achilles in der llias. Diese Zwischen- 
zeit trug gleichsam den ganzen Kalender im Keime in sich : 
was die Zwölf Nächte an gutem und schleclitem Wetter, an 
Fruchtbarkeit und Misswnchs, an Erdenschicksalen versprochen 
hatten, hielten die Zwölf Monden, das neue Jahr war nur die 
ESrfUllung des göttlichen, am Anfang ausgesprochenen Wunsches ; 
ja, sogar im Menschengemüte, sogar in den Köpfen der Haus- 
tiere malte sich das Angesicht der Zukunft wie in einem Spiegel. 
Menschen und Tiere lingen an zu träumen, Gesichte zu sehen 
und zu weissagen; denn die heimkehrenden Götter erschienen 
ihnen nnd streiften sie mit ihrem himmlischen, beseligenden 
Hauche. 

Sie kehrten natürlich direkt auf ihren Olymp zurück, sobald 



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]t>2 I^i- I^er Kampf der Lebeadigen mit den Toten. 



Mb Sonne wieder Anstalt zum Aufbrach machte« Sie waren ja 

keine Trabanten des Sonnenballs, die den Helios während seiner 
ganzen Wanderung auf Schritt und Tritt sklavisch begleitet hätten, 
viel eher waren die einzelnen Götter Trabanten des Zeus; der 
Olymp hatte nur an dem Winterfest teilgenommen und war erst 
beim Eintritt dee Solstitiums zum Sonnengott gestossen. Wenn es 
vorüber war, Hess man ihn wieder allein seines Weges ziehen. 
Ebensowenig brauchte die Reise der Götter etwa mit derselben 
Pünküiclikeit zu geschehn, die das Gestirn bei seinem Umlauf 
auszeichnete; man wird nicht denken, dass die Olympier sämtlich 
genau am 24. Dezember bei der Sonne eingetroffen und am 6. Januar 
in geschlossenem Gliede wieder abmarschiert seien. Sie konnten 
sich wohl auch einmal verspäten, sie konnten sich in einzelne 
Trupps auflösen, sie konnten verschiedene Bouten wählen. Es 
war ein Hin- und Herfahren in der Luft, ein Kommen und 
Gehen, ein Sausen und Brausen wie während der Reisezeit auf 
einer Alpenstrasse oder auf einer frequenten Eisenbahnlinie. 

Daraus ergab sich nachgerade die Vorstellung einer Rund- 
reise, welche die Götter und alle Toten im Winter unternahmen 
und die sie in zwölf Tagen Über die ganze Erde und wieder zurück 
zu ihrem Himmel führte. Unsere Yorfabren teilten diese Yor* 
Stellung, sie haben dieselbe mit besonderer Liebe gepflegt und 
ausgebildet. Es ist merkwürdig, aber in den vorigen Anschau- 
ungen von der Sonnenreise und dem Winteraufenthalt begründet, 
dass sieb die Alten von jenem mythischen Lande eine Idee machten, 
wie wir uns einst von Italien, dass sie es für ein Sonnenland 
hielten, in dem ein ewiger Frühling herrsche^ wo ein sanfter 
Wind vom blauen Himmel wehe und wo die Menschen hesser 
und glücklicher seien als daheim. Da wir den Italienern gegen- 
über die Rolle der Hyperboreer und der ültramontanen spielen, 
so kamen die Götter eigentlich zu uns, und die löbliche Geographie 
stand auf dem Kopfe. Und es sah wirklich so aus, als ob wir 
die wandernden Götter bewirteten und ihnen zu Ehren Schmausereien 
und Gelage veranstalteten, da wir in den Zwölf Nächten das 
Julfest feierten, den Juleber und das Julbrot opferten und die 
Gottheit gegenwärtig war und im Bilde au der Mahlzeit teilnahm. 



183 



Wir hatten indessen unsere eigenen Götter und unsere eigenen 
Ansichten von der göttlichen Rundreise, die nicht etwa aus den 
griechischen entsprangen, sondern denen der Griechen parallel 
liefen. 

Vermntlich haben die Germanen ihrerseits geglaubt, dass 
die Götter zur Zeit der Wintersonnenwende in ein mythisches 

Land verzögen und am 6. Januar wieder bei ihnen vorüher und 
liach Asgard kämen. Sie empfingen sie also bei ihrer Heimkehr 
so feierlich wie die Griechen, begrüssten sie mit Gesang und 
Tanz, mit Freudenfeuern und gaben ihnen Opfermahlzeiten und 
Bankette, zu denen die Götter förmlich eingeladen wurden, und 
an denen sie teilnehmen sollten; man war glücklich, wahr* 
zunehmen, dass sie etwas genossen hatten. Davon ist aber bei 
den Germanen nachgerade nur die Ei inn^ l unp; an die Ilückkehr 
der Hiniiiilischen lebendig geblu liPii, die Reise nach Athiopier- 
land; wie sie üomer kennt, der eigentliche Anlass ihres Besuchs, 
fällt weg. Wir haben schier vergessen, wo die Götter das 
Solstitium über gewesen sind, und wir sehen sie nur im Lande 
eintreffen und durchkommen, als ob sie gar keinen anderen Zweck 
hätten, als bei uns herumzuziehen, unsere Fluren zu segnen und 
uns das Glück zu bringen. Unsere Götter verreisen zu Weih- 
nachten nicht mehr, sie koiiiiiieii nur vom Hininiel herunter, 
Wodan reitet auf seinem Schimmel über Land, i^'rau Befchta 
und Frau Holle ziehen wie gute wohlthätige Frauen durch die 
Lüfte und umwittern Hain und Flur mit ihrem allbelebenden 
Odem. Bäumeherh schlaf nicht j Frau Holle kommt! — so hiess, 
es, heisst es in vielen Gegenden noch jetzt in dieser hohen Zeit: 
die Obstbäume werden gleichsam geweckt, sie sollen bereit sein, 
die Himmelskraft zu empfangen, die jetzt abermals ausgeteilt 
wird, den grossen Geiste der von neuem in sie fahren will, ge-, 
btthrend aufzunehmen, der Seele, die mit dem Lichte wieder- 
geboren wird, Thor und Thür zu öffnen. 

Heilig, heilig, heilig war diese Zeit: im Heulen des Sturm- 
winds, im Ächzen des Walds, im Uhurufe glaubte man die 
Stimme Allvaters zu vernehmen, der mit seinem Geisterhaufen 
auf dem 81eipDir durch die Himmel brauste — fortwährend und 



184 



tiberall konnte man den allerhöchsten Herrschaften oder wenigstens 
einzelnen Schwarmj^eistern und Nachzüglern hegegnen . man 
musste immer auf der Hut sein. Denn den Göttern zu begegnen, 
taugt nicht, das ist eine alte, auch anderwärts gemachte Erfah- 
mng, die tief im Ursprung aller Gottesbegriffe wurzelt; aber 
darum werden die Götter nicht etwa, schon lange nicht mehr, 
al8 Unholde angeselm, die man auf alle Weise paralysieren 
müsse. Mit Spuk und Ranch hat die Zwölf ächte erst das 
Christentum angefüllt, das den Wodan in einen Wilden Jäger 
und sein Gefolge in ein Wütendes Heer verwandelt, den Segen 
in Fluch verkehrt und die hochdichterische Götterlehre unserer 
Vorfahren auf das klfiglichste entstellt hat Keine Spur weist 
darauf hin, dass die Heiden an einen yerderblichen Einfluss ihrer 
alten Götter geglanht und sich zu ihnen eines anderen versehen 
hätten als des Besten. Wenn sie die Götter scheuten und es 
nicht wagten, ihnen ins Angesicht zu sehen, so geschah das 
mehr aus Ehrfurcht als aus Furcht. Freilich hielten sie es für 
gai, sich in den Zwölf Nächten ruhig ku yerhalten; es sollte 
kein Geräusch gemacht» kein Tisch gerückt, keine Thttre zu- 
geschlagen werden, und zwar in der ausgesprochenen Absicht, 
alles zu vermeiden, was die Aufmerksamkeit der himmlischen 
Kavalkade erregen könnte. Man wollte sich nicht verratoTi. den 
Wolf nicht rufen. £$ hatte aber noch einen anderen, vernünf- 
tigeren Grund. 

Stille, Buhe, ein gesammeltes Gkmüt ziemte sich ja schon 
deshalb, weil es eine Festzeit, eine solche aber, im urzeitliohen 
Sinne, dadurch ausgezeichnet war, dass der Mensch das Terrain 

einem Geiste überliess und zu ( Jiuibten eines Geistes auf den 
Nahrunf!<?erwerb, ja. auf die iSalirung selber verzichtete. Er 
machte sich Ferien, weil der Geist auf eine Weile Herr sein, 
Hirsche jagen und die Früchte des Landes geniessen sollte: auf 
dieser grofsmütigen, berechneten Entsagung beruht eigentlich die 
Gewohnheit des religiösen Fastens und der Feiertagsheiligung, 
wenn auch nachgerade die Sabbatruhe als die Hauptsache und 
um ihrer selbst willen als Pflicht erschien ; der Begriff der Feier 
ist ja aus dem der Ferien entstanden. iSun^ das Julfest war 



7. Die Zwölf Nachte. Das Schreckenliuten. 



gleichsam der grosse Sabbat, der Sabbat der Sabbate, an dem. 
alle Arbeit rahte — an dem nicbt gebacken, nicht gedroschen, 
überhaupt nichts vorgenommen wurde. Es musste alles still sein» 
In der stillen, heiligen Nacht gehörte die Welt den Göttern. 

Und es ist charakteristisch, dafs j]^erade solche Arbeit ruhen sollte, 
die an die Thätigkeit der ebenfalls aiigeiiblicklich feicrndcü Sonne 
erinnerte. Die Sonne, die sonst so fleilsig im Meere badete, wusch, 
sich in den Zwölf Nächten nicht, daher sie auch so trübe und 
schmutzig aussah: so sollte auch in den Zwölf Nächten nicht 
gewaschen werden, ein noch heute bekanntes, in Kraft stehendes- 
Verbot. Das Sonnenrad drehte sich nicht, die glänzende Scheibe, 
mit der man die Sonne verglich, blieb in den Zwölf Nächten 
unbewfglicii : so sollte anch j^des andere Rad stiiksteiin, kein 
Spinnrad, kein Wagenrad, kein Mühlrad gehen. Gesponnen durfte- 
80 wenig werden wie gewaschen; die Mägde, die Werg am Rocken 
hatten, wurden von Frau Berchta hart gestraft. Man hat bisher 
das Wort Jul aus dem aldnordischen Hjd und dem englischen 
WIteel und das Jul fest als Radfest erklärt, und es ist keine- 
Frage, dass: Radlest eine angemessenere Bezeichnung abgiebt 
als das fröhliche Fest, das man jetzt daraus machen will. 
Brennende Räder werden an beiden Sonnenwenden die Berge 
hinabgerollt. Wie dem auch sein möge: jedenfalls gab die Sonne 
den Ton beim Julfest an, sie eröffnete gleichsam, indem sie feierte,, 
den Weltfeiertag und bewog alle Welt, ihrem Beispiele zu folgen 
und die Arbeit einzustellen. 

Im Christentum ist der Heiland das Licht der Welt geworden;, 
die jährliche Wiederkehr der Sonne hat sich in einen Advent, 
das Radfest in ein Christfest und Weihnachten in ein Epiphanias 
Terwandelt, an dem nebenbei bloss noch ein Komet erscheint. 
Ein fremder Zug, einerseits von Mystik, anderseits von Gespenster- 
furcht und Teufelei ist damit in die Zwölf Nächte gekommen. 
Denn es waren die alten verfemten Götter, die jetzt wieder Macht 
hatten, die nichts Gntf s im Schilde führten und an die niemand 
mehr glauben durfte — es war ein Graus, es war der Tod, der 
auf einer fahlen Mähre sass, es war das wütende Heer, das ins- 
Gethal und Gebirge brauste und dem der getreue Eckart mit. 



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j86 



III. Der Kampf der Lebendigen mit den Toten. 



«ioem weissen Stabe voranschritty die Kinderwelt zu warnen. 
Kinder, die das Unglück hatten, während der Zwölf Nächte ans 
Licht zu kommen, galten selbst für Zwdlftengeister, da die am* 
gehenden Dämonen die Gelegenheit benutzten und schnell in sie 

fuhren: in Griechenland hiessen sie Kalihnntmren, wir haben uns 
bereits, bei den Vampiren und den Alpen, mit ihnen befassen 
müssen. Die Kirche erklärte später diese Erscheinung rationa- 
listisch ; sie schob die schlimmen Eigenschaften der Weilmachts- 
kinder daranf, dass sie die Mutter nach menschlicher Berechnung 
zu Mariä Verkündigung, am 25. März empfangen hahen müsse, 
also an diesem heiligen Tage üppig und unenthaltsam gewesen 
sei, ein fiugenscheinlich untergeschobener Grund. Der wahre 
Grund war ohne allen Zweifel der alte Glaube an die Seelen- 
wanderung. Mit andern Worten: die alten Götter wurden im 
Christentum allmählich wieder zu dem herabgedrttckt, was sie 
vielleicht ursprünglich gewesen waren, nämlich zu bösen Geistern ; 
und diese bösen Geister, diese Dews, diese Kalikantsaren trieben 
in den Zwölf Nächten wie in der Johannisnaclit ihr Wesen, sie 
unterhielten sich so^^ar während der Christmetten mit dem lieben 
Vieh, in diesen beiden Zeiten waren sie ganz toll, ganz aus Kaud 
und Bandy ganz wütend. 

Dem musste mit aller Kraft entgegengetreten werden. Feuer, 
alte Symbole der Sonne^ loderten jetzt^ eben die Sonnengötter 
zu seii^'en und zu brennen; die meisten Kunstgriffe der Mitt- 
bomiiu'i nacht konnten auch im Mittwinter angewendet werden, 
alle früheren Vortel galten. Z. B. das Zählenlassen, das Ein- 
hegen, das Ausräuchern — mit dem letzteren kamen auch die 
Blumen und die Zauberkräuter wiederum zur Geltung, nur dass 
man in dieser Jahreszeit keine frischen Blumen hatte, sondern 
sich mit getrockneten Blüten, wohlriechenden Hölzern, Harzen, 
Myrrhen und den Wohlgerüchen Arabiens helfen musste. Man 
warf sie auf glühende Kohlen, und verbrannte sie: Wolkea von 
Weilirauch stiegen auf, um in den Kauchnächten Ställe und 
Häuser vor denen zu schützen, die einstmals Ställe und Häuser 
gesegnet hatten. Die Sturmglocke wurde gezogen, um alle Wesen 
zur Hilfe herbeizurufen und zur Abwehr des feindlichen Ein- 



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7. Die Zwölf Nächte. Das Scbreckenläuten. |87 



falls zu bewegen — der Hahn, der alte Kämpe des Lichts gegen 
die Mächte der Finsternis, krähte die ganze Nacht, die Dämonen 

jü die i^'luclit zu schlagen — in dem württembergischen Dorfe 
Wurmlingen bei Rottenburg am Neckar geschah etwas iu den 
Zwölf Nächten, was seitdem sehr überbandgenommen hat. 

Hier wurden die Glocken gezogen^ nicht etwa nm die 
Ohristmetten einzuläuten, auch nicht bloss um Sturm zvl läuten. 
Sondern in der ausgesprochenen Absicht, die umgehenden bösen 
Geister durch das Geläute selbst wie durch Schreckschüsse zu 
schrecken und abzuhalten. Es war das sogenannte Sclirecken- 
läuten, bei dem dreimal abgesetzt ward — die verfluchten Po- 
panze konnten'» nur bis zum dritten Gang aushalten, mit dem 
dritten Schreckenläuten war ihre Kraft gebrochen. 

Auf den echten chinesischen Tamtams stehen gewöhnlich 
yier Verse aus einem buddhistischen Psalm, ungefähr des Inhalts: 
JEin Laut der goldnen Dora (wie man das Instrument in Japan 
nennt) . . . Ein Laut der ffoldnen Dora versetzt uns i/is Paradies — 
zwei Laide machen uns überreich — drei Laute erheben alle Ge- 
scJi^fe zu den Göttern: deshalb ist nihts so vortrefflich und so ge- 
segnet wie die Dora, Umgekehrt: Ein Tamtamscblag macht die 
bösen Geister stutzig — zwei Schläge rauben ihnen die Besinnung 
— drei Schläge jagen sie zum Teufel in die Hölle zurück. 

Durch Pauken und Trompeten, Schreien, Poltern, Zanken 
und jegliche Art von Lärm werden die alten Laster wie die 
wilden Tiere vertrieben und betäubt; Trommeln auch bei Be- 
schwörungen gebraucht. 

Das Tamtam ersetzt in den buddhistischen Klöstern und 
auch Tielfach in Ostindien die Glocken. 

Ob nicht das Läuten überhaupt von Haus aus ein Sehr ecken • 
läuten gewesen ist? Ein Mittel, die falschen Götter fernzuhalten, 
erst im Anschluss daran ein kirchliches Signal? Dem Lärm 
analog, den die Malaien bei ihren Begräbnissen mit dem Tam- 
tam zu machen pflegen, um die Seele des Verstorbenen davon- 
zoscheuchen? — Dann stehlen sie sich nach Hause, um weg zu 
sein, wenn die Seele etwa wieder Mut fassen und horchen sollte, 
wie auch bei uns die Leidtragenden still heimkehren. Vivo» voeo. 



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188 



Mortuot plango» Ftäffura franko, lautet die Inschrift der GMocke 
auf dem Münster zu Schaffbausen, die Schiller als Motto tfher 

sein Lied von der (jlocko setzte; das Breclien der Blitze bezieht 
sich auf den Aberglauben, dass man durc)i Glockengeläute Ge- 
witter vertreiben könne. Was hindert uns iür die Gewitter die 
Geister, die thatsächlich daran schuld, und für die Geister die 
Toten einzusetzen, die wieder mit ihnen identisch sind? — Ich 
rufe die Lehendigen zum Streit und hin das tonende Erz, das 
sie gegen die Toten schwingen, Vims vocOf Moriw» peäo hätte 
es heisöeu können. 



nr. Kultus der Seelen, ilirer 
Wolmsitrse und Petisclxe. 

L Das Haus and die Hausgeister. 

Der Kenscbenleib ein Haus, in dem die Seele wohnt nnd das sie gelegenttioli 
▼erlässt — anoh die Hausbewohner fallen in der Sprache mit dem Haus 
rasammen, die Familie wird Hans, die Umgebung des [Pursten Hof, die Fran 
FrauenzimiDer genannt» doch beruht das auf einer logischen Verschiebung 

— wir sprechen davon, dass der Organismus selbst als ein gegliedertes Bau- 
werk betrachtet werden kann — umgekehrt lässt sich das Haus wieder als 
ein Mensch, als eine Statue ansehn — es hat Kopf, Gesicht und Stirne, 
-flOgar Augen und Ohren — wenn es als ein Vogel betrachtet wird, Flügel 

— das SnhiÖ' ein auf dem Rücken schwimmendes Weib — das ist aber nicht 
bloss äusserlicb riii Bild des Menschen, sondern auch in kulturhistorischem 
Sinne ein Bild der Seelen, die es erfüllen — es ist heilig und ein Gegen- 
stand des Kultus: die Tliürpfostea, der Herd, die Hölle — bitte, setzen Sio 
sich, Sie nehmen uns ja sonst die Ruhe mit! — die Braut wird den Laren 
und Tenaten des Bräutigams Uberf,'eben, jeder neue Ankömmling den Haus- 
geistern, das ist : den Verstorbenen vorgestellt — auch das neugeborene Kind 
wird vorgestellt — wenn es einmal als alter Manu im Hause gestorben ist, 

wird man es auch begrüssen — ein gottvolles altes Haus. 

Was für eine grosse Sache, welch ein wichtiges Besitztum 
ist doch ein Hans l — Mit dem Hause, sagt Lorenz von Stein, föngt 
«ine neue Gestalt der Weltgeschichte an. Es hat hauslose Völker 
gegeben, die mit elementarer Gewalt, wie ein Sturmwind tiber 

die Erde dahingebraust sind, Reiche gestürzt und Reiche aui- 
gericlitet haben. Aber erst wenn die wilden Jäger und Reiter 
heimisch geworden sind, erst wenn sie sich einen eignen Herd 
gegründet haben, sind auch ihre Reiche von Bestand gewesen. 
£2rst an dem Feuer der Vesta reifen die Begriffe des Eigentums, 
der Familie^ des Staates. 



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190 IV. Kultus der Seelen, ihrer Wohnsitze und Fetische. 

Und welch eioe eigne Sache isfs erst um ein altes Haiu! 
Wie ToUer Erinnerungen, yoller Geheimnisse, voller G-eschichten 
steckt es ! — Solch ein 2anher liegt in ihm, dass wir unsero 

besten Freund so nennen und dass wir diese kleine Welt, den 
Menschen, nicht treffender bezeichnen zu können glauben, als 
wenn wir sie mit einem Hause vergleichen. 

Wie geht dir*s, altes HauB? Altes, fideles Haus! Du hast 
immer Einfölle wie ein altes Haus! Dich wiederzusehen, bringt 
mich ganz ans dem Häusdien! — , 

Wer brauchte solche Vergleiche nicht. Der Mensch ist ein I 
Haus. Die Seele wohnt im Leibe wie in einem Häuschen. Und 
sie kann wohl einmal aus^'e^augeii und aus dem Häuschen sein. 

Im Schlafe ist sie weg, im Traume ist sie nicht recht 
derheeme, in der Begeisterung schwärmt sie draussen herum 
— cb ich im Leibe oder ctusaer dem Leibe gewesen hin, weisa id» 
nieht, Gott weiss es^ sagte Händel, als er sein HaUeluja fertig 
hatte — daher nennt man einen solchen Znstand: Ekstase oder 
auf deutsch: E'itznrkuiKj. 

Der Mensch ist ein Haus, Schon die alten Ägypter hatten 
ein Grosses Haus, das war der Pharao; dieses grosse Haus 
bedeutete von Haus aus die Residenz des Königs in Memphis ' 
oder Theben. Es war nicht so gemeint wie unser Grosses Tkt 
oder wie unser Alles Haus, Denn wenn wir das Ahe Haus an- 
treffen, so denken wir nicht an das Haus, in dem unser Herz- 
hruder wohnt. Er selbst ist unser Haus. 

Pharao war ein Ausdruck wie etwa Hohe Pforte oder wie 
Mikado^ was die Hohe Pforte in Japan ist {KadOy Thor, M, die 
sogenannte Achtungsvorsiibe). £s giebt eine Menge solcher Titel 
im Orient, wo sich der Dturan mit dem Staatsrat und das SeraiSi . 
sogar mit den Frauen des Sultans zu decken pflegt und die | 
Beobachtungen zur Kennfniss des Palais gelangen; schon in der ! 
Bibel ist Thor gleichbedeutend mit Regierung. Aber wir selbst 
sind doch an diese logische Verschiebung so gewöhnt, dass wir 
gar keinen Anstand nelimen, den Fürsten, die fürstliche Familie 
und die fürstliche Umgebung den Hof zu nennen, und eben Haus 
eine alte Verdeutschung Ton Familie abgiebt. Frauenzimmer, 



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1. Das Hans und die Hausgeister. 191 



Bursche, Kamerad sind ähnliche Sprünge der Phantasie, die gleich 
wieder rückwärts ausgeführt werden, wenn's bei einer Feaersbmnst 
heisst: Der Po^iot brennt. 

Ganz anders bei den gemütlichen Bildern im Stile der 

obigen. Das alte Hans, das wir in die Arme schiies.seii, er- 
scheint uns selbst wie eine Art wohlgefügtes, aus gutem Holze 
gezimmertes Gebäude — es mutet uus an wie eine Schutzküite 
in den Alpen, wie ein ünterkunftshaus, das von einem guten 
Geist bewohnt ist, bei dem es sich sicher ruht. Fiducit, Fiducit ! 
— £twas begünstigte Tornehmlich die seltsame Phantasie: die 
Beobachtung, dass der Mensch nachgerade gleich einem Bau- 
werke zerbröckelt und reparaturbedürftig wird ; d:iss er eine Zeit- 
laug steht und nach Ablauf derselben stückweise einfällt wie 
ein Haus, das zwar länger steht als ein Mensch und viele 
Generationen überlebt, aber am Ende doch auch von der Bild- 
Mche verschwindet Daher vergleicht mau am liebsten einen 
alten Mann mit einem alten Hause. Das ist am Ende das 
Schicksal alles Irdischen, selbst die Berge weichen und die 
Hügel fallen hin : aber ein Haus macht unter den Werken der 
!Natur in hervorragender Weise den Eindruck eines Ganzen, 
eines Organismus. Es hat etwas dem Menschen Verwandteres 
als selbst eine Dampfmaschine, obgleich eine Lokomotive seinem 
Wesen nocli weit besser entsprechen würde. Haus ist her* 
gebracht. Zumal die Studenten pflegten sonst diese Anschauung: 
die ehemaligen Mitglieder ihrer Verbindungen, die gleichsam 
wie die Verbindung selbst erschienen und immer neue Füchse 
dazubekamen, nannten sie im Gegensatze zu dem jungen Nach- 
wuchs: ihre alten IJäi(sei\ Wenn einer recht lange studierte, so 
biess er ein bemoostes Haupt; wenn er endlich abgegangen war; 
ein altes Haus. Von da war es nur noch ein Schritt bis zum Wackeln 
und zur vollständigen Kuine. Jetzt sagen sie vornehmer und 
fiirblos: Alte Herren, 

Der Vergleich ist volkstümlich; er wird bis ins einzelne 
ausgeführt und bringt es mit sich, dass wir vom Bau des 
menschlichen Körpers, vom Aufbau des Organismus, von der 
inneren Erbauung fast ohne Metapher reden. Der Kopf ist das 



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192 



IV. Kultas der Seelen, ihrer Wohnsitee und Fetische^ 



Dach — man »ttsiot einem aufs Dach vielleicht noch in eigent- 
lichem Sinne, sonst schwerlich. Wer heftig ist und jähzornig auf- 
lodert, der hat Feuter im Dache; wer nicht recht bei Verstände 
ist: einen Sparren zu vid. Unverblümt %2i%i man auch: dost & 
hei ihm nicht riehtiff im Oherstübehen sei; der Kopf stellt in dem 
lebendigen Hause gleichsam das obere Stockwerk dar. Das 
Vordergebäude ist der Bauch — wenn einer stark ansetzt, 
so sagen die Franzosen: il bdtit sur le devant] als ob die Bau- 
materialien hier einmal ungleichmässig verteilt und an einer 
falschen Stelle aufgehäuft worden wären. Umgekehrt scherzt 
-das Volk bei einer Entbindung, das» das Haus oder der Back- 
ofen eimiefallen seif mit vielen Variationen. Von den übrigen 
iuiumliclikeiten, die es kennt, dem Hintergebäude und der Hinter- 
thüre, den Kammern, den Gängen, der Wasserleitung im Hause 
will ich schon gar nicht reden. 

Wenn es aber ein Leichtes ist, aus dem edlen menschlichen 
Leibe ein komplettes Haus herauszufinden, so muss sich wohl 
auch umgekehrt das Haus als ein Mensch ansehen lassen. 
Friedrich von Schlegel hat das geflügelte Wort von der ge- 
frorenen Musik gescbaffen. Die Architektur erscheint ihm als 
eine gefrorene Musik. Warum nicht lieber als ein gefrorenes 
Menschenangesicht? Als ein erstarrter Biese? — Das Haus 
steht da wie eine Marmorstatue« 

Man hat freilich auch Berge mit Biesen und Statuen ver- 
glichen und im Athos Alexander den Grossen, im Traunstein 
Ludwig XVI., im Montblanc «Napoleon wiedererkennen wollen. 
Ja, jeder Berg ist gleichsam ein steinernes Mannl^ wie das 
Ettaler Mannl oder das bei Lofer. Ein Berg hat ina eigent- 
lichen Sinne Hand und f^uss; und wenn er etwa keine Hand 
hat, so hat er doch Kippen, ein Haupt, einen Kücken und einen 
<Scheitel. Beim Haus sind diese Vergleiche noch mehr angebracht ; 
wenn auch der Mensch nicht gerade beim Bau des Hauses 
Modell gestanden bat, vorschweben mochte dem Erbauer die 
Menschengestalt bewusst oder unbewusst. Man kann ein Haus 
gleichsam «ezieren wie eine Leiche und alle Bestandteile eines 
£örpers, bis auf das Grerippe, die äparreu, darin entdecken. 



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I 



1. Das Haus und die flausgeister. 193 



Aucli (las Haus besitzt einen Kopf. Es besitzt sogar zwei 
Köpfe wie ein Jauus, weil es einen doppelten Griebel hat, 
Giebel ist nlinilich gar nichts anderes als Kopf, das alte inclo- 
germa^Bche Work für Kopf. Giebel gilt für urrerwandt mit 
dem griecbisclien Kstpah^, Die gewöhnlichsten architektonischen 
KtinstansdHicke, wie sie jedermann kennte fliessen aus der einen 
GruiHlaiifecliaiiiing, dass die dreieckige Wandiläche an der Schmal- 
seite eines (jubäudes, welche durcli das zweiseitige Dach ent- 
steht, der Kopf des Gebäudes sei. 

Wie viele Fenster hat das Haus in der Front? Wie gefällt 
Ihnen die Fa^ade des Berliner Doms? Das Frontispiz der Wal- 
halla ist dem Parthenon nachgebildet ! — Dass die Front eigentlich 
die Stirne, die Fa^ade die Gesichtsseite bedeutet, kann uns 
Karlchen Miessnik bestätigen. Wenn aber der berühmte Quartaner 
Tenueiiien sollte, dass d;is nur eine poetische IJjiischreibung für 
die Vorderseite sei, so wäre das kein Karlchen Miessnik. 

Diese Ausdrücke hatten früher einen eigentlicheren Sinn 
und eine höhere fierechtignng als heutzntage; jetzt sind sie ver- 
blasst* Die Gesichtsseite eines Hauses war ausschliesslich die 
schmale oder die Giebelseite, der Giebel der Strasse zugekehrt 
und hier der Eingang. Von jeher haben die Häuser der Menschen 
und der Götter so gestanden, weil das gewöhnliche Dach, das 
Satteldach, aus dem Zelte hervorgegangen ist und das Gebinde 
oder das Gestänge den natürlichen Eingang eines Zeltes bildet; 
das Dach war nämlich ursprünglich das ganze Haus, erst aU- 
mählich wurde es erhoben und auf Seitenwände gesetzt. Auf 
dieser Anordnung beruht eben die antike Vorstellung von einem 
Januskopfe, denn der Jaiius war weiter nichts als ein Schutzgott 
und Genius der Thüren {Januae). Auch das altdeutsche Haus, 
seitdem überhaupt von einem Hause die Rede ist, grüsste gleichsam 
auf die Strasse; es stand wie ein Wirt am Wege und lud die 
Torübergebenden ein, es hatte seinen dreieckigen, spitzen, hohen 
Kopf, man konnte ihm ins Gesicht sehn, die Dacbfiächen, die 
oben im Firste zusammenstiessen , uiurahmten seine Stirne. 
Regelmässig war im Mittelalter der Giebel eines Wohnhauses 
nach der Strasse zu gerichtet, erst die Üenaissance, die grosse 

Kl«inpaiil, Di« Labendigeo und di« Tot«n. 13 



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194 IV. Kultus der Seelen, ihrer Wohnsitze und Fetische. 



Paläste schul, brachte eine andere Mode auf; die veränderte 
Stelhiiig des Giebels ist ein Umstand, der die modernen Städte 
von den mittelalterlichen sehr zu ihrem Nachteil unterscheidet« 
Heutzutage sehen uns die städtischen Häuser nicht mehr an, 
sie haben sich gleichsam herumgedreht und die Jäichtung der 
Menschen eingeschlagen, die durch die Strasse rennen; gleich 
ihnen scheinen sie Eile zn haben und in geschlossener Beihe 
wie eine ilerde Schafe am ßürgersteig hinzniaufen. Vom Kopfe 
sieht man gar nichts mehr, man sieht nur ihre Flanke, diese ist 
das, was man jetzt gedankenlos: Front und Fa^ade nennt. Mag 
sie einen halben Kilometer lang oder wie in London, wo jede 
Familie ein eignes Haus bewohnt, nur zwei Fenster breit sein, 
niemals ist es doch ein Haus, sondern nnr eine Mietkaserne. 
Aus alter Liebe werden nun die Giebel, wenn die Häuser der 
Länge nach in der Gasse stehen, an den Seitenflächen angebracht, 
oft so, dass aus der Mitte eine Giehelseite herausspriugt. das 
Hauptgesims durchbrechend , wodurch dann die Perm eines 
Kreuzdaches entsteht — auch Fenster und Thüren werden mit 
Ziergiebeln versehen, die den einförmigen Massen ein indiyidaelles 
Gepräge geben sollen. Wie neue kleine Giebelhäuser, selbst 
wieder mit einem Satteldache bedeckt, stehen die Dachfenster 
über dem Hauptsimse — die Giebelwand des kleinen Hauses 
bildet eben das Fenster. In jenem Falle werden die Häuser 
gleichsam vierstirnig wie der Janus quadrifrons im Velabrum 
zu Eom* Mit den unzähligen Zier-, Thür- und Fenstergiebeln 
sehen sie aus wie die vielköpfigen indischen Gottheiten. 

Zugleich werden sie wie Argusse mit Augen übersät. Die 
Fenster eines Gebäudes mit xVugen zu vergleichen und es wie 
eine Hera mit Ochsenaugen zu versehn, ein einfenstriges Zimmer : 
Cyklop zu taufen, ist eine naheliegende Phantasie; unsere Vor- 
fahren haben den Begriff des Fensters überhaupt erst auf diese 
Art gewonnen. Bei den alten Germanen war über dem Tag uad 
Nacht brennenden Herdfeuer im Dache eine runde Öffnung, durch 
die der Bauch abzog» das Raucbloch, angebracht. Dieses nannten 
sie das Windauge, eine Bezeichnung, die sich in England. 
Norwegen und Dänemark bis auf den heutigen Tag erhalten iiat 



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1. Dm Haas nnd die Haiugeistw. 195 



und auf die Lichtöflfuungen in den Fensterwänden übertragen 
worden ist. Das englische Fenster heisst Winebw^ das dänische: 
Vmduit; auch die Goten sagten Angenthiir (ÄuffadaurS), Die 
Deutschen dagegen haben gleich den Hollandern und den Schweden 

dem lateinischen Fenestra nicht widerstanden, sondern mit den 

Mauern^ den P/orten und den Zle<ieln auch Fenster angenommen. 

Alles was ins Maurerhandwerk schlägt, ist bekanntlich bei uns 

lateinisch, weil wir erst von den Welschen mauern gelernt haben; 

unsere nationale Baukunst war der Holzbau. Die ersten steinemm 

Häuser stellten die Gotteshäuser dar; und so mögen auch die 

ersten Fenster Kirchenfenster gewesen sein. Die alten Augm der 

»• 

Wohnhäuser wurden durch Vorhänge und Teppiche, Ölpapier und 
Horn verschlossen, wie das bei armen Leuten jetzt noch bisweilen 
vorkommt. 

Haben etwa die Häuser auch Ohren wie die Wände? — 
Bekannt ist das Ohr des Dionysius in den Steinbrüchen zu Syrakus, 
jene durch ihre Akustik ausgezeichnete Grotte^ die als Gef&ngnis 
diente und Uber die sich der Tyrann legte, um die Staatsrerbrecher 

zu behorchen ; auch dass Meister Bernini seinerzeit dem Pantheon 
des Agrippa, das ein richtiges Windauge hat, noch Eselsohren 
angesetzt hat, weiss man. Doch das sind zum Grlück nur Kurio- 
sitäten, keine notwendigen Organe ; viel richtiger könnte man die 
Telephonanlagen Ohren der Häuser nennen. Dagegen hat der 
Organismus des Hauses noch etwas ganz Überraschendes: seine 
Vordergliedmassen sind wie bei den Vögeln zu Flügeln ausgebildet* 
Wenn es sich rechts und links anschliessende Seitengebäude hat, 
so sagt man: es habe Flügel - als ob es wie ein Adler oder 
wie ein Kondor ausgebreitet über dem Abgrund schwebte oder 
sich sausend aus der Höhe herniedergelassen habe oder seine 
Bewohner wie eine Henne ihre Küchlein unter seine Flügel ver- 
sammele. An die Stelle des Menschenantlitzes ist hier ein Gknius. 
getreten, der wie durch einen Zauber gebannt und mitten in 
seiner Bewegung festgehalten wird, wie eine Momentphotographie. 
W^ahrlich, ein kühnes Bild! Kühner als die Phantasie jener 
ßskimos, die einst ein paar englische Schiffe für Kiesenvögel 

hielten! — Windmühleu und SchiÖ'e, die in ihrer Art wirklich fliegen». 

13* 



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196 IV. KultiM der Seelen, ihrer Wobositse und Fetische. 

hat mau von jeher mit Flügeln ausgestattet. Sieh dieses Schiß, 
sagt der arabische Dichter ; erstaune über den wiualerfxiren Anblick. 
£s kommt dem Winde zuvor; es gleicfd einem Vogel, der seiiie Mägel 
9preitet und über das unendliche Meer dahinstreu-ht. Auch abgesehen 
TOD den Flügeln, hat ein Schwan oder ein Kormoran die grösste 
Ähnlichkeit mit einem Schiffe oder umgekehrt ; es ißt bemerkens- 
wert, dass die deutschen Kreuzer vierter Klasse durchweg Vogel- 
uaiiieu führeu, und dass die eiserne Spitze des Vorderstevens, der 
Sporn, im Altertum: Schnabel hiess. Seemäinuhcli ist em andres Bild. 

In den Augen der Seeleute ist das Schiff ein Weib, das auf 
dem Rücken schwimmt. Der Kiel, über welchem das Kielschwein 
liegt, stellt das Bückgrat dar, auf welches die Spanten wie Bippen 
aufgebolzt sind — die letzteren aussen und innen mit einer Haut 
von Bohlen Überkleidet — der Körper des ganzen Schiffes heisst 
der Rumpf, es liat Scliultern und Hinterteil, auf der Spitze des 
Ü^iastes einen Zopf und ein Rselshaupt, und es ist aufgetakelt wie 
eine Scliönc am Sonntag. Wenn die linke Seite des Schiffes den 
herkömmlichen Namen Backbord führt, so ist das vom Standpunkt 
des Steuermanns aus gedacht; er hielt ursprünglich das Bader 
80, dass er der linken Seite den Bücken zuwendete. Das Schiff 
steht dann gleichsam der Quere. Wie tief die Vorstellung vom 
Geschlecht des Schiffes wurzelt, geht daraus hervor, dass in 
Deutschland und England alle Fahrzeuge, die grössten wie die 
kleinsten, als Feminina behandelt werden. Auch das mächtige 
Panzerschiff, ein Hochseeturmschiff, und der riesige Kauffahrer 
ist eine Sie, obgleich jenes auf englisch: Man of War^ dieser: 
Merehantman genannt wird. 

Anatomische Kenntnisse gehören, so scheint es, zum Haus- 
bedarf — hausbacken klingt es gerade nicht, wie das Volk über 
das Haus philosophiert. Ich sehe manches alte Haus, das die ! 
Hände über seinem Griebel zusammenschlägt! — Und doch war das 
alles nur eine Vorbereitung. Was wird man erst sagen, wenn 
man erfahrt, dass das Volk seine alten Häuser geradezu ver- 
göttert und nicht bloss den Menschen im allgemeinen, sondern 
ganz speziell seine Menschen, seine guten Geister, seine verehrten 
und geliebten, heiligen Seelen darin sucht? Dass jedes Haus als 



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1. Dm HauB und die Haaageister. 



197. 



solches ein Eamilienpantheon repräsentiert^ das mehr als irdische 
Augen und Ohren, ein Höheres, ein ünsterhlicbes an sich hat? 
Dass es wie ein steinernes Photographiealbum die Bilder der 
Verstorbenen enthält? — 

Ihr sollt euch keine Götzen machen, noch Bilder, und sollt 
euch keine Säule aufrichten, dass ihr davor anbetet. Im Kultas 
bedeutet Bild etwas anderes als in einer Gemäldegalerie — 
den Sitz des Geistes, den Fetisch, ohne jedwede Kficksicht anf 
Ähnlichkeit. Eine Katze, ein mit Garn umwundener Nagel, ein 
Stein kann ein Fetisch sein. Die Ähnlichkeit kann hinzukommen 
wie bei einem Zeus von Otricoli, der auch ein Fetisch ist; aber 
die Heiligkeit ist nicht daran gebunden. Äusserlich ist das 
Haus ein ungefähres Bild des Menschen, der es bewohnt und 
der es ihm zum Bilde geschaffen hat. Daneben aber ist es auch 
ein Bild, das nichts ahbiidet und nur für den religiösen Sinn 
existiert: ein Bild des Geistes, der es unsichtbar erfüllt wie eine 
Seele und der in ihm Platz genommen hat. Dieses Bild ist 
heilig. Es ist ein Gegenstand des Kultus. 

Was bezweckten wohl die Kinder Israel, als sie beim Aus- 
zuge aus Ägypten die Pfosten ihrer Hausthüren mit dem Blute 
des Passahlammes bestrichen? — Das Blut sollte ein Zeichen 
für den lieben Gott selber sein, damit er die Häuser der Is« 
raeliten unterscheiden konnte; aber wer würde es mit den Zinken, 
die Gauner und Bettler an den Häusern anzubringen pflegen, 
vergleichen wollen. Dass es mit dem Blute des Osterlamms ge- 
macht wird, deutet auf einen uralten Opferbrauch, der sich bis 
in die Zeit des Auszugs erhalten hatte, der nicht mehr ver- 
standen und nun umgedeutet wurde. Die Thürpfosten, die 
Memsen sind den Juden jetzt noch heilig: es werden an ihnen 
kleine Pergamentstreifen angebracht, die letzteren heim Ein- und 
Ausgang mit den Fingern berührt und die Finger dann geküsst. 
Oder man streicht mit den Fingern über die Augen, das l>ringt 
dem orthodoxen Juden Heil und Segen. Vor der Hausthüre 
hatte einmal der Herd gelegen, und indem die Herdstätte zu- 
gleich die alte Grabstätte der Familie abgab, dachte man hier 
die Seelen der Verstorbenen gegenwärtig, sie bewohnten die 



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I 



198 IV. KultiiB der Seelen, ihrer WohDsitie und Fetische. 



beiden Pfosten und die Schwelle. Bei der katholischen Be- 
völkerung der Oberpfalz ist es allgemeiner Glaube, dass die 
armen Seelen Samstags aus dem Fegefeuer in ihr Wohnhaus 
zurttdckehren dürfen und da unter den Thttrangeln zu sitsen 
pflegen; die Braut, die in das Haus ihres Bräutigams einzieht, 
greift aber das Überthür, um sich die Herrschaft in dem neuen 
Heim zu sichern, denn hier wohnen die Seelen. Ihnen i-ndt mit- 
hin auch das israelitische Opfer, das auf die aller« iufachste i 
Weise, durch Bestreichen der Fetische mit dem Blute, dar- ! 
gebracht ward. ! 

Genauso opferte die römische Braute wenn sie am Aheod 
des Hochzeitstages einzog, den Göttern des neuen Hauses, indem 
sie, beyor sie über die Schwelle schritt^ die Pfosten der Thürs 
mit Wolle (Jnfula) umwand und mit Schmalz (^Adep.'^ auillusy 
in älterer Zeit mit Wolfsfett (Ä(lej)s lupimts) bestrich. Sie salbte 
und schmierte die neuen Patrone, wie man zu sagen pflegt — 
der Grammatiker Servias, der einen Kommentar zum Virgil ge* 
liefert bat, meint, von diesem ungere sei die junge Frau dann: 
Uaor genannt worden. Noch heute muss man in Italien manchen 
Personen die Hände schmieren oder salben (ungere le numi a um). 
Sollte das Fett etwa für den Janus, die Cardea, den Forculus, 
den Limentinus und ähnliche Thürgottheiten bestimmt gewesen 
sein, die in dem Verzeichnis der sogenannten Indigetes mitvor- ^ 
kommen? — Damit würden wir in jene Ausserlichkeiten zurück- 
fallen, die wir doch nachgerade Überiranden zu haben glaubten. 
Diese Götter der Thüren, der Thürangeln und. der Schwellen 
sind gleich der Vesta Personifikationen der betreffenden Bauteile 
selbst und thatsächlich mit ihnen identisch, wie der Gott Janus 
mit dem pegiebelten Hause, die Vesta mit dem Herde als solchem 
idenliscli ist. Sie sind mehr Spiele der Phantasie; sie besitzen ' 
nicht jenen hohen Grad von Heiligkeit, dass sich die neuan- ' 
kommende Braut bei ihnen wie bei einflussreicben Gtöniiem 
besonders hätte einführen müssen. Wenn aber hier ursprün^ 
lieh der Altar des Hauses war, wenn hier die frommen Gebeine 
der verewigten Hausbesitzer ruhten, die noch hier walteten und 
den Wohlstand des Hauses mehrten; so kam die Neuvermählte 



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499 



an der Schwelle vor die ehrwürdigen Häupter der fremden 

Familie zu stehn, sie trat gleichsam wie eine Dorothea vor ihre 
■göttlichen Scliwiegereltern, und diesen ihre Ehrfurcht zu bezeigen, 
sie sich geneigt zu machen, hatte sie guten Grund. 

Sie wurde ihnen gebracht wie den lebenden Verwandten. 
Auch bei den alten Deutschen bildete diese Vorstellung eine 
wichtige Hocbzeitsceremonie. Die Braut musste zum Herd ge- 
leitet und dreimal darum herumgeführt, hier den Laren und 
Penaten ihres Bräutigams in aller Form übergeben werden. 
Man nannte das in Niedersachf?en : das Helleiten. das Leiten 
um die ITeJ oder die Hölle. JJieser Ausdruck Uisst uns wie ein 
Fernrohr einen Blick in die lieligion der Vorfahren hineinthun, 
-Noch heute heisst bekanntlich der Platz hinterm Ofen volks- 
mässig: die Hätte, Das ist nicht etwa ein Scherz. Es ist hier 
-nicht etwa so heiss wie in der Hölle. Nein, es ist ein Best der 
uralten Vorstellung^ dass hier unterm Ofen die alten Leute be- 
graben sind. Dass hier unten die Toten ruhen. Sie liegen iu 
der Hölle, das heisst in der Unterwelt, wo sie nicht gestört 
sein, durch vieles Hin- und Herlaufen, rasches Offnen und 
Schliessen der Thüren nicht belästigt werden wollen. JSs ist 
eine bekannte Bedensart, die man einem Gast gegenüber braudit, 
der auf einen Sprung hereinkommti eine Anfrage thut und 
wiederfortwill, ohne sich zu setzen: BUte, setzen Sie Heh, Sie 
nehmen uns ja sonst die Ruhe müt oder : dass Sie uns die Rulie mcM 
mit Mnaustrayen ! — Die Ilulie sollen die Toten haben, die Haus- 
geister unter der Thürschwelle, ihre Ruiie wird durch das ewige 
l^ommen und Gehen und das Thürenschlagen beeinträchtigt und- 
ndtfortgenommen. Seitdem der Herd vom Flur ins Innere des 
Hauses gewandert und an Stelle des eigentlichen Herdes der 
Ofen getreten ist, pflegt man sich die Hausgeister hier zu denken. 
Hier setzt man ihnen zu essen vor; hier opf<M*t man ihnen tag- 
täg'lich Milch und Semmel. Audi der russische Dvmowojj der 
alte Mann, der Starik hat seine Wohnung regelmässig hinter oder 
unter dem Ofen. 

Jeder neue Hausgenosse, auch der angenommene Knecht 
musste bei seinem Antritt den Hausgeistern vorgestellt und ver- 



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200 



IV. Kultus der Seelen, ihrer Wohnsitze und Fetische. 



pflichtet und um die Hd gelMiet werden; in Griechenland geschah 
dies folgerecht auch mit den neugehorenen Eindem. Am fünften 
Tage wurden die Freunde und Verwandten zum Feste der 

Ampliidromien gebeten wi(? zu einer Taufe; sie fand am Abend 
statt, und die Paten kamen wie bei uns mit Patengeschenken. 
Das Haus war festlich geschmückt: mit Olivenzweigen, wenn es 
ein Knabe^ mit Wolle, wenn es ein Mädchen war; es gab auch 
ein Taufmahl. Danach wurde das Kind von der Amme um das 
Herdfeuer herumgetragen und damit den Grdttem des Hauses 
und der Familie vorgestellt: zugleich erhielt es s^en Namen. 
Die Gäste waren Zeugen; sie machten wohl zuguterletzt ein Tänz- 
chen um den Herd. Die Hauptsache war das feierliche Herum- 
tragen des Kindes, davon hatte das Pest den Namen: %ä 'jfi(pidQ6jLua. 

Dasselbe Kind wird, wenn es einmal ausgelebt hat und als 
alter Mann im Hause gestorben ist, ebenfalls unter die Haus- 
götter aufgenommen und mit ihnen begrüsst und angerufen werden. 

Es wird seine Opfer und seine Milch tagtäglich hingesetzt bc- 
koniiJien und an jeder Mahlzeit, an jedem Familienfeste, an 
Freud und Leid des Hauses unsichtbar teilnehmen. Und es wird 
seine Buhe haben wollen und nicht wünschen, dass die Leute 
immer den Kopf zur Thüre hereinstecken und fortwährend durch 
die Stube klappern und ihm die Ruhe mit fortnehmen. 

Solcher Seelen bekuin daa Haus immer mehr und immer 
stärkere, je länger es stand. Und das war dann ein gottvolles 
altes Haus. 

2* Die Haasgeister seigen den Knin des Hauses an. 

Mutualismua im Hause — Tiere, Kinder, Vögel, die eine Katastrophe voraus- 
sehn, zu Propheten und Warnern werden — Erdbeben, Feuersbrünste — 
der Spatz Nasreddins - ■ der Dichter Siinonides, den die dankbaren Dios« 
kuren retten — der dankbare Tote — unsere eigenen Verstorbenen erheben 
ihre Stimme und warnen uns, ihre Gestalt leiht die Phantasie — sie sind 
die Hausgeister, die das Baus segnen und in seinem guten Stande erhalten 
— die £obolde, die Petennänncben, die erscheinen, wenn dem Hause ein 
Unglück droht — das heisit: sie werden unruhig, weil ihr Eigentum in Gefohr 
kommt, und heischen Abhilfe — man stellt sich aber auoh vor, dasa sie die 
Hausbewobnor in deren Interesse aufmerksam machen und ihre Nachkommet» 



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2. Die Hausfreister zweigen den Ruin des Hauses an. 201 



retten wollen — es ist natiirlicfa, das« sie am Sohieksal ihrer Pamilie innigeik. 
Anteil nehmen — Äneas und die Penaten — Wert solcher Warnungsstimmen: 
in schweren Fällen {pflegen sie sa versagen — von der Hand des Babi hat 
dar Schah das ßaby nicht errettet — es giebt keinen Schuta und keine 

Uacht ausser bei Gott, dem Erhabenen. 

Das Zusammenleben der Lebendigen mit den Toten bringt 
den ersteren grosse Vorteile. Es pflegt sich nämlich zwischen beiden 
jenes nicht seltene Verbältnis herauszubilden, das man Mntua- 
lism US nennt. Gar häufig beobachtet man» dass ein Schwacher 
in der ISähe des Starken Schutz sucht und semem hohen Pro- 
tektor dafür Wäcliterdienste leistet. Mit besseren Sinnesorganen 
ausgestattet, verrät er ihm die drohende Gefahr, das Nahen eines 
Feindes, die Unsicherheit des Terrains. Am nächsten liegt die 
Beziehung, in die der Mensch und der Hund getreten ist; eine 
ähnliche besteht aber auch zwischen dem Königstiger und dem 
Pfauen, zwischen dem Silberlöwen und dem Hokkovogel, zwischen 
dem Krokodil und dem Krokodilwächter. Dass dieser kleine 
Vogel das Krokodil vor dem Ichneumon warne, erzählten schon 
die Alten, Die Freundscliaft, welche die Toten, hier einmal die 
Schwächeren, mit den Lebendigen halten, zeigt sich darin, dass 
sie ihnen den bevorstehenden Einsturz des Zimmers melden, das 
sie mit ihnen teilen. 

Auch hierin haben es ihnen die Haustiere vorgethan: sie 
machen sich dem Menschen recht oft durch ihre Vorgefiilile und 
eine Art Prophetengabe nützlich, ohne dass sie etwa die Absicht 
zu nützen hätten und an etwas anderes dächten als an sich. Sie- 
gleichen wohl nur den Batten, die das -sinkende Schiff Terlassen. 
Die ängstliche Unruhe der Tiere bei Erdbeben, die sich vor- 
bereiten, ist bekannt ; nach den Beobachtungen der Neapolitaner 
sind die Hunde und die Esel die ersten, die etwas merken. 
Hierauf kommen die Katzen: sie fangen an sich kläglich zu ge- 
bärden, geraten in wilde Jj'lucht, machen einen krummen Buckel, 
miauen gottserbärmlich, schreckhaft sträuben sich ihre Haare.. 
Selbst die Schweine werden nach Alexander von Humboldt von 
Purcht ergriffen ; die Krokodile im Orinoco, sonst so stumm wie- 
unsere Eidechsen, verlassen den Boden des Plusses und laufen 



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"202 IV. Kultus der iJeelen, ihrer Wohnsitze und Fetische. 



brüllend dem Walde zu. Aach viele Yögel, sogar gewisse Fiscbe 
-wissen sieb vor Unrohe nicht zu lassen. In der Meerenge von 
Jlessina erscheinen vom Mai bis zum Juli regelmässig Züge von 
Sardellen, die man in Sizilien ; Clc'urUl nennt. Wenn sich diese 
Fischchen einmal ausser der Zeit einstellten, so achteten die 
Fischer früher nicht sonderlich darauf. Aber die Erfahrung 
hat gezeigt, dass dann allemal ein Erdbeben erfolgt und noch 
•desselbigen Tags oder die Nacht über zu erwarten ist. Da es 
auch gegen Einwirkungen der ElektrizitÄt empfindliche Wetter- 
üsche giebt, die vor dem Ausbruche eines Gewitters in die Höhe 
steigen, hin und her schwimmen und Luft schnappen, so hat die 
^hatsache nichts Anffälliges. 

Die Vögel, die mit dem Menschen Freundschaft halten, seine 
Oäste und Hausgenossen, die am Fortbestand des Hauses ein 
ebenso grosses Interesse haben wie er selbst, sind in hervor^ 
ragender Weise vorsichtig und auf alle Gefabren aufmerksam^ 
auch auf solche, die dieses Haus allein angehen. Sie gebärden 
sich oft wie Wesen, die klüger sind als ihre Wirte — sie scheinen 
sich oft für uns zu ängstigen und zu sorgen, wie sie denn von 
Jeher für besonders schicksalskundig, für weisend gegolten haben. 
Dass das Haus abbrennen soll, wissen die Störche lange, wenn 
noch alles im Schlafe liegt sie können sich ja auch nicht retten. 
Sie müssen niitverbrennen. Sie kommen lieber in den Flammen 
um, als dass sie ihr Nest verliessen, geradeso wie die Kobolde, 
die auch um das Ihrige besorgt sind, aber es um keinen Preis 
aufgeben, sondern schliesslich mit ihrem Hause zu Grunde gehn. 
Die Bauern behaupten, der Storch mache Feuerlärm und klappere 
ao lange, bis die Leute aufwachen und löschen. Und da das 
Haus nicht bloss von Störchen, sondern nebenbei von allerhand 
kleinerem Geflügel, von Tauben, Schwalben und Sperlingen be- 
wohnt ist, welche letztere sogar oft zwischen die Reiser des Storch- 
nestes bauen: so gerät im Augenblicke der Gefahr die gesamte 
gefiederte Gesellschaft in Bewegung, signalisiert die nahende 
Katastrophe, meldet das Feuer und trägt dazu bei, den sorg- 
losen Mann aufzustören und zu warnen. 

Bekanntlich hatte der am 1. Mai 1896 von einem fanatischen 



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2. Die Hausgeister zeigen den Buin des Hauses an. 2u3 



Babi ermordete persische Suhah einen solchen kleinen Warner 
gehabt. Einem jeden Menschen haben wir seinen Voge!, das 
heisst: sein Schicksal an den Hals gebnndeni sagt der Prophet 
Mohammed im Koran, in der : die Näeh^Uehe Reite überschriebenen 

Sure — Nasreddins Vogel war ein Spatz. Als er im Jahre 1iS89 
wieder in Europa reiste, führte er bekanntlich einen Knaben 
mit sich, der diesmal die Öfieotliche Aufmerksamkeit nicht minder 
erregte als der König der Könige, dessen Banner die Sonne ist* 
Es war der kleine elfjährige Asts Meledschek, der Liebling des 
Schahs nnd nachgerade auch der englischen Ladies, die sich 
mit dem hübschen Jungen mehr als nötig beschäftigten. Dieses 
allerliebste, übermütige, blasierte Baby hatte wirklich eine Rolle 
im Schicksal des Schahs gespielt und ihm Glück gebracht, be- 
ziehentlich das Unglück abgewendet. Der Schah befand sich 
eines schönen Tages am Fasse des Demawend im Elburs, dem 
schneebedeckten Gebirge im Norden von Teheran, das er im 
Sommer aufzusuchen pflegte, auf der Löwenjagd. In einer öden 
Gegend wurde er von einem Gewitter Überrascht und genötigt, 
eine Sennhütte als Obdach aufzusuchen. Diese Hütte gehörte 
einem kurdischen Schäfer, der gerade hier weidete. Der Schah 
übernachtete daselbst; in der Nacht weckte ihn ein lauter Schrei, 
der dicht neben ihm ertönte und dem ein Wimmern folgte. Es 
war das Söhnlein des Schäfers, der kleine obenerwähnte Asis, 
der sich wie im Traume hinundherwarf und grosse Angst aus* 
zustehen schien. Nasreddin konnte sich das Ächzen und das 
Stöhnen nicht erklären; er stand auf, um nachzusehen, was es 
gebe. Kaum hatte er seine Lagerstatt verlassen, als die Decke 
hinter ihm krachend zusammenstürzte. Der verwetterte alte 
Kasten liiitte ihn erschlagen, wenn das Kind nicht gewesen wäre. 
Diese sonderbare Begebenheit machte einen tiefen Eindruck auf 
das Gemüt des Schahs ; von nun an stand es bei ihm fest, dass 
der Knabe zum Schutzgeist für ihn bestellt sei. Denn auch 
dass jeder Mensch seinen Genius habe, steht im Koran, in der 
Sure, die: der Donner betitelt ist und die er am nächsten Morgen 
durchlas — seinen Engel^ der vor ihm hergeht oder ihm folgt^ und 
iier von dem barmherzigen Gott zu seinem 6chutz bestelit ist. Vor 



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204 IV. Kultus der Seelen, ihrer Wöhnritse und Fetiiche. 



Nasreddin ging der Knabe A&is her. Er hätte über den Yor> 
fall anders denken können ; er sah darin niclits als eine wunderbare 
Bettang. Er nahm Vater nnd Sohn zu sich und behielt sie alle 

beide in seiner persönlichen Umgebung. 

Bei seiner Ankunft in der Residenz soll der alte Scliäfer 
einen Sperling erbliikt. vor Freuden in die Hände geklatscht 
und auf kurdisch gerufen haben: Spatz! Spatz! — Deshalb wäre 
ihm der Spitzname Spatz verblieben, und der Knabe dann folge- 
recht der kleine Spatz gewesen. Der Schah hatte also vom 
Gebirge statt eines Löwen zwei Sperlinge mitgebracht, darunter 
einen weissen Sperling, seine beiden Sperlinge entschädigten ihn 
sogrossmütig wie den Dichter Simonides die dankbaren Diuskureu. 

Der berliiiinte Lyriker, Hoffxjet der Skopaden, einer thessa- 
lischen Djuastenfamiiie, die zu Kranuon; im Geutrum Thessaliens 
residierte, erlebte hier etwas recht Ähnliches wie der Schah 
Nasreddin auf dem Elburs. Auf der weiten Ebene, die Krannonnm- 
giebt, altem historischen, erst neuerdings wieder mit Blut gedfingten 
Boden, war ein Rennen abgehalten und das Viergespann des 
gnädigsten Herrn mit Sieg gekrönt worden. Bei dem Bankett, 
das in der Hofburg folgte, sollte nun Simonides ein sogenanntes 
Epinikion, das heisst ein Gedicht auf den Sieger und sein Gestüt 
vortragen. Der Dichter entledigte sich des ehrenvollen Auftrags, 
er pries den Tyrannen, seinen erhabenen Gönner nach Kräften, 
er sagte — Plate nimmt gerade diese Stelle in einem Gesprach 
aufs Eom — er sagte: es sei schwer, ein solchee Master von 
einem Manne zu werden wie Serenissimus, viereckig an Haupt 
und Gliedern, fehllos und unvergleichlich; daneben erging er 
sich, vielleicht etwas breit, im Lobe der reisigen Dioskuren, der 
Rossebäudiger, der himmlischen Turnlehrer, wie sie nackt und 
muskulös, mit erhobenen Armen und geballten Fäusten in Rom 
auf Monte Cavallo bei ihren bäumenden Pferden stehen. Das 
verdross den ehrgeizigen Tyrannen; er wollte nun dem armen 
Schriftsteller bloss die Hälfte des bedungenen Honorars aus- 
zahlen, die andere Hälfte sollte er sich von seinen Dioskuren 
geben lassen. Einzuwenden gab es hier nichts, die Hofschranzen 
hielten sich den Bauch vor Lachen und fanden den Einfall 



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2. Die Hattsgeister zeigen den Ruin des Haiues an. 



205 



köstlich, wahrhaft köstlich — das Dichtcrlein sass ziemlich be- 
trübt und ganz niedergeschmettert wie ein Häutchea Unglück 
' in der £cke, die Butter war ihm yom Brote gefallen, und er 
dachte über FürBtengunBt nach. Simonides boU, nebenbei be- 
merkt» sehr aufs Honorar gewesen sein und zuerst für die Kinder 
seiner Müsse Geld genommen haben. Der Verlust ging ihm' 
nahe — als er plötzlich al)gcruten wurde. Ein Sklave trat ein . 
und meldete: zwei junge Männer, riesige Kerle, stünden draussen 
am Thor und verlangten, den Öimonides zu sprechen. Er ging 
hinaus, sah sich überall um und fand niemand, sie waren schon 
in Rom; aber in diesem Augenblicke erbebte der Palast in 
«einen Grundfesten, die Pfeiler des Bankettsaals wankten, das 
Oewölbe stürzte ein, und unter den ungeheuren Trümmern wurde 
der ganze Koiuiaers und der lausige Skopas selbst begraben. 
Und das war der Dank der Dioskuren. 

Die mächtigen Ruinen bauen 
den Toten, tötend, seihst das (irab, 
und Zpus' orefei'rte Söhne schauen 
auf ihren Sänger mild herab. 

So schliesst ein Gedicht von Johann August Apel, einem 
alten Leipziger Stadtrat, das die Sage zum Gegenstande hat 

und im Echtermeyer mit dem Arion und den Kiaiiichen dos 
Ibykus zusammen |::estellt zu werden pflegt. Die Geschichte, die 
etwa um das Jahr 500 vor Christus passiert sein müsste, wird 
mit vielen Abänderungen erzählt. 

Sine reine Legende scheint es nicht zu sein. Bationalistische 
Erklärer wie Schneidewin Hessen am liebsten in Krannon eine 
Art antikes Dynamit- Attentat geschehn, den Palast des Tyrannen 
thatsächlich unterminieren und den Dichter von den Verschworenen 
aus Mitleid warnen. Zugleicli mc-rken sie die Absicht, den ge- 
feierten Lyriker als unbestrittenen Liebling und SchützHng der 
Götter hinzustellen. Solche Götter hat es nun freilich nicht 
gegeben, und gewiss sind keine Dioskuren vom Himmel herab- 
gestiegen, den Simonides hinauszunifen. Aber in seinem Innern 
könnte ein Gott gesprochen und ihn zum flause hioausgetrieben, f 
dieser Gott aus naheliegenden Gründen gerade die Gestalt der 



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206 



IV. Kultus der Seelen, ihrer Wohnsitze und Fetische. 



Diosknren geborgt haben; das liefe dann auf dasselbe binans, 

wie wenn ihm die Dioskuren wirklich erschienen wären. In den 
Tiefen der Seele wohnen solche Götter, die dann von der Menge 
wie Wunder angestaunt und als Geister behandelt werden. Die 
psychologische Erklärung scheint um so angezeigter, als Simonides 
offenbar zu solchen Visionen neigte. 

Koch ein zweites Sfal wurde der interessante Grieche, die 
beste Knopper, die auf der Insel Keos jemals gewachsen ist, 
▼on einem Geiste belohnt, und zwar für ein gutes Werk, das er 
an ihm im Schlafe verriclitet liatte. Diesmal war er in Unter- 
italien, in Tarent, und im Begriffe, sich nach Sizilien einzu- 
schiffen. Da träumte ihm» er sähe einen nackten Leirhaam am 
Strande liegen und er erwiese ihm die Aufmerksamkeit^ ihn zu 
begraben, obgleich er ihn nicht kannte. Dieser Tote erschien 
ihm dann im Traume wieder und warnte ihn vor der YOrhabenden 
Fahrt, die er denn auch wirklich unterliess. Und zu seinem 
guten Glücke: das Schiff, mit dem er hatte reisen wollen, erlitt 
Schiffbruch und ging mit Mann und Maus zu Grunde. Auch 
diese Geschichte von dem dankbaren Toten, die alle 
Merkmale des Traumlebens an sich trägt, ist altberühmt; das 
Motiv kehrt in einem bekannten Märchen und in Andersena 
Erzählung wieder: der Meisekamerad, 

Es kehrt noch viel öfter wieder. Unsere eigenen Eltern 
sind solche dankbare Toten, die wir begraben haben und die 
uns wiedererscheinen, um uns vor Unglück zu bewahren. 
Das heisst, wir kleiden unsere Beobachtungen und unsere heim- 
lichen Sorgen in die lieben Gestalten unserer Verstorbenen^ 
denen wir gleichsam Haus und Hof zur Obhut übergeben, weil 
sie noch als Hausgeister darin wohnen und an der Erhaltung 
der vertrauten Räume so gut Anteil nehmen wie die Haus- 
tiere und die Hausvögel. Das heisst: wir sind eigentlich selber 
vorsichtig und aufmerksam, aber wir sind's unbewusst; wir 
kommen gleichsam auf Umwegen dahinter und lassen uns ver- 
möge einer stillen Halluzination von unsern Geistern sagen, was 
uns not thut. Wir stehen sehr häufig unter dem Banne un- 
bewusster Eingebungen und Gefühle. Weshalb schrie denn der 



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2. Die Htttaigeister zeigen den Bnia des Hantet an. 20T 



kleine Spatz in der Seitnlsütte auf dem Elburs? — Dieses Kind 
ist zunächst ganz so zu beurteilen wie eine Katze, die ein Erd- 
beben kommen sieht, oder wie die wirklichen Sperlinge, deren 
scharfem Blicke nichts entgeht. Wie im Traume hat es mit- 
seinen Kinderaugen das alte Haus gestreift, das morsche Dach 
BD nebenbei angesehen, den Schaden still in sich aufgenommei^ 
und Uli (rodächtnis behalten, obne ein Wort zu sagen. Das 
ruht nun Iii seinem Innern wie ein Gift: plötzlich ist die Wirkung 
da. Eine namenlose Angst üherfällt den Kleinen, er schreit 
und weckt mit seinem Schrei den Schah, für den er durch seinen 
Schrecken zu einem natürlichen Engel wird. Kinder und Vögel 
sehen in der Stille und in ihrer Einfalt wirklich schärfer als sO' 
mancher weise Mann beim Lampenlichte seiner gepriesenen Ver- 
niint't; sie finden das Verlorene im Traum. Kinder und Vögel, 
selbst des Schutzes so sehr bedürftig, sind schon oft die treuen 
Eckarte ihrer Umgehung geworden. Auf den Angstruf einer 
Amsel lauscht der ganze Wald, unwillkürlich zeigt sie dem Wilde 
die ]K&he des Jägers an. In Kindern und Vögeln ist etwas 
davon, was man sonst Genie zu nennen pflegt. Nun, wenn ein 
Funke von diesem Genie in einem klugen Manne aufblitzt, sO" 
pflegt das Genie nicht mehr unmittelbar zu wirken, sondern sich 
gleichsam eines Dolmetschers zu bedienen. Seiner rei( Ijeren 
Phantasie gemäss und gewohnt, fort und fort mit den Toten zu 
leben und zu verkehren, liebt es der gute Sohn, sich eine Ge- 
spenstei^eschichte auszudenken und seine Gedanken einem für- 
sorglichen Geiste in den Mund zu legen. 

Auch im Leben der Erwachsenen, namentlich der Frauen 
spielt das Visionäre, das Instinktmässige, das unbewusst Beob- 
achtende und Kombinierende eine Rolle. Wir alle werden von 
Ahnungen beherrscht, die nicht nur uns seihst, sondern auch 
unserer nächsten Umgebung zu gute kommen. Auch unter den 
Menschen giebt es Wetterfische, die vor Ausbruch eines Gewitters 
in höchste Angst geraten und sich wie der römische Kaiser 
Claudius unterm Bett verkriechen, im Keller verstecken möchten 
— ■ uucli unter den Grossen giebt es kleine Spatzen, die es wie 
dux'ch- eine Art von Eingebung erfahren, wenn das Haus wackelte 



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"208 IV. Enltns der Seelen, ihrer Wohnsitse und Fetische. 



8ie stehen auf, sie müssen aufstehen, in dem Augenblicke, 
wo das Verderben zum Fenster hereingeflogen kommt — sie 
iialten*8 nicht länger aus, eine unerklärliche und scheinbar un- 
begründete Beklemmung treibt sie hinaus ins Freie, gleich dar- 
auf senken sich die Hauern, und das Unglück ist geschehen. 

Mir fallen gerade einige deutsche Theologen ein, die genau 
80 wie der Schah von Pcrsien auf wunderbare Weise dem Ruin 
eines alten baufälligen Hauses entkommen, aber ihre eigenen 
Engel gewesen sind. Zwei davon haben nur eine Stimme gehört, 
ohne dass die Phantasie weiter thatig gewesen wäre. Johann 
Spangenberg, Superintendent in Kisleben, Vater des dem Be- 
forma tionszeitalter angehörenden Cyriakus Spangenberg, nimmt 
ein Bad. Nun leidet es ihn nicht in der Wanne, halb ange- 
kleidet stürzt er ans dem Badezimmer. Unmittelbar darauf 
stürzt das letztere. Ebenso erzählt Luthardt in seinen Erinne- 
rungen aus Tergangenen Tagen, dass er einmal mit seinem Bruder 
in einem Zimmer zusammengeschlafen habe. Auch hier wieder 
eine einfache Unruhe, die den jungen Mann aus dem Bette und - 
aus dem Zimmer treibt und die insofern Zweck hat, als gleich 
darauf die Decke auf sein Bett herabfällt. Der dritte Fall ist 
um vieles merkwürdiger, indem darin zwar nicht der Gi-eist 
eines Verstorbenen, aber jener Doppelgänger spielt, den wir 
in der Einleitung kennen gelernt und als einen Vorläufer 
des Todes bezeichnet haben. Er betrifft den Professor De 
Wette. 

Er sah sich in Basel selbst, in seinem Schlafzimmer, von 
einer fremden Wohnung aus, die der seinigen gegenüberlag und 
von der aus er gerade in sein Schlafzimmer hinüberblicken konnte. 
Durch die Erscheinung aufgehalten und gleichsam gebannt, entging 
er dem Verhängnis, denn mittlerweile war dort abermals die 
Decke eingestürzt und sein Bett durch einen massiven Stein zer- 
trümmert worden. Man kann hier nicht anders denken, als dass 
bei De Wette wie bei Luthardt und Spangenberg eine unerklär- 
liche, auf zufälligen Heobaclitungen beruhende Angst vorhanden 
war, dass sie sich aber diesmal zu einer ausgesprochenen Warnung 
entwickelte, und dass er diese Warnung, sonderbar genug, dem 



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. 2. Die Haiugeiiter seigen den Rttin des Haubm an. 209 



Geiste zuschrieb, zu dem er, im Falle seines Torles, geworden 
wäre. Die Halluzination verwechselt die Begriffe wie der Traum. 

Wenn man sich selbst einmal ohne reclitd Ursache über eine 
an Bich ganz gleichgültige Handlung Gedanken macht, so steht 
man unter dem Einflüsse dessen, was Sokrates den I^Unon nannte 
und als seinen persönlichen Schntzgeist betrachtete. Jener schwä- 
bis( lit (Geistliche geht aus, um einmal den Plettenberg zu besteipren 
luiil die herrliche Fernsicht zu gemessen. Wie er in Hausen den 
Treppenpfad hinansteigt, macht er sich plötzlich ein Gewissen: 
was thust Du hier ? Hat Dich höherer Beruf oder eitle Neugierde 
hergeführt, ist es auch recht, dass Du auf den Bergen herum- 
kletterst? — Er bleibt stehen, tritt beiseite unter einen Baum, 
um besser zu überlegen, und während er noch mit sich rechtet^ 
rutscht der Berg, die hoch über dem Thale ragende Felsenecke, 
der Edelmannswinkel lost sich, und der bewaldete Berghaug stürzt 
auf eine Länge von einem Jüiometer dicht an ihm vorüber in die 
Tiefe, Was sich der fromme Mann hier sagte, der Zweifel, der 
ihm ungegründeterweise aufstieg, war auch nur eine Form, die 
sein Ahnungsvermögen annahm und mit der er sich selber täuschte. 
Er phantasierte nicht, er träumte von keinem Doppelgänger, der 
ihn warnte, er verfiel nur in ein Sinnen und machte sich selbst 
zu schaffen. Das Resultat war dasselbe: mit seinen Grübeleien 
kam er über die Gefahr hinweg, wie der schlafende Bauer den 
Unhold mit langen Erzählungen von der Zubereitung des Flachses 
hinhält* Zu Hause ist die Einbildungskraft gewohnlich genugsam 
vorbereitet und so geschult, dass es zur Erscheinung eines wirk- 
lichen hilfreichen Geistes kommt. Und zwar keines Doppelgängers^ 
keines Dämons, sondern eines Hausgeistes. 

In einem Turme des Schlosses Neuhaus sind die Treppen 
ausgefault: die Weisse Frau erscheint in dem Turm am hellen 
Mittag, bis die Leute im Städtchen sie bemerken. Auf dem Gute 
Hombruch bei Dortmund ist die Tochter des Hauses angekommen: 
in der Nacht sieht sie eine weisse Gkstalt in eine Ecke des 
Schlafzimmers deuten. Sie beachtet den Vorfall nicht: die 
nächste Nacht wiederholt sich die Erscheinung, das Deuten ist 
dringender. Nun lässt sie die Wand untersuchen, und es hudet 

KUinpftnl, Di« Ji«b«ndigea ood die Toten. 14 



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210 IV. Kultus der Seelen, ihrer Wohntitse and Fetische. 

sich ein Riss. Ein drittesmal macht die Gestalt auf ein Loch 
im Boden, ein viertesmal auf einen Balken, der aus den Fugen 
isty ein fünftesmal auf eine geborstene Säule aufmerksam, die 
über Nacht stürzen kann. Allemal that es ein Hausgeist, ein 
altes Pamüienglied, ein Vorfahr. 

Natürlich; diese Vision entbehrt nicht ihrer Logik. Die 
Vorfahren sind zunächst ängstlich um ihr Ausgedmge, ihren Alten- 
teil besorgt. Geht dieses Haub zu Grunde, so sind sie obdachlos; 
so unstet wie die houierischen Seelen, die (iurch ein Raubtier um 
ihre gewohnte Leibeshülle kommen. JUeshaib klammern sie sich 
an den letzten Rest ihrer alten Wohnung und weichen nicht eher 
als bis alles niedergebrannt, alles yollständig yernicbtet ist. Es 
ist ein furchtbarer Augenblick, wenn sich der Klabautermann 
auf das Steuer seines Schiffes setzt und es zerbricht; es ist wie 
ein zweiter Tod, Die Hausgeister thun also ihr Möglichstes, um 
die Hausbewohner auf die Lücke aufmerksam zu machen, sie 
dringen auf schleunige Reparatur des Schadens, zu dem Ende 
erscheinen sie zunächst. Daran schloss sich nun ganz von selbst 
der Glaube, dass sie auch erschienen, die Ihrigen vor anderm 
Schaden zu bewahren, indem ihnen nicht bloss das Schicksal ihres 
Hauses, sondern auch das ihrer Familie am Herzen liegen musste; 
übrigens war das eine mit dem anderen verwachsen. Als gute 
Grosseltern nahmen diu Hausgeister Anteil an Jb'reud und Leid, 
an allem, was im Hause vorging: so oft den Grafen von Lusignan 
ein Unglück bevorstand, zeigte sich die schöne Melusine in Trauer 
und weinend auf dem Turme, und ebenso erscheint das Peter* 
männchen im Schweriner Schlosse, dessen Farbe rot ist, gewohnlich 
schwarz, wenn die Grossherzogliche Familie Trauer bekommen soll. 
Wir haben einst die Weissen Frauen von einer andern Seite 
kennen gelernt: sie kamen, um die Hinterbliebenen zu holen. 
Das entsprach der ursprüuglicheu, finsteren Auffassung. Allmali lieh 
ist sie verschwunden ; wir begreifen sie kaum mehr. Sie hat einer 
schönen Pietät, der Liebe und dem Vertrauen Platz gemaclit. 

Denn der Menscli dünkt sich jetzt unter der Obhut seiner 
Verstorbenen zu stehn ; die treuen Eltern, die seine guten flngel 
bei Lebzeiten gewesen sind, sollen es seiner -Ateinung nach auch 



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2. Die Hausgeister zeigen den Bain des Hauses an. 211 



noch iiaoh ihrem Tode sein. Zu ihnen streckt er noch bittend 
die Anne aus wie ein Kind — ihren Segen, ihren liebevollen 
Blick nimmt er wie ein Palladium mit in die Fremde, wie Äneas 
mit den heimischen Penaten aus dem brennenden Troja flüchtet. 
Wer mdchte nicht die Bilder von Vater und Mutter mitnehmen, 
wenn er ins Elend geht? — Jeder Mensch bat seinen Engel, der 
wie ein Führer in tlen Alpen vor ihm hergeht, und das ist der 
(jreist seines guten Vaters. Er hat auch einen Kngel, der ihm 
folgt, und das ist ein liebes Kind, das, selbst von oinom Engel 
behütet und geleitet» nm sine JJu, den abstürzenden Wanderer 
in seinem Falle auf- und am Zipfel seines Rockes festhält. Ist 
er mit diesen beiden Engeln fttr Lebenszeit geborgen? — Sie 
helfen ihm solange, bis er wirklich einmal verunglückt. 

In seiner letzten Kot ist Nasreddin von seinem Schutzengel 
verlassen worden ; von der Hand des Bahi hat den Schah das 
Baby nicht errettet. So geht es einem mit den Schutzgeistern 
Überhaupt, die nichts weiter als eine fromme Phantasie über unsere 
eigenen Instinkte und Beobachtungen sind. Es kommt immer • 
einmal eine Zeit, wo sie yersagen, weil unsere Vorsicht aussetzt; 
und dann nützen sie uns nichts mehr. Diese treuen Eckarte sind 
recht gut, so lange das Schicksal nur Miene macht zu kommen, 
aber noch mit sich reden lässt. Ist die Uhr einmal abgeiauten^ 
so lässt der Engel nichts mehr von sich hören. Er verhüllt dann 
vielleicht sein Antlitz. Was hat nicht Sokrates für Wesens von 
seinem Dämon gemacht, der ihn in kleinen und grossen Dingen 
so oft beraten und auch abgehalten hatte, sich an den Staats- 
geschäften zu beteiligenj ihn immer zur recliten Zeit abhaltend 
und warnend, niemals ermunternd! — Schliesslicli musste er doch 
in den sauren Apfel beissen, das heisst; den Schierlingsbecher 
trinken, und ward seines Dämons wegen selber angeklagt. Wie 
Tiel Mühe hat sich unser Wallenstein mit seinen Stimmen, seinen 
Sternen, seinen Octavio Piccolomini gegeben ! — Schliesslich ward 
der Octavio selber sein Verderben. Sa^jt Dir die innere Stimme 
nichts? — fragt ihn die Grätin Terzky. Er antwortet, es gebe 
wohl solche Stimmen., er zweifele nicht daran, aber Warna ugs- 
stimmen möchte er sie nicht nennen, da sie nur das UnvermeidlichQ 

14* 



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212 



IV. KaltuB d«r Seelen, ihrer Woknritse und Fetisohe. 



verkündeten. Viel riclitiger hätte er umgekehrt gesagt: dass 
sie nur das Vor m eidliche anzeigen. Es scheint, dass 
der Spatz in unserem Inneren nur schreit und wie ein Bohrsperling 
schimpft, weDii's nicht an den Kragen geht; nachher verhält er 
sich ruhig« 

Die Mohammedaner pflegen zu sagen : Es gieht keinen Schutz 
und keine Macht ausser' hei Gott, ih'in Erhabenen! - — Diesen Spruch 
wiederliolen sie in allen Fährlichkeiten, obwohl sie nicht nur in 
diesem, sondern sogar noch im künftigen Leben an Schutzengel 
glauben. Aber die £ngel genügen eben nicht» deshalb brauchen 
sie darüber einen göttlichen Schutz, der wie ein Krebs der Qe- 
rechtigkeit noch Torhält, wenn die gewöhnlichen Waffen anfangen 
nachzugeben. Hab auf Dich selbst Vertrauen! Und wo Dein 
Selbstvertrauen wie das auf Menschen bricht, so hab auf Gott 
Vertrauen! — Erst genügen sich die Menschen selbst nicht, sie 
rufen die yerstorbenen Eltern zu Hilfe ; dann halten sie sich auch 
mit dieser Bedeckung noch nicht für stark genug, dem bösen Feind 
zu trotzen, und sie wenden sich an einen allgemeinen, himmlischen 
Vater, der seine Kinder nicht im Stich läset. Vater, ich rufe 
Dich ! Vater, Du führe mich ! — das heisst beten. Und wo anders 
lernen die Menschen beten als im Vaterhause? — 

3. Hansgeister kfinstlieh gezfiehtet: die Elnmauerang. 

Die Weisse Frau im Schlosse der Collalto, ein lebendij*^ in die Mauern ein- 
geschlossenes Xamnierträulein der Brauch der Einmauerung — es war 
nicht immer eine Strafe, sondern auch zuweilen eine Vorsichtsmassregel, 
ihr Zweck : man wollte den Schutz<reist haben — Brücken, die chinesischen 
Eisenbahnen — die Saofe von der Burg Liebenstein, von dem alten Schlosse 
Henneberg — nichts da von Opfern — es werden nicht Kinder, sondern 
£lteru angeuonnnen — die Schutzgeister, die das Gebäude noch nicht hat, 
geschaffen — man will einen Anfang machen. 

Zu den alten Schlössern, die durch eine Weisse Frau be- 
rühmt geworden sind, gehört anch das italienische KasteU Collalto> 
•das im venezianischen IVianl, zwischen den Städten Ceneda und 
'Treviso, am Flüsschen Soligo gelegen ist. Das Geschlecht der 

'CoUaitü taucht iu der Tarvisei'maik urkundlich bereits im 



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3. Hausgeister künstlich gezüchtet: die Einmauerang. 213 



10. Jahrhundert auf. Sein Ahnherr, der den Namen Reimbalt 

oder Rambaldo führt, erhielt im Jahre 980 von Kaiser Otto II. 
den Titel eines Grafen von Treviso, den seine Nachkommen bis 
zum 15. Jahrhundert führten; dann legten sie ihn ab und nannten 
sich nach dem oberwähnten Kastelle, mit dem die Patrimonial- 
genchtsbarkeit verbunden war: Grafen von CoUalto. Und zwar 
soll jener Bambaldo oder Beimbalt der Überliefemng nach ein 
HohenzoUer gewesen sein. Als Reimbalt XIII.. den die Seinigen : 
den Grossen nennen, ein Feldmarschall Wallensteins, und nach- 
mals selbst kaiserlicher Prinzipalkommissarius und Generalisbiiims, 
am 8. April 1630 zu Alessaudria krankheitshalber sein Testament 
machte und die ausgedehnten Besitzungen des Hauses in Mähren 
zu einem Fideikommiss yereinigte, traf er auch ßestimmungen 
für den gänzlichen Abgang des CoUaltoscb^ Geschlechtes^ 
Dann sollten seine Gtiter an die ihm anyerwandte fürstlich 
Hohenzollernscli e i^'amilie fallen. Sie sind gegenwärtig 
im Besitz des Fürsten Emanuel von Collalto. in Wien, aus 
einer jüngeren Linie^ die 1822 in den österreichischen Fürsten- 
stand erhoben wurde. 

Von Kaiser Sigismund erhielten die OoUaito das Privilegium, 
ihre Bastarde zu legitimieren, so dass auf der unehelichen Geburt 
kein Makel haftete und die Kinder in Zünfte eintreten konnten, 
ohne dass sie darum die Rechte und die Pflichten der ehelichen 
Kinder erlangt hätten, was man die Legitimatio viinus plena 
nennt — sie brauchten vielleicht so ein Privilegium sehr nötig. 
In Italien sind die Hirne di Madonna Gaspara Stampa^ die glühenden 
Liebeslieder einer Mailänderin bekannt, die an einen Grafen von 
Collalto gerichtet waren, die im 16, Jahrhundert von ihrer 
Schwester Cassandra yerÖffentUcht worden und die ein in Mähren 
ansässiger Verwandter des Hauses Collalto nebst den Sonetten 
ihres Liebhabers wieder drucken Hess. Gaspara Stampa, die 
den Petrarca an Feuer, an natürlicher Begeisterung und auch 
an Glückseligkeit übertraf, wurde dennoch zuletzt das Opfer 
ihrer Leidenschaft^ denn sie hatte Grund zur Eifersucht und 
starb im Jahre 1559» in der Blüte ihres Lebens, ab sie er« 
fuhr, dass sich ihr Geliebter standesgemäss verheiratet habe. 



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5 1 4 IV. Kultua der Seelen, ihrer Wohnsitze und Fetische. 



Die rechtmässigen Frauen halten wohl Überhaupt Bastarde fttr 
Luxus. Sie machen es wie die (ariilin Johaiiiia, die eben in dem 
uralten Stammschlosse der Familie Collalto vor dem Spiegel sitzt 
und sich von ihrer Zofe frisieren lässt. Indem tritt der Graf 
Heimbalt VII. ins Zimmer und sieht der blonden Venezianerin 
wohlgefällig zu: die Gräfin hat den Schmerz zu bemerken, daas 
ihr Fraulein den Grafen verstohlen anlächelt und mit den Aagen 
zwinkert. Das genügt ihr: ohne weiteres verurteilt die Mächtige 
das arme junge Blut zur E i n m u u e r u u g. 

JLa fec' jfiiirar rira nette murn iitassii'cic det cnsfetto, wie die 
Chronik meldet. Die Einmauerung war eine Strafe; Vestalinnen, 
die das Gelübde der Keuschheit gebrochen hatten, flüchtige 
Mönche, gefallene Nonnen wurden in den Klostergewölben lebendig 
eingemauert» zum Beispiel die durch Walter Scott bekannte 
Konstanze von Beverley in St. Cuthbert auf Holj Island. Solche 
Unglückliche darf man nicht mit den sogenannten Rehbmn ver- 
wechseln, die sich zur Erlangung? i^rösserer Heiligkeit freiwillig 
einsperren Hessen — diese froiiiineü Jvlauisiierinnen erhielten, 
wie die am Ptingsttage des Jahres Ü15 Konstanz eingeschlossene 
Wiborady durch ein Fenstereben noch Nahrung, blieben über- 
haupt noch am Leben, ja, sogar in einem gewissen Verkehre 
mit den Menschen. Die Schuldigen dagegen wurden ganz ver- 
mauert und dem Hungertode preisgegeben, denn das Stück Brot 
und das Krüglein Wasser, das sie beim Abschiede erhielten, 
war ihre Henkersmahlzeit. Vade in Pnce! — mit diesem Grusse 
verliess man die lebendig Begrabene. Es klang wie Hohn. 
Das Opfer konnte nicht gehen; es fand auch keinen Frieden. 
Erst der Geist entschlüpfte dem verfluchten Mauerloche; aber 
auch er konnte sich von dem Grabe, das die Gebeine des Totea 
enthielt, nicht iarennen. KUgend irrte das Gespenst in dem 
dumpfen Gefängnisse umher. 

Es ist bekannt, dass Schornsteine V'ogelfallen sind. Die 
Vögel verirren sich hinein, fallen wohl auch hinein, indem sie 
oben eingeschlafen sind, und kommen dann nicht wieder heraus, 
weil sie direkt nach oben durch die enge Eöhre nicht fliegen 
können, sondern hüpfen und flattern sich zu Tode. Sie finden 



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215 



ebenfalls lebendig ihr Grab in dem Kamin. In der Kreissstadt 
Sclilettstadt in Unterelsass, in einein sehr grossen, uralten Stifts- 
hause mit meterdicken Mauern, mächtigen Kellergewölben, Sälen 
und Speichern, inmitten hoher Bäume, dicht bei einem verfalleneQ 
Friedhofe und in der Nähe des Mün&ters, einem düsteren Baue 
spukte es. In einem Eckzimmer schrieb ein Gespenst die ganze 
Nacht hindurch, bis es am Morgen durch das Geräusch des Tages 
yertrieben ward. Es schrieb unermüdlich: man hörte die Feder 
auf dem Papiere kratzen, absetzen und wieder kratzen. Manchmal 
blieb der Heissige Schriftsteller auch weg, er hatte wohl Ferien; 
aber dann war er wieder bei der Arbeit. Ein Zufall brachte die 
Erklärung. Zur Bequemlichkeit sollte vom Korridor eine Thüre 
in das Eckzimmer gehrochen werden. Die Maurer kamen, schlugen 
die dicke Wand ein und stiessen unvermutet auf einen schon lange 
nicht mehr benutzten, verschleiften Kamin, der hier seinen Anfang 
hatte. In dem Kamine aber lagen und standen, mit ausgebreiteten 
Flügeln an die Wand geleimt, viele, viele Skelette armer Doiilen 
und Eulen, vielleicht auch anderer Vögel, die sich hier gefangen 
hatten, hier elendiglich hereingefallen waren. 

So flatterten die Seelen der eingemauerten Nonnen ruhelos 
in den alten Elostermauem ; so belebte das unglückliche Kammer- 
fräulein, die Weisse Dame von Collalto, grauenvoll das finstere Hans. 

Das war nämlich in anderen Fällen die beabsichtigte Folge, 
dass die Seelen in den Mauern verblieben und nicht wichen. Die 
Einmauerung ist nicht bloss eine grausame Strafe gewesen wie 
das Pfählen, sondern eine Nützlichkeitsmassregel. Eine Methode, 
Hausgeister und Kobolde künstlich zu schaffen und zu zilchten, 
wo noch keine da waren, und so zu sagen: Eltern anzunehmen. 
Bei Neubauten unter den Grundmauern Mensehen, zumal un- 
schuldige Kinder, lebendig einzuscbliessen, um damit einen Sehutz- 
geist für das neue Gebäude zu gewinnen, war einst unter allen 
Völkern, auch unter den sogenannten civilisierten, Sitte. Selbst 
auf dem römischen Kapito), im Baugrunde des Jupitertempels, 
lässt die Legende unter der Herrschaft des Tarquinius Superbus 
den Kopf eines Menschen, das Cajmt ToH finden, wie hei. der 
Gründung von Karthago erst ein Stierhaupt^ dann ein Eosshaupt 



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216 IV. Kultus der Seelen, ihrer Wohnsitze und Fetische. 



gefonden worden war. Die Wahrheit dürfte sein, dass ein Haupt 

mit Absicht hineingelegt worden ist, um den Einsturz des G-e- 
bäudes zu verhindern. Der Kopf vertrat nämlich bisweilen die 
ganze Pert»oii , mitunter nahm man auch nur das Blut und mischte 
es unter den Mörtel. Man brachte den designierten Wächter 
um, nachdem man ihn festlich bewirtet» ihm die Fßichten seines 
zukünftigen Amtes ans Herz gelegt und eine hohe Belohnung 
im Jenseits zugesichert hatte, und versdiarrte dann die Leiche» 
zuweilen im Sarge, unter dem Baugrund ; dergleichen Menschen- 
opfer haben in Siam, wenn es j^alt, für ein neues Thor einen un- 
sichtbaren Thorwart zu b» stellen, auch in unserem Jahrhundert 
stattgefunden. Das Gewöhnliche war indes, den ganzen Menschen 
und zwar lebendig einzumauern. 

Es waren gewöhnlich Burgen, Festungen, Klöster, Bathäuser» 
denen man auf diese Weise einen Schutzgeist, einen unermüd- 
lichen Warner und Thorwächter zuwenden wollte; daneben auch 
unbewohnte Bauanlagen, die nicht recht feststanden, die vom 
^\ abser weggerissen werden kuiiateii, und bei denen es sehr darauf 
ankam, dass jemand aulpasste. Brücken. Dämme, Deiche. Wehre, 
Eisenbahnen und dergleichen. Als im Jahre 146^ der Nogat* 
dämm in der Nähe von Marienburg vom Wasser durchbrochen 
wurde und alle Anstrengungen, das Loch zu verstopfen, Tergeblich 
waren, soll ein vorher trunken gemachter Bettler hineingestürzt 
und mit Erde verschüttet worden sein; ja noch 1841, heim Bau 
der Elisabethbrücke in Halle, glaubte das Volk, man bedürfe 
eines Kindes zum Einmauern. 

In einer an Petschili grenzenden cliinesischen Provinz wurden 
vor einiger Zeit acht Kinder bei dem Wiederaufbau einer Brücke^ 
die verschiedenemal durch Hochwasser fortgeschwemmt worden 
war, geopfert. Man nahm die Kinder aus armen Familien, und 
die Eltern erhielten dafür ein namhaftes Geldgeschenk. Seitdem 

H ^^^^ 

hat die starke Brocke dem Wasserdruck widerstanden, und das 

Volk liihrt ilire Erhaltung darauf zurück, dass der durch die 
Kinderopfer versühnte Flussgott die Brücke verschone. Es wäre 
dies eine Wendung, die der Aberglaube genommen hätte; und 
eine Verdrehung der Absicht, die ursprünglich bestanden hat. 



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3. Hanageister känstlicb gewichtet: die Siomanerang. 21T. 



Auch in China ist nämlich die Idee, dass grosse öffentliche Bauten 
erst durch eingemauerte Kinder sicher werden, allgemein ver- 
breitet. Deshalb glaubt man auch hier bei den neuerdings in 
Angriff genommenen Eisenbahnen der Kinder nicht entr&ten zu. 
können. Unter jeder Eiaenbahnschwelle muss ein Kind begraben 
werden, heisst es. Die Sibirische ßisenbahn wird Tertragsmässig- 
von Wladiwostok durch chinesische Provinzen nach einer sibirischen 
Stadt geführt, woran sicli eine chinesische Bahn schliessen sull, die 
über Mukden nach Port Arthur führt. Der russische Minister 
in Peking hat demnach, schreiben die Tieatsin Times, die Kaiserin 
von China ersucht, ihm zweitausend Kinder zu diesem Zwecke- 
zu überweisen. Die professionellen KinderrSuber machen sich 
den Handel zn nutze, um ihrem Handwerke nachzugehn: wenn 
irgendwo ein Kind abhanden kommt, so haben es die Ausländer 
gebraucht. 

Auch in Deutschland wurden die notwendigen Kinder ent- 
weder geraubt oder den filtern abgekauft Bechstein hat eiuzelno- 
darauf bezügliche Sagen aus Franken und Thüringen gesammelt. 
Oberhalb des Dorfes Henneherg, zwei Stunden von Meiningen,. 
liegt auf einem Berge die Stammburg der G-rafen von Henne- 
berg ; sie ist zerstört. Die Sage lässt das Schloss bereits im- 
5. Jabrliundert erbauen; während des Baus soll eine Feldhenne 
mit ihren Küchlein aufgescheucht und ein anderes Küchlein 
eingemauert worden sein. Ein Maurer soll seinen kleinen Sohn 
Yorkaufty der grausame Vater das Kind selbst in die noch sicht- 
bare Blende in der Mauer eingeschlossen und dann den Hals 
gebrochen haben. Das geschah, damit Henneherg unüberwindlich 
bleibe. Und von der Burg Liebenstein, ebenfalls in Sachsen- 
Meiaaigen, wird erzählt, nuin habe ein kleines Mädchen von 
einer Landstreicherin gekauft, ihm eine Semmel gegeben und es 
eingemauert — das Kind freute sich und sagte: Mutter, ich fehe 
Dkh noGk ein klein wenig! — Als es aber immer finsterer ward, 
bat es: acA, Mann, lass mir doch ein klein Gucklöchelehen! — 
Jetzt wollten Meister und Gesellen nicht mehr mauern, aber ein 
Lehrling that es und verschloss die b'ugen mit Mauerspeise, das 
arme Kind rief weinend: Mutter, jetzt »elie ich Dich gar tiicfu 
melir 



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1218 



iV. Kultus der Seelen, ihrer Wohnsitze und Fetische. 



Der Braach ist nicht bloss durch zahllose Sagen und Lieder, 

«ondern auch durch die Gerippe, die man beim Abbruch alter 
Hiiuser in den Fundamenten findet» thatsächlich bezeugt. Nach- 
dem der Ort Glarus im Mai 1861 niedergebrannt war, rausste 
im Dezember auch das alte Ratliaus niedergerissen werden. 
Man fand beim Abbruch das vollständige Skelett eines Kindes 
in der Mauer. Ähnliche Funde sind oft gemacht worden — 
«ogar von dem Herrn Professor Werner in Gustav Freytags 
Verlorener Hamhchrift, Dieser findet bekanntlich auf dem Gute 
^tatt der Haudschrift des Tacitus das Gerippe eines Hundes. 
Es war natürlich, dass man die ordentlichen Wächter gelegentlich 
mit Pbylaxen ablöste oder auch den wachsamen Hahn an ihre 
Stelle setzte, am £nde auch, wie in Karthago» Pferde, Stiere, 
Katzen und Eier einmauerte. Diese Tiere werden dann wohl 
wiederum oberflächlich für Opfertiere ausgegeben — man will 
wissen, dass auch die wertvollen Gegenstände, die bei einer 
feierlichen Grundsteinlegung, wenn der Lamlisfürst zu Ehren 
•der drei ältesten Götter dreimal mit dem Hammer auf den 
Grundstein schlage, ehe er festgelegt wird, nebst allerlei Urkunden 
in eine Höhlung des Grundsteins eingelassen zu werden pfl^en, 
an die Stelle besagten Opfers getreten seien. Dass sie, da ur- 
sprünglich Menschen eingemauert worden wären, an die Stelle 
des Menschenopfers getreten seien. 

Opfer sind die eingemauerten Individuen niemals gewesen, 
aus dem einfachen Urunde nicht, weil es in dem neuen Gebäude 
schützende Dämonen und Götter, denen hätte geopfert werden 
können, noch gar nicht gab. Man wollte erst Geister schaffen, 
eben deshalb mauerte man ein. Man wollte einen Anfang 
machen: wenn das Haus Bestand hatte, kamen die Hausgeister, 
eine unendliche Kette, mit hinzu. 

4. Die heiligen Tauben« 

Sichtbare Hausgeister auf dem Dache - die Schwalben, die Störche, die Sehwäuo 
von Closeburn — zumal die Tauben scheinen eine Art von Gottheiieu sein, 
weil die Seele mit einer Taube verglichen wird — diese Auffassung ist 
«her irrig, die Taube nur ein mystische« Bild, die Heiligkeit des ganzen 



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4. Die heiligen Tauben. 



219 



Oeachiechii digegen eioe abgeleitete — die Taube Daniele Haniiu und die 
Tauben des beiligen Markos in Venedig — die letzteren sind bloss beilig, 
weil sie einem Heiligen gehören — Taabenmoscbeen im Orient — schon 
im AHertnm beruhte die Verehrung der Tauben auf Hausgenossensohaft — 
die Taube wohnte mit der Venus zusammen, daher ward die Taube su 
ihrem Fetisch — nur keine Symbolik — die Verehrung führte zu einer 
systematischen Taubenzucht: erst die Felsenwand, hierauf der Tempel| zu* 
letzt der wirkliche Taubenschlag — Vergleich mit den Nistkästen, die för 
die Rinprvfi^fcl an Stcllp der natürlichen Wohnungen angebracht werden 
Taubenschläge und (iasthäuser — die Tauben, die die Republik des heiligen 

Harkus bilden. 

Die Seelen wohnen, so scheint es, sichtbarlich und im Ori- 
ginalkostüm in unserem Hause und Hofe. Kichts liegt doch 
näher als die unsterblichen Wesen, die den Körper in Vogel- 
oder Schmetterlingsgestalt verlassen, eben in den anmutigen 
Vögeln wiederzuerkennen, die jahraus jahrein unter unserem 
Dache nisten, mit der Anhänglichkeit von et liten Hausgeistern 
wiederkehren, gleichsam mit zur Familie zählen, ja, der Familie 
Glück zu bringen scheinen. Bas thuen bekanntlich die Schwalben 
und die Störche, die das Haus gewissermassen feien und den 
BHtz ableiten; eine ähnh'che wohlthätige Kolle spielten auf einem 
scliottischen Scliloss die Schwäne. in Südschottland, in der 
Grafschaft Dumfries, auf einer Seeinsel wie das grosslierzogliche 
Kesidenzschloss in Schwerin liegt das Schloss Closeburn, das 
der Familie Kirkpatrick gehört. Kirkpatrick ist eigentlich die 
kleine Kirche des heiligen Fatrick, die am Ufer des Sees steht; 
▼on hier aus fuhrt eine Brücke nach der Insel, auf der das 
SchlobS liegt. Nun^ jeden Sommer ptiegte sich auf dem See 
ein Schwauenpaar einzustellen — die zwei Schwäne w^aren gleich- 
sam die Genien des Hauses Kirkpatrick; man spürte den Segen 
Gottes, wenn sie kamen. Regelmässig, alle Jahre kamen sie, 
man kannte es gar nicht anders — bis ein junger Kirkpatrick, 
• ein .Schüler der High School in Edinburg, in den Ferien die 
Geister beleidigte und das freundschaftliche Verhältnis für immer 
löste. Auf seiner Schule hatte er in den alten Dichtern vom 
Singschwane gelesen, der, zu Tode verwundet, den wundervollen 
Schwanengesang anstimme, und der Kitzel stach ihn, einmal das 
Schwanenlied zu hören. Er nahm also in aller Stille eine Büchse, 



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220 IV. Kaltus der Saelen, ihrer Wohniitse und Fetisohe. 



legte auf das Männchen an und verwundete es tödlich. Der 
stolze Vogel sang nicht» er klagte nur; das Weibchen flog laat- 
scbreiend davon. Jetzt machte sich der vorwitzige Knabe ein 
Gewissen; doch that er nicht dergleichen. Er begrub den toten 
Schwan am Ufer, nnd der Vor£ftll blieb vorläufig nnentdeekt 

Man wunderte sich nur, dass man die Schwäne nicht 
mehr sah. Sie waren und blieben weg, und mit ihnen schien | 

I 

das Beste hinwegzusein. Aber sie fehlten nicht nur, sie { 
hatten sich auch verwandelt: denn als sie sich endlich wieder j 
einmal zeigten, kamen sie als Todesboten wieder. Nach drei i 
langen Jahren bemerkten die Leute im Schlosse auf einmal 
wieder einen Schwan. Er war nicht wie sonst; er war ausser- 
ordentlich scheu und hatte auf der Brust eine Wunde, die blutete. 
Zugleich starb unerwartet der Besitzer von Closeburn. Zwei 
Jahre darauf erschien der wunde Schwan abermals, und wieder- 
um erfolgte ein Todesfall in der Familie Kirkpatrick. Es war 
offenbar der erschossene Vogel, der wiederkam; unschwer erkennt 
man in der Legende den Bacheengel wieder, der den Mörder 
straft und sein ganzes Gkscblecht unerbittlich hinrafft. Die letzte 
Wiederkunft des Schwans erfolgte angeblich im 17. Jahrhundert: 
da erblickte ihn Koger Kirkpatrick, als er am See spazieren 
ging, am Vorabend der Hochzeit seines Vaters, der zum zweiten- 
mal heiratete, des Baronct Sir Thomas Kirkpatrick. Der junge 
Mann verfiel in Schwermut und starb in der Hochzeitsnacht. 
Diese Schwäne benahmen sich also ganz wie Kobolde^ die schon 
erzürnt werden, wenn man ihnen einen Ast von ihrem Baume 
abbricht, und dann entweichen und alles Glück aus dem Hause 
mitfortnehmen; da der Frevel ungeheuer war, kehrten sie als 
Furien zurück. 

Die Tauben, die von alters her als Sinnbilder der Seele be- 
trachtet worden sind, scheinen sich in hervorragender Weise zu , 
Hausgeistern, zu sichtbaren Emblemen unserer Verstorbenen zu 
eignen. Man hat sie immer mit besonderen Augen angesehen, die 
gesamte Taubenzucht scheint aus einer religiösen Verehrung 
dieser heiligen Vögel zu entspringen, wie denn auch die Hühner- 
zucht in einem alten Kultus des Huhns ihren Grund hat, und 



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4. Die heiligen T»abeD. 221 

der Religion wegen in Ägypten, in der Stadt Arsinoe sogar die 
Krokodile gehalten worden sind« Indessen müssen wir uns hüten, 
die mystischen Taubeni onter deren Bilde einzelne geweihte 
Seelen unsichtbar wie die Semiramis fortleben, mit dem ganzen 

bunten Fluge zu \ erwechseln, der unsern Taubenschlag bevölkert. 
Dieser ist freilich aucli heilig, seine Heiligkeit aber nur eine 
Abgeleitete, während die Seelentaube die Gottheit in sich trägt. 
Wenn die wirklichen Tauben heilig sind, so haben sie ihre 
Heiligkeit eben erst von einer solchen Seele, der sie angehören 
und die ihnen etwas ron ihrer Würde mitteilt. Komm mit 
nach Venedig, lieber Leser, ich will Dir zeigen, was zwischen 
Tauben und Tauben für ein Unterschied obwaltet. 

Auf dem Marküsplatze in Venedig giebt es bekanntlich sehr 
viele Tauben. Der Ankümniling wird angenehm überrascht, wenn 
-er diesen grossen Saal nicht bloss voller Menschen, sondern auch 
ToUer Tauben findet £s ist als ob eben wie im Vorhof des 
Tempels zn Jerusalem die Stühle der Taubenkrämer umgestossen 
worden waren, eine Scene, mit der das Passionsspiel in Ober- 
ammergau beginnt; es ist als ub man mit dem Futtersacke käme 
und: Putt. Putt! — gerufen hätte. Man füttert sie in der That, 
man soll sie sogar füttern, weil sie auf die Mildherzigkeit der 
Fremden angewiesen sind^ und das Futter, das ihnen auf Grund 
eines alten Vermächtnisses um 2 Uhr gereicht wird, bei ihrer 
ungeheuren Menge nicht genügt Sie sind deshalb sehr dankbar, 
wenn man ihnen etwas giebt, und so zahm, dass sie ihrem Wohl* 
thäter auf die Schulter fliegen wie dem Propheten Mohammed 
und ihm aus der Hand, aus dem Munde, aus den Ohren fressen 
— es gewährt einen anmutigen Anblick, wenn eine schöne junge 
Frau wie weiland Aphrodite von den heiligen Vögeln belagert 
wird. An der Rückseite der Markuskirche sitzt eine Hökerin, 
die Weizen und Wicken feilhält — Wasser haben sie genug, 
*auf der Piazzetta de' Leoncini ist ein Brunnenbecken, an dem sie 
trinken und nach ihrer Art ins Wasser waten können. Ans 
Wegfangen denkt niemand, die venezianischen Tauben sind heilig 
wie im Orient und wie in ßussland, wo einem die gebratenen Tauben 
nicht nur nicht in den Mund fliegen, sondern wo es überhaupt, 



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222 IV. Kuhns der Seelen, Ihrer Wohnsitze und Fetische. 



wenigstens für die Eingeborenen, keine gebratenen Tauben giebt. 
Die Tauben sind Tabu. 

Aber auf dem Markusplatze in Venedig gicbt es noch eine 
besondere heilige weisse Taube« Das ist die Seele Daniele Manins, 
des grossen Patrioten, des Diktators, den die Gondoliere: il nostro 
Manin, ü nontro Padre nennen. Es geht die Sage, dass sie all« 
jährlich tinmal wiederkommt' und um ]\Iitternacht über die Piazza 
di San Marco Hiege, um sich ihr geliebtes Venedig anzusehen, 
bie ist der Geist Venedigs, sie hat wohl mit den Pensionären der 
Markuskirche nichts zu thun! Woher schreiben sich denn diese ? — 

£s sind Felsentauben, oder, wie die Italiener sagen: Turmtauben 
( Tarraiolt)^ die sich auf die alten ruhigen Gebäude am Mittelmeere 
ziehen und unter den Kreuzen und Kuppeln der venezianischen 
Markuskirche ein Asyl gefunden haben wie die Turmfalken im Wiener 
Stephansturra oder wie die Domdnchln in Regensburg oder wie die 
Leipziger Sperlinge im Kathaus Sie gehören dem heiligen 
Markus, ohne ein Attribut des Kvungelisten zu bilden oder eine 
besondere Beziehung zu ihm und seiner Legende za haben« 
Sollten sie etwa mit den Beliquien des heiligen Markus, der be- 
kanntlich Bischof in Alexandria war, von Ägypten nach Venedig 
gekommen sein? — Der Tradition nach hat sie vielmehr der Doge 
Enrico Dandolo im 13. Jahrhundert von Kandia mitgebracht. 
Wie gesagt, es existiert keine innere Beziehung zwischen dem 
Evangelisten und den Tauben, abgesehen etwa die, dass sein 
Evangelium den Anhauch des göttlichen Geistes am unmittel- 
barsten empfangen hat. Das Attribut des Evangelisten Markus 
ist bekanntlich der geflügelte Löwe, der Cherub, der die höbe 
Säule auf der Piazzetta krönt und dessen apokalyptisches Bild 
hierzulande so gemein und so häufig ist, dass man sagen kann: 
es Üiegen in Venedig eben so viele Löwen als Tauben herum. 
Ja, wenn die Markuskirche eine Heilige Geist-Kirche wäre, 
80 liesse sich denken, die Tauben sollen an die göttlich^ 
Inspiration erinnern — wenn es eine Marienkirche wäre, so hätte 
die allerseligste Jungfrau Tauben dargebracht: so aber ist es 
doch nur eine Markuskirche, deren Dach die Tauben mit ihrem 
Gegirr erfüllen, die aber keine Tauben zu ihrem Kultus braucht. 




4. Die heiligen Taaben. 



Man muss sich bescheiden, dass die Tauben im Besitz de& 
heiligen Mannes sind, der da nnten schUimmert ; oder dass sie den 
alten Dogen geboren, deren fioCkapelle die Markttskircbe war. 
Sie gehören ihnen wie die Tanben der Taubenmoscbee in 
Konstantinopel dem Sultan Bajazet gehören — sie sind ein 
unverletzliches Eigentum der venezianischen Kaaba wie die 
Taiibenscliaren in Mekka, die auf der Anbetungsstätte des wahren 
Gottes nisten — sie bilden ein lebendes Inventar des National- 
heiligtums wie in Alt-Kairo, wo sie die Amru -Moschee be- 
wohnen. Amru, der Feldherr des Kalifen, der Eroberer Ägyptens, 
lagerte im Jahre 640 am rechten Ufer des Nils, der alten 
Residenz Memphis gegenüber. Auf sein Zelt baute ein Tauben* 
paar. Der gastfreundliche Araber wollte das Zelt nicht ab- 
brechen lassen, als er wegziehen musste; er kannte die PHichten 
eines "Wirtes. Das Zelt blieb also stehen, und darum herum 
wurde mit Steinen von Memphis die Stadt Fostat, die Mutter- 
stadt TOn Kairo gebaut. An der Stelle des Zeltes erhob sich 
drei Jahre später die gleichsam unter das Taubennest wie eine 
offene Hand gehaltene Moschee; sie ist mit dem Bestand de« 
Islams verknüpft wie das Kolosseum mit Roms Grösse. L nweit 
derselben lag das prachtvolle Kloster des heiligen Georg, die 
gewöhnliche Hesidenz der Patriarchen von Aiexandria. Sie 
waren die Nachfolger des heiligen Markus. Nun, dieser ist so 
gastfreundlich wie Amru. 

Die Anekdote erinnert an das Taubennest, dem der Prophet 
Mohammed auf der Flucht nach Medina seine Rettung dankte. 
Von dem Stamme der Koreisch, den Einwohnern von iMckka, 
verfolgt, rettete er sich mit Abu Bekr in eine Höhle des Berges 
Thür südwestlich von Mekka. Schon wollten die Koreischiten 
hineindringen und den Schlupfwinkel durchsuchen, als sie dicht 
am £ingang der Höhle ein Taubennest gewahrten, in dem zwei 
%ier lagen; ausserdem war sie mit einer Spinnwebe verhangen,, 
die eine Akazie umspannte. Sie schlössen daraus, dass niemand 
in der Höhle sei, und jagten weiter. Die Juden erzählen die- 
selbe Geschichte von David, der vor Saul in eine Höhle floh. 
X>er Prophet soll nachmals aus Anlass dieses Wunders die 



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224 Knltos der Seelen, ihrer Wohnsitze und Fetiaehe. 



Spinnen zu töten und die Tauben zu essen verboten haben. 
Daher aogeblich die Heiligkeit der TaubeD» die Toa den Moham- 
medanern wirklich nicht gegessen^ sondern nur des Taaben- 
mistes und (da dieser der beste Dünger für die Melonen ist) der 
Melonen halber gezüchtet werden. Aber die hübsche Sage scheint 
doch Tielmehr zu beweisen, dass die Tauben schon dem Stamme 
Koreisch heilig waren, indem die Feinde offenbar deshalb von 
einer Durchsuchung der Höhle ahsahn, weil sie die brütenden 
Taubeu nicht stören wollten, also den gleichen Respekt vor den 
'Tauben hatten, den nachmals Amru bethätigte. 

Die TierfreundUchkeit der Araber ist gross» daher kommt 
•es, dass alle Vögel in Ägypten weniger scheu sind als bei uns. 
Der weisse Kuhreiher, der sogenannte Ibis geht zutraulich neben 
-dem pflügenden Ackersmanne her, was bei uns die Saatkrähe oder 
die Bachstelze kaum thut — der in Europa so vorsichtige 
Wiedehopi iiiegt dem Pellali auf die Hand — die Stare, die 
■Schwalben und andere Zugvögel, die man in Ägypten im Winter 
wiedersieht, gefallen sich unter den frommen Äthiopiern, die 
ihnen nichts in den Weg l^gen, niemals das geringste zu leide 
thun. Bei der Taube kommt allerdings wie beim Wiedehopf, 
dem Führer, Kurier und Liebesboten Salomes auf seiner Reise 
ins Reich Arabien, um den V^ogel schützen zu helfen, eine gewisse 
legendarische Berühmtheit mit hinzu; aber sie schützt ihn nicht 
alleiu. 

Es ist die Achtung vor dem fremden Wesen, das sich in 
seinen Schutz begiebt, was den Araber bewQgt, ihm diesen 
Schutz thatsächlich zu gewähren und sein Zutrauen nicht zu 
täuschen. Es ist die alte arabische G-astfreundschaft^ die sieb 

bis auf die Haustiere erstreckt. Die Felsentaube hat sich ihm 
freiwillig angeschlossen, sie ist überhaupt der erste Vogel, der 
das gethan hat. Darum ist die Taube dem Araber heilig. 

Dem Sohne ist sie dann schon deshalb heilig, weil sie dem* 
Vater heilig war; ihm wird sie noch immer anzugehören scheiaen. 
Ja, wenn einst das Haus schon lange leer steht und nur nocb 
die Tauben darin nisten, werden sie noch immer für Vogel des 
Alten gelten und ihm nicht genommen werden dürfen; kein 



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4. Die heilig«]! Tftaben/ . 23^ 



Fremdling wird sich daran vergreifen. Unvermerkt gehen sie 
mit allen ihren Nachkommen in den Besitz der Ahnen und der 
Geister des Hauses über. Ist endlich im Laufe der Zeit aus 
dem Haüse ein GottesbauB ' geworden, ao erscheinen die Tauben 
als . Eigentum der Gottheit und als ihre Fetische. 

Das trifft nicht bloss bei den Arabern, sondern bei allen 
•Völkern zu. Gab es nicht schon im klassisclien Altertum, in 
Italien und Syrien heriilimte Taubentempel, AVallfahrtsorte und 
Sammelplätze von Römern, Griechen, Phöniziern und Karthagern, 
aber auch umflattert von Scharen wilder Tauben, die hier jBO 
zahm und so dreist waren wie in Mekka und Venedig? — .Das 
waren die grossen Venustempel, wie einer in Sizilien auf dem 
Berge Eryx^ ein anderer in der Stadt Askalon in Palästina 
stand. Der Name Askalon wird in der Geschichte der 
Kreuzzüge oft genannt; der Platz ist in Europa mehr durch 
seine Zwiebeln als durch seine Tauben bekannt geworden. Die 
Schalotte, in Essig eingelegt, ein alter Artikel des Delikatessen- 
handels, ist die Askalonische Zwiebel, Als noch die Philister 
hier sassen und, mit Feigwarzen geplagt, (n«cb 1. Samuelia VI, 17) 
dem Qotte Israels goldene Ärsche opferten, hatte die syrische 
Göttin Derketo eine Hanptkultusstätte in Askalon, und dieser 
Göttin waren wie der Aphrodite die Fische und die Tauben 
heilisr. Ttii' prachtvoller Tempel ist zerstört, der heilige See 
vertrocknet, die Braut von Syrien, wie die Orientalen Askalon 
betiteln, wüst und leer. Nur die heiligen Tauben haben den 
Oeburtsort der Semiramis auf der hohen Steilküste dicht am 
Mittelmeer nicht verlassen, sie belebe noch die Ruinen und die 
blühende Wildnis, welche die mittelalterlichen Festungswerke 
überkleidet, mit ihrem anmutigen Gekose. Der Eryx heisst 
gegenwärtig Monte San Giuliano, die Stelle des berühmten 
Venustempels nimmt jetzt ein altes Schloss ein, das als Ge- 
fängnis dient ; von den Zinnen desselben blickt man nach Afrika 
hinüber, man entdeckt mit blossem Auge die Spitze von Tunis, 
xias Kap Bon. Von hier aus machte die Göttin, wie das ihre 
Gewohnheit war, in Gesellschaft ihrer Tauben ihre jährliche 
Reise nach Afrika. Es ist der westliche Grenzpfeüer der Insel 

Kl«inp»iil> Di« L«t«Mli|«B xaA dto Toten. 15 



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226 



IV. Kultus der Seelen, ihrer Wohnsitze und Fetische. 



Sizilien, eine Bteil zum Heer abstürzende Felaenpyramide, die 
gewöhnlich als der zweithöchste Berg Siziliens nach dem Ätna 
angesehen wird^ was sie jedoch nicht ist. Verweilen wir noch 

ein wenig an diesen beiden klassischen Plätzen, sie sind hoch- 
interessant; auf den alten Mauern selten wir den Schlüssel zü 
einem grossen Kapitel der Kulturgeschichte liegen. 

Weshalb wohl die Tauben der Göttin der Liebe und der 
Schönheit geweiht gewesen sind? Weshalb sie ihren Wagen 
zogen und ihre Briefe besorgten? — Die Taubenpost ist eine 
nralte Erfindung des Orients. Nun, die Gelehrten bleiben uns 
die Antwort nicht schuldig. Sie geben an, die Taube sei das 
fruchtbarste und zärtlichste aller Geschöpfe, ohne Galle, ohne 
Falsch, sogar anatomisch ohne Galle, mit einem Worte gleich- 
sam die Liebe selber. Bei allen Hausfrauen steht es fest, dass 
die Tauben keine Gallenblase haben; in der That ist sie nicht 
bei allen Wirbeltieren Yorhanden. Solchen symbolischen Deutungen 
ist immer zu misstrauen : sie werden gewöhnlich erst nachtr&gUch 
gemacht, um ein bereits bestehendes Verhältnis zu erklären. 
Die Ziullichkeit ist nicht grösser als bei vielen andern Vögeln, 
selbst bei den Turteltauben nicht, und wenn sich ein einmal 
verbundenes Paar nicht trennt, sondern während des ganzen 
Lebens treu zusammenhält, so thuen das die meisten Vögel, die 
durchgängig streng monogamisch sind. Ich weiss nicht, ob das 
Schnäbeln eine Spezialitat der Tauben ist; übrigens wollen sie 
sich nicht ktlssen, sondern füttern. Ihre Fruchtbarkeit ist keines- 
falls eine hervorragende wie bei den Fischen oder bei den 
Hasen oder bei den Insekten, zum Beispiel den Schraeissfliegeu 
oder den Blattwespen ; sie haben innerhalb einiger Jahre keine 
Milliarden von Nachkommen, sondern höchstens Tausende. In 
vier Jahren 14762. Von einem Paar Tauben erzielt man 
jährlich höchstens 16 bis 18 Junge. Also daher kann die dicke 
Freundschaft nicht rühren, die zwischen der Frau Venus und 
den Tauben besteht. Sie hat zunächst keinen anderen Grund 
als die gute Kameradschaft, die Hausgenossen seh aft — die beider- 
seitigen Lebensgewohnheiten haben den Vogel und die Göttin 
zufällig zusammengeführt ; hierauf ist der Vogel von den Priestern 



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4. Die heiligen Tauben. 



227 



beobachtet und für besondera zu der Qottheit passend erachtet 
worden. ün[M8BeDd war er ja nicht. 

Die Felsentaube bewohnt von Triest an alle geeigneten Felsen- 
wände um das Mittelmeer, Italien, Griechenland, den ganzen Orient; 
die Höhlen und Löcher an den Steilküsten sind gleichsam ihre 
natürlichen Taubenschläge. So mag sie sich auch seit unvordenk- 
licher Zeit in den Schluchten des Berges Eryx und in den Irischen 
des Halbkreises yon Bergen angesiedelt haben, der die Stadt 
Askalon umgiebt. Auf die allemattirlichste Weise traf sie nun 
hier mit der Göttin zusammen, die aus dem Scliaiune desselben 
Meeres emporgestiegen und gleiciiialls über das Wasser an die 
felsige Küste gegangen ist, deren Tempel, Statuen, Altäre, heilige 
und profane, gewöhnlich am Meeresufer, in Seestädten standen. 
Die Tauben bauten^ wo die Venusdiener bauten, und umgekehrt 
— es war geradeso wie auf dem Oybin, wo erst die Tauben, 
dann die Oölestiner Mönche nisteten, der Name des Bergs be- 
deutet vielleicht eigentlich soviel wie Taubenheim (wendisch Holbin, 
von Holt, Taube, mit gestrichenem l). Waren aber die Tempel auf 
der Höhe fertig, so erschienen sie den darunter nistenden Tauben 
wie ein neues Stockwerk, das sie» da es feste und ruhige Gebäude 
waren, allmählich selbst bezogen. Sie wurden geduldet, nach- 
gerade mit einer Art von religiöser Scheu betrachtet, zuguterietst 
für sichtbare Erscheinungen der angebeteten Gottheit, für Fetische 
gehalten. 

Genau so war aiü dem athenibchen Burgfelsen der Steinkauz 
mit der Pallas Athene zusammengetroffen und zum Fetisch der 
Göttin, am Ende zu ihrem Sinnbild aufgerückt Wir haben bei 
den Todesengeln davon gesprochen. 

Der Mensch hat mit seinen Bauten unzähligen Vögeln neue 
Wohnsitze geschaffen und gewiesen, während die fortschreitende 
Kultur auch manche vertreibt. Die Tauben haben viel Ähnlich- 
keit mit den Schwalben, die, der Aphrodite gleichfalls licilig, 
wie die Tauben bei uns berbergen: nun alle 8chwalbenarten, 
welche in Häusern brüten, haben das ursprünglich in Felsnischen 
and hohlen Bäumen gethan, aber nachgerade unsere Mauern und 
Gesimse den natürlichen Steinwänden vorgezogen. Uns berührt 

15* 



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228 IV. Knltns der Seelen, ihrer Wohneitse und Fetische. 



.4li8 aBgenehm, wir lexstcii den getiederten Gästen sogar einen 
gewisseD Vorschub, laden sie ausdrücklich, sozusagen per .Karte 
uns ein, üiachen es ihnen hequem und ziehen sie an uns, 
indem wir die Eigenheiten unserer Vögel studieren, ihnen ihre 
'Lebensgewohnheiten ablauschen und alles bieten,, was sie brauchen. 
.Wir schlagen den Schwalben unter dem Dache, damit ihre Nester, 
die sie gern wiederbenutzen, nicht herabfallen, Bretter und Leisten 
an, legen dem Storch ein Rad aufs Dach, damit er darauf baue, 
hängen für die Stare Mesten und Beuten an die Bäume und ver- 
schaffen den Meisen, den Fliegenfängern, den Botkehlchen, den 
Gartenrotschwänzchen, unzähligen nützlichen Garten* und Wald- 
vögeln Nistgelegenheit, indem wur ihnen Nistkästen aus Linden- 
rinde machen, die weder zu niedrig, noch zu hoch angebracht, 
weder zu eng, noch zu weit sein dürfen, auch gerade die richtige 
Weite und die angemessene Richtung des Fluglochs haben müssen, 
denn das scharfblickende Vogelauge erkennt jeden Fehler sofort, 
und wenn die Wohnung den geringsten hat, so findet sie keinen 
Mieter. Solche Gelegenheiten halben wir nun eben auch, . seitdem 
unsere Häuser von ihnen angenommen werden, den Tauben ein- 
gerichtet : alle unsere Taubenschläge, Taubenkästen und Tauben- 
häuser sollen nur neue und verbesserte Auflagen der natürlichen 
Felsenwohnungen sein, die die Tauben uns zuliebe verlassen haben 
und die sie leicht vermissen, wenn wir die Natur nicht treu 
kopieren. 

Welch eine Spannung, wenn man einen neuen Taubenschlag 
zur Winterszeit mit Feldtauben besetzt hat, und sie nun zum 

erstenmal ausfliegen ! — Man hält sie eine Zeitlang eingesperrt, 
füttert sie reichlich, dann lässt man sie an einem kalten Tage, 
wo die ganze Flur mit Schnee bedeckt ist, oder bei trüber 
Witterung heraus. Werden sie bleiben ? Oder werden sie, von 
Heimweh ergriffen, an die Stätte zurückeilen, der man sie ent« 
rissen hat? Wenn sie nur nichts erschreckt, keine Elatze, kein 
-unwillkommenes Geräusch! Dass sie sich nicht etwa an einen 
fremden Flug anschliessen ! — Sie sehen sich utn und erheben sich 
hoch in die Luft; sie erkunden. Alles kommt darauf an, dass 
ihnen dieses Haus und diese Gegend, dieses kleine künstliche 



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4. Die heiligen TAuben. 229 



Gebirge selber zusagt. Dass sie alleufalls selbst davon Besitz 
ergriffen haben würden. Entspricht es ihnen nichts so werden' 
de den angewiesenen Verschlag nur wie ein Gefängnis betrachten, 
dem sie glttcklich entronnen sind. 

Die Taube wohnt gern hoch; sie will ein Zimmer mit schöner 
Aussicht nnd wom5glich nach der Morgenseite; sie liebt die 
Morgensonne, Das Fenster, will sacken das Flugloch, muss also 
nach Osten gencbtet und mit eiueui Feiisterbrettchen versehen 
sein, auf das sie sieb setzen kann ; die Wohnung selbst aber muss 
einer Hoble ähneln, weil sie. von jeher in Höhlen oder Nischen, 
nicht in offenen Nestern heckt. Auf Baume geht die Felsen- 
taube nie» das thut nur die Ringeltaube, die man in den Anlagen 
von Leipzig, auf den Cypressen eines türkiseben Friedhofs an- 
trifft; unsere Haustaube aber stammt eben von der wiideü Felsen- 
taube ab. Daher also das cbarakteristiscbe Aussehen eines Tauben- 
schlages oder, wie es die alten B-ömer nannten: eines Cohunbarlums, 
ein Beghff; der auf die gleichfalls Nischenreihen enthaltenden 
Grabkammem übertragen worden ist. Man sehe sich den ersten 
besten Taubenschlag an. wie er auf einem Hofe an der Giebel- 
seite eines Hauses ins Dach hineiugebaut ist: mit seinen vielen 
Zellen stellt er eine küu.st liehe Felsenhöhle dar, die ebenso viele 
liüclier als Nester bat. £r macht den Emdruck eines Klosters, 
eines Zellengefängnisses: denn jedes Nest muss einzeln und isoliert 
sein, sodass die brütenden Tauben einander nicht sehen und nicht 
stören können. In Ägypten pflegen die Taubenschläge aus Töpfen 
zusammengesetzt zu werden ; diese Pyramiden nehmen gewöhnlich 
das ganze obere Stockwerk ein, so dass die Tauben nicht mehr 
bei den Menschen, sondern die Menschen bei den Tauben zu 
wohnen scheinen. Daneben hat man in Deutschland auch eigene 
Taubenhäuser, die frei auf dem Hofe stehen und wie Kioske auf 
Säulen ruhen; im Orient^ besonders in Persien die sogenannten 
Taubentürme. Auf diese Weise gewährt der Mensch den Tauben 
das Logis, das sie sich sonst erst mit vieler Mühe suchen müssen ; 
oft sogar ein besseres als die !Natur. Wenn er sie auch noch iuitert 
und tränkt, so wird daraus am Ende eine förmliche Tauben- 
zucht, - 



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I 



230 IV. Kultus der Seelen, ihrer Wohnsitze und Fetische. 



San Marco befindet sieh auf dem Wege zn einer solchen, 

"wie denn alle Taubentempel und Taubenmoscheen gleichsam Uber- 
gan^sstufen sind und zwischen unseren Taubenhäusern und den 
Naturtaubenscblägen in der Mitte stehen, Eichtige Taubenschläge, 
in denen es an nichts fehlt, in denen auf die Bedürfnisse und 
Lebensgewohnbeiten der Zuzttgler liebevolle Bttcksicht genommen, 
in denen sogar Bier verzapft wird, hat Venedig für die deutschen 
und englischen Wandertauben eingerichtet. Das sind die Hotels. 
Die Venezianer selbst aber betrachten sich als Tauben, die im 
Hause eines Toten angesiedelt und ilim für seine grossartige Gast- 
freundschaft, für eine tausendjährige JProtektion und Gnade zu 
Danke verpflichtet sind. Sie sind die Bepublik des heiligen 
Markus. 

5» Der Kosengarten. 

Von Maistadt zum Rosengarten — der Kusengarten bei iiozen hat so 
wenig mit den Rosen zu thun wie das Leipziger Roseiithal — Dietrich von 
Bern ist von Laurin nicht auf Bosen gebettet worden — er ist gleiohsam 
in d«i Himmel gekommen, die Zacken bedeuten dae Himmekeich — die 
Götter und die seligen Qeister wohnen nämlich auf hohen, unersteiglichen 
Bergen — der Olymp — Dietrich und Wittich mit Theseus und Firithons, 
Knnhilde mit Pereephone, Laurin mit dem Höllenfürsten su vergldcheii 
— Himmel und Hölle — ein anderer deutscher König, der in diese Gegend 
gekommen ist — ein dritter, der wirklieh im Rosengarten schlummert — 
Gräber sind Bergspitsen einer neuen schöneren Welt. 

Vom Maibaum ist es nur ein Schritt bis zum Weihnachts- 
baum, der in der Cliristnacht, wenn die Zeit stillesteht, Ver- 
gangenheit und Zukunft ausgelöscht werden und die alten Könige 
und Helden durch die Luft ziehn, das ewige All yerkiindet. 
Von Maistadt ist es nur ein Schritt bis zum Bosengarten, in 
dem die Toten liegen und in den die Auserwählten dringen, sei 
es, dass sich ein kühner Mann hineinwagt, sei es, dass ein Hirt 
die Glücksblume gel'undeu hat, die ihm deu Eingang öffnet. 

Als sich im Jabre 1511 Kaiser Maximilian entschloss, von 
Venedig ins Pusterthal zu gehn, auf dem Toblacher Feld in 
Niederdorf zu bleiben und das ob der Bienz gelegene Wildbail 



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5. Der Rosengarten. 



231 



za gebrauchen: wurde dieses kleine, Ton schönem Walde um« 
gebene Bad, ein erdig-saliniscber Eisensäuerling; ein paar Wochen 
lang Sitz der Majestät. Jawohl, der kaiserlichen Majestät — 
Maximilian hatte in Trient den Titel: Enrählter römwcher Kaiser 
angenommen und damit die kaiserliche Würde von der Bestätigung 
durch den Papst formell unabhängig gemacht, also auch das 
Prädikat der Majestät erworben. Dieses Pn&dikat, das schon 
Horaz (Episteln II, 1, 258} dem Kaiser Augustus zuerteilt — 

sed neqoe parvum 
Carmen Majestät reoipit Tua — 

war im vierzehnten Jahrhundert auf die römisch-deutschen Kaiser 
übergeganj?en. Und zwar nur auf diese - die Majestiit war 
nur eine wie das Reich. Andern Königen, z. B. den englischen, 
wurde dieser Titel erst viel später zugestanden, obgleich Shakespeare 
in seinem King Henry VL; Grace und Majesty abwechselnd ge- 
braucht. In dem Friedensverträge von Cambrai (1529) wird 
nur Kaiser Karl V., Maximilians Enkel, Majestät genannt. 
Man sagte damals, der lateinischen Form entsprechend: Majestät^ 
erst später mit Umlaut: Majestet oder Majestät. Nun, seitdem 
hiess also das Kiederdorfer Wildbad: das Majntatshad oder 
Bad Majestät, woraus nachgerade : Maistadt geworden ist. Diesen 
Namen führt es noch gegenwärtig. 

Es schreibt sich mit Stolz: BAD MAJSTAT, MDXT. 

Die Geschichte, wie sich Kaiser Maximilian im Ampezzothale 
nicht genügend ausbreiten konnte, sich deshalb allergnädigst 
resolvierte, das nächst ob ^iederdorf gelegene W^ildbad zu ge- 
brauchen, ist in dem alten Maistädter Hausbuche, das vom 
Jahre 1712 bis zum Jahre 1777 reicht, handschriftlich in Wort 
und Bild niedergelegt, auch ein amtliches Zeugnis beigefügt, 
dass seither© über zweihundert Jahre hohe und niedere Standes- 
personen dieses berühiiite Majestäter Bad mit deru wunderbarem 
Effekt besucht und gebraucht Iiaben. 

Der Fremde, der in Niederdorf, im Hause der i^'rau Emma, 
der Berliner, der in seiner Sommerfrische an dem Pragser 
Wildsee zum erstenmale Ton Maistadt erfährt^ wird dabei schwer* 



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252 IV. Kultus der Seelen, ihrer Wohmitze und Fetiecbe. 



Uck an etwas soderes als an Maibäumei Maiblumen und Maifeste 
denken. Mit dem Mai hat Maistadt so wenig zu tbun wie 
Mailand, wie der Wonnemonat mit der Wonne (die hier nur 
den materiellen Sinn von Viehweide hat), wie der Bosengarten 

mit den Rosen. 

Dietrich von Bern ist von Laurin nicht auf Rosen ge- 
bettet worden; es wuchsen überhaupt lieine Rosen im Reiche 
des Zwergköoigs. 

Wer kennt nicht das herrliche Felsgebiet bei Bozen, daa 
den Namen des Rosengartens trägt und das der Deutsche und 
Osterreichische Alpenverein von Jahr zu Jahr mehr erschliesst? 
— Hart unter den zackigen Dolomiten, im obersten Vajolett- 
thale hat die Sektion Leipzig ein Schutzhaus aufgeführt, das 
den verwegenen Dietrichen eihiubt, im Rosengarten herum« 
zukraxeln ; zum Gartel selbst wird ein Steig gebaut, damit man 
nicht mehr die langen Schutthalden zu passieren brauche, die 
sich zwischen dem Rosengarten und den Yajoletttürmen ins 
Thal ziehen, das Fassatb^ mit der Rosengartengruppe durch 
eine Steiganlage in direkte Verbindung gebracht und die 'Gras- 
leitenhütte im Grasleitenkessel vergrossert. So bequem hat es 
der edle Berner nicht gehabt, als er unschlüssig auf der Latemar- 
wiese stand und überlegte, ob er über den Karerseepass oder 
Über die Seiser Alpe und die Mahlknechtschwaig am Fusse der 
Rosszähne gehen solle, um in den prachtvollen Gbtrten einzu- 
brechen, der ihm so wenig Ruhe Hess wie den modernen Hoch- 
touristen. 

Theoderich der Grosse, König der Ostgüten, genannt Dietrich 
von Bern, der treue, vulkstümliche, friedfertige, starke Held sass 
mit seinen Mannen fröhlich zechend in der Köuigsburg zu Verona 
oder Bern, auf dem alten Petersberge, von welchem man noch 
heute auf die malerische Stadt zu seinen Füssen und das weite 
Etschthal hinunterblickt, während die blauen Tiroler Alpen im 
Korden den Horizont abschliessen. Er dünkte sich fürwahr der 
herrlichste Held zu sein, er erfüllte die Welt mit seinem Ruhme, 
ihm war gar niemand zu vergleichen. Da meinte der alte Hilde- 
brand: etwas fehle ihm doch noch zur Vollkommenheit. In 



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5. Der Koseogartea. 



233^ 



Tirol, in der Gegend yon Meran, dem Stammlande des Königs^ 

wohne ein mächtiger Zwerg, mit dem habe sich Dietrich iioclv 
nicht gemessen, und er werde es wohl auch bleiben lassen, denn, 
er könne ihn nicht Herr werden. Es sei nicht geraten, mit 
dem kleinen Blitzkerl anzubinden. Er beisse Laurin and habe 
dneii wonniglichen Bosengarten, um den anstatt der Mauer ein 
Seidenfaden gezogen seL Diesen Faden zerreisse niemand wc^ 
gestraft 

^Älehr brauchte es nicht. Dietrich sass mit seinen Gedanken 
schon mitten im Kosengarten drin. Die Glut schoss ihm wie 
gewöhnlich aus dem Munde, er war ganz Feuer und Flamme^ 
das Abenteuer musste gewagt werden, es koste was es wolle. 
Sein Freund Witticb, der Wielandssohn, nächst Dietrich und 
Siegfried der gewaltigste Held der deutschen Sage, be- 
gleitete ihn. 

Beide Helden ritten also nach Norden ins Gebirge, in die 
Veroneser Klause hinein und die Etsch hinauf bis zur Eisack- 
mündung. Hier gelangten sie in einen grünen Tann, dann auf 
einen Ang^, die obenerwähnte aussichtsreiche Latemarwiese, 
endlich ohne Führer, auf Umwegen, nicht ohne Mühe und Schweiss, 
immer zu Pferde bis zu besagtem Bosengarten, um den der 
seidene Faden lief. Wittich zerriss die leichte Schranke, setzte 
ohne viel UmsUtude in den Garten und trat alles wie ein rechter 
Bauerliimmel nieder. Dietrich machte es ihm nach, dann legten 
sich die beiden Helden ins Gras und warteten der Dinge, die 
da kommen sollten. 

Was nun geschah: wie Laurin erschien und die qualifizierten 
Hausfriedensbrecher zur Rede setzte, sie büssen und ihnen den. 
rechten Fuss und die linke Hand abhauen wollte — wie Wittich 
und ]^ietrich mit dem Zwerge kämpften, wie sie ohne Hildebrand, 
der ihnen nachkam, verloren gewesen wären — wie Dietleib 
Ton Steiermark, ein anderer Recke Dietrichs, für den Zwerg 
Partei nahm, weil er hörte^ dass seine Schwester Künhilde bei 
ihm sei — wie Laurin die Helden in den Berg hineinführte,, 
wie er sein Wort brach, wie die Helden gefangen, aber durch 
Dietleib und Künhilde gerettet wurden — alles das möge, wer' 



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'234 IV. Kultas der Seeleo, ihrer Wohnsitze nnd Fetische. 



-sich dafür interessiert» in dem Spielmannsgedicht nachlesen, das 
^en Titel: der kleine Bosengarten führt. Es ist wohl 
jkein Zweifel, dass die anmutige Sage, die sich als eine mit der 
Dietricbssage verknüpfte Tiroler Lokalsage charakterisiert« erst 

dazu geführt hat» jene Gruppe von Dolomiten, deren wunder- 
bares Gezack man in Bozen südöstlich vom Schiern erblickt, 
<lie Rosengartengruppe zu taufen und das Märchen hier zu 
lokalisieren ; dass nicht etwa umgekehrt die Sage an den Nameu 
Jtosengarten angeknüpft bat. Das ist deshalb anzunebmen, 
weil der mit einem dünnen Seidenfaden umhegte Bosengarten 
•(wie schon ans dem zweiten Gedicbte dieses Namens, dem Bosen- 
4farten von Worms hervorgeht) eine weitverbreitete Phantasie» 
-ein Gemeingut des Volks und von Haus aus ein Jiiid des liiium- 
lischen Paradieses, des Jenseits ist. Rosengarten, noch heute 
eine populäre Bezeichnung des QottesackerSi der gleich denoi 
griechischen Hades seine Scbrecken verloren und das ewige 
lieben eingetauscht bat — 

hier lieg ich im Boseogarteu 

und moss auf Frau und Kinder warten, 

-erzählt ein verstorbener Bauer auf seinem Leichenstein: Rosen- 
garten bedeutete in christlicher Zeit den Himmel und die himm- 
lische Seligkeit; der dünne Faden war die unmerkliche, gefährliche, 
-80 mühelos und so bald überschrittene Grenze zwischen dem Leben 
und dem Tode, die schwache Mauer des unentdeckten Landes» die 
•der Wanderer leicbter als die cbmesiscbe passiert. Das Himmel- 
xeicb wurde dann verörtlicbt und auf den steilen, unersteiglicben 
Bergen gedacht, die hoch über der Menschen Gescblecbter in die 
Wolken ragten und von denen niemand wieder herunterkam: in 
«diesen rätselliaften Spitzen, die im Abendsonnenscheine glühten 
und leuchteten, schienen den Gläubigen die Zinnen Jerusalems, 
-die goldenen Gassen der heiligen Stadt zu winken, die Lebens- 
bäume des Paradieses standen träumend darum berum, und Bosen, 
feuerblübende Hinunelsrosen waren zubauf über Gbttes Wobnungen 
ausgestreut Es ist derselbe Flug der Phantasie, der den Glas- 
berg unserer Märchen, den Goldberg Meru der Hindu und den 
babylonischen Albordsch erschaffen hat; der den Israeliten den 



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5. Der ßoMngarten. 235 



Sinai, den Griechen den hohen Olymp zum Throne Gottes 
empfahl. Der geräumicre, schneebedeckte, in den Äther reichende 
Olymp ist wie ein Stuhl, auf den man steigt, um in den Himmel 
hineinzusehn — es ist hier ein Thor des Himmels, durch das 
die Götter fahren und das von den Hören auf- und zugemacht 
wird, nämlich ein Wolkenthor. So stellt sich Homer die Sache 
Tor (Iliafl V, 751); ähnlich betrachten die Araber den Kaukasus, 
die Chinesen den Kuenlün. Im Hebräischen ist sogar ein Wort, 
das eigentlich einen Berg bedeutet, Maros, ein Ausdruck fiir 
Himmel geworden. Der gesamte Höhenkultus entspringt aus der 
Vorstellung, dass die Götter und die seligen Geister auf die Gipfel 
der Berge gezogen sind, während die Verdammten tief im Innern 
der Erde, in den Vulkanen liegen. In der Hölle, das heisst: im 
Grabe liegen ursprünglich alle Toten; seitdem der Mensch am 
Grabe die Hoffnung aufgepflanzt hat, ist das Grab selbst ein 
kleiner Berg geworden, der wie der Olymp eine Himmelspforte 
abgiebt. Daher sagt der Jj urst, der in Branitz, in der lusel- 
pjramide, mitten in seinem Parke von seinen. Belsen ausruht: 
Gräber sind Bergspitzen einer neuen schöneren 
Welt. 

Das machte sich aber ganz von selbst, dass die Bergspitze 

dem Zweri^enköni;^' ui die Hände fiel, dass Zwerge das Jenseits 
hüteten und den Kosena^arten pHegten. Zwerge wohnen ja in den 
Bergen — in den Eiugeweiden der Erde bauen sie ihre Paläste, 
schmieden sie ihre kunstreich f^n Waffen, sammeln sie ihre un- 
ermesslichen Schätze. Wie die Weisse Frau in den Berner Alpen 
die Blüemlisalp, der Zlatorog in den Julischen Alpm das Edel- 
weiss auf dem Triglav, so besitzt in den Södtiroler Dolomitalpen 
Laurin den Iloseiigarten. Wenn der Himmel ein Berg ist. so 
muss er den Zwergen angehören, das ist in den Alpenländern, 
die an Zwergsagen so reich sind, eine unvermeidliche J^'olgerung. 
Als Besitzer eines Rosengartens gewinnt indessen Laurin eine weit 
Über gewöhnliche Zwergenkönige hinausreichende Bedeutung: er 
wird zu einem christlichen Himmelsfürsten, der sich daher auch 
in Bern taufen lassen muss. Dietrich ist mit Witticb gleichsam in 
den Himmel eingedrungen, wie Theseus und Pirithous selbander 



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236 



IV. Kultus der Seelen, ihrer Wohnsitze und Fetische. 



in die Unterwelt hinabgestiegen eind^ die Pereephöne zu entfüluren 
— wenn Lanrin Fräulein Künhilde geraubt hat, so hat sie der 

Tod geraubt und wenu sie ihren iJiuder Dietleib bei der 
Hand nimmt und in Laurins Palast herumführt, so glaubt mau 
Beatriee zu sehn, die ihren Dante durchs irdische Paradies 
geleitet. Sie wird zuguterletzt thateachlich aus Laurins Gewalt 
befreit und kehrt mit ihrem Bruder nach der Burg Steier 2uräck; 
Laurin selbst muss als Gefai^gener mit nach Bern. Fersephone 
war nicht so glücklich, denn ihre Entführung misslang ; aber die 
Fesselung des Theseus, seine Befreiung durch Hci.ikles, das 
Heraufholen des Cerberus, das alles sukI verwandte Züge, die 
sich iu dem altdeutschen Heldengedichte so gut wie in der 
griechischen 8age finden. Da der Hund, wie früher erörtert, mit 
Pluto zusammenfallt^ so kann man den Laurin auch mit dem 
Oerberus vergleichen. Der Oerberus wird Yon Herakles, nachdem 
er ihn Burystheus gezeigt hat, wieder zum Beherrscher der Unter- 
welt gebruciiL. So kehrt auch Launu schliesslich lu sein König- 
reich, eine Spielart des Himmelreichs, zurück. 

Rosengärten, Mosm^assen, Hosenthäler sind iu den deutscheu 
Städten Euphemismen für eine andere Art von Paradiesen. Das 
Leipziger Bosenthal hat seinen Namen auch nicht you den Bosen, 
wohl aber von hübschen Mädchen, sozusagen von Huris, die mit 
Bosen verglichen werden. Das Heilige und das Unheilige, Himmels- 
vvonne und Wollust wohnt nahe beieinander. 

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir 
Hilfe kommt. Kehren wir noch einmal ins Pusterthal und aufs 
Toblacher Feld zurück. Es ist noch ein dritter fürst, dessen 
Spuren man hier begegnet; ein dritter deutscher £!önig. Im 
September 1887 ging der Kronprinz Friedrich Wilhelm mit seiner 
Familie nach Toblach und verweilte daselbst mehrere Wochen, 
um dann von hier aus den schüueu Weg durch das Ampezzothal 
einzuschlagen und sich nach Venedig zu begeben. Der Prinz wax 
schon leidend; von Toblach aus drangen die ersten besorgnis- 
erregenden Gerüchte über sein Befinden in die Öffentlichkeit^ £Ir 
schien sich mit düstem Ahnungen zu tragen ; damals sah er die 
alte Kapelle zu Innichen, die eine Nachahmung der Jerusalemer 



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5. Der Boaengfarten, 



237 



Heiligen-Grabes-Kapelle ist und nach deren Plan er sein Mausoleum 
in der Friedenskirche zu Potsdam ausgeführt wissen wollte. Ob 
der hohe Kranke wohl an den Kaiser Maximilian und an Dietrich 
von Bern gedacht; ob er seine Angen wehmatsvoU zum Bosen? 
I^arten erhoben hat? — Ein altes Volkslied lautet: 

Sterb ich denn, so bin ich tot, 
' r 80 gräbt mau mich in die liöslein rot, » . 

inne die Rosen, inne den Klee, . ^ 

• r > darunter vergeh ich nimmermehl — 



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7. Die Unsterbliclikeit, die man 
lioift, und die XJnsterbliclikeit, die 

es giebt. 



1. Semba und Melanehthoii. Die Anferstebiinir* 

Ich dachte, er wiire gescheiter — iiiclits ist doch gewisser als der Tod — 
der Auferstehungsglaube gar kein Unsterblichkeitsglaube — die Stelle, auf 
die sich die Auferstehung des Fleisches gründet. 

Der liebenswürdige und feingebildete Kardinal Pietro Bembo, 
der die lateinische Inschrift auf dem Grabe Baffaels im Pantheon 
yerfasst hat und sich iirgerte, dass Ariost die Theten Bolands 

nicht in lateinischen Versen besingen wollte; der elegante Stilist, 
der die Bibel nicht las und sein Brevier nicht betete, um sich 
sein gutes Latein nicht zu verderben : interessierte sich natürlich 
auch für die andern berühmten Humanisten des Leoninischen 
Zeitalters. Zum Beispiel für den Magister Philipp, den Praeceptor 
Germaniae. In Venedig erkundigte er sich einmal» was denn 
dieser gelehrte Mann Ton der Unsterblichkeit halte. Und als er 
hörte, Melancbthon glaube steif und fest an eine Auferstehung, 
versetzte er acbselzuckend : Ich dachte, er wäre gescheiter {jni 
penmri, ehe fasse piü accorto). 

Der Kardinal glaubte also nicht an die Unsterblichkeit^ er 
war ein Heide. Er verwunderte sich über den Athmatimm der 
Deutschen, wie Herodot über den der Geten. Versuchen wir 
einmal, dem Kirchenfürsten nachzufühlen und ihn auf seinem 
Gedankengange zu begleiten. Er sagte etwa bei sich selbst — 
was will er denn eigentlich mit seiner Unsterblichkeit? — Alle 
Menschen müssen doch sterben und die Schuld der Natur be- 



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1. Bembo und Uelanchthon. Die Auferstehung. 



23» 



zahlen, das ist doch nicht zu leugnen. iWm et üwhra iumuB^ 
Das Sterben gehört so sehr zur menschlichen Natur, dass M enscheik 

und Sterbliche, Homines und Mortales ^ avd-QWTtoi und ßQOToi 

geradezu gleichbedeutend sind. Nicht etwa, dass die Menschen 

allein stürben; aber das Sterben kommt ihnen unter allen Wesen 

nm meisten zum Bewusstsein. Der Gedanke an ihre ephemer» 

Existenz drückt sie schwerer als andere. 

Von Srde sind, za£rde werden wir; 

Voll Angst und Enmmer sind anf Erden wir. 

Du gehst vorüber, doch es währt die Welt, 
Und keiner hat ihr Kätsel aufgehellt. 

Also klagt Firdüsi, so klingt es in allen Zungen; es sagen'» 
allerorten alle Herzen unter dem himmlischen Tage. Kichta 
ist sicherer als der Tod, wenn auch diese Gewissheit nur auf 
Induktion beruht. Selbst die Auferstehung könnte daran nichts 
ändern; im Gegenteil, sie setzt das Sterben voraus. Weil niemand 
anferstehti wenn er nicht vorher tot dagelegen hat. 

Der Auferstehungsglaube ist strenggenommen gar kein 
Unsterblichkeitsglaube, sondern höchstens der Glaube an ein& 
Unsterblichkeit nach dem Tode. Ich weiss, dass mein Erliiser 
lebt, und er wird mich liernach aus der Erde auferweckeu, und 
werde danach mit dieser meiner Haut umgeben werden, und 
werde in meinem Fleische Gott sehen. Ja, ja, ja, ja; auf diese 
Stelle gründet sich die Auferstehung des Fleisches im Apostolischen 
Symbolum. Sie ist falsch übersetzt; Mibesari kann wenigstens 
ebensogut heissen: ausser meinem Fleische oder: ohne mein 
i^leidcli. Die hebräische Präposition min oder mi bedeutet die 
Entfernung von etwas, von aus oder: von weg. Aber darauf 
kommt CS gar nicht an; die Hauptsache bleibt doch, dass der 
fiiob erst aufersteht, wenn er einmal mausetot gewesen ist. 

Das ewige Leben soll später einmal angehn ; zunächst haben 
wir keins. Wir sollen uns künftig verjüngen; vorläufig sind wir 

In diesem Sinne hat es die revidierte Bibel in der That genommen. 

Die Vulgata übersetzt ebenfalls: in carne mea videbo JJtum meutn (Liber . 
Job XIX, 26>. Grammatisch ist die eine Übersetzung so richtig wie die- 
andere. • 



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240 



V. Die Unsterblichkeit, die man bofft. 



alt. Wir sollen wieder gans werden; Torderhand liegen unsere 
<jrebeine noch umher. Wir werden geweckt werden; zunächst 
schlafen wir noch fest. Eb, was nützen uns die Versprechungen! 

Morgen, morgen bekommen wir zu essen, lieute können wir ver- 
hungern! — Auferstehung ist keine Unsterblichkeit. 

2. Der V ergleich mit dem Saatlioiti. 

Bin alter Gedanke, vom Apostel PaoluB aoBireföhrt^ von SohiUer wiederholt 

— er ist leider unzutreffend — das Samenkorn ist keine Leioke — die 
Boine des Organismus hat viel mehr Ähnlichkeit mit dem Stroh, das man 

. verbrennt, als mit dem' Getreide, das man sat. 

Wenn imn aber der Tod nur ein Durchgang zu einem höhereu 
Leben wäre, der Leichnam unter der Erde langsam fortwtichse 
iind sich verwandelte wie eine Pflanze? — Das Begraben allein 
that's nicht; es geht nicht alles zu Grunde was man hegräbt. 
Schätze vergräbt man; einen Samenkern steckt man in den Boden^ 
obue Furcht, ihn zu verlieren. Dem dunkeln Schoss der heil'gen 
Erde vertraut der Säemann das Getreide in Hoffnung auf das 
Entkeimen; 

noch köstlicheren Samen bergen 
wir trauernd in der Erdß ScI^oqs, 
und hoffen, dass er aus den Särgen 
erblühen soll zu schöaerm Los. 

Der Gedanke ist uralt; er liegt bereits dem Glauben an die 
Überwinterung des Getreides in Huldas Seelenreicli und dem 
Jdythus von der Proserpina zu Grunde, die offenbar auch nichts 
weiter als die alljährlich begrahene, vom Höllenfürsten geraubte, 
auf Zeit, wieder zarückgegehene Frnoht der Demeter bedeutete 

— er hat in den Elensinischen Mysterien eine mystische Ter* 
tieifung und eine reichere Entwickelung erfahren, gleichsam ein 
frühes Ostern hervorgetrieben, wobei nicht nur das Verschwinden 
der Proserpina, sondern auch das Leiden und Sterben des Jiionysos 
gefeiert ward ; und endlich in dem ersten Briefe des Apostels 
Paulus an die Korinther die Sanktion des Christentums gefunden, 
üöchte aber jemand sagen: wie werden die Toten auferstehen? 



I 

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3. FrfihliagBWcbmut. 



241 



Und mit welcherlei Leibe werden sie kommen? — Du Narr, das 
du säest; wird Dickt lebendig, es sterbe deou. 

Acfa, du meinst noch, der Tod Teroiclitef Huta denn das Saatkorn 
Nicht aufschwellen, bevor es aom lebenden Keime sich hebet! — 

Wie sich aas dem Weizenkorn, Paulus nennt dieses aus- 
drücklich, ein neuer pfrüner Halm entfaltet, also wird uua unsern 
irdischen Resten ein himmlischer, verklärter, geistliclier Leih 
hervorgehen. Schiller hat dann den schönen Vergleich in der 
Glocke wiederholt. Er ist gewiss schön und der tröstlichsten einer, 
sozusagen: die Poesie des Grabes; nur leider eine bestechende, 
«ehr wenig zutrefiPende Poesie. 

Dass die Analogie höchstens für ein neues irdisches Leben, 
nach Art des vorigen Sommers, keineswegs für einen wunderbaren, 
geistigen Leih sein würde, davon will ich schon gar nicht reden. 
Aber das sieht doch ein jeder, und es gebort wahrlich keine be- 
sondere Naturwissenschaft dazu — dass ein verwesender Körper 
eine viel grössere Ähnlichkeit mit dem Stroh als mit dem Korn 
hat. Das Samenkorn ist keine Leiche, sondern das befrachtete 
Ei der Pflanze, in welchem eine neue Pflanze vorgebildet liegt, 
gleichsam das Kind der PÜanze, das unter günstigen Bedingungen 
gedeiht — der Leichnam die Ruine eines Organismus, der einst 
auch Samen gehabt hat, aber, es müsste denn eine Schwangere 
sterben und die Tote noch niederkommen, keine Frucht mehr 
trägt. Bäume tragen, Menscheu tragen, und nicht die leeren, 
ausgedroschenen Ähren werden gesät, sondern die Samenkörner; 
das leere Stroh verbrennt man. Es ist doch mehr als einfältig 
Priamus und Hekuba, die suhloUerichte Königin, wie sie uns 
Shakespeare schildert, und die von Welrn erschöpften magern 
Weichen mit den fünfzig Söhnen des Ehepaars zu verwech- 
seln. Dennoch mag gerade der unpassende Vergleich mit dem 
Getreide die nützliche Sitte hindern: das Menschenstroh zu yer- 
brennen. 

3. FrUhliDgswehmnt. 

Auch die Biiurae, die frisch ausschlacken, und die Frühlingsblumen gewähren 
keinen Trost, im Gegenteil, sie stimmen uns wehmütig — aber wenn die 
Kleinpanl, Dio Lebeadigen aad die Toten. 16 



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242 



y. Die Uuaterblichkeit, die man hofft. 



Bäum« ftoeh alt werden, to sterben sie doch aucb, und wenn wir vermeinen, 
dast die Natur ewig lebe» so täuschen wir uns sebr wirklich ewig ist 

allein der Mai aelbet. 

Nein, nein. Einem Samenkorne gleicht diese kalte Leiche 
nicht; sie gleicht vielmehr dem welken Blatte, das abgelallen 
ist und durch ein anderes ersetzt wird, das im nächsten Herbste 
wieder abfäilt Wer kennt nicht die herrliche Stelle im sechsten 
Buche der Ilias. Ach» was fragst da nach meinem Geschlecht^ 
meint Glankus. Die Menschen sind wie Lauh, sie werden wie 
Blätter vom Winde weggefegt und erneuern sich wie die. Blätter 
au den Bäumen, wenn der Frühling wiederkehrt. Man merke, 
wie hier das Hauptgewicht auf die Vergängliclikeit gelegt wird 

— die Blätter erneuern sich zwar auch, aber sie erneuern sich 
nicht aas sich selbst, das einzelne Blatt verschwindet. Es ist 
der Baom» der eine Art Unsterblichkeit hesitzt. Dem Baume 
selber aber gleichen wir nicht; das ewige Lehen der Katur zu 
bewundern und das flüchtige Menschendasein, das nur einen ein- 
zigen Frühling liat, au ilim zu messen, legt uns jedes Veilcheu 
und jeder Maibaum nahe. 

Es ist der Grundgedanke jener wehmüti<:^on Ode des Horaz^ 
in welcher das geflügelte Wort: Pnlck ei Umbra summ vorkommt 

— es isty in merkwürdiger Übereinstimmung mit den elegischen 
Gefühlen des alten Dichters, das Thema des bekannten, so oft 
TOn süsser Frauenstimme vorgetragenen österreichischen Liedes: 
Wenn^s Maililfterl weht. Jed's Jahr kommt der Frühling, ist der 
Winter vorbei; doch der Mensch nur allein hat ein'n ein- 
zigen Mai. 

Deshalb pÜanzt man auch Bäume auf die Gräber, nament- 
lich immergrüne, Cypressen, Fichten und Lebensbäume, die 
ewig zu leben scheinen. Man hat gesagt, diese Bäume schlügen, 
einmal abgehauen, nicht wieder aus, wie das z. B. die Weide 
thut — *inaej semel eaeaa, renasci neacii^ erzählt ein lateinischer 
Grauimatiker von der Cypresse, dem alten Trauerbaume. Aber 
nicht als ob sie Bilder der sterblichen Menschen wären, schwanken 
die Cypressen auf dem grossen Friedhofe zu Skutari, auf dem 
asiatischen Ufer des Bosporus. Sie stehen da als unerreichbare 



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3. FrÜhlingswebmot. 



Ideale, denen die Menschen genie gleichen möchten, die aber 
solcher Eintagsfliegen and ihrer Sehnsucht spotten. 

Am Fnsse des heiligen Bergs anf Geyion, des Adamspiks, 
erzählt Ihn Batüta in seinem Beisewerke, steht eine Cypresse, 

die niemals ein Blatt verliert. Tausende von Büssern warten, 
dass eins herunterfalle; denn wer es bekäme und ässe, würde 
das ewige Leben haben. Aber es ist noch keins heruntergefallen; 
sie sterben noch alle. 

Wenn die Kinder am Gründonnerstage in den Wald gehen, 
am blühende Weidenzweige zu sdineiden, und dann in der Kirche 
den Totenschrein der Mutter damit umwinden: wollen sie der 
Mutter den ewigen Frühling bringen, den sie auch einmal gehabt 
und der ihr abgeblüht hat. 

Der Baum, an dem die Blätter im Herbste gelben und ab- 
fallen, scheint gleichsam zu sterben; der Winter, das £nde der 
y^etationsperiode, ist der jährliche Tod der sommergrünen 
Hölzer. Die jährliche Erneuerung des Laubes ist dagegen eine 
jährliche Auferstehung, die die armen kurzlebigen, ergrauenden 
und kahlglatzeten alten Herren zugleich mit Freuden, zugleich 
mit stiller Trauer, ich möchte fast sagen: mit Neid begrüsseii. 
Die immergrünen Ptianzen, die ihre Blatter allmählich ersetzen, 
scheinen geradezu unsterblich. Das auffallendste Beispiel ist 
eben die Qypresse, bei der noch die Un^erweslichkeit des Holzes 
hinzukommt, um sie zu einer Folie des Lehens, zu einem düstern« 
feierlichen Spiegelbild zu machen. Dennoch, dennoch, wie sehr 
täuschen wir uns auch hier! Wie weuig Grund haben wir die 
Natur, die Maien und die blauen Veigerl zu beneiden! — 

Es ist leicht zu erkennen, dass diese ganze Frühlings- 
schwärmerei und Frühlingswehmut auf einem Irrtum, beziehent- 
lich auf oberflächlicher Beobachtung beruht; und dass ein fremder 
Geist, der uns so flüchtig ansähe, wie das poetische G^müt 
die Pflanzen, ebensogut von unserer ewigen Jugend fingen und 
sagen könnte. Auch die Pflanze, die Mensch genannt wird, hat 
ja einen Frühlinsf, sogar einen langen Frühling, alljährlich blühen 
die schönen jungen Frauen wie die Rosen, alljährlich heben die 
kleinen Kinder ihre Köpferl in die Höhe, wie die blauen 

16* 



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244 V, Die Unsterblichkeit, die mau hotit. 



Veigerl. Nur der einzelne Iiiensch, das Individuum hat seine 
hestimmte Zeit, und ebenso blüht auch der einzelne Bosenstock 

nicht ewig, nicht einmal der am Hildesheimer Dome. Es ist 
merkwürdig, wie sich die Dichter widersprechen, aber die Ver- 
gängliciikeit der Gewächse wird ebenso oft und in ebenso er- 
greifenden. Versen geschildert wie ihr unvergängliches Leben; 
die Blumen werden ebenso gern zu Bildern für unsern frühen» 
unzeitigen Tod wie zu Beispielen der Unsterblichkeit gewählt. 
HomOy ncut fcenum dies ejus — ein Mensch ist in seinem Lehen 
wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde; wenn der 
AV^ind darübergeht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet 
sie nicht mehr: diese Worte des Psalmisten hat der römische 
Zeremonienmeister nach einem alten Brauche dem neuerwählten 
Papste in Sankt Peter vorzuhalten, während eine Flocke Wei^ 
angehrannt und schnell wiederausgeblasen wird. Wirklich sind 
ja weitaus die meisten Pflanzen bloss einjährig oder zweijährig 
wie die Insekten. Lange leben die Bäume; z. B. die Linden 
erreichen ein sehr hohes Alter, in einzelnen Fällen bis zu tausend 
Jahren — man kennt tausendjährige Tannen, Fichten, Eukalypten, 
Eichen, mehrhundertjährige Eichen sind in den Leipziger und 
Berliner Waldungen keine Seltenheit — in Jerusalem und in 
Athen sieht man Ölbäume, die schon zur Zeit Christi und zur 
Zeit des Perikles gestanden haben sollen — die Ojpressen in 
der Villa d'Este in Tivoli sind nachweislich dreihundert Jahre 
alt, die in Konstantinopel gewiss viel älter — es giebt Zedern. 
Affenbrotbäume, Mammutbäume, die so alt scheinen wie die 
Welt. Wirklich sollte der sogenannte Vater des Waldes, der 
berühmteste Mammutbaum der Sierra Nevada in Kalifornien, der 
flchon seit längerer Zeit umgestürzt ist, gerade sechstausend 
Jahre alt sein. Aber abgesehen davon, dass die Schätzung sehr 
eelten historisch beglaubigt ist und dass sich den tausend »Tahreu 
schwer nachkommen lässt, abgesehen auch davon, ob diese Ü ium- 
riesen wirklich als einfache Individuen angesehen werden können : 
eben die Thatsache, dass sie alt sind und dass man ihnen das 
hohe Alter anmerkt, beweist doch auch, dass sie sterben. 
Ach, sie stehen ja nicht mehr vor uns wie die Götter Griechen- 



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3. Jf>tt|tUiigawehmat» 



245 



lands. taufrisch und frühlingsgrüii — sie stehen da wie ihre 
eigenen Ruinen und hängen nur noch notdürftig am Leben, 
Oder vielmehr: das Leben hängt nur noch an ihnen, denn der 
Geist, der sie belebte, ist im Begriffe zu entfliehn. Sieh diese 
Linde, die za den ältesten Bäumen in Deutschland gehört und 
angeblich von Heinrich dem Löwen gepflanzt worden ist — &n 
dem gewaltigen Stampfe grünt nur noch ein einziger armer Rest. 
Sich diese Lindenallee, die Leipzig und Schönefeld verbindet; 
diese Eichenalleen, die im Albanergebirge von Oastol Gandolfo 
den Albaner See entlang nach Marino und nach i'rascati führen. 
Welche merkwürdigen, geisterhaften Bäume! — Sie fallen aus- 
einander, wenn sie nicht künstlich zusammengehalten und wie 
Fässer mit eisernen Beifen gebunden werden — sie müssen wie 
ein Ofenrohr verschmiert, vermauert und mit Lehm ausgefüllt 
werden — sie gleichen Hohlwegen und Reitschalen — sie be- 
stehen gleichsam nur noch aus Stücken — sie sind vorn Zahn 
der Zeit zersclilissen und zerfetzt, so zusagen nur noch Gedanken, 
ein kleines Weilchen, so ist auch der letzte Best dahin. Morgen 
wird der Wanderer kommen, der sie sah in ihrer Schönheit, 
ringsum wird sie sein Auge im Felde suchen und wird sie 
nicht finden. Die italienischen Eichen sind immergrüne Eichen, 
sogenannte Leen, die der Herbstwind nicht entblättert; aber 
wenn sie auch im Winter nicht entschlafen, sondern ewig zu 
leben scheinen, so leben sie doch nur eine Zeitlang und gehen 
endlich so gut wie die Laubholzbäume der kälteren Zone, die 
ihre Blätter wechseln, ein. 

Unsterblich sind die Bäume auch nicht, und die Immortellen 
Papier und Stroh. Selbst die alte verwachsene Linde auf dem 
Friedhofe der Bergkirche zu Sankt Annen, die Luther mit der 
Krone in die Erde gesteckt haben soll, um Adam Riese einen 
Beweis von der Unsterbliclikeit zu geben, wird f;illen wie Troja. 
ßiiist wird kommen der Tag. wo die heilige Tilios hinsinkt, wie 
der Vater des Waldes und die Reitschule in Kalifornien. Und 
diese Veteranen des Pflanzenreichs sind doch nur seltene Aus- 
nahmen, die sich wohl nicht einmal so lange hielten, wenn sie 
Bicbt von den Menschen sorgsam gepflegt und geschützt und wie 



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246 V. Die UosterblMshkeit, die man hofft 



die Mammutbaiiie in Kalifornien zam Nationaleigentum erklart 
ivürden. Gewöhnliche Bzemplare haben etwa eine Lebensdauer 
wie der Mensch» sie stehen zwischen den Gräsern nnd den Mammut» 

bäumen ungefähr in der Mitte. Auch sie haben, wenn man genau 
hinsieht, nur einen einzigen Mai; man kann sie wohl bewundern, 
aber was haben sie denn davon, wenn einmal gestorben sein inuss? 
Wodurch unterscheiden sie sich denn von einem Grase, das frühe 
blühet und bald welk wird ? — Tausend Jahre sind vor Dir wie 
der Tag, der gestern vergangen ist, sagt der Psalmist^ indem er 
des menschlichen Lebens Hinfälligkeit beschreibt. 

Wirklich ewig ist allein der Mai selbst — der astronomisdie 
Frühling, die hohe Sonne und die Mutter Erde, wenn die Greologie 
nichts dagegen hat — das sind die Phönixe, die sich alljährlich 
in ihrem ^est yerbrennen und aus ihrer Asche verjüngt wieder 
hervorgehen. Es sind die Götter, die nicht altern, die immer 
wieder aufstehn und an Glanz nichts verloren haben, während 
die Kinder dieser Götter eine Weile vegetieren, blühen und in 
Samen schiessen und dann frtther oder später, still und gefasst, 
aber hoffnungslos, wie Rückerts Sterbende Blume, ihre Auflösung 
erwarten. 

4. Die Flügel der Psjrehe. 

Der Schmetterling — vielleicht dass sich der Tod mit der Metamorphose 
der Inaekten vergleichen luat — Dante, der die Mentohen for Baupen er- 
klSrt — JanSwamuerdam, der die Auferstehung vor ieinen Atigen abgebildet 
sieht — wir n&hren uns von Illusionen — es sieht nur so aus wie Un- 
sterblichkeit, der Tod geht neben der Verpuppung nebenher, die Puppenruhe 
hat mit dem Tode niobis ssu schallen ein Bild, ein hübsches Bild, nichts weiter. 

Ohne Kummer schlaf ich ein, ohne Hoffnung aufzustehn. 
Oder sollte etwa der Tod nur eine Verwandlung und eine Meta- 
morphose sein, wie sie von den Insekten her bekannt ist? — Die 
dem Ei entschlüpfende Raupe muss gleichsam sterben, ehe sie 
fertig ist, nnd dann wird scheinbar ein gahz anderes Tier daraus, 
das sie gleichsam maskiert hat. Man nennt daher die Raupe 
auch die Maske oder die Larve. Sie verwandelt sich zunächst 
in eine ruhende, heduiiiiislose Puppe, aus welcher, nach mancherlei 



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4, Die FlSgel der Psydhe. 



247 



Umformungen der inneren Organe, der Schmetterling entsteht. 
£r ist gleichsam das wahre Angesicht, das die Maske abgeworfen 
hat, die Imago oder das wandervolle Bild des Tieres : es hat sich 
ans seiner Hülle hervorgearbeitet, breitet die gewachsenen Flügel 
aus und entflattert wie ein Traum. Wie herrlich wäre es, wenn 
sich der eingesargte Leichnam wie eine solche geheimnisvolle 
Pupi)e ütler Chrysalide betrachten liesse; wenn die Toten die 
Flügel der Psyche in sich trügen, die sie von hinnen heben! — ► 
Psyche heisst in der That sowohl Seele wie Schmetterling. Wie 
die Cypresse, so wird nun der Schmetterling gern den Toten 
gleichsam als Beispiel und Muster vorgehalten, und da man ihn 
nicht wie den Baum in Wirklichkeit anhringen kann, wenigstens 
künstlich abgebildet. AVenn die Alten den Bildern ihrer Ver- 
storbenen einen Schmetterling auf den Mund setzten ; wenn sie 
Schmetterlinge oder Mädclien mit Schmetterlingsflügeln auf die 
Gräber trugen ; wenn noch heute der Aufgang zum Oampo Santo 
in Florenz mit Schmetterlingen in Mosaik versehn ist und ein 
vergoldeter Schmetterling das christliche Ghrabkreuz schmückt 
— was bedeuten die Schmetterlinge anders als abermals einen 
Wunsch? Den frommen Wunsch: die Verstorbenen möchten 
auch SchmetteriiDge werden? — Wir sind Würmer, wie Dante 
sagt, indem er, wie gewöhnlich, Würmer und Rau])en (Bachi, 
Bruchi) verwechselt, geboren, den himmlischen Schmetterling zu 
bilden ; 

noi siam Yermi, 
nati a formar Taiigelica ^Farfalla. Pargatom X, 125. 

Dil SS der Wunsch thoriclit und gänzlich eitel ist, kümmert 
den unglücklichen Dicliter nicht — fr{3h , etwas gefunden zu 
haben, das so aussieht wie Unsterblichkeit, dekretiert er die Un- 
sterblichkeit. Er nährt sich von Illusionen, er will hoffen. Auf 
4em Grabe pflanzt er die Hoffnung auf. 

Das Bild hat auch die Naturforscher bestochen. Einer, 
der sich mit den Insekten besonders beschäftigt, ihrer Unter- 
suchung Gesundheit und Leben geopfert hat, der Niederländer 
Swammerdam, sagt in seiner Bthc/ der XntHr. die 17o7 isu Leiden 
erschienen ist, über die von ihm so genau beobachtete Meta- 



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248 V. Die Unsterblichkeit, die man hofft. 

morphose — sie (geschehe heim Schmetterlinge auf eiyie su wunde)'' 
bare Weiise, danf* wir die Auferstehung herrlich, kUiiiich vor umern 
Ättgen abgebildet sehen. Man kann sie mit Händen greifen. Be^ 
tradtSe die Jiaupe^ die auf der Erde kriedU und eich sefUeeht und 
recht ernährt: nachdem sie in dieser niedrig GeeUdt woehen-^ 
monatdang verharrt und Vit lAbemwerk voUbraeht hat, Uegt sie da, 
Sie stirbt, ine scheint zu sterben ; in eine Art von Tteichentueh gehüllt, 
in einen Sarg verschloftsen, gex uLulich unUr der Erde vergrid>e)i, ruht 
sie von den Mühen des Lebens aus. Aber von der Sonuenwärme 
und dem iionnenlicht g&ruj'en, brechen die vermeintlichen Leichname 
hervor aus ihren Gräbern, Die Gefangenen, die in der Mrde, der 
Luft, dem Wasser hoffnungslos schmaeldeten, werfen ihre Bedeckung 
plötzUeli ab und treten, neugeMeidet und hochzeitlich geschmückt, den 
Gewiss eines erhabenen Daseins an, eines vollend^en Zmtandes, in 
irelchem alle ihre Fähigkeiten entwickelt, ihre Anlagen ausgebildet 
irerden, in dem sie, nicht mehr an die Erde gebunden, die Gefilde 
der Luft dwrc/istreifenj Nektar aus Blumenkelchen trinken und die 
seligen Wonnen der ersten Liebe kosten, Betraefäe dies alles, erfülle 
dein Herz davon, und dann frage idi Dich; ist es nicht das schönste^ 
deudidshste Bild von den drei Phasen, die der Mensch nacheinander 
durchlebt^ zumal jenes gläekUchen Tages^ tvo auf den Irompetenstoss 
der grossen Sonne der Gerechtigkeit alle, so in tfen Grübern ruhen, 
auferstehen, die Meere ihren Raub wiedergeben und die Scharen der 
Seligen in alle Ewigkeit leben , lieben und lobmngen werden f — 
Der Vergleich ist wirklich überraschend; nur leider Toliig 
wertlos. Wenn die Raupe nun zertreten, der Schmetterling Yom 
Sammler durchstochen; der Kokon des Seiden wurmes, wie ee 
t;iL^t;ic^lich in den Seidenspinnereien geschieht, durch heisse 
Wahsei'diimpfe getütet wird? — Man sieht, der Tod geht nehen 
der Verpuppung nebenher. Mynheer, Ihr Gleichnis hinkt; die 
Verpuppung ist gar nicht der Tod. Durch eine äussere Ähnlich- 
keit getäuscht, haben wir das Insekt für tot gehalten, während 
doch die Puppenruhe nur eine Art Schlaf, eine Ruhe wie die 
des Winters und, wie Swammerdam selbst zugiebt^ eine eigen- 
tümliche Zwischenstufe des Lebens darstellt. Eben auf dieser 
Zwischenstufe kann das Leben enden, wie jedes andere Leben. 



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5. Der Bruder des Todes, O49. 



Wir sind ja überhaupt keine Schmetterlmge — es giebt doch 

wahrlich nichts Ungleicheres als Menschen und Kaupen. und ihre 
Unsterblichkeit hülfe uns gar wenig. Die Insekten könnten 
zehnmal das ewige Leben haben, so hätten wir noch keines. So- 
aber müssen wir uns sagen, dass die Pappenruhe der Insektei^ 
selbst mit dem Tode der Insekten gar nichts zu schaffeil hat 
und folglich auch ihre Metamorphose keine Aaferstehung seiu 
kann. Es ist wirklich schade ; wir sind wieder um ein Bild 
reicher, das hochpoetisch ist, aber leider nicht mehr bedeutet 
als eine Hoffnung, eine Sehnsucht. / liüre umnorlal longings irt 
me, sagt Kleopatra; ich fühl' ein Sehnen nach Unsterblichkeit 

o. Der Bruder des Todes. 

Bin viertee antikes, von den Christen sanktioniertes Bild — sie entschlafe» 

sprechen von Scblummerstätten, werden auferweckt — wie es Leate 
giebt^ die jahrhundertelang geschlafen haben und dann aufgewacht sind, so 
vrollen auch die Christen im Grabe ruhn, bis der Messias komuit — morr 
non est mors — leider ist Schlaf und Tod zweierlei — wieder ein Vergleich, 

der nicht zutrifft — wir können ein Bild der Unsterbliclikeit nach dem 
andern anbringen, damit »chatten wir den Tod doch nicht aus der Welt — 

der Todesschlaf ist ehern. 

Ein solches Bild bietet uns schliesslich unser eigenes Leben^ 

Allabendlich gelien wir zu Bette, vergessen die Welt und hören 
auf zu sein, weil unsere Seele spazieren geht — der Schlaf ist, 
wie Macbeth sagt, the Death of euch dw/s llfe oder wie es ein- 
andermal heisst: der Affe des Todes. Wenn die Seele nach 
antiker Auffassung im Schlafe wirklich ausgeht, so hat der letztm* 
Yor dem Tode nur die Hoffnung voraus, dass die Seele wieder* 
kommt; sonst unterscheiden sich die heiden Zustände, Hypnos- 
und Thanatos, schon im Homer als Brüder und Zwillinge be- 
zeichnet, der Tiieorie nach gar nicht. Wer kennt nicht die 
schöne antike Gruppe im Museum zu Madrid, die sogenannte 
lldefonsogruppe? — Zwei Jünglinge, die nebeneinander stehen- 
und Ton denen einer dem andern die Hand auf die Schulter legt, 
während er mit der andern die Fackel niedersenkt. Sie ist Ton. 
Lessing auf das Brttderpaar bezogen worden. 



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250 



V. Die Unsterblichkeit, die raan hoÖt 



Ein leichter Fortschritt war es, den Tod seihst einen Schlaf, 
^en langen, den ehernen Schlaf zu nennen, Euphemismen, die 

sich ebenfalls schon im Homer liias XI _>4l) ünden. Genau so 
wie uns vorhin Swammerdam autreden wollte, dass der Tod nur 
eine Puppenruhe sei, hat man ein andermal von einem Todes- 
schlaf gesprochen, ja, diese Anschauung ist noch viel populärer 
geworden als der Vergleich mit dem Schmetterling. Denn dieses 
Bild hahen die Christen sanktioniert, indem sie Ausdrücke wie 
im Herrn eniseMafen, hinähersehlummemj sanft und wlig eimeMafen 
mit Vorliebe brauchten und das Grab ff^TH als das kühle Bett, 
den Friedhof als einen grossen Schlal'saal, eine Schlummers tätte 
betrachteten. Das bedeutet nicht nur der oftizielle Name des 
Friedhofs: Coemeterium, das italienische Cimitero^ das französische 
dmetihre, das spanische Cementerio^ von dem griechischen Koi^rj[tqQtoy, 
dem Suhstantivum zu notfiaa-^at^ sich schlafen legen — sondern 
wahrscheinlich auch das bekannte Wort Katakombe, indem Cata- 
cumba von einem Verbnm catacumhere, sich niederlegen, abgeleitet, 
mit der griechischen Präposition xcrr« gebildet und eine Zusammen- 
setzung sein wird wie coiwumhere. Bei den Christen, schreibt 
der heilige Hieronymus in einem Briefe, ist der Tod kein Tod, 
sondern ein Todesschlummer: in Cknstiwm Mors non est Mors, 
eed DarmiHo et Smmus appeUatur, und der heilige Augustinus 
bemerkt zu Psalm LXXXVII, 6, wo von den Schläfern im 
Grabe, den Dormientes in septdc/tris die Rede ist: mortuos 
conöuevit dicet'e dormientes, quia evi(iil(ituros , id est: resurrectuvoA 
vidt intelliyi. Natürlich, wenn die Toten bloss schlafen, so könne« 
sie auch aufwachen und auferstehen; die Worte auferwecken 
(resusdiare) und auferstehen (resurgere) sind im Anschluss an diese 
Auf&ssung gewählt Der betreffende Psalm, das Psalmlied der 
Kinder Korahs, bildet in der Yulgata Nummer 87, in Luthers 
Bibelfibersetzung dagegen Nummer 88, hier fehlt auch der Aus- 
druck Schläfer^ es heisst einfach : ich liege unter den Toten verlassen, 
wie die Er^scJi/dt/i fie/i, die hn Grabe Hegen. 

Während also Homer den Tod wohlweislich als den ehernen 
Schlaf {%ähuiOv vjtvov), das heisst: als den ewigen, unerwecklichra 
bezeichnet, thuen die Christen so, als ob er nur ein leichter 



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5. Der Bruder des Todes. 



251 



Schlummer wäre, aus dem man beim ersten Trompetonstoas er- 
wache, und der seine Zeh habe wie der nächtliche. För ge- 

wöluilicli iitit die Seele imi wahrend der Nacht Urlaub, im Tode 
dauert der Urlaub etwas länger. vipUeicht tausend Jahre; endlich 
musB sie doch auch wieder zu ihrem Körper zurück uod in den 
offenen Mund hinein, so dass beim Aufwachen alles hübsch bei- 
sammen und sozusagen gar nichts gewesen ist. Zeit, Zeit, Zeit, 
alles ist doch nur relativ« fis giebt Leute, die ein halbes Jahr- 
hundert schlafen, wie der kretische Knabe Epimenides, der von 
seinem Vater ausgeschickt wurde, ein verlorenes Schaf zu holen, 
suchte und suchte, bei der Mittagsliitze in eine Höhle eintrat, 
daselbst in Schlaf verfiel, siebenundlüufzig Jahre lang schlief, 
dann aufwachte und weitersuchte, während alles um ihn her 
verändert und sein jüngerer Bruder ein alter Hann geworden 
war — es giebt Leute, die jahrhundertelang schlafen, wie die 
Sieben schlafenden Märtyrer, die sogenannten SiebenschläfSsr, 
sieben Knaben, die bei der Christenverfolguii^ unter dem Kaiser 
Decius bei Ephesus in eine Höhle des Berges Kalion flüchteten, 
durch ihre Verfolger in der Höhle eingeschlossen und mit Steinen 
verschüttet wurden, dann hundert und zweiundsiebzig Jahre lang 
schliefen und unter der Kegierung des Kaisers Theodosius auf- 
wachten, als ein Schäfer die Steine wegräumte, weil er sie zu 
einem neuen Stalle brauchte — es giebt Leute, die tausend 
Jahre geträumt haben und weggewesen sind, wie der Mönch Petrus 
Forschegrund, der eines Morgens sein Kloster verliess und einem 
gold gefiederten, wundervoll singenden Vogel nachging und von 
dem Vogel in den Wald gelockt ward und darüber seiner Mei- 
nung nach nur ein paar Stunden, in Wahrheit aber volle tausend 
Jahre wegblieb, so dass er bei seiner endlichen Heimkehr nie- 
mand mehr kannte und auch selbst nicht mehr erkannt ward. 
Kur einer der Brüder, der viel in iilttii Schritten herumstöberte, 
erinnerte sich in der Klosterchromk gelesen zu haben, wie ein- 
mal vor tausend Jahren ein gelehrter und sinniger Mönch fort- 
gelaufen und nicht wiedergekommen sei. Als das Kloster wird 
bald die Benediktinerabtei Afflighem in Brabant, bald die be- 
rühmte Oistercienserabtei Heisterbach im Siebengebirge genannt. 



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252 V. Die Unsterblichkeit, die man boüt. 



Was war denn der Tod gegenüber einem solchen Daaerschl&fe^ 
einem solclien Koma, zumal für Schwärmer, die das Messiaareicb 
täglich und stündlich erwarteten nnd die Wiederkunft Christi 

uoch zu erleben hofften? — Christus schlief nur drei Tage. 

Welcli eine merkwürdige Tllusioii I Wie ist es nur möglich, 
dass sich die Menschen so betrUgeu können ! — Der ganze f^ehier 
liegt eben in der unglttcklicben, bereits von Homer angefangenen 
Znrückführung des Todes auf den Schlaf. Tod und Schlaf waren 
Brüder; jetzt wird der eine Bruder vollkommen ignoriert. Man 
redet sich ein, es gebe gar keinen Tod: Mcrs non est Mors, wie 
der lateinische Kirchenvater sagt, dessen abgezehrten, in der 
Auflösung begriffenen, die heilige Wegzehrung empfangenden, 
nackten Leib Domenicidno auf dem berühmten Uemäide in der 
Vatikanischere Gemäldegalerie mit naturalistischer Wahrheit ge- 
schildert hat. Er stirbt, er empfängt die Sterbesakramente; 
nein, er stirbt nicht. Er legt sich nieder, um morgen wieder 
aufzustehen. Er geht schlafen. Mors non est Mors» 

Es ist eben wiederum ein Vergleich, den die Hoffnung ein> 
gegeben hat und den die einfachste Überlegung als eine Schimäre 
erkennen lässt. Die Bäume, die Schmetterlinge und die Menschen, 
solange sie leben, sind alles Wesen, die eine Zeitlang schlafen 
und dann wieder aufwachen und auferstehen. Die Toten aber 
sind Schläfer, die nicht wieder aufersteheui deshalb nennt man 
sie eben Tote. Wir können diese Beispiele nicht gebrauchen. 
Die Kirchenväter machen, wie es in der Logik heisst, einen 
Analogieschluss, wenn sie beim Todesschlafe auf ein Wieder- 
erwachen rechnen; sie nehmen an, dass sich unter gleichen Vor- 
aussetzungen die gleichen Folgen zeigen werden. Die Voraus- 
setzungen sind aber nicht gleich; zwischen dem Schlafe und dem 
Tode besteht erfahrungsgemäss ein gewaltiger Unterschied. Wenn 
auch beidemale die Seele entfliehen sollte: das einemal kehrt sie 
zurück, das anderemal bleibt sie aus und holt ihre Hülle nach. 
XTnd dass das bei jedem Mensdien einmal geschehen werde, das 
ist eine richtige Induktion. 

Wenn es auf Vergleiche ankäme, so könnten wir viele 
machen. Wir könnten das Leben auch mit dem hLieide ver- 



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6. Dieses hmfilllige Kleid ▼on Stftob. 



253 



gleichen, das man auszielit, ^YeDn man sich schlafen legt — wir 
könnteu uns auch unter die Sterne versetzen lassen — es 
könnte auch jedermann nach seinem Tode ein Papst und ein 
Kaiser werden wollen. Dergleichen ist mttssig. Der Todes- 
schlaf ist ehern wie der Zaun, der die Behausung der Hei 
umgiebt. 

6. Dieses hinfllllige Kleid von Staub. 

Die Menschen malen sich aus, wie es sein könnte, wenn es nicht so wäre, 

v,-\e es ist — schliesslich finden sie wenii^stens etwas Unsterbliches in 
ihrem Inneren, die Seele — die Seele ist das was verfängt, sie überlebt 
den Leib wie einen alten Anzuir denn der Leib ist das Kleid der Seele, 
die viele Kleider nacheinander abträgt und sich im Tod entkleidet — dann 
kehrt sie zu Gott zurück — sie braucht nicht aufzuerstehn, weil sie ^ar 
nicht gestorben ist — Ideen Piatos und der (xiiostiker die innere Auf- 
«rstehungf — wenn wir nur etwas Oescheites von der Seele wüssten, aber 
€s sielit immer aus wie Wollen und nicht Können — die Seele ist nicht 
zu kriegen es gicbt am Ende gar keine — Melanchthon, Melanchthon. 

Alle die schönen poetischen Vergleiche, das SaatkorUi der 
Frühling, der Schmetterling, der Schlaf — ändern an der traurigen 
Thatsache des Todes nicht das geringste« Sie sind nicht imstande, 
uns darüber hinwegzuhelfen, uns zu trösten. Wenn sie die 
Menschen anstellen, 80 nähren sie sich doch nur von Illusionen 

— sie malen sich ans. wie es etwa sein könnte, wie es recht 
freundlich und recht gut sein könnte, aber sie fühlen wohl, dass 
es eben nicht so ist. Am lebhaftesten dringt dieses Gefühl im 
Frühling bei der Betrachtung der Pflanzenwelt durch, die uns 
{ohne Grund) eine wehmütige Resignation einzugeben scheint 

— die übrigen Bilder werden zum Teil wirklich angewandt, ge- 
billigt und geglaubt, obgleich kein grosser Schailbinn dazu gehört, 
das Schiefe, das Unzutretieude, das ganz und gar Phantastische 
derselben zu entdecken und sich zu überzeugen, dass das Sterben 
mit andern JjebensTorgängen nicht die geringste Analogie besitzt ; 
dass die Ruhe des Grabes weder mit der Winterruhe, noch mit 
der Puppenruhe, noch mit der Nachtruhe verglichen werden 
kann ; dass der Tod nicht aus der Welt zu schaffen und ausser 
Sonne und Mond hienieden nichts unsterblich ist. 



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254 



V. IXe Unsterbliohkeit, die man hofft 



Da (las alles nun nicht zieht, so hat man versucht, dem 
Ungelieuer auf eine atideie Art beizukommen, und zwar ist man 
dabei wieder durch eiu Bild, den Vergleich des Leibes mit 
einem Kleide, geleitet worden. Man hat sich gefragt» ob es 
nicht wenigstens etwas in uns gebe» was bei unserem Tode nicht 
mitsterbe, weil es seiner Natur nach überhaupt nicht sterben 
könne — und dieses Etwas in der Seele zu erkennen geglaubt. 
Die Seele ist das. ^v:ls verfangt, wenn sich's um Unsterblich- 
keit handelt, an sie, das einzig Wahre, klammert sich der ster- 
bende Sokrates; sie steckt im Leibe drin wie er selber im 
Gefängnis oder wie Geld im Beutel, wie der Leib in seineufc 
Bocke. Der Leib ist das Gewand der Seele, die sich im Tod 
entkleidet wie eine Aphrodite; die, wenn sie wandert, wie die- 
des Pythagoras, ein Dutzend Anzüge abträgt und alle überlebt. 
Bekanntlich machte Pythagoras mehrere Personen namhaft, deren- 
Gestalt er geborgt habe, bevor er zu Samos geboren worden 
sei ; desgleichen wollte Empedokles vor seiner Existenz ein Bube, 
ein Mädchen, ein Baum, ein Zitterrochen, ein Vogel gewesen 
sein, und auch Plato Hess seine Seelen zehntausend Jahre lang- 
durch Tierleiber und Menschenleiber wandern. Die Steider 
werden zerrissen und verbraucht; sie ruhen im Grabe. Die 
Seele lässt sie liegen wie ein Reisender seine alten abgelegten 
Sachen, wenn er in seine Heimat, in den Schoss der Gottheit 
zieht. 

Das Wichtige ist nun die Einsicht, dass die Seele gar 
nicht an ihrer Wohnung hänge; dass sie der irdischen Um- 
hüllung ihrer Natur nach fremd sei; dass sie so hoch über den 

wechselnden Formen stehe wie wir über unsern Kleidern, von 
denen wir kaum wissen, dass sie existieren, und die wir ganz 
vergessen, sobald sie abgelegt sind. Wirklich tranken nach 
orphischer Lehre alle Seelen, wenn sie ins irdische Leben zu- 
rückkehrten, aus dem Strom der Vergessenheit. Die Seele ist 
ewig, sie stirbt nicht, sie braucht infolgedessen auch keine Auf* 
erstehuDg ; sie hat sich nur während ihres Erdenlebens vom Stoffe 
zu emanizipieren und aus der Nacht der Unwissenheit zum Licht 
emporzuringen, dann feiert sie ihre Auferstehung. Die Auf- 



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6. Dieses hmfällige Kleid wa Staub. 



255 



ersteh ung sei schon geschehen^ als sie zur ErkeDninis 
gekommen wären» behaupteten die Qnostiker in einem sehr reinen 
Sinne, ein Wort zu hoch fUr den Theologenverstand des Panlusi 
der den Bischof von Ephesus vor dieser Ketzerei, diesem Krebse 

des Aberglaubens nachdrücklich verwarnt (2. Timotheam II, 18). 
Was dem Plato die Wissenschaft, den Stoikern die Weislieit, 
den Feripatetikern die Eeschauiichkeit, den Philosophen die 
Philosophie und den Theosophen die Theosophie gewesen war» 
das war den Gnostikern die Erkenntnis oder die Gnosis: eine 
göttliche Erleuchtung, ein Mittel sich mit der Gottheit zu rer> 
einigen und eine innere Auferstehung. Natürlich, die Lehre 
von der Auferstehung des Leibes begegnete schon in jenen frühen 
Zeiten starken Zweifeln, dieser Artikel, sagt Luther, hat den 
meisten Anstosn nt'lwht und ist am schicensten zu glauben. Die 
andern Artikel des christlichen Glaubens sind auch schwer zu glauben^ 
aber dieser Artikel ist der sc/twerste. Urrnch ist, denn keiner wider 
die Erwartung so strebt^ als dieser» Einen fressen die wilden Tiere, 
den andern firisst das Sehwert; dieser lässt ein Bein in Ungarn, jener 
wird mit Feuer verbrannt; den verzehren die Würmer in der Erden, 
jenen die Fisclie im Wasser; einen andern fressen die Vöqel unter 
dem Himmel und so fortan. Da wiirs schicer sein zu (jlauben, dass 
der Mensch^ der auf so mancherlei Weise nmkönimet und stirbt, 
wiederum leben soll, und des Menschen Glieder, die so weit von ^n- 
ander zerstreuet, zu Aschen und Pulver gemaelä werden im Feuer^ 
Wasser, Erde, wderum zusammenkommen sollen* Von solchen Er- 
wägungen meldet schon die Apostelgeschichte fXVII, 32) und 
der erste Korintherbrief XV, .iT)}. Es empfalil sich also, den 
Leib ganz fidlen zu lassen und nur die Unsterblichkeit der Seele 
und ihre ewige Herrlichkeit zu betonen. 

Die Seele, die ihr letztes Kleid abgeworfen hatte und in den 
Himimel zu Gott zurückgekehrt war, erschien nun in ihrer eigenen, 
verklärten Gestalt. Sie brauchte keine Gestalt mehr, sie brauchte 
höchstens eine Art Astralleih, den man sich möglichst licht, 
möglichst ätheriscli, möglichst vollkommen und wie Origenes 
kugelrund vorstellte. Ich weiss nicht, wie Molanchthon darüber 
gedacht hat ; vielleicht dass auch er, von Gram^ Kränkungen und 



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V. Die Unsterblichkeit, die man hofft. 



I 

1 



Misserfolg gebeugt, mit der Unsterblichkeit eines edlen Geistes 
jsufrieden gewesen ist. Er erwartete das Weltende im Jalire 

1680; seine letzten Briefe atmeten alle die Sehnsucht, von 
seinem Joche ausgespannt zu werden und zur ewigen Kuhe ein- 
zugehn. 0, war' ich von hinnen! 0, dass mich die Welt, die 
droben liegt, umfinge! Dass ich wie ein Fisch aus dem Wasser 
<emporschnellte und auf £rde und Meer heruntersähe 1 Dass ich 
mich federleicht über die Wolken schwänge! — Dann ist die 
gequälte Seele frei^ dann ist sie selig, dann geniesst sie die Speise 
des ewigen Lebens. That yallani spfrit hath aspir'd the elmds. 
Die letzten Worte, die er vernehmlich sprechen konnte, waren 
— der Spntch de.s Johannis »teht rnir allzeit vor Augen und im 
Ilei'zeni wie viele Um aufiiahmen, denen gab er Macht, GojUes 
Kinder zu iperäeny die an ihn glauben. 

Becht so, Magister Philipp ; aber wie war das nun eigentlich 
mit der Seele. Wenn wir in unserm letzten StUndlein auf sie 
bauen sollen, so mttssen wir doch wenigstens eine Ahnung von 
ihrem Wesen haben. Wie sollte sie aussehn? Wie ein Menschlein, 
■das in dem Menschen steckt? Wie ein Figiirchen, das mit 
einem lanji^en Schwänze aus dem Munde des Sterbenden hervor- 
kriecht? Wie ein Vogel, der zum Käfig hinausgelassen wird 
und beglückt das Weite sucht? — Ach, Gottchen! Was wir 
von der Seele wissen, ist ja eitel Phantasterei und Kribbes* 
krabbes. Wir erfinden eine Seele, und es kommt eben die 
Erscheinung dabei heraus, die beim Tode in die Brüche geht. 
Vom Atem ist die Seelenvorstellung ausgegangen und bei den 
ins Leichentuch gewickelten Toten ist sie angelangt. Wie schwach 
ist die Einbildungskraft des Volkes, wie unfähig zeigt es sich, 
etwas auszudenken, was den Namen Seele verdient! — Alle 
seine Seelen sehen aus wie Wollen und nicht Können. Wir 
mögen es anfangen, wie wir wollen, die Seele ist nicht zu kriegen, 
«o wenig wie die Tierchen, die uns aus dem Munde schlüpfen, 

die so zierlich und schnell fahren dahin und daher, 
Schlängelchen scheinen sie gleich, doch viergefiisset, sie laufen, 

kriecben und schleichen und leicht schleppen die Schwänzchen sie nach. 
Seht, hier sind sie und hier! Nan sind sie verschwunden! Wo sind sie? 

Welche Aitze, welch Srant nahm die entfliehenden aaf ? — 



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I 



6. Dieses hinfällige Kleid von Staub. 257 



Der Seele kann man nichfc wieder habhaft werden, sagt 
Achill, wenn sie einmal zum Zaun der Zähne hinaus ist 

(Ilias IX, 408). Und der Philosoph, der sie haschen will, komiat 
mir vor wie der Apollo Sauroktonos, der nun schon seit Jahr- 
tausenden in Born steht und seit Jahrtausenden im Begriff ist, 
eine Eidechse mit seinem Pfeile zu durchbohren. 

Hurra! Jetzt hat er sie! — Die Seele ist eine Monade. 
Eine einfache, unzerstörbare Monade. Eine Monade in einem 

Komplexe von Monaden, wie sie zu Tausenden auf einer Nadel- 
spitze tanzen. Das heisst mit andern Worten : sie ist ein Ding, 
das man nicht genau kennt, in einem Ganzen, das man nicht 
genau kennt, und das aus lauter solchen unbekannten Dingen 
besteht, wie die Seele eines ist. Nun ist die Bidecbise wiederum 
yerschwunden. 

Mit den Monaden lockt man keinen Hund vom Ofen, ge- 
schweige denn eine Seele. Von einer Unsterbliclikeit der Seele 
kann keine Rede sein, wenn alles unsterblich ist, und die all- 
gemeine Unsterblichkeit lässt uns kalt, eben weil sie allgemein 
ist. Schade um das hübsche Ding! — Es ist nichts mit ihm 
anzofangen. Spricht man zu ihm, wie das Yolk spricht, so hört 
«8 nicht Eedet man*s an, wie die Philosophen wollen, so ant- 
wortet es nicht. Man kommt nachgerade zu der Einsicht, dass 
das Ding überhaupt stumm ist und dass es eine sogenannte 
Seele gar nicht giebt. 

Wir haben ein Organ zur Luftatmung: die Lunge; wir 
haben ein Hauptlebensorgan: das Herz: wir haben ein Denk* 
Organ, das in uns dichtet und philosophiert: das Hirn — alle 
Funktionen, zu denen man einst eine Seele brauchte, sind nach- 
gerade bestimmten, genau bekannten Eingeweiden überwiesen 
worden. Alle diese Eingeweide sind sterblich; sie stellen im Tode 
ihre Thätigkeit mit dem ganzen Organismus ein. Wo bleibt nun 
die Seele, die durch die Anatomie yöUig eliminiert wird und 
für die gar kein Platz mehr ist? — In der Phantasie der 
Alten und in der Teralteten Begriffswelt der geistig Zurück- 
gebliebenen. 

Klciapanlf Vi» I^btudig» und dl« Totoa. 17 



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258 



y. Die ÜDsterblichkeit, die es giebt. 



7. Die weitergegebene Faekel. 

Eine Art Unsterblichkeit giebt es: die Fortpflanzung — sie war der Haupt- 
tro^t der alten Welt — wie der König Gargantua philosophiert, wie der 
König Hiskias weint — hier setzt der Vergleich mit dem Saatkorn ein, 
die nrro<!«p Uusterhiichkeiislehre der Natur — die natürlichen Engel sind 
die ivimier — das Leben ein Fackellauf — ein anderes Bild passt nur für 
einen Patriarchen, der noch lebt und von seinen Kindern und Kindes- 
kindern umgeben ist — der Phallusdienat — mit den Symbolen der Frucht- 
barkeit sticht man dea Tod aus — die Glückshändchen — die Natar Ter- 
•tÖBst nur die Kinderloten — eie ■ohddeti am der mentcikliclken Qesellaoliafl 
aus — es kommt darauf an, Kinder zu hinterlassen, ein sekundUbrer An- 
trieb — bei den Frauen ist es anders, eine Mutter die reinste Tnigerin der 

Unsterblichkeit. 

Es sieht windig aus mit der Unsterblichkeit, lieber Philipp 
llelanchthon, ich hätte auch g^laubt, dass Du gescheiter gewesen 
wärest. Nicht einmal Deine gute Seele ist zu retten, geschweige 
denn der ganze Magister Philipp ; auf die persönliche Fortdauer 
muss er verzichten. Aber ich weiss eine andere ünsterblichkeit, 
an die nicht zu tippen ist — für einen recht weisen Mann habe 
ich sogar verschiedene Unsterblichkeiten zu vergeben. Für das 
Volk sind sie Kaviar — wer au der Individualität hängt und 
so von sich eingenommen ist, dass er yon sich selber nicht lassen 
kann, der will nun nichts weiter hören. £r bleibt lieber bei 
seinem Glücke, das er sich einmal eingebildet hat. Lieber will 
er gar nichts als einmal die Vernunft. Die Menschen sind wie 
die Kinder, die sich auf etwas gefreut haben, was sie nicht be- 
kommen können, und nun sie es nicht bekommen, eigensinnig 
tückschen, das Gute verachtend, was ihnen die liebreiche Mutter 
gerne lässt. Die Heiden waren verständiger. 

Sie nahmen mit der Unsterblichkeit vorlieb, die ihnen durch 
ihre Kinder gesichert war, und betrachteten das Leben als einen 
Fackellauf, wie er in Altgriechenlandi besonders zu Athen 
bei yerschiedenen Festen abgehalten ward und noch heute in 
Bayern, sehr rudimentär, in dem sogenannten TohaUaufet fortlebt. 
JSächtlicherweile fand ein Kennen mit brennenden Fackeln statt: 
eine Fackel oder eine JMmpas wurde in sclmellem Laufe von 
einer Station zur anderen getragen; die Wettläufer bildeten eine 



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7. Die weitergegebene Fackel. 



259 



Kette, einer hatte die Fackel dem anderen zu übergeben, bis sie 
am Ziele ankam, und zwar musste sie noch brennen, wer sie 
ausgeben liess, hatte das Spiel verloren. Es ist nicht ^anz klar, 

wie dabei ein Wettlauf und ein Gewinn lierauslc na , im 
wesentlicben die . /aitnadföoniiia so gewesen. Wie gesagt, ver- 
anstalten die jungen Leute in Bayern einen äbnlicben Wettlauf, 
das Tobaklaufet : sie laufen die Rennbabn einmal ab und müssen 
sich dann in aller £iie Tabak schneiden, eine Pfeife stopfen 
nnd anzünden; nm, die Pfeife im Munde, von neuem loszurennen. 
Wer beim zweiten Bennen mit brennender Pfeife zuerst ans Ziel 
kommt, ist Sieger. Nun, den antiken Fackellauf hat Herodot 
(Vlir, 9S) mit dem bewunderungswürdif]fen persischen Botendienst 
verglichen, aus dem unser Postwesen hervorgegangen ist; Plate 
aber in den Gesetzen (Seite 776 als ein schönes Vorbild der 
Aufeinanderfolge des Menschengeschlechts und der Weitergabe 
des Lebens angesehn, das wie eine Fackel von Hand zu Hand 
geht und das auch Lucrez in diesem Licht erkennt. 

£t qaari cnnorea Vitui Lanpada tradunt. II, 79. 

Ein Patriarch, der von seinen Kindern und Kindeskindern, 
umgeben ist, macht den Eindruck eines indischen Keififenbaums, 
der aus seinen Asten Luftwurzeln und damit neue iStännne in 
die Erde senkt, nach allen Seiten hin durch die Jahrtausende 
fortwächst und im Laufe der Zeit einen ganzen schattigen Wald 
und Bogengänge wie die Säulenhallen einer gotischen Kirche 
bildet. Wirklich lagern oft Tansende in seinem heiligen Schatten, 
während eine unermessliche Menge von Vögeln, Schlangen und 
Affen in diesem Baum des TiCbens, dieser Arche,' diesem kleinen 
Weltall haust. Dieses Bild ist gut, solange der Patriarch lebt 
und sein Geschlecht wachsen und zunehmen sieht wie den Samen 
Abrahams, Isaaks und Jakobs. Wenn er aber mit Tode abgeht, 
wenn sich der Stammvater alt und lebenssatt ins Grab zu seinem 
Weibe legt, dann tritt das andere Bild, das Bild des Packellaufs 
ein. Sein Licht erlosch ; er hat es abgegeben. Der Sohn hält es jetzt. 

Von dieser Art Unsterblichkeit ist am Ende auch unser 

Kardinal kein Feind, da ihm die ^rorosina zwei Söhne und eine 

Tochter geboren hat ; ja sogar Philipp Melanchthon hatte durch 

17* 



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260 



V. Die Unsterblichkeit, die es glebt. 



ein Weibchen für Nachkommenschaft und für Lichtknechte ge- 
sorgt, es überlebten ihn zwei Kinder, ein Sohn nnd eine Tochter. 

Auch zu seiner Zeit wusste man, was Kindersegen sei. Lieber 
iSoliii, sclireibt der König Gargantua an den Prinzen Panta^ruel, 
der in Paris studiert, lieber !Sohn, unter allen Einrichtungen 
der gütigen Natur scheint mir doch keine bewunderungswürdiger 
nnd herrlicher zu sein als das Vermögen der Fortpflanzung, als 
welche uns hieniedeui im Stande der Sterblichkeit eine Art 
Unsterblichkeit garantiert. Tres eher ßlz^ entT€ Üb donSf (fracea, 
et frerogative« desquelles h souverain plavrrwtteur Dim tout 'puissant 
a enäouaire et aurue Vhumaine nature a scdi cotnuwncinnentj celle me 
seiahk mi(ßdiere et excellente ]}av laqueUe eile peiitf en estat 
mortel, acquerir une espece (Timmot'talite, et, en äecours 
de vie transitoire^ perpetuer ton nom et sa semenee, Ce qu'esi faü par 
Ugn6$ issue de noiu m mariage legiUme (Babelais, PantagrtuL lAort II, 
Chapitre V2IL Rabelais war in demselben Jahre geboren wie Luthw). 
Auf die gesetzmässige Ehe legte der Kardinal Bembo vermutlich 
keinen besonderen Wert, desto mehr Melauclithon, beide be- 
gnügten sich in ihrer Art den Tanz um den Phallus mitzumachen, 
den ihr Zeitgenosse Giulio lioraano im Palazzo del Te zu Mantua 
mit antiker Lebensfreudigkeit schilderte. Denn das ist der" 
tiefere Grund des heidnischen Phallusdienstes, darum pflanzten 
die Lydier Phallen auf die Gräber, darum hatte der Tode^gott 
Siwa eine Schnur von Totenkdpfen und das Lingam zum Attribut. 
Wenn der Hindu zu sterben kommt, so vermacht er seine fünf 
Sinne, seine Anlagen und Fähigkeiten seinem Sohne testamen- 
tarisch; in ihm -sollen sie fortleben. Er bestätigt nur das grosse 
und allgemeine Testament, das die Natur in ihrer Weisheit auf- 
:gesetzt und vollstreckt hat* 

Im Monat August bemerkt man ' auf allen Landstrassen^ 
üuf der Sonnenseite der Bäume einen weissen Schmettorling, der 
hier seine Gier legt. Er umhüllt sie sorglich mit einer Art 
braunen Pelzes, der sie den Winter über schützen soll; dann 
erstarrt er noch üijer dem frischiiberzogenen Bett und stirbt. 
Im Frühling, wenn der Baum ausschlägt, werden die jungeu 
Baupen aus den Eiern kriechen und sofort anfangen zu fressea* 



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7. liie weitergegebene Fackel. 261 



Was ist für ein Unterschied zwischen diesem Insekte, das 
sich fortpflanzt, und einem Menschen, der aufersteht? Gleicht 
nicht jene Pelzdecke, etwa so gross wie ein Zweipfennigstück, 

dem Bett, in das wir uns am Abend legen, in dem wir die 
Winternacht verträumen, an das wir die Kleider hängen, die 
wir morgen anziehn, vor das wir das Frühstück setzen, das wir 
morgen geniessen wollen? Scheint der Schmetterling nicht selbst 
im Frühjahr wiederzuerwachen, nachdem er in Todes Armen ge- 
schlafen hat? — Das ist die grosse ünsterblichkeitslehre der 
Natur, hier setzt der Vergleich mit dem Saatkorn ein, den der 
Apostel Paulus ungeschickt am Sarg anstellte, aber der uns 
thatsächlich der Trauer überhebt : die neuen Menschen, die auf- 
erstandenen Toten, die Engel sind die Kinder. 

Die FortpÜanzung war der Haupttrost der alten Welt, wenn 
sie ratlos vor dem Tode stand; wie Dionysos den Feigenbaum 
vor die Pforten des Hades pflanzte, so schüttete der Heide die 
Symbole der Fruchtbarkeit, Bohnen und Nüsse in die Gräber. 
Man darf annehmen, dass gewisse Sitten, die sich noch unter 
den christlichen Völkern finden, bis auf diesen Tag keinen andern 
Unsterblichkeitsglauben predigen, weil sie aus dem Altertum 
übrig geblieben sind. Das Getreide, der Reis ist wie der Same 
Abrahams, den der Herr mehren will wie Sand oder wie die 
Sterne am Himmel. Bei der israelitischen Hochzeit wünscht 
der Babbiner der Braut, dass sie zu Tausenden von Myriaden 
werde; der Brautvater aber thut Geld in eine Schüssel toU 
gerösteter Gerste, die mit dem Rufe: seid fmchthar und mehret 
euchl — von den (.Tasten auf das Brautpaar geworfen wird, 
Dass noch heute in England die Brautleute mit Reis überschüttet, 
Tüten mit Reis zu diesem Zwecke in Bereitschaft gehalten werden, 
iat bekannt; aber auch in Griechenland werden sie mit allen 
möglichen Sämereien, Baumwollsamen, Beis, Haselnüssen, Mandeln, 
Sesam, zugleich mit Confetti und Geldstücken bombardiert, xmd 
bereits in Altgriechenland regnete es Nüsse und Feigen auf 
Braut und Bräutigam, was man: KaraxiOftata nannte. Sogar 
auf das Brautbett werden auf den griechischen Inseln nicht bloss 
151umen, sondern auch Brotkrumen, Apfelsinen und andere Früchte 



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9 



262 Unsterhüchkeit, die es giebt. 



gcfetroiit. Und 80 wird der Reis, der in Hussland am Totenfest 
gegessen, das gesottene Korn, das beim griechischen Begräbnis 
an den Kirchen gereicht wird, nur uachträgiich für die Hinter- 
bliebenen selber zurechtgemacht worden, von Haus aus aber für 
die Toten bestimmt gevresen sein* denen es nachrufen wollte, 
dass sie ihre Fracht gebracht und das Ihrige weghatten. Das 
gesottene Korn führt den Namen des Koüyhon, der fieis heisst 
in Eussland die Kutja, was ein griechisches Wort und eigentlich 
soviel wie Leichenbegängnis ist (Kr^öda). 

Vielleicht dass auch die Leipziger und Hamburger Glücks- 
händchen, die am Johannistage feilgeboten werden, ursprünglich 
kein anderes Fortleben der Toten haben bedeuten sollen als das 
in ihren Kindern. Es sind die Knollen einer Orchis, eines 
Krautes, das eigentlich zwei ungeteilte Knollen hat; die letzteren 
werden für Abbilder der männlichen Keimdrüsen, der Knaben 
otler der Hoden gehalten. Daher hat eben das ganze Kraut 
den Namen Orrhis oder Knabenkraut. Weil niemand mehr weiss, 
was sie eigentlich sollen, vielleicht auch aus Zartgefühl werden 
jetzt bandförmige Knollen genommen. Diese Ansicht yerträgt 
sich sehr gut mit der andern, früher vorgebrachten Deutung, 
wonach die Knollen eigentlich als Greistermittel dienten. Auch die 
Phallen waren im Altertum Amulette. Die Korallenhörnchen, in 
denen das antike Fascinuni fortlebt, sollen in Neapel noch immer 
den Bösen Blick abwehren. Das Fascinum war das Männliche 
Glied und dessen Figur ein Gegenzauber. 

Die Natur verstösst nur die Kinderlosen. Wenn derjenige, 
der, um mich des bibliBchen Ausdrucks zu bedienen: Samen hatte, 
in seinem Samen fortlebte und gewissermassen nicht ganz starh, 
80 ging der Unfruchtbare, Mann oder AVeib, ohne Hoffnung, wie 
ein ^lensch. mit dem es aus ist, von der Erde. Der Kinderlose 
durfte gewisseriuasseu noch nicht sterben, daher auch die alten 
Griechen, sehr im Gegensatze zu unseren Anschauungen, im 
Krieg auf einen verlorenen Posten nicht alleinstehende Männer, 
sondern Familienväter stellten; wenn er aber starb, so hatte er 
Grund, traurig zu sein — Hiskias, der todkrank war und keinen 
Erben hatte, denn Manasse wurde ihm erst später geboren, der 



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7. Die weitergegebene Packel. 



263 



also sein Ende vor sich und sein Leben abgerissen sah wie einen 
Faden, kehrte sein Angesicht zu der Wand und weinte bitterlich 
(Jesaias XXXVJII, 2). Der König von Juda hatte auch keinen 
andern UnsterblicbkeitBglauben als nnser Gargantua. Auch er 
betrachtete einen Sohn ah die edelste Gabe, die einem Menschen 
auf Erden werden könne. Kinderlosigkeit dagegen als ein Unglück; 
wer keinen Sohn binterliess. dessen Andenken erlosch. Er schied 
aus der raen schlichen Gesellschaft aus, was ein sterbender Vater 
nicht that. Er hatte, und das war die Hauptsache, niemand, 
der ihn ehrte und die Kultuspflichten gegen den Verstorbenen 
erfüllte^ ihm den Scheiterhaufen anzündete. 

Es kommt also durchaus darauf an, Kinder zu hinterlassen 
— die Sehnsucht nach einem Stammhalter der Familie ist ein 
sekundärer Antrieb, der allmählich, unter guten Verhältnissen, 
zu dem rein physischen und blinden, heissen Liebesverlangen 
der Geschlechter mithinzutritt. Damit hängt es zusammen, dass 
Unfruchtbarkeit, beziehentlich Unvermögen bei vielen Völkern 
einen Scheiduugsgrund abgiebt. Bei den Frauen ist, wenigstens 
seit Eintritt der Vaterherrschaft, die Rücksicht auf den Leibes- 
.erben minder stark ausgeprägt, ihre Bestimmung freilich, Mutter 
zu werden, ihr grösstes Unglück aber, wenn sie überhaupt nicht 
in den Fall kommen, befruchtet zu werden, sondern als Jungfern 
sterben. Dann beweinen sie ihre Jungfrauschaft auf den Bergen 
wie die Tochter Jephthas CRiehtor xi. 38), und selbst diejenigen 
thuen das, die nachmals ihre Leibesfrucht abzutreiben und ihre 
Kinder zu morden imstande sind, was nicht bloss als ein krank- 
hafter Auswuchs der Oivilisation zu betrachten ist. Das Gefühl, 
welches die Mutter für ihre Kinder hat. ist ein viel selbstloseres 
als das des Vaters: sie denkt nicht daran, selbst in ihnen fort- 
zuleben, sie geht vollständig in ihrem Berufe auf und tritt frei- 
willig vom Schauplatze zurück, sobald sie der Natur Genüge 
gethan hat. , Die Kinder leben nicht mit ihr; sie lebt mit ihren 
Kindern. Sie macht keinen Anspruch auf Unsterblichkeit, und 
ist doch die reinste Trägerin der Unsterblichkeit, die wie die 
Liebe und das Glück den nachsetzenden Verfolger flieht und 
■demjenigen zufällt, der sich nicht um sie bemüht. 



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264 



8. Heimgegangen. Dm Leben ein Lelien. 

In gewissem Sinne hätte es auch lür den König Hiskias keinen Tod ge- 
geben — der Kreislauf der Stofi'e — sie allein sind ewig, die Menseben 
nur eine Erscheinungsform und ein Durchgangspunkt — der Leib des 
Menschen ist nicht sein eigen, er ist ein Darlebn der Natur — ein erbliches 
Leben — Lucrez — während des Lebens zahlen wir die Schuld teilweise 
zurück, im Tode ganz wir kehren in den Scboss der grossen UuHer 
Eurfick und gehen heim — dies ist die Lehre von der ünsterbliehkeit 

des StoiTs. 

Das Feigenpflaster, das der Prophet Jesaias dem kranken 
König Hiskias auf seinen Karbunkel auflegen liess und das unter 
die Klasse der sogenannten Reifenden Mittel oder der Maturantia 
gehört, könnte man nach dem ohigen yersncht sein, sinnbildlich 
an&nfassQn und auf die Geburt des Kronprinzen Manasse zu 
beziehn. Sei dem wie ihm wolle, das Lied, in welchem Hiskias 
Gott für seine Grenesung dankte und das der Ärzt-Frophet 
iu seinem 158. Kapitel aufgezuiühnet bat, ist für die Anscbauuuj[^ 
der Israeliten über das Leben nach dem Tode bezeichnend und 
die aussergewöhnliche Bitterkeit seines Grames nur unter der 
Voraussetzung verständlicb, dass er kinderlos zu sterben und fdr 
sein Lebenswerk und sein Königreich keinen Erben zu hinter- 
lassen fürchtete. In gewissem Sinne hätte es auch dann noch 
keinen Tod ffir ihn gege ben, indem er zur Erde geworden, mit- 
hin doch in irgend einer Form noch dagewesen wäre. 

Imperial Caesar, dead, and turn'd to clay, 
Might stop a hole to keep the wind away, 

sagt Hamlet: ja, da die Stoffe, aus denen die Erde besteht, die 
i^^ähigkeit besitzen, sich von neuem zu beleben, da die chemischen 
Elemente und ihre Verbindungen, in die wir uns auflösen, den 
Pflanzen zur Nahrung dienen, die Pflanzen wieder von Tieren, 
Pflanzen und Tiere Tom Menschen genossen werden und der 
Mensch die verwandelte Speise ist: so wird am Ende auch der 
tote Hiskias auf Umwegen wieder zu einem lebendigen Organismus, 
und die Fortpflanzung kommt abermals, nur langsam und mittel- 
bar, mit Ausschluss der Person zustande. 

Die Elemente beschreiben einen Kreis; sie geraten allmäh- 
lieh in die Menschheit, können es wenigstens, gehen durch die- 



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8. Heimgegangen. Das Leben ein Lehen. 265- 



selbe wie durch eine ErBcheiniingBform hindarch und kehren dann- 
«inahänderlich, gleichviel ob Hiskias Kinder hat oder nicht, in 

den Schoss der grossen Mutter, ins Grab zurück, wo sie einer- 
neuen Organisation, als einer Auferstehung, harren. Sie allein 
sind ewig; die Formen gehen vorüber wie Schatten und zer- 
brechen wie Öefasse. Am längsten widerstehen noch die Knochen 
der Auflösung, sie erhalten sich oft länger als ein Jahrtausend. 
Endlich ist auch die letzte Spur ausgelöscht und das Individuun»- 
aus dem Buche des Lebens vollständig getilgt. Es hat gelebt. 

Schon während des Lebens geben wir den Elementen wieder, 
was die Elfinente uns gegeben; in jedem Augenblicke sterben 
Teilchen unseres Korpers ab und gehen zu den Urstoffen zurück. 
Im Tode wird alles auf einmal abbezahlt. Wir haben gleiclisam 
fortwährend eine Schuld abzutragen: endlich mit dem letzten 
Atemzuge borgen vir zum letztenmale^ und der Schuldner Ter* 
fällt dann selbst. 

Unser Leib ist nicht unser eigen; er ist ein Darlehn der- 
Katur, ein Lelien, für kurze Zeit geliehen, die Natur unsere 
Lebnsherrin, die bisweilen darein willigt, dass die Amter erblich 
werden, aber ihre Vasallen nach Gutdünken einzieht und ver- 
braucht. 

Sic alid ex ftlio numquam desistet oriri, 

Yitaqne maneipio nulli datur, omnibus nau, 

sagt der Dichter, der im Altertum die konsequenteste Darstellung 
des Materialismus geliefert hat und der damit unserer Todesfurcht 

ein neues Pflaster auflegt (Lucrez III, 968). 

Eine Ewigkeit liegt hinter uns, eine Ewigkeit liegt vor uns: 
zwischen beiden Ewigkeiten dieses kurze individuelle Leben, das 
die Stofl'e in unserer Person erlangen und von dem sie den Niess* 
brauch haben. Nach uns kommen andere Atome dran, denn, 
um noch einen Vers des Lucrez herzusetzen: 

Kateries opus est, nt creacant postera saecia (III, 965). 

Wir sterben, das Leben wird aufgelassen wie ein Grundstück 
und weitergegeben wie ein Feudum; die Stoffe sind noch da und 
wandern, aber mit der Persönlichkeit ist's aus. Das ist eine 
andere Seelenwanderung, die den Vorzug hat, der Wirklichkeit 



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266 



V. Die Unsterblichkeit, die es giebt. 



a 



jEtt entsprechen; und die gewisseste Unsterblichkeit, auf welche 
<die Materialisten mit gutem Grunde pochen, die Unvergänglich- 
keit des Stoffes. Sie wflrde auch noch vorhalten, wenn einst das 

Menscliontjeschlecht von der Erde vorsch winden und das organische 
Leben selbst wie eine Kpisode enden sollte — auch dann wären 
wir 'noch da. Diese Lehre hat nimmer eiuen Tod, weil sie kein 
eignes Leben hat. 

9. Der Tempel des Naehruhms, 

Das Andenken der Menschen ist auch eine Unsterblichkeit — Achilles und 
Homer — der Strom der Vern^essenheit — das prachtvolle Bild in Ariosts 
Käsendem lioland es (jiebt aber auch ein Gedächtnis für das Böse und 
eine traurige Unsterblichkeit — zweifelhafter Wert des Naohruhms überhaupt 

Wir sind nicht mehr. Blicken wir einmal in ein Lehen 
und Treiben ohne uns hinein! — Die Welt, was die Menschen 

Welt nennen, geht ihren Weg, als ob gar nichts gewesen wäre. 
Die kleine Lücke scliliesst sich augenblicklich wie in einem 
Strom, nur wir haben keinen Teil mehr an den Dingen dieser 
Erde. Sowie sie uns hinausgetragen haben, sind wir von der 
Bildfläche yerschwunden, weg» ganz weg. 

Höchstens, dass wir noch ein Weilchen in der Erinnerung 
fortleben und auf diese Weise dem Nichts entgehen, dem jede 
Persönlichkeit über kurz oder lang anheimfällt. Das Gedächtnis 
der Uberlebenden, die Inschrift auf einem Grabej das Andenken 
-einer einzigen Seele auf diesem Erdenrund ist auch eine Un- 
sterblichkeit und wird oft mit ilir verwechselt. 

Von allen Gütern des Lebens, meint der Sohn Achills, 
das Los seines Vaters in demselben Augenblicke preisend, wo 
dieser unzufrieden im Hades sitzt und seine persönliche Fort- 
dauer für nichts achtet, 

von des LeLeiis (TÜtern allen 
ist der Kuhin das liöchste doch; 
wenn der Leih in Staub zerfallen, 
lebt der grosse 2samc noch. 

Wirklich steht der Name Achilles, wenn wir den Helden 
^nmal als historisch gelten lassen wollen, noch heute, nach 



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9. Der Tempel des Nachruhms. 



267 



beiläufig vier Jahrtausenden in jedem Konversationslexikon; er 
soll sogar jetzt wieder pedantisch: Achilleus ausgesprochen 

werden. Er lebt in Gegenden, die er niemals betreten» von 
■ denen er niemals etwas geahnt hat — - es giebt Leute, die mehr 
von Achilles wissen als von allen Arbeiterbataillouen der Gegen- 
wart, denen er eingereiht zu werden wünscht, zusammen. £r 
ist unvergessen; und mit ihm der Name seines Sängers. 

Nach dem griechischen Volksglauben tranken die Ver- 
storbenen bei ihrer Ankunft im Hades aus dem Strome der 
Vergessenheit, und auch die zur Wiedergeburt bestimmten Seelen 
tilgten nach orpliischer Lehre die Erinnerung an das Vergangene 
durcb einen Becher aus den Fluten der Lethe ; wie in der 
nordischen Poesie der Reiher der Vergessenheit über die Gelage 
hinrauscht und die Besinnung stiehlt. Aber die Toten vergessen 
nicht nur, sie werden auch vergessen; finstre Vergessenheit, 
heisst es in der Braut von Messina, breitet die dunkelnachtenden 
Schwingen über ganzen Geschlechtem aus. Nur die grossen, die 
berühmten Männtr. die Achilles werden nicht vergessen; und es 
sind keineswegs immer die Fürsten, die zu dieser Elite zählen, 
wenn sie auch ihres Einflusses wegen obenanstehn. 

Sie haben wie der Reiche Mann in der evangelischen Parabel, 
ihr Gutes empfangen in diesem Leben, nämlich Ehre. Aber 
Ruhm und Ehre sind ZwUUngsgeschwister, sagt Schopenhauer in 
seinen Aphorismen zur Lebensweisheit, jedoch eo wie die IHoekuren, 
von denen Pdlux unsterblich und Kastor sterblich war: der Rahm 
ist der unsterbliche Bruder der steiblicJn'n Khre. 

Ariost versetzt uns in seinem Rasenden Roland auf den 
Mond und in die Wohnung der Parzen, die auf einem Mond- 
berge liegt Sie haben Tausende von Vliessen vor sich liegen, 
aus denen sie das Leben spinnen; jedes einzelne Vliess ist mit 
einem Täfelchen versehen, bald von Weissblech, bald von Gold- 
blech, bald von Silberblech, worauf ein Name steht, wie auch 
die Vliesse bald Wolle, bald Baumwolle, bald Flachs, bald Seide, 
bald kostbar, bald gemein sind. Ist ein Vliess zu Ende und der 
Vorrat aufgesponnen, so werden die Marken abgemacht und auf 
einen Haufen geworfen: ein alter Mann hat weiter nichts zu 



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V. Die Lnsterblichkeit, die es giebt.. 



thun als die vielen weggeworfeDen Marken immerfort za sammeln 

und in den Schoss seines Mantels einzusacken. Spornstreichs 
lauft er dann damit den Berg hinunter und schüttet alles zu- 
sammen in den Strom der Vergessenheit, der am Fusse des 
Berges fliesst. Hier fliegen zahllose Kaben, Geier, £jräbei>, 
Elstern und andere Vögel lautschreiend umher — sie suchen 
ein silbernes oder goldenes Täfelchen wegzustibitzen, herauB- 
zupicken oder mit den Erallen zu erraffen und erbeben sich 
mit ihrer Beute in die Lüfte. Sie kommen aber damit nicht 
weit, weil sie so gierig sind, sehr bald lassen sie das Täfelchen 
wieder in den Fluss fallen, so dass es die Wellen verschlingen. 
Nur zwei Schwänen gelingt es, einzelne auserwählte Namen 
wirklich zu retten und der Vergessenheit zu entreissen, Sie 
fliegen damit zum Tempel der Unsterblichkeit, an dessen Pforten 
ihnen eine Nymphe das Täfelchen abnimmt, um es drinnen im 
Heiligtum wie in der Regensburger Walhalla anzuschlagen. 

Ich wüsste nicht, wenn jemals ein Dicliter die alles be- 
deckende Zeit, das eitle Bemühn der Byzantiner, der Hofschranzen 
und der Schmeichler und den Triumph des wahren Verdienstes 
anschaulicher geschildert hätte; gleichwohl genügt das Bild nicht 
völlig« Der Nachruhm ist hier nur von seiner idealen Seite 
aufgefasst; Ariost thut so, als ob es nur fUr das Herrliche der 
Menschheit ein Gedächtnis gäbe, als ob dieses immer zuletzt 
zur Geltung käme und als ob es sich nur darum handelte, Sterne 
erster und zweiter Grösse zu unterscheiden. Dass die Nachwelt 
ebensovieler Menschen mit Hass nnd Verachtung gedenken muss, 
dass ihr das Böse so wenig entschwinden kann wie das Gute, 
und dass die Weltgeschichte nicht bloss Kränze auszuteilen, 
sondern auch den Beruf hat, die Namen von Verbrechern an* 
klagend dem Strome der Vergessenheit zu entreissen, passt dem 
Dichter (der hier unbewusst selbst die Eolle eines Raben und 
erbärmlichen Schmeichlers spielt, .indem er den brutalen, undank- 
baren Kardinal Hippolyt von Este, der kein Verständnis für ihn 
hatte, weit über Gebühr herausstreicht) nicht in seinen Kram. 
Das Mittelmässige wird freilich hier so gut wie dort yergessen; 
aber ein grosser Bösewicht hat genau so viel Anspruch auf 



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10. Das Denkmal. 



269 



immerwälirendeB Andenken wie ein Held, und das Schlimme ist: 

man kann ihn von einem wirklichen Helden gai iiichL inimer 
«nter^*"liei(len. Ai)er auch wenn die WeM den Tyrannen und 
Mörder iu iiim sieht, so ptlegt sie doch noch von ihm zu singen 
«nd zu sagen. Nur wäre es dann kein Nachruhm, der erschallte, 
sondern lüsterung und Fluch. 

Was sich aus der ünsterblichkeit des Namens machen lässt, 
hat Messer Lodovico gemacht, das muss man ihm lassen; es ist 
-ein wundervolles Bild. Dass sie auch im besten Falle für den 
Inhaber, der sich ihrer nicht einmal immer getrösten kann, 
wenig Wert hat, und dass es nicht viel bedeutet, ob man nach 
seinem Tode in den Himmel erhoben wird, wenn man nichts 
davon hat, nicht mehr als ein etwaiges Tadelsvotum: liegt in der 
Natur der Sache. An den Nachruhm pfleg ich nicht zu denken, 
^gt Goethe, der ist für andere, nicht für mich. 

10. Das Denkmal. 

Steinerne Andenkea — das Grabmal und das Denkmal — die Denkmals- 
sucht der Gegenwart - ein Protest g"egen den Tod, der wenig hilft — 
£ar die Nachwelt, für die Nachwelt, oft nicht emmal fiir diese — Stataen 

und Leichen. 

Wer auf den Nachruhm spekuliert, ist ein Thor; er könnte 

•sich geradesogut auf ein Zweckessen oder eine Ehrung nach 
seinem Tode, zum Beispiel auf ein recht grossartiges Leichen- 
begängnis, auf die Kränze, die ihm auf den Sarg gelegt werden, 
auf ein Marmordenkmal freuen. 

Ein solches ist ausdrücklich dazu bestimmt, das Andenken 
des Verstorbenen zu erhalten, es wird zu dem Ende von den 
Hinterbliebenen gesetzt, wohl auch vorsichtigerweise von dem 
guten Manne selbst bei Lebzeiten angelegt. Die ägyptischen 
Pyramiden sind bekanntlich Monumente, die sich die Herren der 
beiden Länder selber errichtet und immer vergrössert, mit einem 
Mantel nach dem andern umgeben haben. Sie waren nun freilich 
nicht bloss Denkmäler im strengen Sinne des Wortes, sondern 
Häuser der Verstorbenen, ihre ewigen Wohnungen; das heisst, 
sie w;aren nicht GhrabmSler, sondern Gräber. Auch unsere Grab* 



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270 



V. Die Unsterblichkeit, die ee giebt. 



hiigel sind j;i keine riclitigen Maler: sie etitsttlien zufällig und 
bedecken nur den Sarg. Uass der Hügel aber in Ägypten so 
hoch getürmt ward, hatte doch keinen anderen Zweck als die 
allgemeine Aufmerksamkeit darauf zu lenken; sobald man sich 
ein recht hohes Grab wünscht, ist man im voraus eitel und 
denkt, der Nachwelt zu imponieren. Man könnte daher noch 
den Toten eine Artigkeit erweisen, wenn man etwas zu dieser 
Höhe beitrüge. Vielleicht hat die bereits (S. 04) erwähnte jüdische 
iSitte, den Yerstorbeueu Steinchen aufs Grab zu legeu^ auch 
diesen Zweck. 

Auf diese Weise wird das Grabmal ganz yon selbst zu 
einem Denkmal und am Ende zu einem Heiligtume. Die Peters- 
kirche in Kom ist auch nichts weiter als ein grossartiges Denkmal, 

eine Memoria Satuti Petri Aj/üstolt, ursprünglich sein Gi ab. Es 
verdient bemerkt zu werden, dass die Worte Mmtorin und Mviunav 
im christlichen Sprachgebrauche schlechthiu für Grabmal oder 
Sepulcrum gelten y geradesowie ein Monwmnt in erster Linie 
zur Erinnerung an einen Toten dient (momt, es lässt denken, 
meminisse). Demselben wird vielleicht zuguterlctzt noch eine 
Statue gesetzt, so dass er nun wieder unter den Lebenden zu 
wandeln scheint und in Erz und Marmelstein aufersteht, nachdem 
er auf dem Totenbette gelegen hat. Mitten m dem grossen 
christlichen Grabmal sitzt der Apostelfürst, die Hand zum Segen 
erhoben, in der Linken die Schlüssel haltend, auf weissem 
liarmorsessel, und die Gläubigen küssen ihm den rechten, ein 
wenig vorgestreckten Fuss, als ob er selbst dawäre, üm die 
Täuschung vollkommen zu machen, wird die Bronzestatue am 
Peter-Paulstag mit dem päpstlichen Ornat bekleidet und mit 
dem Triregno gekrönt. 

In unsereu Tagen sind die Ehrendenkmäler sehr allgemein 
geworden, so dass man von der Denkmalssucht unserer Zeit 
redet wie von einer Ausstellungssucht und einer Jubiläumssucht. 
Sie verschwendet und geizt; kleine Berühmtheiten sollen sich 
sogar gern währender Nacht auf einen leeren Sockel stellen 
und sehen, wie sie sich au^^n lunen. Profane Porträtstatueu waren 
im Mittelalter selten, die Keiterstandbilder Kaiser Ottos I. auf 



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10. Das Detiknial. 



271 



dem Marktplatze zu Magdeburg und König Konrads III. im 

Dom zu Bamberg vereinzelte Beispiele. Heutzutage drohen di& 
Bilder der Toten thatsächlich den Lebenden den Platz wegzu- 
nehmen und der wohltbatigen .Natur entgegenzuwirken, die mit 
den Leichen aufräumt; wenn das so fortgeht, werden in Berlin 
und in Turin bald eben so viele steinerne Männer wie wirkliche 
Männer stehen. Wer setzt sich denn eigentlich diese zum Teil 
erhabenen Monumente? — Denkmalssucht hin, Denkmalssucht 
her, wir wollen nur einmal sehen, ob die Toten sehr glütklich 
sind, ein Denkmal zu erhalten, und was dabei für die Unsterb- 
lichkeit herauskommt. 

Das steinerne Andenken ist ein Protest gegen den Tod, der 
nichts hilft. Die unzähligen Bismarcke, die in den deutschen 
Städten stehen, sitzen und reiten, lassen sich mit den Söhnen 
des Altreichskanzlers vergleichen, die seinen Namen tragen und 
gleichsam seine lebenden Bilder sind; ja, sie überleben diese 
Sühne selbst und geben vielleicht einmal, verstümmelt und yvv- 
wittert, noch einer fernen Nachwelt Kunde von dem Auttreten 
und Wesen das berühmten Staatsmanns. Aber sie leben und 
wirken nicht wie diese Söhne; sie haben noch weniger Kraft, 
noch weniger Persönlichkeit als die Schatten der homerischen 
Helden, die im finsteru Hades ttber die Asphodeluswiesen huschen, 
wenn sie auch kör])erlicher sind. Der Verstorbene scheint m 
ihnen wiederaufzuleben und hat doch nichts davon — sie sind 
für die iiachwelt, für die Nachwelt. So blättern wir wehmuts- 
voll in einem Photographie-Album und betrachten die geliebten 
Züge, die nicht mehr sind, die Hand, die wir einst gefasst haben 
und die nun erkaltet ist — erkaltet und erstarrt wie Marmor 
oder Bronze. Alle Portr^ltstatuen sind Leichen in dem früher 
erwähnten, allgemeinen Sinne dieses Wortes, weil sie den Ver- 
storbenen ähnlich selin; sie sind auch Leichen wie die heilige 
Cacilia, die Stefano Maderno modellierte, wie sie im Jahre 230- 
auf ihrem Totenbette lag und im Jahre 1599 in den Callistus- 
Katakomben wiedergefunden ward — auf die rechte Seite ge- 
lehnt, das holde Haupt abgewandt und yerhüUt, die geschlossenen 
Knie ein wenig eingezogen, die Arme vor sich hingestreckt ala^ 



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272 V. Die Unsterblichkeit, die es giebt. 



-wie in tiefem Schlafe, ein rührendes Bild weihlicher Anmut, weih- 
licher Ergebung und weiblicher Heldengrösse, aber marmorkalt. 

Wenn wenigstens die Erinnerung im Herzen des Volkes immer 
lebendig bliebe! — Aber oft genug weiss die Nachwelt gar nichts 
mehr von den abkonterfeiten Grössen und geht gleichgültig daran 
vorüber. Viele, viele Denkmäler aind den persischen Köngen 
gleich, deren Namen in den Büchern, aber nicht in den Herzen der 
Ünterthanen stehn. Nein, kein Denkmal ! Der Zar singt : 

Und eudel das Streben und eudet die Pein, 
So setzt maa dem Kaiser ein Denkmal von Stein. 
Ein Denkmal im Herzen erwirht er aioh kaum — 
Denn irdische Grösse verlisobt wie ein Traum. 

11. Der Abschied des Wohlthäters. 

Welche Art Unsterblichkeit ein edler Mensch erstrebt — er mochte etwas 
ToUbringen, was in das allgemeine Patrimonium der Mensdiheit übergeht ^ 
-das Gesets von der Erhaltung der Kraft — gilt auch ira moralischen Sinne 
— alles was wir thun, hat seine Folgen und ist wie ein Same, der aus- 
gestreut wird — die Erfinder und die Dichter — ein Nachruf in den 
Zeitungen von I\lelbourne — die Vjtterlandsliebe — was Ihr gethan habt 
dieser Clerinfrste;i einem — lierrliche Aussicht — dieses Bewusstsein der 
einzijje Lohn aller höheren Menschen: sie kommen faktisch auf die Nach- 
welt sie tragen die Gottheit in sieh, und die Menschheit wird selbst zu 
«inem Gotte — es ist schon wahr: auch das Böse geht nicht verloren, es 
gewährt ebenfalls eine faktische Uristerl>lichkeit — man rauss wählen, ob 
man als Feind oder ala Wohlthäter des Menschengeschlechts Abschied 
nehmen will, und die Wahl kann nicht schwer sein. 

Unser zeitliches Wesen zu verewigen, ja, nur über den Tod 
hinaus zu verlängern, ist eitel; auch hat die Unsterblichkeit der 
Fersoni die Erhaltung dieses armen individuellen Lebens nichts 
was ein edles Gemüt reizen könnte. Der bessere Mensch wird 
daher auf die personliche Fortdauer ganz Terzicliten und sich be- 
gnügen, mittelbar in den Wohlthaten fortzuleben, die er bei Leb- 
zeiten der Menschheit erwiesen hat. Er wird über sich selbst 
hinausgekommen sein und eine Anwesenlitit verschmähn, wie sie 
sich die Selbstsucht und die Selbstüberschätzung ausmalt. Ihr 
Unglücklieben, wird er sagen, Ihr hängt an Eurer kleinen Persön- 
lichkeit wie Kinder an einer Poppe und möchtet sie um jeden 



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11. Der Abschied des Wohlthäters. 



273 



Preis in einer Welt darchsetzen^ die für das Einzelne nicht 
Raum hat. Ihr seid alle wie der König Hiskias, Ihr winselt 
wie ein Kranich und wie eine Schwalbe, weil Eure Zeit dahin 
und aufgeräumt ist wie eines Hirten Hütte. Es hilft Euch nichts, 
Ihr müsst die Schuld der Natur bezahlen. Eure krampfhaften An- 
strengungen, Eare Denkmäler, Eure Pyramiden, Eure Geschlechts* 
register und Stammbäume sind umsonst; Ihr gewährt ein lächer« 
liebes Schauspiel, Wisset, Ihr habt nichts Bleibendes als die 
Spuren, die Ihr von Euren Erdentagen im Volke hinterlasst, 
Ihr iniisst Euch selbst aufgeben und freiwillig sterben wie der 
holsteinische Edelmann, aber dafür etwas vollbringen, was in das 
allgemeine Patrimonium der Menschheit Übergeht; Eure Thaten 
allein sind ewig. Wirket so lange es Tag ist, es kommt die 
Nacht, da niemand wirken kann: das ist das rechte Mittel, zu 
bestehn und Euch am Leben zu erhalten. 

Es giebt ein bekanntes Gesetz, die sogenannte Erhaltung 
der Kraft, darauf hinauslaufend, dass Energie nicht veiniclitet 
werden kann. Dass die einmal eingeleitete Bewegung niemals 
aus der Welt verschwindet, sondern höchstens in eine andere 
Form, zum Beispiel in Wärme übergeht. Dass die Kraft un* 
serstörbar und ihrem Wesen nach unveränderlich ist wie der 
Stoff. Wenn ich mmne Uhr aufziehe, so findet sich die auf- 
gewendete Kraft als Spannkraft in der gespannten Feder wieder 
und setzt sich allmählich in die Bewegung des Bäderwerkes um. 
Wenn ich Billard spiele, so lebt die Kraft meines Stesses in 
dem elfenbeinernen Balle fort, der auf dem grünen Tuche läuft 
und seine Bewegung wiederum auf andere Bälle überträgt, bis 
sie allmählich durch die Reibung in Wärme verwandelt wird. 
Die Reibung scheint nämlich die Kraft gewissermassen auf- 
zufressen und den Impuls der Bewegung zu verschlucken. Mit 
nichten, die Bewegung kommt ni( lit abhanden, sie verwandelt 
sich bloss, ohne Verlust und ohne Gewinn, in Wärme. 

In demselben Masse als die Bewegung der Kugel nachlässt, 
erwärmt sich die Platte, auf welcher sie rollt. Wo bleibt nun 
die Wärme? Ist sie nicht wieder nach ein paar Sekunden weg? 
— Gott bewahre! Die erzeugte Wärme hat sich nach dem ihr 

Klelnpaal, Dl« LsbeBdigen «ad di« Tote«. 18 



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274 



V. Die Unsterblichkeit, die es giebt. 



eigenen G-esetze der Fortpflanzung der umgebenden Luft mit- 
geteilt. Diese Luft ist nun um so viel wärmer, als der Stoss 
des t^ueues stark war, wenn wir es auch nicht merken. 

Es IQUSS sich tindeu; es kann nicht weg sein, sagt die Frau 
vom Hau86y die ihr Schlüsselbund verlegt hat. Genau so ist der 
Naturforscher der Ansicht, dass in der Natur nichts wegkommeo 
könne und dass die Energie des Weltalls eine konstante seL 
Zwar gehen im Universum ununterbrochen Verwandlungen der 
Energie nach unveränderlichen Massen vor sich, Verwandlungen, 
die alle untereinander zusammenhängen und eine ewige Kette 
bilden: da aber das Universum seinem Begriffe nach weder 
Energie vdn aussen empfangeni noch Energie nach aussen ab- 
geben kann, so muss die Gesamtsumme aller Energien stets die- 
selbe bleiben. Der Erde und der Sonne wohnt ein unverwilst- 
licher und unvermehrbarer Vorrat von Energie oder Thatkraft 
inne, der in den mannigfachsten, immer wechselnden Formen, 
bald als gehobenes Gewicht, bald als Wärme, bald als Licht 
oder chemische Verwandtschaft, in der leblosen Natur so gut 
wie im Beiche der lebenden Wesen erscheinen kann, aber inner- 
lich konstant bleibt wie die Materie, an die sie gebunden ist. 
Eine Hauptrolle spielt in der Gegenwart bekanntlich die Ver^ 
Wandlung der mechanischen in elektrische Energie, die dann, zum 
Motor geleitet, in mechanische Arbeit zurückverwandelt wird, 
mit Hilfe der sogenannten Dynamomaschinen. Freilich gewinnt 
man am Motor nur einen Teil der in die Dynamomaschine ein- 
geleiteten, an die Biemscheibe derselben abgegebenen mechanischen 
Energie wieder. Die Umwandlung, die Leitung ist. mit Verlusten 
verknüpft gewesen. Aber die Natur trägt diese Verluste nichts 
sondern nur der die Kraftübertragung vermittelnde Apparat; 
wäre dieser nicht notwendig, so würden Zahlen und Masse aufs 
Haar stimmen. 

Dieses Gesetz von der Erhaltung der Kraft, welches in 
UDsem Zeiten an die Stelle der Ewigkeit des Stoffes getreten ist, 
gilt auch fiir unsere Handlangen. 

Auch im moralischen Sinne kann man sagen, dass nichts 
verloren und nichts verschwunden sei, was die geheimnisvoll 



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11. Der Abschied des Wohlthftten. 275 



walteoden Stunden in deu dunkel schaffenden Scboss auf- 
nahmen. 

Jede Energieverwandlung ist die Folge einer früheren und 
die Ursache einer neuen; alles Frucht und alles Samen. Auf 
diesem ewigen Aastansch von Kräften beruht eben das Leben 
im Weltall. So sind auch unsere Thaten keine Tereinzelten und 

mm 

gleichgültigen Äusserungen der Energie, die wir alle mit dem 
Lehen empfangen haben : es hat mit ihnen nun und nimmer sein 
Bewenden, sie verwandeln sich in andere Thaten und wirken 
durch unberocheiihare Zeit leise und sicher fort. 

Alles was wir thun, hat seine Folgen und ist gleichfalls wie 
ein Samenkorn, das aufgeht. Wenn wir einem Handwerker auf- 
helfen oder einem armen Studenten zu essen geben, so erzielen 
wir nicht etwa bloss einen Händedruck, eine dankbare Erinnerung 
— wir wirken auch nicht bloss auf sein Gkmfit und seine Sinnes- 
art — wir geben ihm Kraft zur Arbeit, befähigen ihn zu leben 
und haften damit für alle weiteren Konsequenzen, die sich aus 
seinem Thun und Lassen ergehen können, bis in die fernste 
Zukunft, ja, bis in die Ewigkeit hinein. Umgekehrt, wenn wir 
einen Arbeiter entlassen, so säen wir nicht bloss Hass, wir Ter* 
nichten auch sein Leben, wir stürzen vielleicht seine ganze Familie 
ins ünglück, wir schneiden uns Yielleicht in unser eignes Fleisch. 
Nichts ist gleichgültig in der Welt, ein Staatsmann, der dem 
Vaterlande dient, ein Reich aufrichtet und erhält, besitzt eine 
mächtige Fernwirkung, aber jeder, auch der unbedeutendste 
Mensch darf sagen: es kann die Spur von meinen Erden- 
tagen nicht in Äonen untergehn. 

Das Wohl und Wehe der ganzen Menschheit ist in unsere 
Hand gegeben. Je nach unserem Vermögen beglücken wir die 
Mitwelt oder schaden wir der Mitwelt — auch diese Kraft geht 
nicht verloren, sie hat einen bestimmten Einfluss auf das Schicksal 
des Volks oft noch in spiitt r Zeit, wenn die Kette der Wirkungen 
schon nicht mehr zu übersehn und der Urheber seines Glückea 
längst im Grabe ruht — wenn er fort ist wie ein Nil, der ein 
grünes Land zurücklässt. Das grüne Ägyptenland ist der Segen, 
der guten That des Nils. 

18* 



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276 



V. Die Unsterblichkeit, die es giebt. 



Nicht die Erbauung einer Pyramide ist eine gute That, o 
Cheops, Chefren nnd Mykennus — vielleicht ist auch eine 
Dichtung, ein Monument, wie es Horaz errichtet zu haben rühmt, 
in sittlicher Hinsicht keine gute That zu nennen. 

Joachim Heinrich Campe begeisterte sich für die Leute, 
die das Spinnrad erfunden und die E^artoffel eingeführt haben; 
er schlug ihr Verdienst höher an als alle vierondzwanzig Bücher 
der Uias und Odyssee. Darfiber lässt sich streiten, der Mensch 
lebt nicht vom Brot allein : doch eines ist gewiss. Wer eine 
nützliche Brtindung gemacht, wer ein neues H'^ilmittel an- 
gegeben, ja, wer auch nur Tag tür Tag treu seine Ptiicht ge- 
than hat, wie sie ihm sein Gefühl und sein Gewissen zeigte: der 
ist allerdings so unsterblich wie Homer, wenn sein Name anch 
nicht genannt wird. Sein Verdienst kommt je nach seinem 
Werte mehr oder minder deutlich, aber unfehlbar auf die Nach- 
weit, zu deren Wohlbefinden er mit beitrug. In Melbourne las 
man vor ein paar Jahren in den Zeitungen einen !Xachruf — »tir 
Mrinnerung (in t/ames HarrlMon, der am 3. September 1893, 
im Alter von 77 Jahren^ in seinem Häuschen auf Point Henri an 
der Corio'Bucht plötzlich verschieden ist. Er war der erete Mann 
in der ganzen Welt, dem ee gelang^ Eis auf künstlichem Wege und 
für die Zwecke des Handele darzustellen. Seine Erfindung Juxt für 
den überseeischen Transport v&n Fleisch und Fischen den Weg ge- 
bahnt. Her Lo/ni des Erfinders war der finanzieUf Jiuin. Hie 
Welt erntet den Nfdzen^ der Mann .selbst ist von ihr veri/essen. Er 
scidäft auf dem FriedJio/e zu Geelong — kein Stein^ um sein Grab 
zu bezeichnen. Eingesandt von seinem einzig überlebenden Bruder 
Hamd Harriwn^ Sß^ CaroUm-Street, Sauüt Yarra, Melbourne* 
Wirklich sind heutzutage in Eismaschinen und Kältemischungen 
Ifillionen angelegt, Tausende haben von der Erfindung Harrisons 
•direkten Nutzen, alle Menschen ihr Gutes davon gehabt. Kein 
Denkstein bezeichnet sein Grab. Der Mann hat etwas 
Besseres als einen Denkstein: die geliehene Kraft erhält 
8i>h. der unwillige Nachruf seines Bruders ist nur ein blen- 
dender Widerschein der Wirkung, die er energisch hervor* 
gebracht hat 



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11. Der Abechied des Wohltbäter«. 



277 



Dasselbe gilt aber von jedem Wohltliiiter des Menschen- 
geschlechts, mag er Einzelnen oder der Gresamtheit Grates thun: 
er kommt faktisch auf die Nachwelt und hat bei den noch un- 
geborenen GeBchlechtern einen Stein im Brette. Wie ein edler 
englischer Dichter sagt: 

The Patriot is ooe 
Who makes the welfare of mankind; bis eure, 
Tho' still by faction, vice and fortune crost, 
Shali find the generoas labour was not lost. 

Der Welt zu dienen, die Welt zu beglücken, ist jedermann 
durch seine Geburt berufen. Wir sind allzumal Erben der 
Woblthaten, die uns unsere Väter erwiesen haben, jedem einzelnen 
hat sein Volk unendlich Tiel gegeben, man nennt das Kultan 

Wir sollen sie weitergeben und der Allgemeinheit mit Zinsen 
zurückerstatten; auf diese Weise werden wir alle samt und 
sonders zu einem Hort der Menschheit, während diese am Ende 
selbst zu einem Gott wird und göttliche Eigenschaften annimmt. 
Thatsächlich kann man sagen, dass mr mit unsem Haschinen 
eine Art von Allmacht, mit unsern Eisenbahnen und Dampf- 
schiffen fast Allgegenwart, mit unsern Büchern und Zeitungen, 
unsern Telegraphen und Fernsprechern fast Allwissenheit erlangt 
haben ; dass wir diese göttlichen Kriifte gegenwärtig^ in weit 
höherem Grade besitzen als sie jemals ein Gott besass. Und 
je ^ mehr die Summe der Wohlthaten, die das aligemeine 
Patrimonium der Menschheit bilden, anwächst, um so mehr ent- 
wickelt sich der Gott, und um so reicher, um so glücklicher, 
um so herrlicher wird die Erde. 

Dieses Gefühl ist der einzige Lohn aller höheren Menschen, 
die auf keinen Dank rechnen, sondern still und anspruchslos 
wie eine Naturkraft wirken. Es ist wahr, auch der Böse würde 
80 eine faktische Unsterblichkeit erreichen: der Anarchist, der 
eine Bombe in die Versammlung schleudert, der Bube, der dem 
rollenden Eisenbahnzuge heimtückisch einen Stein auf die Schienen 
legt, solltL' er sich auch in demselben Augenblicke selbst ver- 
giften, wird in dem angerichteten Schaden dennoch weiterleben. 



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278 V. Die Unsterblichkeit, die es giebt. 



Das eben ist der Flach der bösen That, dass sie fortzeugend 
Böses mu88 gebären. Welch ein furchtbares Bewusstsein! — 

Schaden l'reude kann ja bisweilen durch Menschenhass, Neid und 
Rachsucht hervorgerufen werden. Und doch l)at sie etwas 
Teuflisches und Unnatürliches. Wer, dessen Gemüt nicht gänzlich 
verbittert ist, möchte den aufblickenden Seinigen nicht helfen, 
dem Nächsten nicht Gutes thnn und wünschen? — Schon an sich 
ist Menschenfreundlichkeit ein göttlicher Zug und Wohlthun 
ein himmlisches Vergnügen. Erwägt man die ewigen Folgen 
seines Thuns, so möchte man schaudern, jeiiiala leichtsinnig gegen 
Götter und Menschen gefrevelt und vergessen zu haben, dass 
die Weltgeschichte das W^eitgericht sei. Man hätte dann wohl 
den£hrgeiZ; ein grosser Mann zu werden. Denn wenn wir auch nur 
einen einzigen armen Menschen fröhlich gemacht und nach An- 
weisung des Evangeliums gespeist und gekleidet haben, so ist 
das ein Segen, der dem Weltall zu gute kommt« Wie Christus 
sagt: Wahrlicli, ich sage Euch: wob Ihr gethan habt einem unter 
diesien meinen (jeringsten Brüdern^ das habt Ihr mir gethan (Evangelium 
Matthäi XXV, 4U). 

1:^. Das Testament des Philosophen. 

Das zwiefache Licht — das Lampohea, das erlisobt^ das Lichta das in 
andere Köpfe übergeht — jenes ist das menschliehe Leben, dieses die 
Wissenschaft — sie gewährt die hddiste Unsterblichkeit — freilich erbt 
sich nicht nur die Wahrheit, sondern aach der Irrtum fort anch^ie 
Dummheiten nehmen teil an der Unsterblichkeit — es kommt aber am 
Ende nur auf den guten Willen und die Überzeugung an — der Weise 
zündet sein Licht an, in der Hoffnung, dass dies das wahre Licht sei, und 
Tennacht es der ganzen Menschheit — zufrieden damit, sie aufgeklärt zu 
haben, jede andere Unsterblichkeit verachtend — und er trägt damit zu 
dem allgemeinen Lichte bei, welches die Welt erleuchtet und das G-öttliche 
au ihr ist — Blick auf das Ende des Meosobengeschlechts. 

Der Welt einen Ruck zu geben; der Zeit wie einer Münze 
den Stempel bcmes Grenius aiifzudrückeD ; seine Eigenart durch- 
zusetzen und in der hervorgebracLten Wirkung thatsächlich fort- 
zuleben ^ das ist auch der Wuosch des Philosopheu, der Yon 



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12. Das TestanieDt des Philoacipheik 279 



der Erde Abschied uimmt und ihr seine Ideen hinterliisst. Er 
macht kein anderes Testament, als dies : Neht/it das Lichta das 
ich Euch angezündet habe, fftudcssf seiner HeUigkeit uiui setzt es auf 
den Tisch, ico die andern JL,ioJUer stehen ; mein Kerzchen ist Jterunter^ 
gebrannt^ das JLebensUeht aus^ alfer die Klar/teit, die in mir ist, kann 
nicht mit mir verlöschen, sie scheint noch, ich habe sie Euch mit- 
geieiU^ und der Prophet sagt: die Lehrer werden leuchten 
fvie des Htmuiels Glanz , timl die, so viele zur Ge- 
recJittf/k^t weisen* wie die Sterne* immer find ewir/l li h. 

Man kann das Hun der Menschheit mit einem hellen Zimmer 
vergleichen, das immer heller wird. Jeder einzelne Denker 
eteckt ein neues Licht an dem grossen Cfaristbaum an, das 
brennen bleibt, während er selber sein Licht aasbläst und mit 
seinem Instrumente fortgeht, wie die Musiker in Haydns Ab- 
schiedss} ]ii])honie. Auf diese Weise wird das Ziuiuier von lauter 
Verstorbenen tageshell erleuchtet — in der allgemeinen und 
fortwährend steigenden Helligkeit leht alles^ was je dazu bei- 
getragen hat ; es geht gleichsam ein Stern nach dem andern am 
nächtlichen Himmel auf, und doch sind die Urheber dieser 
Pracht schon längst dahingegangen. Mit ein wenig Phantasie 
lassen sich die Sterne als die Verstorbenen selbst betrachten, es 
sind die Lichter der Vorwelt, Funken, die der Vtigäiigt-nheit 
entsprühen, Feuer, die in der Intellitrenz der Nachsreltnrenen 
weiterglimmen und bewirken, dass die Finsternis aut ßrden 
stetig abnimmt. Das ist der hohe Sinn des Spruches, der auf 
dem Grabe des Philosophen fliehte in Berlin, auf dem alten 
Dorotheenstädtischen Kirchhof, geschrieben steht. 

Wie oft hat man nicht schon das Leben des Menschen mit 
einem Licht verglichen! — You are as a candle, sagt der Ober- 
richter zu Falstaff; the heiter pari bumf out. Dasselbe Bild 
braucht der tödlich verwundete Clifford im König Heinrich VI. 
von sich selbst, Macbeth von seiner Gemahlin, Othello von 
Desdemona. Bei der Feier der Tenebräi wo eine Kerze nach 
der andern an der Egge ausgelöscht und die letzte, allein noch 
übrige abgenommen und hinter dem Altar yersteckt wird, soll 
diese letzte augenscheinlich ein Symbol des sterbenden Erlösers 



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280 



Y, Die UnBterblichkeit, die es giebt. 



sein, wie hernach die mit fünf roten WeihraDchkömem hesteckte 

Osterkerze den Leib des Auferstandenen bedeutet. Eine ganz 
ähnliche, profane CeremDiiie pHegt noch bei Greburtstagen statt- 
zufinden: um den N;i])fkuchen werden so viele Lichter gestellt, 
als das Geburtstagskind Jahre zählt. Das mittelste darf nicht 
ausgeblasen werden, es ist das Lebenslicht. Auch Goethen 
mnsste in Weimar an seinem Geburtstag der Hanshofmeister 
eine grosse, mit bunten Wachsstocken flammende Torte bringen, 
deren ins Halbhundert sich belaufende Anzahl einander zu 
schmelzen und zu verzehren drohte, anstatt dass bei Kindern 
noch Raum genug für nächstfolgende Lebeuskerzeu bleibt. 

Dem dänischen Prinzen Nornagest beschied die Norne, so 
lange zu leben als die Kerze, die über seiner Wiege brannte; 
die Mutter blies sie schnell aus, und er führte sie nun imaier 
bei sich. Im klassischen Altertum hatte man noch keine Kerzen, 
die erst zur Zeit der ChristenyerfolguDgen aufkamen ; Meleagers 
Lehen hing an einem Scheite, das auf dem Herde lag. Sonst 
vertrat die Stelle der Kerzen die Fackel und die Lampe. 

Der stille Gott taucht meine Fackel nieder — schon oben 
haben wir den Athener Fackellauf erwähnt und ihn zum Typus 
einer Art Unsterblichkeit gewählt. Noch volkstümlicher war die 
Lampe; sie giebt heute noch für das Leben eins der beliebtesteii 
Bilder ab. Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen 
glüht! — Was einst ein alter Philosoph zu einem reichen Freunde 
sagte: wenn er wolle, dass die Lampe hreune, dürfe er es nicht 
an Ol ft'likn lassen — wird heute noch verstanden, sintemal 
auch der Proletarier in seiner Art id auf die Lampe zu r/iessen 
pflegt. Aber das Bild des Lichtes, der Lampe, der Fackel oder 
der Kerze ist nicht bloss im allgemeinen zutreffend, sondern 
auch geeignet, das Rätsel der Lebensdauer, ich will nicht sagen : 
zu erklären — anschaulich zu machen. 

Der Wachsstock brennt, so lange als Docht und Wachs 
ausreichen, Jenachdem die Kerze lang oder kurz, dick oder 
dünn ist, verzehrt sie sich auch langsamer oder schneller. Etliche 
Lichter sind kurz: sie gehen bald aus. Andere sind stark und 
mächtig: sie brennen lange. Woher dieser Unterschied? — Grott 



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J2. Das Testament des Philosophen. 281 



weiss es; das ist ein Geheimnis. Genug, dass der ünierschiedl 
existiert, fis weiss auch niemand, was für ein Kaliber gerade- 
seine eigne Kerze hat; das ist ebenfalls ein Geheimnis. Mir ist 
vom Himmel meine Ijebenszeit bestimmt , sagt der arabische 
Dichter; ist sie abgelaufen, muss ich steiben. 

Das heisst mit andern Worten; ich habe wie Nor nagest bei 
meiner Geburt eine Kerze mitbekommen, lang oder kurz, das^ 
bleibt dahingestellt. Brennt sie nieder, so ist^s ans mit mir. Ist 
die Kerze noch nicht heruntergebrannt, so ist es auch mit mir- 
noch nicht aus^ ich bleibe leben, es komme was wolle. Ist meine 
Stunde noch nicht gekommen, so mögen mich Löwen im Walde 
überfallen, ich sterbe nicht. Anstatt der Löwen wollen wir ein- 
mal Krankheiten, Gifte, Leiden allerart einsetzen: wir kommen 
immer mit dem Leben davon, wenn das Lebenslicht noch vorhält. 
Umgekehrt, haben wir keinen Wachsstock mehr, so macht uns 
eine Kleinigkeit den Garaus. Die tägliche Erfie^hrung, dass zwei 
Menschen yon der Pest befallen werden, und dass der eine genest, 
der andre dran glauben muss — dass dem einen die gröbsten 
Ausschweirungen nichts schaden, dem andern eine geringfügige 
Unres^elmässigkeit den Tod bringt — dubs bei allgemeinen Ver- 
giftungen der eine erliegt, der andere gerettet wird: lässt sich 
gar nicht besser illustrieren als durch die Fiktion, dass jedem^ 
Menschenkinde ein bestimmtes Mass von Lebenskraft und Lebens* 
dauer wie ein Licht zugemessen sei, und dass wir uns des Lebens- 
freuen, weil noch das Lämpchen glüht. 

Aber auch die Wissenschaft, die Einsicht, die einer gewinnen 
kann, weil das I^ciiupchen glüht, als ein Licht aufzufassen, ist 
ein gar alter Einfall, der um so näher liegt, je verw^andter das 
Sehen der Erkenntnis ist. Pantagruei wäre bei seiner langen 
Heise nicht ans Ziel gekommen, wenn er nicht zuguterletzt noch 
Latemenland besucht und sich von der Königin eine Laterne als 
Führerin ausgebeten hätte, sintemal die Laterne immer andern, 
nicht sich selber zu leuchten pflegt. Diese Laternen waren lauter 
berühmte Scliriftsteller, Doktoren, Professoren, Gottesgelehrte, 
Rechtsgelehrte und so weiter, \\as wir die grossen Lichter und 
die Lumina Mmdi nennen — es ist wunderbar, mit welcher- 



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282 V. IHe UBstorbliohkeit» die es giebt. 



Laune Rabelais die Idee ausfuhrt, wie Pantagruel bei den Laternen 
speiett wie er alte, mit Pergament bekleidete und junge, Laternen 
▼on Geblüt und irdene Laternen, das heisst eben einfach: irdene 
Lampen findet, wie denn auch das Lämpchen des Epiktet dar- 
unter ist, für das ein Tjiebluiber dreitausend Drachmen zahlte, 
weil er glaubte, es besitze die Kraft, den Inhaber berühmt zu 
machen. Laternenland bildet ein Seitenstück zur Klingeudeu 
Insel, womit die Katholische Kirche gemeint ist, und zu so vielen 
anderen Phantasien des grossen Satirikers. 

Zwischen diesen beiden Lichtern ist nun ein Unterschied: 
das eine verlischt am Ende, das andere nicht. Es f^eht, sobald 
es Gesellschaft tindet, in fremde Köj)fe über, es teilt sich mit iiiUe 
der Sprache, erst nninillich. dann schriftlich anderen Meoschea 
mit, die es wiederum weitergeben und ihren Nachfolgern vererben, 
ganz so wie man ein Streichhölzchen anbrennt und Licht macht 
und daran wieder andere ihr Licht anzünden läset. So dass sich 
das ursprüngliche Licht vervielfältigt und tausend Lampen, eine 
nach der anderen anzündet, wenn die Ursache dieser Hellig- 
keit, das Streichhölzchen, bereits erloschen und weggeworfen 
worden ist. 

Wenn der Vater seinen Kindern die Fackel des Lebens 
reichte, so giebt der Lehrer die Fackel der Wahrheit an seine 
Schüler weiter,' und es ist dies gewiss unter allen die schönste 
und idealste Unsterblichkeit, die so wenig wie die uneigennützige 
Wohlthat eines edlen Mannes auf die Unsterblichkeit des Namens 
abzielt. Was es mit dieser auf sich hat, wozu soUlu 
wir es noch einmal wiederholen? — Phantasten, unpraktische 
und eitle Narren mögen sich um sie kümmern. Abgesehen 
davon, dass sie erst eintritt, wenn sie niemand gebrauchen kann, 
und wiederum Terduftet, ehe man sich^s versieht: ist sie über* 
haupt nicht viel wert und nur dann etwas reell, wenn eine tiefe 
und allgemeine Wirkung auf die Geister nehenhergeht — in 
diesem Sinne kommt sie z. B, Christus in weit höherem Grade zu 
als den alten Klassikern. Suhmge die Wirkung einer Lehre 
anhält und das Wort ties Meisters in den Gemütern noch 
mächtig ist, lebt derselbe thatsächlich noch fort — die BerUhmt- 



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12. JJas Xestameut des Philosophen. 



283 



heit ist zwar ein Best yon dieser Wirkung, aber dem Ansehen 

Klopstocks zu yergleichen, dessen Name in der Litteraturgeschichte 
steht, ohne dass ihn das Volk liest. Umgekehrt kann es sich 
ereignen, dass ein Dichter gelesen wird und dass die genialen 
Werke eines Mannes auf Millionen wohlthätig und erhebend 
wirken, dessen Namen man gar nicht kennt, von dessen Lebens- 
umständen man nichts weiss, der vielleicht selbst gar keine 
Schriften hinterlassen, sondern nar seine Ideen in die Welt 
geworfen hat. Zum Beispiel Ossian oder Pythagoras oder Sokrates 
oder wer sonst die Menschen gebessert und bekehrt und als 
Stifter eines neuen Bundes Unsterblichkeit erlangt hat. 

Leider bedeutet auch diese Unsterblichkeit nicht immer 
etwas Gutes; das Böse ist immer die Kehrseite der Medaille. 
Auch der Irrtum erbt sich fort. Er ist so kräftig wie die 
Wahrheit, Magna est via Verüaa, et praevaldnt! — das ist so 
eine Illusion, die sich die Philosophen machen. 

Die Menschheit vervollkommnet und verklärt sich nur im 
Einzelnen. Die Masse wird immer eine Beute des ersten besten 
Schwindlers, der den Pulsschlag der Zeit fühlt, des ersten besten 
Fanatikers werden, der seine Hirngespinste kühn entwickelt und 
die Zuhörer mitfortreisst. Kritiklos nimmt dann ein ganzes 
Tolk die neue Lehre wie eine Offenbarung an, zumal wenn das 
System von oben herab unterstützt wird. Unser Geschlecht hat 
gewiss in der Kultur grosse Fortschritte t^cmacht — ist es auch 
gescheiter, ist es philosophischer geworden? — Kaum; der 
Aberglaube nimmt höchstens andere Formen an. Auch die 
Irrlehren, die Dummheiten und die Lügen nehmen teil an der 
Unsterblichkeit: sie wurzeln tief, sie wurzeln fest, sie besitzen 
ganz dieselbe üp^iige Triebkraft wie die weisesten Aussprüche 
und die populären Sätze der Erfahrung — der hartnäckige 
Kampf, den die Aufklärung: seit Mensi'hengedenken mit der 
Reaktion und dem Obskurantismus zu führen hat, beweist am 
besten, wie zähe das Leben der einfältigsten Ideen, der albernsten 
Vorurteile ist. Magna est vis veritasf — ach, Wahrheit gebraucht 
man kaum an Feiertagen» geschweige denn, dass man sollte 
Alltagskleider daraus machen; wer die Wahrheit geigt, dem 



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284 



V. Die Unsterblichkeit etc. 



schlägt man gewöhnlich die Fiedel um den Kopf, und wer sie 
sagt, der kann kein Herberg überkommen , denn sie ist das 
Unleidlichste auf Erden; ein alter Irrtum hat tausendmal mehr 

Freunde als eine neue AVahrheit. 

Das Scbliiumste ist, dass niemand geiüiu weiss, wer recht 
hat und wer sieb täuscht ; und dass niemand eine andere Gewähr 
als seine eigne Überzeugung, die gewöhnlich sehr stark und ganz 
blind wie bei einem wütenden Stiere ist» und allenfalls den Erfolg 
bei der Mei^ hat. Das heisst aber: gar keine Q>ewähr. Bei 
dem Gtezänk der Schulen, dem leidenschaftlichen Kampf der 
Sekten und der Dogmen kommt selten etwas und dann etwas 
ganz iNeues, Unerwartetes heraus: die Parteien gleichen Schiffen, 
die nach einer unbekannten Insel steuern und alle Welt mit- 
nehmen wollen, aber schliesslich wie Kolumbus ein ganz anderes 
Land entdecken als sie suchten. Was ist Wahrheit, fragt Pilatus 
den Heiland im £Tangelium (Johannis XVIII, 38)» quid est Veritat? 
— und man hat herausgefunden, dass diese drei lateinischen 
Worte das Anagramm enthalten: est Vir gm adest, es ist der 
!Mann, der vor Dir steht. Der Landpfleger wäre gewiss erstaunt, 
hätte ihn einer auf dieses Wortspiel aufmerksam gemacht. Ohne 
es zu ahnen, sagte er die Wahrheit! — Noch häufiger ist der 
Fall, dass die Menschen die Unwahrheit sagen, ohne es zu wissen, 
weil sie die Wahrheit zu sagen glauben, dass sie die Stecken* 
pferde, auf denen sie herumreiten, für ^egasusse halten, und 
dass sie in diesem Wahne sterben. 

Aber es wäre thöricht, deshalb die Flinte ins Korn zu 
werfen. Schliesslich kommt es ducli nur auf den guten Willen 
und darauf an, dass einer in dem ehrlichen Glauben seinen 
Mund aufthue: der Wahrheit damit zu dienen. Glaubt er das, 
so kann man ihn auch für den Schaden, den er in der Denk- 
weise seiner und der Folgezeit anrichten sollte, nicht verant- 
wortlich machen, fir verdient den Dank der Nachwelt so gut 
wie der bahnbrechende Entdecker, denn er hat seinerseits dazu 
beigetragen, den Tag der Menschheit zu erhellen, ihr schweres 
Los zu erleichtern und die Wolken, die der Gotteserde lichten 
Saal verdüstern, zu zerstreuen. Und auch seine kleine Laterne 



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12. Das Testament des Philosophen. 



285 



"mrd nicht vergessen, sondern zum ewigen Licht hinzusfcnommen 
werden, sollte sie auch nur gut gesveseii sein, den Widerspruch 
herauszufordern und wie ein primitives Feuerzeug Funken durch 
Beibung zu entlocken. Unbrauchbar ist nur der Lügner, der 
^egen besseres Wissen, in eigennütziger Absicht die Wahrheit 
gehindert bat; er der Schalk und der unnütze Knecht^ der bei 
der grossen Abrechnung nicht mitzählt, sondern die änsserste 
Finsternis, sein Elenieut, verdient. 

Er nimmt nicht teil an der idealen Unsterblichkeit, die 
nichts weiter als die Summe des bisher, seit Anbeginn der 
•Schöpfung gewonnenen Lichtes ist. Man sagt, der Tag der 
Menschheit werde nicht ewig dauern; und es sei spasshaft, daes 
der Mensch, diese Eintagsfliege, Unsterblichkeit haben wolle, wo 
die Erdentagc seines ganzen Geschlechts gezaiilt sind. Bereits 
sieht der Naturforsclier die Zeit des letzten Menschen kommen, 
die Zeit, wo die Erde in inondgleichor Verödung um die blutrote 
Sonne kreisen wird, und alles still wie bei einer Sonnenwende ist — 

et dViles et de faux dOpouillc desormais, 

8ur les Mondes d^truits le Temps dort immobile. 

Wozu dann dieses Licht, diese aufgespeicherten Kenntnisse 
und die famose Realencyklopädie ? Wäre es nicht wie eine 
Rakete gewesen, die mitten in der Nacht auffährt und zwischen 

Etrd und Himmel in der Luft zerknallt ? — 

Darum verlöre das Bewusstsein, zu dem die Mutter Erde 
Torübergehend gekommen wäre, doch noch nicht seinen Wert. 
Der kurze Lichtblick würde, meiner Treue! die ganze Un« 
«rmesslichkeit aufwiegen. Der Weltraum ist unendlich — wenn 
wir mit der Geschwindigkeit des Lichtes in gerader Linie hundert- 
tausend Jahre lang vorwärts flögen, so würden sich immer weitere 
unendliche Räume vor uns aufthun. immer neue Sonnensysteme 
offnen. Was wir die Welt nennen, ist nur eine Insel in einem 
grenzenlosen Archipelagus ; das Leben dieser Welt, an der 
fiwigkeit gemessen, nur der Traum eines Augenblicks. Und 
doch 9 was ist mir das Weltall ohne ein Auge, das zu ihm 
emporblickt, ohne einen Geist, der es begreift? — Gäbe es 



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286 



V. Die Unsterblichkeit, die es giebt. 



keine Seele, die sich an der Ewigkeit weidete, so hätte sie gar 
keinen Wert. Das Göttliche auf ErdeD, was Kraft und Stoff 
allein erhebt und adelt, ist die Vernunft, und diese Gottheit, 
zu deren Dienste unser Geschlecht jeweilig ansersehn ist, sollen 
wir anbeten und stärken, auf die GFefahr hin, da&s der grosse 
Lichterbaum, der in der Julnacbt leuchtet» einst wieder ver* 
löseben könne — noch brennt er. 



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8clllll88. 



Totenkvltos und Ohrfstentmii« 

Wir haben den Weg Gottrs und eine Hauptquellp der Religion entdeckt 

— nicht die e)nzige - aber die allernatürlichste und die allerverstäiidlichstd 

— einp Religion, der wir alle anhangen und noch anhanjEfen werden — 
und üitj nur veredelt zu werden braucht, um uns den Crlauben an (xott zu- 
rückzugeben — das ist der (Tlanbc der Mrnscldieit au sich selbst eine 
Gottheit, die Christus eingesetzt hai, indem er alle Henschen zu Gottes 
Kindern macht und sich selbst als des Menschen Sohn bezeichnet — und 
in der die Lebendigen und die Toten En Einem nnendlichen Wesen m- 

sammenflfemen. 

Und lass Dir raten : habe die Sonne nicht zu heb und nicht 
die Sterne, komm, folge mir ins dunkle Reich hinab I — Dieses 
ist geschehen. Wir sind der Aufforderung des Orestes gefolgt 
und haben, wie Saul, der Sohn Kis% der seines Vaters Eselinnen 
suchte und ehi Königreich fand: indem trir die Toten suchten» 
zuletzt die Unsterblichkeit gefunden. 

Wir haben eine Hauptquolle der Religiuii und, wie die 
Japaner sagen: den Weg Gottes ausündig gemacht. 

In Japan werden ausgezeichnete und um das Vaterland 
verdiente Männer, seien es Fürsten oder Gelehrte, Helden oder 
Menschenfreunde, nach ihrem Tode unter die Gtötter versetzt 
und göttlich verehrt. Sie heissen Kami» das heisst wörtlich: 
Häupter, und bilden das Pantlioon oder die Walhalla des ost- 
asiatischen Inselvolks, über dem die Wolke der Zukunft golden 
ruht. Noch jetzt bestimmen der Mikado und seine Räte de» 
Rang, den ein solcber neukreierter Gott im Himmel der Vor- 
fahren einzunebmoi hat. Die Lehensgeschichte der ältesten unter 
ihnen wird mit der des Himmels und der Erde, der Sonne und 



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286 



Schluss. 



4l68 Mondes aufs innigste verwoben, zum Teil vereinerleit; be- 
kanntlich ist die offizielle Bezeichnung für den Herrscher: 
TensU oder Sohn (/S/it) des Himmels {Ten), Aber man ver- 

gi8st nicht, dass die Kami gute Menschen gewesen sind. Man 
opfert ihnen, betet zu ihnen, begebt ihre Feste wie iibei^all, man 
suclit sie sogar durch theatralische Aufluhrungen und Pantomimen 
zu ergötzen. Aber das Bewusstsein ilires Ursprungs ist nicht 
wie anderwärts geschwunden. Die Europäer nennen das Ahnea- 
verehrung ; nach europäischen Begriffen ist das gar keine Beligion. 
Die Japaner nennen es den SMnto oder den Weg {To) Gottes 
(SMn). Für sie ist es eine Beligion, und zwar die ursprüngliche 
Laudesreh'gion. 

Es giebt überhaupt keinen besseren und geraderen Weg zu 
Gott) und wenn ihn die Europäer gegenwärtig verleugnen, so 
thuen sie es doch nur, weil sie sich nach so langer Zeit, weit 
gediehen und fortgeschritten, nicht mehr darauf besinnen, ihn 
gegangen zu sein. 

Der Kultus der Seelen oder der Toten ist dem Menschen 
angeboren, und nicht bloss die grossen Toten empfangen ihn. 
Er ist vielleiclit nicht die einzige Religion — vieles Gewaltige 
lebt, und die Heiden können wobl die Sonne oder das Feuer 
angebetet haben, ohne dass eine Seele dahintergesteckt hätte 
und der Naturdienst auf einen Ahnendienst zurückzuführen ge- 
wesen wäre. Von Jugend auf erblicken wir mächtige Gottheiten 
über uns und vor uns» die Vorstellungen der lieben Sonne, der 
Mutter Erde, des ewigen Meeres füllen unsere Phantasie, und 
"wenji wii ihnen auch häufig ^lenschenantlitz, Menscbeuschicksale 
und Menschennamen leihen, das Ubermenschliche, das Gigantische 
blickt doch durch. Es hat zum wenigsten die Seelenvorslellung 
überwuchert und erdrückt. Nein, der Totenkultus ist nicht die 
einzige Beligion — aber er ist unter allen die natürlichste und die 
verständlichste Beligion, die Blume der Pietät und ein tiefes 
Bedürfnis für jedes Herz — 

der Menaoh hat niehts so eigen, 
80 wohl Bteht ihm nichts tn, 
als dasa er Treu erzeigen 
und Freundschaft halten kann; 



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ToteDknltoR und Chriatentom. 



289 



Totenkultus ist aber nichtB anderes als die Liebe zu denen, 
die uns im Leben nahegestanden haben und nun überirdische, 
stumme, verhüllte Wesen geworden sind — die Treue, die 
man den Vorangegangenen bis über den Tod hinaus erzeigt^ und 

eine Freundschaft, die man lualt. 

Wenn wir die Minne unserer Verstorbenen trinken und 
einem geliebten Toten bei der Mahlzeit ein stilles Glas weihen, 
oder wenn wir ihm. wie das die Juden ihrem Propheten Elias 
thun, selbst ein Glas Wein einschenken — wenn wir die Gräber der 
Abgeschiedenen an ihren Gedenktagen besuchen, bei ihnen weilen 
und ihnen Blumen bringen — wenn wir den Geist unserer 
guten Mutter, alle unsere alten vertrauten Seelen und Schntz- 
geister mit gefalteten Händen und im Gehet anrufen: so ist das 
TotenkultuB. 

Und das haben ehen die Menschen von Anfang an" gctlian, 
weil alle Menschen Vater und Mutter gehabt haben: die Eltern, 
die silbernen Gestalten der Yorwelt sind ihnen zuallererst 
heilig und zugleich ein Gegenstand der Furcht und der Anbetung 
gewesen. Vater und Mutter zu ehren, für die Toten im Toten- 
reich zu sorgen und ihnen den Totenkultus angedeihen zu lassen, 
ist in China das erste, im Dekalog das vierte, durch eine 
besondere Verheissung, die Aussicht auf die Gnade der Toten, 
angezeichnete Gebot. 

Das machte sich nämlich ganz von selbst, dass die Eltern 
zu Göttern wurden. Jedes Haus hatte seine Toten, weil jedes 
' Haus VorÜEihren hatte: ihre puppenartigen, aus Holz geschnitzten 
Bilder standen wie die römischen Laren und Penaten, sorgsam 
gehütt t und gepflegt, um den gemeinsamen Herd herum — sie 
waren klein, sie waren steinalt, sie waren vielleicht nicht 
so schön und ähnlich wie die Bilder, die in unseren 
Ahnensälen hängen, aber tausendmal heiliger. Die Zeit eilte 
vorwärts, Geschlecht folgte auf Geschlecht, neue Bilder kamen 
hinzu; aber die alten Bilder standen noch immer da. Und, je 
mehr sie im Nebel der Vergangenheit verschwammen, um so 
heiliger, um so ehrwiirdiger, um so göttlicher wurden sie. Das 
Haus vei grossei te sich; aus der Familie war inzwischen ein 

Kleinpaal, I>i« Leb«ndig«n and di« Toten, 19 



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290 



ScbliiM. 



Stamm, eine Nation, ein Volk geworden. Und vom ganzen Volke 
wurde noch immer den ersten Toten geopfert, deren Namen man 
kaum noch wusste: sie waren die Stammgötter, die National- 
gottheiten und, da sich gewöhnlich jedes Volk mit der Mensch- 
heit vereinerleite : die Götter schlechthin. 

Indem die geliebten Toten, beziehentlich ihre PÜeger, die 
Priester, von allem Guten den Löwenanteil in Anspruch nahmen 
und die grössten Häuser hatten: machte die "Welt ungefähr den 
Eindruck von Zermatt, wo es drei herrliche Hotels iur die 
Fremden, im übrigen nur niedere Hütten giebt. 

Der alte Stammvater, von dem alle zusammen das Leben 
hatten, musste dann notwendig als der Anfang des Seins, als 
der ( wige Urgrund aller Dinge und als der grosse Geist er- 
scheinen, der die ganze Welt erschaüen hatte. Er war der erste 
Vater und der höchste Gott. So gelangte man zu einem 
Brahma, einem Jehovah, einem Zeus, einem Allvater, einem 
Vater der Götter und der Menschen. Unter den letzteren zahlen 
nur die Fürsten und Könige. Es verstand sich also, dass haupt* 
sächlich die Könige und die herrschenden Geschlechter von Gott 
abstammten und dass ihre Ahnen die Götter des Volks abgaben. 
Nicht umgekehrt. 

Daher sind alle Könige hochgeboren. Sie sind Gottgeboren ; 
sie haben im Homer das Prädikat Jioyevi^. Schon die ägyptischen 
Pharaonen nannten sich Söhne des Sonnengottes. Und so be- 
trachteten sich auch die skandinavischen Herrscher als Söhne 
0 dins: die Ynglinger in Schweden, die Skjöldunger in Dänemark 
führten ihren Stammbaum direkt auf den fränkischi ri ( u>li zurück, 
der einst mit den Äsen ins Land gekommen und siegreich vor- 
gedrungen war. Schon die Welsunge thateu das. 

Die Sache liess sich auch umdrehen: wenn Menschen Söhne 
von Gröttem waren, so konnten wohl auch die Götter selber 
Menschen gewesen sein. Diese Folgerung hat bereits drei Jahr- 
hunderte vor Christus ein Sizilianer gezogen, mit Namen Evemems. 
Er gab eine Heilige Geschichte heraus, worin er nachwies, dass 
die ganze Mythologie der Griechen auf Totenkultus hinaus- 
laufe. Die alten Götter sind weiter nichts als vergötterte Menschen, 



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ToteDkuttus und Ohristentam. 291 



sagte er ; die ersten Altäre waren Gräber, die ersten Tempel 

Mausoleen. Evemerus berief sich auf Urkunden, die er auf 

seinen Beisen gesammelt haben wollte; namentlich auf eine 

goldene Säule in einem Tempel des Zeus Triphylios auf einer 

Insel des Malaiischen Archipels. Hier war es nämlich mit dürren 

Worten gesagt, wie Vater Zeus ein früherer König von Kreta und 

ein alter Haudegen gewesen sei : 

£w. Gnaden sind 
bekannt für einen hohen KriegresfürBteD, 
für einen zweiten Attila und Fyrrhus — 

alle Thaten der Herren Uranus, Kronos und Zeus standen haar^ 
klein auf der Säule. Das Buch des Evemerus scheint sehr unter- 
haltend und sehr anziehend gewesen zu sein, alle Mythen wurden 

kurzweg als ebensoviele historische Begebenheiten genommen und 
erzfililt. wMs ihm spater viele Historiker nachmachten. Spuren 
dieser Metliode finden sich schon bei Herodot und Thucydides. 
Die f^rommen des Altertums erklärten ihn für einen Atheisten. 

Und doch enthielt seine Ketzerei bereits die Ahnung einer 
höheren Religion; jener Religion, die gleichsam die ganze Mensch- 
heit adelte und alle, auch die geringsten, zu Güttersöhnen machte. 
In Indien hatte der Buddhismus mit den Brahmanen gebrochen, 
indem er alle Hindu, ohne Unterschied der Kaste, zur Erlösung 
aus dem Kreislaufe der Existenz zuliess; das Christentum brach 
nicht bloss mit den Pharisäern, sondern mit den Genealogien, die 
ein fürstliches Geschlecht von Gott ableiten, überhaupt. Fortan 
gab es nur noch einen Sohn Gottes, den Messias, der einen Apostel 
hatte, dessen Nachfolger die römischen Päpste waren; durch den 
Glauben an Christum aber konnten alle Mensclien zu Gottes 
Xmdern werden. Diese allgemeine Standeserhöhung ei*schien als 
eine h'olgQ der Erweiterung der nationalen Gesichtskreise über- 
Lanpt; sie war durch die Übertragung und Verschmelzung der 
Stammgötter und Religionen in den polytheistischen Systemen, 
namentlich im Römischen Reiche angebahnt worden. Es ist leicht 
einzusehen, wie sich der Kreis der alten Hausgötter allmählich 
erweitern musste. Sobald ein Stamm unter die Botmässigkeit 
eines andern Stammes kam, fielen auch die Götter, das heisst 

19* 



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2d2 



Schiaas. 



die Väter des besiegten Stamms, den Göttern oder den Vätern 
des siegreichen Stamms Anheim. Wie sich der Adel in Ohina 
nicht auf die Nachkommen, sondern auf die Vorfahren, ab«r 
anderseits auch die Verantwortlichkeit bis anf die Vorfahren er« 
streckt, so dass, wenn einer ein Verbrechen begeht« anch die 
Eltern genchtlich belangt werden: so müssen anch die Götter 
eines Volks mit für die Niederlagen ihrer Kinder büssen. Baal 
neigt sich Tor Jehovah, der Gi tt von Memphis vor dem thebanischen 
Gotte Ammoü, Kronos vor Zeus, ij'reyr, der Vertreter des alten 
Göttergeschlechts der Wanen, vor dem fränkischen Gk>tte Odin. 
Das heisst, die besiegten Götter wurden gewissermassen unter 
die Oberhoheit des siegreichen Gottes gestellt, und so bekam der 
Jupiter Optimus Haximns wie der römische Kaiser gleichsam 
einen Hofstaat von den Göttern der ganzen bewohnten Welt. 
Und während sich die Völker gewohnten, einen neuen Gott: Vater 
zu nennen und den fremden Vater als einen noch älteren und 
noch höheren Vater zu betrachten : verallgemeinerte sich un* 
▼ermerkt der B^riff Gottvater überhaupt Nicht bloss die ein- 
zelnen Familien, nicht bloss die einzelnen Kasten, nicht bloss 
die einzelnen Nationen : alle Menschen hatten einen und denselben 
Vater. Das war eben die Idee des Christentums. 

Dann durfte der Gott aber auch nicht mehr ein einzelner 
Vater, es musste der grosse Vater, die Gesamtheit aller Väter, 
mit anderen Worten: die ganze vorangegangene Menschheit sein; 
das war die weitere Konsequenz, die Christus andeutete^ indem 
er sich selbst: als des Menschen Sohn bezeichnete. Damit 
meinte er nicht seine Familie, nicht Nazareth — wer ist meine 
Mntterf Und wer sind meme ßruderf — fragte er (MatthSi XII, 48). 
Vielleicht hat er diesen Titel mit Beziehung iuif eine Stelle des 
Propheten Daniel (VII, 13) gewählt, wo der Menschensohn. im 
Gegensatze zu den vier grossen Tieren, welche die Iteiche dieser 
Welt bedeuten, das Reich Gottes repräsentiert; so dass er sich 
damit als den Messias bezeichnen wilL Aber er spricht zugleich 
damit aus, dass er kein nationales Königtum aufrichten will und 
dass er nicht dem Gotte Israelsi sondern einem höheren Gotte: 
dem Menschen angehört. 



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Die Religion der Zvkniilt 



293 



Neben unserer leiblichen Mutter haben wir ein teures Vater- 
land; und daneben haben wir noch eine grosse Mutter. Eine 
Mutter, die uns unendlich viel Gutes erwiesen^ uns, wie eine 
Diana von Epbesus, an ihren Brüsten genährt, uns auf ihren 
Armen gehalten, erzogen und unterrichtet hat, die unsere Kultur 
und Weisheit ist. Nicht die Mutter Natur oder die Mutter Erde« 
sondern eine wahre, heilige Mutter, die uns noch ungleich näher 
stellt als das fiilillose Element. Es ist die vorangei^angene Mensch- 
heitf deren Tochter die gegen würtige Menschheit ist und in deren 
Reihen wir aufgenommen werden, sobald wir der kommenden 
Generation das hinterlassen haben, was die Vergangenheit uns 
gegeben hat. 

Wir sind allzumal Sdhne des Menschen. 

Und wenn unser Geschlecht erst einmal an sich selber 
glauben und vor dem Kiesenbilde, das unsere Vorfahren langsam 
sich selbst aufgerichtet haben, die Knie beugen sollte: dann, ja, 
dann wären die Verstorbenen wirklich auferstanden, und die 
Lebendigen und die Toten würden in ein erhabenes, oben stetig 
absterbendes, unten stetig nachwachsendes Wesen zusammen- 
fliessen, das sich stronigleich entwickelte, an Wohlstand, Kraft 
und Intelligenz beständig zunähme und alles überträfe, was jemals 
auf Erden götthch gewesen ist. 



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Date Due 





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